Europa: Die Gegenwart unserer Geschichte 3806240213, 9783806240214

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Europa: Die Gegenwart unserer Geschichte
 3806240213, 9783806240214

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung zur deutschen Ausgabe
1. Brandmale
Einführung: Die Vergangenheit lösen
Der Schatten des Zweiten Weltkriegs
Der Erste Weltkrieg – Europas Selbstmord
The old Lie: Dulce et decorum est pro patria mori
Der Spanische Bürgerkrieg – Passion der europäischen Antifaschisten
Der Nationalsozialismus – eine europäische Angelegenheit
Der Hitler-Stalin-Pakt – ein Tabu
Widerstandskämpfer und Kollaborateure – Begriffe als Erinnerungsorte
Der Verrat von Jalta
Nürnberg, die letzte Schlacht
Die Deportationen – zerstörte Leben und Schicksale
Das Europa der Völkermorde
Die Verschwundenen
Die enttäuschten Hoffnungen
Der Dissident – derjenige, der in der Wahrheit lebt
Mythos Kosovo
Vom Terror zum Terrorismus
Berlin – Wahrzeichen des 20. Jahrhunderts
2. Geschichten
Wie man Frieden schließt
Ein Blick von Asien auf die europäische Versöhnung
Soziale Bürgerrechte
Die Menschenrechte – eine große Idee
Aufklärung, Enlightenment, Lumières, Haskalah
Die Demokratie weit von Athen
Die Geschichte als Inspiration
Die Vernunft – die Grenzen einer Ambition
Die Aura des Bildes
Flächenbrand 1968
1989 – das Ende der Illusionen
3. Die Wiege
Verführt oder entführt? Vom Mythos der Europa auf dem Stier
Am Anfang war das Epische
Du sollst keine anderen Götter neben mir haben
Die Barbaren, die Wilden und wir
Rom – Stadtgeschichte als Weltgeschichte
Das Recht als Versprechen
Die drei Strahlen: Jerusalem, Athen und Rom
Islam – dasselbe und das andere in Europa
Averroës
4. Nahkampf
Die Barrikade – Schutzschild des Volkes
Der Streik – die Emanzipation in Aktion
Klassengesellschaft, Klassenkampf – das Echo der Vergangenheit
Die Spur der Frauen – ein Anhängsel der Geschichte
Homosexualität – das gefesselte Begehren
Untergangsängste
Brüssel oder der Austritt aus der Geschichte
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Étienne François / Thomas Serrier (Hrsg.)

Europa Die Gegenwart unserer Geschichte

Étienne François / Thomas Serrier (Hrsg.)

Europa Die Gegenwart unserer Geschichte

Band I Lebendige Vergangenheit herausgegeben von

Akiyoshi Nishiyama und Valérie Rosoux

Aus dem Französischen von Jürgen Doll, Walther Fekl und Dieter Hornig Wissenschaftliche Mitarbeit: Mike Plitt

Abbildungsnachweis: akg images: S. 24, 62, 72, 81, 86, 104, 114, 121, 130, 144, 148, 162, 178, 215, 230, 244, 268, 285, 298, 303, 304, 309, 312, 319, 335, 339, 375, 381, 409, 435, 441, 448, 459, 492, 499; alamy: S. 55; bpk Berlin: S. 187, 354; bridgeman images: S. 413; picture-alliance: S. 32, 169, 193, 211, 260, 467; wbg-Archiv: S. 301, 306, 307, 392; wikipedia/Gerd Fahrenhorst: S. 488

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel „Europa. Notre Histoire“ bei Les Arènes: © Editions Les Arènes, Paris, 2017

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Dirk Michel, Mannheim Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Umschlaggestaltung: Ute Mildt, Zero Werbeagentur, München unter Verwendung des Bildes „Der Raub der Europa“ von Guido Reni. Foto: © akg-images Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4021-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-4033-7 eBook (epub): 978-3-8062-4032-0

Inhalt Einleitung zur deutschen Ausgabe

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Étienne François und Thomas Serrier

1. Brandmale Einführung: Die Vergangenheit lösen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

Valérie Rosoux und Akiyoshi Nishiyama

Der Schatten des Zweiten Weltkriegs Étienne François und Thomas Serrier

Der Erste Weltkrieg – Europas Selbstmord

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Jay Winter

The old Lie: Dulce et decorum est pro patria mori

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Olaf B. Rader

Der Spanische Bürgerkrieg – Passion der europäischen Antifaschisten

. . . .

62

. . . . . . . . . . . . . . . .

72

Manuel Loff

Der Nationalsozialismus – eine europäische Angelegenheit Johann Chapoutot

Der Hitler-Stalin-Pakt – ein Tabu

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Claudia Weber

Widerstandskämpfer und Kollaborateure – Begriffe als Erinnerungsorte

. . .

86

Étienne François

Der Verrat von Jalta

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104

Włodzimierz Borodziej

Nürnberg, die letzte Schlacht

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114

Fabien Théofilakis

Die Deportationen – zerstörte Leben und Schicksale

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Catherine Gousseff 5

Inhalt

Das Europa der Völkermorde

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

130

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

Jay Winter

Die Verschwundenen

Mike Plitt und Thomas Serrier

Die enttäuschten Hoffnungen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

Mike Plitt und Thomas Serrier

Der Dissident – derjenige, der in der Wahrheit lebt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

162

Mike Plitt

Mythos Kosovo

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

Todor Kuljić

Vom Terror zum Terrorismus

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178

Heinz-Gerhard Haupt

Berlin – Wahrzeichen des 20. Jahrhunderts

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Étienne François

2. Geschichten Wie man Frieden schließt Valérie Rosoux

Ein Blick von Asien auf die europäische Versöhnung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Akiyoshi Nishiyama

Soziale Bürgerrechte Sandrine Kott

Die Menschenrechte – eine große Idee

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

230

Christof Mandry

Aufklärung, Enlightenment, Lumières, Haskalah …

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244

Thomas Brose

Die Demokratie weit von Athen Gesine Schwan

6

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

260

Inhalt

Die Geschichte als Inspiration

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

268

François Hartog

Die Vernunft – die Grenzen einer Ambition

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

298

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

312

Rémi Brague

Die Aura des Bildes Horst Bredekamp

Flächenbrand 1968 Robert Gildea

1989 – das Ende der Illusionen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

György Dalos

3. Die Wiege Verführt oder entführt? Vom Mythos der Europa auf dem Stier

. . . . . . . . . . . .

335

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

Ulrike Guérot

Am Anfang war das Epische Jonas Grethlein

Du sollst keine anderen Götter neben mir haben

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

354

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375

Étienne François

Die Barbaren, die Wilden und wir Thomas Serrier

Rom – Stadtgeschichte als Weltgeschichte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

381

Arnold Esch

Das Recht als Versprechen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

392

Michael Stolleis

Die drei Strahlen: Jerusalem, Athen und Rom

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

409

Étienne François

Islam – dasselbe und das andere in Europa

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

413

John Tolan

7

Inhalt

Averroës

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

435

Rémi Brague

4. Nahkampf Die Barrikade – Schutzschild des Volkes

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

441

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

448

Emmanuel Fureix und Thomas Serrier

Der Streik – die Emanzipation in Aktion Marie-Claire Lavabre

Klassengesellschaft, Klassenkampf – das Echo der Vergangenheit

. . . . . . . .

459

Hartmut Kaelble

Die Spur der Frauen – ein Anhängsel der Geschichte

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

488

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

492

Marie-Claire Hoock-Demarle

Homosexualität – das gefesselte Begehren Régis Schlagdenhauffen

Untergangsängste Johann Chapoutot

Brüssel oder der Austritt aus der Geschichte Bo Stråth

8

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

499

Étienne François und Thomas Serrier

Einleitung zur deutschen Ausgabe

Europa neu denken, Europa in seiner ganzen zeitlichen Ausdehnung denken, Europa gemeinsam denken – diese drei Ziele verfolgt unser Buch. Als Reise um die Welt der europäischen Erinnerungen in 133 Aufsätzen möchte es einen ganz neuen Blick auf den Kontinent werfen und die Grundfrage aufgreifen: Was ist eigentlich dieses Europa, das – von seiner partiellen politischen Union einmal abgesehen – seit mehr als einem Jahrtausend als Erbe einer gemeinsamen Geschichte eine allgegenwärtige und greifbare Realität darstellt, das von außen betrachtet als unverzichtbar und begehrenswert erscheint, für viele aber weiterhin ein flüchtiges Objekt darstellt, das gleichwohl hitzige Diskussionen auslöst? Europa neu denken, ohne sich von der gegenwärtigen Sinnkrise, auch nicht von den mit heißer Nadel erstellten Diagnosen und ebenso wenig von den großen „Meilensteinen“ der europäischen Geschichtsschreibung einschüchtern zu lassen – mit einer einzigen Ausnahme. Damit meinen wir Tony Judts 2005 erschienenes großartiges Buch Postwar. A History of Europe Since 1945, dessen Tiefe und Weitsicht uns in jeder Phase unserer Arbeit inspirierte. Europa in seiner zeitlichen Ausdehnung denken. Auch wenn unsere heutigen Fragestellungen und die Auseinandersetzungen des vergangenen Jahrhunderts unsere Erinnerungen beherrschen, so reicht doch Europa als Gemeinschaft und Erbe, als Objekt und Projekt zurück ins Mittelalter und die Antike, von der es sich herleitet. Schon lange vor Herodot bezog sich der Dichter Hesiod als Erster – um das Jahr 700 vor unserer Zeitrechnung – auf Europa als geografische Einheit. Die „Europäer“ tauchten allerdings erst vierzehn Jahrhunderte später als Gemeinschaft mit der charakteristischen doppelten Dimension von Inklusion und Exklusion auf, nämlich in der Mozarabischen Chronik. Diese wurde 754 von einem unter muslimischer Herrschaft lebenden Christen verfasst, der darin den Sieg Karl Martells, des Großvaters von Karl dem 9

Étienne François und Thomas Serrier

­ roßen, und seiner Armee über Abd ar-Rahman I., den Emir von Córdoba, G und dessen aus Berbern und Arabern bestehenden Heerscharen darstellte. Europa schließlich auch gemeinsam denken, weil die Brüche und Risse, die das gegenwärtige Europa des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts durchziehen, noch immer viel zu tun haben mit den Auseinandersetzungen über die angemessene Erinnerungskultur, die ein kaum „wiedervereintes“ Europa nach dem Fall der Berliner Mauer bewegt haben. Die Konfrontation der Erinnerungen an den Nationalsozialismus und den Stalinismus, die Schoah und den Gulag, hat uns damals deutlich gemacht, wie nachhaltig prägend die im Lauf des Kalten Kriegs entstandenen Räume wirkten, was erst recht für ererbte Spaltungen aus noch weiter zurückliegender Zeit gilt. Während die postkoloniale und dekoloniale Befragung unserer globalisierten Welt frühere Konfigurationen aus der Zeit der europäischen Weltreiche deutlich werden lässt, kann man diese Geografie des Gedächtnisses und der sie kennzeichnenden Brüche nur dann aufheben, wenn man die verschiedenen, von der Vergangenheit übernommenen Sensibilitäten in Rechnung stellt und sich hinreichend über sie erhebt. Es heißt also, diese große Tektonik der kollektiven Erinnerungen in ihrer langen Dauer, ihrer Gesamtheit und ihren weltweiten Verflechtungen zu betrachten. Es geht um nichts Geringeres als eine Verortung Europas mithilfe seiner geteilten und gemeinsamen Erinnerungen in einer globalen Zeit. Warum auch sollte man sich wortlos „provinzialisieren“ lassen, um einen Ausdruck aufzugreifen, den der indische Historiker Dipesh Chakrabarty in postkolonialer Perspektive geprägt hat? Verlangt unsere Zeit nicht statt eines Rückzugs auf sich selbst vielmehr nach „einer neuartigen Geschichte Europas in weltbürgerlicher Absicht“ (Wolf Lepenies), die allerdings genügend Gespür für die Vielfalt der Welt hat und die Frage der weltweiten Zirkulationen und mehrfachen Aneignungen offen thematisiert ? Unsere gewohnte Dimensionen sprengende Untersuchung ist jedenfalls in alle Himmelsrichtungen offen. Am Ende haben wir mit der Unterstützung von Pierre Monnet (Paris/Frankfurt am Main), Akiyoshi Nishiyama (Tokio), Valérie Rosoux (Löwen/Luxemburg), Olaf Rader (Berlin) und Jakob Vogel (Paris/Berlin), die die Herausgabe der drei Einzelbände übernommen haben und mit denen wir in ständigem Austausch standen, etwas mehr als einhundert Autoren gewinnen können. Sie kommen aus ganz Europa und der ganzen Welt: aus Australien, 10

Einleitung

­ elgien, Brasilien, der Demokratischen Republik Kongo, Deutschland, B Frankreich, Großbritannien, Indien, Italien, Kanada, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, Russland, Schweden, dem Senegal, Serbien, Spanien, der Tschechischen Republik, der Türkei, der Ukraine, Ungarn und den USA. Darüber hinaus haben viele unserer Autoren eine grenzüberschreitende Biografie. Würden wir zudem die familiären Wurzeln und die jeweiligen Lehr- und Forschungsstätten berücksichtigen, würden wir noch dazu nach Bulgarien, Kroatien und Tunesien, in den Iran und in die baltischen Länder entführt. Schließlich haben wir darauf geachtet, dass unter unseren Autoren unterschiedliche Generationen mit ihren jeweiligen Sensibilitäten vertreten sein sollten. So kam es zustande, dass zwischen unserem „Nestor“ und unserem „Nesthäkchen“ mehr als ein halbes Jahrhundert liegt. Die Polyfonie der Texte entspricht der unserer Überzeugungen. Man könnte sie mit den Worten des bulgarisch-französischen Schriftstellers und Wissenschaftlers Tzvetan Todorov zusammenfassen: „Nicht diejenigen, die über eine gemeinsame Erinnerung verfügen, werden die Europäer von morgen sein, sondern jene, die einräumen, dass die Erinnerung des Nachbarn genauso legitim ist wie die eigene.“ Darum geht es nämlich im Grunde, um mit Paul Ricœur zu sprechen: um eine „Erinnerungsarbeit“ (travail de mémoire), die auch eine Arbeit der einzelnen Erinnerungen aneinander (travail des mémoires) ist. Die Entdeckerfreude und die Lust am Austausch wie der Wettstreit bei der gemeinsamen Anstrengung waren für uns alle – bereits in der Entstehungsphase des Projekts – die Gelegenheit zu geteilter Freude. Die miteinander ­verwobenen Geschichten und Identitäten aufzudröseln, kann nur gelingen, wenn man möglichst viele Blicke zusammenführt. Denn trotz der Erinnerungen, die wir bereits miteinander teilen, ist es für unsere heutigen Anstrengungen von vorrangiger Bedeutung, dass wir, um mit der italienischen Historikerin Luisa Passerini zu sprechen, „teilbare“ Formen der Erinnerung entwickeln. Dieses Potenzial einer Geschichte, die als „Raum für Dialog“ (Robert Traba) betrachtet wird, war für uns ­jederzeit präsent. In unserem Buch sind wie in einem europäischen, aber auch globalen Wandteppich unterschiedliche Geschichten und Geschichtsfragmente miteinander verwoben, denn es will vor allem dazu beitragen, dass wir das Leben, die Erfahrungen und die Geschichte der anderen auf dem Kontinent – und darüber hinaus – besser verstehen. „Hören 11

Étienne François und Thomas Serrier

wir doch bitte auf damit, von Nationalgeschichte zu Nationalgeschichte aneinander vorbeizureden“, verlangte schon 1928 Marc Bloch in seinem Plädoyer Für eine vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften. Und der Mitbegründer der Annales bekräftigte immer wieder seine Überzeugung: „Es gibt keine Geschichte Frankreichs, es gibt nur eine Geschichte Europas.“ Eine Generation und einen Weltkrieg später ergänzte das Fernand Braudel zur Feststellung: „Es gibt keine Geschichte Europas, es gibt nur eine Weltgeschichte.“ Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte ist das Resultat eines solchen Abenteuers. Doch warum Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte und nicht „Europa. Die Gegenwart der Geschichte“ oder – noch klassischer – „Eine europäische Geschichte“? Wir wollen damit gleich zu Beginn andeuten, was unsere Untersuchung von einer Geschichte der internationalen Beziehungen, einer vergleichenden Geschichte der europäischen Länder oder einer europäischen Kulturgeschichte unterscheidet. Die Erfahrung lehrt uns ja dies: Eine europäische Kulturgeschichte führt immer zu einer linearen Nacherzählung und sie beruht auf der Illusion einer vorgegebenen Einheit, einer einheitlichen Geschichte, eines europäischen Gedächtnisses im Singular … Am Beginn unseres Abenteuers stand aber der Wunsch, eine lebendige, offene und dialogische Geschichte zu präsentieren. Zu diesem Zweck finden sich hier 133 Beiträge vereint. Zur Hälfte sind das längere Essays, die durch ebenso viele kürzere Beiträge ergänzt und neu beleuchtet, nuanciert und präzisiert werden, aber auch Widerspruch erfahren können. Dieser Abwechslungsreichtum, der sicherlich etwas Experimentelles und Spielerisches an sich hat, versteht sich als Einladung zu einer Entdeckungsreise. Gemeinsam sind allen Beiträgen die Erzählfreude und der kritische Anspruch, der Sinn für exotische Überraschungen und die Orientierung an fundiertem Wissen als Richtschnur. *** Wenn unser Schwerpunkt auf dem Gedächtnis im weiten Sinn des Wortes liegt, auf den Erinnerungen, die, wie Paul Valéry so treffend sagt, „die Zukunft der Vergangenheit“ sind, dann steht damit nicht die Erzählung dessen, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold von Ranke), im Zentrum der Analysen, sondern eine perspektivische Geschichtsbetrachtung von 12

Einleitung

einer zweiten Ebene aus. Bezeichnen wir sie ruhig mit einem Gallizismus als „Geschichte zweiten Grades“. Eine Geschichte Europas, so wie sie wahrgenommen und erörtert wurde, die man für sich in Anspruch nimmt oder von Generation zu Generation neu interpretiert. Es geht um alles, was unsere Vorgänger für wert befunden haben, es aufzuzeichnen, aufzubewahren, zu überliefern und umzuformen, um darüber zu debattieren, weil das für sie etwas Sinnhaftes war; es geht aber auch um das, was uns an unserem gemeinsamen und umkämpften Erbe als existenziell bedeutsam erscheint. Um drei große Themen geht es bei dieser „Geschichte zweiten Grades“. Das erste wird vor allem in unserem ersten Band behandelt. Im Mittelpunkt steht hier, was Augustinus von Hippo in seinen Bekenntnissen als „Gegenwart der Vergangenheit“ bezeichnete. Damit sind hier keine Totems oder zu verehrenden Erbstücke gemeint, sondern ein komplexes Geflecht von mitunter unangemessenen, ja missbräuchlichen Interpretationen und Aneignungen der Vergangenheit, aber auch von Dingen, die man zu verbergen und zu verdrängen sucht, denn die Erinnerung ist, wie Günter Grass einmal sagte, abwechselnd „Gnade“ und „Fluch“. Im heutigen Europa erstickt das Reich der Erinnerungen, dieses „Totenhaus“, von dem Tony Judt sprach, nicht die Lebendigkeit der verschiedenen Erzählungen und Gegenerzählungen. Trotz der schweren Last der Zeitgeschichte auf den Spuren der Erinnerungsdiskurse und -praktiken wollten wir es uns nicht versagen, Jahrhunderte und Räume zu überspringen und in die Tiefe der Vergangenheit bis hin zu den Ursprungserzählungen einzutauchen. Denn gerade in ihrem Rückgriff auf ein ererbtes, aber immer wieder neu interpretiertes Repertoire lassen sich neue Zukunftsentwürfe am besten ausloten. Das schmerzliche Erbe des 20. Jahrhunderts verlangt von uns sicherlich eine „solidarische Erinnerung an das nicht Wiedergutzumachende“ (Jürgen Habermas), doch trifft diese Maxime auf die unvermeidliche Verschiedenheit unserer Erfahrungen und die sie konstituierende Hetero­ genität unserer Erinnerungen. Diese wesensmäßige Diversität ist der Gegenstand unseres zweiten Bandes, der den Titel „Vielfalt und Widersprüche“ trägt. Sie ist auch der Grund für die hier gewählte polyzentrische und kaleidoskopische Herangehensweise, die den verschiedenen Verkörperungen nachgeht, die tief in unsere Erinnerung eingraviert sind. Das können Personen oder Vorstellungen, Orte und Räume, Strukturen 13

Étienne François und Thomas Serrier

wie Ereignisse sein. Unsere Kamera wurde jedenfalls an unterschied­ lichen Orten aufgestellt; sie ist mobil, spielt mit den Brennweiten und vermeidet das Standbild. Ihre Lebendigkeit verdanken die europäischen Erinnerungen nicht zuletzt auch der von Anfang an gegebenen engen Verflechtung Europas mit einer Welt im Wandel. Deshalb verfolgen wir in unserem letzten Band so viele Spuren: Wir gehen der Frage nach, welche Rolle Konflikte und wechselseitige Anziehung gespielt haben, welche Folgen die Durchlässigkeit nach außen und nach innen sowie die Begegnungen und Interaktionen der Erinnerungen zwischen einem Europa inside out und outside in haben, die es letzten Endes verbieten, zwischen einem Selbst und einem anderen zu unterscheiden. Diesen Ansatz fassen wir unter dem Begriff „globale Verflechtungen“ und verweisen damit auf Termini wie global cities, global economy und global memory, die ihrerseits eng mit der von Fernand Braudel geprägten économie-monde und dem von uns vorgeschlagen Begriff mémoires-monde zusammenhängen, dem französischen Titel des dritten Bandes. *** Drei große Themenkomplexe sind es also, um die es hier geht: die Beziehung zur gegenwärtigen Vergangenheit, die Beziehung zur inneren Einheit und Vielheit, die Beziehung zur Welt. Alle drei determinieren sich wechselseitig und die jeweiligen Erinnerungen sind keine reinen Objekte einer abgestorbenen Gelehrsamkeit, die ein Friedrich Nietzsche sonst prompt als belanglose „antiquarische Historie“ abstempeln würde. Einzelne Abschnitte der europäischen Geschichte können durchaus Gegenstand einer gemeinsamen und unaufgeregten Erinnerung sein, gleichwohl ist der Konsens eher selten. Es dominiert die Konflikthaftigkeit der zahlreichen brüchigen und gespaltenen Erinnerungen, die des gleichermaßen distanzierten wie engagierten Blicks einer kritischen Historie bedürfen. Der Titel Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte hat sich am Ende wie von selbst ergeben. Er umfasst all die Gegensätze, um die es geht, die stets möglichen Polemiken ebenso wie die sich immer wieder einstellenden Versuchungen, uns die europäische Geschichte anzueignen. Wenn wir „unsere Geschichte“ sagen, gehen wir aber nicht von einer fiktiven Gemeinschaft aus und schließen erst recht niemanden aus. Als 14

Einleitung

europäische und nicht europäische Autoren, die sich hier in ihrer Unterschiedlichkeit vereinen, ist es uns bewusst, vor welche Herausforderungen uns die politische, gesellschaftliche und kulturelle Indienstnahme der Vergangenheit stellt. Die Identifikationen mit „unserer“ Geschichte, die hinter diesem Possessiv stecken, sind eben gerade partieller, subjektiver und potenziell antagonistischer Art. Sie müssen deshalb in ihren jeweiligen Kontext eingebettet werden. Gleichwohl gestattet es uns der kollektive Charakter unseres Unterfangens, ein ebenso reales wie mobiles „Wir“ wahrzunehmen, ein „Wir“, das unsere Individualitäten übersteigt, kurz ein „Wir trotz allem“. Wir sind alle von einer einfachen Leitfrage ausgegangen, die erst in einem zweiten Schritt in Neben- und Unterfragen aufgegliedert wurde: Kann man – und, wenn ja, in welchem Fall – von einem europäischen Gedächtnis im Singular sprechen – oder müssen wir den Plural vorsehen? Sind die europäischen Erinnerungen mehr als die Summe der nationalen Erinnerungen? Verfügt Europa – so wie die Nationen, aus denen es besteht – über die „signifikativen Einheiten materieller oder ideeller Art, aus denen menschlicher Wille und die Zeit das symbolische Element einer Gemeinschaft schmieden“, die Pierre Nora 1984 als Erster auf diese Weise als „Erinnerungs- bzw. Gedächtnisorte“ definiert hat? *** Man gestatte uns an dieser Stelle ein persönliches Wort. Wir sind beide Deutsch-Franzosen aus zwei unterschiedlichen Generationen. Als solche wurden wir (nicht zuletzt) durch unsere jeweilige Familiengeschichte, die aus Berichten und aus Schweigen über Freuden und Dramen, Entdeckungen und Verlusten besteht, für ein konkretes und anfassbares Europa sensibilisiert. Für uns als Wahlberliner haben der historische Moment 1989 und die große Erinnerungsbaustelle, die das wiedervereinte Deutschland darstellt, entscheidend zu unserem gemeinsamen Interesse an Erinnerungsorten und Erinnerungsproblematiken beigetragen. Als Ort, an dem sich alle aktuellen Fragen des Umgangs mit der Vergangenheit zu konzentrieren scheinen, ist Berlin für uns ein lebendiger „Hypergedächtnisort“, der seit dem Fall der Mauer aufs Neue das Interesse der Weltgemeinschaft auf sich gezogen hat und für die Jugend Europas, ja der Welt, zum place to be und zum place to see geworden ist. 15

Étienne François und Thomas Serrier

Mit Europa wollten wir Pionierarbeit leisten. Und es wurde in der Tat ein regelrechtes Abenteuer. Wie alles hat freilich auch unser Werk seine Grenzen. Von Anfang an war uns klar, dass unsere Befragung der Erinnerungen unweigerlich dazu führen wird, dass die Fülle der Diskurse Randgruppen im Dunkeln lassen und beschwiegene oder tabuisierte Leerstellen überdecken wird. Die Dynamik der Worte und Taten, die sich einen mehr oder weniger großen Anteil am Nachleben im Gedächtnis erkämpft haben, ist auch mithilfe aller kritischen Anstrengung nicht in der Lage, historische Gerechtigkeit walten zu lassen. Trotzdem hindert uns weder diese Einschränkung noch das Bewusstsein eigener Vorprägungen an der Feststellung, dass Europa mit einem Anteil von lediglich einem Viertel französischer Autoren und mit mehr als 50 Prozent Beiträgen, die ursprünglich in einer anderen Sprache verfasst wurden, eine neue Sichtweise anbietet und sich in seinem Ausmaß, seinem Anspruch und seiner Internationalität von allem anderen unterscheidet. So viel Energie von Vancouver bis Tokio, Helsinki und Melbourne sowie von Wien nach Kinshasa konnte nur deshalb mobilisiert werden, weil im Kontext des memory boom und der seit mehr als 30 Jahren blühenden memory studies eine überwiegend gemeinsame Sprache entstanden ist beziehungsweise nach und nach im internationalen Austausch elaboriert wurde. Wie fruchtbar hat sich doch der Terminus „kollektives Gedächtnis“ erwiesen, den Maurice Halbwachs vor fast einem Jahrhundert einführte. Die Fülle der Arbeiten, die auf diesem Gebiet von deutschsprachigen Forschern auf der Grundlage der von Jan und Aleida Assmann entwickelten Begriffe „kulturelles Gedächtnis“ und „kommunikatives Gedächtnis“ vorgelegt worden sind, ist hierfür ein spektakuläres Beispiel. Und auf welche success story können die Lieux de mémoire zurückblicken, die nach dem Vorbild von Pierre Nora nach ganz Europa ausstrahlten. Nach den sieben Bänden, die er als Herausgeber zwischen 1984 und 1992 Frankreich gewidmet hat, entstanden nicht minder monumentale Vorhaben in Italien, den Niederlanden, Österreich, Belgien und Polen, etwas weniger umfangreiche in der Schweiz, in Ungarn, Russland und Zen­traleuropa. Einer von uns beiden war auf diesem Gebiet mit dem verstorbenen Hagen Schulze bereits als Mitherausgeber der drei Bände der Deutschen Erinnerungsorte (2001) tätig, während der andere zur stattlichen Reihe der Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte (2012–2015) 16

Einleitung

beigetragen hat. Und doch ist dieses Gebiet auf europäischer Ebene bislang unbeackert geblieben, wenn man einmal von der dreibändigen akademischen Publikation über europäische Erinnerungsorte absieht, die von Heinz Duchhardt, dem Leiter des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte, herausgegeben wurde. Wirkt die Größe der Heraus­ forderung vielleicht einschüchternd wie etwa die Eiger-Nordwand auf Bergsteiger? Mit diesem Buch möchten wir neue Perspektiven eröffnen und hoffen auch, eine erste phänomenologische und strukturale Analyse der europäischen Erinnerungen in ihrer Gesamtheit entworfen zu haben. Dabei hieß es, ein bloßes monologisches Nebeneinander zu vermeiden und eher Nachhalleffekten nachzuspüren, die Zirkulation von Themen zu ermöglichen sowie Begegnungen und partielle Überschneidungen zu organisieren, um so eine Art allgemeine Grammatik der europäischen Erinnerungen herauszuarbeiten. Nach Möglichkeit sollte es auch zu wechselseitigen Spiegelungen kommen und eine Art Streiflicht wird, so hoffen wir, Gedächtniskulturen, die nichts voneinander wissen wollen, erhellen. Wenn man über unsere Auswahl und unsere Festlegungen ­diskutieren und vielleicht auch streiten wird, haben wir bereits einen Teil unserer Ziele erreicht. Zu guter Letzt müssen wir wohl auf das scheinbare Paradoxon eingehen, dass wir keine A-priori-Definition des Begriffs Europa anbieten. Dies ist eine bewusste Entscheidung, denn wir betrachten es als Vorrecht eines kritischen Vorgehens, mithilfe von sich ständig verändernden Gedächtnisinhalten und Erinnerungspraktiken jeglicher essenzialistischen Konzeption entgegenzutreten, die ihrerseits die von ihr untersuchten Gegenstände als unveränderlich betrachtet. Die unaufhörlichen identitären Neuformierungen Europas von einer Generation zur anderen, von Raum zu Raum, von einer sozialen Gruppe zur nächsten stehen im Mittelpunkt unserer Reise durch das Europa der Erinnerungen. Wenn wir uns absichtlich nicht auf die unlösbaren Auseinandersetzungen um eine Definition Europas einlassen, wird dies unserer Untersuchung dabei helfen, zu erfassen, was Europäer und Nichteuropäer – die von gestern wie die von heute – in ihrer jeweiligen Zeit bei der Nennung dieses Namens assoziierten und verstanden, aber auch was sie als für ihr eigenes Schicksal Verantwortliche taten und hofften im Angesicht der Herausforderungen ihrer Gegenwart und unter 17

Étienne François und Thomas Serrier

­ eranziehung der Partituren der Vergangenheit, auf deren Grundlage H sie mehr oder weniger gekonnt ihre Zukunftsmusik komponieren. Auch wenn „wir Europäer, die wir letzten Endes für unsere Zukunft verantwortlich sind, nichts mehr gegen unsere Vergangenheit tun können“, wie der ungarisch-französische Historiker François Fejtő 1988 in seinem Requiem pour un empire défunt („Requiem für eine untergegangene Monarchie“) schreibt, hat der Umweg über die Erinnerungen nichts mit Rückwärtsgewandtheit zu tun. Mit seinen 133 Beiträgen, die man ebenso gut als Ausgangspunkte wie als Orientierungsmarken betrachten darf, ist es vor allem anderen das Ziel von Europa, Neugierde zu wecken und zu Diskussionen anzustiften. Die europäischen Erinnerungsorte sind durch vielfältige Wechselbezüge und Spiegelungen miteinander verbunden und können deshalb nicht unabhängig voneinander existieren. Damit erinnern sie daran, dass die europäischen Erinnerungen, wie bereits Edgar Morin betont hat (Penser l’Europe, 1990, beziehungsweise Europa denken, 1991), vor allem „dialogischer“ Natur sind. Sie sind nichts Starres und leben nur durch die vielen Akteure, die sie teilen. Sie formieren sich ständig neu und werden das sein, was wir aus ihnen machen.

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1. Brandmale

Valérie Rosoux / Akiyoshi Nishiyama

Einführung: Die Vergangenheit lösen

„Die Toten sind die Unsichtbaren. Sie sind nicht die Abwesenden.“ Dieser Satz von Victor Hugo zeugt eindringlich von der Anwesenheit der Vergangenheit in unserem Leben. Diese Anwesenheit ist vielgestaltig. Die Vergangenheit ist – je nach den Orten und den Gesprächspartnern – entweder richtungsweisend für die Zukunft oder eine Last. Überall ist sie weiterhin von Bedeutung. Der rote Faden dieses ersten Teils zeichnet eine Vielschichtigkeit nach, bei der die unsichtbarsten Schichten keineswegs die unwichtigsten sind. Zwischen die Schichten, die uns mit der Antike verbinden, schieben sich Zwischenräume, in denen das Schweigen herrscht: Die ganze Kehrseite unserer Leben ist in dieser Vielschichtigkeit anwesend, von den unterdrückten Erinnerungen über die Gedächtnislücken bis hin zum geleugneten Leid. Der erste Teil dieser Publikation nimmt die Form einer Spurensuche an: Manche Wege sind bereits ausgesteckt, andere hingegen sind unerwartet. Unterwegs wird der Leser einer Vielzahl von Gesichtern und Stimmen begegnen. Es geht darum, mit dem Gewicht der Vergangenheit umgehen zu lernen und sich mit ihren Verwerfungen zu konfrontieren. Die Autoren lassen sich auf eine Herausforderung ein: Sie wollen die Emotionen über lange Zeitstrecken hinweg messen – und das bedingt, dass sie nicht nur die auslösenden Momente ausmachen müssen, sondern auch die Spannungen und die Verschiebungen, die die Fäden unserer Geschichte ineinander verflechten. Alle Überlegungen berühren mehr oder weniger die Frage der Überlieferung. Von Generation zu Generation werden nicht nur die Erzählungen weitergegeben, sondern auch die Emotionen: die Dankbarkeit, wenn die Vergangenheit ehrenhaft ist, das Ressentiment, wenn sie demütigt, die Angst, wenn sie unterdrückt, die Hoffnung, wenn sie befreit, die Nostalgie, wenn sie fehlt, die Schande, wenn sie anklagt, 21

Valérie Rosoux / Akiyoshi Nishiyama

die Zärtlichkeit, wenn sie besänftigt, den Hass, wenn sie verstümmelt, den Kummer, wenn sie spaltet, das Schuldgefühl, wenn sie wie Blei lastet, und die Gelassenheit, wenn sie Respekt bezeugt. Die Emotionen schließen einander keineswegs aus, sondern verbinden sich. Nostalgie und Wut werden kombiniert. Ressentiment, Hass und Schuldgefühl greifen dort ineinander, wo die Konflikte andauern. Angst und Verantwortung konfrontieren einander, um die Zukunft zu erfinden. Die europäische Geschichte ist in diesen Bewegungen, die jeweils ihr eigenes Tempo besitzen, verankert. Inwiefern prägt uns diese Gedächtnisbahn weiterhin? Um diese Frage zu beantworten, gliedern sich die Einträge des ersten Teils in vier große Themenkreise: die Verbrennungen, die Erzählungen, die Wiegen und die Nahkämpfe. Der erste Themenkreis verweist auf das brennende Gedächtnis Europas. Wie kann man auf einem Kontinent, der mit großer Mühe die Wunden seiner Kriege zu heilen sucht, das Gewicht der Vergangenheit leugnen. Der tschechische Philosoph Jan Patocˇka, einer der Sprecher der Charta 77, der bis zum Ende seines Lebens gegen die Angriffe auf die menschliche Würde Widerstand leistete, setzt Europa mit einer „Gemeinschaft der Erschütterten“ gleich. Wenn man die Erschütterung, die den Kontinent verstümmelt hat, ernst nimmt, dann muss man die Spuren und die Abdrücke ausmachen, die weiterhin unsere Vorstellungen und unsere Verhaltensweisen beeinflussen. Die Deportationen, die Diktaturen und die Massaker, die Europa verheert haben, beschränken sich nicht alle auf das 20. Jahrhundert. Die tragischen Stunden der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Zeitgeschichte hallen wie das Echo ein und desselben Dramas nach. Die Seiten, die ihnen in dieser Publikation gewidmet sind, zeigen, dass manche Wunden verheilt, andere hingegen nach wie vor offen sind. Der zweite Themenkreis ist der der großen Erzählungen. Um den Zerreißproben standzuhalten und den Horizont zu erweitern, sind Stimmen laut geworden, um Diskurse mit universeller Tragweite vorzuschlagen. Demokratie, Vernunft, Humanismus oder Aufklärung, lauter Prinzipien, um Denken und Tun zu verankern. Sozialstaat, zweites Geschlecht oder Homosexualität, lauter Kämpfe, um nach und nach die Grundrechte jedes Individuums anzuerkennen. Jede dieser hier erwähnten großen Erzählungen ist – ungeachtet ihrer scheinbaren Einheit – die Frucht intensiver Verhandlungen, sei es auf nationaler Ebene (darum geht es bei 22

Einführung: Die Vergangenheit lösen

der Konstituierung von Identität), auf internationaler Ebene (die Kämpfe kennen keine Grenzen), auf lokaler Ebene (die Erzählungen sind immer irgendwo verwurzelt) und sogar auf individueller Ebene (die vielen Verhandlungen im eigenen Selbst, bevor man endgültige Taten setzt). Der dritte Themenkreis vertieft die Ursprünge. In Europa gibt es mehrere Wiegen: Jerusalem, Athen und Rom, Homer und Averroës, das römische Recht und den Islam. Keine Facette des Kontinents ist identisch und würde ohne die meistens heftigen Reibungen mit dem anderen existieren, von der antiken Nymphe bis hin zu den Monotheismen. Dieser andere, der bald als Barbar, bald als Wilder beschrieben wird, aber immer als derjenige, der nicht wie wir ist, wechselt je nach den Gestaden. Die Angst vor der Dekadenz, der Bau von Brücken und die Errichtung von Mauern, jeder Schlüsselmoment ist ein neuer Würfelwurf. Der letzte Themenkreis ist der der Nahkämpfe, die unsere Vorstellungswelten bevölkern. Von der Konterrevolution bis zum Klassenkampf hat sich Europa rings um Konfrontationen für die Emanzipation oder gegen die Segregation gespalten und strukturiert. Die Zeit der Konfrontationen ist keineswegs vorüber, sie entwickelt sich. Die Seiten, die vor uns liegen, laden dazu ein, eine höhere Warte einzunehmen, die Neugier zu steigern und auf alle Fächer zurückzugreifen, um die verschiedenen und mitunter antagonistischen Vergangenheiten miteinander zu verbinden. Um dies zu schaffen, berufen wir uns auf Johann Sebastian Bach, den Meister des Kontrapunkts. Es setzt sich nicht mehr eine einzige Stimme durch, die die andere auf die Rolle der Begleitung oder sogar auf die des Metronoms beschränkt: stattdessen mehrere ineinandergreifende Stimmen, ein unaufhörlicher Dialog, Verhandlungen ohne das Beisein der Mächtigen. Wie kann man „die Vergangenheit lösen“ und „die Zukunft entriegeln“? Wie kann man Helle erzeugen mit dem Dunkeln? Zu den Schauplätzen des Verbrechens zurückkehren, um Ehre zu erweisen, und, wie Marguerite Yourcenar es wünschte, „die Augen offen halten“.

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Étienne François / Thomas Serrier

Der Schatten des Zweiten Weltkriegs Europa hat sich auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs als befriedeter Kontinent konstituiert. Nach Jahrhunderten interner Kämpfe musste es sich neu erfinden, um zu überleben. Der Krieg als Matrize seiner Geschichte schwebt von Neuem wie ein warnender Schatten über einer politischen und juristischen Konstruktion, der es schwerfällt, sich weiterhin herauszuhalten.

Eine Christusstatue umringt von den Ruinen des durch die Wehrmacht 1944 ­zerstörten Warschaus.

Der Schatten des Zweiten Weltkriegs

„Wohin sind die Soldaten verschwunden?“ Diese Frage stellte sich der US-amerikanische Historiker James J. Sheehan in einem vor Kurzem erschienenen Buch. Der friedliche way of life, der an der Wende zum 21. Jahrhundert von Lissabon bis Tallinn und von Dublin bis Bukarest vorherrscht, scheint zu bestätigen, dass das Konsumdenken und die Sorglosigkeit nunmehr weit entfernt sind von jeglicher Kriegskultur und diesem traditionellen „Kult der Nation in Waffen“ (Jakob Vogel), der die europäischen Gesellschaften so lange mobilisiert hat, um sie in einem ähnlichen Stechschritt aufeinander losmarschieren zu lassen. Heute mobilisiert das Nein zum Krieg die Massen. Die bislang größte transeuropäische Menschenansammlung hat am 15. Februar 2003 stattgefunden, um gegen die US-amerikanische Intervention im Irak und die Beteiligung mancher europäischer Staaten an dieser Koalition zu protestieren. Eine Million Demonstranten in London, Rom und Barcelona, 500 000 in Madrid, Berlin und Paris sowie Demonstrationen in allen europäischen Städten, in Wien, Budapest, Prag und Warschau bis hin nach Minsk und Moskau. Die reenactments, diese kostümierten und spielerischen Wiederholungen großer Schlachten der Römerzeit, des Mittelalters oder der napoleonischen Zeit, die Mode des histotainement oder auch die Videospiele lassen wie früher die Zinnsoldaten und die Kartenspiele die Kriege von einst im Gedächtnis lebendig bleiben. Doch das große Narrativ ist heute das der Demokratisierung und der Pazifizierung des Kontinents, die ­Jacques Derrida und Jürgen Habermas nach den großen Demonstrationen von 2003 in ihrem gemeinsamen Plädoyer mit dem Titel „Nach dem Krieg: die Wiedergeburt Europas“ deutlich zum Ausdruck brachten. Der Friedensnobelpreis, der 2012 der Europäischen Union verliehen wurde, bestätigt diese vorherrschende Sicht der Dinge.

60 Millionen Tote Der Kontrast ist umso stärker, zumal die Europäer von heute den Eindruck haben, es gäbe eine Zäsur zwischen einem Davor und einem Danach: zwischen der ersten Hälfte des Jahrhunderts – „des schrecklichsten in der westlichen Geschichte“ (Isaiah Berlin) – und der zweiten, von der Pazifizierung geprägten Hälfte. Denn die kollektiven Gedächtnisse sind nach wie vor von der Erfahrung der zwei Weltkriege schwer 25

Étienne François / Thomas Serrier

belastet. Der Erste wird in manchen Ländern (Frankreich, Großbritannien) als der Große Krieg angesehen und die Erinnerung an ihn ist anlässlich des Gedenkjahres 2014 auf europäischer Ebene massiv wieder hervorgetreten, aber dennoch bildet der Zweite mit seinen weltweit geschätzten 60 Millionen Toten und davon zwei Drittel in Europa die hauptsächliche Zäsur. Die These eines Jahres null und eines Neuanfangs ohne jeglichen Kompromiss mit der Vergangenheit ist aufgrund der mehr oder weniger sichtbaren oder unterirdischen Kontinuitäten zwischen der Zwischenkriegszeit, den Kriegsjahren und der Nachkriegszeit so ziemlich überall in Europa revidiert worden. Doch das Jahr 1945 bleibt der Fluchtpunkt aller großen späteren Erzählungen, seien sie nun national oder auf ganz Europa bezogen. Mehrere Generationen hindurch und mit einer Offenkundigkeit, die nun mit dem Tod der letzten Zeugen nachlassen kann, hat alles die europäischen Gesellschaften zu dieser „letzten Katastrophe“ (Henry Rousso) zurückgeführt, die gleichzeitig destruktiv war und zu einem gemeinsamen Neubeginn führte. Der Zweite Weltkrieg war der erste Konflikt seit dem Dreißigjährigen Krieg, der aufgrund von Massenmassakern, Genoziden, Bombenangriffen, Gewalt gegen die besetzten Bevölkerungen und erzwungenen Migrationen und Auswanderungen mehr zivile als militärische Opfer forderte. Neben den traditionellen militärischen Gedächtnissen (Schlachtenerzählungen, Militaria) sind die traumatischen Gedächtnisse Legion und betreffen zum ersten Mal das Hinterland genauso wie die Front, wodurch die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien fließend wird. Wie bei jedem Krieg werden bestimmte Schlachten zu föderierenden Symbolen: Die Schlacht um England, die um Stalingrad, die Landung der Alliierten in der Normandie oder die Eroberung von Berlin im Mai 1945 sind eigenständige Erinnerungsorte in Europa und auf der ganzen Welt. Sie nähren die kulturellen Vorstellungswelten seit Jahrzehnten ununterbrochen. Doch das Schicksal der Zivilbevölkerung nimmt in den Kriegserinnerungen einen immer größeren Platz ein. Der zunehmende zeitliche Abstand und mehr noch die zentrale Stellung der Zivilisten sowie der ideologische Charakter des Konflikts tragen seit 1945 im langsamen Ablauf der Jahre zu einer tiefreichenden Umwandlung in der Verteilung der Rollen bei. Die klassische Aufteilung in Siegerländer und Verliererländer wird überdeckt und sogar ersetzt von einer moralischen Aufteilung zwischen Widerstandskämpfern und Kollabora26

Der Schatten des Zweiten Weltkriegs

teuren, Opfern und Tätern. Diese nachhaltig wirkende binäre Lektüre trifft zwar auf komplexe Realitäten, insbesondere in dem zwischen Adolf Hitler und Josef Stalin gefangenen Mitteleuropa, erlaubt aber in fine auch europäische Bündnisänderungen und Übereinstimmungen. Das gilt etwa für Deutschland, das sich, wie dies Bundespräsident Richard von Weizsäcker ausgesprochen hat, nach und nach eher als vom Nationalsozialismus befreit als von den Alliierten besiegt betrachtete.

Der Kontinent des Kriegs Die These vom „europäischen Bürgerkrieg“ wurzelt zweifelsohne in diesen charakteristischen Merkmalen des Zweiten Weltkriegs. Der „zweite Dreißigjährige Krieg“, ein weiterer, von Charles de Gaulle geschätzter Vergleich, um die Jahre 1914–1945 zu benennen, ruft in Erinnerung, dass die Lektüre dieser Kriege vor dem Hintergrund einer viel weiter zurückreichenden konfliktreichen Geschichte erfolgt. Europa, heute ein Kontinent des Friedens in einer zum Teil mythisch verklärten zeitgenössischen Sicht, erscheint im Lauf seiner Geschichte viel mehr als ein Kontinent des Kriegs. Die komplexe Karte der Konflikte, die für die europäische Geschichte konstitutiv sind, hat keineswegs zu einer unlesbaren Marketerie geführt, sondern durch Nachahmungseffekte dazu beigetragen, die konfliktreichen europäischen Gemeinschaften dank der Verbreitung identischer Gedenkpraktiken zu vereinen. Das Motiv des Krieges, das seit Homer in der europäischen Literatur allgegenwärtig ist, ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Auf dem Gebiet des Wortes entwickelt sich eine gemeinsame Grammatik, die die großen Autoren und die großen Werke von einer Sprache und einer Kultur in eine andere im vollen Sinn des Wortes übersetzbar macht: Die germanische Sage der Nibelungen, die die Vernichtung des Besitzes der Burgunder am Rhein am Ausgang der Antike schildert, das Rolandslied, das den Kreuzzug Karls des Großen gegen die Sarazenen in ein Epos verwandelt, die historischen Dramen Shakespeares, die den Hundertjährigen Krieg und den Rosenkrieg behandeln, Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Kriegs, Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz sowie Krieg und Frieden von Lew Tolstoi über die Napoleonischen Kriege, Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque über den Ersten 27

Étienne François / Thomas Serrier

Weltkrieg, Die Brücke über die Drina von Ivo Andrić über die Konflikte auf dem Balkan oder auch Leben und Schicksal von Wassili Grossman und Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell über den Zweiten Weltkrieg sind repräsentative Beispiele dafür. Die visuellen Künste eignen sich zu ähnlichen Zirkulierungen, von dem Wandteppich in Bayeux über Les misères et les malheurs de la guerre von Jacques Callot und Die Schrecken des Krieges von Francisco de Goya, die Primo Levi für den Einband der Erstausgabe von Ist das ein Mensch? auswählte, bis hin zu Guernica von Pablo Picasso. Diese Vergangenheit kriegerischer Konflikte hat sich zunächst an Orten verankert, wobei manche Schlachtfelder zweimal, dreimal oder gar viermal gedient haben. Das gilt für Fleurus im belgischen Hennegau (1622, 1690, 1794, 1815) oder Lützen in Sachsen (1632 und 1813), was die Propaganda mancher Kriegführenden selbstverständlich hervorgehoben hat, um die Revanche für eine vergangene Demütigung zu betonen. Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg gibt seinem Sieg über die Russen im Jahr 1914 den Namen Tannenberg, um die Niederlage des Deutschritterordens im Jahr 1410 gegen das Heer der Polen und Litauer auszulöschen. Der polnische Plakatmaler Tadeusz Trepkowski zieht 1945 sofort eine frappierende Parallele zwischen den drei Daten 1410, 1914 und 1945 und sieht den Untergang des „Dritten Reichs“ in einer Kontinuität mit dem jahrhundertelangen Kampf der Polen und Slawen gegen den deutschen Aggressor. Eine ganze klassische heroische Kultur, die sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aus den Heldentaten der Nation oder aus Topoi der Antike speist, versteht sich darauf, derartige Parallelen zu ziehen. Die Verteidigung des Leonidas vor den Persern bei den Thermopylen liefert einen Archetyp, den man selbst in heutigen Actionfilmen findet. Wie immer auch dieser oder jener Krieg enden mochte, das Resultat ist jedenfalls eine große Homogenität, die sich jedem Reisenden, der den Kontinent durchquert, aufdrängt: keine europäische Stadt ohne Triumph­ bogen, ohne Siegessäule, ohne Prunkstraßen, die nach stiftenden Siegen oder Schlachten benannt sind, wobei der Leipziger Platz in Berlin, der der Völkerschlacht von 1813 gedenkt, ein Echo im Austerlitz-Bahnhof in Paris findet oder im Waterloo-Bahnhof in London. Auf den großen Plätzen befinden sich die Statuen von Generälen und Helden des Vaterlandes, in den Museen die Fresken, die die militärischen Eroberungen und Tugenden der Ahnen glorifizieren. Es gibt auch keine europäische Stadt, die 28

Der Schatten des Zweiten Weltkriegs

nicht daran erinnert, dass sie in Ruinen lag und wiederaufgebaut wurde, so etwa das während des Dreißigjährigen Krieges zerstörte Magdeburg, das 1689 von der Armee des Sonnenkönigs Ludwig XIV. zerstörte Heidelberg, die im Ersten Weltkrieg in Ruinen gelegten Städte Verdun und Reims; Rotterdam, London, Warschau, Leningrad, Königsberg und Dresden, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, bis hin zu Sarajevo und Vukovar, die in den Jugoslawienkriegen verheert wurden. Paris oder Prag, Rom oder Krakau stehen in dieser schwindelerregenden Liste als wie durch ein Wunder verschonte Ausnahmen da. Die Neuerungen auf dem Gebiet der Gedächtnispraktiken verbreiten sich sehr schnell, etwa die Kriegerdenkmäler, die Kenotaphe oder die Gräber des unbekannten Soldaten, diese „großen Friedhöfe unter dem Mond“, wie Georges Bernanos sie nannte, die von einem Ende des Kontinents bis zum andern das Andenken an die Kriege und die Hekatomben bewahren, die ihn in Blut getaucht haben. Durch ihre gotische, barocke oder klassische Architektur oder durch ihre Materialien, Stein oder Backstein, unterscheiden sich die europäischen Städte, nicht aber durch diese austauschbaren Dekorationen, die übrigens zu Unrecht als erinnerungsfördernd angesehen werden, denn nichts ist durch die Alltagsroutine so schnell zur Unsichtbarkeit bestimmt wie ein Denkmal, wie Robert Musil ironisch anmerkte. Das Gedächtnis der Kriege, das meistens von einer patriotischen Logik und der nationalen Gemeinschaft bestimmt wird, bietet auch die Möglichkeit, die traditionellen Koalitionen zu erkennen. Es begründet eine Europakarte der Bündnisse und der Erbfeindschaften, die sich in den nationalen Stereotypen einnistet – die Polen etwa warten seit Napoleon ständig auf die Franzosen – und in der transkontinentalen Mode dieser humoristischen Postkarten am Ende des 19. Jahrhunderts aufblühte, auf denen man sieht, wie ein Deutscher mit Pickelhaube über einen französischen Zuaven oder Spahi herfällt, während er von hinten von einem Russen angegriffen wird, der groß wie ein Bär und wie ein Muschik gekleidet ist.

Nach dem Krieg: Pax europeana „Polemos [der Konflikt, der Krieg] ist der Vater aller Dinge“, sagte Heraklit. In der europäischen Geschichte ist der Krieg ganz offenkundig eine Matrize: eine Matrize der Nationen (der Hundertjährige Krieg für Frank29

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reich und England), die Matrize eines europäischen Gleichgewichts (der Dreißigjährige Krieg, aus dem das westfälische System hervorging, oder die mit den Wiener Verträgen abgeschlossenen Napoleonischen Kriege, die das Konzert der Nationen ermöglichten) und schließlich die Matrize des europäischen Aufbaus, der aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs und der Ohnmacht eines Europas in Ruinen hervorgegangen ist, das unter der Vormundschaft der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion stand. Die Europäer erinnern sich gern an diese Bekehrung zum Frieden, die sich in die ehrwürdige Tradition einer Suche nach einem ewigen Frieden einschreibt, die parallel zur Tradition der Kriege verläuft und von Erasmus von Rotterdam über die berühmten, 1713 vom Abbé de Saint-Pierre und 1795 von Immanuel Kant vorgeschlagenen „ewigen Friedensprojekte“ bis zu den „Vätern Europas“ reicht. Ist das die übliche Selbstzufriedenheit eines gewissen europäistischen Diskurses, der, weil zu oft heruntergeleiert, an Kraft für die gesegneten Generationen der nach 1945 Geborenen eingebüßt hätte, die nur die Lebensqualität in einem vereinten Europa gekannt haben? Mag sein. Die Entrüstung und die Ratlosigkeit der heutigen Europäer angesichts des Krieges, der bei ihnen wieder zu einer Realität geworden ist (1991 bereits mit den Kriegen in Jugoslawien, heute in der Ukraine), sind deshalb umso spürbarer, da sie doch geglaubt hatten, ihn für immer verbannt zu haben, was sie nicht daran hinderte, außerhalb von Europa militärisch einzugreifen, und zwar seit den Kolonialkriegen der Nachkriegszeit bis hin zu den zeitgenössischen Interventionen in Afrika oder Asien. Die kriegerische Rhetorik, die noch vor 16 Jahren verurteilt wurde, als sie von George W. Bush für den Beginn seiner Offensive im Irak verwendet wurde, hat im Kontext des zeitgenössischen islamistischen Terrorismus wieder Einzug gehalten und dabei deutliche Unterschiede ins Licht gerückt. Präsident François Hollande verwendet sie in der Reaktion auf die Attentate in Paris vom 13. November 2015, während Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin im Dezember 2016 deutlich von diesen martialischen Tönen Abstand nimmt. Nach mehreren Jahrzehnten der Gewöhnung an den Frieden entdeckt Europa von Neuem die Aktualität des Konzepts von Carl von Clausewitz, für den der Krieg nichts anderes als „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist. Oder das von Carl Schmitt, für den jegliche Politik auf der Dichotomie zwischen Freund und Feind basiert. Ohne 30

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direkt die Frage nach dem Preis zu stellen, den es für die Konstruktion eines von der Unausweichlichkeit des Kriegs befreiten politischen und kulturellen Gebildes zu entrichten gilt, werden sich die Europäer der Tatsache bewusst, dass es ihnen vielleicht schwerfallen wird, noch länger „über dem Schlachtengetümmel zu bleiben“, um hier den frommen Wunsch eines Romain Rolland aus dem Jahr 1915 wieder aufzugreifen.

Literatur Alan FORREST, Étienne FRANÇOIS und Karen HAGEMANN (Hg.), War Memories. The Revolutionary and Napoleonic Wars in Modern European Culture, London 2012. Étienne FRANÇOIS, Hannes SIEGRIST und Jakob VOGEL (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich, 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995. Tony JUDT, Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, übers. von Matthias Fienbork und Hainer Kober, München/Wien 2006. Reinhart KOSELLECK und Michael JEISMANN (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994. Mark MAZOWER, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, aus dem Engl. von Hans-Joachim Maass, Berlin 2000. Marie-Louise von PLESSEN, Idee Europa. Entwürfe zum „Ewigen Frieden“, Berlin 2003. Henry ROUSSO, La Dernière Catastrophe, Paris 2012. James J. SHEEHAN, Where Have All The Soldiers Gone? The Transformation of Modern Europe, Boston 2008. Timothy SNYDER, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, aus dem Engl. von Martin Richter, München 2011. Jakob VOGEL, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der „Nation in Waffen“ in Deutschland und Frankreich 1871–1914, Göttingen 1997.

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Jay Winter

Der Erste Weltkrieg – Europas Selbstmord Der Erste Weltkrieg hat die Herrschaft Europas beendet und Wunden geschlagen, die nie verheilt sind. Heute gibt es ein ­breites Gedenken an diese Katastrophe, zugleich von Staaten wie von Individuen, fast so, als fülle es in Gesellschaften, in denen Institutionen zerfallen, ein religiöses Vakuum und befriedige ein Bedürfnis nach den eigenen Wurzeln und der Herkunft.

Der französische Präsident Emmanuel Macron begeht am 8. November 2018 das Gefallenenmahnmahl für den Ersten Weltkrieg in Notre-Dame de Lorette. Mehr als 580 000 Namen von Gefallenen sind eingraviert auf diesen ‚Buchseiten‘ des „Anneau de la Mémoire“, des „Rings der Erinnerung“, in alphabetischer Reihenfolge, ohne Nationalität, Dienstgrad und ohne Religionszugehörigkeit.

Der Erste Weltkrieg – Europas Selbstmord

Seit 2014 hat sich eine Flut von Gedenkveranstaltungen über die Länder, die am Ersten Weltkrieg beteiligt waren oder aus ihm hervorgegangen sind, ergossen. Andere Staaten, die von dem Gemetzel der Jahre 1914– 1918 weniger direkt betroffen waren, haben ebenfalls an der Diskussion über sein Wesen, seine Ursachen und seine Folgen teilgenommen. Diese weltweite Welle von Gedenkfeiern ist keineswegs überraschend: Der Große Krieg hat die internationale Staatenordnung radikal verändert, er hat eine neue Ära eröffnet, die wir als „Kalten Krieg“ zwischen dem Kommunismus und seinen Gegnern bezeichnen, und der europäischen Vorherrschaft über die Angelegenheiten der Welt ein Ende gesetzt. Wie von Alexis de Tocqueville vorhergesagt, sind es nunmehr die Vereinigten Staaten und Russland (das zum Kern der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken geworden war), die einen europäischen Kontinent einrahmen, dessen Kriegswunden nie gänzlich verheilt sind. Eine dezentralisierte Weltwirtschaft ersetzte eine eurozentrierte Wirtschaft, die die Kosten ihrer Präsenz in ihren Kolonien und ihren Einflussgebieten nicht mehr unbegrenzt tragen kann. Die Alliierten gewannen zwar den Krieg zum Teil dank ihrer imperialen Macht, aber dieser Konflikt markierte zugleich den Höhepunkt und den Anfang vom Ende der Imperien.

Die Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag (2014–2018) Die Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag haben zwar vielfältige Formen angenommen, lassen sich aber in zwei Kategorien einteilen. Die von den Staaten veranstalteten Feiern bieten regierenden Staatschefs Tribünen, um sich im Namen der Nation an die Nation zu wenden und die derzeitigen militärischen Aktionen und Ausgaben mit der großen Erzählung von den 70 Millionen Männern, die während des Kriegs auf der ganzen Welt zu den Fahnen gerufen wurden, zu verbinden. Und dann die von der Zivilgesellschaft veranstalteten – von örtlichen Vereinen, Familien, Reisebüros, Organisatoren historischer Rekonstruktion, Studenten und Universitätsprofessoren, Kirchen und Synagogen –, um die allgegenwärtigen Narben dieses ersten totalen Kriegs sowie die ­tiefen Spuren, die er auf beinahe allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens der Krieg führenden Staaten hinterlassen hat, in den Vordergrund zu rücken. 33

Jay Winter

Diese beiden Kategorien überlagern sich natürlich zum Teil. Wenn die Museen oder Denkmäler modernisiert oder restauriert wurden, wurden die Arbeiten zusätzlich zu den örtlichen Finanzierungen vom Staat subventioniert. In Frankreich hat eine große „Sammelaktion“ dem Nationalarchiv erlaubt, alle möglichen Unterlagen, Objekte und Fotografien im Besitz von Privatpersonen ausfindig zu machen, die in die Sammlungen der Nationalbibliothek und in die des Nationalarchivs eingegliedert wurden. Die Grenze zwischen Staat und Zivilgesellschaft ist immer schwer zu ziehen, aber seit 2014 hat sie in manchen Fällen einen politischen Charakter angenommen. Sooft der Staat zum Gedenkmikrofon griff, um sich an die Nation zu wenden, verband seine Botschaft gewöhnlich die Traurigkeit über all das vergossene Blut sowie die Hochachtung gegenüber denjenigen, die sich für ihre Länder geschlagen haben. Die Verbindung zwischen den derzeitigen Militärausgaben und der Notwendigkeit einer nationalen Verteidigung wurde durch die Beteiligung von Militärs an den Feiern, die sozusagen die Enkel der Soldaten von 1914 bis 1918 sind, mehrmals in Erinnerung gerufen. Die Gedenkfeiern der Zivilgesellschaft hingegen haben vor allem die kriegsbedingten Umwälzungen hervorgehoben und die menschlichen Verluste nicht nur für die Armee, sondern für die Nation insgesamt. Zahlreiche Veranstaltungen haben die Rolle der Frauen in dem totalen Krieg zwischen Industriemächten in Erinnerung gerufen. Der Markt – das Rückgrat der Zivilgesellschaft – hat ab 1914 Millionen Konsumenten Gegenstände geliefert, die als Miniaturdenkmäler für alle fungieren konnten. Fremdenverkehrsämter und Reiseveranstalter haben dank der Wallfahrten zu den Schauplätzen des Großen Kriegs lukrative Geschäfte gemacht, sie haben Touristengruppen zu den Gedächtnisorten auf der ganzen Welt gekarrt, wo diese mehr oder weniger echte, mehr oder weniger rührende oder banale Souvenirs erstehen konnten. Und darüber hinaus haben Film, Fernsehen und Internet Hunderte Millionen Zuschauer mit Bildern überschwemmt. Die steigende Nachfrage nach Gedenkprodukten des Ersten Weltkriegs erklärt sich hauptsächlich aus zwei soziologischen Tendenzen. Die erste ist der Rückgang der religiösen Praxis in zahlreichen Regionen der Welt. Die Erinnerung an diesen Konflikt wachzurufen, heißt, sich auf sakrale Themen zu konzentrieren – Opfer, Tod, Liebe, Leid und Erlösung –, die 34

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für die früheren Generationen im Wesentlichen in den Bereich der tra­ ditionellen Kirchen gehörten. Da die säkularisierten Mentalitäten die Trans­zendenz in den Hintergrund drängen, werden diese sakralen Fragen nicht mehr in den Kirchen abgehandelt, sondern an anderen Orten und in anderen Räumen: in Kriegsmuseen, in Gedenkstätten und an Schlachtstätten. Die zweite Erklärung für die Entfaltung dieses Erinnerungskults schreibt sich in den Aufschwung der Industrie der Familiengeschichte und der Genealogie ein. Wenn die Familie die Gestalt wechselt und Scheidungen häufiger werden, dann verlieren die Familienbande an Bedeutung. Wenn man sich fragt, wie sein Urgroßvater oder der Ort, an dem man lebt, den Krieg erlebt hat, dann befragt man die örtlichen Solidaritäten und Identitäten. Der Kauf eines Zierdeckchens oder eines Aschenbechers aus dem Kriegsjahr 1914 führt folglich die Erinnerung daran in die Privatsphäre ein. Auf diese Weise wie auch auf viele andere domestiziert das Gedenken den Krieg. Dadurch ermöglicht der Zyklus der Gedenkfeiern des Konflikts von 1914 bis 1918 zahlreichen Menschen, sich auf eine Identität zu berufen – und sich als integrierender Bestandteil einer Nation, die die Umwälzungen des Kriegs erlitten hat, zu betrachten. Dieser Typus der Identitätskonstruktion birgt jedoch eine Falle. Für viele kommt es weniger darauf an, den Krieg gewonnen oder verloren zu haben, als ihn überlebt zu haben, wie die Internationale Gedenkstätte von Notre-Dame-de-Lorette in Nordfrankreich bezeugt, wo die Namen aller im Artois und in Flandern getöteten Soldaten – gleichgültig welcher Nationalität – in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet sind. Für andere hingegen und insbesondere für die Franzosen, die Australier und die Briten ist es keineswegs nebensächlich, den Krieg gewonnen zu haben. Die Identität des „Siegers“ kann somit die Spuren eines Typus von Nationalismus aufweisen, der heute politisch nicht folgenlos ist. Wenn hingegen die Gedenkfeier keine nationale Identität hervorhebt, sondern multiple Identitäten – die Gattin, die Mutter, den Vater, das Kind, das Waisenkind, die Person, die den Invaliden hilft, den Arbeiter, den Bauern, den Lehrer –, dann wird die Erinnerung an die kolossalen Verluste weniger national als örtlich und international. Die Gedenkfeier kann einen pazifistischen Charakter annehmen, wenn sie die Trauergemeinschaft nicht nur auf die Familien der zwei Lager ausdehnt, sondern 35

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auf uns alle, Männer und Frauen heute. In zahlreichen Regionen der Welt hat das Gedenken nichts von einer Feier an sich. An diesen Erinnerungsorten wäre das Feiern des Krieges gleichbedeutend mit einem Feiern der Beulenpest.

Das Heer der Vermissten Von den zehn Millionen in Uniform getöteter Männer währen des Großen Krieges hat die Hälfte keine bekannte Grabstätte. 1914 ist der Krieg zu mehr als einer Tötungsmaschine geworden, und zwar vor allem aufgrund der exponentiellen Entwicklung der Artillerie und der unwiderstehlichen Intensität der Feuerkraft, die von der industriellen Revolution auf die Welt losgelassen worden war. Zwei Drittel der während des Konflikts getöteten Männer wurden aus der Entfernung getötet, von Waffen, die sie nie erblickten. Mächtige Kanonen bombardierten die Städte von Weitem: Paris wurde am Karfreitag des Jahres 1918 getroffen und 88 Gläubige starben während der Messe in der Kirche Saint-Gervais. Doch auf den Schlachtfeldern und hauptsächlich an der Westfront hat die Artillerie das monströseste Gemetzel angerichtet. Der während des Krieges sechsmal verwundete Ernst Jünger verglich die Erfahrung eines Artilleriebeschusses mit dem Schauspiel eines riesigen Hammers, der mit einem fürchterlichen Krachen herabfällt und den eigenen Kopf nur um Zentimeter verfehlt. Der Mut bestand darin, sich nicht zu rühren. 1918 war eine von vier an der Westfront abgefeuerten Granaten eine Gasgranate, was das Entsetzen und das Leid noch zusätzlich verstärkte. Genauso verheerend waren die zwar weniger häufig eingesetzten unterirdischen Tunnels, die mehrere Kilometer Niemandsland durchliefen und Explosionen unter den feindlichen Stellungen ermöglichten, oft am Anfang von offensiven Operationen. Die Artillerie begnügte sich nicht mit dem Töten. Sie grub buchstäblich das Gelände um, weshalb nur wenige notdürftig an der Front ausgehobene Gräber unversehrt blieben. Die Toten von 1914 sind also während der gesamten Dauer des Kriegs von der Artillerie beschossen und die ersten Friedhöfe sind in Ruinen gelegt worden. Die Schlacht um Verdun 1916 zeigte ein anderes Antlitz der furcht­ baren destruktiven Macht der modernen Artillerie. Als sie zu Ende ging, 36

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war es unmöglich, die Überreste der deutschen und der französischen Soldaten zu unterscheiden, die sich zehn Monate lang – die längste kontinuierliche Schlacht der Geschichte – ohne Unterlass dasselbe Gelände streitig gemacht hatten. 1927 widmete Monsignore Charles Ginisty, der Bischof von Verdun, diesen Überresten ein Beinhaus, das heute noch existiert. Diese Verwandlung von Ackerland in eine Mondlandschaft glich eher dem Staub, der eher zum Schlamm wird als wieder zu Staub, um eine biblische Sprache aufzugreifen, die so vielen Soldaten vertraut war. ­Dieser Typus von Krieg machte die Erkennung der sterblichen Überreste schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Was die Bombenangriffe den urbanen Bevölkerungen währen des Zweiten Weltkriegs zufügten, das fügte die Artillerie den Soldaten von 1914 bis 1918 zu. Aus diesem Grund wurde das Heer der Toten rasch zu einem Heer von Vermissten. Das war übrigens auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „vermisst“: wer nirgends anwesend ist. Aufgrund der Störung des Nachrichtenwesens und der totalen, vom Krieg ausgelösten Verwirrung hatte die Ankündigung, dass ein Soldat vermisst wurde, potenziell mehrere Bedeutungen. Er konnte gefangen genommen, verwundet worden und außerstande sein, seinen Namen zu nennen, oder er konnte wahnsinnig geworden sein. Er konnte auch getötet worden sein. Für das Heer bedeutet „vermisst“, dass er beim Morgenappell nicht angetreten war und deshalb nicht mehr zur Stärke seines Regiments gezählt werden konnte. Mitglieder des Roten Kreuzes reisten durch die Welt, um etwaige Informationen über das Schicksal der Vermissten zu sammeln. Man entdeckte manche von ihnen in Spitälern oder Kriegsgefangenenlagern, doch die meisten hatten sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Diejenigen, denen der Tod eines Verwandten bestätigt wurde, hatten paradoxerweise Glück. Man kann sich die Qual der Familien vorstellen, die nicht die geringste Ahnung hatten, was denjenigen, die ihnen lieb und teuer waren, ab 1914 zugestoßen war. Millionen Menschen haben das durchgemacht. Während des Kriegs und manchmal lange danach waren sie dazu verurteilt, mit der Leere, dem Unbekannten, einer Abwesenheit ohne Antwort fertigzuwerden. Es ist begreiflich, dass in dieser Periode spiritistische Praktiken verbreitet waren. Diese Revolution des industriellen Kriegs hat drei Innovationen auf dem Gebiet der Gedenkkultur gebracht. Das Auftreten eines Namenkults 37

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rund um die im Krieg Gefallenen und die in allen Krieg führenden Ländern große Anzahl von Kriegerdenkmälern, auf denen diese Namen standen, waren die erste Innovation. Die zweite war die Errichtung von Kenotaphen, von leeren Gräbern, die symbolisch die Millionen Männer verkörpern sollten, die nie zurückgekehrt sind, oder von Denkmälern zur Er­innerung an die Vermissten gewisser Schlachten wie beispielsweise derjenigen an der Somme und der um Ypern. Diese Schauplätze waren von den Namen der Toten oder der vermeintlich Getöteten dominiert. Die dritte Innovation war die Schaffung von Gräbern, die die sterb­lichen Überreste eines „unbekannten“ Soldaten der verschiedenen Krieg führenden Nationen aufnehmen sollten – und damit die Schaffung eines einzigen Grabes, das alle diejenigen repräsentieren sollte, die über die Welt verstreut waren.

Der Totenkult Der Namenkult ist aus der Demokratisierung des Todes während des Kriegs hervorgegangen. Während in Großbritannien zwischen 1914 und 1916 die Heere nach dem Prinzip der Freiwilligkeit aufgestellt wurden, war auf dem Kontinent vom Beginn der Feindseligkeiten an die Einberufung zum Wehrdienst die Regel. Da 1914 die Anzahl der Gefallenen unermesslich hoch war und die militärischen Verluste ab Weihnachten 1914 eine Million überschritten hatten, nahm man davon Abstand, bei den Gedenkfeiern die Opfer zu privilegieren, die dem Offizierskorps angehört hatten. Und da so viele sterbliche Überreste ganz einfach verschwunden waren, erschien es sinnvoll, das Einzige, was von diesen Soldaten übrig blieb, aufzubewahren und zu ehren, nämlich ihre Namen. Als die Imperial War Graves Commission beschloss, einen rechteckigen Steinaltar auf seinen Militärfriedhöfen aufzustellen, wählte der englische Dichter Rudyard Kipling, der seinen Sohn im Krieg verloren hatte, folgenden Satz aus dem Buch Kohelet: „Und ihr Name ist lebendig für Generationen.“ Auf diesen Friedhöfen wurden die Holzkreuze durch Stelen aus Steinen aus Devonshire ersetzt, auf denen der Name des Mannes eingraviert wurde, sein Regiment, ein Kreuz oder Davidstern und ein von seinen Eltern ausgewählter Text. Auf den Kriegerdenkmälern in Groß­ britannien stehen die Namen gewöhnlich in alphabetischer Reihenfolge oder nach dem Todesdatum 38

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und nicht aufgrund des Ranges der Opfer in der Armee oder in der Marine. Jeder Name hatte den gleichen Wert. Die Kenotaphe sind leere Gräber. In Großbritannien gefiel dieses griechische Wort denjenigen, die allen Toten des Empires Ehre erweisen wollten – Hindus, Muslimen, Juden, Atheisten und Christen. Man errichtete sie an mehreren Orten, aber am bekanntesten ist vermutlich der­ jenige in Whitehall, der für den Siegesaufmarsch am 19. Juli 1919 in London konzipiert worden war. Das von Sir Edwin Lutyens entworfene Kenotaph wurde in sehr kurzer Zeit aus Pappmaschee gebaut. Es handelte sich um eine temporäre Konstruktion, doch angesichts der Begeisterung der britischen Bevölkerung – mehr als zwei Millionen Menschen zogen an diesem Tag und an den folgenden an ihm vorüber – beauftragte die Regierung Lutyens mit dem Bau einer neuen Version aus Stein, die heute noch in Whitehall steht. Die Gräber der unbekannten Soldaten, die in zahlreichen Hauptstädten im Jahrzehnt nach dem Krieg geschaffen wurden, zeugen von einem ähnlichen Willen. Das Kenotaph, ein leeres Grab, konnte das Grab jedes x-beliebigen der zehn Millionen Männer sein, die während des Krieges umgekommen sind. Das Grab des unbekannten Soldaten (eine Ehrung für die Seeleute genauso wie für die in dem Konflikt getöteten Infanteristen) enthält die sterblichen Überreste eines Mannes, der der Ehemann oder der Sohn einer x-beliebigen Person unter den Millionen trauernder Witwen und Verwandten sein könnte. Den unbekannten Soldaten zu ehren, hieß, das große Heer derjenigen zu ehren, die im Krieg einen Angehörigen verloren hatten. Das Denkmal von Edwin Lutyens für die französischen und britischen Soldaten, die 1916 auf den Schlachtfeldern der Somme gestorben waren, wurde 1931 vollendet und eingeweiht. Es ist von bemerkenswerter Schlichtheit. Lutyens Talent hat uns eine Botschaft hinterlassen, die ein visuelles Wunder darstellt. Wenn man an das Kenotaph herantritt, erblickt man ab einer bestimmten Entfernung auf den weißen Platten des Sockels die 73 000 Namen der Männer, denen das Denkmal huldigt und die keine bekannte Grabstätte besitzen. Dieser Augenblick des Erkennens erschüttert die Besucher, die plötzlich alle Namen unterscheiden, diese Namen, die alles sind, was von den im Verlauf dieser einen Schlacht getöteten Männer übrig bleibt. Sie sind in alphabetischer Reihenfolge – jeder in seinem Regiment – eingraviert, nicht, um ihren Rang anzuzeigen, sondern, 39

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um den Besuchern und den Pilgern zu erlauben, die Namen ihrer Familie aufzufinden. Auch heute noch suchen Millionen Menschen diesen Ort auf. Die Vermissten von 1914 bis 1918 waren die ersten einer langen Reihe von Menschen, die vom Krieg und der Gewalt des letzten Jahrhunderts, sei es auf nationaler oder internationaler Ebene, verschlungen worden sind. Nach dem Großen Krieg begann die Suche der Überlebenden des Spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs nach allen Angehörigen, die vermisst wurden, aber das Blutbad womöglich überlebt hatten. Die Schoah hat zu den Vermissten des Kriegs Millionen Opfer hinzugefügt. Das Denkmal in Yad Vashem in Jerusalem enthält einen immensen, zum Himmel zeigenden Zylinder, der die Namen und die Gesichter der während der Schoah ermordeten Juden enthält. Auch hier ist der Kult der Namen aus der Asche der Vernichtung hervorgegangen. Die für die Toten und Vermissten von 1914 bis 1918 konzipierten Gedenkpraktiken haben vergleichbare Gesten zur Ehrung derjenigen angeregt, die verschwunden waren oder die man ab den Siebzigerjahren in ihrem eigenen Land „zum Verschwinden gebracht“ hatte, denn so lautete die neue Formulierung der Staatskriminalität. Alle, die am 11. September 2001 Zeugen des Anschlags auf das World Trade Center gewesen sind, haben einen weiteren Ausbruch der Gewalt von solchem Ausmaß miterlebt, dass auch hier die Körper ganz einfach verschwunden sind. Wie bei den Toten von 1914 bis 1918 hat die Hälfte derjenigen, die am 11. September in Manhattan vermisst wurden, keine Spuren hinterlassen. Und wie in London und in Berlin 1918, wie in den Lagern der „displaced persons“ 1946 und wie auch in Buenos Aires 1985 haben manche weiterhin gehofft, haben sich weiterhin geweigert, an die Wahrscheinlichkeit zu glauben, und haben sich weiterhin Fragen gestellt. Unmittelbar nach dem Anschlag haben sie Botschaften und Fotos in ganz Manhattan angeschlagen: Haben Sie meinen Sohn gesehen? Meinen Gatten? Meine Tochter? Die Gesichter dieser Unschuldigen verlangten nach unserer Aufmerksamkeit, lieferten aber nur selten Antworten. Diese Bilder von Vermissten schaffen eine Brücke zwischen dem 20. und dem 21. Jahrhundert. 1914 hatte die Staatsgewalt eine nie da gewesene Geschwindigkeit erreicht und uns nicht nur mit Verstümmelung und Tod bedroht, sondern mit dem Verschwinden, dem Tod an einem unbekannten, unzugänglichen und undefinierten Ort. Ab 1918 sind M ­ illionen Menschen in dieses Niemandsland eingetreten und nie 40

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wieder zurückgekehrt. Sie sind die Nachfahren der Vermissten der Schlachtfelder des Großen Kriegs.

Die drei großen Gedächtnisbooms Auf den Krieg von 1914 bis 1918 – das größte Blutbad der Geschichte zu diesem Zeitpunkt – folgte der erste Gedächtnisboom des 20. Jahrhunderts. Wie auch bei den späteren Gedenkwellen war der Motor die Technologie. Wenn die Fotografie und der Film Erfindungen des 19. Jahrhunderts waren, so haben die technischen Fortschritte den Kontakt der Massen mit unbelebten oder belebten Bildern des Kriegs exponentiell gesteigert. Die Notwendigkeit, das Andenken an alle diese Toten zu bewahren, hat eine starke Nachfrage nach Gedenkmedien jeglicher Art erzeugt: Die Bücher und Publikationen, die Kunstwerke (ob nun volkstümlich oder nicht), die Fotos und kommerziellen Filme über den Krieg waren sehr zahlreich. Für die Wissenschaftler wie für die Autoren und Künstler der Avantgarde – für Sigmund Freud wie für Marcel Proust oder Virginia Woolf – wurde das Gedächtnis zu einem Gegenstand der Faszination, ja sogar zu einer Obsession. Auch die allgemeine Vorliebe für illustrierte Bücher und Kriegsgeschichten schien unbegrenzt, bevor der Beginn des Zweiten Weltkriegs zusätzliche neue Absatzmöglichkeiten in der ganzen Welt schuf. Der zweite Gedächtnisboom des 20. Jahrhunderts, der in den Achtzigerjahren begann, hatte ebenfalls einen technologischen Motor. Im Lauf dieser Jahre haben die Mittel für die Aufzeichnung, die Aufbewahrung, die Erkennung, die Verwertung und die Verbreitung von Kriegserlebnissen eine radikale Umwandlung durchgemacht. Die Ton- und Bildaufnahmegeräte und dann das Internet haben es ermöglicht, Kriegsbilder sowie die Stimmen und die Gesichter der Opfer in Umlauf zu bringen wie nie zuvor. Die dem Großen Krieg gewidmeten Archive und Museen haben in den Achtzigerjahren und danach überhandgenommen. In den Jahrzehnten davor sind die Wunden der Okkupation und der Kollaboration des Zweiten Weltkriegs mehr oder weniger vernarbt und die Schoah hat einen zentralen Stellenwert in der Erzählung des Kriegs von 1939 bis 1945 eingenommen. Der Einkommenszuwachs in den Achtzigerjahren hat ermöglicht, mehr für kulturelle Produkte auszugeben, vor allem in Museen aller Art, die für eine gebildetere Bevölkerung bestimmt waren. 41

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Der Vietnamkrieg hat dann den Krieg von 1914 bis 1918 in Erinnerung gerufen, die Sinnlosigkeit und Brutalität beider hervorgehoben und dadurch die Vereinigten Staaten, die sich bislang kaum für den Ersten Weltkrieg interessierten, für diesen Gedächtnismarkt zugänglich gemacht, der in Europa bereits auf ein reges volkstümliches Interesse stieß. Die späte Bewusstwerdung der Schoah spielte in der Art und Weise, wie diese Gedenkfeiern gedacht wurden, ebenfalls eine Rolle. Die Schoah war nicht nur eine monströse Entstellung der Kriegspraktiken. Sie war der Kern der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Die zivilen Opfer der Schoah und die der Vielzahl von Gräueln nach 1945 konnten nicht Gegenstand der gleichen Gedenkfeier wie die Soldaten von 1914 sein. Letztere hatten sich dafür entschieden, zu kämpfen; eine Entscheidung, die gewiss vom Gesetz, vom familiären Druck und von der Öffentlichkeit diktiert worden war, aber immerhin eine Entscheidung. Sie hätten meutern oder desertieren können. Die zivilen Opfer der Schoah hatten diese Möglichkeit nicht. Als man die Erinnerung an sie und an andere Opfer des Krieges wachrufen wollte und dabei spät, aber doch explizit die Soldaten einschloss, rührte man an einem neuen Typus von Gedächtnis, das traumatische Gedächtnis, in dem die psychologischen Verwüstungen des Kriegs tief vergraben sein können und lange nach den auslösenden Ereignissen hervorbrechen und lebenslange Auswirkungen haben können. Andere Opfer der Gewalt – etwa die sexuellen Missbrauchs oder auch die Zivilbevölkerungen von Polizeistaaten – sind zu den Menschen hinzugekommen, die dazu verurteilt sind, unter traumatischen Erinnerungen zu leiden, die heute von der Medizin anerkannt werden. Diese Porträtgalerie von Opfern des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat auf subtile Weise die Modelle der Gedenkfeiern von 1914 modifiziert. Die traumatische Psychose ist zulässiger und verständlicher geworden, als man begonnen hat, in ihr den Vorfahren der posttraumatischen Belastungsstörung zu sehen, an der die Soldaten späterer Konflikte leiden. Der von den Familien entrichtete Preis und insbesondere der von Frauen, die verpflichtet waren, die in den Konflikten der Siebzigerjahre und danach traumatisierten Männer zu pflegen, hat den Historikern erlaubt, die Geschichte der Nachwirkungen von 1914 bis 1918 neu zu schreiben und dabei dem Schlagschatten des Kriegs mit seinem Gefolge an Gebrechen und der Art und Weise, wie diese auf dem Familienleben nach 1918 gelastet haben, mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen. 42

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Der dritte Gedächtnisboom tritt mit der exponentiellen Entwicklung der sozialen Netze im digitalen Zeitalter seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts auf. Ohne die Miniaturisierung und die Globalisierung, ohne Handys, ohne die Videospeicher und die Instantfotografie hätte es nie den Skandal um Abu Ghuraib gegeben, ein irakisches Gefängnis, in dem amerikanische Soldaten pornografische und gewalttätige Fotos von ­Folterungen, die sie an ihren Gefangenen begingen, und der Lust, die sie dabei verspürten, aufnahmen und schamlos untereinander teilten. Als diese Bilder „viral“ – und anders ausgedrückt: unkontrollierbar und unwiderlegbar – geworden sind, ist das Gedächtnis des Krieges und seiner Grausamkeiten in eine neue Phase eingetreten. Die virale Zirkulation ist das wichtigste Merkmal dieses dritten Gedächtnisbooms, der eine erneute Zirkulation symbolträchtiger Bilder von Soldaten des Ersten Weltkriegs auf den Schlachtfeldern sowie von Kriegsmaterial, das mehr als dreißig Millionen Menschen getötet oder verstümmelt hat, auslöste. Jeder dieser drei Gedächtnisbooms bestätigt, dass die Art und Weise des Erinnerns zutiefst auf das einwirkt, woran man sich erinnert. Der Große Krieg ist nicht die einzige treibende Kraft des derzeitigen digitalen Gedächtnisbooms, aber er ist ein wesentliches Moment von ihm. Die Umwandlung des Krieges, der einst auf einem hauptsächlich von Soldaten besetzten Schlachtfeld geführt wurde und heute als ein Konflikt auftritt, der mehrheitlich die Zivilbevölkerung trifft, ist mit der Problematisierung und Infragestellung eines gewissen Typs der heroischen Ikonografie und Literatur über Männer in Waffen einhergegangen. Die Schoah ist die Verkörperung des Kriegs, der von Soldaten gegen Zivilisten geführt wird. Andere Katastrophen sind nachgefolgt und haben dazu beigetragen, unseren Blick auf den Krieg zu verändern. Aufgrund dieser mehr und mehr von Zivilisten bevölkerten Bilder ist trotz der türkischen Leugnung der Genozid der Armenier sichtbar geworden, der sich im Herzen der Erzählung vom Großen Krieg angesiedelt hat und die spätere Ermordung der europäischen Juden durch die Nazis vorwegnimmt. Natürlich sind die älteren Darstellungen von Männern in Uniformen, die als edle Krieger dargestellt werden, nicht verschwunden. Man begegnet ihnen noch in vielen Regionen der Welt. Dennoch hat sich eine zweite Kategorie von visuellen oder verbalen Darstellungen, die den Krieg als eine durch nichts gerechtfertigte Schändlichkeit präsentieren, 43

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parallel zu dem durchgesetzt, was Edmund Wilson einmal als „patriotic gore“1 bezeichnet hat. Auch diese zweite Kategorie hat eine weltweite Verbreitung gefunden und partizipiert am digitalen Gedächtnisboom. Diese Serie von Bildern hat einen tiefen und gleichsam einstimmigen Ekel angesichts von Schauspielen ausgelöst, die unvermeidlich mit den heutigen bewaffneten Konflikten einhergehen: etwa Bilder von Obdachlosen, von zerfetzten Körpern von Kindern und anderen Bewohnern von Kriegszonen. In manchen Regionen Westeuropas und Nordamerikas ­neigen diese Bilder dazu, die politische Legitimität des Kriegs zu hinter­ fragen. In anderen Regionen haben sie die Mobilisierung zugunsten militärischer Vergeltungsmaßnahmen gefördert. Wir können nicht ignorieren, dass syrische Kinder in Flüchtlingslagern in der Nähe von Aleppo genau auf dem Boden leben, auf dem vor einem Jahrhundert die armenischen Kinder lebten, die dem Genozid entkommen waren. Man kann noch nicht wissen, ob die schlechte (visuelle) Presse, die der Krieg im Allgemeinen und der von 1914 bis 1918 im Besonderen in diesen letzten Jahren erhalten hat, die Befürwortung des Kriegs in der Öffentlichkeit erschweren wird. Es ist jedoch unübersehbar, dass die gesamten sozialen und medialen Praktiken, die heute den Krieg und dessen Opfer umgeben, sehr wenig mit den Gedächtnissprachen, die vor 1914 gängig waren, gemeinsam haben. Diese Transformation der Kriegsbilder, die für den Konflikt von 1914 bis 1918 unübersehbar ist, ist noch im Gang.

Zeugen und Zeugenberichte Von Lascaux bis heute haben die Kriege Zeugen gehabt, die bestrebt waren, diese Augenblicke der Gewalt festzuhalten. Eines der frappantesten Merkmale des eben abgelaufenen Jahrhunderts ist die beachtliche Entwicklung von neuen institutionellen Strukturen für die Aufbewahrung nicht nur der Stimmen und der Gesichter des Soldaten, sondern auch der Zeugen, die als unschuldiges Zivilopfer des Krieges verstanden werden. Die ersten Zeugen des Großen Kriegs waren die Soldaten, die ihn geführt haben. Der Anfang der Zwanzigerjahre war folglich geprägt von einer Flut von Büchern über den Krieg, von denen die meisten von militärischen 1 Edmund Wilson, Patriotic Gore, New York 1962.

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oder politischen Verantwortlichen der kriegführenden Länder geschrieben worden waren. Die Soldaten, die diese Bücher lesen, erkennen darin den Krieg, den sie geführt haben, nicht wieder und auch nicht die Prüfungen, das Leid, den Schlamm, die Kampfgase und die verkrüppelten Kameraden. Manche von ihnen greifen zur Feder und lösen eine Überproduktion dessen aus, was man zwischen 1928 und 1932 als „Kriegsbücher“ bezeichnete. Die Soldatengedächtnisse werden zu einem weltweiten verlegerischen Markt. Die Filmindustrie folgt dem lukrativen Trend mit Filmen wie Im Westen nichts Neues, einem internationalen Kassenschlager, der auf den 1929 publizierten Erinnerungen des deutschen Soldaten Erich Maria Remarque fußte. Die Deutschen sprachen darin mit einem snobistischen amerikanischen Akzent und stützten damit die Universalität der Botschaft, der zufolge der Große Krieg ein Modell der Sinnlosigkeit für die Sieger wie für die Besiegten ist. Andere Filme zeugen von einem größeren Optimismus, aber alle teilen die Idee, dass der zwischen 1914 und 1918 von den Soldaten geführte Krieg in keiner Weise dem glich, was die Welt zuvor gekannt hatte. Im Lauf des Zweiten Weltkriegs gab es mehr Tote unter der Zivilbevölkerung als in den Armeen. Die Feuerkraft der Luftwaffe und der Beschluss der Nazis, zur Auslöschung verurteilte Zivilisten zur Zielscheibe zu nehmen, erklären weitgehend diese Bilanz. Bücher und Filme, die den Konflikt von 1939 bis 1945 konventionell erzählen, sind während des Krieges und danach erschienen. An Hitlers Krieg war jedoch nicht sehr viel konventionell. Mit der Rückkehr der Stabilität in Europa zwischen 1945 und 1970 und dem Verblassen des Mythos von einem breiten Widerstand im Volk gegen die Naziherrschaft hat der Genozid eine immer zentralere Stellung in der globalen Erzählung des Zweiten Weltkriegs eingenommen. Für den Umgang mit dieser Facette des Krieges sind neue Gedächtnisinstitutionen entstanden und haben eine Rolle bei gewissen Formen der Wiedererinnerung an den Großen Krieg und die Konflikte danach gespielt. Die erste dieser Institutionen ist gerichtlicher Natur. Obwohl der Friedensvertrag von Versailles im Jahr 1919 den Kaiser angeklagt hat, für den Ausbruch des Krieges 1914 verantwortlich zu sein, ist dieser nie verurteilt worden, da er in Holland, einem neutralen Land, ein Asyl gefunden hatte. Die nach dem Zweiten Weltkrieg organisierten Nürnberger Prozesse haben die Zeugenberichte der Überlebenden der Schoah nicht 45

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herangezogen. Die offizielle Dokumentation genügte weitgehend, um zu dem Urteil zu gelangen, dass die Verantwortlichen des „Dritten Reichs“ sich einer Vielzahl von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und von Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten. In den Sechzigerjahren konnte man jedoch eine Entwicklung beobachten, die sich nicht nur auf das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs – Juden, „Zigeuner“, Behinderte – ausgewirkt hat, sondern auch auf das an vergleichbare Opfer des Ersten Weltkriegs und insbesondere an die Opfer des Genozids an den Armeniern. Die Chronologie dieser kulturellen Entwicklung des öffentlichen Diskurses über die Kriegsopfer ist diesbezüglich aufschlussreich. Die Verrechtlichung des Gedächtnisses nach 1960 und 1970 entspricht einem Zeitpunkt, in dem in den entwickelten Ländern der Anteil der Bevölkerung, die angibt eine Religion auszuüben, ein besonders tiefes Niveau erreicht hat. Diese Periode wurde von dem Auftauchen neuer Institutionen geprägt – auf dem Gebiet der Justiz, der Archive und der Familien, die beauftragt sind, die Stimmen der Überlebenden der beiden Weltkriege aufzunehmen und aufzubewahren. Das Ausmaß der Opfer des Weltkriegs hat die Kirchen belastet, die zum selben Zeitpunkt ihre zentrale Stellung im Leben der Familien und der Gemeinschaft verloren haben. Folglich haben andere Institutionen zugleich das Privileg und die Last auf sich genommen, diejenigen, die im Krieg gelitten hatten, einzuladen, ihre Geschichte zu erzählen und eine Form der Anerkennung oder der Gerechtigkeit zu finden, die unmittelbar nach dem Krieg nur selten zu erlangen war. In den Siebzigerjahren entstanden Tausende kleine Gruppen und Organisationen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte einsetzten, und in dieser neuen Umgebung einer weltweiten Ethik hat der moderne Zeuge des Krieges einen herausragenden Platz eingenommen. So hat der Begriff „Zeuge“ – ein Wort, das in seiner ursprünglichen griechischen Form die Haltung des Märtyrers bezeichnet, der bereit ist, für seinen Glauben zu sterben – am Ende des 20. Jahrhunderts neue Bedeutungen angenommen. Die erste bezeichnete denjenigen, der vor einem Gerichtshof vom Wesen der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit Zeugnis ablegte, die zweite denjenigen, der bereit war, dass seine Stimme und seine Erzählung für die Nachwelt aufgezeichnet werden – als Zeuge für die Zukunft und vor allem für die jüngeren Generationen. 46

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Diese Zeugen erzählten Geschichten in der ersten Person, Familien­ geschichten, die in den Archiven gelagert oder veröffentlicht werden sollten. Das Ablegen dieser Zeugenberichte hat oft mehrere Jahrzehnte in Anspruch genommen. Diese Erzählungen waren vielleicht zu hart für die Ohren der Kinder der Überlebenden: Diese neue Generation hatte schließlich nur Lust, ein „normales“ Leben zu führen, eines wie die anderen Kinder. In vielen Fällen hat man einen deutlichen zeitlichen Abstand zwischen dem Ende des Krieges und dem Beginn der formellen Zeugenberichte der Überlebenden festgestellt. Nach dem Eichmann-Prozess 1961 und im Gefolge anderer Prozesse von Naziverbrechern in Europa haben die Stimmen der Überlebenden wie etwa die von Primo Levi eine beispielhafte moralische Stärke angenommen. Derart ohne Umschweife zu sprechen und so zu zeigen, dass die Ethik die Schändlichkeit von Auschwitz überlebt hat, hat dem Zeugenbericht ein existenzielles Profil verliehen. Diejenigen, die die Male dieser Verbrechen auf ihren Körpern und in ihren Köpfen trugen, haben ein Gefühl der Würde wiedergefunden, indem sie in einem Vortragssaal aufstanden oder im Rahmen einer Zusammenstellung von Archiven vor einer Kamera Platz nahmen. Die Erzählung, die der Welt hinterlassen wird, würde nicht nur diejenige der Mörder sein, sondern auch derjenigen, die ihren Henkern entkommen waren. Der gleiche zeitliche Abstand lässt sich bei den Überlebenden des Genozids an den Armeniern feststellen. In den Achtzigerjahren haben die Enkelkinder der Überlebenden ihren bis dahin schweigenden Großeltern die Erzählungen ihrer Vertreibung aus dem Osmanischen Reich entlockt. Dank dieser Zeugenberichte konnte die vollständige Geschichte des Genozids an den Armeniern in der Sprache derjenigen auftauchen, die ihn erlebt hatten. Dieses Auftauchen hat eine noch größere politische Bedeutung angenommen angesichts der hartnäckigen Leugnung seitens der türkischen Behörden, die sich weigern, zuzugeben, dass irgendeine Tat, die irgendwie einem Genozid gleicht, vor einem Jahrhundert in der osmanischen Türkei stattfinden konnte. Diese „Märtyrer“ haben in der traditionellen Sprache ihrer Kirche von der nationalen Tragödie Armeniens Zeugnis abgelegt. So haben am Beginn des 21. Jahrhunderts die Zeugen des Krieges und der Kriegsverbrechen in den Gerichtshöfen der ganzen Welt das Wort ergriffen. In diesem Rahmen haben sie wie auch in dem der Museen und der Archive, die für die Aufbewahrung ihrer Zeugnisse geschaffen wur47

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den, Geschichten der Grausamkeit erzählt, die an die Grenzen unserer Vorstellungskraft rühren und sie übersteigen, aber auch Geschichten des Mutes und (manchmal) des Glaubens, die einem den Atem rauben. Manche Überlebende haben erklärt, sie hätten einen Auftrag erhalten – den Auftrag zu leben, um Zeugnis abzulegen. Diese „moralischen Zeugen“ sprachen nicht nur von dem, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten, sie sprachen auch im Namen der Toten, die sich im Augenblick ihres letzten Seufzers bewusst waren, dass jemand diese Katastrophe überleben sollte, weil sonst niemand glauben würde, was sie zu berichten hatten. Am Ende des 20. Jahrhunderts und danach ist das Zeugnisablegen zu einem weltweiten Phänomen geworden. In manchen Fällen tritt der ursprüngliche religiöse Sinn des Wortes deutlich hervor. In Südafrika besaß die Kommission Wahrheit und Versöhnung – eine aufschlussreiche Bezeichnung – eine sakrale Aura, die auf der Macht der Beichte und auf der Vorstellung, dass die Wahrheit befreiend wirkt, beruhte. Die Verbrecher, die öffentlich ihre Verbrechen gestanden, entgingen derart der Strafe, die über diejenigen verhängt wurde, die beschlossen hatten, das Schweigen zu bewahren. In Lateinamerika hat der Mord an Priestern und Nonnen dazu geführt, die Suche nach der Wahrheit über die schmutzigen Kriege anzuspornen, die von rechten Regierungen in Chile, in Argentinien, in Guatemala und in Ecuador geführt worden waren. In Polen und im postkommunistischen Russland hat der Widerstand katholischer oder orthodoxer Frauen und Männer gegen den Kommunismus zur Heiligsprechung einer gewissen Anzahl von denen geführt, die tatsächlich ihr Leben ihrem Glauben geopfert haben.

Das traumatische Gedächtnis Zwei Aspekte der Welle an Zeugnisberichten der letzten 40 Jahre sind Gegenstand einer Kontroverse. Der erste betrifft die Weitergabe der traumatischen Erfahrung der Überlebenden des Kriegs und des Genozids an ihre Kinder. Manche meinen, dass die Kinder von Überlebenden die Verletzungen ihrer Eltern erben können. Was wir als „traumatische Erinnerungen“ bezeichnen, kann ihrer Meinung nach an die Kinder und die Angehörigen der direkt betroffenen Individuen weitergegeben werden. Viele, die an der Gültigkeit dieser Hypothese zweifeln, sind bereit, eine metaphorischere Variante zu übernehmen. Sie meinen, die Kinder, die 48

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mit Überlebenden des Kriegs und des Genozids zusammenleben, seien so sehr empfänglich für die emotionelle Anziehungskraft, die vom Leid der Älteren ausgeht, dass sie deren Erinnerungen übernehmen und sich zu eigen machen. So besitzen diejenigen, die nach 1945 geboren wurden, eine Art Gedächtnis der Schoah, die Marianne Hirsch als „postmemory“ bezeichnet hat. Die gleiche Beobachtung gilt für die zahlreiche Bevölkerung Armeniens, die nach dem Genozid geboren wurde, aber in ihrer Existenz unauslöschlich von ihm geprägt wurde. In vielen Fällen erhebt diese neue Generation den Anspruch, das traumatische Gedächtnis des Kriegs und des Genozids zu teilen. Die Ablehnung der Theorie der Weitergabe des traumatischen Gedächtnisses in seiner physiologischen wie in seiner metaphorischen Form fußt auf dem Unbehagen, das der unscharfe Umgang mit dem Begriff „Gedächtnis“ auslöst. Die Kinder der Überlebenden der Schoah, die in den Jahren 1950 bis 1970 geboren wurden, haben nicht das Gedächtnis im konventionellen Sinn des Wortes der Konzentrations- oder Vernichtungslager bewahrt. Sie haben die Erinnerungen an die Erinnerungen anderer aufbewahrt und diese Erinnerungen können tatsächlich einen pathologischen Charakter aufweisen. Kinder, die neben traumatisierten Eltern aufwachsen, können letztlich davon traumatisiert sein. Aber diese Kinder sind nicht von den Mitgliedern der SS traumatisiert worden und haben keinerlei Erinnerung an derartige Ereignisse. Sie haben im Schatten der Erfahrung ihrer Eltern gelebt und haben nicht das Recht gehabt, diese Erfahrung als ihr eigene zu beanspruchen, sei es nun aus Mitgefühl, Nähe oder Osmose. Das eigentliche Problem dieser Theorien der Weitergabe traumatischer Erinnerungen liegt darin, dass sie die Realität oder die Wahrheit der ursprünglichen Verletzung oder Kränkung, die nur von denen, die sie durchgemacht haben, erlitten wurden, leugnen oder verwässern. Angesichts der Allgegenwart des Gedächtnisbooms wird man sich nicht wundern, dass Leute mit durchaus guten Absichten nicht der gleichen Meinung sind, wenn es zu definieren gilt, wer ein authentisches Gedächtnis besitzt. Das zweite, sehr umstrittene Element betrifft die potenziellen therapeutischen Auswirkungen der Wiedervergegenwärtigung. Auch hier können wir wieder Spuren einer Rückkehr des Sakralen in einer Zeit der profanen Zeugen feststellen. Dieser These zufolge würde es ausreichen, diejenigen, die außerstande sind, ihre Vergangenheit zu bewältigen, zu überzeugen, sie mitfühlenden Zuhörern zu erzählen, damit ein Teil ihrer Schande oder 49

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ihrer lähmenden Reue teilweise oder vollständig verschwindet. Es gibt psychoanalytische Varianten dieser Idee, der zufolge das Wiederhochsteigen von Erinnerungen heilen oder zumindest das Leid mildern kann. In dieser Debatte fragen sich die skeptischen Köpfe, ob das Gedächtnis nicht womöglich ebenso viele negative wie heilende Auswirkungen hat. Worauf stützt sich der Glaube, dass diejenigen, die ihre entsetzlichen persönlichen Erinnerungen tief vergraben haben, besser zurande kommen, wenn sie diese ans Tageslicht zerren? Die Vorstellung, dass das Schweigen in allen Fällen eine ungerechtfertigte Verdrängung ist, hält einer aufmerksamen Prüfung nicht stand. Die Leute haben ausgezeichnete Gründe, den Schrecken, die sie erlitten hatten, den Rücken zukehren zu wollen. Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Zeugnisablegen wichtig ist, denn das hindert manche und vor allem die Schuldigen daran, über die Vergangenheit Lügen zu verbreiten. Eine absichtliche Fälschung zu berichtigen, ist eine unbestreitbare Notwendigkeit. Weniger gesichert ist, dass das Wachrufen der Grausamkeiten des Krieges, des Bürgerkrieges oder des Genozids immer oder fast immer wohltuend für diejenigen wirkt, die sich diese Schrecken vergegenwärtigen. Man registriert zu viele Fälle von Selbstmorden unter denen, deren Gedächtnis die dunklen Seiten der Vergangenheit wieder auftauchen lässt, um diesbezüglich ein endgültiges Urteil zu fällen. Das gilt auch für die Überlebenden von 1914 bis 1918 wie auch für diejenigen, die die nachfolgenden Katastrophen im Lauf des Jahrhunderts überlebt haben.

Getrennte Erinnerungen: Westeuropa und Osteuropa Es gibt kein europäisches Gedächtnis des Großen Kriegs. Je mehr man sich dem Osten des Kontinents annähert, umso weniger nimmt er in den nationalen oder internationalen Erzählungen des vergangenen Jahrhunderts eine zentrale Stelle ein. Das liegt zum Teil an der Schaffung neuer Staaten in Mittel- und Osteuropa sowie im Nahen und Mittleren Osten nach 1918, die diesen Krieg als das Vorzimmer ihrer eigenen Geschichte betrachten. Die gleiche Einstellung findet man in der internationalen kommunistischen Bewegung. Als das Jahr 1917, das der zwei russischen Revolutionen, zum Jahr null geworden war, ist das, was zuvor geschehen ist, mehr oder weniger auf den Rang eines Vorworts zu wichtigeren Ereignissen herabgestuft worden. Irland ist das einzige westeuropäische 50

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Land, in dem sich diese für Osteuropa bezeichnende Tendenz ebenfalls manifestiert. Bis vor Kurzem wurde dort der Akzent nicht auf 1914 oder 1918 gelegt, sondern auf 1916, das Jahr des Osteraufstands gegen die britische Vorherrschaft. Seit dem Abklingen des bewaffneten Konflikts in Irland im Anschluss an das Karfreitagsabkommen von 1998 hat sich die Gedenklandschaft allmählich derjenigen Großbritanniens angenähert. Ein Jahrhundert nach dem Aufstand von 1916 ist spät, aber unbestreitbar ins Bewusstsein gedrungen, dass mindestens 30 000 Iren ihr Leben für den König und das britische Vaterland geopfert haben. 1914 war Irland de facto eine britische Kolonie. Auch andere zugehörige Gebiete und Kolonien sind 1914 in den Krieg gezogen, um das Mutterland zu verteidigen. Man hat in Verdun Denkmäler für die Muslime, die dort den Tod gefunden haben, errichtet, zahlreiche Soldaten kamen aus Marokko, Algerien oder Senegal. Die Aufteilung der österreichisch-ungarischen Monarchie und der östlichen Gebiete des deutschen Kaiserreichs war das eigentliche Ziel der Ideologie der Selbstbestimmung von Woodrow Wilson. In dieser Hinsicht ist der Erfolg unleugbar. In diesen neuen, aus der Aufteilung hervorgegangenen Ländern – den Nachfolgestaaten –, die seit Kurzem unabhängig sind, wird das Gedenken des Großen Kriegs durch eine Reihe von bewaffneten Konflikten erschwert, die sie fast alle zwischen 1917 und 1923 geführt haben, um ihre neuen Grenzen endgültig festzulegen. Diese gewaltreiche Phase der Nachkriegsgeschichte geht stark auf das Konto Trotzkis und der Bolschewiki, die eine „rote Brücke“ durch Europa legen wollten. Soldaten der Roten Armee erreichten Warschau im Jahr 1920 und wurden erst nach harten Kämpfen zurückgedrängt. „Rote“ und „weiße“ Kräfte standen einander in Berlin, München und Budapest gegenüber sowie auf einem weitläufigen Gebiet, das die baltischen Staaten und den Balkan umfasste. Die verheerendsten Kämpfe waren vielleicht diejenigen zwischen den Türken und einer Vielzahl von Feinden, darunter griechischen, britischen und französischen Truppen. Unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk wurden diese fremden Heere geschlagen und ein großer Teil der griechischen Gemeinschaft, die seit Jahrhunderten in Anatolien lebte, wurde ausgerottet oder vertrieben. Gleichzeitig waren seit Langem in Europa lebende muslimische Gemeinschaften gezwungen, ihre neue Heimat zu verlassen und in die seit Kurzem unabhängige Türkei zu flüchten. 51

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Alle diese Nachfolgestaaten haben – genau wie Irland – eine nationale Erzählung ausgebildet, deren Ursprung während oder nach dem Großen Krieg angesiedelt ist. Die Männer, die das Postamt in Dublin stürmten und am Ostermontag 1916 die Unabhängigkeit Irlands aus­riefen, wurden wegen Verrats erschossen. Dieses Urteil war insofern gerechtfertigt, als diese aufständische Bewegung zu dem Zeitpunkt begann, in dem die gesetzlich konstituierte Autorität, nämlich Großbritannien, im Krieg stand und Iren an der Seite von Engländern, Walisern und Schotten kämpften. Als später die Geschichte der irischen Unabhängigkeit Gestalt annahm, haben der Große Krieg und die irische Beteiligung an diesem Konflikt eine fakultative Präambel zur Errichtung der Freiheit gebildet, die die irischen Patrioten konstruiert hatten. Genauso hat der polnische Unabhängigkeitskrieg von 1918 bis 1921 die Präsenz von Millionen Polen in den Reihen der deutschen, österreichisch-ungarischen und russischen Armeen überdeckt. Es ist also nicht verwunderlich, dass das postkommunistische Polen lieber ein Museum des Unabhängigkeitskriegs – eines Kriegs gegen die Bolschewiki und die Ukrainer – als ein Museum des Großen Kriegs gebaut hat. In der Türkei wird die schlussendliche Niederlage des osmanischen Heers überdeckt von dem Gedenken des Sieges vom 18. März 1915, ein Datum, an dem die osmanischen See- und Landstreitkräfte unter der Führung des deutschen Generals Liman von Sanders das frankobritische Geschwader vernichteten, das in die Meerenge der Dardanellen vordringen und Konstantinopel erreichen wollte, um die Türkei aus dem Krieg zu eliminieren. Am 24. April 1915 gab das mit den osmanischen Kriegsanstrengungen beauftragte Triumvirat den Anstoß zur Vertreibung der fast zwei Millionen Menschen zählenden armenischen Bevölkerung, die seit Jahrhunderten in Anatolien angesiedelt war. Nachdem die türkischen Verantwortlichen die Ermordung der Anführer der armenischen Gemeinschaft befohlen hatten, ließen sie Gruppen von Soldaten und paramilitärischen, hauptsächlich kurdischen Kräften diese wehrlose Bevölkerung vergewaltigen, verstümmeln und massakrieren, bevor sie die Überlebenden in die mesopotamische Wüste trieben, wo sie dazu verurteilt waren, an Hitze, Durst und Hunger zu ­sterben. Der Begriff „Genozid“ beziehungsweise Völkermord war 1943 von dem polnischen Juristen Raphael Lemkin geprägt worden, um dieses Verbrechen zu bezeichnen. Auch heute noch kultivieren Türken und Armenier antagonistische Gedenkpraktiken. Für die Türken ist der 18. März der „Tag der Märtyrer“, 52

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an dem man der heldenhaften Aktionen aller im Krieg gefallenen türkischen Soldaten gedenkt. Für die Armenier ehrt man am 24. April, dem „Tag der Märtyrer“, die armenischen Opfer des Genozids. Bis vor Kurzem hatten die Türken nicht das Recht, öffentlich das Wort „Genozid“ zu verwenden, um das Los des armenischen Volks zu bezeichnen, eine Politik der Leugnung, die von einem großen Teil der Welt verurteilt wird. Angesichts der Weigerung der türkischen Behörden, die Verantwortung für den Mord an mehr als einer Million Armenier zu übernehmen und zu akzeptieren, hat der Patriarch der armenisch-apostolischen Kirche, Katholikos Karekin II., am 23. April 2015 sämtliche Opfer des Genozids heiliggesprochen. Nunmehr sind die Armenier, die während des Genozids von 1914/15 umgekommen sind, keine Opfer mehr: Sie sind Sieger in Christus.

Märtyrer und Martyrium Der deutliche Unterschied zwischen den türkischen und armenischen Gedenkpraktiken rückt einen anderen bezeichnenden Aspekt des Grabens zwischen den vielen europäischen Erzählungen des Großen Kriegs und seinen Nachwirkungen in den Blick. Westlich einer Linie, die ungefähr von der Ostgrenze Italiens bis zur Westgrenze Polens verläuft, greifen die Gedenksprachen nicht mehr auf das Vokabular der Märtyrer und des Martyriums zurück. Während des Kriegs war diese Terminologie in Frankreich, wo die katholische und revolutionäre Rhetorik fest eingebürgert war, stark vertreten. In den protestantischen Ländern wie Großbritannien hingegen war das Wort „Märtyrer“ bereits archaisch und wurde weitgehend verworfen, als sich die Sprache der Gedenkfeier von 1914 bis 1918 herausbildete. Dieser sprachliche Graben hat sich im Lauf der Zeit vertieft. Die katholische und orthodoxe Rhetorik des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und dann den Kommunismus hat zahlreiche größere Unterschiede zwischen den Gedenksprachen der beiden Teile Europas bewirkt. Wenn in Westeuropa eine säkularisierte Terminologie des Opfers – für die Familie, die Gemeinschaft und die Nation eher als für Gott oder das Christentum – überlebt hat, ist sie dennoch weit davon entfernt, einen ebenso mächtigen Einfluss wie die religiösen Praktiken Osteuropas auszuüben. Vor einem Jahrhundert war diese Unterscheidung keineswegs festgelegt. Sprecher der Kompanie Jesu unterhielten sich mit dem Präsidenten der 53

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französischen Republik darüber, ob es angebracht sei, das Bild des SacréCœur auf der Nationalflagge anzubringen. Die an der Front liegende Stadt Reims sowie Leuven im besetzten Belgien wurden während des Krieges als Märtyrerstädte bezeichnet. Diese Metaphern sind nach dem Zweiten Weltkrieg rasch verschwunden und sind heute in zahlreichen Regionen Europas obsolet. Dieser Graben säkular/religiös hat die Existenz einer gemeinsamen Gedenksprache des Großen Kriegs verhindert, die Polen mit Portugal, Serbien mit Schottland und den Osten mit dem Westen Europas verbindet. Der Beitritt der ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts nach 1992 zur Europäischen Union bedeute auch eine Gedächtnislandschaft mit vielen Brüchen und Verwerfungen. Hätten die führenden Politiker von 1914 auch nur die geringste Vorstellung von der Tragweite und der Unumkehrbarkeit der Schäden gehabt, die ihre Entscheidung, in den Krieg einzutreten, Europa und den Europäern gebracht hat, hätten sie vermutlich ihre Meinung geändert. Doch die Geschichte erlaubt keine Neuanfänge und das Blutbad, das diese verantwortlichen Politiker ausgelöst haben, hat Europa in eine Welle der Gewalt und des Todes getrieben, von der es sich nie gänzlich erholt hat. Wenn Europa 1914 nicht Selbstmord begangen hat, so hat es sich eine Verletzung zugefügt, die noch immer nicht verheilt ist. Man braucht in Europa nur um sich zu blicken, um heute noch die Folgen dieser verhängnisvollen Tat festzustellen.

Literatur Annette BECKER, La Guerre et la Foi. De la mort à la mémoire, 1914–années 1930, Paris 2015. Shoshana FELMAN und Dori LAUB, Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York 1992. Włodimierz BORODZIEJ und Maciej GÓRNY, Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923, Darmstadt 2019. Jörn LEONHARD, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014. Jörn LEONHARD, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018. Jay WINTER, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995.

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The old Lie: Dulce et decorum est pro patria mori Es gibt eine lange Tradition, gefallene Soldaten zu ehren. Die Errichtung von mitunter sehr aufwendigen Kriegerdenkmälern diente dazu, den Toten eine lange kollektive Bedeutung zu verleihen – eine Opfervorstellung, die das 21. Jahrhundert nicht mehr zu verstehen scheint.

Eine von vier faschistischen ­Statuen, die 1938 an der F­ assade des Tempio Ossario in Udine angebracht wurden. 

Olaf B. Rader

Wer im äußersten Nordosten des heutigen Italien die kleine Stadt Udine besucht, stößt unweigerlich beim Umschreiten des historischen Stadtzentrums an einem Kreisverkehr auf eine große überkuppelte Kirche. An ihrem hohen Travertinportal stehen vier steinerne Soldaten in kraftvoll-martialischer Pose auf Wacht. Die Formensprache verrät sofort: Sie sind Produkte der Mussolini-Ära. Doch bewachen die Posten tatsächlich den Eingang zu einem Gotteshaus? Die Militärs aus vier Waffengattungen stehen, so erfasst der Eintretende sofort, vor einem Massengrab, die letzte Ruhestätte für Tausende Soldaten. Und schnell wird auch klar, dass das Denkmal mit dem Ersten Weltkrieg zusammenhängen muss, speziell mit den Kämpfen der 12. Isonzoschlacht vom Oktober 1917, die in der italienischen Erinnerung mit dem Wort „Caporetto“ verbunden sind. Dieser italienische Ortsname des heute in Slowenien liegenden Kobarid steht gleichsam als Synonym für die größte militärische Niederlage Italiens im Ersten Weltkrieg und zugleich für ein Nationaltrauma, das in den Jahrzehnten nach dem Völkergemetzel eine enorme politische Wirkung entfaltet hat. Und an diesem Gedenkbau des Ossario San Nicolo in Udine kann sehr gut abgelesen werden, wie sich ein ständiges Neuformen eines Nationalgedächtnisses an Schlachten und Opfer von Kriegen ganz konkret eine Form gegeben hat. Eine Inschriftentafel führt dem Besucher zunächst das Pathos der Zeit vor Augen, das für jeden einzelnen Soldaten eine Art Christus-Imitatio evozieren soll. In den Uniformtaschen eines gefallenen Soldaten hatte man angeblich einen Zettel mit folgenden Zeilen gefunden: „Alle sahen Christi Gesicht in der düsteren Aureole ihrer Helme, alle trugen als ­Zeichen der Marter das Kreuz der Bajonette. Und in den Taschen das Brot des letzten Abendmahls, und in der Kehle das Weinen des letzten Abschieds.“1 Zunächst als ein Sammelgrab für die über 20 000 italienischen Gefallenen der Region des Ersten Weltkrieges eingerichtet, die nach der Exhumierung an verschiedenen Orten hier neu bestattet wurden, wandelte sich der Charakter des Baus. Nach einem Gedenken an und einer Trauer um die Toten – und damit für die Gruppe der Hinterbliebenen wichtig – wurde zunehmend die Ehrung der Helden als Opfer in einem höheren Sinn inszeniert: der Tod für das Vaterland. Später kamen nämlich auch noch die Toten aus den Militärkampagnen des 1 Vgl. Informationsheft, hg. von der Parrocchia di San Nicolò vescoco Al Tempio Ossario (Udine 2015), mit den Texten der Inschriften, hier S. 36.

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faschistischen Italien im Zweiten Weltkrieg – wie etwa der Einsatz der Alpini in Griechenland und der Sowjetunion – hinzu. Und es gelang sogar, die Resistenza irgendwie in den Memorialkontext des Ossario mit einzubeziehen. Der Ort hatte sich damit in eine Weihestätte für die ganze italienische Nation verwandelt. Eine weitere Inschrift an einem Epitaph für unbekannte Soldaten belegt diesen Wandel: „Et nomen una cum sanguine pro Patria dedimus – Und sogar den Namen haben wir mit dem Blut für das Vaterland gegeben.“2

Tote Helden als Gemeinschaftsstifter Solcherart Kriegerdenkmäler, die zu multifunktionalen Nationalgedenkstätten aufstiegen und für die das Ossario San Nicolo ein idealtypisches Beispiel darstellt, hat Europa an vielen Orten zu bieten. Und je nach nationaler Befindlichkeit und militärstrategischer Bedeutung der zu memorierenden Schlachten in den Kriegen fällt deren rein materielle Größe aus. Die Bedeutung jedoch für eine jedwede Memorialgemeinschaft lässt sich weniger an der Größe des Bauwerkes ablesen, sondern eher an den Ritualen, die dort stattfinden, wie etwa die Art und Häufigkeit der Gedenkveranstaltungen oder daran, ob Vertreter hoher Staatsämter dabei mitwirken. Unterhalb von solchen nationalen Gedenkstätten gibt es aber noch zwei weitere Ebenen, die unauffälliger, aber dennoch nicht weniger wichtig in der Memorialkultur sind. Sie bestehen zum einen aus den unzähligen Kriegerdenkmälern in Dörfern und Städten, die sich praktisch in ganz Europa, am meisten natürlich in ehemaligen Kampfgebieten finden lassen. Diese sollen in unterschiedlichen Formen an die gefallenen Söhne aus den jeweiligen Gemeinden und ihren Opfergang für das Vaterland erinnern. Oft nach dem Grauen des Ersten Weltkrieges errichtet, haben die meisten dieser Denkmäler sogar Erweiterungen bekommen, um die Gefallenen aus dem Zweiten Weltkrieg oder der Kolonialkriege etwa mit einzubeziehen. Zum anderen haben auch die Gotteshäuser in Europa selbst oft Inschriftentafeln aufzuweisen, die die Opfer der Kriege zum Gedenken auflisten.

2 Ebenda, S. 30.

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„Süß und ruhmvoll ist es, für das Vaterland zu sterben“ Die Ehrung gefallener Krieger hat eine lange Tradition, denn sie kann eine besondere Bedeutung für soziale Gruppen bekommen, egal, ob es sich dabei um ganze Nationen oder nur um Dorf- und Stadtkommunen oder etwa Adelsgruppen handelt. Denn Schlachten, die gemeinschaftlich geschlagen wurden – wobei es fast egal scheint, ob diese gewonnen oder verloren wurden, denn auch ein Trauma kann wie ein Sieg verbinden –, können zu zentralen Bestandteilen eines politischen Gemeinschafts­ bewusstseins werden, indem sie den inneren Zusammenhalt von sozialen Gruppen stärken. Werden bestimmte Kämpfe gar als Ursprung einer Gemeinschaft empfunden, erlangen die Überlieferungen den Charakter von Mythen. Und weil sich die Erinnerungen an solche Geschichten besonders fest an die Gräber der Gefallenen knüpfen, sind diese für das Gemeinschaftsempfinden so wichtig. Das lässt sich von den antiken Griechen über die Römer bis zu den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts gut belegen. Den Helden von Marathon (490 v. Chr.) oder Plataiai (479 v. Chr.) etwa wurden an den ihre Leiber bedeckenden Tumuli bis in die römische Kaiserzeit, also über einen Zeitraum von fast 600 Jahren, aufwendige kultische Ehren zuteil. Solcherart gemeinschaftsstiftende Kulte gehörten praktisch zum Symbolreservoir aller europäischen Kriegergesellschaften. Und diese waren es wohl auch, die Quintus Horatius Flaccus (65–8 v. Chr.) die Feder bei seinen oft zitierten Worten aus der dritten Ode führten: „Dulce et decorum est pro patria mori – Süß und ruhmvoll ist es, für das Vaterland zu sterben.“3 Ideologische Versatzstücke aus diesem Wortspiel vom süßen Tod fürs Vaterland haben gemeinsam mit den Kriegertotenkulten dann in der abendländischen Geistesgeschichte von Aristoteles über Friedrich Hölderlin und Theodor Körner bis hin zum militaristischen Pathos der Moderne bei Kriegen immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Auch Revolutionen wie etwa die große Französische Revolution oder die Ereignisse in Europa von 1848 haben aus Opferverehrungen und Totenkulten ein besonderes Erinnerungsamalgam entstehen lassen. Nichts Geringeres 3 Horaz, Oden 3, 2, 13, vgl. die ähnliche deutsche Übersetzung: Quintus Horatius Flaccus. Sämtliche Gedichte, hg. von Bernhard Kytzler, Stuttgart 1992, S. 131; ferner Carl Werner Müller, Der schöne Tod des Polisbürgers oder ‚Ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben’, in: Gymnasium 96 (1989), S. 317–340, bes. S. 321 ff.

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als „Rom oder Tod“ beinhaltete der pathetische Schwur, der die italienische Einheitsbewegung verband. Überhaupt hat der sich entfaltende Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Qualität im monumentalen Gefallenenkult geführt, wenn man etwa an das 100 Jahre nach dem Ereignis von 1813 errichtete Leipziger Völkerschlachtdenkmal denkt.4 Über Jahrhunderte schien es beinahe so, als ob es ohne Opfertod und die darauf bezogenen Gedenkrituale kein Vaterland als ein politisches Subjekt und damit auch keine nationale Zukunft geben könne.

Erinnern jenseits des Heldentodes Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist vielleicht von der größten Welle todesrühmender Dichtung in Anlehnung an Horaz begleitet worden, bevor für die Beteiligten in den lungen- und hirnzerfressenden Giftgasangriffen der Tod seine Süße verlor. Nach dem vierjährigen Schlachten entstanden dann die Denkmäler für die Toten. Während nach 1918 in den Ländern der Entente ja immerhin noch der Sieg als Impulsgeber für die Denkmalsgestaltung wirken konnte, gab es für Deutschland und seine ehemaligen Verbündeten nichts zu feiern. Hier galt es nur, den Tod von Hunderttausenden nicht zu vergessen und – wenn möglich – ihm mit Ritualen an den Denkmälern auch einen Sinn zu geben. Ganz besonders ausgefeilte Totenkulte haben dann die großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts entfaltet, wie ohnehin Tyrannen aller Zeiten auf pompöse Inszenierungen von Begräbnisritualen besonderen Wert gelegt haben und die jeweilige Ikonografie diesem Ansinnen augenfällig dienen musste. Heute ist das anders geworden, worauf gleich noch einmal zurückzukommen sein wird. Doch scheint sich die moderne Popkultur von einer offiziellen Gedenkkultur entfernt zu haben. Hier stirbt es sich immer noch horazisch süß, wenn man etwa an Filme wie Zack Snyders 300 denkt, der im Kolorit einer Kaffeewerbung Leonidas und seine Gefährten ihrem unwirklich scheinenden Opfertod zuführt. Die unzähligen Kriegerdenkmäler des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in Europa ziehen, so könnte man resümieren, gleichsam als steingewordene Totenkulte die Blicke auf sich. Sie sind Momentaufnah4 Vgl. Kirstin Anne Schäfer, Die Völkerschlacht, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 187–201.

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men einer Memoria, die dem Vaterland zu dienen hatte – oder der Heimat, dem Staat, der Nation. Bei den Memorialstrategien der Kriegerdenkmäler kann man oft erkennen, ob es vordergründig mehr um eine Trauer für die Opfer oder mehr um die Ehrung der Helden gehen sollte, ob also das individuelle Sterben memoriert werden sollte oder der Opfertod für das Vaterland im Vordergrund stand. Das Denkmal für die Toten des Ersten Weltkrieges von Ernst Barlach im Magdeburger Dom etwa wäre ein gutes Beispiel für eine solche konsequente Trauer ohne Heroentod. Allen Denkmälern gemeinsam bleibt aber die Aufgabe, einer aus der Vergangenheit hergeleiteten Sinnstiftung einen Ort zu geben und diese zugleich auf die Zukunft zu richten. Mag die Ikonografie von vielen dieser Kriegerdenkmäler uns heute fremd anmuten, so sind sie doch wichtige Belege einer Memorialkultur und lassen uns zudem daran teilhaben, wie nach den Gemetzeln auch um die Strategien gerungen wurde, der toten Soldaten zu gedenken.

Die postheroische Ära: der Soldat als Opfer Was ist daraus geworden? Hat sich Europa in dieser Hinsicht vielleicht gewandelt? Sind wir wirklich in ein „postheroisches Zeitalter“ (Herfried Münkler) eingetreten, das auch die Kriegerdenkmäler in einem anderen Licht erscheinen lässt? Hat sich das Verhältnis von Helden und Opfern, von Reue, Buße und Versöhnung verändert? Das sind Fragen, die hier nicht prinzipiell beantwortet werden können. Aber vielleicht zeigt ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit, dass sich in manchen Teilen Europas tatsächlich Grundlegendes gewandelt hat. Am 11. November 2014, dem 96. Jahrestag des Waffenstillstandes von 1918, ist vom französischen Staatspräsidenten François Hollande das Gefallenenmahnmal Mémorial de Notre-Dame-de-Lorette eröffnet worden. Das Spektakuläre: Es soll als Monument die Erinnerungen an alle diejenigen Soldaten bewahren, die während des Ersten Weltkrieges im regionalen Umfeld des Mahnmals fielen, und zwar von allen Beteiligten, egal ob Freund oder Feind. Der „Ring der Erinnerung“ (der Anneau de Mémoire), ein über 300 Meter im Umfang dimensionierter ellipsenförmige Ring aus Beton, listet auf 500 Metallstelen ohne Hinweis auf ihre Nationalität, alphabetisch geordnet, die Namen von fast 580 000 in Nordfrankreich Gefallenen auf. Was Staatszugehörigkeit, Ideologie, Fronten und Schützengräben einst 60

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trennte, hatte nach dem Tod die Erde vereint. Nun sind in den Erinnerungen die Nationalgrenzen und damit auch die Unterteilung in Sieger und Besiegte aufgehoben. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte der selbst kurz vor dessen Ende noch gefallene englische Dichter Wilfred Owen (1893–1918) die Horaz-Sentenz als das entlarvt, was sie wirklich ist: the old Lie. „My friend, you would not tell with such high zest / To children ardent for some desperate glory, / The old Lie: Dulce et decorum est / Pro patria mori.“5 Dass übrigens auch schon Horaz, der Dichter der Zeilen über das ruhmvolle süße Sterben, diese selbst nicht als Handlungsanleitung angesehen hat, lässt seine Biografie erahnen. Hatte doch der Dichter im Herbst 42 v. Chr. bei Philippi, einer Schlacht im römischen Bürgerkrieg, als er selbst die Süße eines tödlichen Hiebs hätte kosten können, die Waffen lieber in die Büsche geworfen und Fersengeld gegeben.

Literatur Philippe CONTAMINE, Mourir pour la patrie, in: Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de m ­ émoire, Bd. II: La Nation, Paris 31986, S. 11–43. Manfred HETTLING und Jörg ECHTERNKAMP (Hg.), Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der ­Erinnerung, Berlin/Boston 2013. Ernst H. KANTOROWICZ, Pro Patria Mori in Medieval Political Thought, in: The American Historical Review, Bd. 56, 3. April 1951, S. 472–492. Reinhart KOSELLECK und Michael JEISMANN (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994. Herfried MÜNKLER, Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006. Olaf B. RADER, Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin, München 2003. Kirstin Anne SCHÄFER, Die Völkerschlacht, in: Etienne François, Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 187–201.

5 „Dulce et Decorum Est,“ by Owen, Wilfred (1893–1918). The Estate of Wilfred Owen. The Complete Poems and Fragments of Wilfred Owen edited by Jon Stallworthy first published by Chatto & Windus, 1983. Preliminaries, introductory, editorial matter, manuscripts and fragments omitted, via First World War Poetry Digital Archive, accessed March 18, 2019, http://www.oucs.ox.ac.uk/ww1lit/collections/item/3303.

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Manuel Loff

Der Spanische Bürgerkrieg – Passion der europäischen Antifaschisten Der Spanische Bürgerkrieg wurde zum Symbol des anti­faschistischen Kampfes. Er war der erste Konflikt, über den die modernen Medien umfassend berichtet haben, doch wurde das Gedächtnis an ihn durch die beispiellosen Naziverbrechen verdeckt und hat bis heute, speziell in ­Spanien, nicht den ihm angemessenen Platz im Pantheon der Kriegsgedächtnisse gefunden.

„Madrid wird das Grab des Faschismus sein“: republikanisches ­Banner in Madrid 1936.

Der Spanische Bürgerkrieg – PASSION DER EUROPÄISCHEN ANTIFASCHISTEN

Der Schlachtruf „No pasaran!“ („Sie werden nicht durchkommen!“), mit dem Dolores Ibárruri („La Pasionaria“ genannt) im Juli 1936 die „Jugend“, die „Frauen“, die „Arbeiter aller Richtungen“ aufgerufen hatte, sich zu erheben, um die „Freiheit und die demokratischen Errungenschaften des Volkes“ gegen den faschistischen „Militärputsch“ zu verteidigen, der im Begriff war, Spanien in einen dreijährigen Bürgerkrieg zu stürzen, wurde und wird weiterhin von den verschiedensten Widerstandsbewegungen rund um den Erdkreis aufgenommen. Diese Losung nahm ihrerseits den Schlachtruf der französischen Frontsoldaten von Verdun im Jahr 1916 – „Sie werden nicht durchkommen!“ – auf. Aber die Verteidigung des republikanischen Madrid sollte sich ganz anders als die universelle Schlächterei von Verdun und aller sinnlosen Kriege bei einer ganzen Generation als Symbol für einen bedingungslosen und authentischen Widerstand gegen den Faschismus durchsetzen.

Der Schatten des Nazismus 14 Jahre nach Benito Mussolinis und drei Jahre nach Adolf Hitlers Machtergreifung hat der Spanische Bürgerkrieg (1936–1939) die weltweite Bewertung des Faschismus verändert. Wenn er, so man Zeev Sternhell glauben darf, seinen genetischen Ursprung in der französischen Rechten am Ende des 19. Jahrhunderts hat, so wirkte er im krisengeschüttelten Italien nach dem Ersten Weltkrieg mit den Fasci di combattimento Mussolinis wie ein mächtiger politischer Magnet, der imstande war, Nationalisten, Konservative und reaktionäre Katholiken anzuziehen. Er breitete sich kurz nach dem Scheitern der sozialistischen Revolutionen in Europa (außer in Russland) aus. Er schuf einen modernen Typus des gegenrevolutionären Regimes, das entschlossen war, über den historischen Liberalismus und die liberalen Regime zu triumphieren, indem es eine antidemokratische und antimarxistische „neue Ordnung“ errichten würde, die „die Zerstörung der Werte und Institutionen der ‚westlichen Zivilisation‘ des Zeitalters der Revolution“ (Eric Hobsbawm) zur Folge hätte – anders gesagt: die den verfassungsmäßigen und repräsentativen liberalen Staat, den Rechtsstaat, den Laizismus und die Arbeiterbewegung, die für die Demokratisierung des Staats und der Gesellschaft eintritt, unablässig bekämpfen würde. Alle faschistischen Regime bezogen sich auf das Konzept der „nationalen Revolution“, um ihre eigene politische Strategie zu definieren; sie alle 63

Manuel Loff

­ertraten und verbreiteten rassistische Positionen, auch wenn einige v wenige keine spezifisch antisemitischen Gesetze verabschiedet haben. Nach 1933 erhielt der Faschismus mit Hitlers Nationalsozialismus eine internationale (oder, genauer gesagt, historische) Dimension, die man sich schwerlich vorstellen kann, wenn er ein rein italienisches Phänomen geblieben wäre. Nachdem sie alle Bereiche der Gesellschaft totalitär durchstrukturiert hatten, unternahmen es die faschistischen Regime, ihr gesamteuropäisches Programm im Namen der nationalen und rassischen Einheit in die Praxis umzusetzen, wobei die ethnische Säuberung in einem unvorstellbaren Ausmaß durchgeführt wurde. Auf europäischer Ebene ist kein kollektives Gedächtnis des Faschismus vorstellbar, das nicht den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg einbezieht. Der blutigste und destruktivste Konflikt aller Zeiten spielt weiterhin eine zentrale Rolle in der Neubewertung der europäischen ­ Geschichte. Er bildet einen unerschöpflichen Vorrat an Orten, Objekten und Erzählungen der Erinnerung und hat einige der ergreifendsten Erinnerungsgegenstände der menschlichen Zivilisation hervorgebracht. Dank der ursächlichen Verbindung zwischen Zweitem Weltkrieg und Faschismus ist es nicht möglich, sich an den einen zu erinnern, ohne auch an den anderen zu denken. Alle diese faschistischen oder (in unterschiedlichem Grad) faschisierten Regime – von den baltischen Staaten bis zum Griechenland von Ioannis Metaxas, vom Rumänien Ion Antonescus oder dem Österreich von Engelbert Dollfuß zu den Regimen Francisco Francos und António de Oliveira Salazars auf der Iberischen Halbinsel – waren auf unterschiedliche Weise am Zweiten Weltkrieg beteiligt, die meisten als Mitglieder der Achse, manche als Opfer des deutschen und/oder italienischen Angriffskriegs (Polen, Griechenland, Jugoslawien), wieder andere als nicht Krieg führende Mächte wie Spanien, das seine División Azul nach Russland schickte, oder auch als neutrale, den Achsenmächten wohlgesinnte Länder wie Portugal. Mit Ausnahme der beiden letztgenannten hatte die Niederlage der Nazis alle diese Regime hinweggespült.

Der Spanische Bürgerkrieg, Passion des europäischen Antifaschismus Der Spanische Bürgerkrieg war der erste der von den Faschisten angezettelten Kriege, der die politischen und religiösen Leidenschaften in der 64

Der Spanische Bürgerkrieg – PASSION DER EUROPÄISCHEN ANTIFASCHISTEN

gesamten westlichen Welt entflammte und in beiden Lagern viele Kriegsfreiwillige anzog. Dieser Konflikt mobilisierte von Anfang an genügend symbolische Elemente, um als entscheidende Auseinandersetzung zwischen abendländisch-christlicher Kultur und Kommunismus (rechte Version) oder Demokratie und Faschismus (linke Version) wahrgenommen zu werden. Die linke Version verkörperte das antifaschistische Weltbild, auf dem – zumindest formal – alle liberalen Demokratien Westeuropas und die selbst ernannten Volksdemokratien Mittel- und Osteuropas gründen. Sie war die erste politische Plattform, die die Zusammenarbeit von Sozialdemokraten, Liberalen und Kommunisten ermöglichte, musste aber am Ende des 20. Jahrhunderts diesbezüglich Abstriche machen. Voll Idealismus strömten 35 000 linke Freiwillige (Kommunisten, Anarchisten, Sozialisten und Liberale jeder Tendenz) aus 53 Ländern nach Spanien, um in den Reihen der Internationalen Brigaden den Faschismus zu bekämpfen, wobei sie sich über fast alle Vorschriften ihrer Regierungen hinwegsetzten, die ihnen im Namen der internationalen Nichteinmischung verboten hatten, die spanische Grenze zu überschreiten. Sie mussten nicht nur gegen die spanischen und marokkanischen Truppen, sondern auch gegen ihre eigenen Landsleute kämpfen, die Deutschen der Legion Condor, die portugiesischen Viriatos, die sich der Spanischen Legion angeschlossen hatten, sowie die 80 000 Italiener des von Mussolini nach Spanien entsandten Corpo di Truppe Voluntarie. „Die massive Rekrutierung ausländischer Freiwilliger, um aufseiten der spanischen Republik zu kämpfen, ist ein einzigartiger Moment in der europäischen Geschichte“ (Rémi Skoutelsky). Da die Interbrigadisten gegen Ende der stalinschen Herrschaft und also auch bei mehreren kommunistischen Parteien in Ungnade gefallen waren, mussten sie bis zu den 1990er-Jahren warten, bis sie die offizielle Erinnerungspolitik vor dem relativen Vergessen bewahrte. Eine von ihnen (Adèle Arranz-Ossart) versicherte: „Was uns ehemaligen Spanienkämpfern nach dem Fall der [Berliner] Mauer vor allem noch bleibt, ist Spanien. [Der Spanische Bürgerkrieg] ist das Beste, was wir alle in unserem Leben gemacht haben.“ In seiner „symbolischen Dimension“ hat Spanien die europäische Politik neu definiert: „In den 1930er-Jahren wechselte man von einer dreigeteilten Konstellation aus Liberalismus, Kommunismus und Antifaschismus […] zu einer ausschließlichen Konfrontation zwischen Faschismus und Anti­ faschismus“ (Enzo Traverso). 65

Manuel Loff

Guernica Auch wenn die antifaschistischen Freiwilligen massenhaft der Arbeiterklasse angehörten, hätte man auch von einem „Krieg der Dichter“ sprechen können. Der Tod Federico García Lorcas (1936), Antonio Machados (1939) und Miguel Hernández’ (1942) trug dazu bei, die Niederlage der spanischen Republik im Gedächtnis des fortschrittlichen Europa als eine „persönliche Tragödie“ zu verankern, wie es Albert Camus 1946 formulierte. „Die Menschen meiner Generation tragen Spanien im Herzen. […] In Spanien hat meine Generation erfahren, dass man recht haben und dennoch besiegt werden kann, dass die Gewalt die Seele zerstören kann und dass der Mut mitunter nicht belohnt wird“ (Jean Camp). Der Spanische Bürgerkrieg war der erste, der von den modernen Medien (Presse, Fotografie – besonders mit Robert Capa und Henri CartierBresson –, Radio, Film) abgedeckt wurde. Von Greta Garbo und Humphrey Bogart bis zu Alvah Bessie engagierte sich ein großer Teil Hollywoods in Kampagnen zugunsten der spanischen Republik – und zahlte in der McCarthy-Ära den Preis dafür. Der Film evoziert immer noch diesen Krieg (Land and Freedom von Ken Loach, 1995), ebenso wie die Literatur (von André Malraux’ Die Hoffnung 1937 und Ernest Hemingways Wem die Stunde schlägt 1940 bis zu José Saramagos Das Todesjahr des Ricardo Reis 1984). Pablo Picassos Guernica (1937) ist zweifelsohne das berühmteste Kunstwerk über den Spanischen Bürgerkrieg. Mehr als die ersten Informationen über die deutschen Konzentrationslager, die mehrere Jahre vor Auschwitz und der „Endlösung“ publik geworden sind, mehr als der brutale Krieg der Italiener in Äthiopien (1935/36) ist der Spanische Bürgerkrieg im kollektiven europäischen Gedächtnis zum fundamentalen Symbol der erbarmungslosen faschistischen Gewalt geworden, Guernica zum absoluten Symbol des gegen die Zivilbevölkerung geführten totalen Kriegs, obwohl andere baskische Städte, von Madrid und Barcelona ganz zu schweigen, von Franco und seinen Verbündeten bereits bombardiert worden waren. Fünf Tage nach der Bombardierung der ­früheren baskischen Hauptstadt durch die deutsche Legion Condor, die italienische Aviazione Legionaria und die spanisch-nationalistische ­ Luftwaffe schuf Picasso ein großes Gemälde in Schwarz-Weiß, um „den spanischen Krieg [als] Feldzug der Reaktion gegen das Volk, gegen die 66

Der Spanische Bürgerkrieg – PASSION DER EUROPÄISCHEN ANTIFASCHISTEN

Freiheit“ anzuprangern. Franco bestritt bis zu seinem Tod, diese Bombardierung angeordnet zu haben; er behauptete sogar, dass kein Luftangriff auf Guernica stattgefunden habe, sondern dass die baskischen „Roten“ die Stadt in die Luft gesprengt hätten. Der spanische Staat hielt bis 1977 an dieser „offiziellen Lüge“ fest. Deutschland hat seine Schuld 1997 bekannt, Italien bis heute nicht. Die vom anderen Lager geführten Kämpfe passionierten ebenfalls Millionen Menschen. Henri Massis sah im Kampf der Spanier gegen die rojos (die „Roten“) ein mit dem Werk aus Blut und Tod verquicktes schöpferisches Fieber. In Europa und in Amerika waren die Faschisten und die rechten Vertreter der Ordnung besonders von den Erzählungen über den Widerstand der aufständischen Militärs in der belagerten Festung Alcázar von Toledo beeindruckt, deren Kommandant seinen Sohn am Telefon aufgefordert habe, „[seine] Seele Gott anzuvertrauen, ,Viva España!‘ zu rufen und als Held zu sterben“, als die Republikaner drohten, ihn zu erschießen, sollte die Festung sich nicht ergeben. Zwar hielten das Franco-Regime und ein großer Teil der europäischen Rechten über lange Jahre an dieser tragischen Erzählung fest, doch handelte es sich nur um einen Mythos. Sofort nach dem Einmarsch der franquistischen Truppen in Toledo (September 1936) wurde vorrangig die Umwandlung des Alcázars in einen Erinnerungsort betrieben. Der Bischof von Toledo, Enrique Plá y Deniel, Primas von Spanien, versicherte 1961 den Gläubigen, dass der vorgebliche Dialog zwischen Vater und Sohn „unsterblich bleiben würde“. Das symbolischste Denkmal der franquistischen Gedächtnispolitik in Bezug auf den Bürgerkrieg ist jedoch das Valle de los Caídos (das Tal der Gefallenen), das zum 20. Jahrestag des Sieges (1. April 1959) eingeweiht wurde. 1940 hatte man einen „grandiosen Tempel für unsere Toten“ vorgesehen, „in dem [die Spanier] im Laufe der Jahrhunderte für diejenigen beten werden, die für Gott und Vaterland gefallen sind“. In Wirklichkeit gehörten von den 34 000 Leichen, die aus den Friedhöfen in ganz Spanien ins Valle überführt wurden, viele zu den 150 000 Republikanern, die hinter der Front von den Falangisten und den franquistischen Militärbehörden massenhaft hingerichtet und ohne Wissen ihrer Familien exhumiert wurden. Die spanische Demokratie hat sich nicht einigen können, was mit einem derart einseitigen Denkmal geschehen sollte, einem „verrotteten Denkmal, das völlig von der heutigen spanischen Gesellschaft 67

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sowie der Ewigkeit, für die es bestimmt war, abgekoppelt ist“ (Francisco Ferrándiz, 2014). Es bleibt weiterhin ein Erinnerungsort, an dem an jedem Todestag des „Caudillo“ neofaschistische Kundgebungen zu Ehren Francos (der in diesem Denkmal begraben ist) abgehalten werden. Die offizielle kirchliche Erinnerungskultur in Bezug auf den Bürgerkrieg hat diesen bis in die 1970er-Jahre als Kreuzzug gegen den „atheistischen Kommunismus“ dargestellt. Der Vatikan hat zwischen 1987 und 2007 seinen Märtyrerstatus beglaubigt, als die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. mehr als 1000 von den 6000 spanischen Geistlichen, die von den Anarchisten oder anderen linken Milizen in den ersten Monaten des Kriegs getötet worden waren, seliggesprochen haben (elf davon wurden später heiliggesprochen). Keinem der von den FrancoTruppen hingerichteten baskischen und katalanischen Geistlichen wurde eine solche Ehrung zuteil. Die Faschisten wie die Antifaschisten haben eine gewisse Kontinuität zwischen dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg festgestellt. Die meisten Freiwilligen der Internationalen Brigaden kämpften in den verschiedenen Widerstandsbewegungen. Alle europäischen Regime (mit Ausnahme von Francos Spanien, Salazars Portugal und der griechischen Monarchie nach dem Bürgerkrieg) bezogen sich offiziell – östlich wie westlich des Eisernen Vorhangs – auf den Sieg der Alliierten und der Widerstandsbewegungen über den Faschismus. Dennoch war die Nachkriegszeit für die meisten Widerstandskämpfer desillusionierend und die Niederlage der spanischen Republik blieb eine offene Wunde im Gedächtnis des liberalen und linken Europa. In Mittel- und Osteuropa wurden der Prozess der „Entfaschisierung“ sehr bald (nach 1947/48) durch die Stalinisierung pervertiert und nationalkommunistische Regime wurden errichtet.

Zunehmende Entpolitisierung Das antifaschistische Gedächtnis, das während der kurzen Periode der Befreiung und der Nürnberger Prozesse (1946/47) vorherrschte, verlor in Westeuropa mit dem Kalten Krieg an Gewicht. Kurz nach 1968 eröffnete die zugleich nationalrevolutionäre wie neokonservative Neue Rechte aus einer Position heraus, die schnell als revisionistisch und/oder negationistisch erkannt wurde, einen Erinnerungskrieg, der die gesamte Zwischen68

Der Spanische Bürgerkrieg – PASSION DER EUROPÄISCHEN ANTIFASCHISTEN

kriegszeit, den Zweiten Weltkrieg und die historische Erfahrung der Befreiung betraf. Besonders nach 1989 insistierte eine gewisse antiantifaschistische Geschichtswissenschaft auf dem Syllogismus Antifaschismus = Kommunismus, Kommunismus = Totalitarismus, also Antifaschismus = Totalitarismus. Historische Narrative und Medienberichte begannen, die nationalsozialistische und faschistische Gewalt mit der der Résistance zu vergleichen. Seit dem Ende des Kriegs waren die deutschen Heimatvertriebenen, die italienischen foibe und die antifaschistischen Säuberungsaktionen in Frankreich und Italien Gegenstand von Erinnerungskonflikten. Der deutsche Historikerstreit 1986 war keinesfalls eine Ausnahme: Kontroversen über die faschistische Vergangenheit fanden in Italien, in Frankreich, in Spanien und Portugal sowie im gesamten postkommunistischen Mittel- und Osteuropa statt. Seit 1999 gelingt es den spanischen Eliten nicht mehr, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die lautstark fordern, dass man „das historische Gedächtnis“ des franquistischen Unterdrückungsapparats wiedergewinne, insbesondere jenes der republikanischen desaparecidos, die während des Kriegs hinter der Front getötet worden sind und die verlangen, dass man mehr als 114 000 Leichen suche und exhumiere. 2007 hat das Parlament ein Gesetz über das „historische Gedächtnis“ verabschiedet; da dieses aber den Staat nicht zwingt, die Fälle gewaltsamen Verschwindens unter Franco zu untersuchen, blockieren rechtsgerichtete Behörden weiterhin dessen Anwendung auf zentraler, regionaler oder lokaler Ebene. Sowohl als Gegenstand der Erinnerung als auch als politische Kategorie taucht der Faschismus bei jeder Krise der repräsentativen Demokratie und/oder wirtschaftlichen Rezession wieder auf. In solchen Zeiten (die 1980er-Jahre, der Beginn der 1990er-Jahre, nach 2008) haben die sozialen und wirtschaftlichen Ängste tendenziell politische Verhaltensweisen und Bewegungen verstärkt, die Parolen und Themen aufnehmen, die die Faschisten in den 1930er-Jahren populär gemacht hatten. Obwohl sie es im Allgemeinen ablehnen, Faschisten genannt zu werden, bleiben sie der Semantik des Faschismus treu. Das Gedächtnis (re)konstruiert sich tendenziell auf verschiedenen Ebenen, je nach dem Zusammenhang, in dem die Erinnerung aktiviert wird. Seit den 1990er-Jahren hat „ein sozialer Imperativ aus dem Zeugen“ des Völkermords oder anderer Formen totalitärer Herrschaft „einen Apostel und einen Propheten gemacht“ (Anne Wieviorka). Dieser Prozess führt 69

Manuel Loff

tendenziell zu einer „Zivilreligion“ (Enzo Traverso). „Die jahrzehntelang ignorierten Überlebenden der nazistischen Vernichtungslager werden heute […] zu lebenden Ikonen“, während „andere Zeugen […] wie die Widerstandskämpfer, die mit der Waffe den Faschismus bekämpft hatten, ihre Aura verloren haben oder, vom ‚Ende des Kommunismus‘ verschlungen, völlig in Vergessenheit geraten sind“ (Enzo Traverso). Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat die öffentliche Erinnerungspolitik in Westeuropa und in Deutschland Formen der Musealisierung und Geschichtsdidaktik der faschistischen Ära entwickelt, die weniger umstritten sind als die, die vor den 1980er-Jahren existierten (oder nicht existierten). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben eine allgemeine Krise der Politik und eine signifikante Entwicklung der dominierenden moralischen Werte das Interesse des Publikums dafür geweckt, was man als entpolitisierte oder apolitische Sicht des Faschismus und seiner Folgen auffassen könnte, wie man am Beispiel der Würdigung der homosexuellen und behinderten Opfer der eugenischen Politik des Faschismus durch mehrere europäische Staaten sieht. Die Chronologie der Berliner Mahnmale für die Opfer des Nationalsozialismus bietet ein typisches Beispiel für diese neue offizielle Erinnerungspolitik: die ermordeten Juden, 2005; die Homosexuellen, 2008; die Sinti und Roma, 2012; die Opfer des Euthanasieprogramms, 2014. Der Faschismus bleibt trotz seiner scheinbaren Auflösung im Begriff des Totalitarismus am Ende des 20. Jahrhunderts in ganz Europa und speziell in den mittel- und osteuropäischen Ländern sowie in Deutschland ein dauerhafter Gegenstand des kollektiven Gedächtnisses. Die postkommunistischen Gesellschaften sehen im Faschismus ein von der offiziellen Propaganda der kommunistischen Regime manipuliertes überlebtes Konzept, besonders dort, wo die nach 1989 an die Macht gekommenen Eliten die faschisierenden, mit den Nazis verbündeten Regime oder ihre virulent antikommunistischen Kollaborateure voller Nachsicht neu bewerten (wenn sie sie nicht offen rehabilitieren). Der Faschismus, der zwischen den 1940er- und 1970er-Jahren als weltweites Phänomen wahrgenommen wurde, kommt am Ende des 20. Jahrhunderts in den offiziellen Aussagen der Erinnerungspolitik und in den Medien immer weniger vor, ausgenommen im größten Teil West- und Südeuropas sowie in Russland. Fügen wir noch hinzu, dass der erneute Aufschwung rechtsextremer populistischer und fremdenfeindlicher 70

Der Spanische Bürgerkrieg – PASSION DER EUROPÄISCHEN ANTIFASCHISTEN

Bewegungen seit den 1990er-Jahren, insbesondere nach der Wirtschaftskrise von 2008, den Faschismus wieder in die öffentliche Debatte über die Lehren der Vergangenheit einbezogen hat.

Literatur Jean CAMP et al., L’Espagne libre, Paris 1946. Francisco FERRÁNDIZ, El pasado bajo tierra. Exhumaciones contemporáneas de la Guerra Civil, Barcelona 2014. Eric HOBSBAWM, Das Zeitalter der Extreme: Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, aus dem Englischen von Yvonne Badal, München 1995. Paul PRESTON, The Spanish Holocaust. Inquisition and Extermination in the Twentieth-­ Century-Spain, London 2012. Rémi SKOUTELSKY, Novedad en el frente. Las Brigadas Internacionales en la Guerra Civil, Madrid 2006. Zeev STERNHELL, Neither Right nor Left. Fascist Ideology in France, Princeton 1996. Enzo TRAVERSO, Gebrauchsanleitung für die Vergangenheit. Geschichte, Erinnerung, Politik, aus dem Französischen von Elfriede Müller, Münster 2007. Enzo TRAVERSO, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945, aus dem Französischen von Michael Beyer, München 2008. Annette WIEVIORKA, L’ère du témoin, Paris 1998. Annette WIEVIORKA, Die Ära des Zeugen, in: Ulrich Baumann, Britta Scherer (Hg.), Der Prozess – Adolf Eichmann vor Gericht, Berlin 2011, S. 22–27.

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Johann Chapoutot

Der Nationalsozialismus – eine europäische Angelegenheit Der Nationalsozialismus ist in Deutschland entstanden, aber seine Weltanschauung entspringt einem gemeineuropäischen Nährboden, zu dem der Antisemitismus ebenso wie der Sozial­ darwinismus gehört. Er bildet eine Art Negativbild zum Europa der Aufklärung und verlängert auf seine Art die Brutalität der westlichen Welt – von der kolonialen Eroberung über die ökonomische Ausbeutung bis hin zur Verherr­lichung der „Leistung“. All das weist zurück auf eine europäische Genealogie.

10. Reichsparteitag in Nürnberg 1938.

Der Nationalsozialismus – eine europäische Angelegenheit

Die Darstellung des Phänomens Nationalsozialismus in einem Werk, das sich dem europäischen Gedächtnis widmet, erscheint bereits auf den ersten Blick einleuchtend. Die ungeheuren materiellen Zerstörungen, die Tiefe der menschlichen Trauer und die Abgründigkeit der moralischen Katastrophe, für die das „Dritte Reich“ und seine Verbrechen stehen, betreffen den gesamten europäischen Kontinent, vom zerstörten Brest im Westen bis zum Ural, der für die Nationalsozialisten zur Grenzmark ihres großen Kolonialreichs, ihres Lebensraums im Osten werden sollte. Und doch kann es überraschen, wenn man den Nationalsozialismus als europäische Frage behandelt: Gewiss, er ist eine deutsche Angelegenheit – aber auch eine europäische? Wenn man schon den Blick weiten will, warum ihn dann nicht als westliches beziehungsweise als globales, ja universelles, gemeinmenschliches Phänomen abhandeln? Wir beabsichtigen jedenfalls nicht, von all dem Elend zu sprechen, das vom „Dritten Reich“ über Europa gebracht wurde, uns geht es vielmehr um die Frage, was uns der Nationalsozialismus über Europa sagt, ja verrät, was er uns enthüllt. Wir fragen also danach, inwiefern er einen europäischen Gedächtnisort darstellt.

Der „Sonderweg“ Erinnern wir zunächst daran, dass der Nationalsozialismus lange vor allem als rein deutsches Phänomen aufgefasst wurde, als Weltanschauung, die den langfristigen Grundtendenzen der deutschen Geschichte entsprang und vor allem von Deutschen umgesetzt wurde. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist er aber auch Streitobjekt unter den Historikern. So haben in den 1950er- und 1960er-Jahren junge Historiker wie Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler und Thomas Nipperdey, die zur Zeit des „Dritten Reichs“ geboren wurden, also zu jung waren, um an seinen Verbrechen teilzuhaben oder um von dem, was ihr Land angerichtet hatte, traumatisiert zu sein, ihre Dissertation über die Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfasst, die sie im Licht der Katastrophe interpretierten: Was in der deutschen Geschichte, speziell ab 1848, wies voraus auf 1933? Die Antworten waren rasch zur Hand: Das Scheitern der bürgerlich-liberalen Revolution von 1848 hatte das deutsche Bürgertum daran gehindert, eine Vernunft- und Debattenkultur zu entwickeln; der Sieg der Fürsten hatte das Ancien Régime bis 73

Johann Chapoutot

1918 verlängert und so jegliche Entfaltung einer demokratischen Kultur erstickt; darüber hinaus hatte die durch den Krieg herbeigeführte deutsche Einheit eine preußische Militärkultur aufgewertet, die in Verbindung mit dem herrschenden politischen Autoritarismus die deutsche Mentalität zum starren und schwächlichen Respekt vor den überkommenen Hierarchien verfestigte. Auch die Mentalitätsgeschichte schien zu bestätigen, was die Politik- und die Sozialgeschichte feststellten: Das Scheitern von 1848 und die gewaltsam herbeigeführte Einigung von 1871 verstärkten die Folgen einer langfristig wirksamen Kultur, die in Deutschland seit der Reformation die zivile Macht des Fürstbischofs mit sakraler Weihe versah und den Untertan zu bedingungslosem Gehorsam gegenüber der Macht anhielt. Diese galt als von Gott eingesetzt, seit ein die Sozialrevolte der Bauern bekämpfender Martin Luther an das Wort des Apostels Paulus erinnerte, dem zufolge „jegliche Macht von Gott gewollt sei“. Mitläufertum, politische Unreife, Konformismus und ein maßloser Respekt vor den geltenden Normen haben deshalb, so ist vielfach zu hören, den Weg gepflastert, der folgerichtig zu 1933 und dann zur Schoah führte. Diese These eines deutschen Sonderweg wartet mit im Detail interessanten Argumenten auf, die es auch wert sind, in ihrer Kohärenz auf den Prüfstand gestellt zu werden. Gleichwohl muss sie schon seit Langem nicht mehr als allgemeine Theorie und monokausale Erklärung der deutschen Katastrophe herhalten. Ihre Entstehung in den 1950er-Jahren in Zusammenhang mit den Traumata einer jungen Historikergeneration verweist darauf, dass sie mehr über die Geschichtsschreibung der frühen Bundesrepublik als über die deutsche Geschichte aussagt. In den 1990erJahren wurde sie allerdings durch das Buch von Daniel Goldhagen, einem US-amerikanischen Soziologen, wiederbelebt. Dieser behauptete, die Schoah ließe sich durch einen auf Ausrottung zielenden Antisemitismus erklären, der seit Luther in Deutschland vorhanden sei; ihn hätten die Nationalsozialisten in seiner ganzen vernichtenden Gewalt freigesetzt. Die Aussage des Buchs war dermaßen karikaturartig überzeichnet, dass viele Historiker es nicht ernst genommen haben, während die öffentliche Meinung sich darauf stürzte und damit die Vorstellung eines deutschen Sonderwegs wieder auf die Tagesordnung setzte. Entscheidend dazu trug im Jahr 1995 die Wanderausstellung „Die Verbrechen der Wehrmacht“ bei, die Millionen Deutschen die Teilnahme der Wehrmacht 74

Der Nationalsozialismus – eine europäische Angelegenheit

an den völkermörderischen Verbrechen an der Ostfront und auf dem ­Balkan vor Augen führte. Fast zeitgleich ermöglichte es die Öffnung der Archive in den Ostblockländern den Historikern, eine Vielzahl von Untersuchungen zur verbrecherischen Politik des „Dritten Reichs“ in Angriff zu nehmen. Die Anzahl von Dissertationen, Monografien, Essays und Artikeln über das „Dritte Reich“ und die Schoah nahm ab den 1990er-Jahren explosionsartig zu und gestattete es, den anscheinend so gut erforschten Nationalsozialismus erneut unter die Lupe zu nehmen. Dies geschah zum einen unter dem Aspekt der kriminellen Praktiken, zum anderen auf der Ebene des Diskurses, also der Ideologie beziehungsweise „Weltanschauung“.

Der Gemischtwarenladen der NS-Weltanschauung Hinsichtlich der Praktiken ist festzustellen, dass der Nationalsozialismus und seine Verbrechen ein europäisches Phänomen darstellen. Nationalsozialisten gab es überall in Europa, von Großbritannien bis Rumänien, von den Niederlanden bis Serbien. Nirgends fiel es dem „Dritten Reich“ schwer, Mitläufer und Kollaborateure zu finden, auch für die Ausführung seiner blutigsten Unterfangen standen Helfershelfer bereit. Die Schoah wäre ohne den aktiven Beistand von französischen Präfekten und Polizisten, ungarischen Gendarmen, kroatischen Ustascha-Anhängern und baltischen wie ukrainischen antisemitischen Nationalisten undenkbar und undurchführbar gewesen. Bekanntlich hofften die Nationalsozialisten auch auf eine potenzielle Kollaborationsregierung in Großbritannien. Es ist auch hinlänglich bekannt, dass französische und skandinavische Angehörige der Ausländerdivisionen der Waffen-SS Ende April die letzten Verteidiger des Regierungsviertels in Berlin waren. Die Motive der nationalsozialistischen Kämpfer, Killer und Komplizen aus dem Ausland waren freilich höchst unterschiedlicher Art: Das mochte in Frankreich bei einem Maurice Papon der Respekt vor Hierarchien und der legalen Ordnung sein, bei einem René Bousquet die Absicht, ein Stück nationaler Souveränität zu bewahren, bei anderen ein radikaler Antisemitismus, wohlverstandenes materielles Eigeninteresse, aber auch die tiefe ideologische Überzeugung, dass der National­ sozialismus und seine Ziele die angemessene Antwort auf die Zivilisationskrise der Zeit darstellten. 75

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Verschieben wir also unsere Fragestellung von den Praktiken hin zu den sie untermauernden Rechtfertigungsdiskursen, zur Ideologie oder Weltsicht der Nationalsozialisten. Der Begriff „Weltanschauung“, den die NS-Propagandisten und -Politiker den Humanwissenschaften und der Philosophie entlehnten, scheint bereits dadurch, dass er ein deutsches Wort ist, den Nationalsozialismus in die engen Grenzen Deutschlands einzuschließen. Die Nationalsozialisten betonten zudem auch, dass sie – im Unterschied zum Faschismus und zum Kommunismus – ihre Ideologie nicht als Exportartikel betrachteten. Ihre Überlegungen waren nur durch deutsches Blut verbürgt, dessen Ausdruck sie waren, und galten nur für das deutsche Volk, dem sie dienen sollten. Anderen Völkern blieb es nach Alfred Rosenberg und Otto Dietrich überlassen, sich die Weltanschauung auszudenken, die ihrer objektiven Lage und ihrer „Rasse“ entsprach. Trotz dieser Vorbehalte und Warnungen machte man sich die NS-Weltanschauung in anderen europäischen Ländern zu eigen, ja sogar darüber hinaus, wenn man an die NS-Bewegung der 1930er-Jahre in den USA denkt oder aber an die lateinamerikanischen Diktaturen nach 1945 und das Südafrika der Apartheid. Einer der Gründe dafür ist die Tatsache, dass die NS-Weltanschauung einen regelrechten Gemischtwarenladen darstellt, ein Konglomerat von Ideen, die in der europäischen und westlichen Kultur schon lange vor 1933 anzutreffen sind, die aber von den Nationalsozialisten in den 1920er-Jahren mit Erfolg zu einem kohärenten Ganzen zusammengefasst und zugleich radikalisiert wurden, bevor man sie ab 1933 in die Wirklichkeit umsetzte. Dies gilt zuvörderst für den Rassismus, die Grundlage der NS-Weltanschauung. Die Erfassung und die Einteilung der Menschen auf phänotypischer Grundlage (nach dem physischen Erscheinungsbild) sind so alt wie das alte Griechenland. Die Hierarchisierung von Menschen sowie die entsprechende Zuweisung unterschiedlicher Aufgaben und Funktionen wurden in Zusammenhang mit der Ausbreitung Europas insbesondere in Afrika sowie in Nord- und Südamerika erneut aktuell. Aus dem Rassedenken der Gelehrten mit ihrer differen­ zialistischen Anthropologie wurde der Rassismus der kolonialistischen Königreiche und Staaten. Die Heimstätten des Rassismus sind im 19. Jahrhundert die großen Kolonialmächte, allen voran Großbritannien und Frankreich. In Deutschland, dieser in Übersee im Vergleich mit ­seinen Nachbarn unterrepräsentierten und späten Kolonialmacht, wird 76

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der Rassismus zwar als Wissenschaft betrieben, doch wird ihm geringere politische Bedeutung als in den Mutterländern der Weltreiche beigemessen. Die Nationalsozialisten konnten so in apologetischen Presseartikeln genüsslich darauf hinweisen, dass London und Paris ihre Geopolitik auf den Rassismus gründen und dass in der Sklavenhalter- beziehungsweise Rassentrennungsgesellschaft der USA weiterhin gelyncht und diskriminiert wird. Auch der Antisemitismus ist europäisches beziehungsweise westliches Erbgut. Er ist seit Langem Teil der Religions- und Kulturgeschichte. Bevor im 19. Jahrhundert aus ihm der „wissenschaftliche“ Rassismus wurde, diente er religiöser und politischer Ausgrenzung. Vergessen wir nicht, dass die germanischen Länder und insbesondere die protestantischen nie als besonders antisemitisch galten, ganz im Gegenteil: Im Vergleich zum Osten mit seinen zahlreichen Pogromen oder zum katholischen Süden stellte das protestantische Deutschland, insbesondere Preußen, ein Refugium für die verfolgten Juden dar. Die antisemitische Verhärtung scheint erst nach 1871 eingetreten zu sein, und zwar besonders in der Phase der raschen, ja brutalen Modernisierung, die das neue Reich durchlief. Er wurde verschärft durch die Schwierigkeiten, die Deutschland während des Ersten Weltkriegs durchmachte, sowie durch die Niederlage, für die die als vaterlandslose Gesellen betrachteten Juden ebenso verantwortlich gemacht wurden wie die Linke aufgrund ihres Internationalismus. Die Spezifität des genuin deutschen Antisemitismus, der in der Obsession der Nationalsozialisten gipfelte, scheint im gesamteuropäischen Kontext erst relativ spät aufgetreten zu sein.

Der Sozialdarwinismus Rassismus und Antisemitismus gehen in der NS-Weltanschauung eine enge Verbindung mit einem ausgesprochen orthodoxen, wenngleich radikalen Sozialdarwinismus ein: Die Rassen liefern sich einen unerbittlichen Kampf um die Herrschaft über bestimmte Räume und ums Überleben. Wir haben es dabei mit der getreuen Übertragung derjenigen Lehren zu tun, die Ende des 19. Jahrhunderts Darwins Kategorien und Begriffe (Kampf ums Leben, Überleben der Stärkeren, natürliche Zuchtwahl) von der Natur auf die Kultur, speziell von der Tierwelt auf die Gattung Mensch übertragen haben. Die „Sozialdarwinisten“ stammen vor 77

Johann Chapoutot

allem aus Großbritannien (Francis Galton, Herbert Spencer …) und Frankreich (Clémence Royer, Georges Vacher de Lapouge …), sind doch die Mutterländer der Kolonialreiche die ersten Zentren, in denen sich der Sozialdarwinismus entwickelt: Dieser legitimiert nicht nur die herrschende inegalitäre kapitalistische Ordnung (die sozialen Hierarchien gelten als Ausdruck natürlicher Hierarchien), sondern auch die kolonialistische geopolitische Ordnung (die Herrschaft der überlegenen Rassen ist ein natürliches Phänomen). Die Einführung des Sozialdarwinismus in Deutschland in großem Stil erfolgt erst später; sie hängt zusammen mit der Veröffentlichung der Grundlagen des 19. Jahrhunderts im Jahr 1899, dieser Gesamtdarstellung der Weltgeschichte aus der Feder von Houston Stewart Chamberlain, des für Deutschland schwärmenden Untertans Seiner Majestät und Schwiegersohns von Richard Wagner. Die eng mit dem Sozialdarwinismus verbundene Eugenik, von der man erwartete, dass sie „Rasse“ und Individuum mit besseren Eigenschaften für den allgemeinen Kampf ums Leben ausstatten würde, war ebenfalls ein europäischer und westlicher, jedenfalls kein spezifisch deutscher Traum. Die ersten gesetzlichen Maßnahmen auf dem Gebiet der Eugenik stammen aus dem Skandinavien, der Schweiz und dem Nordamerika des beginnenden 20. Jahrhunderts. Das eugenische Bewusstsein nahm nach dem Ersten Weltkrieg beträchtlich zu. Man verstand nämlich die demografische Katastrophe nicht nur als quantitatives Problem (Millionen von Toten), sondern auch als qualitatives (vor allem die Besten, die bereitwillig an vorderster Front kämpften, waren gefallen). Diese Auffassung war in allen Ländern verbreitet, die vom demografischen Aderlass in hohem Maß betroffen waren (insbesondere Frankreich), vor allem aber in Deutschland, wo eine hoch angesehene scientific community, die in den Lebenswissenschaften eine Spitzenposition einnahm, sich sehr für eine Verbesserung der „Rassenhygiene“ (wie man die Eugenik auf Deutsch bezeichnete) einsetzte. Auch hier gilt, dass die Rassenhygiene wie der Sozialdarwinismus ursprünglich kein deutsches Phänomen ist, dass die Deutschen beide aber radikaler auffassten und ab 1933 in Gestalt der Nationalsozialisten auch praktizierten, und das nicht nur im Inneren (Wettbewerbsgeist, Leistungskult, Sterilisierungen und schließlich Vernichtung „lebensunwerten Lebens“), sondern auch in internationalem Maßstab (Krieg­ führung, Eroberung von „Lebensraum“, Vernichtung und Versklavung ganzer Völkerschaften). Damit berühren wir andere Charakteristika des 78

Der Nationalsozialismus – eine europäische Angelegenheit

Nationalsozialismus, die allerdings auch keine germanisch-deutschen Atavismen oder Idiosynkrasien darstellen, nämlich Nationalismus, Militarismus und Imperialismus, die allesamt Grundzüge der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts darstellten. Das gilt etwa für den Kapitalismus, dessen fürchterlichste Aspekte die Nationalsozialisten als seine gelehrigsten Schüler umsetzten: Das „eiserne Lohngesetz“, das laut Karl Marx mithilfe der Reduktion der Löhne auf das Existenzminimum – der Arbeiter erhält nur, was er unbedingt für die Reproduktion seiner Arbeitskraft benötigt – den maximalen Mehrwert garantiert, wird von ihnen in den Konzentrationslagern, diesem regelrechten wirtschaftlichen Imperium unter Leitung der SS, in seiner letzten Konsequenz umgesetzt. In diesem Fall musste man sich nicht einmal mehr um die Reproduktion der Arbeitskraft mithilfe von Nahrung kümmern, es genügte, den regelmäßigen Nachschub an Häftlingen sicherzustellen.

NS-Strukturen in unserem Denken Wie es scheint, ist der Nationalsozialismus also europäisches, ja westliches Erbgut. Er scheint sich als Frage darzustellen, die sich nicht nur an Deutschland richtet, wie das in der Regel geschieht („Wie konnte ein Land von solcher kulturellen Höhe nur …?“), sondern an Europa insgesamt. Man kann dies als Bestätigung des Fortbestehens einer außergewöhn­ lichen NS-bezogenen Gedächtniskultur betrachten, die unablässig die Regale unserer Bibliotheken, die Programme unserer Fernsehanstalten und die Leinwände unserer Kinos füllt. Die nie nachlassende Präsenz der Themen Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg in unserer Gedächtniskultur hat vermutlich mehrere Ursachen: Zum einen macht uns der Zweite Weltkrieg in unserer heutigen, kaum durchschaubaren Welt das Angebot leichter Lesbarkeit, ja Evidenz (man weiß, wer die Bösen sind) und eines Happy End (die Guten haben gesiegt); zum anderen haben wir es mit der dubiosen Faszination für das im Nationalsozialismus verkörperte Böse zu tun, und das in einem weithin entchristianisierten Europa, das jedoch ein paar analytische Kategorien aus seinem christlichen Erbe wie eben nicht zuletzt die Idee eines substanziell Bösen bewahrt hat. Schließlich dürfte das NS-Phänomen auch etwas mit der Brutalität der europäischen und westlichen Welt zu tun haben, mit der kolonialen Eroberung, der ökonomischen Ausbeutung des „Humanfaktors“, der 79

Johann Chapoutot

Umweltvernichtung, der Verherrlichung von Wettbewerb, Tat und Leistung, die im Wesentlichen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf das Vorhandensein von NS-Strukturen in unserem mentalen Universum verweisen. Diese wurden zwischen 1933 und 1945 in besonders radikaler und brutaler Weise wirksam, sind aber weder 1933 entstanden noch 1945 verschwunden.

Literatur Michael BURLEIGH und Wolfgang WIPPERMANN, The Racial State. Germany 1933– 1945, Cambridge 1991. Johann CHAPOUTOT, La Loi du sang. Penser et agir en nazi, Paris 2014 (deutsch: Das Gesetz des Blutes, Darmstadt 2016). Richard J. EVANS, The Third Reich in History and Memory, Oxford 2015. Christian INGRAO, Croire et Détruire, Paris 2010. Timothy SNYDER, Black Earth. The Holocaust as History and Warning, New York 2015. Michael WILDT, Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008.

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Claudia Weber

Der Hitler-Stalin-Pakt – ein Tabu Mit diesem am 23. August 1939 zwischen den beiden großen ­Diktaturen des 20. Jahrhunderts geschlossenen Abkommen einigten sich Adolf Hitler und Josef Stalin auf eine Aufteilung des Kontinents in zwei Einflussbereiche. Dieses kurzzeitige Bündnis – Hitler brach den Pakt am 22. Juni 1941 mit der Operation Barbarossa – bedeutet eine zentrale Zäsur im euro­ päischen Erinnern: Im Westen wird der Opfer des National­ sozialismus gedacht, im Osten der des Stalinismus. Es erscheint fast unmöglich, diese beiden Erinnerungen, die sich während des Kalten Krieges herauskristallisiert haben, in Einklang zu bringen.

Moskau, 23. August 1939: Josef Stalin und Reichs­ außenminister Joachim von Ribbentrop.

Claudia Weber

Am 23. August 1939 unterzeichneten Stalins Volkskommissar für Äußere Angelegenheiten, Vjačeslav Molotov, und Hitlers Außenminister, Joachim von Ribbentrop, in Moskau einen gegenseitigen Nichtangriffspakt. Am 2. April 2009 erklärte das Europäische Parlament dieses Datum zum europäischen Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalso­ zialismus. Im Vorfeld des 70. Jahrestages des sogenannten Hitler-StalinPaktes reagierte das Parlament auf bisweilen heftige Debatten um den Kanon, die Orte und die Gedenkformen einer gemeinsamen europäischen Erinnerung nach dem Ende des Kalten Krieges. Die damaligen Diskussionen bespielten unterschiedliche Bühnen. In den europäischen Institutionen rangen vor allem Politiker*innen der neuen östlichen EU-Mitgliedstaaten Polen und des Baltikums um die Anerkennung einer stalinistischen Gewalterfahrung, die ihnen in den Jahrzehnten des sowjetischen Staatssozialismus verwehrt geblieben war. In der akademischen Community, insbesondere in der Geschichtswissenschaft, wurden die Auseinandersetzungen um einen gesamteuropäischen Erinnerungskanon, der die Gewaltherrschaft Stalins einschließen würde, von der Befürchtung begleitet, dass damit die Relativierung des Holocaust und seiner historischen Singularität verbunden ist. Claus Leggewie, einer der prononcierten Vertreter der damaligen Fachdebatten, sprach von einem „Schlachtfeld der Erinnerung“, auf dem sich, so sei hinzugefügt, die Frontstellungen des Kalten Krieges widerspiegelten. Tatsächlich prolongierten die Debatten eine Zweiteilung, die seit den späten 1940er-Jahren nicht nur die politische und gesellschaftliche Entwicklung Europas, sondern auch erinnerungskulturelle Traditionen manifestierte. Im Westen war der Holocaust zum negativen Gründungsmythos der demokratischen Gesellschaften, allen voran der Bundesrepublik, geworden. Im Osten legitimierten die Narrative des antifaschistischen Widerstandskampfes und des glorreichen Sieges über den Nationalsozialismus das sowjetische Imperium und tabuisierten eine Gewaltgeschichte, zu der der Hitler-Stalin-Pakt gehört. Diese Erinnerungstraditionen des Kalten Krieges zu überwinden, war der politische, gesellschaftliche und akademische Imperativ jener Jahre der „europäischen Euphorie“, die den Debatten zugrunde lag und von der mittlerweile nicht mehr viel zu spüren ist. In einer Gegenwart, in der die Idee einer integrativen Europäisierung an Zugkraft verloren hat, sind die Debatten leiser geworden, auch die um die Frage, ob und wie der Hitler-Stalin-Pakt in einem Geschichts- und 82

Der Hitler-Stalin-Pakt – ein Tabu

Erinnerungskanon zu platzieren wäre. Stattdessen wird die Geschichte des Bündnisses zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus oftmals wieder als eine „osteuropäische Angelegenheit“ betrachtet, sowohl hinsichtlich des historiografischen als auch des erinnerungskulturellen Umgangs. Und es scheint, als wären alle Seiten mit diesem Status quo – bei dem es sich um einen Status quo ante handelt – auf eine eigentümliche Art und Weise zufrieden. Die Rückkehr zur Erinnerungslogik des Kalten Krieges aber ist fatal, denn sie parzelliert eine europäische Weltkriegsgeschichte, die selbst im konventionell ereignisgeschichtlichen Sinn nicht getrennt werden kann. Der Hitler-Stalin-Pakt, der das Bündnis zwischen den beiden prägenden europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts nach langer Annäherung und zügiger Verhandlung besiegelte, entfesselte den Zweiten Weltkrieg in Europa. Er gestattete Hitler – und wenig später Stalin – den Einmarsch in Polen und setzte einen beispiellosen Vernichtungskrieg in Gang, der insbesondere im Osten Europas, dem Schauplatz des Holocaust, verheerende Folgen hatte. Die brutale doppelte Besatzungspolitik, die grausame Zerschlagung der Zweiten Polnischen Republik und die im Juni 1940 skrupellos vollzogene Angliederung des Baltikums an Stalins Sowjetunion sicherten die imperiale Ausdehnung auf ein Territorium, dessen Bevölkerung für mehr als 40 Jahre unter der Herrschaft des sowjetischen Machtbereichs blieb. Dass die imperiale Gebiets- und Machterweiterung Hitlers nach Westeuropa aber ebenfalls erst mit und nach dem Pakt möglich geworden waren, wird sowohl in der Forschung als auch in der öffentlichen Erinnerung im Westen oftmals nur nebenbei erwähnt. Und doch fanden die deutschen Überfälle auf Frankreich und die Beneluxstaaten zeitgleich zur sowjetischen Besatzung des Baltikums und Bessarabiens statt. Und es ist fraglich, ob sie ohne den „Rückhalt“, den sich Hitler mit dem Pakt „erhandelt“ hatte, möglich gewesen wären. Am Ende des Paktes im Juni 1941 herrschte Hitler über 800 000 km² europäisches Territorium, während Stalin sein Imperium nach Westen und in den Südosten um 422 000 km² vergrößern konnte. Das Bündnis zwischen den ideologischantagonistisch inszenierten Diktaturen prägte die westeuropäischen Nationen und Gesellschaften in einem Ausmaß, das wohl bekannt ist, aber nicht zum westeuropäischen Erinnerungskanon gehörte. Der Pakt „zwang“ Anhänger der antifaschistischen Linken und Mitglieder der kommunistischen Parteien Westeuropas, den deutschen Einmarsch in 83

Claudia Weber

ihre Länder zu begrüßen. Auf Anweisung der Kommunistischen Inter­ nationale (Komintern) waren sogar Frankreichs Kommunisten angehalten, die deutschen Besatzer in Paris als Verbündete im Kampf gegen den französischen und britischen Imperialismus willkommen zu heißen, denn schließlich handelte es sich um Partner Moskaus. Darüber hinaus war es Hitlers Erfolg im Westen, der dem Pakt die ersten Risse zufügte. Die Tatsache, dass die Wirkung und der Einfluss des Hitler-Stalin-Paktes auf die westeuropäische Weltkriegsgeschichte unterschätzt werden, steht der Akzeptanz als europäischer Erinnerungsort im Weg. Eine europäische Erinnerung an den und historiografische Aufarbeitung des Hitler-Stalin-Paktes bedeuten nicht allein, dass neben den Opfern des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges und des Holocaust nun auch der Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft gedacht werden kann. Sie bedeuten keinesfalls eine Relativierung und/oder Nivellierung der nationalsozialistischen Diktatur; eine Befürchtung, die vor allem von der longue durée der mentalen Ost-West-Teilung genährt wird. Im Gegenteil öffnet die Perspektive auf den Hitler-Stalin-Pakt als europäisches Geschichtsereignis den Blick für die historischen Verflechtungen und Wechselbeziehungen, die den Eroberungsfeldzug des „Dritten Reiches“ in Ost- und in Westeuropa erst ermöglichten. Sie lässt erkennen, wie sehr das Bündnis der Diktaturen in ganz Europa – in Paris ebenso wie in London oder im Moskauer Hotel Lux – Schrecken und Entsetzen auslöste und zur europäischen Erinnerung an die Gewalt­ geschichte des 20. Jahrhunderts gehört.

Literatur Sebastian HAFFNER, Der Teufelspakt. Fünfzig Jahre deutsch-russische Beziehungen. Reinbek 1968. Gustav HILGER, Wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918–1941. Erinnerungen eines Diplomaten, Frankfurt a. M. 1964. Anna KAMINSKY, Dietmar MÜLLER und Stefan TROEBST (Hg.), Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011. Ian KERSHAW, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg, München 2008. Jochen LAUFER, Pax Sovietica. Stalin, die Westmächte und die deutsche Frage 1941– 1945, Köln 2009.

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Der Hitler-Stalin-Pakt – ein Tabu

Claus LEGGEWIE, mit Anne LANG, Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011. Wolfgang LEONHARD, Der Schock des Hitler-Stalin-Paktes, München 1989. Jan LIPINSKY, Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999, Frankfurt a. M. 2004. Claudia WEBER, Der Pakt. Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz, München 2019.

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Étienne François

Widerstandskämpfer und Kollaborateure – Begriffe als Erinnerungsorte Bevor es zur Bezeichnung eines Helden wurde, war das Wort ­„résistant“ ein Adjektiv und der „Kollaborateur“ ein Mitarbeiter. Als Charles de Gaulle im Juni 1940 die „Flamme des französischen Widerstands“ beschwört und Marschall Philippe Pétain kurz darauf ankündigt, er schlage den „Weg einer vertrauens­vollen Zusammen­arbeit“ („Kollaboration“) mit NS-Deutschland ein, erfahren diese Wörter eine Bedeutungsveränderung. Ganz Europa übernimmt diese Semantik und das sie begleitende Narrativ, die Geschichte von Helden und Verrätern. Dieses lässt sich allerdings immer weniger aufrechterhalten, weil es im Lauf der Entwicklung durch die Figuren des Opfers, des Täters und des Zeitzeugen relativiert wurde.

Porträt Jean Moulins am Musée de la Libération de Paris.

Widerstandskämpfer und Kollaborateure – Begriffe als Erinnerungsorte

Immer dann, wenn die Geschichte eine neue Etappe erreicht, die auch von ihren Akteuren als Eintritt in eine neue Ära erlebt wird, tauchen neue Begriffe auf und setzen sich auch durch, gilt es doch, etwas zu bezeichnen, was den Blick auf Gegenwart und Vergangenheit verändert und als Bruch empfunden wird. Diese sprachliche Änderung vollzieht sich oft durch die Verwandlung eines Adjektivs oder eines Partizips in ein Nomen. Dies spielte sich 1529 ab, als die Martin-Luther-Anhänger unter den Teilnehmern des Reichstags von Speyer gegen die Aufforderung des Kaisers und der Mehrheit der Reichsstände protestierten, ihren Widerstand aufzugeben und den Weg der Mehrheit mitzugehen. Die eigentliche Partizipform „protestant“ wurde nominal verwendet und bezeichnet seither die Anhänger der Reformation im Gegensatz zu den Katholiken. Es kommt auch vor, dass man einem Wort eine neue Definition zuschreibt, die sich an die Stelle der bisherigen setzt. So bezeichnete das Wort „Jakobiner“ bis 1789 die Mönche des Pariser St.-JakobsKlosters, dann aber die Mitglieder der revolutionären politischen Gesellschaft, die im ehemaligen Jakobiner-Kloster ihren Sitz genommen hatte, und dann allgemeiner die Befürworter einer Radikalisierung der Revolution.

Wörter im Licht der Geschichte Ähnliches ist während des Zweiten Weltkriegs den Wörtern „résistant“ und „collaborateur“ widerfahren. Bis 1940 bezeichnet „résistant“ als Adjektiv oder Partizip entweder eine feste, robuste Materie oder aber das Verhalten einer Person, die sich entschieden widersetzt. „Collaborateur“ („Mitarbeiter“) bezeichnet seinerseits ausschließlich eine Person, die mit einer anderen an einem gemeinsamen Unterfangen arbeitet. Wir haben es also mit zwei ganz gewöhnlichen Wörtern ohne spezielle Konnotation zu tun. Doch sehr rasch, nämlich bereits unmittelbar nach dem Waffenstillstand von Juni 1940, der auf den Zusammenbruch der französischen Armee angesichts der Offensive der Wehrmacht folgt, wird deutlich, dass Frankreich sich lange nicht von dieser Niederlage erholen wird, und in diesem Kontext verändern sich unsere beiden Begriffe. „Résistant“ wird vom Adjektiv oder Partizip zum Nomen, das eine Person bezeichnet, die bis zum endgültigen Sieg den deutschen Besatzer und dessen Unterstützer bekämpft, und darüber hinaus jeden, der gegen fremde Besatzung 87

Étienne François

oder ein verabscheutes Regime kämpft. „Kollaborateur“ wird zum Gegenbegriff von „Résistant“ und genauso stark negativ konnotiert, wie es Letzterer positiv ist; das Wort bezeichnet jeden, der mit der Besatzungsarmee und NS-Deutschland gemeinsame Sache macht, und darüber hinaus jeden, der sich mit einem feindlichen Besatzer oder einem verabscheuten Regime einlässt. Woher kommt diese Doppelmutation, die zugleich beide Wörter, die bislang nichts miteinander zu tun hatten, nun so eng aneinanderbindet? Die Veränderung von „résistant“ hin zum positiv konnotierten Nomen verweist in erster Linie auf die neue Bedeutung, die dem Wort „résistance“ als Kampf bis zum endgültigen Sieg gegen den Besatzer, NSDeutschland, im Appell vom 18. Juni 1940 verliehen wurde. In dieser im Londoner Exil gehaltenen Rede ruft General Charles de Gaulle zur Fortsetzung des Kriegs auf und schließt mit einem Satz, der bald zum geflügelten Wort wird: „Was auch kommen mag, die Flamme des französischen Widerstands darf nicht erlöschen und sie wird nicht erlöschen.“ Diese neue Bedeutung wird verstärkt durch den Titel – eben Résistance –, den der erste Widerstandskreis überhaupt, derjenige des Musée de l’Homme (Anthropologisches Museum), seiner Untergrundzeitung gab, die er ab Ende 1940 herausgab. Gegründet wurde diese Gruppe bereits im Sommer 1940 von Paul Rivet, Yvonne Oddon, Germaine Tillion, Anatole Lewitsky und Boris Vildé. Die erste Nummer der Zeitung vom 15. Dezember 1940 begann mit dem Appell: „Widerstehen! Das ist der Schrei aus euer aller Herzen, inmitten der Verzweiflung, in die euch der Untergang des Vaterlands gestürzt hat. Es ist der Schrei von allen, die wie ihr nicht bereit sind, aufzugeben, von allen, die wie ihr ihre Pflicht erfüllen wollen.“ Rasch setzt sich das Wort Résistance (großgeschrieben) durch, um alle Bewegungen und Initiativen zu bezeichnen, die die Niederlage nicht hinnehmen und vor Ort gegen den feindlichen Besatzer wie seine Unterstützer kämpfen. Seine endgültige Bestätigung erfährt es mit der Gründung der „Vereinten Widerstandsbewegungen“, der Mouvements unis de la Résistance, zu denen sich die drei wichtigsten Bewegungen des inneren Widerstands im Januar 1943 zusammenschließen, sowie im Mai 1943 mit der Bildung des „Nationalen Widerstandsrats“, des Conseil national de la Résistance, dem nun auch politische Parteien (darunter die Kommunistische Partei) angehören. Beide Einrichtungen unterstehen Jean Moulin und damit der France libre und General de Gaulle. 88

Widerstandskämpfer und Kollaborateure – Begriffe als Erinnerungsorte

Die neue Bedeutung des Worts „collaborateur“ verweist auf das im Oktober 1940 von Pierre Laval und Otto Abetz arrangierte Treffen Adolf Hitlers, der von einer Begegnung mit Francisco Franco an der spanischen Grenze kam, mit Marschall Philippe Pétain in Montoire. Diese Begegnung war von bloß symbolischer Bedeutung und blieb ohne jeg­ liche konkreten Folgen. Doch hält Pétain eine Woche später eine Rede, die das Gegenstück zum Appell des 18. Juni bildet. Mit ihr erklärt er sich bereit, den Weg einer „vertrauensvollen Kollaboration“ („collaboration confiante“) mit NS-Deutschland einzuschlagen, um es Frankreich zu ermöglichen, sich neu aufzustellen und seinen Platz im neuen Europa zu finden. Diese Begegnung wird von der öffentlichen Meinung schlecht aufgenommen, insbesondere wegen des Händedrucks, den Hitler und Pétain austauschten. Diese Begegnung und die Rede, die ihm folgte, diskreditieren das Wort „Kollaboration“ und verleihen zugleich dem Begriff „Kollaborateur“ eine neue und absolut negative Konnotation.

Ein neues semantisches Begriffspaar und seine europäische Erfolgsgeschichte Für Vichy und die Deutschen sind die Widerstandskämpfer allerdings nichts anderes als Terroristen. Doch angesichts der wachsenden Sympathie, auf die die Résistance stößt, und infolge der wachsenden Feindseligkeit gegenüber dem Besatzer und seiner Helfershelfer gewinnen die Gegenbegriffe „résistant“ und „collaborateur“ an Einfluss und setzen sich mit der Libération, der Befreiung des Landes, endgültig durch. Ursprünglich auf das Frankreich der Jahre von 1940 bis 1944 bezogen, dehnen sie sich nun auf die anderen europäischen Sprachen aus, zum einen durch Übernahme – „Kollaboration“ auf Deutsch und Dänisch, kolaboracja auf Polnisch, kolaboracija auf Kroatisch beziehungsweise kollaborazionism auf Russisch –, durch Übertragung – resistance auf Englisch, resistenza auf Italienisch – oder aber auf dem Weg der wortwörtlichen Übersetzung: Widerstand auf Deutsch und verzet auf Niederländisch. Dieser symbolische Sieg ist umso beeindruckender, als der Begriff „résistant“ während des Kriegs in Konkurrenz mit verwandten anderen Begriffen steht, insbesondere mit dem des „partisan“, des Partisanen. So trägt ja beispielsweise die Hymne der französischen Résistance den Titel „Partisanenlied“, Chant des partisans, und die Kampfeinheiten 89

Étienne François

der Kommunistischen Partei werden trotz ihrer Integration in die Forces françaises de l’intérieur, den inneren Widerstand, „Freischärler und Partisanen“ genannt, Francs-Tireurs et Partisans (FTP); in Italien gehören die antifaschistischen Kräfte der Resistenza partigiana an und in Polen ist der bewaffnete Widerstand vor allem eine Sache der „Heimatarmee“ (wörtlich „Landesarmee“), der Armia Krajowa, während in Griechenland und Jugoslawien, in der Tschechoslowakei und der Sowjetunion der bewaffnete Widerstand eine Angelegenheit der Partisanen ist. In allen Ländern, die zu Opfern der deutschen Besatzung geworden waren, bestätigt der totale Sieg der Alliierten über NS-Deutschland die neue Bedeutung, die die Begriffe „résistant“ und „collaborateur“ ab 1940 angenommen haben; diese werden tendenziell universell. Im Osten wie im Westen sind die neuen Inhaber der Macht unmittelbar aus den Widerstandsbewegungen hervorgegangen, in Frankreich mit General de Gaulle wie in Jugoslawien mit Josip Broz Tito, oder aber es handelt sich um Regierungen der nationalen Einheit, in denen die Vertreter des Widerstands eine entscheidende Rolle spielen wie in Italien, Belgien, Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Widerstandsbewegungen mit Unterstützung der Armeen, die die deutschen Truppen vertrieben haben, gegen die „Kollaborateure“ vorgehen – bis hin zur obersten Ebene. Sie jagen und demütigen sie öffentlich, wobei die Frauen, die unerlaubter Liebesbeziehungen verdächtigt werden, mit besonderer Brutalität behandelt werden. In zahlreichen Fällen kommt es zu Hinrichtungen im Schnellverfahren, nur allmählich setzen sich legalere Formen der Säuberung, der épuration, durch. Das gilt für Italien, wo Benito Mussolini im April 1945 ermordet und sein Leichnam in Mailand zur Schau gestellt wird, ebenso wie für Frankreich. Dort wird Marschall Pétain im August 1945 nach einem mehrwöchigen Prozess wegen Hochverrats zum Tod verurteilt, seine Strafe dann aber in lebenslange Haft umgewandelt. In Norwegen endet der Prozess gegen Vidkun Quisling, der von 1942 bis 1945 an der Spitze einer Pro-NS-Regierung stand, ebenfalls mit der Todesstrafe, die in diesem Fall im Oktober 1945 auch vollzogen wird. In der Tschechoslowakei wird Jozef Tiso, der ab 1939 die Regierung des slowakischen Vasallenstaats geleitet hatte, zum Tod verurteilt und 1947 erhängt, so, wie in Rumänien Marschall Ion Antonescu, während des Kriegs Diktator im Königreich Rumänien, zum Tod verurteilt und 1946 hingerichtet wird. 90

Widerstandskämpfer und Kollaborateure – Begriffe als Erinnerungsorte

Überall kommt es auch zu Säuberungsmaßnahmen mit einer Vielzahl von Verurteilungen zu äußerst unterschiedlichen Strafen, von der Ab­erkennung der nationalen Ehre bis hin zur Todesstrafe. So werden in den Niederlanden 66 000 Personen verurteilt, davon 900 zur Todesstrafe, in Dänemark verzeichnet man 46 Todesurteilte bei einer Gesamtzahl von 13 500 Verurteilungen, während in Bulgarien 135 Massenprozesse mit mehr als 2500 Todesurteilen enden.

Die Herstellung einer großen Heldenerzählung Ausgesprochen rasch entwickeln sich in allen von der NS-Besatzung betroffenen Ländern Narrative, die in Form einer normativen SchwarzWeiß-Darstellung an die Kriegsjahre erinnern. Diese Meistererzählungen, die von den neu gebildeten Regimen und den Vertretern der siegreichen Mächte geformt werden, sind ebenso kohärent wie überzeugend, sie werden von der großen Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert und spielen eine wesentliche Rolle beim Neustart in ein normales Leben und beim Wiederaufbau nach der Katastrophe. Ungeachtet der politisch-ideologischen Grenzen, die der Kalte Krieg dann noch verstärken wird, betonen diese ebenso den Sieg über Deutschland wie über den Nationalsozialismus (in den westlichen Ländern) beziehungsweise den Faschismus (in den osteuropäischen Ländern) und erheben meistens den 8. oder 9. Mai zum Nationalfeiertag. In den einst besetzten Ländern ist die Feier der Befreiung noch wichtiger als die des Siegs und wird überall von den gleichen Bildern begleitet. Das beginnt mit dem Einzug in die Hauptstadt des Landes, das von den bewaffneten Einheiten der Résistance und regulären Truppen befreit wurde, und mit den Freudeausbrüchen des ganzen Volks, das diese empfängt. Dazu gehört die Waffenbrüderschaft zwischen den Soldaten des jeweiligen Landes und den alliierten Truppen, wie man das beispielsweise in Ungarn auf dem großen Bild sehen kann, das Sándor Ék Anfang der 1950er-Jahre im Stil des sozialistischen Realismus gemalt hat: Es zeigt einen mit einer roten Fahne geschmückten sowjetischen T-34-Panzer bei der Einfahrt in Budapest, wo ihm eine begeisterte Menge in einer Straße voller Ruinen zujubelt. Überall finden sich in Erzählungen wie in Filmen die gleichen charakteristischen Details – die entscheidende Rolle, die die Kämpfer des befreiten Landes (Soldaten wie Widerstandskämpfer) spielten, die Freude eines Volks, das 91

Étienne François

aus der Einheit aller die für die Wiedergeburt nötige Kraft schöpft, und die Befreiung in doppeltem Sinn, Befreiung von feindlicher Besatzung und Befreiung von einem Kollaborationsregime, das in politischer wie sozialer Hinsicht zu verurteilen ist. In allen Ländern, auch denen, die objektiv von außen befreit wurden, werden die Widerstandskämpfer und Partisanen als die eigentlichen Sieger des Zweiten Weltkriegs dargestellt. Sie verkörpern für die kollektive Wahrnehmung die Einheit und Entschlossenheit einer Nation, die sich selbst befreien will, die sich in der Ablehnung des Feindes einig ist und die mit dieser Auseinandersetzung ihre alten Kampftraditionen fortschreibt. In Italien wird die Resistenza deshalb als zweites Risorgimento aufgefasst, während in der Sowjetunion der Große Vaterländische Krieg gegen Nazideutschland als Fortsetzung des Vaterländischen Kriegs von 1812 gegen Napoleons Grande Armée betrachtet wird.

Helden und Opfer Ein weiteres Charakteristikum dieser großen Geschichtserzählungen ist die Verherrlichung des Kampfes gegen den Besatzer und besonders die der beiden Kategorien, in denen er sich am reinsten verkörpert: Das sind die Helden auf der einen und die Opfer auf der anderen Seite. Die Helden, diese nachzuahmenden Vorbilder, sind nicht nur charismatische Figuren des Widerstands und des Siegs wie Charles de Gaulle und Winston Churchill, Josef Stalin und Georgi Dimitroff, Franklin D. Roosevelt und Josip Broz Tito, sondern auch Widerstandskämpfer und Partisanen, die im Kampf gefallen sind, wie etwa Jean Moulin, der erste Vorsitzende des Nationalen Widerstandsrats, der von Klaus Barbie zu Tode gefoltert wurde. Die Überführung seiner Asche ins Pantheon im Dezember 1964 – in Anwesenheit von General de Gaulle und begleitet von der großen pathetischen Rede André Malraux’ – stellt den Höhepunkt der Erinnerung an die Résistance in Frankreich dar. Ähnliches gilt für die junge litauische Partisanin Marytė Melnikaitė, die im Juli 1943 von den Deutschen durch Erschießen hingerichtet wurde und im Jahr darauf zur „Heldin der Sowjetunion“ ernannt wurde. Seien es nun Individuen oder ­Kollektivhelden wie die niederländischen Dockarbeiter, die im Februar 1941 gegen die Verhaftung von Juden protestierten, oder wie die Kämpfer des Warschauer-Ghetto-Aufstands 1943, an die seit 1948 Nathan 92

Widerstandskämpfer und Kollaborateure – Begriffe als Erinnerungsorte

Rappaports Denkmal erinnert – in all diesen Fällen werden die Entschlossenheit und die Opferbereitschaft, der Wagemut und die Ausdauer, die Würde und der Sinn der Handelnden für Solidarität betont. Dem stehen die Opfer gegenüber, Millionen von Zivilisten, die ihr Leben in Massakern und Bombardierungen, bei Massenhinrichtungen und Repressionsmaßnahmen verloren haben. Die Betonung ihrer Unschuld geht einher mit der Kritik an der Brutalität und Grausamkeit eines Kriegs, den ein NS-Deutschland geführt hat, das Kriegsverbrechen und Verbrechen an der Menschheit begangen hat. Aus diesem Grund werden die zivilen Opfer oft als Märtyrer dargestellt und die Stätten ihrer Leidensgeschichte werden sakralisiert und im Zustand belassen, in denen die NS-Barbarei sie hinterlassen hat. Das gilt etwa für das Dorf Pirčiupiai (Litauen), das am 3. Juni 1944 von der Wehrmacht in Brand gesetzt und dessen Einwohner allesamt abgeschlachtet wurden; 1960 wurde es in eine Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus umgewandelt, die von der Statue einer weinenden Mutter beherrscht wird. Es gilt auch für die böhmische Kleinstadt Lidice, die nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich im Mai 1942 das gleiche Schicksal erlitt und unmittelbar nach dem Krieg zu einer Gedenkstätte für den tschechischen Widerstand und gegen die NS-Barbarei umgewandelt wurde. Es gilt schließlich auch für das Dorf Oradour-sur-Glane, das im Juni 1944 von der SS-Division „Das Reich“ in Brand gesetzt wurde und dessen Einwohner massakriert wurden, sowie für das italienische Dorf Marzobotto bei Bologna, dem die SS-Division „Reichsführer-SS“ im September 1944 das gleiche tragische Schicksal zufügte. In den besetzten Ländern verbinden die aus politischen Gründen Deportierten die beiden Dimensionen des Helden und des Opfers miteinander. Sie nehmen deshalb innerhalb der Hierarchie der Opfer, die sich bei Kriegsende herausbildet, den ersten Platz ein. Die Gefängnisse und Konzentrationslager, in denen sie eingesperrt waren und gefoltert und hingerichtet wurden, entwickeln sich zu Kristallisationspunkten der kollektiven Erinnerung und des nationalen Gedenkens. Das in dieser Hinsicht beeindruckendste Beispiel ist Buchenwald, das Lager, das zur Gedenkstätte für den ungeheuer verlust-, aber auch siegreichen internationalen Kampf aller Antifaschisten unter kommunistischer Führung wurde. Die von Fritz Cremers Skulptur beherrschte Gedenkstätte wurde 1958 eingeweiht. Das Monument stellt den Schwur der gerade befreiten 93

Étienne François

Deportierten dar, für die Errichtung einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit einzutreten.

Totgeschwiegen Die erwähnten großen Geschichtserzählungen gehen über die unwiderrufliche und kompromisslose Verurteilung des NS-Regimes und seiner wichtigsten Führer hinaus. Deren klarster Ausdruck ist der Nürnberger Prozess. Es geht aber parallel dazu um eine nicht minder kompromisslose Verurteilung der Kollaborateure, die freilich oft als kleine Minderheit dargestellt werden, gerade so, als ob sie ein Fremdkörper in einem Volk gewesen wären, das seinerseits in seiner Ablehnung der deutschen Besatzung sowie in der Unterstützung der Widerstandskämpfer und Partisanen einig zusammenstand. In den von NS-Deutschland besetzten Ländern, aber auch in denen, die vorübergehend seine Verbündeten oder Helfer waren (Italien, Kroatien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Vichy-Frankreich, Norwegen und Finnland), bietet dieses heldenhafte, schwarz-weiß vereinfachte Bild des Kriegs zahlreiche Vorteile: Es ist hilfreich für die Wiederherstellung der durch den Krieg infrage gestellten nationalen Einheit, es verleiht den oft unermesslichen Leiden der betroffenen Länder einen Sinn und es liefert eine Grundlage für den Wiederaufbau, gibt diesen (insbesondere in Mittel- und Osteuropa) oft in ihren Grundfesten erschütterten Ländern eine Identität wieder und eröffnet ihnen positive Aussichten. Es gestattet ihnen auch, dunkle Aspekte der Kriegs- und Besatzungsjahre unter den Teppich zu kehren, und es erleichtert auf dem Weg der Amnestierung die stillschweigende Reintegration der meisten Kompromittierten und Verurteilten. Diese betrifft in Italien bereits im Juni 1946 die Spitzenbeamten des faschistischen Regimes, während man in Frankreich auf die Amnestien vom August 1947, Januar 1951 und vor allem August 1953 warten muss. So ist es nur allzu verständlich, dass dieses Narrativ von den unmittelbaren Erben des „Dritten Reichs“ übernommen wurde. So stellt sich Österreich gegenüber dem Ausland als unschuldiges Kriegsopfer dar, nämlich als Land, das von NS-Deutschland im März 1938 unter Anwendung von Gewalt besetzt wurde. In der DDR wird der Antifaschismus zum Gründungsmythos des neuen Staates und seiner gesellschaftlichen Ordnung auserkoren. Die Verherrlichung des kommunistischen Widerstands, das 94

Widerstandskämpfer und Kollaborateure – Begriffe als Erinnerungsorte

Gedenken an die Opfer des Faschismus und die Befreiung des Landes durch die Rote Armee sowie die Errichtung einer Vielzahl von Monumenten zu Ehren der Kämpfer der ruhmreichen Sowjetunion sowie von Gedenkstätten an zentralen Orten des NS-Terrors machen in ihrer Summe aus den Einwohnern der DDR ein Volk von Widerstandskämpfern, Opfern des Faschismus und Unterstützern der Sowjetunion. In der Bundesrepublik schließlich wird die zumindest in der Theorie bedingungslose Ver­ urteilung der NS-Diktatur von Rechtfertigungsstrategien begleitet, die insofern durchaus wirksam sind, als sie die Jahre 1933 bis 1945 als ­Parenthese der deutschen Geschichte erscheinen lassen. Sie räumen zwar ein, dass sich zahlreiche Deutsche von Hitler und seiner Clique haben verführen lassen, doch wurde angeblich die deutsche Gesellschaft als solche nicht angesteckt. Zudem betont man den Mut und die Entschlossenheit der Verschwörer vom 20. Juli 1944, die als echte Widerstandskämpfer dargestellt werden. Diese Meistererzählung erfasst schließlich auch die neutralen Länder. Schweden und die Schweiz verweisen auf ihren Mut und ihren Patriotismus, dank derer sie Oasen der Freiheit und des Friedens inmitten der Tyrannei und eines vom Krieg zerstörten Europas bleiben konnten, aber auch auf ihre Menschlichkeit, ihre Offenheit für Flüchtlinge und auf die Unterstützung der Opfer – so etwa im Fall der Schweiz in Form des Roten Kreuzes und im Fall Schwedens in Gestalt von Graf Folke Bernadotte und Raoul Wallenberg. Franco-Spanien bleibt seinerseits sehr diskret, was die Sympathien des Caudillo für Hitler und die Entsendung von spanischen Freiwilligen an die Ostfront angeht, lieber spricht man von seiner strikten Neutralität, stellt diese als Form des Widerstands dar und verweist auf die – zum Teil offiziellen – Initiativen zur Aufnahme vieler Juden, die vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus flohen.

Das Ende des Konsenses In den westlichen Ländern stellte diese große Erzählung die verherrlichten Widerstandskämpfer und die verdammten Kollaborateure einander unmittelbar gegenüber und gab zu verstehen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung sich zwar nicht unmittelbar am Kampf gegen den feindlichen Besatzer oder die Tyrannei beteiligte, aber durchaus solidarisch mit denen war, die sich für die richtige Sache schlugen. Diese Darstel95

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lungsweise wurde allerdings ab den 1960er-Jahren zunehmend infrage gestellt. Diese Meistererzählung war in der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr hilfreich. Sie half dabei, einen politisch-gesellschaftlichen Konsens zu erzeugen und dabei über die Zweideutigkeiten und Widersprüche der Kriegsjahre hinwegzusehen. Man konnte so tun, als ließe sich eine allzu belastende Vergangenheit ad acta legen. Im Lauf der Zeit verlor diese Strategie jedoch an Glaubwürdigkeit, sie wurde zunehmend zu einem bloßen Ritual und von anderen Entwicklungen infrage gestellt. Die großen Prozesse, die die westdeutsche Justiz zwischen 1959 und 1968 gegen die Einsatzgruppen1 und schließlich gegen die Leitung und Wachmannschaften des Konzentrationslagers Auschwitz anstrengte, sowie der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Israel2 sorgten dafür, dass die öffentliche Meinung sich des Umfangs und des systematischen Charakters der Verfolgungen bewusst wurde, denen die europäischen Juden im Rahmen der „Endlösung“ zum Opfer fielen. Dieser Bewusstwerdungsprozess wurde zudem durch eine Änderung im Verhalten der Überlebenden und der Nachfahren von Opfern der Schoah begünstigt. Deren Hauptsorge in der unmittelbaren Nachkriegszeit war es, dem Ausschluss, den sie erfahren hatten, zu entgehen und ein neues Leben aufzubauen. Erst später entwickelten sie – nicht nur in Europa, sondern auch in Israel und den Vereinigten Staaten – das Gefühl einer kollektiven Identität, in deren Mittelpunkt die Erinnerung an den Völkermord stand. Diese neue Identität wurde verstärkt durch die Solidarität mit Israel und die Kriege von 1967 und 1973, die als Neuauflage der Verfolgungen durch den Nationalsozialismus wahrgenommen wurden. Sie hatte auch das Verlangen zur Folge, dass die europäischen Gesellschaften insgesamt die zentrale Bedeutung der bislang zu wenig thematisierten Judenverfolgung und der „Endlösung“ für die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs wie für die Erinnerung an diese endlich anerkennen sollten. Diese Bewusstwerdung zeigte sich bereits anlässlich des weltweiten Echos der Veröffentlichung des Tagebuchs von Anne Frank, dessen erste Auflage 1947 erschien, oder 1 Die Einsatzgruppen hatten ab 1941 den Auftrag, die jüdische Bevölkerung in den von der Wehrmacht eroberten Gebieten zu verfolgen und zu massakrieren. 2 Der Eichmann-Prozess wurde von Fernsehstationen aus aller Welt aufgezeichnet.

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auch in Zusammenhang mit den Debatten, die Rolf Hochhuths Stück Der Stellvertreter (1963) provozierte. Verstärkt wurde sie durch den Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Aktivisten des WarschauerGhetto-Aufstands (1970), durch die amerikanische TV-Serie Holocaust (1978) sowie durch den Film Shoah (1985) von Claude Lanzmann und generell durch die wachsende Rolle, die das Fernsehen sowie Zeitzeugen im Verhältnis der Menschen zur Zeitgeschichte spielen. Diese neue Betrachtungsweise des Kriegs wurde auch begünstigt durch das Fortschreiten der Geschichtsschreibung über die konkrete Realität von Krieg und Besatzung in den europäischen Gesellschaften. So kam es zur Infragestellung dessen, was Henry Rousso in Bezug auf Frankreich „résistencialisme“ genannt hat, sprich die von Gaullisten wie Kommunisten verbreitete These, die Franzosen hätten in ihrer großen Mehrheit ab 1940 Widerstand gegen die Besatzungsmacht und das Vichy-Regime geleistet.

Die Entwicklung der Schoah zum transnationalen Erinnerungsort Infolge dieses Perspektivwechsels rückten bislang totgeschwiegene oder verdrängte schmerzliche und traumatisierende Ereignisse in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte und ein kompromisslos kritischer Blick richtete sich auf den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und den Völkermord an den Juden Europas in dessen Einzigartigkeit und Universalität. Dies alles vollzog sich in einem Kontext der Internationalisierung der Debatten über die Vergangenheit und ihre Beurteilung im Licht der universellen Geltung der Menschenrechte und der Werte Toleranz und Demokratie, aber auch der Nichtverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Notwendigkeit der Umsetzung dieser neuen Rechtskategorie in je nationales Recht. In diesem Zusammenhang konnte die Erinnerung an die Schoah nicht verblassen und auch bei wachsender zeitlicher Entfernung nicht in historische Distanz rücken. Ihre Präsenz wurde vielmehr immer stärker, sie gewann eine erstrangige ethische, politische und existenzielle Bedeutung. Auschwitz, das 1947 zu einem Museum und 1967 zur internationalen Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus geworden war, wurde nunmehr mit Yad Vashem zum Erinnerungsort für die Schoah schlechthin, zum Identifikationszeichen für das 20. Jahrhun97

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dert in Europa und den „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner), der dessen Hauptkennzeichen wurde. „Auschwitz kann niemand zurücknehmen“, sagt Adám im Roman Liquidation von Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. „Niemand, und aufgrund keiner Ermächtigung. Weil Au­schwitz nicht zurücknehmbar ist.“3 Das erklärt auch die Leidenschaftlichkeit der in Frankreich geführten kontroversen Debatten über die antisemitische Politik des Vichy-Re­ gimes, die Neubewertung der (vermeintlichen oder realen) Komplizenschaft zwischen weiten Teilen der französischen Gesellschaft, den VichyBehörden und den deutschen Besatzern, die Grenzen des Widerstands, aber auch die Mängel der Épuration, der „Säuberung“ bei Kriegsende, und die Notwendigkeit, einige allzu schnell geschlossene Akten wieder zu öffnen (die Prozesse gegen Klaus Barbie, Paul Touvier und Maurice Papon). Ähnlich kontroverse Debatten gab es in Italien über die dortige Resistenza, den Faschismus und den Platz, den er tatsächlich in der italienischen Geschichte einnimmt; im Fall Österreichs ist die insbesondere in Zusammenhang mit der Waldheim-Affäre (1986) neu diskutierte These zu erwähnen, der zufolge das Land das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen sein soll, und in Westdeutschland der sogenannte Historikerstreit, der in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung um die politische Kultur der Bundesrepublik war, eine Debatte um das Fortbestehen der Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit den Jahren des Nationalsozialismus und der Etablierung der Erinnerung an die Jahre 1933–1945, speziell an die Verfolgung und Ausrottung der Juden Europas, als negativer und für ein demokratisches, liberales und westliches Deutschland unabdingbarer „Gründungsmythos“. Diese neue Betrachtungsweise der Vergangenheit antwortete auf eindringliche Forderungen der Zivilgesellschaft und entsprach einer transnationalen Dynamik, die maßgeblich von den USA und Israel ausging. Sie hatte insbesondere drei Konsequenzen: Sie maß zum einen der Erinnerung einen hohen Stellenwert bei und begründete eine „Pflicht zur Erinnerung“ sowie die Verdammung des Vergessens; sie führte zum Zweiten zu einer Politik der Reue für die Verantwortung, die viele europäische Staaten bei der Verfolgung der Juden auf sich geladen hatten (man denke nur an die Rede, mit der Staatspräsident Jacques Chirac 1995 im Gegen3 Imre Kertész, Liquidation, Frankfurt a. M. 2003, S. 134.

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satz zu seinen Vorgängern die Verantwortung Frankreichs für „das nicht Wiedergutzumachende“ anerkannte); in diesen Zusammenhang gehören auch zahlreiche neue Gedenkinitiativen wie zum Beispiel das Eintreten Deutschlands ab 1996 und der Vereinten Nationen ab 2005 für den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Lagers Auschwitz durch die Rote Armee, als Holocaust-Gedenktag nach dem Vorbild des Jom haScho’a in Israel (1951) oder aber die Zeremonie im Pantheon (2007) zum Gedenken an die 2700 Gerechten in Frankreich. Die dritte Konsequenz ist die Relativierung der Wörter „Résistant“ und „Kollaborateur“, an deren Stelle ein neues semantisches Paar trat: „Opfer und Täter“. Da man den Akzent nunmehr hauptsächlich auf das Schicksal der – insbesondere jüdischen – Opfer legte, ist der eigentliche résistant nunmehr nicht derjenige, der sich aus patriotischen Gründen dem Besatzer widersetzte, sondern derjenige, der sein Leben im ethisch und politisch motivierten Kampf gegen den Nationalsozialismus riskierte und sich für den Schutz und die Rettung der verfolgten Juden einsetzte – während im Gegenzug als Kollaborateur eingeordnet wird, wer sich zum Komplizen und Unterstützer der NS-Aus­ rottungspolitik hat machen lassen.

Der Zusammenprall der Erinnerungen In den Ländern Mittel- und Osteuropas nahm die Erinnerung einen anderen Verlauf. Ab den 1980er-Jahren wuchsen die Zweifel an der großen Erzählung, die den Sieg von 1945 als Ergebnis eines gemeinsamen antifaschistischen Kampfes von Sowjetunion und Roter Armee, Kommunisten und Partisanen darstellte, der den Weg in eine Zukunft von Sozialismus und Fortschritt frei machte. So erweist sich etwa in Polen die Erinnerung an den Massenmord von Katyń an Offizieren der polnischen Armee durch den NKWD im Jahr 1940 sowie an den heroischen Kampf der allein auf sich gestellten Untergrundarmee bereits vor 1989 als stärker als der offizielle Diskurs von der Befreiung unter Führung von Sowjetunion und Kommunistischer Partei. Ähnliches gilt für die Tschechoslowakei mit der Dissidentenbewegung der Charta 77 oder auch für Jugoslawien, wo die Meistererzählung vom siegreichen Widerstand unter Führung Titos nach dessen Tod 1980 mit der schmerzlichen Erinnerung der Nationalitäten zusammenprallt, etwa der Kroaten, die sich von den Serben unterdrückt fühlen. Das Ende des Warschauer Pakts 1991, die wiedergefundene 99

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Unabhängigkeit der Länder des Ostblocks, die deutsche Wiedervereinigung, die Implosion der Sowjetunion und der beginnende Bürgerkrieg in Jugoslawien versetzen diesem Narrativ den Gnadenstoß. An allen Ecken und Enden zeigen sich verbotene oder verborgene Erinnerungen und werden „wiederentdeckt“, ein deutlich ausgedrücktes Verlangen nach Wiederherstellung der Wahrheit über die Vergangenheit bricht sich Bahn. So äußert der lettische Politiker Mavriks Vulfsons 1990: „Der Kampf um die Unabhängigkeit ist ein Kampf für die historische Wahrheit.“ Diese Wahrheit ist aber keineswegs evident: Zahlreiche Dissidenten machen sich zu Fürsprechern einer differenzierten und ausgewogenen Sicht auf die Vergangenheit ihres eigenen Landes, die eine Sakralisierung vermeidet und den Mut aufbringt, sich den negativen Aspekten zu stellen, wie etwa Václav Havel, der einräumte, dass die Vertreibung der Sudentendeutschen bei Kriegsende „moralisch verwerflich“ gewesen sei. Verweisen ließe sich auch auf einige führende Mitglieder der Gewerkschaft Solidarność, die für eine kritische Auseinandersetzung mit dem polnischen Antisemitismus, der auch die Zeit des Zweiten Weltkriegs umfassen sollte, eintraten. Die am häufigsten zu hörenden und die lautesten Stimmen treten allerdings für eine positive Neubetrachtung und eine Aufwertung der Geschichte ihrer Nation und für eine radikale Verurteilung der kommunistischen und sowjetischen Tyrannei ein. Sie wollen ihr Land als unschuldige, von außen unterdrückte Nation dargestellt sehen und schrecken nicht vor der Behauptung zurück, die kommunistische Tyrannei sei aufgrund ihrer jahrzehntelangen Dauer mindestens ebenso schlimm wie die deutsche Besatzung gewesen – wenn nicht schlimmer.

Die „Renationalisierung“ der Vergangenheit Diese nationalistische Neuinterpretation der Vergangenheit wird im Jugoslawien der frühen 1990er-Jahre auf die Spitze getrieben. Die Führer der Krieg führenden Parteien instrumentalisieren den ethnischen Bürgerkrieg und machen aus ihm einen regelrechten Krieg der Erinnerungen, der die bis 1980 gebändigten Nationalismen entfesselt. Auf serbischer Seite rehabilitiert man die seinerzeit von Tito verurteilten Tschetniks, auf kroatischer den Nationalismus bis hin zu den Ustascha-Kämpfern und bereitet so den Boden für Massaker von Ausmaßen, wie man sie im Europa der Nachkriegszeit nicht mehr kannte. Dies beeinträchtigt auch 100

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die Chancen zu einem echten Wiederaufbau nach 1995. In den Ländern, die im Zweiten Weltkrieg zumindest vorübergehend mit den Deutschen verbündet waren, beobachtet man eine (zumindest partielle) Rehabilitierung der ehemaligen Führer wie etwa Admiral Miklós Horthy, König Michael von Rumänien oder Zar Boris III. in Bulgarien, die als Verteidiger der nationalen Identität dargestellt werden. In den Ländern, die von der Sowjetunion annektiert worden waren, verschwinden nicht nur die Denk- und Mahnmäler zu Ehren der Sowjetunion, der Roten Armee und der Partisanen, sondern man rehabilitiert und verherrlicht sogar die bewaffneten Einheiten, die (mitunter mit Unterstützung durch NSDeutschland) gegen die Sowjets gekämpft hatten, wie etwa die Ukrainische Aufständische Armee (UPA) oder ähnliche bewaffnete antisowjetische Gruppierungen in Litauen, Estland, Rumänien und Galizien, stellt sie als echte Widerstandskämpfer dar, während man die Kommunisten und alle, die bereit gewesen waren, mit ihnen zusammenzuarbeiten, als Kollaborateure hinstellt. Eine indirekte Folge dieser „Renationalisierung“ der Vergangenheit war es, dass so die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Schoah in den Hintergrund trat. Dies erklärt die heftigen Auseinandersetzungen um die Erinnerung, die in den meisten dieser Länder geführt wurden und werden. Diese hat weltweit die Form einer Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern einer Nationalgeschichte, die das eigene Land in der Opferrolle sieht, und denjenigen einer differenzierteren, offeneren, aber auch kritischeren Betrachtungsweise, die der Schoah den ihr gebührenden Platz einräumt und die den Nationalsozialismus und den Kommunismus nicht als austauschbare Elemente behandelt. Zwei konkrete Beispiele mögen veranschaulichen, welches Ausmaß diese Konflikte um die Erinnerung annehmen können. Das erste ist Ungarn. Dort wurde die 2004 auf internationales Verlangen eingerichtete Gedenkstätte für den Holocaust außerhalb der Stadtmitte von Budapest errichtet, während das zwei Jahre zuvor eingeweihte „Haus des Terrors“ seinen Platz im Herzen der Stadt gefunden hatte. Dieses ist der Erinnerung an die Opfer von Nationalsozialismus und Kommunismus gewidmet und enthält lediglich zweieinhalb Räume für die Darstellung Ungarns vor 1944, während die Zeit bis 1989 sich in 30 Räumen ausbreiten kann. Das zweite Beispiel ist Polen, dessen Gesellschaft gespalten ist in Befürworter der Rehabilitierung und Verherrlichung einer National­ 101

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geschichte, in der Polen als heldenhaftes Opfer äußerer Aggression erscheint, auf der einen Seite und auf der anderen die Vertreter einer offenen Geschichtsschreibung, die Polens Vergangenheit in den europäischen Kontext einbettet und bei Bedarf auch selbstkritisch darstellt. Das große Museum für den Warschauer Aufstand von 1944, das 2004 eingeweiht wurde, entspricht der erstgenannten Art Geschichtsbetrachtung. In interaktiver und die Gefühle ansprechender Weise zeigt es den Heldenmut der Aufständischen und deren Vernichtung nicht nur aufgrund der verheerenden Brutalität der Wehrmacht, sondern auch wegen des Ausbleibens der Unterstützung durch die Alliierten, allen voran die Rote Armee, die auf der anderen Seite der Weichsel stand. Für die andere Art der Geschichtsbetrachtung stehen dagegen die Museen und Gedenkstätten, die am Ort der ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz (2,1 Millionen Besucher im Jahr 2017), Majdanek, Treblinka, Chełmno und Sobibór entstanden sind, sowie das auf dem Boden des ehemaligen Ghettos errichtete und 2013 eingeweihte Jüdische Museum Polin. Hier wird die Erinnerung an die drei Millionen polnischer Juden bewahrt, die der Schoah zum Opfer fielen, sowie an die aus dem Ausland nach Polen deportierten und dort in den Vernichtungslagern hingerichteten Juden, ohne dass dabei der Antisemitismus eines Teils der polnischen Bevöl­ kerung beschönigt würde.

„Verstehen, ohne anzuklagen oder zu entschuldigen“ Bei all diesen Interpretationen und Neuinterpretationen von Résistance und Kollaboration sind die Historiker mit ihrer Expertise stets aufgerufen, die Wahrheit über die Vergangenheit auszusprechen, die einen zu verurteilen und die Verdienste der anderen anzuerkennen und auszusprechen, was „gerechtes, angemessenes Erinnern“ ist. Dies ist eine schwierige Herausforderung, denn Paul Ricœur verweist zu Recht darauf, dass es „Sache des Richters ist, zu verurteilen und zu strafen, Sache des Bürgers, gegen das Vergessen und für die Ausgewogenheit der Erinnerung einzutreten; dem Historiker ist es überlassen zu verstehen, ohne zu entschuldigen und zu verteidigen“4. Die Geschichte als akademische 4 Paul Ricœur, L’Écriture de l’histoire et la représentation du passé, in: Annales HSS 55 (2000), S. 744.

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­ isziplin hat nicht auf alles eine Antwort, ganz im Gegenteil. Trotzdem D ist es zugleich unmöglich, sich den beiden bohrenden sowohl ethischen als auch politischen Fragen zu entziehen, die Louis Malle 1974 in seinem Film Lacombe Lucien aufgeworfen hat. Ihnen muss sich jede neue Generation, aber auch jeder Einzelne irgendwann einmal stellen und es gibt keine vorgefertigte Antwort auf sie: Wie hätte ich mich verhalten, wenn ich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gelebt hätte? Welche Entscheidungen hätte ich getroffen? Oder, um es mit dem Titel eines erhellenden Essays von Pierre Bayard zu fassen: „Wäre ich Résistant oder Täter gewesen?“ Und was muss ich heute tun, um kein Kollaborateur zu sein? Wogegen und gegen wen muss ich Widerstand leisten?

Literatur Arnd BAUERKÄMPER, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn 2012. Pierre BAYARD, Aurais-je été résistant ou bourreau? Paris 2013. Alain BROSSAT, Sonia COMBE, Jean-Yves POTEL und Jean-Charles SZUREK (Hg.), À l’Est, la mémoire retrouvée, Paris 1990. Monika FLACKE (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 Arena der Erinnerungen, 2 Bde., Mainz 2004. Étienne FRANÇOIS, Kornelia KOŃCZAL, Robert TRABA und Stefan TROEBST (Hg.), ­Geschichtspolitik in Europa seit 1989, Göttingen 2013. Robert GILDEA, Fighters in the Shadows. A New History of the French Resistance, Harvard 2015. Tony JUDT, Postwar. A History of Europe Since 1945, London 2005. Pieter LAGROU, The Legacy of Nazi Occupation. Patriotic Memory and National Reco­ very in Western Europe, London 1999. Ekaterina MAKHOTINA, Ekaterina KEDING, Włodzimierz BORODZIEJ, Étienne FRANÇOIS und Martin SCHULZE WESSEL (Hg.), Krieg im Museum. Präsentationen des Zweiten Weltkriegs in Museen und Gedenkstätten des östlichen Europa, Göttingen 2015. Henry ROUSSO, Le Syndrome de Vichy. De 1944 à nos jours, Paris, Le Seuil, 1987. Henry ROUSSO, Face au passé. Essais sur la mémoire contemporaine, Paris 2016. Olivier WIEVIORKA, La Mémoire désunie. Le souvenir politique des années sombres, de la Libération à nos jours, Paris 2010. Olivier WIEVIORKA, Une histoire de la Résistance en Europe occidentale, Paris 2017.

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Der Verrat von Jalta Jalta, eine angenehme Kurstadt auf der Krim, war der Schauplatz eines entscheidenden Gipfeltreffens zwischen Josef Stalin, Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt im Februar 1945. Die Entscheidungen, die dort gefällt wurden, wurden von den US-Amerikanern im Kalten Krieg als Aufteilung der Welt zugunsten der Sowjets anges­ehen, aber auch die Polen sahen Jalta als Verrat.

Februar 1945: Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin vor dem Palast in Livadia.

Der Verrat von Jalta

Was wäre die europäische Kultur ohne den jungen britischen Gentleman in guten Schuhen, Cordhosen, offenem Hemd, teurem Tweed-Jackett, interessiert an Ruritanien1? Ein solcher war Anfang der 1980er-Jahre der Doktorand Timothy Garton Ash, der das theoretisch staatssozialistische, soeben von der „Solidarność“ unterwanderte Polen bereiste. Erstaunt notierte er in Warschau ein im sogenannten Westen unbekanntes Phänomen: „‚Jauta‘ seufzten meine neuen Bekannten, ‚Jauta‘ und eine melancholische Stille senkte sich über das Gespräch. Bedeutete ‚Jauta‘ Schicksal, fragte ich mich oder war es ein Ausdruck wie: ‚So ist das Leben‘?“� Mit „Jauta“ war in Wirklichkeit Jalta, ein schöner Kurort auf der Halbinsel Krim, gemeint. Hier trafen sich die wichtigsten Männer der 40erJahre des 20. Jahrhunderts. Die Konferenz in dem aus heutiger Sicht ziemlich bescheidenen Zarenschlösschen im Vorort Livadia vom 4. bis 11. Februar 1945 war – nach Teheran 1943 – das zweite Gipfeltreffen der Großen Drei (des Präsidenten der USA Franklin D. Roosevelt, des Ministerpräsidenten Großbritanniens Winston Churchill und des Ministerpräsidenten, Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Diktators Josef Stalin). Wie in Teheran war Frankreich nicht eingeladen worden. Die Sowjetunion verpflichtete sich, nach Abschluss des Krieges in Europa Japan anzugreifen, und erhielt dafür das Versprechen, einige Gebiete im Fernen Osten annektieren zu dürfen. Bestätigt wurden die Grundsätze der Behandlung Deutschlands, unter anderem die bedingungslose Kapitulation, die Aufteilung in Besatzungszonen beziehungsweise -sektoren (Berlin) und die Entnazifizierung. Der Entwurf der Charta der Vereinten Nation mit dem Vetorecht der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates wurde verabschiedet, ebenso eine Erklärung über das befreite Europa. Bezüglich Polens einigte man sich auf drei Grundsätze: Die Sowjetunion würde einen Großteil der 1939 annektierten Gebiete behalten; für den Verlust von fast der Hälfte seines Vorkriegsterritoriums würde Polen mit einem erheblichen Gebietszuwachs im Norden und Westen, das heißt auf Kosten Deutschlands, entschädigt werden; ein 1 Ruritanien ist ein fiktives Land, erfunden vom britischen Schriftsteller Anthony Hope, der mit diesem Namen ein Europa der Peripherie – von London aus betrachtet – bezeichnet (Anm. d. Red.).

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neues Kabinett (Provisorische Regierung der Nationalen Einheit), bestehend aus Kommunisten, demokratischen Politikern aus dem westlichen Exil und aus Polen, sollte das Land bis zu den Wahlen verwalten. Die Zusammensetzung der neuen Regierung sollte unter Einflussnahme der westlichen Alliierten und der Sowjets ausgehandelt werden.

Der Ausdruck einer bipolaren Welt Die Rezeptionsgeschichte begann bereits während des Gipfels auf der Krim. Bekanntlich versuchte Joseph Goebbels nach Stalingrad, den Krieg im Osten zu einem Abwehrkampf des Abendlandes gegen den Bolschewismus umzuformen. Zwei Jahre später kehrte dieses ursprünglich eher für die Mobilisierung des besetzten Auslands bestimmte Konzept als ­Botschaft an die „Volksgemeinschaft“ der Deutschen „heim ins Reich“. Der Völkische Beobachter wie das etwas subtiler argumentierende Reich ­versuchten nun, ihre Landsleute zum Durchhalten im Endkampf zu ermuntern, indem sie den Gegnern Verbrechensabsichten unterstellten, die eine Kopie ihrer eigenen Planungen und Taten darstellten: In Jalta sei beschlossen worden, sechs Millionen deutsche „Sklaven nach Sibirien“ zu schicken. Gewarnt wurde – wieder einmal – vor einer Wiederholung des Novembers 1918, als „das deutsche Volk“ sich durch ein scheinbar günstiges Angebot der Amerikaner („Wilson-Betrug“) zur Kapitulation bewegen ließ: „Präsident Roosevelt vertritt die Auffassung, dass der gleiche Versuch, der es im November 1918 erreichte, das deutsche Volk von seiner Führung zu trennen und damit seinen Gegnern auszuliefern, auch heute ermöglichen wird, den Sieg der Alliierten, der auf militärischem Weg allein nicht erreichbar ist, durch Täuschung billig zu erkaufen.“ Die NS-Propaganda baute das Leitmotiv eines vom „Dritten Reich“ vor Stalin verteidigten Europa aus und erfand dabei den „Eisernen Vorhang“ gut ein Jahr vor Churchills Rede in Fulton: „An den Dardanellen ging der Eiserne Vorhang nieder, hinter dem Roosevelt und Churchill während der Dreierkonferenz der eigenen Öffentlichkeit entschwunden waren“ (so Das Reich eine Woche nach der Konferenz). Die Deutschen sollten glauben, sie hätten – wenn sie stramm genug bleiben – noch immer die Chance, das Unheil der Bolschewisierung des Abendlandes abzuwenden. „‚Jalta‘“ – urteilt zusammenfassend Jost Dülffer – „wurde so in der Endphase des Deutschen Reiches als Ausdruck einer bipolaren 106

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Welt dargestellt. Hier die für Freiheitsrechte eintretenden Nationalsozialisten, dort die Unterdrücker der Gegnerkoalition.“� Nun mögen diese Sätze schlicht verblüffen (nur die Sowjetunion als „Verteidiger der Demokratie“ konnte dieser Sprachregelung das Wasser reichen). Den Gegensatz zwischen einem freien Europa und der bolschewistischen Gefahr finden wir hingegen wortgetreu im polnischen Exil in London zu genau derselben Zeit wieder. Aus der Sicht der Exilregierung fand nämlich in Jalta genau jene Teilung Europas statt, vor der die Nazis als Bedrohung warnten. Nur dass die Polen sich Anfang Februar 1945 ziemlich komplett auf der falschen, das heißt östlichen Seite des Eisernen Vorhangs wiederfanden, der nicht „an den Dardanellen“, sondern an ihrer – noch immer unbekannten – künftigen Westgrenze niederzugehen schien. Die Exilregierung kannte ab 1939 kein anderes Ziel als die restitutio ad integrum, das heißt die Wiederherstellung Polens innerhalb der Grenzen vom 31. August 1939; einen Gebietszuwachs im Norden und Westen, der die angeblichen 1000 Jahre deutschen „Dranges nach Osten“ rückgängig und das neue Polen vor einer Neuauflage des 1. Septembers 1939 sicher machen sollte, strebte sie ebenfalls an. Jetzt stellte sich heraus, dass die Nachkriegsrepublik Richtung Westen verschoben werden, das heißt etwa die Hälfte ihres Vorkriegsterritoriums im Osten an die Sowjetunion verlieren und erst dafür im Norden und Westen mit bislang deutschen Provinzen entschädigt werden sollte. Mehr noch, in Jalta beschlossen die Großen Drei die Bildung einer neuen polnischen Regierung, deren Kern die ab Sommer 1944 unter dem Schutz der Roten Armee installierte kommunistische Verwaltung bilden würde. Dies war zu viel, das Exil protestierte lautstark gegen die entstehende bipolare Welt: Die Entscheidungen der Großen Drei „übertragen fast die Hälfte Polens an Russland und schaffen eine Lage, in welcher der Rest Polens zwangsläufig zu einem Vasallenstaat Russlands wird“; von den „nebulos“ angedeuteten Gewinnen im Westen und Norden sollte man sich nicht allzu viel versprechen. Der Ministerpräsident im Exil, Tomasz Arciszewski, bezeichnete Jalta als „neue Teilung Polens“, das nun zu einem sowjetischen Protektorat werde, die offizielle Note seines Kabinetts erklärte die Beschlüsse der Alliierten für rechtlich unverbindlich und legte gegen sie einen „entschiedenen Protest“ ein. Mit dieser Haltung schloss sich die Exilregierung aus der internationalen Politik selbst aus. Die amtliche Nichtanerkennung von Jalta wurde 107

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vor allem dadurch geschwächt, dass ein Teil der polnischen Politiker im Exil und vor allem im Untergrund ursprünglich, das heißt 1945, bereit war, den Versuch einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten innerhalb der neuen Landesgrenzen aufzunehmen. Nachdem dieses Experiment 1947 völlig gescheitert und Polen weitgehend stalinisiert worden war, mochte man in dem „Nein“ des Londoner Exils immerhin eine weise Grundsatzentscheidung gesehen haben.

Wie gewinnt man den Krieg und verliert gleichzeitig den Frieden? Sie wurde in der kommenden Dekade nochmals gestärkt durch die inneramerikanische Auseinandersetzung um den „Verrat“ in Jalta: In den USA wurden die Beratungen auf der Krim vorübergehend zu einem Trauma und die tatsächlichen oder vermeintlichen Spione im State Department wurden zur Erklärung, „How we won the war and lost the peace“, wie es ein einflussreicher amerikanischer Diplomat 1948 formulierte.2 Nach dem Wahlsieg von Dwight D. Eisenhower 1952 forderte der republikanische Senior Majority Leader William Knowland vom Secretary of State John f. Dulles die Veröffentlichung der Unterlagen der geheimen Gipfelkonferenzen der Großen Drei, um das „bungling of diplomacy“ der Vorgängeradministrationen untersuchen zu können. Daraus entwickelte sich bald das übliche Washingtoner Gerangel. Die Bürokraten im State Department äußerten gravierende Bedenken. Ein hoher Beamter bemerkte nach der Lektüre der Druckfahnen, die Deutschlandpläne von 1945 lösen heute, da die European Defence Community auf der Tagesordnung stehe, „a sense of shock“ aus und „[…] the cavalier disposal of smaller countries or the attitude toward France is also not likely to faciliate our foreign relations“. Dulles setzte sich schließlich über die Bedenken der Diplomaten hinweg, der Band durfte erscheinen. Freilich war das Problem damit keineswegs gelöst. In London hieß der Premierminister wie in Jalta Winston S. Churchill und der Außenminister war ebenfalls derselbe – Anthony Eden. Letzterer 2 Original: „When I first came to Poland I kept hearing a very strange word. ‚Yowta’, my new acquaintances sighed, ‚yowta!’, and conversation ebbed to melancholy silence. Did ‚yowta’ mean fate, I wondered, was it an expression like ‚that’s life’?“

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Der Verrat von Jalta

warnte die Amerikaner, eine Veröffentlichung der Jalta-Unterlagen „kann es für uns schwierig machen, bei zukünftigen Konferenzen so offen zu sein, wie wir es uns wünschen“. Die Amerikaner hatten mittlerweile keine Wahl, die – nicht nur republikanische – Öffentlichkeit wartete auf die Veröffentlichung, die am 16. März 1955 erfolgte. Das Ergebnis enttäuschte alle, die auf eine Sensation warteten: Die Papiere bestätigten lediglich, was man in den mittlerweile zahlreichen Memoiren nachlesen konnte. Die Reaktionen im Ausland blieben eher verhalten und zogen keine Wellen, inklusive der vorhersehbaren Antwort aus Moskau, wo die „Prawda“ gegen die vermeintliche „Fälschung im Dienst des Kalten Krieges“ wetterte. Ebenso vergessen war bald der Auftritt Churchills im House of Commons, wo der Ministerpräsident am 17. März nachdrücklich auf dem Unterschied zwischen der US-amerikanischen und britischen Dokumentation hinwies. Niemand schien sonderlich interessiert. Damit wanderte das transatlantische beziehungsweise US-amerikanische Stichwort „Jalta“ definitiv in das Politische Archiv der Gegenwart.

Der Platz Polens Ab Mitte der 1950er-Jahre lief die internationale Entwicklung Richtung Entspannung: Der Westen arrangierte sich mit der Sowjetunion. Und Jalta tatsächlich in der praktischen Politik infrage zu stellen – daran dachten Großbritannien oder die USA weder vorher noch in den Jahrzehnten danach. Das polnische Londoner Exil mit seinem „ n o n p o s s u m u s “ , mit seinem Glauben an die Rückkehr nach Wilna und Lemberg, spielte – gerade, weil Jalta hier so lebendig blieb – keine Rolle mehr in all den Krisen und Umbrüchen, an denen die Geschichte Volkspolens so reich war. Dies galt nicht für das ganze Exil. Um die Monatszeitschrift Kultura in Paris bildete sich in den 1950er-Jahren eine Alternative heraus. Während man in London der Realität die Anerkennung verweigerte, versuchten die Pariser Intellektuellen auf der Grundlage der neuen Landkarte Europas weiterzudenken. Der entscheidenden Schritte gab es zwei: erstens die Anerkennung Jaltas, das heißt der neuen polnischen Ostgrenze, zweitens die Frage, wie man den Staatssozialismus im Land aushöhlen und modifizieren könne, sodass sich mit der Zeit die Perspektive einer Entwicklung Richtung Westen, der „Rückkehr nach Europa“, ergebe. In 109

Włodzimierz Borodziej

diesem föderativen Europa, das sich in den späten 1950er-Jahren vor den Augen der Kultura zu entwickeln begann, werde es dann – auf der Grundlage der 1945 gezogenen Grenzlinien – auch genügend Raum für eine völlige Neuordnung der Beziehungen sowohl zu den östlichen Nachbarn als auch zu Deutschland geben. Jalta war also hier durchaus ein Erinnerungsort – einer, dessen böser Geist es zunächst einmal gedanklich zu überwinden galt, damit den künftigen Generationen eine Chance eröffnet wird, die Buchstaben der Beschlüsse zu erfüllen, die ja durchaus eine parlamentarische Demokratie mit freien Wahlen an der Weichsel vorhergesehen hatten. Es mag durchaus sein, dass der Pariser Sitz der Redaktion eine gewisse, bislang nie näher beleuchtete Rolle spielte: Charles de Gaulle war bekanntlich ein vehementer Gegner der Entscheidungen der Großen Drei. Im September 1967 kam er zu einem fast einwöchigen Staatsbesuch in die Volksrepublik Polen. Im einzigen Gipfelgespräch mit dem polnischen KP-Chef Władysław Gomułka entwickelte er einmal mehr seinen Grundgedanken von einer über den Realitäten des Kalten Krieges stehenden Einheit Europas und der zerstörerischen Wirkungskraft der Entscheidungen der Großen Drei in Jalta: „Wir lebten in Jalta. Wir sind uns nicht sicher, ob sich die Russen und Amerikaner jemals darauf einigen würden, das Schicksal Deutschlands zwischen ihnen zu regeln. Sicherer ist es, dies unter uns Europäern zu regeln […]. Potsdam und Jalta waren schlechte Aktionen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, eine europäische Situation zu lösen.“ Der polnische Parteichef blieb seinem Gast auch hinter verschlossenen Türen eine Antwort schuldig: Die Sowjets als außereuropäische Macht zu bezeichnen, geschweige denn ihre Entscheidungen zu kritisieren, durfte und wollte er nicht. Jalta blieb offiziell Geburtsort eines glücklichen, staatssozialistischen Polen. Inoffiziell, im privaten Bereich, lebte die Erinnerung an die Konferenz offenbar als Synonym für den Verrat des Westens wie für die Aussichtlosigkeit der eigenen geopolitischen Lage zwischen Sowjetunion, ČSSR und DDR weiter. Der britische Gentleman verstand 15 Jahre später mehr: „‚Jalta‘ (polnische Aussprache ‚Jauta‘) ist die erste Tatsache des Lebens im heutigen Polen. In Jalta beginnt die Geschichte der Solidarność. ‚Jalta‘ bedeutet für die Polen, dass, nachdem ihre Armee sich als erste Hitler zur Wehr gesetzt hatte, nachdem Großbritannien zur Verteidigung von Polens Unabhängigkeit in den Krieg 110

Der Verrat von Jalta

gezogen war und nachdem polnische Soldaten zur Verteidigung Britanniens mutig gekämpft hatten, nachdem rund sechs Millionen ihrer Landsleute (jeder fünfte Bürger der Republik Polen vor dem Krieg) im Krieg umgekommen waren – dass ihr Land nach alldem von seinen westlichen Verbündeten, Großbritannien und Amerika, der berüchtigten zeitlichen Fürsorge von ‚Uncle Joe‘ Stalin ausgeliefert wurde. Man kann argumentieren, dass Churchill und Roosevelt keine andere Wahl hatten, da die Rote Armee, seit sich die Großen Drei im Februar 1945 in Jalta auf der Krim trafen, bereits das Gebiet der ehemaligen Polnischen Republik besetzte, während Stalin im Schlusskommuniqué dieser Sitzung feierlich versprach, ‚so bald wie möglich freie und ungehinderte Wahlen auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts und der geheimen Abstimmung abzuhalten‘. Aber eine solche Befreiung war für jeden ein zweideutiger Segen. Um aber zu verstehen, warum in Polen im August 1980 die erste Arbeiterrevolution gegen einen ‚Arbeiterstaat‘ ausbrach, müssen Sie verstehen, warum die Aussicht auf eine sowjetische ‚Befreiung‘ für die große Mehrheit der Polen 1945 so besonders entsetzlich war.“3 Es ist heute so gut wie unmöglich, nachzuweisen, dass der Eindruck des jungen Engländers richtig beziehungsweise das Verhalten seiner polnischen Gesprächspartner für mehr als ein paar ältere Intellektuelle repräsentativ war. Ganz aus der Luft gegriffen kann es nicht gewesen sein, denn welche bessere Chiffre hätten politisch denkende Polen benutzen sollen, wenn sie 1980/81 über die Chancen der Solidarność nachdachten?

„A kidnapped West“ Dies ist aber nur eine Teilperspektive. Solange die Oppositionellen nach der Erwähnung von „Yowta“ in melancholisches Schweigen verfielen, konnte es der Partei nur recht sein. Zwar durfte sich die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei im Alltag nicht auf das Schicksal berufen – offiziell galt der Aufbau des Sozialismus als Privileg, nicht als Pflichtübung –, dennoch war „Jalta“ ein praktikables Drohmittel gegen jede gesellschaftliche Emanzipationsbestrebung: Das würden die Sowjets sich nicht gefallen lassen und die waren nun mal ab 1945 realiter der Hegemon. 3 Jost Dülffer, Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt, München 1998, S. 30.

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Włodzimierz Borodziej

Der Verrat des Westens, auf den man sich weder im echten noch im Kalten Krieg verlassen konnte, passte bestens in dieses Bild. Es waren dann auch Bilder – wenn wir so wollen: Konstrukte –, die Jalta wieder lebendig machten. 1984 verarbeitete der legendäre, damals im Exil lebende Barde der Solidarność-Generation Jacek Kaczmarski das Motiv des westlichen – eigentlich nicht Verrates, sondern schlichten – Desinteresses, das er der konsequenten sowjetischen Expansions- und Unterdrückungspolitik gegenüberstellte, zu einem Song unter dem Titel Jalta. Die gleichermaßen sarkastische wie plastische Verformung der Krim-Konferenz wurde zu einem Hit – allerdings nur in Polen. Im selben Jahr veröffentlichte Milan Kundera seinen Essay A kidnapped West or the Tragedy of Central Europe. Obwohl die meisten westlichen Leser mit Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn als „kidnapped West“ anfangs wenig anzufangen wussten, machte diese Konstruktion eine internationale Karriere, was wiederum einer Erklärung bedarf. Tschechen, Slowaken und Ungarn waren von Jalta im wörtlichen Sinn nicht betroffen; die Entscheidungen über ein staatssozialistisches Ungarn beziehungsweise eine ebensolche Tschechoslowakei waren woanders gefallen. Folglich gebrauchten sie die Chiffre nicht, beklagten hingegen, sie seien von der Sowjetunion in den Osten entführt worden. Polnische Oppositionelle beteiligten sich an der Debatte und führten „Jalta“ als Metapher – symbolischen Ort, wenn wir so wollen – in diesen bemerkenswert transnationalen Meinungsaustausch der Dissidenten ein. Es funktionierte nur halbwegs. Der „kidnapped West“ war für westliche Leser exotisch genug, vielleicht konnte ein Intellektueller in Wien oder Triest mehr damit anfangen als mit Jalta. In London oder Rom wie auch – obwohl weniger – in Paris blieben beide Begriffe Fremdwörter. Damit sind wir bei dem Jahr 1989 angekommen. Auf der geschichtskulturellen Agenda der Europäischen Gemeinschaft stand der 200. Jahrestag der Französischen Revolution. Im Verlauf des Sommers war der Jahrestag schnell vergessen. Aus westlicher Sicht plötzlich und völlig unerwartet, entstand eine ganz andere Tagesordnung: der Zusammenfall des Outer Empire der Sowjetunion und ein Jahr danach die Wiedervereinigung Deutschlands. Das Stichwort Jalta spielte außerhalb Polens wohl keine Rolle. Nur hier warnte das Organ der Polnischen Arbeiterpartei, die Aufhebung der symbolischen Interessensphären (Jalta) bedeute eine Infragestellung der polnischen Westgrenze: „[…] entgegen allem Anschein 112

Der Verrat von Jalta

herrscht noch immer das Argument der Macht und nicht die Macht des Arguments […] Die Infragestellung der Aktualität der Beschlüsse von Jalta ist somit gleichbedeutend mit der Sprengung der Fundamente der territorialen Integrität unseres Staates.“ Die polnischen Staatssozialisten irrten sich gründlich. In den Zwei-plus-vier-Verhandlungen wurde nicht Jalta abgearbeitet, sondern Potsdam. Heute alles vergessen? Nicht wirklich und diese Erinnerung verdanken wir dem deutschen Historiker Stefan Troebst, der vor Kurzem auf die Rede hinwies, die der russische Staatspräsident Vladimir Putin am 28. September 2015 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York hielt. Darin lobte er das „System von Jalta“ mit folgenden Worten: „Wenn wir objektiv sind, so half es der Menschheit, das turbulente und oft dramatische Geschehen der letzten 70 Jahre zu überstehen, und bewahrte die Welt vor weitreichenden Erschütterungen.“ Die Akte Jalta, das heißt ein von den Großmächten kontrolliertes, säuberlich in Einflusssphären geteiltes Europa, liegt in Moskau nicht im Politischen Archiv der Gegenwart, sondern auf dem Schreibtisch der Entscheidungsträger. Solange dies der Fall ist, wird Jalta ein lebendiger „lieu de mémoire“ bleiben.

Literatur Włodzimierz BORODZIEJ, Versailles und Jalta und Potsdam, in: Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hg.), Deutsch-polnische Erinnerungsorte, Bd. 3: Parallelen, Paderborn u. a. 2011, S. 360–380. Jost DÜLFFER, Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der ­bipolaren Welt, München 1998. Timothy GARTON ASH, The Polish Revolution. Solidarity 1980–1982, London 1983. William B. MCALLISTER et al., Toward „Thorough, Accurate and Reliable“. A History of the Foreign Relations of the United States Series, U.S. Department of State, Office of the Historian, Bureau of Public Affairs, 2015. Kacper SZULECKI, „Freedom and peace are indivisible“. On the Czechoslovak and Polish dissident input to the European peace movement 1985–89, in: Richard Brier (Hg.), ­Entangled Protest: Transnational Perspectives on the History of Dissent in Eastern ­Europe and the Soviet Union, Osnabrück 2013, S. 199–229. Stefan TROEBST, Jalta als europäischer Erinnerungsort, in: Religion & Gesellschaft in Ost und West 44 (2016), H. 5, S. 12–16.

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Fabien Théofilakis

Nürnberg, die letzte Schlacht Hier wurden der Nationalsozialismus und seine Verdammung auf die Bühne der Justiz gebracht. Elf Jahre nach den triumphalen ­Militärparaden wird in dieser für das ganze Regime emblematischen nordbayrischen Stadt das Urteil über die Verbrechen des National­sozialismus in Europa gesprochen und damit der Grundstein für eine internationale Strafjustiz gelegt.

Nürnberg, November 1945: Hermann Göring, Rudolf Heß, und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank, hinter ihnen Karl Dönitz und Baldur von Schirach.

Nürnberg, die letzte Schlacht

Nürnberg 1934. Leni Riefenstahl filmt auf dem zweiten „Reichsparteitag des deutschen Volks“ den Einklang von Volk und Führer. Triumph des Willens (veröffentlicht 1935) wird der Titel ihres Dokumentarfilms lauten. Strahlenbündel, Militärparaden, wohlarrangierte Aufmärsche, „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“. Das NS-Regime inszeniert für seine Propaganda nach innen wie nach außen seine Einheit und seine Stärke. Nürnberg 1945. Der US-Chefankläger Robert H. Jackson erklärt am 20. November, einen Tag nach der Eröffnung des Prozesses gegen 24 NSKriegsverbrecher, vor der Weltöffentlichkeit: „Noch nie in der Geschichte der Rechtsprechung wurde der Versuch unternommen, in einem Prozess alle Verbrechen zu bündeln, die in einem guten Jahrzehnt auf einem Kontinent an ganzen Nationen und einer Unzahl von Individuen begangen wurden.“ Die Stadt Nürnberg wurde vor allem aus politischen und praktischen Gründen dazu auserwählt, den NS-Verbrechern den Prozess zu machen: Die Amerikaner legten Wert darauf, dass der Prozess in ihrer Besatzungszone stattfände, und das einzige noch intakte große Gerichtsgebäude stand nun einmal in der ansonsten zu 90 Prozent zerstörten Hauptstadt Frankens. Mithilfe des angrenzenden Gefängnisses war auch das Problem der Inhaftierung der 21 Angeklagten geregelt (drei konnten schließlich nicht vor Gericht gestellt werden) und die 530 Büros und 80 Empfangsräume konnten das Personal der vier alliierten Nationen aufnehmen. Das gebaute Erbe der „Stadt der Reichsparteitage“ bildet das größte erhaltene Ensemble dieser Art in Deutschland. Derartige Spuren befördern einerseits einen gewissen Erinnerungstourismus und andererseits in den 1980er-Jahren die Erörterung von Fragen nach der Bewahrung dieser Orte, bevor schließlich 2001 dort ein Dokumentationszentrum eröffnet. Derartige Bauten belegen, dass Nürnberg von den Nationalsozialisten als Geschichtsort eines triumphierenden Nationalsozialismus konzipiert wurde, bevor es zum europäischen Erinnerungsort seiner Niederlage wurde. Ab 1927 wurde alles dafür getan, um die Reichsparteitage und das Reichsparteitagsgelände zum Ort und zur Zeit der Feier von Deutschlands Erwachen und der Vollendung der deutschen Geschichte durch das „Dritte Reich“ zu machen.

Nationalsozialistische Vorstellungswelt Die laut ihrem NS-Bürgermeister Willy Liebel „deutscheste aller deutschen Städte“ kann auf die Unterstützung des „Frankenführers“ Julius 115

Fabien Théofilakis

Streicher zählen. Sie bietet ein einmaliges historisches Ensemble, in dessen Zentrum die unzähligen Paraden abgehalten werden können, und der Status der Stadt als Freie Reichsstadt und Sitz zahlreicher Reichstage des Mittelalters lässt sie als „reine“ und ewige Verkörperung des Großreichs darstellen, so, wie etwa die Große Straße mit ihrer Breite von 60 Metern und einer Länge von zwei Kilometern durch ihre Ausrichtung symbolisch das neue Deutschland mit der Kaiserburg verbindet. Das Reichsparteitagsgelände sollte zwei Gründungsmythen des „Dritten Reichs“ miteinander verknüpfen: denjenigen des Führers, des obersten Bauherrn, auf den sich – wie auf der Zentraltribüne des Zeppelinfeldes – alle Blicke richteten, und denjenigen der Volksgemeinschaft, den die eine Million Besucher verkörperte, symbolisiert durch die Verkleidung mit Marmor, der aus so gut wie allen deutschen Lagerstätten stammte. Der Komplex sollte auch der architektursprachliche Ausdruck der Macht des Regimes sein, dessen Bauten, wie Adolf Hitler 1937 sagte, nicht für 1940 konzipiert sein sollten, auch nicht für das Jahr 2000, sondern so wie die Kathedralen für künftige Jahrhunderte: Dazu zählte die Luitpold-Arena, die für Aufmärsche für bis zu 150 000 Personen sowie für Feiern zu Ehren der „Märtyrer der Bewegung“ gedacht war, das Zeppelinfeld (der einzig fertiggestellte Bestandteil), dem der Pergamon-Altar zum Vorbild gedient hatte, dieses herausragende Beispiel für hellenistische Kunst; das Deutsche Stadion, das anlässlich der Deutschen Olympischen Spiele 400 000 Zuschauern Platz bieten sollte, das Märzfeld, dessen 63 Hektar für Paraden der Wehrmacht gedacht waren. Die Monumentalität der Bauwerke dieser Zeit verweist zum einen auf die totalitären Ansprüche des Regimes und die Einheit von Staat und Partei, zum anderen wollte sie die neuen Volksgenossen beeindrucken, die das Gefühl der Gemeinschaft erleben und dadurch begreifen sollten, dass das Individuum hinter die kollektive Disziplin zurückzutreten hatte. Die „Kongresshalle“, dieser „Koloss“ (Hitler) mit seinen 50 000 Sitzplätzen, nahm schon beim Baustopp wegen Kriegsbeginn eine Grundfläche von 275 mal 265 Metern ein. Die Festveranstaltungen sollten die Errungenschaften des Regimes darstellen und sich dabei auf alle mit der nationalsozialistischen Partei verbundenen Organisationen beziehen, die SA, die SS, den Reichs­ arbeitsdienst, die Hitler-Jugend, den Bund Deutscher Mädel (BDM), die Wehrmacht und den Reichsarbeitsdienst. Deren Vertreter wurden nach 116

Nürnberg, die letzte Schlacht

Maßgabe ihrer Übereinstimmung mit den physischen Kriterien der Nationalsozialisten ausgewählt. Der Zeitraum, der den Stützen des Regimes geweiht war, erstreckte sich 1933 auf fünf, aber 1937 bereits auf acht Tage, darunter der Tag von SA und SS, bei dem 100 000 neue Mitglieder ihren Eid ablegten; den Höhepunkt bildete die Totenehrung, bei der auch die blutgetränkte Fahne vom Putsch des Jahres 1923 eine wesentliche Rolle spielte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs setzt diesen alljährlichen Versammlungen ein Ende, aber Nürnberg bleibt bis 1945 der Ort, der am besten das Verhältnis zwischen einer idealisierten Vergangenheit, einer Gegenwart, die ganz auf den inneren Wiederaufbau gerichtet ist, und einer Zukunft, die sich dem Aufbau von Großdeutschland widmet, zum Ausdruck bringt. Die jährlichen Parolen beschwören einen unaufhalt­ samen Marsch, den der Geschichte. In Nürnberg haben die Nationalsozialisten eine Bilderwelt aufgebaut, deren Schatten noch heute auf der Stadt liegt und von den Besuchern wahrgenommen wird.

Der Nationalsozialismus auf der Anklagebank Nürnberg war die Stadt, von der aus zunächst die Bewegung ihre erfolgreiche Eroberung der Macht und dann das „Dritte Reich“ seine Revanche an der Geschichte koordiniert hatte. Im Deutschland der Niederlage wird es zugleich zu einem Ort der Justiz, an dem das erste internationale Militärtribunal einen juristischen Präzedenzfall schafft, und zu einem Ort, an dem die erste historische Einordnung des Nationalsozialismus vorgenommen wird, ein Erinnerungsort, an dem den Europäern das kontinentale Ausmaß einer NS-Politik bewusst wird, deren Erfahrungsrahmen allerdings national beschränkt blieb. Das Internationale Militärtribunal, das vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 tagt, unternimmt es, eine Epoche abzuschließen und zugleich neue Horizonte zu eröffnen. Der Prozess, der sechs Monate nach Kriegsende beginnt, ist zuvörderst der Prozess der Verbrechen, die die Nationalsozialisten in ganz Europa begangen haben. Es geht darum, sowohl den Staat als auch die Partei abzuurteilen, dazu die politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Elite. Sie alle werden als kriminell betrachtet. Die Anklage muss deshalb Beweise vorlegen, die die ganze Bandbreite der verbrecherischen Taten belegen, die Verschwörung gegen den Frieden durch Vorbereitung 117

Fabien Théofilakis

eines Angriffskriegs ebenso wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Anklage legt 2900 Dokumente vor, die Verteidigung ihrerseits 1230, 122 Zeugen werden angehört. Das Tribunal wird so zum Ort, an dem den Opfern, die aus allen Nationen Europas kommen, die Anerkennung des ihnen Widerfahrenen zuteilwird. Der Prozess macht allen nachhaltig bewusst, dass die häufig in Form von Besatzung, Verfolgung und politisch wie rassisch und wirtschaftlich motivierter Deportation auf nationaler Ebene durchlebten Leiden Folge der „Neuordnung“ waren, die das „Dritte Reich“ in kontinentalem Maßstab durchzuführen trachtete. Zwar stützt sich der US-amerikanische Ankläger gern auf Dokumente, trotzdem sind es vor allem die in vielen Sprachen vorgetragenen Aussagen und das noch nie angewandte Verfahren, Bilder zu zeigen, die den Umfang des Systems der Konzentrationslager ebenso verdeutlichen wie die Spezifizität der Vernichtung der Juden Europas und der räuberischen Logik des „Dritten Reichs“. Die 16 000 Seiten umfassenden Sitzungsprotokolle mit ihrer Gegenüberstellung von Anklage und Verteidigung sind die ersten Archivmaterialen für eine Geschichte des Nationalsozialismus. Der Prozess und das Urteil von Nürnberg – zwölf Angeklagte werden zum Tod verurteilt und hingerichtet, drei werden zu lebenslanger Haft und vier zu unterschiedlich langen Haftstrafen verurteilt, drei werden freigesprochen und vier Organisationen werden als kriminell eingestuft – symbolisieren die historische Wende durch den Sieg des Rechts. Berühmte Autoren begleiten den Prozess journalistisch (Ernest Hemingway, John Steinbeck, John Dos Passos, Ilja Ehrenburg, Louis Aragon, Elsa Triolet, Joseph Kessel, Willy Brandt und viele andere), der zum „Ort der Begegnung und des Aushandelns von Recht und Geschichte, von Politik und Moral“ (Priemel und Stiller) wird. Der Erinnerungsort Nürnberg gründet nicht nur auf vergangenem Leid, er verweist auch auf die Notwendigkeit, als juristische Antwort einen für alle Sieger verbindlichen rechtlichen Rahmen und Rechtsnormen zu schaffen, mit deren Hilfe ein Regime, eine Ideologie und historisch einmalige Verbrechen abgeurteilt werden können. Seit der sogenannten Erklärung von Saint-James, die aus der gleichnamigen Konferenz hervorging, die 1941/42 in London stattfand, ist die Aburteilung der nationalsozialistischen Führung eines der Kriegsziele der Alliierten. Das Londoner Abkommen von 1945 spricht von der „Verfolgung 118

Nürnberg, die letzte Schlacht

und Bestrafung der größten Kriegsverbrecher der europäischen Achsenmächte“ und sieht die Einrichtung eines internationalen Militärgerichtshofs vor. Dieser wird auf Initiative der amerikanischen Delegation nach angelsächsischem Recht gebildet. Dank des ordnungsgemäßen Verlaufs ist dieser Prozess, der trotz juristischer Schwachpunkte als gerecht und ausgewogen gelten kann, seither als bleibendes institutionelles Erbe zu betrachten. Nürnberg bedeutet zwar nicht wirklich die Geburtsstunde einer internationalen Strafjustiz als Idee, doch schaffen seine Grundsätze einen Präzedenzfall, der den Weg für die Kodifizierung des internationalen Strafrechts frei macht, die sich 1948 im Abkommen über die Verhütung und Verfolgung des Völkermords und später in der Bildung von internationalen Strafgerichten für die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien (1993) und in Ruanda (1994) niederschlägt sowie in der Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs (2002). Das juristische Erbe von Nürnberg ist mithin beträchtlich. Der Prozess stellt sich deshalb als Vorgang dar, der Alternativen zur Straflosigkeit und zu bisherigen Arten der Strafverfolgung aufgezeigt hat. Er ist „nicht nur ein juristisches Ereignis, sondern ein in Konzeption und Durchführung moralisches und historisches Unterfangen, mit dem künftig alle zu rechnen haben, die mit dem Umgang mit Krieg und Frieden zu tun haben“. Er befördert eine universelle Philosophie des internationalen Strafrechts, „die über die engen einzelstaatlichen Interessen hinausgeht und die Werte der Menschenrechte und der Würde des Menschen umfasst“ (Guénaël Mettraux). Nürnberg ist aufgrund der breiten Prozessberichterstattung außerdem eines der ersten weltweiten Medienereignisse. Von Anfang an wird alles getan, um für eine maximale Aufmerksamkeit für die Sitzungen zu sorgen: 240 Plätze sind für die Presse reserviert, Journalisten aus etwa 20 Nationen, entsandt von den großen Nachrichtenagenturen der Zeit (RCA, Mackey. Press Wireless, Tass), finden die modernsten Nachrichtenübertragungstechniken vor. Der Prozess wird zum Lernort vor allem für Deutsche, deren „Umorientierung“ auf der Tagesordnung steht, aber auch für die öffentliche Meinung Europas und der Welt. Die Besucher des „Memoriums“, der Gedenkstätte für das internationale Militärtribunal und die zwölf weiteren Prozesse nach US-amerikanischem Recht, die ihm im Justizpalast folgten, können deshalb ebenso gut als Erben einer nationalen Erinnerung wie als Europäer kommen. 119

Fabien Théofilakis

Literatur David A. BLUMENTHAL und Timothy L. H. MCCORMACK (Hg.), The Legacy of Nuremberg. Civilising Influence or Institutionalised Vengeance?, Leyden/Boston 2008. Guénaël METTRAUX (Hg.), Perspectives on the Nuremberg Trial, Oxford 2008. Guillaume MOURALIS, Le moment Nuremberg, Paris 2019. Kim C. PRIEMEL und Alexa STILLER (Hg.), NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013. Steffen RADLMAIER, Der Nürnberger Lernprozess. Von Kriegsverbrechern und Star­ reportern, Frankfurt a. M. 2001. Antonin TISSERON, La France et le procès de Nuremberg. Inventer le droit international, Paris 2014.

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Catherine Gousseff

Die Deportationen – zerstörte Leben und Schicksale Das Gedächtnis der Deportationen in Europa entfaltet sich zwischen den zwei Extremen Auschwitz und Gulag. Hat im Westen die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung die Erinnerung an die Deportationen dominiert, so haben im Osten die 20 Millionen unter dem Stalinismus deportierten Menschen unauslöschliche ­Spuren hinterlassen. Und zwischen den beiden findet sich eine große Vielfalt vergessener Deportationsschicksale.

Hommage aux juifs déportés von Eva Aeppli, Teil der Skulptur Le Cyclope von Jean Tanguely und Künstlern in Milly-la-Fôret.

Catherine Gousseff

Deportation – dieses sehr alte Wort, das die Römer gebrauchten, um die Verbannung von Menschen auf dem Seeweg von einem Hafen aus zu bezeichnen, wirkt in den Erinnerungen als ein emblematisches Merkmal der totalitären Modernität des europäischen 20. Jahrhunderts nach. In diesem von massenhaften Zwangsaussiedlungen geprägten Jahrhundert ist die regelmäßig wiederkehrende Versuchung groß, die Geschichte der erzwungenen Aussiedlungen mit Deportationen gleichzusetzen, weshalb es sinnvoll ist, gleich zu Anfang auf die Besonderheit dieser repressiven staatlichen Praxis zurückzukommen. Die Deportation unterscheidet sich von anderen Formen unfreiwilliger Migration insofern, als sie nicht nur eine Abreise unter Zwang voraussetzt, sondern auch ein vorherbestimmtes Ziel, wo die umgesiedelten Menschen im besten Fall unter Hausarrest gestellt sind und im Allgemeinen aufgrund der Haftbedingungen und/oder der Entfernungen, denen sie ausgesetzt sind, nicht fliehen können. Verschiedene Opfer von Umsiedlungen wie die seit langer Zeit in Mittel- und Osteuropa angesiedelten Deutschen, die am Ausgang des letzten Weltkriegs aus ihrer Heimat in das „Land ihrer Vorfahren“ vertrieben wurden und denen die Geschichtswissenschaft seit dem Ende des Kalten Kriegs wieder Beachtung schenkt, können so keineswegs im Rahmen der Geschichte der Deportationen behandelt werden.

Vielfältige Erfahrungen von Westen nach Osten Von Westen nach Osten des alten Kontinents weckt die Erinnerung an die Deportationen sofort tragische Bilder der zeitgenössischen Geschichte, die jedoch nicht dieselben im Westen und im Osten Europas sind. In Frankreich, Italien, den Niederlanden, um nur einige Länder zu nennen, ist die Deportation im Bewusstsein der Menschen sehr eng mit den Massenverhaftungen der Juden, ihrem massenhaften Transport in die Vernichtungslager, in erster Linie nach Auschwitz, verbunden. Hat sich das Gedächtnis in manchen dieser Länder wie in Frankreich zwischen Widerstand (Résistance) und Schoah aufgeteilt, so wird es auf lange Sicht von der Deportation der Juden beherrscht. Zahlreiche Erinnerungstafeln an den Orten, an denen Juden vor ihrem Transport nach Osten zusammengetrieben wurden, die rituellen Zeremonien des Holocaust-Gedenktags, die Eröffnung der Gedenkstätte für die Märtyrer der Deportation in Paris im Jahr 1962 und jene viel spätere (2001) des Denkmals der Deportation 122

Die Deportationen – zerstörte Leben und Schicksale

in Borgo San Dalmazzo in Italien dokumentieren den wichtigen Platz, den dieser Geschichtsabschnitt im nationalen Gedächtnis innehat. Die Deportation wird heute mit der ersten, unausweichlich zum Tod führenden Phase der Geschichte der Schoah identifiziert. Wurde die Durchführung von Deportationen auch mit anderen historischen Situationen in Verbindung gebracht, die etwa im Fall der Kolonialgeschichte gewisse demokratische Staaten stigmatisieren, so ist das Ausmaß der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Lauf des Zweiten Weltkriegs derart unvorstellbar, dass sich das Gedächtnis im Wesentlichen auf diese Erfahrung bezieht. Tatsache ist, dass die Gesellschaften in den meisten dieser Länder im letzten Jahrhundert keine anderen traumatischen Episoden erlebt haben, die sich auch nur entfernt mit Bevölkerungsdeportationen vergleichen lassen. Ganz anders ist die Lage in den weiter östlich gelegenen Gebieten, in Mittel- und Osteuropa, wo sich verschiedenste Situationen überlagern, die entweder der aggressiven Politik der Nazis oder der Stalins und oft der beiden totalitären Regime geschuldet ist. Die Geschichte Polens kann als Zeuge für die verschiedenen Wellen erzwungener Deportationen speziell während und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufgerufen werden. Aus Polen, dem Hauptschauplatz der Schoah, der so gut wie alle polnischen Juden zum Opfer fielen, wurden gleichzeitig nichtjüdische Polen massenhaft in die Konzentrationslager der Nazis und als Zwangsarbeiter ins „Dritte Reich“ verschleppt. Nach dem Ribbentrop-MolotowPakt im August 1939 und der Aufteilung Polens zwischen den beiden Verbündeten war die Bevölkerung der sowjetisierten Gebiete im Osten der sowjetischen Repressionspolitik, insbesondere in Form mehrerer Deportationswellen nach Zentralasien und Sibirien, ausgeliefert. Im postkommunistischen Polen kamen zu den alten Denkmälern, die der Nazibarbarei gedenken, neue, den Opfern im Osten gewidmete Gedenkstätten hinzu, so die der Muranowskastraße in Warschau, die einen Waggon darstellt, der mit vielen Kreuzen vollgestopft ist, um an die deportierten und in Katyń massakrierten Polen zu erinnern. Noch weiter im Osten werden die Deportationen ausschließlich mit dem stalinschen Totalitarismus verbunden. Die baltischen Staaten, die 1940 von der UdSSR annektiert, während des Krieges von den Nazis besetzt und an dessen Ende wieder sowjetisiert wurden, beziehen sich nur auf das Traumagedächtnis der in die östlichen Grenzgebiete der 123

Catherine Gousseff

UdSSR verschleppten Völker, wie es besonders die musealen Darstellungen ihrer Geschichte unterstreichen. Das Museum der Opfer des Genozids am litauischen Volk präsentiert den Gulag als das große Symbol der Unterdrückung unter der sogenannten sowjetischen Besatzung. In Russland, dem Land, das in erster Linie das sowjetische Erbe antrat, kam die Erinnerung an die Deportationen und das System der Konzentrationslager auf spektakuläre Weise während der Perestroika und dem Jahrzehnt nach dem Zerfall der Sowjetunion hoch. Diese Erinnerungsarbeit, die im Wesentlichen von den Aktivisten der Menschenrechtsorganisation Memorial geleistet wurde, manifestierte sich auf verschiedene Weise, von den den Opfern der Unterdrückung gewidmeten Büchern bis zu den Museen, die in verschiedenen Regionen des Landes errichtet wurden. Dennoch gelingt es dem Gedenken an den Gulag längerfristig kaum, zu einem Konsens über dessen Legitimität zu gelangen, das tragische Bewusstsein der sowjetischen Geschichte zu verkörpern. Von einem Staat infrage gestellt, der das positive Erbe in den Mittelpunkt stellt und dazu tendiert, die frühere Sowjetmacht und den Eintritt Russlands in die Moderne des 20. Jahrhunderts zu verherrlichen, bleibt diese Erinnerungsarbeit auf Randgruppen des öffentlichen Lebens beschränkt. Sie verfügt allerdings – besonders unter den „bestraften Völkern“ – über wichtige Verbündete.

Deportationen und ihre Darstellung: Kontroverse um die Totalitarismustheorie Die Gedächtnisgeografie der Deportationen vom Westen nach Osten Europas erstreckt sich zwischen zwei Extremen: zum einen Auschwitz, zum anderen der Gulag. Bezieht man sich auf die in den verschiedenen Teilen Europas vorherrschenden oder als solche etikettierten Erfahrungen, deckt sie sich mit den Begriffen der großen Debatte über den Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Die Frage, ob es begründet ist, Nazismus und Stalinismus in ihrer verbrecherischen Dimension zu vergleichen, auf eine Stufe zu stellen, heizte in der Tat die Spannungen an, die den ideologischen Kontext des Kalten Krieges charakterisieren. In den „Ostblockländern“ und in der UdSSR konnten sich die Intellektuellen zumindest offiziell nicht öffentlich äußern, doch sind einige wie Wassili Grossman in seinem Roman Leben und Schicksal (1980 in der Schweiz erschienen) 124

Die Deportationen – zerstörte Leben und Schicksale

dieser Frage nachgegangen. Im Westen hingegen trug diese Debatte dazu bei, die nationalen Parteiungen zu strukturieren, da sie auf polemische Weise den Gulag gegenüber Auschwitz, das als Ausdruck des radikal Bösen in Nürnberg verurteilt worden war, als die andere Form der totalitären Herrschaft einführte. Die Debatte wurde durch Justizkontroversen wie die Krawtschenko-Affäre in Frankreich (1949) und durch die lautstarke Rezeption von Meisterwerken wie Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (New York 1951) periodisch angestoßen und flackerte jahrzehntelang immer wieder auf. Sie gewann erneut an Aktualität mit dem Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn, dessen Veröffentlichung in verschiedenen europäischen Ländern im Lauf der ersten Hälfte der 1970er-Jahre die Polemik über das Wesen des sowjetischen Regimes aufs Neue anfachte. Nach der sehr heftigen und umstrittenen Rezeption des von einem Historikerkollektiv verfassten Schwarzbuchs des Kommunismus zu urteilen, das 1997 in Frankreich publiziert und sehr rasch in praktisch alle europäischen Sprachen übersetzt wurde (deutsch 1998), hat der bestimmende Einfluss dieser Debatte sogar die Existenz des geteilten Europa infrage gestellt. Bemerkenswert jedoch ist, dass die Kontroversen, die dieses Werk hervorgerufen hat, auf das westliche Europa beschränkt blieben. Obwohl die freie Meinungsäußerung nunmehr in den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas gewährleistet war und die meisten von ihnen die doppelte Erinnerung an die nazistische und stalinistische Gewaltherrschaft teilen, hat die Frage nach der Relevanz eines Vergleichs nicht die geringste Aufmerksamkeit hervorgerufen, ja nicht einmal eine wirkliche Debatte ausgelöst. Es besteht so ein klarer Gegensatz zwischen der Geografie der Deportationserfahrungen von einem Ende Europas zum anderen und der Verortung der Kontroverse über den Totalitarismus, die den Gulag im westlichen Gedächtnis verankerte, im Westen. Über die Rolle der Diskurse in der Darstellung der Deportationen hinaus kann der Vergleich dieser Erfahrungen im Kontext des Nazismus und des Stalinismus nicht über einige allgemeine Feststellungen hinausgehen. Am wichtigsten ist die Rückerinnerung der Opfer an den Prozess der Entmenschlichung, den sie erlitten haben. Nach den Zeugenberichten repräsentiert der Transport nach einem unbekannten Ziel, bei dem die Menschen tage- und manchmal wochenlang in Viehwaggons zusammengepfercht waren, auf fundamentale Weise den großen Bruch mit der 125

Catherine Gousseff

Menschlichkeit. In seinem Bericht über den Gulag – Reise in das Land der Lager (1947, deutsch 2013) – schreibt Julius Margolin: „Der Zug bestand aus zehn Waggons mit jeweils 65 Menschen. Mitten im Waggon, gegenüber der Öffnung, lagen auf einem herausgeschnittenen Loch zwei Bretter in Form eines V: das sollte den Abortkübel ersetzen. […] Als ich in der Dunkelheit des wandelnden Sargs ausgestreckt lag, verlor ich das Gefühl für die Bewegung auf der Erdoberfläche: es schien mir, als stiegen wir immer weiter hinab, unter die Erde, aus der Welt der Lebenden hinaus.“ Jopie Vleeschouwer berichtet über den Konvoi holländischer Juden nach Auschwitz: „Graue Wagen mit einem Fass in der Mitte und siebzig Menschen, die in einem Viehwagen stehen. Man erlaubte ihnen nur, einen Brotbeutel mitzunehmen. Ich frage mich, wie viele lebend angekommen sind.“ Der Verlust jeglichen Lebensraums und das Zusammengepferchtsein, die fehlende Hygiene, der Hunger, die Kälte und das akute Bewusstsein, aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein und von nun an als Vieh behandelt zu werden, bilden die gemeinsamen Voraussetzungen, um in die Haut eines Deportierten zu schlüpfen. Das Leben nach der Ankunft am Zielort regt dazu an, die vielfältigen Erfahrungen nicht nur zwischen den beiden Systemen, sondern auch innerhalb eines jeden zu untersuchen.

Der Gulag und die Zwangskolonisation Die UdSSR ist der Staat, der nach den Opferzahlen und der langen, die gesamte stalinsche Periode umfassenden Dauer dieser Praxis primär die Geschichte der Deportation verkörpert. In mehr als 20 Jahren wurden ungefähr 20 Millionen Menschen innerhalb des riesigen sowjetischen Territoriums deportiert. Der Gulag, Abkürzung für die Zentralverwaltung der Lager, wurde im landläufigen Gebrauch zum Synonym für das sowjetische Lagersystem. Der Gulag hat in der Tat Hunderte von Zwangsarbeiterlagern verwaltet, in denen Millionen Menschen gefangen gehalten wurden, die aus politischen oder gemeinrechtlichen Gründen verurteilt worden waren. Die Vorstellung des Gulag im europäischen Gedächtnis, die durch einige große literarische Zeugnisse wie Warlam Schalanows Erzählungen aus Kolyma (1978 auf Russisch, 1983 auf Deutsch) oder Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag (Paris 1973), die die extreme Härte der modernen Sklaverei aufzeigen, verfestigt wurde, blendet jedoch 126

Die Deportationen – zerstörte Leben und Schicksale

andere Realitäten der Deportation aus. Neben den Lagerhäftlingen existierten in der Tat unzählige Gruppen, die in die entferntesten Regionen der UdSSR geschickt und dort festgehalten wurden, um zu deren Entwicklung beizutragen. Diese wurden nicht verurteilt, sondern mehrheitlich aufgrund einer Verwaltungsentscheidung deportiert. Sie wurden nicht in Lagern eingesperrt, sondern in armseligen Dörfern und „Sondersiedlungen“ des Fernen Ostens unter Beschränkung ihrer Freizügigkeit angesiedelt, so besonders verschiedene ethnisch-nationale Gemeinschaften. Polen aus den 1939 sowjetisierten Regionen, Russlanddeutsche, die nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die UdSSR als unerwünscht galten, Tschetschenen und andere für ihre vorgebliche Kollaboration mit den Nazibesatzern während des Kriegs „bestrafte“ Völker, Balten und West­ ukrainer, die sich nach Ansicht der Behörden der Sowjetisierung widersetzten … Die Liste der derart unterdrückten sechs Millionen Menschen ist lang. Anders als im Lagersystem waren die Opfer ganze Familien, die mehrere Generationen von den Kleinkindern bis zu den Greisen umfassten und von denen die Schwächsten die neuen Lebensverhältnisse oft nicht überleben konnten. Viele aus diesen Gemeinschaften haben die Erfahrung der Zwangskolonisation, die im Durchschnitt länger dauerte als die der zum Gulag Verurteilten, schriftlich festgehalten. Die Lebens­ bedingungen unterschieden sich beträchtlich, je nach den Perioden (während des Kriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit waren sie besonders hart), den Orten und der zugewiesenen Arbeit. So galt die Arbeit in der Forstwirtschaft als extrem ermüdend, die in den landwirtschaftlichen Sowchosen als weniger anstrengend. Doch erinnern sich alle Opfer gleicherweise an das Leben abseits der Zivilisation, wo jeder auf seine Art das Gefühl wiedergibt, sie seien zu einer Existenz ohne Einflussnahme und Möglichkeiten verurteilt worden. Unterschiedliche Zeugnisse, Websites und neuerdings Filme wie In the Crosswind (2014) des estnischen Regisseurs Martti Helde schildern die Geschichte dieser Siedler wider Willen, die noch immer auf das Gedächtnis der Osteuropäer beschränkt und im Westen wenig bekannt ist.

Auschwitz und die Zwangsarbeit Der vom Naziregime geplante Völkermord an den Juden erklärt legitimerweise das geringere Interesse an anderen Aspekten der hitlerschen 127

Catherine Gousseff

Politik der Zwangsumsiedlungen, die nach der Anzahl der betroffenen Menschen jedoch durchaus relevant sind. Die NS-Regierung hat in der Tat Millionen Männer und Frauen aus den besetzten Gebieten Europas als Arbeitskräfte ins „Dritte Reich“ deportiert. So sehr die Nazimachthaber unter äußerster Gewaltanwendung alles daran setzten, Mittel- und Osteuropa ethnisch zu vereinheitlichen, so sehr förderten sie gleichzeitig in großem Ausmaß die Zwangsumsiedlung nach Deutschland. Gegenüber 400 000 Ausländern in Deutschland im Jahr 1939 verzeichnete man mehr als neun Millionen im Frühjahr 1945, was einem Fünftel der Bevölkerung des Landes entsprach. Außer den Kontingenten an Kriegsgefangenen wurden Millionen Zivilpersonen, Russen, Jugoslawen, Polen und andere verhaftet und gewaltsam ins Reich verschleppt. Viele von ihnen wurden in der Nähe von Produktionsstätten zusammengepfercht wie die Deportierten des Konzentrationslagers Ravensbrück, die für Siemens arbeiteten, in abgesperrten Barackensiedlungen in den großen Städten Deutschlands untergebracht oder auch den landwirtschaftlichen Betrieben des Landes zugeteilt. Diese Zwangsarbeiter wurden nicht überall gleich behandelt, es hing von der Situation und ihrer nationalen Zugehörigkeit ab. Aus der Mehrzahl der Zeugnisse geht hervor, dass sich die aus dem Osten deportierten „Untermenschen“ wie Sklaven fühlten, die nicht genug zu essen hatten, nicht bezahlt wurden und ohne den mindesten Komfort vegetierten. Besonders bei diesen Menschen hat sich die Erfahrung, dass sie auf eine Existenz als Untermensch reduziert worden sind, im Gedächtnis festgesetzt. Die Zwangskolonisation im Fall der Sowjetunion und die Zwangs­ arbeit im Nazireich veranschaulichen so die durch Gewalt geprägten Erfahrungen einer großen Anzahl von Europäern, die der heutigen demokratischen Reisepraxis entgegengesetzt sind. Zwischen dem Gulag und Auschwitz, die im Gedächtnis als Symbol dafür stehen, extreme Verbrechen, die sich niemals wiederholen dürfen, zu verhindern, existierten in unterschiedlichem Ausmaß äußerst vielfältige Deportiertenschicksale, die massenhaft Menschen geprägt, aber noch kaum im Gedächtnis des europäischen 20. Jahrhunderts ihren Platz gefunden haben.

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Literatur Raul HILBERG, Die Vernichtung der europäischen Juden, aus dem Englischen von Christian Seeger, Harry Maòr, Walle Bengs, Wilfried Szepoan, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1990 [1961]. Luba JURGENSON und Nicolas WERTH, Goulag. Une anthologie, Paris 2017. Norman NAIMARK, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004. Alexander von PLATO, Almut LEH und Christoph THONFELD (Hg.), Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien/Köln/ Weimar 2008. Pavel POLIAN, Gegen den eigenen Willen. Geschichte und Geographie der Zwangs­ migrationen in der UdSSR, Berlin 2004. Philipp THER, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im modernen Europa, Göttingen 2011.

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Jay Winter

Das Europa der Völkermorde Dank eines in Galizien geborenen und in die Vereinigten Staaten emigrierten polnischen Juristen haben das Wort Genozid (Völkermord) und die Realität, die es umfasst, ins internationale Strafrecht Eingang gefunden. Dieser Begriff – der die an einer Gruppe in der Absicht, deren Existenz als Gruppe zu zerstören, begangenen Verbrechen bezeichnet – hat sich in der Recht­ sprechung und im öffentlichen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt, auch wenn es Europa seither nicht gelungen ist, einen Rückfall zu verhindern.

Eine Armenierin kniet unweit von Aleppo über ihrem Kind, um 1915.

Das Europa der Völkermorde

Im internationalen Strafrecht ist der Völkermord ein Verbrechen, das durch einen Staat, seine Behörden oder seine Repräsentanten in der Absicht begangen wird, eine bestimmte soziale Gruppe oder Bevölkerung durch Massenmord und andere Tatbestände zu zerstören. Am 9. Dezember 1948 hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen in Paris der Annahme dieses Prinzips einstimmig zugestimmt. Dieses wurde durch eine Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermords bestätigt, die am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Manche verwenden den Begriff des Völkermords, um zahlreiche andere vergangene Verbrechen wie die Sklaverei, die Enteignung und Konfiszierung von Land und Leben der amerikanischen Indianer und australischen Ureinwohner zu denunzieren. Der Ursprung des Begriffs und sein Platz im internationalen Recht aber sind das Ergebnis und eine vorzügliche Illustration der extremen Entwicklung des „totalen Kriegs“ im 20. Jahrhundert und danach. Zwei Jahre, nachdem der Nürnberger Prozess festgestellt hat, dass die Führung des „Dritten Reichs“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatte, drückte der Abscheu über die Ermordung der europäischen Juden dem letzten Akt der Allianz, die den Krieg gewonnen hatte, den Stempel auf. Wie der Krieg von 1914 bis 1918 war dieser ein totaler Krieg, weil einerseits die Grenze zwischen militärischen und zivilen Zielen beseitigt wurde und weil andererseits in diesen beiden Weltkriegen gewisse Staaten beschlossen, ihre eigenen Mitbürger zu vernichten. Dies traf auf die ottomanischen Türken hinsichtlich der Armenier sowie auf die Deutschen in Bezug auf die Juden zu, nicht nur in Deutschland, ­sondern auch in allen Staaten und Regionen, die von ihnen unterjocht worden sind. In Anatolien setzte die Deportation des „inneren Feindes“ eine Politik des 19. Jahrhunderts fort, die im 20. Jahrhundert in Mord überging, als die deportierten Mitbürger in die Wüste Mesopotamiens geschickt wurden, in der ihre Überlebenschancen gleich null waren, ohne die Morde, die Vergewaltigungen und die Plünderungen überhaupt zu erwähnen. Diese Kriegshandlung gegen Zivilisten zwischen 1915 und 1918 hat nicht nur dem Krieg der Nazis gegen das jüdische Volk Tür und Tor geöffnet, sondern auch dem von der Ustascha im Jugoslawien der 1940er-Jahre durchgeführten Völkermord, dem von den Roten Khmer in Kambodscha begangenen Völkermord, dem von den Serben im ehemaligen Jugoslawien in 131

Jay Winter

den 1990er-Jahren verübten Völkermord und dem von den Hutu 1994 in Ruanda organisierten Völkermord.

Die Entstehung eines Neologismus Neue Begriffe im Zusammenhang mit dem Krieg zu erfinden, ist ebenso ungewöhnlich, wie dem Periodensystem Dmitri Mendelejews neue Elemente hinzuzufügen. Das kommt vor, ist aber selten. Das vor 1943 unbekannte, heute aber geläufige Wort „Genozid“ gehört zu diesen Neologismen. Die Geschichte dieses Wortes ist unauflöslich mit dem Leben eines Mannes, Raphael Lemkins, verbunden. Lemkin war ein in Galizien geborener polnischer Jurist, der in den 1920er-Jahren in dem damals polnischen, heute ukrainischen Lwów Völkerrecht studiert hatte. Er war kein sehr sympathischer Mann – er war obsessiv, paranoid, großtuerisch, wenn es sich um unbedeutende Angelegenheiten und um vorgebliche Realisierungen handelte, mit denen er sein einsames Leben ausschmückte. Ein anderer berühmter Experte des internationalen Rechts, Hersch Lauterpacht, später Professor an der Universität Cambridge und intellektueller Gegner Lemkins, hatte in der Zwischenkriegszeit, bevor die Naziwelle die gesamte Welt des galizischen Judentums, in der sie lebten, hinwegspülte, ebenfalls in Lwów studiert. Die zwei Männer verließen Polen, Lauterpacht ging in den 1920er-Jahren nach Wien und London, Lemke Ende der 1930erJahre nach Litauen, Schweden und dann in die Vereinigten Staaten, wo er an der Duke University und in Yale lehrte. Beide wirkten maßgeblich an der Organisation des Nürnberger Militärgerichtshofs und an der Nachkriegsordnung mit, soweit das internationale Recht – insbesondere die Menschenrechte – betroffen war. Darauf beschränken sich die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Lemkin war ein Außenseiter; Lauterpacht gehörte zum Establishment. Lemkin war nie Lehrstuhlinhaber; Lauterpacht wurde zum Doyen der Völkerrechtler Großbritanniens und zum Fellow am Trinity College in Cambridge ernannt. Lemkin war gefühlsbetont, bereit, alle einzuspannen, die seine Sache unterstützen konnten, ein geborener Lobbyist und insgesamt eine schreckliche Nervensäge; Lauterpacht war besonnen, rational und verfügte über einen bemerkenswert pragmatischen Sinn dafür, was das Recht konnte und was nicht. 132

Das Europa der Völkermorde

Ein Individuum oder ein Volk töten Ihr unterschiedliches Temperament war jedoch nichts im Vergleich zur Verschiedenheit ihrer jeweiligen Ansichten über die Menschenrechte. Für Lauterpacht, der beim Nürnberger Prozess für den Punkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auf der Liste der Hauptanklagepunkte verantwortlich war, hatten die Individuen (und nicht die Gruppen) Rechte, deren Negation durch die Nazis das Gewissen der Menschheit erschüttert hatte. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, der/die/das von den Nazis ermordet oder misshandelt worden ist, hatte unteilbare Rechte, die seine Menschlichkeit definierten. Die Verantwortlichen des Nazistaates hatten gegen diese Rechte verstoßen und der Verweis auf Befehlsgehorsam oder „Souveränität“, den sie zu ihrer Verteidigung anführten, entbehrte jeder Grundlage. Kein Staat ist berechtigt, seine eigenen Bürger noch die der eroberten Völker zu misshandeln, wie es die Nazis getan hatten. Nach diesem Prinzip handelten die Richter in Nürnberg und Lauterpacht hatte die Ideen formuliert, die ihre Argumente und Urteile anleiteten. Für Lemkin hingegen übertrafen die Verbrechen der Nazis den Verstoß gegen die Rechte der Individuen; sie hatten systematisch ein ganzes, nicht nur demografisch, sondern auch kulturell definiertes Volk ermordet. Sie hatten die kulturelle Basis zerstört, auf der sich das jüdische Leben während 400 Jahren entwickelt hatte, die Grundlage vergiftet, auf der sich die jiddische Sprache entfaltet hatte, und einen kulturellen und biologischen Krieg gegen eine bestimmte Gruppe, ein Volk, geführt, das mehr als die Summe der Individuen war, die es ausmachten. Ausgehend vom Studium der Ermordung von ein bis zwei Millionen Armeniern während des Ersten Weltkriegs, war Lemkin zu dieser Auffassung gekommen. Der neue Begriff „Geno-zid“, eine Mischform aus Latein und Griechisch, den er 1943 erfand, um den Mord an einem Volk zu bezeichnen, entstand aus seinen Überlegungen über diese Katastrophe. Lemkin hatte aufmerksam den Prozess gegen Soghomon Tehlirian 1921 in Berlin und den Freispruch des jungen Armeniers verfolgt, der einen der Verantwortlichen für die Deportation und die Vernichtung nicht nur seiner eigenen Familie, sondern des ganzen armenischen Volkes in Anatolien, wo es seit einem Jahrtausend lebte, getötet hatte. Lemkin hatte sich gewundert, dass ein Mann wegen des Mordes an einem einzigen 133

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Individuum, Talât Pascha, der Schlüsselfigur des Triumvirats, das die Deportation der Armenier angeordnet hatte, vor Gericht gestellt wird, während es kein Gesetz gab, das es ermöglicht hätte, Talât Pascha wegen des Todes nicht eines, sondern von Millionen Individuen den Prozess zu machen. Im Lauf vieler Jahre und in zahlreichen Ländern widmete Lemkin sein Leben einem einsamen Kreuzzug für die völkerrechtliche Anerkennung der Ermordung einer Gruppe, eines Volkes als Verbrechen. Als er als Berater des Board of Economic Warfare der Vereinigten Staaten tätig war, verfasste er sein von der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden 1944 publiziertes Hauptwerk Axis Rule in Occupied Europe. In diesem Zusammenhang erwies sich der Begriff Völkermord als hervorragendes Instrument, um die von den Nazis praktizierte Enteignung, Drangsalierung und Vernichtung eines Volkes zu verstehen.

Eine Herausforderung für die nationale Souveränität Die Forschungen Lemkins über den Völkermord, von denen ein großer Teil nicht veröffentlicht worden ist, beschränkten sich nicht auf Europa und die zwei Weltkriege. Er war sich über die Unterdrückung der Rebellen im Südwesten Afrikas und den Versuch der Ausrottung der Hereround Namavölker durch die deutsche Armee 1904–1906 völlig im Klaren. Lemkin war weniger eurozentrisch als viele andere, die sich mit diesem Problem beschäftigt haben. Dennoch waren zwei Weltkriege in Europa notwendig, damit Dringlichkeit und Substanz seines Begriffs „Genozid“, dessen Wesenskern die imperialistische Welt unbestreitbar antizipiert hatte, allgemein akzeptiert wurden. Das Wort „Völkermord“ machte deutlich, dass zu den Rechten der Staaten, welche immer das auch seien, die Ermordung ganzer Völker nicht dazugehört. Wenn dies heute offensichtlich zu sein scheint, so war dies 1943 nicht der Fall. Warum hatte Lemkin solche Mühe, sein Ziel zu erreichen? Der entscheidende Grund war die Autorität des Begriffs der Souveränität im Völkerrecht wie in der politischen Wissenschaft. Das Ziel Großbritanniens im Ersten Weltkrieg war es, die Souveränität Belgiens, das vom deutschen Heer illegal überfallen und vier Jahre lang besetzt wurde, wiederherzustellen. Jugoslawien und Polen wurden 1919 souveräne Staaten, weil die Alliierten der Meinung waren, dass sie das Recht hatten, als solche zu existieren. Der Überfall der Nazis auf Polen 134

Das Europa der Völkermorde

20 Jahre später bedeutete eine weitere Verletzung der Souveränität, gegen die man sich wehren musste. Bereits vor der Machtübernahme der Nazis hatte der Krieg den Begriff der Souveränität dergestalt verändert, dass er den politisch Verantwortlichen quasi eine absolute Freiheit, einzugreifen, gab, um ihr Vaterland zu verteidigen. Wie es der Philosoph und Politologe Carl Schmitt in der Zwischenkriegszeit formulierte, schuf der Krieg einen Ausnahmezustand, in dem der Souverän allmächtig war. Im Krieg konnte der Staat alle Gesetze im Interesse der nationalen (oder imperialen) Verteidigung suspendieren – und er tat es oft. Nach der Definition von Schmitt konnte der Souverän direkt über den Ausnahmezustand entscheiden, jenen Moment, in dem sich der Staatsfeind zeigt. Die Nazis übernahmen diese Idee und steigerten sie bis zum Äußersten. Für den Staat zu wirken, hieß, sich über die Grenzen des Verbrechens hinwegzusetzen. Der Ausnahmezustand beseitigte alle Hemmnisse, die seiner Bestimmung, Krieg zu führen, im Weg standen. Faktisch war der Zweite Weltkrieg ein Konflikt zwischen zwei Definitionen der nationalen Souveränität, von denen eine absolut, die andere teilweise – und nur teilweise – durch die Gesetze beschränkt war. Hatte der Nazistaat das Recht, seine eigenen Bürger nach seinem Gutdünken zu behandeln? Hatte er das Recht, die unterjochten Völker wie Vieh oder Ungeziefer zu traktieren? Dank der Beharrlichkeit, mit der Großbritannien sich 1940 der Niederlage widersetzte, der Widerstandskraft der Russen angesichts von Verlusten unvorstellbaren Ausmaßes ab 1941, der Produktivität der USamerikanischen Industrie von 1942 bis 1945 wurde dem Naziregime und der Bevölkerung, die es unterstützte, die abschlägige Antwort auf diese Fragen Schritt für Schritt, aber unerbittlich aufgezwungen. Die Siegermächte waren indessen nicht bereit, das Konzept der nationalen Souveränität völlig aufzugeben. Wenngleich sie eingestanden, dass man einige neue Begrenzungen der staatlichen Macht ins Auge fassen könnte, verteidigten Josef Stalin, Winston Churchill und Clement Attlee, ebenso wie Franklin D. Roosevelt oder Harry S. Truman, ältere Konzepte der Souveränität. Zwischen absoluter Souveränität und völligem Fehlen von Souveränität galt es einen Kompromiss zu finden, der den legitimen Wunsch nach Souveränität respektiert und diesen zugleich klar vom Verhalten des Nazistaats (und dann des japanischen) abhebt. 135

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Die Antwort, die den gesetzlichen Rahmen des Nürnberger Prozesses definiert, war die von Hersch Lauterpacht. Das internationale Recht räumte den Individuen Rechte ein. Diese konnten Personen, deren Taten nicht mehr durch die absolute Souveränität des Staats gerechtfertigt werden konnten, vor Gericht bringen. Das NS-Oberkommando war millionenfach schuldig und seine Mitglieder bezahlten mit ihrem Leben dafür, dass sie das Leben von Millionen Individuen, eins nach dem an­deren, vernichtet hatten. Man muss anerkennen, dass Lauterpacht in Nürnberg faktisch den Sieg über Lemkin davongetragen hat, dessen Forderung, die Verbrecher, die schuldig waren, ein ganzes Volk ermordet zu haben, vor Gericht zu stellen, zurückgewiesen wurde. Der Begriff „Völkermord“ wurde zwar von den Staatsanwälten gebraucht, aber die Nazielite wurde nicht wegen dieses Verbrechens gehängt. Ihre Mitglieder wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet. Dennoch ging die Geschichte für Lemkin trotz dieses bitteren Rückschlags weiter. Lemkin war jedoch nicht jemand, der schnell aufgibt. Von Nürnberg fuhr er nach New York, wo er sich an die Vereinten Nationen in der Hoffnung, diese Organisation würde dem Völkermord eine juristische Grundlage zuerkennen, wandte. Dieses Mal führte er seinen persönlichen Krieg gegen einen anderen Juristen, René Cassin. Cassin war der Mann Charles de Gaulles und während der Besetzung Frankreichs als Jurist in London. Er verteidigte unermüdlich die Notwendigkeit, die Souveränität des ­Staates zu beschränken. Er wurde mit der wenig beneidenswerten Aufgabe betraut, das Erbe des Vichy-Regimes in der französischen Verwaltung zu beseitigen und nach der Befreiung 1944 die republikanische Legalität in Frankreich wiederherzustellen. Er schloss damals ein solides Bündnis mit Eleanor Roosevelt, der Frau des US-Präsidenten, um die Vereinten Nationen dazu zu bringen, die für die Begriffsbestimmung und die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte notwendigen Schritte zu unternehmen, „allgemein“ („universel“) und nicht „international“. Dieses Dokument verurteilte die absolute nationale Souveränität, aber mehr auf der Ebene der Normen als der Gerichte und Überzeugungen. Weder Lemkin noch Lauterbach waren mit diesem Ansatz einverstanden, da sie ihn für ineffizient hielten. Zahlreiche in Menschenrechtsfragen spezialisierte Juristen sind heute der Meinung, dass diese Rechte nur wirksam sind, wenn Gerichte dafür sorgen, dass sie 136

Das Europa der Völkermorde

respektiert werden. Cassin war nicht dieser Meinung. Er glaubte, dass die alte Idee der nationalen Souveränität sich erst nach mehreren Generationen auf den neuen Begriff der allgemeinen Menschenrechte einstelllen würde. Und er hatte recht, wie wir heute noch feststellen können. Paranoider denn je betrachtete Lemkin Cassin (ebenso wie Lauterpacht) als einen Gegner, der imstande ist, sein eigenes Projekt einer verbindlichen rechtlichen Verpflichtung, die den Völkermord dem Strafrecht unterstellt, zunichtezumachen. Was Cassin betraf, hatte er unrecht. Sie arbeiteten nicht gegeneinander, sondern parallel zueinander. Und sie siegten beide. Die Errungenschaften beider werden auf immer miteinander eng verflochten bleiben; die Vereinten Nationen nahmen am 9. Dezember 1948 in Paris Lemkins Konvention über den Völkermord an und verabschiedeten bereits am nächsten Tag, am 10. Dezember 1948, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, deren Formulierung Cassin so viel verdankte. Im Lauf dieses Monats, gerade noch bevor der Kalte Krieg die Kriegsallianz endgültig begrub, kamen die Siegermächte zusammen, um zugleich die allgemeinen Menschenrechte und das Verbrechen des Völkermords anzuerkennen.

Metaphern des Völkermords: Holocaust und Schoah Auf Griechisch bezeichnet das Wort „Holocaust“ eine Opfergabe, die völlig vom Feuer verschlungen wird. Der Begriff wird im Englischen zum ersten Mal 1526 in der Bibelübersetzung William Tyndales verwendet und taucht später in den Briefen deutscher Soldaten von der SommeFront im Ersten Weltkrieg wieder auf, um die verheerende Feuerkraft der Artillerie zu beschreiben. Sein Gebrauch im Zusammenhang mit der Ermordung der europäischen Juden geht auf den 5. Dezember 1942 zurück, als die englische Zeitung News Chronicle schrieb, dass ein „Holocaust“ im Gange sei. „Nichts von dem, was Hitler getan hat, ist der Behandlung vergleichbar, die er den Juden zuteilwerden ließ […] Das Gewissen der Menschheit erschauert vor Entsetzen.“ Es existiert manch anderer Gebrauch dieses Wortes, aber ohne großes H und ohne zwischen den Verfolgungen der Juden durch die Nazis ab 1933 und der ab 1941 durchgeführten „Endlösung“ zu unterscheiden. Der Begriff „Schoah“ hat eine andere Geschichte, die aber denen, die am Begriff „Holocaust“ Anstoß nahmen, aus der Verlegenheit half. 137

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­ anche sträubten sich in der Tat, einen Begriff zu verwenden, der im M religiösen Opfer seinen Ursprung hatte, um die extreme Gottlosigkeit, die die Auslöschung eines ganzen Volkes bedeutet, zu bezeichnen. Shoa oder „Katastrophe“ wurde ab 1941 vom Historiker Ben-Zion Dinur verwendet, um die Vernichtung der europäischen Juden zu bezeichnen. 1951, als der israelische Staat einen Gedenktag verfügte, verwendete er den Begriff „Schoah“ für den Judenmord, verbunden mit dem Ausdruck Mered HaGetao, der auf die Aufstände in den Ghettos verwies. Yad ­Vashem, die offizielle israelische Gedenkstätte, die auch das HolocaustArchiv in Jerusalem beherbergt, verwendet seit ihrer Gründung 1953 das Wort „Schoah“ auf Hebräisch, um von der jüdischen Katastrophe im Zweiten Weltkrieg zu sprechen – im Gegensatz zur drohenden nuklearen Katastrophe, vor der in den 1950er-Jahren sich viele fürchteten. Der Begriff „Holocaust“ fand 1978 in Form einer in vielen Ländern Europas ausgestrahlten Fernsehserie Eingang in die Populärkultur. Der monumentale Film Claude Lanzmanns, Shoah, kam 1985 heraus. Dieser ursprünglich neunstündige Film, der aber später in gekürzten Fassungen gezeigt wurde, ist insbesondere wegen der außerordentlichen Interviews, die Lanzmann sowohl mit Verbrechern wie mit Opfern führen konnte, zu einer unumgänglichen Referenz geworden. Jene, die einen dritten Begriff, „Churban“, der ursprünglich die Zerstörung des Salomonischen Tempels bezeichnete, bevorzugen, sind eine kleine Minderheit geblieben. 2017 hat sich „Holocaust“ im angelsächsischen Raum durchgesetzt, während „Schoah“ besonders im Französischen und Hebräischen verwendet wird, um die Ermordung der europäischen Juden durch die Nazis zu bezeichnen.

Die Konkurrenz der Opfer Am 1. November 2005 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen offiziell den 27. Januar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts erklärt. Durch die Wahl dieses Datums, des Tages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, sollen die Opfer des Nazismus geehrt und der Kampf gegen die Holocaustleugnung propagiert werden. Diese Geste war noch aus einem anderen Grunde wichtig. Sie hat gezeigt, dass der Begriff „Holocaust“ ein wesentlicher Bezugspunkt nicht nur für die Naziverbrechen, sondern auch für Völkermorde vor und nach dem Zweiten Weltkrieg geworden ist. 138

Das Europa der Völkermorde

Dieser privilegierte Status hat im Zusammenhang mit dem Gedenken anderer Völkermorde schwerwiegende Probleme mit sich gebracht. Seit den 1920er-Jahren haben türkische Politiker alle verurteilt, die es wagten, den Begriff „Völkermord“ zu gebrauchen, um die Vernichtung der armenischen Bevölkerung Anatoliens ab 1915 zu bezeichnen. Ihre Empfindlichkeit nahm nach dem Zweiten Weltkrieg noch zu und jeder Vergleich ihrer Geschichte mit der Nazideutschlands versetzte sie in Rage. Die öffentliche Verwendung des Begriffs „Völkermord“ durch die Türken in Zusammenhang mit dem Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs wird sogar mit Gefängnis bestraft. Manche Sprecher des Regimes leugnen ab, dass es diese Toten überhaupt gegeben habe, oder geben vor, die Zahlen seien schrecklich aufgebläht worden; andere sprechen von kollateralen Kriegsschäden; wieder andere erklären, dass das Massaker an den islamischen Türken genauso groß wie das an den Armeniern gewesen sei, die außerdem mit ihren russischen Feinden gemeinsame Sache gemacht hätten. Man kann leicht auf dieses Argument antworten. Die Präsenz von Juden, die die Nazis bekämpften, in der Roten Armee kann in keiner Weise zur Rechtfertigung des Holocaust dienen. Dasselbe gilt für die in der russischen Armee dienenden Armenier. Ihr „Verrat“ impliziert nicht die Erlaubnis, zu töten. Der Kern des Problems liegt darin, dass der Stolz der Türken auf ihre nationalen Heldentaten sie blind für ihre eigene Geschichte macht. Kaum hören sie das Wort „Völkermord“, sind sie überzeugt, dass derjenige, der es ausspricht, sie als Nazis beschimpft, sie und die Begründer ihrer Nation. Anderswo in Europa führte die einzigartige Bedeutung der Ermordung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg zu tiefgehenden Spaltungen. Insbesondere die Balten, Ungarn, Polen, Ukrainer und Russen sind der Meinung, dass wegen der herausragenden Stellung, die den Verbrechen an den Juden eingeräumt wird, die Verbrechen, die sowohl von Adolf Hitler wie von Josef Stalin an der nichtjüdischen Bevölkerung ihrer Länder begangen wurden, ausgeblendet werden. 2006 hat das ukrainische Parlament verkündet, dass der Holodomor („Vernichtung durch Hunger“ auf Ukrainisch) – die 1932/33 durch den sowjetischen Staat organisierte Hungersnot in der Ukraine, die rund sechs Millionen Todesopfer forderte – ein Völkermord war. Das europäische Parlament hielt sich in einer Resolution aus dem Jahr 2008 lieber 139

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an die Anerkennung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, um den privilegierten Status der Naziverbrechen an den Juden als einzigartige Verbrechen zu wahren. Es gibt übrigens weiterhin eine Debatte unter Historikern über die Frage, ob diese Hungersnot, die die ukrainischen Bauern nahezu ausgerottet hat, von Stalin mit dem Ziel, dieses Volk zu vernichten, organisiert wurde oder ob sie das tragische Ergebnis der von Stalin angeordneten Kollektivierung der Landwirtschaft und der Entkulakisierung war. Ab den 1970er-Jahren wurde die Geschichte der Kollaboration mit den Nazis zu einem wichtigen Teil der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg in Westeuropa, anders als in Osteuropa, wo sogar – in extremen Fällen – frühere Kollaborateure rehabilitiert werden. Dies ist der Fall in Rumänien mit Marschall Ion Antonescu, in Ungarn mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten László Bárdossy, unter dem sich sein Land mit den Achsenmächten verbündete, oder in der Slowakei mit Jozef Tiso. Diese drei 1946/47 hingerichteten Vertreter der Kollaboration sind zwei Generationen später Gegenstand von Gegengedenkfeiern, die man als Kampfansage an das politisch-moralische Selbstverständnis des Westens interpretieren kann. Man trifft in Osteuropa auf Gruppen, die nicht imstande sind, zuzugeben, dass ihre Landsleute sich am Völkermord haben beteiligen können. Das geht sogar noch weiter, da sie glauben, dass ihre eigenen nationalen Meistererzählungen, die nichts mit denen Westeuropas gemein haben, verfälscht werden, wenn man die Juden von den anderen Kriegsopfern unterscheidet und ihrer Geschichte den Vorzug gibt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet in dem Moment, in dem die Vereinten Nationen beschlossen, einen Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust zu unterstützen, gewisse osteuropäische Nationalisten sich vom Universalismus abwandten, dem sie vorwarfen, er führe in die Irre und sei ihnen aufgezwungen worden. Die Art, wie man die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gestalten soll, wurde beim Bau eines polnischen Museums für Kriegsgeschichte in Gdańsk zum Problem. Dasselbe Problem versetzt Ungarn weiterhin in Unruhe. Diese Asymmetrie zwischen Osten und Westen bezüglich der Erinnerungen wird zusätzlich dadurch kompliziert, dass sie nicht ganz den Grenzen des alten Ostblocks folgt, weshalb man sich auch vor allgemeinen A-priori-Urteilen hüten soll. Bulgarien war zum Beispiel mit der 140

Das Europa der Völkermorde

Tschechoslowakei eines der sogenannten östlichen Länder, in denen die Vernichtung der europäischen Juden innerhalb der Gesellschaft diskutiert wurde, und zwar schon vor 1989, zumal sie sich ihrer Rolle bei der Rettung „ihrer“ Juden rühmten, worin sie durch die Anerkennung dieser Episode durch den israelischen Staat, der 1996 einen „bulgarischen Park“ in Tel Aviv eröffnete, bestärkt wurden. Paradoxerweise steht das „jüdische Problem“, das die europäische Geschichte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verunstaltet hat, einmal mehr einer geteilten europäischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im Weg. Aber ohne geteilte Erinnerung bleibt eine geteilte Geschichte, „unsere Geschichte“, unerreichbar. Im Lauf des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts wurde man sich nach und nach dieser Schwierigkeiten und Herausforderungen bewusst, besonders nach den zwei spiegelbildlichen Reden, die von Simone Veil, Auschwitz-Überlebende und frühere französische Ministerin, am 27. Januar 2004 im Bundestag, und von Sandra Kalniete, ehemaliger Botschafterin Lettlands in Frankreich, die von einer baltischen Familie, die nach Sibirien deportiert worden war, abstammt, am 24. März desselben Jahres auf der Leipziger Buchmesse gehalten wurden. Während Simone Veil sich „beunruhigt“ zeigte, dass „die Erinnerung an die den Juden manchmal mit Beihilfe dieser Völker zugefügten Leiden“ im Osten verharmlost würden, löste Sandra Kalniete eine Polemik aus, als sie daran erinnerte, dass „[die Forscher] beweisen, dass die beiden totalitären Regime – Nazismus und Kommunismus – verbrecherische Regime waren. Es darf niemals einen Unterschied zwischen den beiden geben unter dem Vorwand, dass das eine auf Seiten der Sieger stand.“1 Die Proklamierung des 23. August – der Tag der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Vertrags von 1939 – als europäischer Gedenktag, der eine Zeit lang Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus hieß, beabsichtigt offensichtlich, die europäischen Erinnerungen miteinander zu versöhnen. Aber dieser offizielle Gedenktag ist nicht sehr populär, komplex in seiner Begrifflichkeit und erzielt nur eine begrenzte Wirkung.

1 Vgl. Emmanuel Droit, Le Goulag contre la Shoah. Mémoires officielles et cultures memorielles dans l’Europe élargie, in: Vingtième Siècle, Nr. 94, April–Juni 2007, S. 101.

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Ein zersplittertes Erbe Das Schweigen der amerikanischen und europäischen Regierungen angesichts des Völkermords in Ruanda 1994 und der Widerwillen derselben Regierungen, im jugoslawischen Konflikt einzugreifen, hat vielfältige Gründe, etwa die Furcht, dass die Nationen, sobald sie öffentlich zugegeben haben, dass ein Völkermord im Gang ist, verpflichtet seien, zu intervenieren. Bei einer Ignorierung ist jedoch die dem Gedächtnis des Holocaust geschuldete Versicherung „Nie wieder Auschwitz“ reine Heuchelei. Dieses Dilemma souveräner Staaten führt uns zurück zur Konvention über den Völkermord von 1948. Diese Kampfansage an souveräne Staaten machte es unmöglich, zu behaupten, wie die Nazis es getan haben, dass ihre Regierung „Herr im eigenen Haus“ sei, völlig frei, mit ihrer Bevölkerung nach Gutdünken umzugehen. Aber dieses Engagement für einen universellen Widerstand gegen den Völkermord hat der Außenpolitik souveräner Staaten Hemmnisse in den Weg gelegt, die sie weiterhin nur ungern akzeptieren. Deshalb haben sie die gerichtlichen Verfahren gegen Personen, die des Völkermords schuldig waren, exportiert, indem sie sie Sondergerichten in Den Haag anvertrauten. Radovan Karadžić, eine der Schlüsselfiguren des Völkermords an den bosnischen Muslimen von Srebrenica und anderswo in Exjugoslawien, ist nach den Geschehnissen, 2016, wegen Völkermords verurteilt worden. Zum Zeitpunkt der Massaker war es nicht möglich gewesen, zu einem internationalen Konsens darüber zu kommen, wie man diese beenden könne. Auch die Regierung Bill Clinton hat sich aus Angst, der Begriff „Genozid“ binde ihr die Hände, geweigert, das G-word, das „Wort auf G“, zu verwenden, um die Massaker an den Tutsi in Ruanda 1994 zu definieren. Diese später eingestandene beschämende Zurückhaltung erinnert uns daran, dass Völkermorde in Zukunft noch möglich sind und dass darüber hinaus das Beispiel des Holocaust oder die in seiner Folge verabschiedete Konvention über den Völkermord keinen wirksamen Schutz darstellen. In Europa begegnet man denselben Wahrnehmungsstörungen bezüglich des Völkermords in Ruanda. Diese Störung der Wahrnehmung kann in der öffentlichen Meinung, für die die Region der großen Seen in Afrika – und Afrika an sich – weit weg ist, zum Teil der Unkenntnis geschuldet sein; sie ist aber viel problematischer, wenn es sich um europäische Länder handelt, die beim Ausbruch der Massaker im April 1994 142

Das Europa der Völkermorde

im Rahmen der von den Franzosen geleiteten Militäroperation Turquoise oder der Mission der Vereinten Nationen UNAMIR, der die belgischen Blauhelme angehörten, vor Ort waren. Um dem peinlichen Eindruck entgegenzutreten, man sei schweigender Teilnehmer am Völkermord gewesen, kursierte sogar die These vom „doppelten Völkermord“, die die Ausrottung der Tutsi durch die Hutu und die Hutu, die Opfer der Wiedereroberung des Landes durch die RPF (Ruandische Patriotische Front) wurden, auf eine Stufe stellte – was es erlaubte, die Frage der Verantwortung am Völkermord sowie die partielle Verantwortung der betroffenen Europäer in ihr Gegenteil zu verkehren und zu bagatellisieren. Das heutige Europa hat keinen gemeinsamen Plan, um im Fall eines Völkermords zu handeln, genauso wenig, wie sie ein gemeinsames Gedächtnis des Zweiten Weltkriegs oder der Ermordung der europäischen Juden, die ein Teil davon ist, besitzt. Unter diesen traurigen Umständen ist unsere gemeinsame Geschichte des Völkermords dazu verurteilt – so wie Europa selbst –, zersplittert, gespalten, umstritten, unvollständig zu bleiben.

Literatur Donald BLOXHAM und Dirk MOSES (Hg.), The Oxford Handbook of Genocide Stories, Oxford 2013. Jean-Michel CHAUMONT, Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, aus dem Französischen von Thomas Laugstien, Lüneburg 2001. Emmanuel DROIT, Le Goulag contre la Shoah. Mémoires officielles et cultures memorielles dans l’Europe élargie, in: Vingtième Siècle, Nr. 94, April–Juni 2007, S. 101–120. Étienne FRANÇOIS, Kornelia KOŃCZAL, Robert TRABA und Stefan TROEBST (Hg.), Geschichtspolitik in Europa seit 1989, Göttingen 2013. Ben KIERNAN, Erde und Blut. Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute, aus dem Englischen von Udo Rennert, München 2009. Samantha POWERS, A Problem from Hell. America and the Age of Genocide, New York 2002. Philippe SANDS, East-Western Street. On the Origins of Genocide and Crimes Against Humanity, London 2016. Timothy SNYDER, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, aus dem Englischen von Martin Richter, München 2011.

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Die Verschwundenen Jeder Krieg führt verschwundene Soldaten oder Zivilisten in seinem Schlepptau. Unter diesen Verschwundenen haben jedoch die Opfer des Völkermords an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg die leidenschaftlichsten Reflexionen angestoßen und nehmen einen dominierenden Platz im Gedächtnis ein. Die in der Literatur rekonstruierte verschwundene Welt des Yiddishland findet nunmehr ein ­universelles Echo.

Holocaust-Mahnmal in Berlin, errichtet 2005.

Die Verschwundenen

Während der Nazibesatzung ließ der SS-Unteroffizier Felix Landau, der maßgeblich an der Durchführung der Schoah in Galizien beteiligt war, den Schriftsteller und Künstler Bruno Schulz (1892–1942), der durch seine Darstellung des polnischen Judentums in seinem Erzählband Die Zimtläden bekannt ist, in seiner Geburtsstadt Drohobytsch am Leben. Als Gegenleistung musste Schulz die Villa des SS-Mannes mit Fresken aus den Märchen der Brüder Grimm dekorieren: So malte er Prinzessinnen und andere Märchenfiguren auf die Mauern. Dieses letzte Meisterwerk rettete den Künstler nicht: Er wurde im Ghetto ermordet. Erst 2001 wurden diese Malereien in der nunmehr ukrainischen Stadt Drohobytsch wiederentdeckt. Sofort entstand ein Erbstreit zwischen Polen, Israel, der Ukraine … – ein Streit, den die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem auf ihre Weise regelte, indem sie die Mauerteile direkt den Besitzern der Villa abkaufte. Wem gehört das Gedächtnis der Verschwundenen? Wo wird es gepflegt? In Brooklyn, Tel Aviv, Paris? Und seit 1989 von Neuem in Krakau oder Lwiw? In welchen Worten wird es ausgedrückt? In den Memorbüchern, Chroniken der zerstörten Gemeinden, die auf Jiddisch verfasst sind, einer Sprache, die auf der UNESCO-Liste der gefährdeten Sprachen steht? In der Trauerliteratur eines Isaac Bashevis Singer, die durch seinen Nobelpreis und sentimentale Inszenierungen – Barbara Streisand 1983 in Yentl – popularisiert wurde, oder in der galizischen Tetralogie Stimmen in der Finsternis (1956) von Julian Stryjkowski (geboren als Pesach Stark), der bei der Zerstörung des Warschauer Ghettos verstand, dass es seine Pflicht war, zu schreiben, „um dem Gedächtnis seines Volkes ein Grabmal zu errichten1“? Oder ist es für immer in den von Claude Lanzmann in Shoah gefilmten Katastrophenlandschaften festgehalten? An welchen materiellen Stützen schließlich hält es sich fest, da uns die Todesfuge (1945) von Paul Celan, des in einer jüdischen Familie in Cernăuți geborenen Dichters deutscher Sprache, und ihr eindringlicher Vers über das „Grab in den Wolken da liegt man nicht eng“ keine Ruhe lassen? Cernăuți, aber auch Lwów, Witebsk und so viele andere Städte Mitteleuropas gehörten zu dieser multikulturellen Welt mit einem großen Anteil an jüdischer Bevölkerung, die einst von den polnischen Magnaten auf­ genommen und nur im Westen des Zarenreiches geduldet wurde. Also ein breiter Streifen, der sich von Vilnius zum Schwarzen Meer erstreckt und 1 Zitiert in Antony Polonsky, From Shtetl to Socialism, Liverpool 1993, S. 490.

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später, zwischen Hitler und Stalin eingeklemmt, zum Hauptschauplatz des Churban (jiddisch „Zerstörung“) wurde. Hier lebte vor 1939 die Mehrheit der europäischen Juden. Hier ist der Ort des Schtetl, des typischen jüdischen Städtchens, wenn auch dieser Name, der eine verschwundene Vergangenheit sicher ebenso sehr neu erschafft wie wiederfindet, selbst nichts anderes ist als eine „Laune des Kollektivgedächtnisses“ (Yohanan Petrovsky-Shtern). Dieses schwankt zwischen zwei Vorstellungen: Die eine ist geprägt von Elend, Rückständigkeit, Verfolgung und Pogromen. Die andere, sepiafarbene verklärt die Emanzipation der Juden, das goldene Zeitalter des Schtetl und die Attraktivität, die die kulturellen Kreise in Sankt Petersburg, Berlin, Wien oder Paris in den Jahren 1890 bis 1930 auf die „Ostjuden“ ausgeübt haben, wovon die Faszination eines Martin Buber für den Chassidismus oder die große Bekanntheit eines Marc Chagall Zeugnis ablegen. Nach 1989 erlaubte die Renovierung alter jüdischer Viertel wie Kazimierz in Krakau über den Abgrund hinweg wieder an diese Vergangenheit anzuknüpfen. Krakau und Łodź haben ihre Festivals jüdischer Kultur, Tscherniwzi sein Poesiefestival. Die Nostalgie dauert an. Das Onlineportal Virtual Shtetl bietet minutiöse Rekonstruktionen an und beginnt nicht der Film A Serious Man der Coen-Bruder mit einer sexologischen Beratung eines jüdisch-amerikanischen Universitätsprofessors bei einem Rabbiner eines Fantasieschtetls? Galizien im Roman Radetzkymarsch (1932) von Joseph Roth oder in Lektion in einer toten Sprache (1977) von Andrzej Kuśniewicz ist seit Langem ein „legendäres“ Land, in dem Polen, Juden, Ukrainer, Österreicher zusammenlebten. Während die Historiker versuchen, diese Darstellungen zu nuancieren, war die dritte Generation, die sich auf die Spuren ihrer Großeltern begab, die sie nicht gekannt hat, manchmal erstaunt, eine seltsame andersartige Welt zu entdecken, worüber sich Jonathan Safran Foer in seinem burlesken Roman Alles ist erleuchtet (2002) amüsiert, während Daniel Mendelsohn (Die Verlorenen, 2006) durch seine Familienforschung in alle Weltgegenden geführt wird, bevor er zu guter Letzt das letzte bekannte Versteck seiner Vorfahren findet.

Nachwirkungen Seit 1945 hat das Nachdenken über die Verschwundenen nicht aufgehört. Sie sind der Ausgangspunkt schmerzlicher Fragen und subtiler ästhetischer Experimente bis hin zu den sehr aktuellen Ólafur Elíasson, einem isländisch-­ 146

Die Verschwundenen

dänischen Künstler, und Liza Lim, einer australischen Komponistin, die ihre Inspiration bei Jonathan Safran Foer und Bruno Schulz gefunden haben. Da ist der unauffindbare Buchstabe e in Georges Perecs Anton Foyls Fortgang (La Disparition im französischen Original); da sind die Stolpersteine, die in Deutschland und anderswo in Europa die Namen der jüdischen Bewohner in die Bürgersteige einschreiben; die Gedenkstätte der Schoah mit ihrer Namensliste von 75 000 Deportierten in Paris; die leeren Bücherregale von Micha Ullman, die an die Verbrennung der von den Nazis 1933 verdammten Bücher erinnern, in Berlin; das Stelenfeld des Holocaust-Mahnmals von Peter Eisenman in Berlin; und das schaurige Erlebnis der absoluten Dunkelheit im „The Void“ genannten Raum im Jüdischen Museum Berlin von Daniel Libeskind. Diese Beispiele verpflichten zu ultimativem Nachdenken: Das Gedächtnis der Verschwundenen der Schoah, das zuerst von der jüdischen Gemeinschaft gepflegt wurde, erreichte in den 1970er- und 1980er-Jahren eine weltweite Resonanz und eine beispielhafte Bedeutung, die ihm heute einen dominierenden Platz zuerkennen. Jeder Krieg aber erzeugt seine Verschwundenen, Hunderttausende allein im Zweiten Weltkrieg. Mit seinem Rückkehrer von der Schlacht bei Preußisch Eylau hatte Honoré de Balzac in seinem Oberst Chabert bereits eine bemerkenswerte literarische Gestalt geschaffen. Die Diktaturen, die versucht sind, die Opfer zu vertuschen, lassen ihrerseits all die „großen Friedhöfe unter dem Mond“ zurück, um das antifranquistische Plädoyer von Georges Bernanos zu zitieren. Es handelt sich also um ein besonderes und trotz der möglichen Konkurrenz der Erinnerungen um ein „teilbares“ Gedächtnis. Denn es steht im Einklang mit der Trauer anderer verschwundener Gemeinschaften: den in die UdSSR verschleppten Balten, von denen der Film In the Crosswind von Martti Helde handelt, oder, wenn man über die Grenzen Europas hinausgeht, den im kambodschanischen Genozid Verschwundenen in Rithy Panhs Film Das fehlende Bild.

Literatur Saul FRIEDLÄNDER, Das Dritte Reich und die Juden, aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, 2 Bde., München 1998/2006. Yohanan PETROVSKY-SHTERN, The Golden Age of Shtetl. A New History of Jewish Life in East Europe, Princeteon 2014. http://www.sztetl.org.pl/en/

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Die enttäuschten Hoffnungen Wovon sprechen wir, wenn wir vom Kommunismus sprechen? Im Westen dominiert weiterhin die Erinnerung an eine Utopie und eine zutiefst solidarische Bewegung, im Osten die Erinnerung an den real existierenden Sozialismus zwischen Massenverbrechen und einer absurden Bürokratie, die die alltägliche Erfindungsgabe herausforderte. Die schmerzhafte Exhumierung der Vergangenheit wird von Heimweh nach diesem System begleitet, dessen Zusammenbruch, auch wenn er herbeigesehnt worden war, viele heimatlos zurückließ.

Karl Marx und Friedrich Engels, Wladimir Iljitsch Lenin, Vincas Mickevičius-Kapsukas und Josef Stalin: der Grutas-Park für Plastiken der Sowjetzeit in Druskininkai (Litauen).

Die enttäuschten Hoffnungen

100 Jahre nach der Russischen Revolution wird dieses bedeutende Ereignis der russischen, europäischen und Weltgeschichte in unzähligen Essays und Dokumentarfilmen abgehandelt. Ganz zu Recht, denn in jeder rückblickenden Beurteilung des 20. Jahrhunderts kommt dem Kommunismus ein besonderes Gewicht zu. Vom historischen Gedächtnis des Kommunismus zu sprechen, bleibt dennoch ein riskantes Unterfangen. Von enttäuschten Hoffnungen und traumatischen Erfahrungen bis hin zur „Entzivilisierung“ (Nicolas Werth) – die Erinnerung an den Kommunismus wird von Gefühlen beherrscht, die von der retrospektiven Idealisierung über Melancholie, Schuldgefühl, Verurteilung bis zu tief verwurzelter Ablehnung reichen. Die Vielfalt der Erfahrungen, die unter einem Begriff zusammengefasst ist, kann nicht bestritten werden. Und dennoch tritt der Kommunismus vor dem Tribunal der Geschichte fast immer im Singular auf, während man davon natürlich im Plural sprechen muss.

Kommunismus, Kommunismen Denkt man dabei an eine Utopie oder ihre Realisierungen, an eine politische Theorie oder ein Projekt revolutionärer Umgestaltung, eine soziale Bewegung, eine säkulare Religion, ein politisches Regime, ein Herrschaftssystem, eine Lebensweise? Angesichts dieser Vielfalt scheint jede verallgemeinernde Definition unmöglich. Wenn der Kommunismus – von der sozialistischen Utopie zum historischen Materialismus, von der revolutionären Begeisterung zu ihrem Verrat, von seiner Pervertierung in der Form des real existierenden Sozialismus im Osten zur hybriden Politik des gegenwärtigen chinesischen Kommunismus – zu derart unterschiedlichen Interpretationen Anlass gab, dann eben deshalb, weil er sich in ebenso vielen Formen manifestiert hat. Kurzum: Die Frage „Was bleibt?“, die die ostdeutsche Schriftstellerin Christa Wolf nach dem Fall der Berliner Mauer gestellt hat, hat nichts von ihrer Komplexität verloren, vielleicht auch nichts von ihrer Aktualität angesichts des weltweiten Erfolgs von Thomas Pikettys Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert und der Konsolidierung der radikalen Linken in mehreren Ländern Europas. Die Geografie liefert eine erste Antwort. Wird er im Westen weiterhin als eine Idee und eine Bewegung verstanden, so bleibt der Kommunismus östlich des Eisernen Vorhangs untrennbar mit dem „real existierenden“ 149

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Sozialismus verbunden. Aber auch hier muss man differenzieren. Es ist nicht dasselbe, ob man unter Josip Broz Tito, Erich Honecker, Nicolae Ceaușescu, unter dem „Gulaschkommunismus“ eines János Kádár oder während der Aufbruchstimmung der Solidarność-Bewegung gelebt hat; man war auch nicht ganz derselbe „Homo sovieticus“ (Alexander Sinow­ jew), je nachdem, ob man Russe, Balte oder Ukrainer war und den Bürgerkrieg, den Stalinismus, das relative Tauwetter unter Nikita Chruschtschow, den Immobilismus Leonid Breschnews oder nur die Perestroika Michail Gorbatschows erlebt hat. Diese Generationenunterschiede findet man natürlich auch anderswo, zum Beispiel in Polen, wo die Führungswechsel von ideologischen Neuorientierungen begleitet wurden, so 1956, als Władysław Gomułka den von Bolesław Bierut verkörperten beinharten Stalinismus verabschiedet und eine lokale Variante des Nationalkommunismus eingeführt hat. Zwischen all diesen Varianten existieren Unterschiede, die man unbedingt berücksichtigen muss. Es dauert auch ein spezifischer Habitus fort, von dem die ostdeutsche, von der Außenwelt abgeschirmte Familie in Eugen Ruges Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011, Verfilmung 2017) eine intime und ergreifende Vorstellung vermittelt. Der gemeinsame Nenner bei all dieser Vielfalt ist sicher das „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch): Der Kommunismus blüht oder überlebt je nach Epoche dank der Kraft seines Ideals einer gerechteren Gesellschaft, die die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft hat. Unter seinen entfernteren Quellen kann man sowohl den platonischen Idealstaat nennen als auch einen direkt von den Evangelien inspirierten diffusen Egalitarismus, der in den „ikarischen“ Utopien eines Étienne Cabet in den Jahren 1830 und 1840 durchscheint. Das Wort „Kommunismus“ wird zum ersten Mal während der Französischen Revolution in Zusammenhang mit der Verschwörung der Gleichen des Gracchus ­Babeuf gebraucht. Nach 1820, als die Industrialisierung und eine zügellose Urbanisierung die soziale Ungleichheit erheblich verschärften, eroberte der Kommunismus die politische Theorie. Karl Marx und Friedrich Engels, Stars von Raoul Pecks Film Der junge Karl Marx (2017), veröffentlichten im Februar 1848 ihr Manifest der Kommunistischen Partei, das in alle Sprachen übersetzt wurde und heute im UNESCO-Register Weltdokumentenerbe als eines der großen Dokumente der Menschheit kanonisiert ist. 150

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Oktober: Mythos und Gespenst 69 Jahre nach dem berühmten Anfangssatz des Manifests – „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus“ – ist es dennoch – mehr als die lange politische, soziale und philosophische Geschichte des 19. Jahrhunderts – die Oktoberrevolution, die das neue Gespenst darstellt: in den Worten Derridas die „Fortdauer einer vergangenen Gegenwart […], die Wiederkehr eines Toten, das Wiedererscheinen eines Phantoms, dessen die weltweite Trauerarbeit sich nicht zu entledigen vermag“.1 In der Vergangenheit kündigte der Begriff eine neue Welt an, die die vereinigten Proletarier aller Länder herbeiführen sollten. Die Oktoberrevolution, Anbruch einer neuen Ära für die einen, Katastrophe für die anderen, ist der Schlüssel für diese widersprüchlichen Vorstellungen. Es war aber die Februarrevolution (23. Februar nach dem damals in Russland gültigen julianischen Kalender, also der 8. März), die zum Untergang von Nikolaus II. führte und die dreihundertjährige Dynastie der Romanows stürzte. Während über das ganze Jahr 1917 hinweg Institutionen der direkten Demokratie prosperierten (Sowjets, Fabrikkomitees, Rote Garden), beherrscht allein die Oktoberrevolution mit der Machtergreifung durch die radikalsten und isoliertesten Revoluti­onäre, die Bolschewiki, das historische Gedächtnis. Wladimir Iljitsch Lenin, seit 1924 in seinem Mausoleum am Roten Platz einbalsamiert, hat Alexander Kerenski, den Mann des Februars, in die Geschichtsbücher verbannt, wahrscheinlich, weil sich die Oktoberrevolution von Anfang an mit dem Sturm auf den Winterpalast eine ebenso majestätische und weltweit anerkannte Eröffnung gab wie die Französische Revolution mit dem Sturm auf die Bastille. Noch wahrscheinlicher, weil die Geschichte von den Siegern geschrieben wird und also ein großer Teil unserer Vorstellung der Oktoberrevolution in der Mythenfabrik des Regimes geformt wurde. Das gleichnamige Meisterwerk des russischen Regisseurs Sergei Eisenstein, das 1927 im Eiltempo zum Jahrestag der Revolution gedreht wurde, war – wie übrigens auch Wsewolod Pudowkins Das Ende von Sankt Petersburg – einer der großen Bilderlieferanten der revolutionären Saga. Wie vorher schon der der Revolution von 1905 gewidmete Film 1 Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, aus dem Französischen von Susanne Lüdemann, Frankfurt a. M. 2004, S. 142.

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Panzerkreuzer Potemkin (1925) zeigt und verklärt Oktober mit seinen Großaufnahmen und Massenbewegungen das Volk auf dem Vormarsch und bringt es fertig, die von Kasimir Malewitsch, Anatoli Lunatscharski oder Alexander Rodtschenko symbolisierte Ästhetik der Avantgarde mit dem vom Architekten Josef Stalins, Boris Iofane, vertretenen offiziellen neoklassizistischen Stil zu verbinden. Das Buch Zehn Tage, die die Welt erschütterten des kommunistischen Journalisten John Reed, eines der wenigen US-amerikanischen Staatsbürger, die bis heute im Kreml begraben sind, zeigt, dass die ganze Welt dieser Faszination erlag.

Erinnerungen der Genossen Obwohl die erwartete Osmose zwischen der Arbeiterklasse und dem kommunistischen Projekt nicht zustande kam und trotz der von A bis Z erfundenen Mythologie des „Stachanowisten“, dieses Helden der Arbeit im Dienst der Gesellschaft, übte der Marxismus im Lauf des 20. Jahrhunderts besonders auf die Intellektuellen- und Künstlerkreise eine große Anziehungskraft aus. Weit über die Grenzen Europas hinweg verführte das Versprechen der Gleichheit zu einer Zeit, als der Antikolonialismus und Antiimperialismus ihren Höhepunkt erreichten und der Antiamerikanismus durch das Schauspiel des McCarthyismus in den Vereinigten Staaten noch verstärkt wurde, einen Richard Wright, eine Angela Davis, einen Frantz Fanon. Die Kulturgeschichte der 1920er-Jahre bewahrt die Erinnerung an die ersten Weggenossen der III. Internationale, die Literaturgeschichte Frankreichs die an das Zerwürfnis der französischen Surrealisten, die deutsche Literatur die an den Dramatiker Bertolt Brecht, einen regelrechten „Troubadour der GPU“ (Ruth Fischer), dessen von Hanns Eisler musikalisch untermaltes Agitpropstück Die Maßnahme (1930) den Chor „Lob der Partei“ enthält, in dem man vergeblich nach der geringsten Ironie sucht: „Der Einzelne hat zwei Augen / Die Partei hat tausend Augen.“ 2 Es lebt auch die Erinnerung an die großen Mobilisierungen der Intellektuellen im Namen des Antifaschismus fort, die nach 1933 in mehreren europäischen Ländern – mit Ausnahme Nazideutschlands – von Paris bis Prag ihre größte Ausbreitung fanden. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Aura des Stalinismus 2 Bertolt Brecht, Lob der Partei, in: Die Maßnahme, Frankfurt a. M. 1972 [1930], S. 90.

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mit dem Sieg der Roten Armee über das „Dritte Reich“ ihren Höhepunkt erreichte, verzeichnete man die stärkste Welle von Parteibeitritten und die größte Anzahl intellektueller Weggenossen des Kommunismus. Der Mobilisierung des russischen Nationalismus im Namen des „Großen Vaterländischen Kriegs“ entsprach außerhalb Russlands das Erstarken des durch die geteilte Erfahrung des Exils verstärkten internationalistischen Engagements. Anna Seghers, Bertolt Brecht und auch Stefan Heym entschieden sich bei ihrer Rückkehr nach Deutschland für die sowjetische Besatzungszone. Zwar wurde manchen (wie Mihail Sadoveanu in Rumänien oder Jerzy Andrzejewski in Polen) Opportunismus vorgeworfen, doch kann das kommunistische Engagement im Namen der Zukunft nicht verstanden werden, ohne die Vergangenheit mit in Betracht zu ziehen. Das gilt insbesondere für Tadeusz Borowski, Auschwitz-Überlebenden und eine der ersten Stimmen der Lagerliteratur, der seinen Beitrag in einem Land, Polen, leistete, in dem sich die Legitimierung eines Regimes, das „im Gepäck der Roten Armee angekommen war“, aufgrund der alten, durch das Trauma des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts verstärkten antirussischen Ressentiments als besonders problematisch erwies. Czesław Miłosz widmet dem komplexen Fall Bobrowski in Verstörtes Denken (1953) ein irritierendes Porträt. Während Moskau in den Jahren 1945–1949 im Osten gleichgeschaltete Regime installierte, wandten sich im Westen Jahrzehnte später zahlreiche Zeugen und Protagonisten von der „Vergangenheit einer Illusion“ (François Furet 1996), an die sie selbst geglaubt hatten, ab und fragten sich, wieso die Nachkriegsgeneration, die ihre, zur Zeit des triumphierenden Stalinismus so empfänglich für den Gesang der Sirenen des Kommunismus gewesen ist. In der Tat schloss sich eine ganze Reihe neuer Mitglieder den kommunistischen Parteien an, die 1945/46 die meisten Beitritte verzeichneten; die kommunistische Idee strahlte in jenen Jahren eine unvergleichliche Aura aus. Die Partei wie auch das gewerkschaft­ liche Leben, das damit einherging, boten allen ihren Mitgliedern den „roten Faden“ (Marie-Claire Lavabre) der kleinen und großen Erzählungen, die die Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg strukturierten. Der Wechsel eines Teils der kommunistischen Wählerschaft zur extremen Rechten (Front National in Frankreich, AfD in Deutschland und andere) oder die Stimmenthaltung, die in Didier Eribons Rückkehr nach Reims 153

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thematisiert werden, sind maßgeblich auf die Auflösung dieses sozialen Netzwerks zurückzuführen. In Frankreich, wo die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) 800 000 Mitglieder zählte und bei den Parlamentswahlen 1945 28 Prozent der Stimmen erhielt (stärkste Partei Frankreichs), und in Italien, wo die Kommunistische Partei Italiens (KPI) 500 000 Mitglieder aufwies, erlaubte das äußerst aktive Engagement im Dienst einer fortschrittlichen Ideologie einer ganzen Generation, das „past imperfect“ (Tony Judt) der kleinen und großen Niederträchtigkeiten in den Jahren der deutschen Besatzung zu verdrängen. Es war ein billiges Heldentum, da Moskau weit weg war, die Weltrevolution nicht so nah wie verkündet und die lokalen, selbst mächtigen kommunistischen Parteien von der Machtausübung durch die Gaullisten, die Reformsozialisten oder die Christdemokraten bequemerweise ausgeschlossen wurden. Die westeuropäischen kommunistischen Parteien verdrängten die Erinnerung an die düsteren Jahre des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts und rühmten sich ihres Heroismus in der Résistance wie zum Beispiel die KPF, die für sich beanspruchte, „die Partei der 75 000 Erschossenen“ zu sein. Von den Existenzialisten in Saint-Germain-desPrés bis zu den italienischen Neorealisten bleibt die Nachkriegszeit überall als die Blütezeit der Unterstützung der Kommunisten durch Intellektuelle und Künstler in Erinnerung. Der Manichäismus des Kalten Kriegs – „Wer gegen den Kommunismus ist, ist für den Faschismus“ – verstärkte den Zwang, sich zu entscheiden, was die kommunistischen Parteien auszunutzen verstanden. Pablo Picasso ist eine dieser Figuren. Zu den großen, von der Sowjetunion inszenierten Manifestationen steuerte er seine Berühmtheit und das Symbol des freien, aber exilierten republikanischen Spanien bei. Zur selben Zeit verkörperte Jean-Paul Sartre den engagierten Schriftsteller, der seine Kritik an Albert Camus verschärfte, alles betonte, was ihn nunmehr von seinem früheren Kommilitonen Raymond Aron trennt. Das Diktum „Lieber mit Sartre irren als mit Aron recht haben“ bleibt das Zeichen einer freiwilligen Verblendung, die auch durch das riesige Stalin-Porträt vor der Parteizentrale der KPF nach dem Tod des obersten Führers der UdSSR im Jahr 1953 symbolisiert wird. Die Topografie der französischen Städte, insbesondere der kommunistischen Gemeinden, ist noch von dieser Begeisterung geprägt: Métro Stalingrad in Paris, Avenue Thorez und Boulevard 154

Die enttäuschten Hoffnungen

Lénine im „roten Gürtel“, öffentliche Gebäude, deren Stil sofort erkennbar ist, wie das gewaltige Rathaus von Montreuil. Den überzeugtesten Anhängern gingen nur sehr langsam die Augen auf. Nach dem Prager Aufstand 1968 vollzogen Yves Montand und Simone Signoret eine Kehrtwendung, die sie dazu führte, in Costa-Gavras’ Film Das Geständnis zu spielen, nach dem Buch von Artur London, dem Parteiführer, der dem Schauprozess gegen den Generalsekretär der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, Rudolf Slánský, in den dunkelsten Jahren des Stalinismus nur knapp entkam. Wie den Philosophen Louis Althusser und den britischen Historiker Eric Hobsbawm veranlasste die Treue zum marxistischen System und zur revolutionären Hoffnung viele Intellektuelle dazu, die Verbrechen der Warschauer-Pakt-Regime zu verharmlosen. „Unabhängig von seinen Schwächen bewies die pure Existenz [der UdSSR], dass der Sozialismus mehr als ein Traum war“,3 erklärte Hobsbawm. Der 1966 aus der Polnischen Kommunistischen Partei ausgeschlossene Philosoph Leszek Kołakowski, Autor des meisterhaften Werks Die Hauptströmungen des Marxismus (1976), versuchte, den Historiker Edward P. Thompson zur Vernunft zu bringen: „Die vollkommene Gleichheit kann nur in einem despotischen System in die Praxis umgesetzt werden, das Privilegien impliziert und also die Gleichheit zerstört; die vollkommene Gleichheit bedeutet Anarchie und Anarchie führt zur physischen Herrschaft der Stärksten, das heißt, die völlige Freiheit führt zu ihrem Gegenteil […]. Ich wiederhole diese Binsenweisheiten, weil sie das utopische Denken nie in Betracht zu ziehen scheint. Deshalb ist auch nichts einfacher als Utopien zu verfassen […]. Ich habe nie etwas von den Versuchen gehalten, die kommunistische Idee zu verbessern, zu erneuern, zu reinigen oder zu korrigieren. Es ist leider eine schlechte Idee. Ich wusste es, Edward. Der Leichnam wird nie mehr lächeln.“4

Das Gedächtnis der Brüche Das Image der Oktoberrevolution wie das des 14. Juli in Frankreich verdunkelten sich sehr bald nach dem Ausbruch von Gewalt und der sich 3 Zitiert in Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, München 2010, S. 129. 4 Leszek Kołakowski, My Correct Views on Everything, in: The Socialist Register, Nr. 11, 1974, S. 20.

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anschließenden Spirale des Terrors in Russland wie in Frankreich nach dem Sturz des Ancien Régime. Es trübte sich auch wegen der offensichtlichen Diskrepanz zwischen den proklamierten Zielen von Gleichheit und Brüderlichkeit und den dafür eingesetzten Mitteln. Die Diktatur des Proletariats, die im Namen der Emanzipation der Arbeiter und Bauern errichtet wurde, sollte ein provisorischer Zustand sein, dauerte jedoch an – dies war der Preis, der von seinen treuesten Anhängern für den revolutionären Glauben, von den Rebellen der ersten Stunde und den Dissidenten, die im Lauf des Jahrhunderts ihre früheren Illusionen aufgegeben haben, für den ungeheuerlichen Missbrauch bezahlt werden musste. Seit seinen Anfängen entzweit der revolutionäre Mythos die öffentliche Meinung und zwingt die Arbeiterorganisationen um den Preis tödlicher Zerwürfnisse dafür oder dagegen Stellung zu beziehen. Die Spaltung zwischen den „Hütern des alten Hauses“, wie es Léon Blum auf dem Kongress von Tours 1920 formuliert hatte, und der selbst ernannten Avantgarde der kommunistischen Revolution vollzog sich durch Abstimmung oder blutig auf dem Kongress von Tours in Frankreich beziehungsweise in der spartakistischen Revolution in der Weimarer Republik und im Ungarn Béla Kuns. Logischerweise haben in Russland die Machteroberung durch die Bolschewiki und die Einführung des Kriegskommunismus sofort ein gegensätzliches Gedächtnis hervorgebracht. Es wurden jenseits der Grenzen von den Exilrussen, besonders den „Weißrussen“, bewahrt, deren Zentren Paris, München und Berlin waren. Vor Ort entstanden angesichts der Hungersnot und der Gewaltherrschaft sowie der Informationen, die über die Verbrechen der Tscheka durchsickerten, die ersten belastenden Zeugnisse der Regimegegner. „Die Revolution ist tot, ihr Geist brüllt in der Wildnis“, vertraute der russische Anarchist Alexander Berkman, der aus seinem antizaristischen Exil in Amerika ins bolschewistische Russland zurückgekommen war, das er fast unverzüglich für ein neues Exil verließ, seinem Tagebuch an5. Außerhalb Russlands mehren sich die Stimmen ebenfalls. Der italienische Schriftsteller Ignazio Silone, ehemaliger Mitarbeiter des Komintern, Zeuge der Unterwerfung des Parteiapparats und des Staates durch Stalin, 5 Alexander Berkman, Der bolschewistische Mythos. Tagebuch aus der russischen Revolution 1920–1922, aus dem Englischen von Marc-André Pippinger, Frankfurt a. M. 2004 [1925].

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gehörte zu diesen. André Gide in Frankreich unterzeichnete mit seinem Zurück aus Sowjetrussland (1936) seine Exkommunikation durch die Verehrer Stalins. Für die Ausarbeitung einer antikommunistischen Argumentationsstrategie waren die Moskauer Prozesse 1936–1938 besonders wichtig. Zum unerhörten Ausmaß der Repression kam die absichtsvoll theatralische Inszenierung des Schauspiels der Diktatur. Das stalinsche Regime setzte die Entfaltung des Terrors bewusst in Szene. Die Feinde der neuen sowjetischen Ordnung, wirkliche Oppositionelle oder rein imaginäre Gegner, wurden systematisch verurteilt und zu Hunderttausenden hingerichtet, während Millionen Deportierte die Häftlingszahlen des Gulags in die Höhe schraubten. Die Ermordung Leo Trotzkis in Mexiko 1940 bewies der Welt, dass niemand bis zu den entlegensten Ecken der Welt dem langen Arm Stalins entkam. Die große Säuberung, die den Bruch zwischen dem Kommunismus stalinscher Ausrichtung und den Intellektuellen der westlichen Welt besiegelte, leitete die Suche nach einer neuen politischen Identität ein, die sich als antitotalitäre Kritik manifestierte. „Heute“, schrieb José Ortega y Gasset im Vorwort zur französischen Ausgabe von Der Aufstand der Massen 1937, „verspricht die Rechte Revolutionen und die linken Kräfte propagieren Tyranneien“.6 Ebenfalls 1937 verfasste der polnisch-jüdische Schriftsteller Manès Sperber in Paris den Essay Zur Analyse der Tyrannis, der ein Jahr später in der Zeitschrift der exilierten Nazigegner Die Zukunft erschien. Diese wurde vom Deutschen Willi Münzenberg und vom Ungarn und bald naturalisierten Briten Arthur Koestler herausgegeben. Koestler arbeitete zwischen 1938 und 1940 an seinem Roman Sonnenfinsternis, der vom Prozess gegen einen überzeugten, zur Selbstkritik gezwungenen Kommunisten namens Rubaschow handelt. Das Konzept des Totalitarismus, das nicht eine Darstellung des hitlerschen oder stalinschen Regimes im Besonderen beabsichtigt, sondern deren Gemeinsamkeiten aufdecken will, erfährt seine größte Verbreitung zu Beginn des Kalten Kriegs. Bekannt geworden durch die Arbeiten Hannah Arendts und den Zukunftsroman 1984 von George Orwell, drückt es der Adaption von Franz Kafkas Prozess durch Orson Welles im Jahr 1962 den Stempel auf. Wassili Grossmans Leben und 6 Vgl. Le Totalitarisme. Le XXe siècle en débat, textes choisis et présentés par Enzo Traverso, Paris 2001, S. 151.

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Schicksal (1962 abgeschlossen, 1980 in der Schweiz veröffentlicht) ist deshalb besonders brisant, weil der Autor, vorher offizieller sowjetischer Schriftsteller, Stalingrad wählte, um Stalinismus und Hitlerismus auf eine Stufe zu stellen, wenn auch das Konzept des Totalitarismus im Roman natürlich nicht vorkommt … Zwischen „Traum und Trauma“ (Karl Schlögel) bleibt der „rote Terror“ (Jörg Baberowski) ein Stein des Anstoßes. In den Jahren 1990–2000 erschienen mehr Publikationen über die großen Moskauer Prozesse als über 1917. Der wiederholte Bezug auf die Säuberungen nach 1945 – nun an den Politikern der Länder vollzogen, die dank des Vormarsches der Roten Armee dem sowjetischen Machtbereich zufielen (Bulgarien, Ungarn, Rumänien, Polen, DDR, Tschechoslowakei, die baltischen Staaten) – ruft die äußerst repressive Natur des Regimes des „Väterchens der Völker“ in Erinnerung. Während der ostdeutsche Überläufer Wolfgang Leonhard und einige andere – der Belgier Victor Serge, der Russe Wiktor Krawtschenko – beschreiben, wie die Revolution „ihre Kinder entlässt“, und die Erzählungen aus der Kolyma von Warlam Schalanow in den 1960er-Jahren heimlich in den Westen gelangen, spiegeln Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch (1962), die Verleihung des Nobelpreises 1970 und die Publikation des Archipel Gulag in Paris 1973 mehrere Schlüsselmomente in der Geschichte der Auflösung der Sowjetunion. Während sich im Osten die sowohl reelle wie symbolische Kluft zwischen „ihnen“ (der Nomenklatura) und „uns“ (dem Rest der Bevölkerung), zwischen offizieller Geschichte und Gegengedächtnis vertieft, verläuft der Erkenntnisprozess im Westen schrittweise in der Folge des Prager Februarumsturzes (1948), der Unterdrückung des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 in Ostberlin und besonders der Aufstände in Budapest 1956 und in Prag 1968. In Westdeutschland wird 1956 die kommunistische Partei, die KPD, verboten; nach den Prager Ereignissen 1968 entwickeln die italienische, spanische und französische KP, ausgehend von der Kritik des sow­ jetischen Kommunismus, die Theorie des „Eurokommunismus“; in den 1970er-Jahren rückt eine ganze Reihe antistalinistischer (und KPF-kritischer) linker Gruppierungen in den Vordergrund. Ab 1980 symbolisiert Solidarność weit über Polen hinaus den entscheidenden Durchbruch. Das Ende des Kalten Kriegs eröffnet natürlich eine Phase, in der eine umfassende Bilanz des Kommunismus und Stalinismus erstellt wird, wobei natürlich der Gebrauch des einen oder des anderen Begriffs nicht 158

Die enttäuschten Hoffnungen

wertfrei ist. Diese kritische Bilanz ist Teil einer Gesamtschau des 20. Jahrhunderts, was zwangsläufig zu einem Vergleich mit Faschismus und Nazismus führt. In diesem Zusammenhang wird das Opfer zur zentralen Figur einer neuen Beziehung zur Vergangenheit. Das von einem französischen Forscherteam anlässlich des 80. Jahrestags der Revolution von 1917 veröffentlichte und in über einer Million Exemplaren weltweit verkaufte Schwarzbuch des Kommunismus bestätigt diese Neuorientierung. Neben der eindrucksvollen Sammlung von Dokumenten erklärt vor allem die Gegenüberstellung der Opferzahlen der zwölf Jahre Nationalsozialismus und der 80 Jahre des internationalen Kommunismus durch einen der Autoren, Stéphane Courtois, den Skandal, den das Schwarzbuch ausgelöst, und den Erfolg, den es erzielt hat.

Jenseits von Schwarz und Weiß In allen ehemaligen sogenannten Ostblockstaaten kam es während der gesamten 1990er-Jahre in unterschiedlichem Ausmaß zur juristischen Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und der Einrichtung entsprechender Institutionen. Über die strafrechtliche Verurteilung gewisser führender Politiker hinaus löste die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erregte Debatten über die politische Instrumentalisierung von Forschung und Justiz sowie über den Grad der Beteiligung der Gesellschaft am Unterdrückungssystem der Diktaturen aus, eine brennende Frage, die in Das Leben der Anderen (2006) filmisch umgesetzt wurde. Wie im Film von Florian Henckel von Donnersmarck entwickelte sich aus demselben Kontext heraus eine Tendenz, die kommunistische Vergangenheit jenseits von Gut und Böse zu interpretieren, um anders als in den für den Kalten Krieg typischen Schwarz-Weiß-Darstellungen sämtliche Facetten des Alltagslebens und der menschlichen Anpassungsfähigkeit zu berücksichtigen. Symptom dieser neuen Betrachtungsweise: Dem Reflex des Niederreißens wie im Fall des Palasts der Republik in der DDR folgte eine differenziertere Beurteilung der sozialistischen Architektur, vom Kulturpalast in Warschau über die großen Wohnanlagen in allen Städten des ehemaligen Ostblocks bis zum Haus des Volkes in Bukarest. Ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis dieser Situation besteht darin, das Gedächtnis der alltäglichen Gefühlswelt und der trotz aller sozialen Kontrolle zugestandenen individuellen Freiheitsräume zu hin159

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terfragen. Wie kann man sonst die Treue zum Ideal ehemaliger, während 20 Jahren im Gulag gefangener Komintern-Funktionäre wie des Deutschen Walter Ruge, „Häftling Nr. 8403“, oder von Jacques Rossi, französisch-polnisch-italienischer Herkunft, verstehen? Wie kann man die „Ostalgie“ der 1990er-Jahre verstehen, die im Film Good Bye, Lenin von Wolfgang Becker ihren komprimierten Ausdruck gefunden hat? Wie kann man verstehen, dass Wladimir Putin 1991 die Auflösung der UdSSR als „größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen konnte? Das europäische Gedächtnis des Gulags nimmt heute – nach der Periode der pauschalen Verurteilung – die Fülle der Erfahrungen auf, wobei es das Wort den unmittelbar Betroffenen überlässt. In ihrem großen mehrstimmigen Requiem Secondhand-Zeit (2013)7, das ihr zwei Jahre später den Nobelpreis einbrachte, stellt Swetlana Alexijewitsch Fragen „nicht über den Sozialismus, sondern über die Liebe, die Eifersucht, die Kindheit, das Alter. Über die Musik, das Tanzen, den Haarschnitt. Über Tausende Einzelheiten eines Lebens, das verschwunden ist.“

Literatur Elisabeth ANSTETT und Luba JURGENSON (Hg.), Le Goulag en héritage. Pour une anthropologie de la trace, Paris 2009. Anne APPLEBAUM, Der Gulag, aus dem Englischen von Frank Wolf, Berlin 2003. Anne APPLEBAUM, Der Eiserne Vorhang: Die Unterdrückung Osteuropas 1944–1956, aus dem Englischen von Martin Richter, München 2013. Archie BROWN, Aufstieg und Fall des Kommunismus, aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Berlin 2009. Stéphane COURTOIS (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München/Zürich 1998. György DALOS, Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2001. Jerzy HOLZER, Der Kommunismus in Europa: Politische Bewegung und Herrschaftssystem, Frankfurt a. M. 1998. Tony JUDT mit Timothy SNYDER, Nachdenken über das 20. Jahrhundert, aus dem Englischen von Matthias Fienbork, München 2013. 7 Swetlana Alexijewitsch, Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus, aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Berlin 2013. Das folgende Zitat ist der vierten Umschlagsseite der französischen Ausgabe entnommen.

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Gerd KOENEN, Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Berlin 1998. Pavel KOLAŘ, Der Poststalinismus. Ideologie und Utopie einer Epoche, Köln 2016. Marie-Claire LAVABRE, Le fil rouge. Sociologie de la mémoire communiste, Paris 1994. Marc LAZAR, Maisons rouges. Les partis communistes français et italien de la Libération à nos jours, Paris 1992. Richard PIPES, Kommunismus. Kleine Weltgeschichte, Berlin 2013. Martin SABROW (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009. Karl SCHLÖGEL, Terror und Traum: Moskau 1937, München 2008. Paweł ŚPIEWAK, Pamięć po komunizmie, Gdańsk 2005. Enzo TRAVERSO, Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition, aus dem Französischen von Elfriede Müller, Münster 2019. Nicolas WERTH, La Russie en révolution, Paris 1997. Alexei YURSCHAK, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Ge­ neration, Princeton 2005.

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Der Dissident – derjenige, der in der Wahrheit lebt Als Vertreter der Opposition gegen den Staatskommunismus in den osteuropäischen Ländern und der Sowjetunion halfen Dissidenten, die „kommunistische Illusion“ im Westen zu entlarven und die ­Berliner Mauer zu Fall zu bringen.

„Danke Andrei Sacharow“: Wandbild von Dmitri Wrubel an der East Side Gallery in Berlin-Friedrichshain.

Der Dissident – derjenige, der in der Wahrheit lebt

„Dilexit veritatem“ – so lautet die Grabinschrift des französischen Historikers und Résistance-Kämpfers Marc Bloch. Blochs „Wahrheitsliebe“ wurde auch von Winston Smith, dem Protagonisten in George Orwells dystopischen Roman 1984 (1949), geteilt. Darin positioniert sich dieser gegen den „Großen Bruder“ und dessen „Gedankenpolizei“, um an eine unverfälschte Darstellung der Vergangenheit zu gelangen. Ein ähnlicher Kampf ließ sich nach 1945 im unter sowjetischem Einfluss stehenden Osteuropa beobachten. Dort wehrten sich politische Oppositionelle, Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler gegen die kommunistischen Parteieliten, die für sich das alleinige Recht beanspruchten, über richtig und falsch zu entscheiden. Westliche Intellektuellen übernahmen ab den 1960er-Jahren den Begriff des Dissidenten, der bis zu dieser Zeit die radikalen englischen Protestanten kennzeichnete, die im 17. Jahrhundert eine Unterwerfung unter die anglikanische Kirche ablehnten, und gaben ihm eine neue Bedeutung.

Die, die auf der Wahrheitssuche sind Dabei ließen sich dissidentische Aktionen bereits in den 1950er-Jahren beobachten, wobei einer der Ersten aus der kommunistischen Führungsreihe kam: 1956 kritisierte Nikita Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU öffentlich die stalinistischen Verbrechen und leitete damit die Tauwetterperiode in den ostmitteleuropäischen Staaten ein. Als Oberhaupt der kommunistischen Familie(n) konnte er sich den Ikonoklasmus erlauben, ganz im Gegenteil zum jugoslawischen Parteiideologen Milovan Djilas, einem Prototyp des Dissidenten. Noch 1948 oblag es ihm, die Kremlverantwortlichen über Jugoslawiens Blockfreiheit zu unterrichten, womit er seine eigene dissidentische Feuertaufe absolvierte. Der Bruch mit dem einstigen Weggefährten Josip Broz Tito erfolgte nach einer Reihe systemkritischer Aufsätze Djilas’, in denen er den Nepotismus und die Korruption des kommunistischen Jugoslawiens offenlegte. Seine Problemanalyse, die er in Die neue Klasse (1957) vertiefte, führte zu seinem Ausschluss aus der politischen Elite und brachte ihm langjährige Haftstrafen ein. Dissidenten wie Djilas waren in der Regel überzeugte Anhänger linker Ideen, weshalb sie den Begriff Dissidenz eher kritisch betrachteten, schließlich waren es in ihren Augen nicht sie, die vom Pfad abgekommen 163

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waren. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus versuchten sie, korrigierend auf die offensichtlichen Mängel des Systems einzuwirken, was ihnen jedoch als konterrevolutionär ausgelegt wurde. Besonders schmerzhaft war die Erfahrung Alexander Dubčeks: Der Reformkommunist und tschechoslowakische Parteichef vertrat einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, der die Notwendigkeit zur Selbstkritik der Partei betonte. Seine Idee starb während des Prager Frühlings 1968 mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen. Dubček selbst wurde in der Folge aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und zum Forstverwalter degradiert.

Echo im Westen Das Schicksal der osteuropäischen Dissidenten wurde auch im westlichen Europa und hier insbesondere innerhalb der Linken stark rezipiert, wobei die Meinungen auseinandergingen: Während die einen die Dissidenten als mutige Kämpfer sahen, stellte ihr Martyrium für die anderen ein notwendiges Opfer für die marxistische Revolution dar. So begrüßte der Studentenführer Rudi Dutschke zwar Dubčeks Reformversuch, distanzierte sich jedoch von all denjenigen Dissidenten, die das System selbst überwinden wollten. Doch den Dissidenten wurde auch Solidarität zuteil: Als sich Daniel Cohn-Bendit 1969 wegen Landfriedensbruch in der Bundesrepublik vor Gericht verantworten musste, gab er seinen Namen mit „KurońModzelewski“ an. Die polnischen Historiker Jacek Kuroń und Karol ­Modzelewski waren zuvor für ihre marxismuskritische Schrift Monopolsozialismus (1964) zu Haftstrafen und Berufsverboten verurteilt worden. Mit seiner Geste schaffte Cohn-Bendit einen – wenn auch kleinen – blockübergreifenden Erinnerungsort der europäischen Linken. Neben solchen Solidaritätsbekundungen war der Westen auch als Forum für die Dissidenten von großer Bedeutung, was in einer Szene des oscarprämierten Films Das Leben der Anderen (2006) illustriert wird: Der Protagonist Georg Dreyman, ein bis dahin linientreuer Theaterdramaturg, beschließt für das westdeutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel einen Beitrag über die hohe Suizidrate in der DDR zu schreiben. Tatsächlich wählten viele Dissidenten den (gefährlichen) Weg über die Westpresse, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, wobei sie nicht nur in 164

Der Dissident – derjenige, der in der Wahrheit lebt

den großen Leitmedien, sondern auch in eigens für sie gegründeten Zeitschriften (zum Beispiel die von François Maspero in Paris gegründete L’Alternative) publizierten. Von enormer Bedeutung war auch die Veröffentlichung von im Ostblock zensierter Literatur, vor allem Alexander Solschenizyns Archipel Gulag, das erstmalig 1973 in Paris erschien. In seinem Monumentalwerk beschreibt der sowjetische Dissident eindringlich das Straflagersystem unter Josef Stalin und sorgte damit insbesondere bei den Linksintellektuellen Frankreichs für eine kritische Revision ihrer „kommunistischen Illusion“ (François Furet). Der hohe Druck der Machthaber auf die Dissidenten äußerte sich nicht selten in Ultimaten, die sie vor die Entscheidung zwangen, zwischen „Freiheit in der Emigration oder Gefängnis im Heimatland zu wählen“1 (Adam Michnik). Dem Liedermacher Wolf Biermann blieb diese Entscheidung erspart: Aufgrund seiner Kritik am SED-Apparat wurde bereits infolge des sogenannten Kahlschlagplenums 1965 ein DDR-weites Auftritts- und Veröffentlichungsverbot gegen ihn verhängt. Während einer Konzertreise in der Bundesrepublik 1976 wurde er in absentia ausgebürgert. Wie sehr ihn die Erfahrung der Diktatur prägte, äußerte sich 2014 bei der Gedenksitzung des Deutschen Bundestags anlässlich des Mauerfalls 25 Jahre zuvor: Bei seinem Konzert nutzte er das Forum, um die Partei Die Linke (hervorgegangen aus der SED-Nachfolgepartei PDS) als „Drachenbrut“ zu diffamieren.

Die Macht der Hilflosen Ein Schlüsselereignis für die Dissidenten stellte 1976 die Helsinki-­ Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa dar, die mit ihren Menschenrechtsbeschlüssen die „Renaissance der Zivilgesellschaft“ ­(Jacques Rupnik) in Ostmitteleuropa stimulierte. Dazu zählte unter anderen die Menschenrechtsbewegung Charta 77 um Dissidenten wie Jiří Hájek und Václav Havel, die sich anlässlich des Verbots gegen die Band Plastic People of the Universe organisierte. Havel, eigentlich Theater­ dramaturg, der sich aufgrund der Zensur unter anderem als Hilfsarbeiter 1 Elżbieta Matynia, An Uncanny Era. Conversations between Václav Havel and Adam ­Michnik (2014), S. 100.

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in einer Brauerei verdingte, verfasste Schlüsseltexte wie Power of the Powerless, in denen er sich für das „Leben in der Wahrheit“ aussprach. Der Text, der auch in dissidentischen Kreisen außerhalb der Tschechoslowakei gelesen wurde, war infolge geheimer Treffen polnischer und tschechoslowakischer Dissidenten auf dem offiziell als „Pfad der Freundschaft“ deklarierten Wanderweg im Riesengebirge entstanden. Die Dissidenten wirkten zudem auch als intellektuelle Strategen der Opposition. So entwarfen der polnische Historiker Adam Michnik in Der neue Evolutionismus (1976) sowie der ungarische Autor György Konrád in Antipolitics (1984) die Leitlinie, dass die Opposition ihren Fokus nicht auf die Machtergreifung, sondern auf die Etablierung inoffizieller Strukturen und gesellschaftliche Selbstorganisation richten sollte. Zudem wirkten die Dissidenten als wichtiges Korrektiv, das geschichtliche Ereignisse faktentreu wiedergab, während Parteiideologen unliebsame Passagen aus der jeweiligen Nationalhistorie verfälschten oder tabuisierten. So thematisierten die Dissidenten in klandestinen Seminaren oder im Samizdat Ereignisse wie das Massaker von Katyń oder die Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach 1969. Wie stark die „Machtlosen“ mit der Zeit wurden, zeigte unter anderem das Schicksal des Wissenschaftlers Andrej Sacharow, einer weiteren Ikone der sowjetischen Dissidenz. Seit den 1960er-Jahren engagierte sich der Miterfinder der Wasserstoffbombe öffentlich für eine nukleare Abrüstung und die Einhaltung der Menschenrechte, wobei er insbesondere die gängige Praxis in der Sowjetunion, Regimegegner in psychiatrische Anstalten zwangseinzuweisen, anprangerte. Ab 1980 lebte er im damaligen Gorki (dem ehemaligen und heutigen Nischni Nowgorod) in der Verbannung. Die überraschende Aufhebung seiner Strafe 1986 wurde von vielen als Vorbote sowjetischer Glasnost und Perestrojka gewertet. Der seit 1988 alljährlich vom Straßburger Parlament verliehene EUMenschenrechtspreis trägt seinen Namen.

Das Erbe der Dissidenz Der Einsatz der Dissidenten für individuelle Entfaltungsmöglichkeiten und gegen Zensur erinnerte aufgrund des scheinbar übermächtigen Gegners an den Kampf Don Quijotes gegen die Windmühlen, doch war es genau diese Mischung aus Anstand, Leidensfähigkeit und Beharrlichkeit, 166

Der Dissident – derjenige, der in der Wahrheit lebt

mit der sie (gepaart mit Détente-Politik und den systeminhärenten Schwächen des Ostblocks) peu à peu zur Perforation des Eisernen Vorhangs beitrugen und die friedlichen Revolutionen des Jahres 1989 möglich machten. Als moralische Autoritäten bekleideten einige von ihnen in der Nachfolgezeit wichtige politische Ämter und scheiterten an den Herausforderungen der jungen Demokratien, in denen es nicht mehr um den Kampf gegen einen einzelnen Gegner ging, sondern Schwierigkeiten wie die Umstellung auf eine freie Marktwirtschaft oder der Umgang mit kommunistischen Verbrechen bewältigt werden mussten. Heroen der dissidentischen Bewegung wie der Gewerkschaftsführer und spätere Staatspräsident Lech Wałęsa beschädigten so in ihren Heimatländern ihr positives Bildnis, was unter anderem an der „Affäre Bolek“, also der kritischen Begutachtung einer potenziellen Zusammenarbeit Wałęsas mit dem polnischen Sicherheitsdienst vor 1989, zu sehen ist. Versuche wie die Hommage des Wałęsa-Freundes und Meisterregisseurs Andrzej Wajda in Form des Biopics Wałesa. Mann aus Hoffnung (2013) konnten daran nur wenig ändern. Trotz aller politischen Kontroversen um seine Person wird er im Ausland als einer der Wegbereiter eines vereinten Europas verehrt, was sich an den Feierlichkeiten 2009 anlässlich des Mauerfalls 20 Jahre zuvor beobachten lässt: In einer symbolischen Zeremonie vor dem Brandenburger Tor war es dem Ehrengast Wałesa vorbehalten, den ersten überlebensgroßen Dominostein zu Fall zu bringen, eine Allegorie auf den polnischen Beitrag zum Sieg über den Kommunismus und zur deutschen Wiedervereinigung. Es wäre zu fragen, ob die Figur des Dissidenten mit dem Fall des Eisernen Vorhangs obsolet geworden ist oder ob sie sich nicht aktuell in einer neuen, globalen Spielart finden lässt, etwa beim chinesischen Künstler Ai Weiwei oder dem US-amerikanischen Whistleblower Edward Snowden.

Literatur Rudolf BAHRO, Die Alternative, Köln/Frankfurt a. M. 1977. Milovan DJILAS, The New Class. An Analysis of the Communist System, New York 1957. Barbara FALK, Dilemmas of Dissidence in East-Central Europe, Budapest 2003. Václav HAVEL, Power of the Powerless, London u. a. 1985.

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Robert HAVEMANN, Fragen, Antworten, Fragen. Aus der Biographie eines deutschen Marxisten, Berlin 1990. György KONRÁD, Antipolitics, London 1984. Ulrich MÄHLERT et al., Wechselwirkungen Ost-West: Dissidenz, Opposition und Zivil­ gesellschaft 1975–1989, Köln 2007. Elżbieta MATYNIA, An Uncanny Era. Conversations between Václav Havel and Adam Michnik, New Haven 2014. Adam MICHNIK, Letters from Prison and Other Essays, Berkeley 1985. Alexander SOLSCHENIZYN, Der Archipel Gulag, Bern/München 1974.

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Todor Kuljić

Mythos Kosovo 1389 schlagen die Truppen des Osmanischen Reichs die Serben auf der Ebene des Kosovo Polje, des „Amselfelds“. Der Kosovo, dieses Gebiet des Widerstands des serbischen Adels, aber darüber hinaus auch des christlichen Widerstands gegenüber dem Islam, wird zum Mythos, der regelmäßig neu belebt wird, um nationalistische Diskurse welcher Herkunft auch immer neu zu beleben.

28. Juni 2008, Feier zum Namenstag des heiligen Veit (serbisch Vidovdan) vor dem Gazimestan-Denkmal auf dem Amselfeld.

Todor Kuljić

Im julianischen Kalender der Serben nimmt der 15. Juni (dem im gregorianischen Kalender der 28. Juni entspricht), der Veitstag (Vidovdan), einen wichtigen Platz ein: Es ist der Tag des Gedenkens der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahr 1389. Dabei stand auf dieser südserbischen Ebene eine christliche Koalition unter Führung des serbischen Prinzen Lazar den osmanischen Truppen gegenüber. Die serbisch-orthodoxe Kirche stellt seit Ende des 18. Jahrhunderts das Amselfeld sowohl als serbische Leidensstation als auch als Symbol für das Wiedererstehen der Nation dar. Seit 2001 ist dieses Datum wieder das des serbischen Nationalfeiertags, so wie das bereits zwischen 1913 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall war. Der Aufschwung des albanischen Nationalismus und Separatismus im Kosovo stellte bereits ab den 1960er-Jahren für Serbien ein erhebliches politisches Problem dar, ab Ende der 1980er-Jahre gewann dieses jedoch aufgrund der Instrumentalisierung der KosovoFrage durch Slobodan Milošević an Dringlichkeit. Als Erinnerungsort wurde der Kosovo auch dazu benutzt, die serbischen und orthodoxen Meistererzählungen neu zu beleben, um mit ihrer Hilfe für den serbischen Staat und die serbisch-orthodoxe Kirche einzutreten. Am Vidovdan des Jahres 2001 wurde der ehemalige serbische Präsident Milošević ausgeliefert und dann dem Strafgerichtshof von Den Haag überstellt. 2008 ist der Kosovo zu einem unabhängigen Land geworden, das von Serbien allerdings nicht anerkannt wird. Die Serben wurden bekanntlich im Juni 1389 auf dem Amselfeld geschlagen, obwohl auch der osmanische Sultan Murad I. in dieser Schlacht fiel. Fest steht auch, dass die Glocken von Notre Dame läuteten, um – fälschlicherweise – den Sieg der serbischen Armee zu feiern. Weite Teile Europas nahmen übrigens die Kunde von dieser Schlacht, die den entschlossenen Widerstand gegen die Ausdehnung des Osmanischen Reichs deutlich machte, freudig auf.

Symbol serbischen Heldentums Das mittelalterliche Serbien wurde kurz danach unter türkisches Joch gezwungen und der Name Kosovo wurde zu einem Synonym für Märtyrertum. Die serbisch-orthodoxe Kirche hat diese Niederlage „christianisiert“, nicht zuletzt mithilfe der Behauptung, die Serben hätten das ­Seelenheil und das Himmelreich dem militärischen Sieg vorgezogen. Bis 170

Mythos Kosovo

heute präsentiert die Kirche die ganze Geschichte des Kosovo – so, wie sie insbesondere in Gedichten und Volksliedern besungen wird – als Grunderfahrung des autokephalen serbischen Christentums. Die historische Gestalt des Vuk Branković (1345–1397), der nach der Schlacht auf dem Amselfeld die Macht in Serbien übernahm, wurde in diesem Zusammenhang zur Verkörperung des Verräters, zum serbischen Judas, während Fürst Lazar zum Jünger Christi wurde, der für die Befreiung seines Volkes starb. Hinzu kommt, dass das „Fürstenessen“, das Lazar und seine Herzöge am Vorabend der Schlacht ein letztes Mal vereinte, in Liedern und volkstümlichen Gedichten fortlebte und dort mit dem Abendmahl, das Jesus noch einmal kurz vor seinem Tod mit den Aposteln zusammenbrachte, in eins gesetzt wurde. Neben seiner religiösen Funktion kommt dem Kosovo-Mythos auch eine umfassendere gesellschaftlich integrative Aufgabe zu. Die epischen Erzählungen pflegen mit diesem Mythos auch die Idee der Unzerstörbarkeit des serbischen Staates, die als Grundlage der nationalen Identität und als Schutzwall gegen die Islamisierung fungiert. Das Motiv der freiwilligen Aufopferung in der Schlacht vom Amselfeld und das der bewussten Entscheidung für das himmlische Reich wurden von der serbisch-orthodoxen Kirche in der Absicht, den Kosovo-Mythos mit dem Opfer Christi zu verbinden, miteinander verschweißt. Daneben stehen freilich noch andere Motive: diejenigen der Rache, des Helden- und Märtyrertums, des Verrats und der Auferstehung. Die Warnung vor möglichem Verrat lässt den Mythos zum Pakt werden, der für die Serben Verdammnis, verschworene Gemeinschaft und Einigung bedeutet. Ja, mehr noch, den Kosovo als Erinnerungsort zu ehren und lieben, bedeutet Auferstehung, erneute Fleischwerdung nach dem Tod. Im Europa des ausgehenden Mittelalters findet man vergleichbare Varianten ritterlichen Heldentums und der Triumph des Helden über den Tod ist ein Motiv, das auch im Islam vorkommt. Es gehört wohl zu den Gedächtnisimperativen, die der indoeuropäischen Tradition entspringen. Mehr oder weniger elaborierte Epen, die Kriegergesellschaften ihre Ideologie liefern, tauchen in noch früherer Zeit bei den Griechen mit der Ilias und bei den Germanen mit den Nibelungen auf. Das Epos ist für die Ritterklasse auch eine Form christianisierter Ideologie. Offenkundig ist der Kosovo als Erinnerungsort nicht nur eine geografische Bezeichnung, sondern ein komplexes Modell und ein Symbol 171

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für den Erhalt serbischer Identität, dem sich unterschiedliche Bedeutungen zuschreiben lassen. Die Ethik des Vidovdan und des Kosovo erhebt Vorbilder für wünschenswertes patriotisches Verhalten zu Geboten und stigmatisiert entgegengesetztes Verhalten als Verrat. Von allen Beispielen des Verrats ist die am Kosovo die schlimmste, schrieb der Dichter und Herrscher von Montenegro Petar II. Petrovič-Njegoš (1813– 1851). Gesellschaftlich betrachtet, ist der Kosovo zum Symbol eines zeitlosen serbischen Heldentums geworden, das mehrfach zur Mobilisierung der Serben benutzt wurde: 1804 und 1815 bei den antitürkischen Aufständen, 1912 bei der Vertreibung der Türken vom Balkan, 1988 anlässlich des Kampfes gegen den albanischen Separatismus und 1999 bei der vergeblichen Verteidigung des Kosovo gegen die NATO. Es handelt sich dabei um ein ausgesprochen flexibles, vielfältig einsetzbares Mittel. Es ist nicht starr, sondern dynamisch, ein Zeichen von Stolz und Kampfbereitschaft, zeugt von einem hohen Sinn für Geschichte und für das Ausmaß des serbischen Patriotismus. Der Kosovo ist aber auch ein projektives Konzept, das sich nach Maßgabe der augenblicklichen Interessen interpretieren lässt: Mal steht er für ein Gebiet, mal für eine Reihe von Klöstern, mal für heldenhafte Identität und eine ruhmreiche Vergangenheit. Das Kosovo-Epos ist ein wesentliches Element der serbischen Befreiungsideologie, in deren Rahmen die Bewunderung für einen Helden auch Gehorsam ihm gegenüber bedeutet. Die Unterordnung unter den Staatschef (sei es Fürst Lazar, sei es Milošević) bildet die Grundlage einer besonderen Identität im Widerstand gegen den Eroberer, der eine Tendenz zu Mythisierung und Militarisierung innewohnt.

Gesichter des Feindes Das Bild vom Feind innerhalb dieses Mythos hat sich im Lauf der Zeit entwickelt. Es handelte sich dabei zuerst um die Araber, dann die Türken, um poturice (abwertender Begriff für zum Islam übergetretene Christen), Ungläubige, dahijas (abtrünnige Janitscharen-Offiziere) und schließlich Arnauten (Albaner). Historisch betrachtet, ist der KosovoMythos Teil der Erinnerungskultur der modernen serbischen Nation, die erst 1878 ihre nationale Unabhängigkeit errang, also zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten europäischen Nationen bereits ihren Staat 172

Mythos Kosovo

hatten. Die Herrscher des Montenegro, das im gleichen Jahr seine Unabhängigkeit erlangte, nutzten ebenfalls lange den Kosovo zu ideologischen Zwecken. Der Sieg über die Türken im Jahr 1913 gestattete es dem serbischen König Petar I. Karađorđević (1844–1921), den Titel „Befreier des Kosovo“ anzunehmen. Später bediente man sich des Kosovo-Mythos im Kampf gegen Österreich-Ungarn und dann auch zu Integrationszwecken in der jugoslawischen Monarchie. Die Kommunisten setzten ihn nicht ein, wohl aber Milošević, der ihn Mitte der 1980er-Jahre wieder ausgrub, sowie die bosnischen Serben in den 1990er-Jahren. Er diente zwar dem politischen Ziel, das in den Jahren 1804, 1815 und 1914 mit der Devise „Der Balkan den Völkern des Balkans“ verbunden wurde, er diente aber auch der Unterstützung der serbischen Invasionen (1912/13) und schließlich der Stärkung der serbischen Hegemonie im Jugoslawien der späten 1980er-Jahre. Der Kosovo-Mythos ist eine Metapher, die alle verstehen, Gebildete wie Ungebildete, Analphabeten wie Gelehrte. Er bildet das gefühlte Zentrum der serbischen Identität und ist zugleich das Navigationsinstrument, das es gestattet, sich auf einem verwirrenden und verschlungenen Geschichtsparcours zu orientieren. Gewiss gab es viele romantische Klagen und auch das Gesetzbuch des heiligen Sava I. (1220), das in wechselseitiger Durchdringung die Normen des Kirchenrechts und des Rechts des serbischen Staates festlegt, doch geht der Kosovo-Mythos weit darüber hinaus. Er wurde in zunehmendem Maß zum wesentlichen Bestandteil des historischen Bewusstseins als Kern einer Reihe von Erinnerungen an frühere oder spätere, an sich belanglosere Ereignisse. Im 19. Jahrhundert wurde das Epos zu einem Element der Rhetorik, zu immateriellem historischen Erbe, zu einer idealistischen Causa, die sich leicht als Zielvorstellung für die Schaffung eines modernen europäischen Staates instrumentalisieren ließ. Zu Zeiten der Nationalromantik schweißte die Kosovo-Legende die Serben politisch und kulturell zusammen. Ab dem 19. Jahrhundert bildete der Mythos ein wesentliches Element einer allgemeiner aufgefassten Politik. Er wurde auch von den Kroaten und Slowenen übernommen, die dort Inhalte fanden, die ihren Glauben an einen gemeinsamen jugoslawischen Ursprung sowie an eine ebensolche Tradition und Kultur stärkten. Das unabhängige Serbien stellte sich als das Piemont der Südslawen dar. So schuf der kroatische Bildhauer Iwan Meštrović (1883–1962) zur 173

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Zeit des Königreichs Jugoslawien Monumentalskulpturen der Helden der Schlacht vom Amselfeld, vom Kosovo Polje. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen zu den antiislamischen Zügen des Kosovo-Mythos antialbanische hinzu. Wie auch im Fall vieler anderer Kriege wurde die Unterscheidung zwischen Befreiung und Eroberung unscharf. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich heute in Bezug auf die Albaner feststellen. Die Opfer werden zu Tätern. Das gilt nicht nur für die Serben, sondern heutzutage auch für die Albaner, für die die Verfolgung der Serben unvermeidlich ist, um den Kosovo zu befreien, in dem die Albaner unter der Bezeichnung Illyrer als Erste gelandet sind und in dem sie heute die Bevölkerungsmehrheit bilden. Möglicherweise werden wir Zeugen eines langen Kriegs der Erinnerung zwischen zwei Kosovo-Mythen, dem serbischen und dem albanischen. Beide stellen ein wesentliches Hindernis für eine multikulturelle Entwicklung dar.

Die Rede vom Gazimestan Im Juni 1989 hielt Slobodan Milošević am Fuß des Gazimestan, des Monuments zum Gedenken an die Helden der Schlacht von Kosovo Polje, seine berühmte „Amselfeldrede“, in der er erklärte: „Heute, sechs Jahrhunderte später, sind wir wieder mitten im Kampf und stehen vor Schlachten. Es sind keine Schlachten, die mit Waffen ausgetragen werden, obwohl auch das nicht ausgeschlossen werden kann.“ Diese Beschwörung des Mythos stand am Beginn einer neuen Phase seiner Instrumentalisierung. Noch im gleichen Jahr antwortete die serbisch-orthodoxe Kirche auf diesen Appell von Milošević, indem sie die „spirituelle Mobilisierung der Serben“ dadurch vollendete, dass sie die Asche von Fürst Lazar durch alle serbischen Gebiete tragen ließ. Viele sehen in der Rede, die Milošević 1989 auf dem Amselfeld gehalten hat, den Auftakt zu den Balkankriegen der 1990er-Jahre. Andere behaupten, diese Ansprache sei gezielt fehlinterpretiert worden, um aus Milošević eine verabscheute Negativfigur zu machen und so den Krieg der NATO gegen Jugoslawien im Jahr 1999 als gerechten Krieg erscheinen zu lassen. Fest steht jedenfalls, dass die Wortwahl von Milošević auf dem Amselfeld die westlichen Stereotype in Bezug auf die Serben (die man in Filmen ebenso wie in den Reden einzelner Politiker findet) 174

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­ erstärkt hat. Die Politik von Milošević wirkte deswegen so explosiv, v weil sie zum ersten Mal mit der kommunistischen Strategie brach, die die Grundlage von Josip Broz Titos Jugoslawien bildete. Diese besagte, dass jeder sich um den Nationalismus in seiner eigenen Teilrepublik, seinem Bundesstaat, kümmern solle. Auch wenn Milošević sich bei seiner Mobilisierung der Kosovoserben für die Beibehaltung Jugoslawiens aussprach, so hat er doch de facto den separatistischen und nationalistischen Bestrebungen Vorschub geleistet. Er trägt insofern Verantwortung, als er den Kosovo dazu benutzt hat, den Nationalismus der größten Nation Jugo­ slawiens, Serbiens, anzufachen. Man hat die Amselfeldrede oft mit dem Attentat von Sarajevo 1914 verglichen, weil beide Ereignisse von entscheidender Bedeutung für die ihnen folgende Kriegsdynamik waren. Bei dieser Betrachtungsweise erscheint der Kosovo lediglich als explosiver Erinnerungsort und Milošević als ausschlaggebender Zünder. Doch ist das wirklich so? Milošević bediente sich des Kosovo als Erinnerungsort auch, um seine Macht nach dem Fall der Berliner Mauer zu festigen. So konnte er sich der öffentlichen Meinung des Westens, den er herausforderte, als „aggressiver kommunistischer Führer“ darstellen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Reaktion eines nennenswerten Teils der westlichen Presse zu untersuchen: War Milošević am Anfang der 1990erJahre nicht in gewissem Maß Ersatz für das verloren gegangene Feindbild von den Sowjets? Diese Rolle wurde nach dem Abkommen von Dayton, mit dem 1995 der Frieden in Bosnien herbeigeführt werden sollte, teilweise aufgegeben, erklärte Bill Clinton doch gegenüber Milošević, dass dieser Dayton ermöglicht habe. Im weiteren Verlauf boten der weitere Aufstand der Albaner im Kosovo, die heftige Auseinandersetzung zwischen der serbischen Regierung und den Albanern sowie die Bombardierung Jugoslawiens im Jahr 1999 erneut eine Gelegenheit zur Unterstreichung der symbolischen Dimension des Kosovo. Der serbische Staat zog sich 1999 fast vollständig aus dem Kosovo zurück, Milošević wurde 2001 verhaftet und starb 2006 in Den Haag, während der Kosovo 2008 seine Unabhängigkeit erklärte. Zahlreiche Länder erkannten den Staat umgehend an, nicht aber Serbien, für das der Kosovo weiterhin ein wichtiges Thema ist, dessen symbolisches Potenzial sich aber beträchtlich abgeschwächt hat. 175

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Die Erinnerungsmatrix des Balkans Die Auffassung, dass der Kosovo ein entscheidendes Thema serbischer Politik darstellt, wird sicher nicht so schnell verschwinden. Wie die vergangenen Jahrhunderte gezeigt haben, hängt die Mobilisierung des Kosovo als Erinnerungsort nicht nur von der Haltung der lokalen Akteure ab, sondern auch von der Stabilität auf dem Balkan und der Politik der Großmächte. Im Übrigen scheint die Verwendung des Kosovo als Ort des Gedenkens von der Geschichte vorgezeichnet zu sein. Wenn sein Mythos auch für den ganzen Balkan als Erinnerungsmatrix fungiert, so wird er doch je nach Situation durchaus unterschiedlich verwendet und der historische Kontext entscheidet darüber, wie wirksam er jeweils ist. Anfangs schien Gehorsam gegenüber der türkischen Regierung angesagt zu sein, später dann war es eher der Widerstand gegen die Türken beziehungsweise deren Verfolgung. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch viel später beobachten. Unter Tito verstand sich die Zusammenarbeit von Serben und Albanern im Rahmen der offiziellen Politik der Brüderlichkeit und Einheit von selbst, dann aber kam es zum serbischen Widerstand gegen die abtrünnigen Kosovoalbaner. Heute schützt die europäische Gesetzgebung die Serben und ihr kulturelles Erbe im Kosovo, dessen Unabhängigkeit von der internationalen Gemeinschaft anerkannt wurde. Nicht alle Serben wiesen die gleiche gefühlsmäßige Bindung an diesen Erinnerungsort auf. Am intensivsten war sie bei denen, die aus dem Kosovo Nutzen ziehen konnten: Das waren 1804 die armen Serben (die raja, also die Gesamtheit der steuerpflichtigen christlichen Bauern), die die Massenerhebungen gegen die Türken und damit den Beginn des Widerstands der Südslawen gegen das Osmanische Reich auslösten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte sich der Kosovo als serbisches Piemont und als Symbol der panslawischen Befreiung dar; als solches weckte er auch die Aufmerksamkeit der Kroaten und Slowenen, die für die Jugoslawien-Idee eintraten. 1989 zeigten sich die kommunistischen Politiker Serbiens an der Einschränkung der Autonomierechte des Kosovo interessiert. Der Kosovo wurde also sichtlich in sehr unterschiedlichem Sinn instrumentalisiert: weit und eng, nationalistisch wie supranationalistisch, proserbisch wie projugoslawisch, regional und national. Der Kosovo bleibt ein projektiver Begriff, den alle gebrauchen und missbrauchen. Er bezeichnet einen Teil des Staatsgebiets ebenso wie 176

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einige Klöster und eine Bastion serbischer Orthodoxie, eine aus dem Widerstand hervorgegangene nationale Identität wie eine ruhmreiche Vergangenheit und vieles mehr. Auf dem Umweg über Übersetzungen ins Italienische zur Zeit der Renaissance und später, zur Zeit der Romantik, auch in andere westeuropäische Sprachen ist die Volkspoesie der Südslawen, die die Schlacht auf dem Amselfeld und ihre Hauptpersonen besingt, ins europäische Bewusstsein eingedrungen. Das stellt sich im Fall des lange nur mündlich überlieferten albanischen Epos ganz anders dar. Es berichtet auch von einer Schlacht gegen die Osmanen, an der die christlichen Albaner teilgenommen haben. Dort finden wir auch den serbischen Helden Miloš Obilić wieder, der Sultan Murad erdolchte, freilich als christlichen albanischen Helden namens Kopiliq. Seit der Unabhängigkeit des Kosovo wird diese mythische albanische Gestalt, die in den europäischen Vorstellungen von einem christlichen Widerstand verankert ist, in der offiziellen Geschichtsschreibung der Kosovaren herausgestellt. Die Erzählungen von Ismail Kadare, die die Schlacht auf dem Amselfeld zum Hintergrund haben (Drei Trauer­ lieder für Kosova), zeigen das unvereinbare Nebeneinander von serbischem und albanischem Narrativ, die beide im Anschluss an die Niederlage entwickelt wurden. Die Vermittlung der Erinnerungskulturen des Balkans an die anderen Völker Europas ist ein Anliegen von zentraler Bedeutung, zumal es mit einer bestimmten Haltung gegenüber den Osmanen, nämlich mit der Erwartung, Bestandteil des europäischen Gedächtnisses zu werden, verbunden ist. Der Kosovo-Mythos erinnert daran, dass eine Erinnerungskultur keineswegs etwas Starres ist, sondern über eine hohe Dynamik verfügt – oft mit tragischen Konsequenzen.

Literatur Jovo BAKIĆ, Jugoslavija: razaranje i njegovi tumači, Belgrad 2011. Anna DI LELLIO, The Battle of Kosovo 1389. An Albanian Epic, London/New York 2009. Dejan DJOKIĆ, Whose Myth? Which Nation? The Serbian Kosovo Myth Revisited, in: Janos M. Bak, Jörg Jarnut, Pierre Monnet und Bernd Schneidmueller (Hg.), Uses and Abuses of the Middle Age: 19th–21st Century, München 2009. Rade MIHALJČIĆ, The Battle of Kosovo in History and in Popular Tradition, Belgrad 1989. Miodrag POPOVIĆ, Kosovo: histoire d’un mythe. Essai d’archéologie littéraire, Paris 2010 [1977].

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Heinz-Gerhard Haupt

Vom Terror zum Terrorismus Der Terrorismus ist zurück in Europa. Heute zumeist und am augenfälligsten als islamistischer Terror, während er gestern aus dem Lager der extremen Linken oder vorgestern aus dem der Anarchisten kam. Aber diese Handlungen von Einzelpersonen oder Gruppen dürfen uns nicht vergessen lassen, dass „Terror“ zuerst durch die Auswüchse des Jakobinertums während der Französischen Revolution und ganz allgemein durch totalitäre Regime hervorgerufen wurde. Dieser Terror hat sich in das europäische Gedächtnis zutiefst eingebrannt.

Paris. Un coin de la salle des fusillés déposés à l’Ambulance de la Presse, rue O ­ udinot: Leichen erschossener Kommunarden, Mai 1871.

Vom Terror zum Terrorismus

Kaum ein Wort hat sich im Europa der letzten Jahre so verbreitet wie das Wort „Terrorismus“. Vom Atlantik bis zum Ural, von Malta bis Norwegen werden darunter Gewalttaten von Gruppen oder Einzelpersonen verstanden, die das Ziel haben, die Staatsgewalt in symbolischen Aktionen zu diskreditieren und Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung hervorzurufen. Der 9. September oder das Attentat auf Charlie Hebdo, Bataclan oder Nizza, die Bombenanschläge in Madrid oder London, aber auch die Ermordung von Olof Palme und die Attentate in Tschetschenien – all diese Ereignisse wurden in Europa, ja in der ganzen Welt medial verbrei­ tet, um die Gefahren terroristischer Aktionen für das Zusammenleben und die politische Ordnung zu demonstrieren. Gleichzeitig nahm der Vorwurf, Terroristen zu unterstützen, eine zentrale Bedeutung in den internationalen Beziehungen an. Sowohl Barack Obama und Donald Trump als auch Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan benutzten ihn, um politische Gegner zu benennen und ihre unterschiedliche Politik in verschiedenen Regionen der Welt zu rechtfertigen. Diese breite Verfügbarkeit des Wortes liegt darin, dass der Begriff „Terrorismus“ ein „essentially contested concept“ (William B. Gallie) ist, offen für unterschiedliche Definitionen. Diejenigen, die von staatlichen Stellen als Terroristen bezeichnet werden, nennen nationale oder regionale Befreiungsbewegungen Freiheitskämpfer. So wurden die Partisanen und die Résistance im 2. Weltkrieg von den Nationalsozialisten kriminalisiert und als terroristisch bezeichnet, von Antifaschisten jedoch als Widerstandskämpfer gerechtfertigt. Auch innerhalb der regionalistischen Bewegungen Spaniens oder im Irischen Bürgerkrieg wurden Gewaltakteure als Helden gefeiert. Die diskursiven Auseinandersetzungen um den Charakter der politischen Gewalt gehört zur Geschichte des Terrorismus. Bereits in der Geschichte des Wortes „Terreur“ zeigt sich dessen doppelte Bedeutung. In der Französischen Revolution des Jahres 1789 bezeichnete der Begriff die exzessive Staatsgewalt, die in der Zeit der Jakobinerherrschaft ausgeübt wurde und mit der Tugend und Gemeinsinn durchgesetzt werden sollten. In diesem Sinn wurde das Wort zur Kritik staatlicher Maßnahmen benutzt, bevor ab 1848 generell Sozialisten und Anarchisten, Nihi­ listen und Oppositionelle als Terroristen bezeichnet wurden. Über diese Verurteilung von politischen Bewegungen hinaus wurde aber oft der „Staatsterror“ vergessen, der nach Zangl und Zürn „Polizeistaat ohne 179

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Rechtsstaat“ ist. Die Forschung ist sich darin einig, dass in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert staatliche Terrormaßnahmen mehr Menschen töteten als Attentate terroristischer Organisationen oder Einzeltäter. Als Staatsterror werden dabei Maßnahmen angesprochen, in denen staatliche Instanzen Gewalt exzessiv, ungesetzlich und pauschal gegen Menschengruppen anwenden. Hier geht es jedoch nicht um eine Untersuchung des gegenwärtigen Terrorismus, sondern um das Problem, ob von Gewaltmaßnahmen von terroristisch genannten Organisationen oder von der Staatsmacht eine gesamteuropäische Wirkung ausgeht, internationale Netzwerke und eine Erinnerungskultur entstehen konnten, die europäischen Charakter trug. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zwischen der unmittelbaren Reaktion auf die Gewaltereignisse, ihrer nachträglichen Wirkung und deren retrospektiven Historisierung und Europäisierung zu unterscheiden. Ab den 1990er-Jahren und in der Folge einer breiten Memorialisierungspolitik wurde in Kenntnis der späteren Entwicklung vielen Gewaltereignissen der Vergangenheit eine europäische Bedeutung zugeschrieben, die sie für die Zeitgenossen nicht oder nicht in dem Ausmaß hatte. Das gilt für die Schlacht auf dem Amselfeld ebenso wie für Waterloo, das Attentat von Sarajevo ebenso wie das auf Alexander II. Hier steht jedoch nicht dieser historiografiegeschichtliche Ansatz im Mittelpunkt, sondern die Frage, ob und wann sich unmittelbar nach terroristischen Gewalttaten nationale oder europäische Netzwerke oder Erinnerungsmuster herausbildeten.

Die Erinnerungen an Staatsterror Dabei stellt sich heraus, dass der staatliche Massenterror weitaus stärker zu einer europäischen Reaktion und Gedächtniskultur führte als die individuellen oder kollektiven Attentate der Terroristen. Die Jakobinerherrschaft und die sie charakterisierende Hinrichtung des Königs Ludwig XVI., die Gewalt in den innerfranzösischen Bürgerkriegen und die Gewaltsamkeit der Justiz durch die Guillotine gehörten vor allem in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, aber auch darüber hinaus zu den Horrorszenarien liberaler und konservativer Politiker in Europa, die sich davon entschieden absetzten. Sie fürchteten die Mobilisierung der Massen in der Revolution sowie deren Forderungen und bekämpften 180

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deshalb auch diejenigen Gruppierungen in ihren jeweiligen Ländern, die die Französische Revolution verteidigten. Gegen diese europaweite Ablehnung des „Terreurs“, die Teil einer lebendigen und oft beschworenen gegenrevolutionäre Erinnerungskultur war, setzte sich erst allmählich und unter dem Einfluss von Republikanern und Sozialisten eine positivere Bewertung der Revolution durch. Die konstitutionellen Anfangsjahre der Revolution erlebten dabei früher eine positive Würdigung als die Jakobinerherrschaft. Erst in den 1880er-Jahren konnten sich aber die Pariser Stadtverordneten dazu entschließen, Maximilien de Robespierre eine Straße zu widmen. Sowohl die Niederschlagung des Pariser Juniaufstandes des Jahres 1848 als auch der Pariser Kommune gehörten zu den Gewalterfahrungen im 19. Jahrhundert, die über Frankreich hinaus wahrgenommen und erinnert wurden. Interpretierten sie konservative und liberale Kreise als Erscheinungsformen jenes Gespenstes, das nach Karl Marx in Europa umging und Revolution hieß, so waren sie für Republikaner und Sozialisten Teil des Emanzipationskampfes des Proletariats. Im Juni 1848 verteidigten Pariser Arbeiter die sozialen Maßnahmen der französischen 1848er-Revolution, vor allem die nationalen Werkstätten und das Recht auf Arbeit, während die Pariser Kommunarden 1871 sowohl die lokale Selbstverwaltung der Stadt als auch die Fortsetzung des nationalen Widerstandes gegen die deutschen Truppen forderten. Die Bedrohung, die den als „Kanaille“ diskreditierten Volksmassen zugeschrieben wurde, ging ebenso in eine europäische Gedächtniskultur ein wie die blutige Repression, die von Oppositionellen und Sozialisten europaweit immer wieder beschworen und erinnert wurde. Die Schriften von Karl Marx zum „Klassenkampf“ und „Bürgerkrieg“ in Frankreich trugen dazu bei, den Juniaufstand als das „biggest massacre in Europe of the nineteenth century“ (John Merriman) in der Erinnerungskultur der sozialistischen Arbeiterbewegung zu verankern. Die Erinnerung an diese Ereignisse wurde noch lange nach ihrem Ende als Provokation von konservativen Regierungen und Kräften des Status quo erfahren und strafrechtlich verfolgt. Diese Verfolgung ihrerseits trug dazu bei, die Wirkungskraft der Erinnerung zu verstärken. Im europäischen Kontext ist erstaunlich, dass lediglich die Republikaner, die in Frankreich ab 1879 regierten, sowohl durch die Amnestie für die Kommunekämpfer als auch durch die Erlaubnis für Erinnerungsfeiern 181

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versuchten, die Diskussion um die Pariser Kommune zu entdramatisieren. Ab 1885 konnten auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise vor der Mauer, vor der Kommunarden erschossen worden waren, Gedächtnisfeiern stattfinden. Zu der europäische Reaktionen und Erinnerungen hervorrufenden Staatsgewalt gehörte auch der Massenterror des stalinistischen Russlands. Er richtete sich vor allem in den Jahren 1937 und 1938 pauschal gegen Kulaken, aber auch gegen als oppositionell wahrgenommene Intellektuelle, verschiedene ethnische Minderheiten oder „sozialfremde Elemente“. Er kostete mehr als 700 000 Menschen das Leben und führte zur Deportation von mehr als zwei Millionen Personen. Diese Maßnahmen entsprangen der Furcht der stalinistischen Führung vor inneren Feinden, wurden vom Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD) geheimpolizeilich und weitgehend ohne öffentliche Prozesse durchgeführt. Sie konnten aufgrund des bestehenden Überwachungsund Verfolgungsstaates in der Sowjetunion nicht zu öffentlichen Protesten oder Erinnerungen führen, gingen aber in eine breite europäische und internationale Erinnerungskultur ein, in der sie ein wesentlicher Teil der Kritik am Sowjetkommunismus waren und in den politischen Debatten zahlreicher Länder benutzt wurden. Arthur Koestlers Werk Sonnenfinsternis hielt eine bestimmte Interpretation dieser Ereignisse fest und war Teil der antikommunistischen Erinnerungskultur. Erst nach dem politischen Umsturz nach 1989 konnte in Russland und in Ostmittel­ europa mit Gedenkstätten und Gedenksteinen an die Opfer dieses Terrors öffentlich erinnert werden.

Guernica und Auschwitz: der Höhepunkt des Terrors Als Gemeinsamkeit zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus hat Hannah Arendt den Terror ausgemacht. Denn die Gewalt, die sich ab 1933 gegen Demokraten, Sozialisten und Kommunisten, Juden, Sinti und Roma, aber auch gegen alles „unwerte Leben“ richtete, gehörte zum Wesen des Nationalsozialismus. Dieser konnte aufgrund des bestehenden Terror- und Überwachungsapparates in Deutschland selbst nur schwer und von kleinen Gruppen bekämpft werden, traf aber international auf eine breite Front von Politikern und Intellektuellen, sozialen und politischen Bewegungen, die sich unter dem Banner des Antifaschismus 182

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versammelten. In dieser Gegenbewegung entstanden spezifische Gedächtnisorte wie das Gemälde „Guernica“, das Pablo Picasso für die Pariser Weltausstellung des Jahres 1937 gemalt hatte und das den mörderischen Angriff der deutschen Luftwaffe auf den kleinen nordspanischen Ort darstellt. In der europäischen Gedächtniskultur spielten auch die Erinnerungen an Partisanenkämpfe sowie an die Résistance als Teil des Antifaschismus eine wichtige Rolle und wurden in Frankreich und Italien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zur Rechtfertigung von Volksfrontbündnissen oder als Bezugspunkt verschiedener demokratisch orientierter Bewegungen eingesetzt. Breite internationale Resonanz erhielt „Auschwitz“ als Signatur für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik, die durch Memoiren, Denkmäler und Gedenkfeiern universalisiert wurde, innerhalb der Erinnerungspolitik von Juden, Kommunisten, Sinti und Roma und von einzelnen Gesellschaften jedoch eine jeweils spezifische Bedeutung annehmen konnte. Aber nicht alle Formen des Massenterrors der Nationalsozialisten wurden international erinnert. Manche blieben auf nationale Erinne­ rungskulturen begrenzt. Dies war etwa der Fall bei der Erinnerung an den Warschauer Aufstand des Jahres 1944, den die deutschen Truppen blutig niederschlugen, während die an der Weichsel stehenden sowjetischen Truppen nicht eingriffen und auch die westlichen Alliierten nicht aktiv wurden. Diese Erinnerung ist bis heute besonders in Polen lebendig, geht dort in politische Debatten ein und wird durch Denkmäler gepflegt, ohne allerdings eine breite internationale Resonanz zu erzeugen. Die „ethnischen Säuberungen“ gehörten zu den zumeist staatlichen Gewalttaten, die die meisten Opfer hatten. Man schätzt sie im Europa des 20. Jahrhunderts auf 30 Millionen Personen. Trotz dieser massenhaften Erfahrung von Flucht und Vertreibung, die euphemistisch auch Bevöl­ kerungstransfer genannt wurde, hat sie keine europäische Gedächtnis­ kultur oder europäischen Gedächtnisorte hervorgebracht. Zwar urteilte der Internationale Gerichtshof in Den Haag über Kriegsverbrechen, die dabei geschahen, aber die ab 1919 stattgefundenen Bevölkerungsverschiebungen, Vertreibungen und Vernichtungen fanden in verschiedenen Wellen, unter immer eigenen Bedingungen und in spezifischen Gegenden statt. Deshalb wurden und werden sie ausschließlich im regionalen oder nationalen Rahmen erinnert. Erst durch die internationale Gerichtsbarkeit und die Geschichtsschreibung sind Verbindungen und 183

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Gleichzeitigkeiten zwischen den Ereignissen der „ethnischen Säuberungen“ hergestellt worden.

Erinnern und Vergessen Zeiten des Massenterrors sind nicht nur Zeiten der Erinnerung, sondern auch des Vergessens. Die Intervention der Staatsmacht soll ihre Gegner zwar einschüchtern oder ein Zeichen setzen. Die Zerstörung ganzer Ortschaften wie in Lidice oder Oradour waren Bestandteile nationalsozialistischer Besatzungspolitik. Auch in der Pariser Kommune soll der Regierungschef Adolphe Thiers erwogen haben, die Leichen der getöteten Kommunarden möglichst lange in der Stadt liegen zu lassen, weil er sich davon eine abschreckende Wirkung auf die Pariser Bevölkerung erhoffte. Im 20. Jahrhundert hatte sich zumindest aber in Westeuropa die Praxis verbreitet, physische Gewalt aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen und staatliche Gewalt als verhältnismäßig darzustellen. Der Nationalsozialismus untersagte deshalb ehemaligen Häftlingen, über ihre KZ-Erfahrungen zu sprechen, und versuchte noch in den letzten Kriegsmonaten, die Spuren der Konzentrationslager zu verwischen, indem die ausgehungerten und oft kranken Häftlinge auf einen Marsch nach Westen gezwungen wurden. Auch in der Sowjetunion waren die Gespräche oder Informationen über den Terror verboten und wurden verfolgt. Nach 1945 setzte auch die sowjetische Regierung alles daran, die Spuren von Lagern oder Orte der Massenerschießung zu beseitigen. In Sandarmoch (Karelien) wurde erst nach 1989 ein Gräberfeld mit Tausenden politisch Verfolgter entdeckt, dessen Existenz ebenso wie ein benachbartes Lager von der Sowjetmacht vertuscht werden sollte. Erst in den 1990er-Jahren konnten hier Gedächtnisstätten entstehen, die allerdings lokalen Charakter trugen. Nationalstaaten versuchten nicht nur die Folgen und Zeichen des Staats­terrors, sondern oft auch die Wirkungen des individuellen Terrors zu beseitigen. So tat die Pariser Stadtverwaltung alles, um die Trümmer schnell zu entfernen, die durch drei Attentate in den Monaten März und April 1892 von Anarchisten verursacht worden waren. Sie hatten Bomben in Häuser gelegt, in denen Magistrate wohnten, und in das Restaurant, in dem der Anarchist Ravachol denunziert worden war. Die Pariser Bevölkerung wurde durch diese Zerstörungen angezogen, zog 184

Vom Terror zum Terrorismus

en famille zu den Trümmern oder veranlasste die Tramway langsam zu fahren, um das bombardierte Restaurant im Vorüberfahren zu sehen. Die Regierung jedoch wollte möglichst schnell Normalität wiederherstellen und die Erinnerung an die Attentate, die ja auch als Scheitern des staat­ lichen Sicherheitsversprechens interpretiert werden konnten, so schnell wie möglich aus dem öffentlichen Bewusstsein beseitigen.

Nationale Erinnerungen an individuelle Terrorakte Von der Gegenwart und vom 11. September her gesehen, kann man geneigt sein, individuellen Terrorakten von politischen Gruppen oder Individuen größere Resonanz und international verbindendere Kraft als dem Staatsterror zuzuschreiben. Die Erinnerung an die Attentate auf das World Trade Center in New York wird weltweit jährlich beschworen und konstituiert eine zumindest virtuelle und medial verbundene Erinne­ rungsgemeinschaft. Dazu haben nicht nur weltweite politische Ent­ scheidungen beigetragen, die der US-amerikanischen Interpretation eines Kriegsaktes zustimmten, sondern auch eine stereotype bildliche und mediale Darstellung der Ereignisse. Die These, dass damit auch die Phase des religiös verfassten Terrorismus begänne, hat sich nicht bestätigt. Denn die meisten terroristischen Attentate wurden nach dem Irakkrieg begangen. Mit dieser breiten internationalen Erinnerungswirkung war 9/11 aber eher die Ausnahme als die Regel. Schon die ähnlich mörderischen Attentate im London oder Madrid des 21. Jahrhunderts hatten nicht die gleiche Resonanz und gingen weniger in den Erinnerungshaushalt von Gesellschaften oder gar von Europa ein. Auch in der Vergangenheit erzeugten terroristische Attentate durchaus internationale Reaktionen, verdichteten sich aber nicht zu einer europäisch geteilten Erinnerung. Dies zeigt ein Blick auf die letzten 20 Jahre des 19. Jahrhunderts, in denen mehr Staatsleute und Monarchen als zu einer anderen Zeit umgebracht wurden. Diese Attentatswelle führte zwar dazu, dass sich mehrere europäische Mächte 1895 zu einer internationalen Konferenz in London zusammenfanden, auf der Gegenmaßnahmen gegen die Terroristen diskutiert werden sollten, die in der Regel mit Anarchisten gleichgesetzt wurden. Diese hatten sich ihrerseits vor allem deshalb international vernetzt, weil sie verfolgt oder aus einzelnen Ländern ausgewiesen wurden. Die Ergebnisse der Konferenz waren aber begrenzt und führten nicht zu 185

Heinz-Gerhard Haupt

einer kontinuierlichen europäischen Zusammenarbeit. Zwar berichtete auch weiterhin die sich entwickelnde Massenpresse von terroristischen Attentaten in den einzelnen Gesellschaften, aber erinnerungsbildende Maßnahmen fanden ausschließlich im nationalen Rahmen statt. Als der italienische Anarchist Sante Caserio 1895 den französischen Staatspräsidenten Marie François Sadi Carnot erschoss, wurde der Tag des Attentats zwar zum Staatstrauertag erklärt, aber nur in Frankreich. Dort wurden auch zahlreiche Straßen nach Carnot benannt. Die Reaktionen innerhalb der Bevölkerung auf das Attentat waren sogar fremdenfeindlich und richteten sich gegen die lokal ansässige italienische Bevölkerung. Auch die Welle an Anschlägen und Morden, die in West- und Südeuropa in den 1970er- und 1980er-Jahren stattfanden und über die von den Medien ausführlich berichtet wurde, sah zwar eine international vernetzte Gruppe von Attentätern und eine europaweit zusammenarbeitende Polizei, aber sie wurden in den einzelnen Gesellschaften höchst unterschiedlich rezi­ piert und fügten sich nicht zu einer Gedächtniskultur zusammen. So zeigen die Kommentare in der französischen Presse zu den Attentaten der Roten Armee Fraktion (RAF) der 1970er- und 1980er-Jahre, wie sehr ein traditionelles Deutschlandbild, nicht aber gesamteuropäische Erinnerungen oder Probleme mobilisiert wurden. Auch die mediale Rezeption im Film blieb auf die jeweilige Gesellschaft begrenzt. Deutschland im Herbst (1978), ein Episodenfilm verschiedener Regisseure, war ebenso ein auf die bundesdeutschen Konflikte zugeschnittener Film wie La seconda volta (1995) von Mimmo Calopresti auf die italienischen. Die Nation blieb der Rahmen der Erinnerung, der öffentlichen Reaktionen und der tagespolitischen Deutung des Terrorismus.

Literatur Anna KAMINSKY (Hg.), Erinnerungsorte an den Massenterror 1937/38. Russische Föde­ ration, Berlin 2007. John MERRIMAN, Massacre. The Life and Death of the Paris Commune of 1871, New Haven/London 2014. Philipp THER, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011. Matthias WEBER et al., Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven, München 2011.

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Berlin – Wahrzeichen des 20. Jahrhunderts Zwischen 1900 und dem Fall der Mauer hat Berlin alle Höhen und Tiefen durchgemacht. Die Stadt verkörpert wie kaum eine andere die Geschichte eines blutigen Jahrhunderts, die sich in ihr Weichbild e­ ingeschrieben hat.

6. September 1950: Sprengung des Berliner Stadtschlosses.

Étienne François

1979 hörte der amerikanische Historiker Fritz Stern bei einem Spaziergang durch die geteilte Stadt seinen Begleiter, den französischen Politologen Raymond Aron, seufzen: „Und dabei hätte das 20. Jahrhundert das deutsche Jahrhundert sein können.“ Dieses Eingeständnis habe ihn, so erzählte Stern gern, in seiner Absicht bestärkt, das Rätsel der deutschen Geschichte zu erhellen. Wie konnte ein Land, von dem man um 1900 annahm, es werde Europa in eine Zukunft des Fortschritts und der Modernität führen, zum Inbegriff der schlimmsten Barbarei werden? Wie konnte seine Hauptstadt, deren Dynamik und Ausstrahlung mittlerweile die der anderen europäischen Hauptstädte übertraf, in der Wirklichkeit wie in der Vorstellung der Europäer zum Emblem des „Jahrhunderts der Extreme“ (Eric Hobsbawm) werden? Diese bohrenden Fragen, die sich allen stellen, die in immer größerer Anzahl Berlin besuchen – 2018 waren das 13,5 Millionen, darunter 46 Prozent Ausländer, während es 1993 nur drei Millionen waren –, sorgen dafür, dass bei ihrer Ankunft viele Bilder in ihrem Kopf herumschwirren, die sie dann vor Ort auch vorfinden wollen. Die beste Antwort hat wohl 1996 der französische Anthropologe Emmanuel Terray gegeben: „Andere Metropolen – wie Rom und Paris – können stolz auf ein höheres Alter und ein reicheres kulturelles Erbe zurückblicken, aber nur die tiefen Furchen im Antlitz Berlins tragen die Spuren der Leidenschaften und Wahnideen, zu denen unsere Spezies fähig ist, wie sie es besonders seit einem Jahrhundert beweist. Alle Versuchungen, die die Vorstellungswelt der Moderne in Erregung versetzt haben, gaben sich hier ihr Stelldichein und nahmen Helden- wie Dämonengestalt an.“1 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht der Namen Berlin für wissenschaftliche und technische Modernität, 1914 wird die Stadt zur Hauptstadt eines entfesselten Nationalismus und 1918 verkörpert sie die Utopie der kommunistischen Revolution. In den 1920er-Jahren ist sie ein herausragender Ort künstlerischer Kreativität und ein Jahrzehnt später eine der von der großen Weltwirtschaftskrise am härtesten betroffenen Städte. Nach 1933 wird Berlin zur Hauptstadt des Nationalsozialismus, zum Schauplatz seiner Triumphe und seines Größenwahns sowie zum Zentrum des Terrors und der Schoah, der Eroberung und Ausbeutung 1 Emmanuel Terray, Ombres berlinoises. Voyage dans une autre Allemagne, Paris 1996, S. 10.

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Berlin – Wahrzeichen des 20. Jahrhunderts

eines Europas, das es in Gestalt von „Germania“ hätte beherrschen sollen. Nach den Bombardierungen und den Kämpfen bei Kriegsende, nach der bedingungslosen Kapitulation eines aus der Völkergemeinschaft ausgeschlossenen Deutschlands wird es ab 1948 zur Bühne par excellence des Kalten Kriegs in Europa. Mitten in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gelegen und seit 1961 von der Mauer geteilt, ist Berlin in seinem westlichen Teil das Schaufenster liberaler Demokratie und kapitalistischen Wohlstands, im östlichen das Beispiel einer Volksdemokratie und des Sozialismus sowjetischen Typs. Nach der Wiedervereinigung in Freude und Freiheit wird es zur größten städtischen Baustelle Europas. Heute hat es all seine Vitalität und seine Anziehungskraft für die ganze Welt wiedergewonnen. In Berlin spielt die Dynamik von höchst unterschiedlichen und miteinander rivalisierenden Erinnerungen zwar eine größere Rolle als in jeder anderen europäischen Stadt und doch ist es alles andere als besessen von seinem potenziell erdrückenden Kulturerbe. Das liegt nicht nur daran, dass die vor dem 18. Jahrhundert erbauten Denkmäler selten sind (und ohnehin die meisten nach dem Krieg rekonstruiert), sondern auch daran, dass der Wiederaufbau nach 1945 im Osten wie im Westen den Prinzipien Hans Scharouns, des Architekten der Philharmonie, entsprach. Dieser war überzeugt, dass die Errichtung einer neuen Gesellschaft voraussetzte, dass man sich erst einmal von der Last der Vergangenheit befreite. Berlin, das 1991 seinen Status als Hauptstadt zurückerhielt, hat eine Fülle von Museen und Gedenkstätten eingerichtet, die sich mit selten hohem Anspruch der Aufgabe der Selbstkritik an den düstersten Aspekten seiner Geschichte stellen. Dazu zählen insbesondere das Denkmal für die ermordeten Juden Europas gleich neben dem Brandenburger Tor, die Topografie des Terrors auf dem Gelände des ehemaligen Sitzes der Gestapo, das Stasi-Museum sowie das Deutsche Historische Museum (DHM). Die Übernahme voller Verantwortung für die Vergangenheit schließt allerdings nicht aus, dass es de facto zu einer gewissen Opferkonkurrenz kommt. Die Stadt kennt aber auch keine übertriebenen Skrupel bei der Wiederbenutzung von Gebäuden ihrer negativen Vergangenheit, wie man es zum Bespiel am jetzigen Gebäude des Auswärtigen Amts sehen kann, das ursprünglich als Sitz der Reichsbank während er NS-Zeit erbaut worden war und nach dem Krieg zu DDR-Zeiten das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) beherbergte. Im Berlin von 189

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heute haben Zukunftsentwürfe Vorrang. So hat das derzeit anstelle des Palasts der Republik der DDR wiedererstehende ehemalige Schloss der preußischen Könige zwar auch die Wiederherstellung einer fiktiven historischen Kontinuität zum Ziel – seine Hauptaufgabe wird es aber sein, sich zu einem großen Museum der außereuropäischen Kunst sowie zum Ort des Austauschs und internationaler Begegnungen zu entwickeln. Als Ort lebendiger Erinnerung, als Stadt in ständiger Rekonstruktion und als Treffpunkt kreativer Menschen liefert Berlin den besten Beweis dafür, dass die Geschichte keine Fatalität kennt.

Literatur Cyril BUFFET, Berlin, Paris 1993. Boris GRÉSILLON, Kulturmetropole Berlin, Berlin 2003. Pascale HUGUES, Ruhige Straße in guter Wohnlage. Die Geschichte meiner Nachbarn, Reinbek 2013. Bernd STÖVER, Geschichte Berlins, München 2010. Emmanuel TERRAY, Ombres berlinoises. Voyage dans une autre Allemagne, Paris 1996.

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2. Geschichten

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Wie man Frieden schließt Die Verwüstungen des 20. Jahrhunderts haben die europäischen Landstriche gebrandmarkt. Aus dieser langen Geschichte ist das Streben nach Versöhnung hervorgegangen, das für das Europa nach 1945 bezeichnend ist. Europa, das von einer Schule des Krieges zu einer Schule des Friedens geworden ist, versucht mit mehr oder weniger Erfolg, „den schwarzen Hut der Vergangenheit“ abzulegen.

Willy Brandts berühmter Kniefall vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos am 7.12.1970.

Valérie Rosoux

„Wer einen deutschen Gefangenen erschießt oder schlägt, ist weit davon entfernt, uns zu rächen, er beleidigt uns.“ Dieser Satz wurde von Robert Antelme im Jahr 1945 kurz nach seiner Befreiung aus dem Lager Dachau geschrieben. Für diesen ehemaligen Widerstandskämpfer ist es die Erinnerung an seine vom Krieg hinweggerafften Kameraden, die die Hochachtung für den früheren Feind gebietet: „Nur ein Sieg der Ideen […], für die sie, die Männer und Frauen, gestorben sind, kann den Sinn einer Rache haben; […] Diese Toten sind abwesend von allen Veranstaltungen, die die Menschen, die sich für gerecht halten, entstellen könnten, sie sind jedoch anwesend in all den Momenten, in denen die Gesellschaft, die aufgehört hat, an sie zu ,denken‘, den Sinn ihres Opfers zu integrieren versucht.“ Der Kurs ist klar: die Würde des Menschen retten. Diese Form des Mitgefühls mit dem anderen fasst die Haltung zusammen, die von den Pionieren eines befriedeten Europas eingenommen wurde. Mehr als 70 Jahre danach erscheint dies selbstverständlich. Im Dezember 2012 erhält die Europäische Union den Friedensnobelpreis. Ihre Resilienz wird sofort hervorgehoben: Die aus der Asche und den Trümmern hervorgegangene EU erscheint nun als ein wichtiger Akteur „des Friedens und der Versöhnung“ auf der Welt. Die Verwandlung Europas wird als Modell hingestellt, sei es in Sarajevo, in Kinshasa oder in Kigali. Und obwohl in seinem Inneren oder an seinen Rändern (Zypern, Griechenland – Mazedonien, baltische Staaten – Russland, Polen – Russland) weiterhin potenzielle Spannungen und tatsächliche Obstruktionen existieren, zeigt diese Entwicklung dennoch, dass eine Annäherung zwischen sogenannten Erbfeinden möglich ist. Für viele Historiker überschreitet das in Stockholm in den Vordergrund gerückte Szenario die Schwelle der europäischen Konstruktion, da sich das Schicksal des Kontinents letztlich „weniger in den Trennungen als in der Art und Weise, sie zu lösen“1, entscheide. Aus dieser Sicht erinnern die Trümmer von 1945 an die Ruinen von 1918, die selbst wieder die Erinnerung an die Spuren der napoleonischen Kriege, die Religionskriege und den Dreißigjährigen oder den Hundertjährigen Krieg aufbewahren, wobei jeder dieser Konflikte Anlass für eine Befriedung war. Die Versöhnungsanstrengung tritt im Lauf der Jahrhunderte als Palimpsest 1 John Horne, Guerres et réconciliations au XXe siècle, Vingtième siècle, Nr. 104, Okt.–Dez. 2009, S. 3.

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hervor. Über die Brüche hinweg ist es die Umwandlung der Beziehungen zwischen ehemaligen Gegnern, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Mit der Unterzeichnung des Edikts von Nantes im Jahr 1598 beendet Heinrich IV. einen sechsunddreißigjährigen Bürgerkrieg und wird als „Friedenskönig“ bezeichnet. Auf die „Pax sit christiana“ der Verträge von Münster und Osnabrück antworten die Eheschließungen zwischen seit Langem verfeindeten Herrscherhäusern. Indem der junge Ludwig XIV. 1660 Maria Theresa von Spanien heiratet, besiegelt er den Pyrenäen­frieden von 1659, der dem 1635 begonnenen Krieg zwischen den Kronen Frankreichs und Spaniens ein Ende setzt. Nach dem Ersten Weltkrieg belohnt der Friedensnobelpreis im Jahr 1926 Aristide Briand und Gustav Stresemann für die Abkommen von Locarno und die Prämissen einer deutsch-französischen Annäherung. Zwei Jahre später spricht sich der Briand-Kellogg-Pakt für eine Ächtung des Kriegs aus. Aus einer solchen Perspektive scheint jede Schicht der europäischen Gedenkstratifikation mit Radierungen, Skulpturen und anderen Allegorien geschmückt, die die Vereinigung der früheren Kriegsführer unter den schützenden Blicken der einander umarmenden Gerechtigkeit und Wahrheit schildern. Und die Gewalt der Kriege, die Europa zerrissen haben, rechtfertigt sich letztlich dadurch, dass „man sich nirgendwo sonst so gut zerfleischt wie in der Familie“2. Es ist also keineswegs verwunderlich, wenn die Vertreter der EU erklären, dass sich der ganze Kontinent letztlich „auf der Versöhnung aufgebaut“ hat, wobei Letztere als eine „Tugend“ hingestellt wird, als „die anspruchsvollste“ von allen.3 Die Aktualität ruft jedoch in Erinnerung, dass dieser Ablauf der Konflikte keineswegs selbstverständlich ist. Die Aufeinanderfolge der institutionellen, sozialen und finanziellen Krisen sowie die Resultate der britischen Volksabstimmung zugunsten des Austritts aus der EU geben reichlich Zeugnis davon. Die Intentionen sind klar, aber das Resultat ist keineswegs endgültig gesichert. Deshalb ergibt es Sinn, die Tragweite und die Grenzen der Versöhnung als europäischen Erinnerungsort zu untersuchen. Drei zentrale Fragen erlauben es, die Reflexion abzustecken. Die erste betrifft die Akteure, die zur Einrichtung eines solchen 2 Elie Barnavi, Faire prendre conscience aux Eurpéens de ce qui leur est commun, in: Le Monde, 19. Oktober 1999. 3 Diese Formulierungen sind die des ehemaligen Präsidenten des Europarats Herman Van Rompuy (New York, 20. September 2011).

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Erinnerungsortes beigetragen haben. Die zweite geht auf das Verfahren ein, mit dem „die unerfüllten Versprechen der Vergangenheit“4 ausgemacht wurden. Die dritte fragt nach der Existenz eines spezifischen europäischen Modells der Konfliktlösungen.

Die Akteure – ein Schritt zur Seite 1945 beschließen verschiedene europäische Akteure, einen Schritt zur Seite zu machen, um Europa eher aufgrund von Verhandlungen als von Konflikten (wieder)aufzubauen. Der deutsch-französische Fall ist natürlich das Kernstück dieser Transformation. Der politische Kontext ist ­völlig neu: Der Feind steht nicht mehr auf der anderen Seite des Rheins, sondern im Osten. Angesichts der sowjetischen Bedrohung rücken die Franzosen und die Deutschen zusammen und erhalten dabei die massive Unterstützung der Vereinigten Staaten. Die offiziellen Versöhnungsgesten werden ins Bewusstsein dringen, aber zunächst einmal nimmt der Elan der Annäherung innerhalb der Zivilgesellschaften über die Vermittlung von Individuen und Vereinen Gestalt an. Mehrere Widerstandskämpfer wie Robert Antelme rufen die Franzosen auf, sich vor jeder nationalistischen Versuchung zu hüten. Bereits im Oktober 1945 beschrieb sich Joseph Rovan, der nach Dachau deportiert worden war, als „einen Franzosen, der sich daran erinnert, Deutscher gewesen zu sein“. 1918 in München geboren und nach Hitlers Machtantritt nach Frankreich geflüchtet, plant er nun die Konstruktion Europas auf der Grundlage einer gegenseitigen Kenntnis und eines Austauschs auf allen Ebenen – ob es sich nun um junge Menschen, um Politiker, Gewerkschaftler, Journalisten oder Geschäftsleute handelt, deshalb auch sein Engagement im deutsch-französischen Jugendwerk (Office franco-allemand pour la Jeunesse) und im Bureau International de Liaison et de Documentation (BILD). Auf derselben Linie lanciert Jean de Rivau, ehemaliger Häftling in Mauthausen und Dachau, schon im August 1945 die beiden Zwillingszeitschriften Dokumente und Documents. Im Vorwort zur ersten Nummer von Documents erklärt er, es sei nicht sein Ziel, 4 Paul Ricœur, La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000, S. 595 ff. (dt.: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, aus dem Frz. von Hans-Dieter Gondek, Heinz Jatho und Markus Sedlaczek, München 2004).

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„­ Partei zu ergreifen“, sondern, „die einen und die anderen“ aufzuklären, um es „eines kommenden Tages zu ermöglichen, mit dem Sprechen anzufangen“. Sprechen, konversieren, verbinden, das sind ebenfalls die unermüdlich verfolgten Ziele von Historikern wie Rudolf von Thadden und Alfred Grosser. Diese „Webarbeit“ spiegelt auch eine mitten im Krieg von dem Abbé Franz Stock unternommene Aktion wider: Nach einem Studium der Theologie am Institut catholique in Paris macht sich dieser deutsche Priester zum Verbindungsmann zwischen den beiden Ufern des Rheins. Von 1941 bis 1944 fungiert er als Gefängnispfarrer und betreut Hunderte französische Häftlinge, wobei er die Weitergabe von Botschaften zwischen den zum Tod Verurteilten und ihren Angehörigen ermöglicht. Nach dem Krieg bleibt er in Frankreich, nun aber an der Seite deutscher Häftlinge, und verkörpert dabei fortwährend das, was Bundeskanzler Helmut Kohl als die „Schicksalsgemeinschaft“, die die beiden Staaten verbindet, bezeichnete. Neben diesen individuellen Figuren werden auch zahlreiche kulturelle, politische, professionelle, religiöse oder Sportvereine tätig. 1948 wird das Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg eingerichtet, um die Austauschprogramme, die Vorträge und den Spracherwerb zu fördern. Ab 1950 legen Tausende Jugendliche in mehr als 40 Staaten deutsche Friedhöfe zugunsten einer „Versöhnung über den Gräbern“ an. Die Partnerschaften von Städten und Dörfern werden immer zahlreicher. Die Historikertreffen häufen sich ganz so wie diejenigen, die schon nach dem Ersten Weltkrieg von Jules Isaac in Frankreich organisiert worden sind. Die Dialogplattformen zwischen den beiden Ländern sind also schon vor dem Elysée-Vertrag von 1963 sehr zahlreich. Und in den nachfolgenden Jahrzehnten verstärkt sich diese Bewegung noch. Innerhalb von 50 Jahren nehmen mehr als acht Millionen deutsche und französische Jugendliche an den vom Deutsch-Französischen Jugendwerk organisierten Austauschprogrammen teil. Die Dichte dieser soziologischen Vernetzung hat sehr stark dazu beigetragen, dass die offiziellen Versöhnungsgesten öffentlich wahrgenommen werden. Der feierliche Charakter dieser Gesten entspringt zugleich dem materiellen Rahmen, in dem sie ausgeführt werden, und der Intensität der dort gehaltenen Reden – oder, ganz im Gegenteil, des Schweigens, das manchmal vorgezogen wird. Die Orte sind zahlreich, angefangen bei der 197

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Kathedrale von Reims, die im Juli 1962 General Charles de Gaulle und Kanzler Konrad Adenauer vereint und der Versöhnung eine spirituelle Dimension verleiht. Reims, der französische Erinnerungsort par excellence, verweist nicht nur auf die Taufe von Chlodwig, auf die Krönung und die Salbung der französischen Könige, sondern auch auf die Bombenangriffe der deutschen Armee während des Ersten Weltkriegs. Adenauer tritt also vor dem Hintergrund einer impliziten Reue an die Seite von General de Gaulle. Neben den zahlreichen Reden, die von beiden Staatschefs gehalten wurden, lösen die von de Gaulle während seiner Besuche in Westdeutschland auf Deutsch ausgesprochenen Worte eine unerwartete Emotion aus. Nachdem er Deutschland als ein „großes Volk“ bezeichnet hatte, rief er den Franzosen in Erinnerung, dass auch sie „unter gewissen Umständen“ der deutschen Bevölkerung Leid zugefügt hatten, und verweilte insbesondere vor der Feldherrnhalle in München zum Gedenken an die bayerischen Soldaten, die unter anderen 1870–1871 und 1914–1918 gefallen waren. Seither hat es kein französischer Politiker mehr versäumt, die im Kampf gefallenen „deutschen Toten“ zu ehren. Neben Reims und München ist da auch noch Versailles. Die Gedenkfeier im Januar 2003 für das vierzigjährige Jubiläum des Élysée-Vertrags in eben diesem Schloss, in dem auch die Unterzeichner des Friedensvertrags von Versailles von 1919 versammelt waren, zeugt von dem Bestreben, die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen oder wenigstens zu kompensieren. Die Annäherung vereitelt jede moralisierende Aufteilung zwischen den Mitgliedern der Gruppe und den anderen. Das „Wir“ verweist von nun an nicht mehr auf ein einstimmig als heroisch angesehenes Volk und die anderen werden nicht als die Ausgeburten der Hölle stigmatisiert. Und obwohl ihre Dialoge nicht frei sind von Mehrdeutigkeiten und Meinungsverschiedenheiten, gründen die Vertreter der beiden Staaten ihre Zusammenarbeit auf die vereinbarte Anerkennung einer Vergangenheit, die letztlich als eine „gemeinsame“ angesehen wird. Der Höhepunkt dieser Vorgehensweise liegt ohne Zweifel in dem Händedruck, der 1984 François Mitterrand und Helmut Kohl vor dem Beinhaus von Douaumont vereint. Diese von Hunderten von Karikaturisten gezeichnete Geste wird zu einem verpflichtenden Markstein. Die Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag der Schlacht von Verdun, die den Präsidenten François Hollande und die Kanzlerin Angela Merkel vereinen, zeigen dies deutlich. Die Geste von 1984 ist der Maßstab, an dem sich die offi198

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ziellen Vertreter von nun an messen. Sie alle versuchen, der Vergangenheit zu gedenken, indem sie deren ursprünglichen Sinn (den Zusammenstoß von Erbfeinden) abschwächen und einen neuen Sinn integrieren (die Zwietracht zwischen Brüdervölkern). Diese Entwicklung übersteigt rasch den deutsch-französischen Rahmen. Im Oktober 1965 wurde von der Gesamtheit der polnischen Bischöfe ein aufsehenerregender Brief an die deutschen Bischöfe geschickt: Die Formulierung „wir verzeihen und bitten um Verzeihung“ ermöglicht es, zugleich das Leid anzusprechen, das die Polen während des Kriegs erlitten haben, und das Leid der nach der Niederlage der Wehrmacht vertriebenen Deutschen. Fünf Jahre später verspürten die am 7. Dezember 1970 versammelten Zeugen eine tiefe Ergriffenheit angesichts des Kniefalls von Willy Brandt vor dem Denkmal, das an den Aufstand des Ghettos von Warschau erinnert. Am Tag darauf geht dieser „Kniefall von Warschau“ rund um die Welt. Wie bei dem Händedruck zwischen Mitterrand und Kohl ist der Überraschungseffekt vollständig gelungen: Brandt kniet völlig unerwartet nieder. Diese Authentizität, die völlig im Gegensatz zu den protokollbedingten Vorbereitungen steht, verleiht dem Schweigen, das für das Gedenken gewählt wurde, eine nie da gewesene Tragweite. Sei es nun in Warschau oder in Verdun, das kritische Bekenntnis einer schmerzhaften Vergangenheit scheint wortlos vor sich zu gehen. Die feierlichen Rituale besitzen jedoch nicht immer einen performativen Charakter. Die Wiederholung gut eingespielter Inszenierungen kann nur schwer die Vitalität der Annäherung zum Ausdruck bringen. Die gemeinsamen Gedenkfeiern zum 11. November mit Angela Merkel und Nicolas Sarkozy veranschaulichen natürlich diesen Übergang vom Duell zum Duett. Lösen sie die gleichen Emotionen aus wie die von 1984? Der Fall Bosniens ist diesbezüglich noch sinnbildlicher. Mehrere Zeremonien scheinen zwar dem Kniefall von 1970 abgeschaut worden zu sein, aber keine von ihnen scheint mit den Erwartungen einer trauernden und weitgehend desillusionierten Bevölkerung im Einklang zu stehen. Als der serbische Präsident Boris Tadić sich im Juli 2005 nach Srebrenica begibt, lehnen die Vereine der Mütter von Opfern die Teilnahme des Staatschefs an den Gedenkfeiern ursprünglich ab. 2013 verkündet sein Nachfolger Tomislav Nikolić, dass er sich niederknien und um Verzeihung bitten werde, weigert sich aber, das Massaker als Genozid zu bezeichnen. Zwei Jahre später ist der serbische Premierminister Aleksandar Vučić gezwungen, die Gedenk199

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stätte von Srebrenica zu verlassen, da er mit Steinen beworfen wird. Diese Beispiele zeigen deutlich, welche Diskrepanz zwischen einer Rhetorik der Versöhnung und der soziologischen Realität bestehen kann. Auf eine noch groteskere Weise kann der „Bruderkuss“ auch Teil einer Propaganda sein, über die man sich heimlich lustig macht. Der Kuss zwischen dem Kremlchef Leonid Breschnew und dem Generalsekretär der kommunistischen Partei Ostdeutschlands Erich Honecker fällt zweifelsohne in die Kategorie der künstlichen Versöhnungen: Mitten im Kalten Krieg feiert die DDR vor dem Hintergrund einer Militärparade ihr dreißigjähriges Jubiläum. Und diese „Zuneigung auf dem Gipfel“, die eher von einer Herrschaft als von einer Freundschaft zeugt, scheint die versammelten und zum Großteil völlig ernüchterten Menschen zu schockieren. Ein Beweis dafür ist das 15 Quadratmeter große Wandgemälde, das den fraglichen Kuss in allen Details auf einem erhaltenen Teil der Berliner Mauer kurz nach ihrem Fall abbildet. Die Kombination individueller, offizieller und von Vereinen ausgehender Initiativen innerhalb jeder teilnehmenden Gruppe scheint also ausschlaggebend zu sein, wenn man einen bleibenden Eindruck hinterlassen und gewisse Schlussstriche ziehen will. Die vor dem Ende des ­Kalten Kriegs von Václav Havel oder von den Vertretern von Solidarność gewählten Abläufe, um die Annäherung zum einen zwischen der Tschecho­ slowakei oder Polen und zum anderen zwischen Deutschland zu erleichtern, erweisen sich hier als entscheidend. Der Fall der Berliner Mauer ist an sich schon ein Erinnerungsort. Wenn es einen Zweifel an der Existenz wirklich europäischer Erinnerungsorte gibt, so ist der Fall der Mauer sicherlich eine Ausnahme. Das Ereignis erweist sich auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs als signifikant. Ab dem 9. November 1989 kommt es zu einer Abfolge von Symbolen auf allen Ebenen. Das improvisierte Konzert von Mstislaw Rostropowitsch veranschaulichte zunächst auf individueller Ebene von Neuem das Potenzial privater Akteure, wenn es um eine Annäherung geht. Der Cellist, der aufgrund seiner Unterstützung der Dissidenten Alexander Solschenizyn und Andrei Sacharow die Sowjetunion verlassen musste, die ihm die Staatsbürgerschaft entzog, widmet am 11. November 1989 eine Suite von Johann Sebastian Bach allen für die Freiheit Gefallenen. Am Tag danach geben auf offizieller Ebene der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der polnische Premierminister Tadeusz Mazowiecki während einer „Versöhnungsmesse“ 200

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in Kreisau das Signal für einen Neubeginn in den deutsch-polnischen Beziehungen. Als eine Art Anspielung auf die Zeremonie in Reims ist diese ebenfalls der Anlass für einen „Friedenskuss“ und ein stilles Gedenken an den eigentlichen Orten des Kreisauer Kreises (so hieß eine Gruppe von deutschen Widerstandskämpfern, die in den Jahren von 1940 bis 1944 aktiv war). Auf einer Ebene, die nicht mehr streng individuell oder offiziell ist, sondern sozial, bildeten einige Wochen zuvor eineinhalb Millionen Estländer, Litauer und Letten eine riesige Menschenkette, die von Tallin über Riga bis nach Vilnius reichte. Das Ziel bestand nicht so sehr darin, des 50. Jahrestags des Molotow-Ribbentrop-Pakts zu gedenken, als vielmehr durch einen 600 Kilometer langen Händedruck den „baltischen Weg“ und dadurch die Unabhängigkeit der drei Staaten zu versinnbildlichen. Diese über die Grenzen hinweg ausgestreckten Hände rufen andere in Erinnerung, unter ihnen die des deutschen Schriftstellers Heinrich Böll und des russischen Autors und Dissidenten Lew Kopelew, die seit 1962 freundschaftlich verbunden sind, oder, weniger weit zurückliegend, die der Nobelpreisträger Wisława Szymborska, Czesław Miłosz und Günter Grass, die im Jahr 2000 gemeinsam auf den Appell des litauischen Dichters Tomas Venclova antworteten, um das volle Ausmaß der Gedächtnisse zu berücksichtigen, die durch die Vertreibung von Millionen Menschen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verletzt wurden. Dieses Ereignis ist besonders aufschlussreich. Die Versöhnungsprozesse können nur langfristig gedacht werden, jedes einzelne der auch noch nach Jahrzehnten vom Exil zerfurchten Gesichter erinnert uns daran. Nach massenhafter Gewalt muss nicht in Jahren gezählt werden, sondern in Generationen, deshalb auch die Dichte der Erinnerungen, mit denen es fertig zu werden gilt. Unter die Vermissten des Zweiten Weltkriegs mischen sich die des Ersten, ganz zu schweigen von den noch offenen, wenn nicht gar eiternden kolonialen Wunden. Wie kann man also die Vergangenheit vergegenwärtigen, wenn sie weiterhin spaltet? Wie kann man sie integrieren, indem man gleichzeitig die von ihrer Grausamkeit zermalmten Menschen berücksichtigt und deren noch kaum geborene Kinder? Wie kann man – in anderen Worten – den schweren und zu lange getragenen „schwarzen Hut der Vergangenheit“5 ablegen? 5 Henry Bauchau, La Déchirure, Brüssel 1968 [1966], S. 279.

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Die Erinnerungsarbeit – Schritt für Schritt Wie aus diesen Fragen hervorgeht, steht hier enorm viel auf dem Spiel. Georges Bernanos fasst es in Les Enfants humiliés zusammen, wenn er erklärt, dass „die Zukunft nicht den Toten gehört, sondern denen, die die Toten zum Sprechen bringen und erklären, warum sie gestorben sind“6. Warum sind im Lauf des 20. Jahrhunderts europäische Zivilisten und Militärs massenweise hinweggerafft worden? Die offiziellen europäischen Vertreter jeglicher Parteien und Perioden riskieren keine Deutung und schweigen zunächst einmal lieber. Das Verfahren ist nicht un­ gewöhnlich. Jahrhunderte hindurch wurden das Schweigen und die Amnestie als unabdingliche Voraussetzungen jeder Versöhnung angesehen. 1946 ruft Winston Churchill das in Erinnerung, als er erklärt, dass das Ziel darin bestehe, „den Gräueln der Vergangenheit den Rücken zuzuwenden“. Sieben Jahrzehnte danach scheint das Gebot ein umgekehrtes zu sein, so sehr betonen die europäischen Instanzen die Wichtigkeit der Erinnerungsarbeit. Für Paul Ricœur liegt das Ziel eines solchen Vorgehens darin, die Vergangenheit zu konfigurieren, indem wir „die Geschichten, die wir einander erzählen, umformen“. Diese Anstrengung einer „Narration aus verschiedenen Blickwinkeln“ erscheint als „die einzige Art und Weise, die Erinnerung der einen und der anderen aufeinander zu öffnen“.7 Die Pluralität der Erinnerungen wird also akzeptiert: Die Erinnerungs­ arbeit kann nur eine Arbeit der Erinnerungen, der Gedächtnisse sein. Für diese Art des Vorgehens steht insbesondere das Treffen zwischen dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und dem tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel im März 1990: Der Eiserne Vorhang wurde soeben geöffnet. Die Staatschefs, die sich anlässlich des 51. Jahrestages des deutschen Einmarschs in die Tschechoslowakei treffen, nehmen eine kritische Prüfung ihrer nationalen Vergangenheit vor. Richard von Weizsäcker erwähnt von Anfang an die „sechs Jahre der Besetzung und Unterdrückung, die mittels politischer Erpressung und bewaffneter Aggression ermöglicht wurden“. Václav Havel blickt zurück auf die „Fehler und Sünden der Väter“ und spricht das Unrecht an, das die Tschecho6 Georges Bernanos, Les Enfants humiliés. Journal 1939–1940, Paris 1949, S.29. 7 Paul Ricœur, Quel ethos nouveau pour l’Europe?, in: Peter Koslowski (Hg.), Imaginer l’Europe. Le marché intérieur européen, tâche culturelle et économique, Paris 1992, S. 110.

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slowaken den drei Millionen in den Jahren 1945 und 1946 vertriebenen Sudetendeutschen angetan haben. Die b ­ eiden Staatschefs beschränken sich nicht auf die Anerkennung der Verfehlungen der Vergangenheit. Sie insistieren nacheinander auf die Auswüchse, die mit dem Begriff der Kollektivschuld zusammenhängen. Richard von Weizsäcker weist darauf hin, dass die „Schuld, genauso wie die Unschuld, immer persönlich ist, niemals kollektiv. Dennoch tragen wir kollektiv die Verantwortung für das, was wir gegenwärtig aus dem Erbe der Geschichte machen.“ Václav Havel wiederum gibt zu, dass sein Volk einst das Prinzip der Kollektivschuld akzeptiert hatte: „Wir haben sie ausgeschlossen, nicht aufgrund einer erwiesenen persönlichen Schuld, sondern ganz einfach, weil sie einer bestimmten Nation angehörten. […] Indem wir so handelten, haben wir uns selbst verletzt.“8 Diese Klarstellung von Begriffen der Kollektivschuld und der historischen Verantwortung verhindert weder die Spannungen noch die Regressionen, wie aus der jähen Abkühlung der polnisch-russischen Beziehungen unter Wladimir Putin und den Brüdern Jarosław und Lech Kaczyński hervorgeht, und das nach den 1990er-Jahren, einem Jahrzehnt, das geprägt ist von dem Eingeständnis seitens Michail Gorbatschow, dass Stalin für das Massaker der polnischen Offiziere in Katyń (1940) verantwortlich war, sowie durch die Geheimdokumente, die der erste russische Präsident Boris Jelzin 1992 zur Verfügung gestellt hatte. Im Europaparlament sind die gegenseitig an den Kopf geworfenen Beschimpfungen anlässlich der griechischen Finanzkrise symptomatisch für die Emotionen, die in dieser Debatte noch immer vorhanden sind. Für den griechischen Premierminister Alexis Tsipras haben die Deutschen sein von den Nazis völlig verwüstetes Land nie entschädigt. Der griechische Regierungschef beruft sich auf eine „historische und moralische Verpflichtung“ seinem Volk gegenüber und fordert schließlich „Kriegsentschädigungen“ von einem Deutschland, das mit seiner schuldhaften Vergangenheit gleichgesetzt wird.9 Über diese bezeichnende Episode hinaus veranschaulichen zahlreiche Widerstände das Gewicht der europäischen Vergangenheit. Selbst beim 8 Richard von Weizsäcker und Václav Havel, Échange praguois sur la culpabilité, in: Esprit, Nr. 162, Juni 1990, S. 5–8. 9 Griechisches Parlament, Athen, 8. Februar 2015.

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deutsch-französischen Fall, der oft als Vorbild angeführt wird, gibt es regelmäßig heftige Polemiken. Als Willy Brandt die Ostpolitik vorantreibt, die eine Anerkennung der neuen Westgrenze Polens bedingt, scheut der deutsche Vertriebenenverband nicht davor zurück, ihn als Verräter hinzustellen. Als Valéry Giscard d’Estaing davon Abstand nimmt, den 8. Mai 1945 zu feiern, weil er das vorziehe, „was uns annähert und uns vereinen kann“, gehen so manche politische, gewerkschaftliche und aus der Résistance hervorgegangene Organisationen auf die Straße und bedauern eine „Schmähung der Erinnerung derjenigen, die ihr Leben gegeben haben“10. Als Jacques Chirac den 25. Jahrestag des Waffenstillstands vom 11. November 1918 feiert und dabei die Notwendigkeit betont, „die gemeinsame Geschichte der kämpfenden Nationen“ zu feiern, sind manche zutiefst entrüstet darüber, dass alle Akteure in „ein und demselben aseptischen Nebel“11 vermischt werden. Trotz der Intensität dieser Widerstände meinen viele offizielle Vertreter, dass es paradoxerweise die Konfrontationen sind, die Europa entzweit haben, die heute den Mitgliedstaaten eine besondere Berufung auferlegen, was die Lösung von Konflikten betrifft. So werden die verheerende Erfahrung der beiden Weltkriege und insbesondere die Nachwehen des Holocaust „als Ursprung einer besonderen Sensibilität und Generosität“12 hingestellt. Im Unterschied zu einem Amerika, das oft wegen seiner arroganten und unilateralen Haltung kritisiert wird, hätte Europa aus den Dramen der Vergangenheit „die Lehren der Demut“ gezogen.13 Europa nimmt somit die Gestalt eines einmaligen Vorbilds an: War es lange Zeit „eine Schule des Krieges“, so ist es nun „eine Schule des Friedens“.14 Diesbezüglich ist es vielleicht bemerkenswert, dass während des Kalten Kriegs das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR zwar jeden direkten Konflikt auf europäischem Boden zu verhindern erlaubte, mehrere Staaten aber dennoch an Kriegen teilnahmen: Man denke nur an Frankreich, Großbritannien oder Portugal. Abgesehen von dieser Nuance, wird die Botschaft der Versöhnung in allen Tönen variiert. Für Javier Solana, den ehemaligen Hohen Vertreter 10 L’Humanité, 10. Mai 1975. 11 General Clarke de Dromantin, Le Figaro, 8. Mai 1998. 12 Guy Verhofstadt, Brüssel, 18. Dezember 2001. 13 Guy Verhofstadt, Brüssel, 8. Dezember 2001. 14 Jacques Chirac, Belgrad, 7. Dezember 2001.

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der Union für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), stellt die Versöhnung eines der wichtigsten Merkmale des „europäischen Modells“15 dar. Dasselbe Argument findet man im Rahmen der vom Europamuseum im Jahr 2007 eingerichteten Ausstellung. Unter dem Titel „Unsere Geschichte!“ setzte sich diese Ausstellung zum Ziel, „fünfzig Jahre Abenteuer Europa“ zu erzählen, und zwar ausgehend von der Feststellung, dass die Vereinigung Europas die noch nicht vernarbten Wunden sukzessiver Kämpfe und Leiden trägt. Die Erzählung der 27 Europäer, die ausgewählt wurden, um jeden Mitgliedstaat zu vertreten, beginnt 1945 – das als „Jahr null“ bezeichnet wird. Die einleitenden Sätze sind eindeutig: „Im Jahr 1945, am Ausgang des Kriegs, ist Europa an seinem tiefsten Punkt angelangt.“16 Eben diese historische Folie der europäischen Versöhnung ist es, die den „Mehrwert“ der Union rechtfertigt. Der ehemalige Präsident der Kommission, José Manuel Barroso, bestätigt dies: „Wir haben in Europa einen permanenten Frieden etabliert, der auf der Versöhnung zwischen ehemaligen Feinden aufbaut. Das ist ein historisches Exempel für die Welt.“17

Das Modell – die Gleichschaltung Die Worte sind ehrgeizig. Sie betreffen drei hauptsächliche Kreise von Akteuren, von denen der erste aus den Mitgliedstaaten der Union gebildet wird. Die bereits erwähnten Händedrücke, Küsse und Kniefälle versuchen nicht nur, die Trauer im Anschluss an die zwei Weltkriege zu fördern. Sie verweisen zum Beispiel auch auf alle in Nordirland „gefallenen Opfer“. Auf dieser Grundlage kommt es im Juni 2012 zu dem ersten Händedruck zwischen der Königin von England, Elisabeth II., und dem ehemaligen Anführer der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), Martin McGuinness. Dieses Treffen besitzt über seinen offiziellen Charakter hinaus eine persönliche Bedeutung für die Königin, deren Cousin, Lord Louis Mountbatten, von der IRA ermordet wurde. Dieses als historisch eingestufte Gegenüber kann jedoch nicht verhindern, dass es in Belfast zu zahlreichen Vorfällen kommt, bei denen mehrere Polizisten verletzt 15 Paris, 6. Oktober 2006. 16 Katalog der Ausstellung C’est notre histoire! Cinquante ans d’aventure européenne, Brüssel 2007, S. 29. 17 Brüssel, 24. März 2007.

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werden. Ein Jahr zuvor hatten die Anführer der Partei Sinn Féin bereits die Vorstellung eines solchen Treffens schlichtweg abgelehnt, weil sie meinten, es sei „zu früh“. Dieses Beispiel ruft in Erinnerung, dass die Versöhnung zwar einen Erinnerungsort darstellt, der die individuelle und/ oder familiäre Erfahrung gewisser europäischer Bürger widerspiegelt, für so viele andere aber weiterhin ein Erwartungshorizont bleibt. Der Fall Zypern ist hier besonders symptomatisch. Die seit 40 Jahren geteilte Insel ruft in Erinnerung, wie tief die europäischen Zerklüftungen sind. Diese Grenzen hindern jedoch die EU nicht daran, das „Prinzip der Versöhnung“ auch über ihre Grenzen hinaus zu verbreiten. Es geht also in einem zweiten Kreis darum, die Normalisierung der Beziehungen zwischen der EU – oder einem Teil ihrer Mitgliedstaaten – und Staaten außerhalb der Union zu fördern. In diesem Fall betreffen die Aufrufe zur Versöhnung insbesondere die Spuren der kolonialen Vergangenheit. So möchte Louis Michel, der Sprecher der europäischen Delegation bei der Konferenz in Durban, „die historische Versöhnung zwischen dem Norden und dem Süden“ besiegeln. Seine Worte sind eindeutig: „Im Lauf der Jahrhunderte war die europäische Geschichte äußerst kontrastreich. Das Schlimmste stand neben dem Besten. Europa war nacheinander erobernd und unterworfen, dominierend und gepeinigt, brüderlich und brudermordend, Träger großzügiger Ideen, aber auch Beförderer abscheulicher Konzeptionen.“18 Die Anerkennung einer Ungerechtigkeit führt jedoch nicht systematisch zur Formulierung von Entschuldigungen, bei Weitem nicht. Die Haltung der europäischen Vertreter ist in Anbetracht der Risiken, die die Reumütigen eingehen, gewöhnlich von einer großen Vorsicht geprägt. Diese Risiken sind unterschiedlicher Natur und reichen von der eventuellen Abstrafung bei den Wahlen im eigenen Land bis zur Ausschüttung einer ganzen Kette von Entschädigungen. Diesbezüglich ist es aufschlussreich, dass Frankreich und Algerien nie so weit gekommen sind, ihren „Élysée-Vertrag“ zu unterzeichnen. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Unabhängigkeitskrieg und nach jahrelangen Verhandlungen haben die beiden Regierungen ausdrücklich davon Abstand genommen, die Versöhnung nach dem gleichen Modus wie de Gaulle und Adenauer zu besiegeln. Anhand der Intensität der Widerstände auf beiden Seiten des Mittelmeers lassen sich die Haupt­ 18 Durban, 30. August 2001.

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unterschiede zwischen den deutsch-französischen und den frankoalgerischen Beziehungen ausmachen. Im deutsch-französischen Fall sind die zwei Staaten über Jahrzehnte hinweg durch eine Rivalität und eine Form der Symmetrie gekennzeichnet, die eine paradoxe Mischung aus Hass und Faszination auf beiden Seiten des Rheins erzeugt. In Kriegszeiten repräsentiert der andere grundlegend den Feind, den es zu bekämpfen gilt, aber diese Konkurrenz schließt eine Form der gegenseitigen Bewunderung nicht aus. Deutsche Komponisten und Dichter sind in Paris anerkannt, während zahlreiche französische Schriftsteller in Berlin bewundert werden. Der frankoalgerische Fall ist ganz anders gelagert. Die Kolonisierung ist weit entfernt von jeder Symmetrie und lässt eine deutliche Hierarchie zwischen den beiden entstehen. Keinerlei Bewunderung für eine ignorierte, wenn nicht gar verachtete algerische Kultur. Der andere ist nicht der Feind, den es zu bekämpfen gilt, sondern das Kind, das erzogen, ja sogar der Barbar, der zivilisiert werden soll. Ein anderer wichtiger Unterschied muss noch hervorgehoben werden. Der Zweite Weltkrieg endete mit der totalen Niederlage Deutschlands. Die Entdeckung der Lager erklärte, dass die Niederlage nicht nur eine militärische, sondern auch eine moralische ist. Die absolute Verurteilung Nazideutschlands durch die Behörden der Bundesrepublik Deutschland ermöglichte den Alliierten, das Deutschland von gestern nicht dem der Nachkriegszeit gleichzusetzen. In Algerien endete der Konflikt nicht nach dem militärischen Sieg eines der beiden Lager, sondern im Anschluss an Verhandlungen. Doch nach der Unterzeichnung der Abkommen von Évian im Jahr 1962 haben sich die Erzählungen so weit auseinanderbewegt, dass keine gemeinsame Darstellung der Vergangenheit die Ufer des Mittelmeers vereinen kann. Wenn Verdun nunmehr ein „kollektives Martyrium“ und eine von allen Soldaten ungeachtet ihrer Uniformen „geteilte Tragödie“ symbolisiert, lösen Orte wie Sétif, Guelma oder Kherrata (wo am 8. Mai 1945 Massaker begangen worden wurden) weiterhin Polemiken, Ziffernschlachten und Proteste aus. Wie ist unter solchen Umständen ein Freundschaftsvertrag denkbar? Ein dritter Kreis von Akteuren reicht über die Mitgliedstaaten und deren ehemalige Gegner hinaus, da die Aufrufe zur Versöhnung letzten Endes die Pazifizierung der Drittstaaten betreffen. Der Versöhnungsauftrag der EU wird tatsächlich in allen Gegenden der Welt hervorgehoben. Wie Michel Barnier, damals französischer Außenminister, in Erinnerung 207

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rief, handelt es sich nicht darum, „Lehren zu erteilen“, sondern „hinzuschauen“ und „mitzuleiden“ mit denen, die sich in einem „von der Gewalt heimgesuchten Alltag“19 bekämpfen. Das Argument ist immer dasselbe, ob nun in Asien, an den Großen Seen in Afrika oder auf dem Balkan. Aufgrund ihrer beispielhaften Versöhnung räumen sich die europäischen Staaten das Vorrecht ein, „den anderen zu sagen, was es kostet, eine neue Welt zu errichten“, wie Mitterrand es formulierte. Die vorgeschlagene Grammatik beruht auf einem gerichtlichen und symbolischen Umgang mit der Vergangenheit. Auf gerichtlicher Ebene wird das internationale Militärgericht von Nürnberg als ein entscheidender Schritt der Nachkriegszeit hingestellt. Deshalb unterstützte man die Idee eines Internationalen Gerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien oder für Ruanda. Was den symbolischen Umgang mit der Vergangenheit angeht, so schreibt er sich in die notwendige Anerkennung der begangenen Verbrechen ein. Der auf Belgrad ausgeübte Druck zugunsten einer Annäherung an Pristina zeugt davon. Bei den Beitrittsverhandlungen Serbiens mit der Union ist der Aufruf zur Versöhnung quasi gleichbedeutend mit einer Voraussetzung für den Beitritt. Die offenkundige Änderung im Verhalten des serbischen Präsidenten Tomislav Nikolić ist durchaus sinnbildlich dafür. Nach seinem Amtsantritt im Juni 2012 war er ein glühender Nationalist und lehnte selbst die Idee irgendeiner Anerkennung des Kosovo ab. Man muss jedoch feststellen, dass ihn die wirtschaftliche Krise und vor allem die Aussicht auf einen Beitritt zur Europäischen Union kaum ein Jahr später dazu führten, seine Einstellung gegenüber Pristina zu mildern. Die Entwicklung ist genauso offenkundig, was die in Srebrenica begangenen Verbrechen betrifft. Man muss sich allerdings fragen, wo die Grenzen einer solchen Dynamik liegen. Die europäische Konstruktion ist zweifelsohne ein bemerkenswerter Präzedenzfall. Sie bildet jedoch keineswegs eine Vorlage, nach der sich alle Postkonfliktsituationen richten müssen. Zwei Elemente müssen hier näher ausgeführt werden. Erstens: Die nach und nach von den europäischen Instanzen ausgearbeitete Versöhnungsgrammatik ist nicht nur das Resultat einer Erfahrung sui generis. Sie ist auch spürbar geprägt von der Einsetzung der Kommissionen „Wahrheit“ und „Versöhnung“, sei es nun 19 Tel Aviv, 19. Oktober 2004.

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in Lateinamerika oder in Südafrika in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts, der emblematischsten von allen. Die Einflüsse wirken hier also in umgekehrter Richtung. Die europäischen Staaten sind weit davon entfernt, die Vorgehensweise vorzuschreiben, und scheinen mehr und mehr fasziniert von einem Versöhnungsmodell, das auf Vergebung basiert. Dieser Begriff steht nirgends im Projekt der Gründerväter Europas: In den Gründungstexten der Europäischen Gemeinschaft ist viel mehr von gemeinsamen Interessen als von Vergebung die Rede. 40 Jahre später lässt sich die Entwicklung dieser Empfehlungen durch charismatische Persönlichkeiten wie Nelson Mandela und Desmond Tutu erklären sowie durch die Übergangsjustiz als einen privilegierten Umgangsmodus mit der Vergangenheit. Zweitens: Die Intensität der Widerstände gegen einen euphorischen Aufruf zur Versöhnung lädt zu einem vor allem bescheidenen Ansatz ein, sowohl, was den Kalender betrifft, als auch die den Gegnern von gestern zugewiesenen Ziele. Beauftragt man sie damit, zu einer Form von Koexistenz zu gelangen, was unmittelbar nach Verbrechen gegen die Menschheit schon bemerkenswert wäre, oder zu einer Form von Harmonie? Innerhalb von drei Jahren, drei Jahrzehnten oder drei Generationen? Die Geografie der Stadt Koblenz kann rein metaphorisch besonders gut die Dauer der ins Auge gefassten Prozesse veranschaulichen: Am Zusammenfluss von Rhein und Mosel ist es aufschlussreich, die Färbung des Wassers zu beobachten. Der Strom und der Fluss sind weit davon entfernt, sich sofort zu vermischen, sie behalten ihre eigene Farbe relativ lang bei. Flussabwärts, weit unterhalb des Zusammenflusses, gehen die Gewässer nach und nach ineinander über und werden ununterscheidbar. Genauso wie diese Strömungen können auch die von einer vergangenen Gewalt affizierten Gemeinschaften sich nicht in der Dringlichkeit annähern. Halten wir zum Abschluss fest, dass die Aufrufe zur Versöhnung, die von den europäischen Vertretern ausgesprochen werden, sich deutlich von denen unterscheiden, die im Rahmen der Außenpolitik der Vereinigten Staaten formuliert werden. Anstatt den Akzent auf die Annäherung divergierender und manchmal einander widersprechender Erinnerungen zu legen, insistieren die US-amerikanischen Sprecher vor allem auf die Notwendigkeit, voranzuschreiten und die ganze Aufmerksamkeit auf die Zukunft und ihre Herausforderungen zu richten. So hat die 209

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Staatssekretärin Hillary Clinton nicht vor der Erklärung zurückgescheut: „Wir können mit denen arbeiten, die die Vergangenheit vergessen und sich auf die Zukunft konzentrieren wollen.“20 Dieser Unterschied in der Sensibilität ist nicht neu. Manche leiten daraus eine kulturelle Verschiedenartigkeit ab. Das deutet jedenfalls Javier Solana an: „Wenn die Amerikaner sagen: ,Das ist Geschichte‘, wollen sie oft sagen, dass das nicht mehr relevant ist. Wenn die Europäer sagen: ,Das ist Geschichte‘, wollen sie gewöhnlich das Gegenteil sagen.“21 Dieses Interesse an der Geschichte und an den Umwegen der Erinnerungen zeugt jedenfalls vom Gewicht der Vergangenheit auf dem „alten Kontinent“. Die Verwüstungen des 20. Jahrhunderts haben die europäischen Landstriche gebrandmarkt. Die Angst, wieder in eine entfesselte Gewalt einzutauchen, erklärt vielleicht das Bestreben, sich um jeden Preis nicht nur über die Zukunft zu verständigen, sondern auch über die Vergangenheit.

Literatur Yaacov BAR-SIMAN-TOV (Hg.), From Conflict Resolution to Reconciliation, Oxford 2004. Corine DEFRANCE, Die Meistererzählung von der deutsch-französischen „Versöhnung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 1–3, 2013), S. 16–22. Lilly GARDNER-FELDMAN, Germany’s Foreign Policy of Reconciliation. From Enmity to Amity, Lanham 2014. Catherine GUISAN, From the European Coal and Steel Community to Kosovo: Reconciliation and its Discontents, in: Journal of Common Market Studies, Bd. 49, Nr. 3, 2001, S. 541–562. Georges MINK und Laure NEUMAYER, L’Europe et ses passés douloureux, Paris 2007. Valerie ROSOUX, Le usages de la mémoire dans les relations internationales, Brüssel 2001.

20 Kinshasa, 10. August 2009. 21 Paris, 6. Oktober 2006.

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Ein Blick von Asien auf die europäische Versöhnung Aus asiatischer Perspektive zeichnet Europa die Fähigkeit aus, ­Frieden zu schließen und seine Vergangenheit kritisch zu hinter­ fragen. Zwischen China, Taiwan, Japan und Korea hat die wirtschaftliche Entwicklung zu umfassenden Handelsbeziehungen, nicht aber zu politischem Frieden geführt.

Ratspräsident Herman Van Rompuy, Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Parlamentspräsident Martin Schulz nehmen 2012 stellvertretend für die EU den Friedensnobelpreis entgegen.

Akiyoshi Nishiyama

„Über sechs Jahrzehnte lang hat sie zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa beigetragen“ – so begründete die Nobelpreiskommission die Verleihung ihres Friedenspreises von 2012 an die Europäische Union. Inmitten der Finanzkrise wollte man damit einerseits die in die Zerreißprobe geratene Union moralisch unterstützen. Aber andererseits erschienen die konfliktgeladenen oder gewaltsamen Situationen in der außereuropäischen Welt, besonders im Nahen Osten nach dem gescheiterten Arabischen Frühling und in Ostasien mit nationalistischen Antagonismen, tatsächlich auf den historischen Verdienst der europäischen Integration zu verweisen. Wegen der historischen Parallele bis 1945 vergleicht man oft Ostasien geschichtspolitisch und erinnerungskulturell mit Europa – allerdings erst seit den 1980er-Jahren. Die deutsch-französische Versöhnung unter Konrad Adenauer und Charles de Gaulle sowie Willy Brandts Kniefall in Warschau wurden zeitgenössisch als potenzielles Modell kaum beachtet, weil auch in Ostasien zu dieser Zeit die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Südkorea und Japan (1965) sowie zwischen der Volksrepublik China und Japan (1972) stattfand. Andererseits war ein supranationales Integrationsprojekt wie ein solches in Westeuropa für Ostasien sowohl sicherheitspolitisch als auch wirtschaftlich undenkbar. Es fehlte hier auch an grenzüberschreitenden Vernetzungen auf der Ebene der Gesellschaft, die mit der Rolle der Kirchen in Europa vergleichbar wären. Anlass zur „Entdeckung“ der deutschen Vergangenheitsbewältigung und der Versöhnung Deutschlands mit den Nachbarstaaten gab die Debatte um japanische Geschichtsschulbücher. Im Juni 1982 wurde in den Medien berichtet, dass das japanische Bildungsministerium bei der Prüfung der zur Genehmigung vorgelegten Geschichtsschul­bücher angewiesen hätte, „Invasion“ durch den neutral klingenden Ausdruck „Vorrücken“ zu ersetzen, was die Politik Japans in China in den 1930erJahren betrifft. Diese Nachricht machte das Schulbuch national und international zum Politikum, indem sie bei den Liberalen und Linken Japans und bei China und Südkorea heftige Protestreaktionen provozierte. Im Kontext dieses sogenannten Ersten Schulbuchstreits wurden die deutschen Schulbuchdialoge mit Frankreich (seit 1952) und Polen (seit 1972) als Modell vorgestellt und ihre Leistungen betont. Dieses positive Bild von Deutschland, das sich um die Aufarbeitung der Nazi212

Ein Blick von Asien auf die europäische Versöhnung

vergangenheit und damit als „Täterstaat“ um Aussöhnung viel bemühte, wurde ferner durch die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Bundestag am 8. Mai 1985 deutlich verstärkt. Der Satz „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart“ wurde oft als Mahnwort zur Situation in Ostasien zitiert, wo 1985 der „öffentliche Besuch“ des japanischen Premierministers Nakasone Yasuhiro zum Yasukuni-Schrein, der neben den gefallenen Soldaten auch die auf dem Tokioter Militärtribunal von 1947 zum Tod Verurteilten verehrt, wiederum für Aufsehen sorgte. Was am Anfang des 21. Jahrhunderts geschah, ist auf den ersten Blick eine Wiederholung dieses Konflikts vor 20 Jahren (mit Schulbuch und Yasukuni-Besuch): Die Geschichte trennt in Ostasien, während sie in Europa eint. Mit der fortschreitenden politischen Integration ging es in Europa einher, dass die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, vor allem die zwei Weltkriege und der Holocaust, als „negative Erben“ Europas immer gemeinsam erinnert werden. Plakativ dafür war das deutschfranzösische Geschichtsbuch, das auf Initiative des Jugendparlaments zum vierzigjährigen Bestehen des Elysée-Vertrags entstanden war. Als dessen erster Band 2006 erschien, wurde darüber in den Medien von Südkorea und Japan viel berichtet und später wurde er sogar übersetzt. In Ostasien hat sich die Konstellation auch stark geändert, insbesondere mit einer Annäherung auf dem wirtschaftlichen Niveau, einer Demokratisierung und einem intensiveren Austausch zwischen den Ländern. Diese Veränderungen haben allerdings keineswegs zur politischen Annäherung geführt. Vielmehr ist das nationale Bewusstsein gewachsen. Alte Themen wie das der sogenannten Trostfrauen führten zu neuen Polemiken, während die territorialen Kontroversen um viele kleine Inseln wie auch um die Frage der Seeherrschaft für großes Aufsehen in jedem Land sorgten. Hinzu kommt, dass die Teilungen (VR China/Taiwan, Nord- und Südkorea) aus der Zeit des Kalten Krieges fortbestehen. Da ist es schwer, historische Dialoge in dem Sinn zu führen, dass man den Blick des anderen versteht und den eigenen kritisch betrachtet, weil dies sehr oft als „Gesichtsverlust“ interpretiert wird. In der heutigen Diskussion über Geschichte und Versöhnung in Ostasien dient Europa zwar als Modell, wird aber auf jeder Seite selektiv herangezogen: Japan plädiert für eine „Wertegemeinschaft“ mit Demokratie und Menschenrechten, redet aber seine grausame Kriegsgeschichte klein; 213

Akiyoshi Nishiyama

China lobt die deutsche Vergangenheitsbewältigung, verhält sich jedoch gegenüber dem „westlichen“ Verständnis der Demokratie ablehnend. Eine „Ostasiatische Gemeinschaft“, von der man um die Jahrtausendwende viel geredet hatte, scheint angesichts der andauernden Spannungen immer mehr illusionär. Es ist wohl ein historisch anerkennenswertes Projekt, dass in Europa die Aussöhnung und die Integration miteinander Hand in Hand vorangetrieben worden sind. Die aktuelle Lage lehrt uns allerdings, dass man diese Errungenschaften Europas nicht allzu sehr idealisieren sollte.

Literatur Yinan HE, The Search for Reconciliation. Sino-Japanese and German-Polish Relations since World War II, Cambridge 2009. Jennifer LIND, Sory States. Apologies in International Politics, Ithaca 2008. Akiyoshi NISHIYAMA, Ein Ziel in weiter Ferne? Das gemeinsame deutsch-französische Geschichtsbuch aus japanischer Sicht, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande, Nr. 41, Straßburg, S. 105–123.

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Sandrine Kott

Soziale Bürgerrechte Seit dem 19. Jahrhundert unterscheiden sich die Länder Europas durch ihre verschiedenen Maßnahmen zur Marktregulierung und zur sozialen Umverteilung. Deren Ausweitung ging im 20. Jahrhundert so weit, dass man von der Existenz eines „europäischen Sozialmodells“ ausgehen konnte. Dieses wird heute allerdings grundsätzlich infrage gestellt, und zwar von neoliberalen Vordenkern einerseits, von den Bürgern andererseits.

Der Segen der Alters– und Invalidenversicherung (Holzstich, um 1890).

Sandrine Kott

Man mag es für verwegen halten, dass zu einem Zeitpunkt, an dem man den Begriff Europa eher mit dem Adjektiv „neoliberal“ als mit „sozial“ verbindet, hier die Frage aufgeworfen werden soll, ob der Sozialstaat konstitutiv für das europäische Gedächtnis ist. Dabei wurden in Europa bereits zu Ende des 19. Jahrhunderts sozialpolitische Maßnahmen entworfen und praktikziert, die die Grundlagen unseres heutigen Sozialstaats bilden. Die Ausdehnung dieser Regulierungsmaßnahmen und der Erlass von Bestimmungen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der gesellschaftlichen Umverteilung in ganz Europa im Lauf des 20. Jahrhunderts bilden die Grundlage für den Ausdruck „europäisches Sozial­ modell“. Seine Lobredner schreiben diesem Modell eine eindeutig performative Dimension zu: Die Verbindung der beiden Begriffe – „sozial“ und „europäisch“ – gestattet die Verankerung des politischen Projekts Europa in den Gesellschaften und verschafft ihm zusätzliche Legitimität. Der Ausdruck verweist zudem auf das System sozialer Sicherung als europäisches Spezifikum in einer globalisierten und bedrohlichen Welt. Der Ausdruck erfreut sich zwar einer gewissen Beliebtheit bei europäischen Beamten, Politikern und Sozialforschern, doch erweist sich ein wachsender Anteil von Bürgern Europas als immer deutlicher euroskeptisch. Diese Einstellung gründet insbesondere auf dem Eindruck, die europäischen Institutionen seien außerstande, den Bürger wirksam vor den sozialen Folgen der von ihnen betriebenen Öffnung für die Konkurrenz zu schützen. Oder aber – was noch schlimmer ist – man betrachtet das zunächst als Freihandelszone aufgefasste Europa als Bedrohung für die nationalen sozialen Sicherungssysteme. Der die letzten Jahre beherrschende Diskurs des Rückzugs auf die nationale Ebene und das britische Votum für den EU-Austritt stützen sich auf die Idee, dass die Nationalstaaten – nicht aber das politische und wirtschaftliche Konstrukt Europa – die Bürger vor den sozialen Folgen der bestehende Strukturen auflösenden Globalisierung schützen können. Wenn man die Geschichte des Gegensatzes von Befürwortern des europäischen Sozialmodells auf der einen Seite und auf der anderen von Kritikern, für die Europa eine Bedrohung der auf nationaler Ebene erreichten sozialen Errungenschaften darstellt, untersuchen will, muss man erst einmal für terminologische Klarheit sorgen. Von welchem „Europa“ spricht man eigentlich? Die Europa-Kritiker meinen damit im Allgemeinen das politische Projekt, das sich nach dem Ende des Zweiten 216

Soziale Bürgerrechte

Weltkriegs abzeichnet. Wenn man aber die Europäisierung des Sozialstaats und seines Gedächtnisses näher betrachten will, gilt es, weiter in Raum und Zeit auszugreifen, bis auf den Erlass der ersten Sozialgesetze im 19. Jahrhundert zurückzugehen und sich dabei nicht allein auf Westeuropa zu beziehen. Was aber versteht man unter Sozialstaat? Auch hier gilt es, die ganze Bandbreite der Handlungsfelder sowie der Vorgehensweisen des Sozialstaats zu berücksichtigen. Diese beschränken sich nicht auf Umverteilungsmaßnahmen und, wenn die soziale Sicherung, die Bildungs- und Wohnungspolitik auch auf nationaler Ebene erfolgen, so sind sie nicht notwendigerweise staatliche Angelegenheit. Das Handeln des Sozialstaats erstreckt sich auch auf die Entwicklung eines Korpus von gesetzlichen Normen, mit deren Hilfe die Voraussetzungen für größere soziale Gerechtigkeit geschaffen werden. Diese sind oft das Resultat europäischen Austauschs und Gesprächs.

Am Anfang stand die Rivalität unter den Staaten Europas Ende des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich Europa vom Rest der Welt durch die Antworten, die zunächst einmal die Staaten, dann aber auch andere öffentliche und kollektive Einrichtungen wie etwa Gemeinden oder Gewerkschaften auf die soziale Frage gegeben haben. In allen europäischen Ländern kommt es parallel zu der Entwicklung der Industrialisierung und der Lohnarbeit zu einer Vielzahl von Sozialmaßnahmen. Die Sozialpolitik verfolgt dabei ein doppeltes Ziel: das des Schutzes und das der Umverteilung. Die Arbeitsgesetzgebung korrigiert die grundsätzliche Ungleichheit zwischen abhängig Beschäftigten und Arbeitgebern bei der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags. Sozialhilfe und Sozialversicherungen zielen darauf ab, Prekarität und Elend sowie die Unruhen, die aus dem Elend resultieren könnten, einzudämmen. Ab den 1830er- und 1840er-Jahren werden Schutzmaßnahmen für Frauen und vor allem für die Kinderarbeit in allen Ländern Westeuropas auf breiter Ebene erörtert. Der Staat als Vertreter der übergeordneten Interessen der Nation tritt dabei als Beschützer von Individuen auf, die sich mangels politischer Rechte nicht selbst verteidigen können. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kümmert sich der Staat auch um den gesetzlichen Schutz für erwachsene männliche Arbeiter. Die Arbeitszeit wird 217

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geregelt, ein arbeitsfreier Ruhetag pro Woche eingeführt, dazu kommen hygienische Maßnahmen an den Produktionsstätten. In den 1880er-Jahren definiert der Staat zunächst in Deutschland, dann in ÖsterreichUngarn und in England den gesetzlichen Rahmen für die Schaffung von Pflichtsozialversicherungen (für Arbeiter), die als Sicherheitsnetze für die Wechselfälle des Lebens betrachtet werden. Sie erstrecken sich auf Krankheit, Unfälle, Invalidität und Alter. Diese Versicherungen werden in hohem Maß von Arbeitnehmern und Arbeitgebern finanziert, während dies bei den eigentlichen Umverteilungsmaßnahmen – kostenloses Bildungssystem, unterstütztes Wohnen – in der Regel durch die lokalen Behörden erfolgt. Die einschlägigen Staatsausgaben im engeren Sinn bleiben bescheiden; sie belaufen sich auf circa vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Fall Deutschlands, Großbritanniens und Schwedens und auf lediglich ein Prozent in Dänemark, Frankreich und Italien. Die Sozialmaßnahmen betreffen auch nur einen geringen Anteil der Bevölkerung: Bauern, die damals noch den größten Anteil an der Bevölkerung stellen, sind von ihnen ausgeschlossen. Immerhin verleihen die Sozialversicherungen und die Arbeitsgesetzgebung den Betroffenen Rechte, im Unterschied etwa zu den unterschiedlichen Formen christlichen karitativen Beistands. Die von den Staaten verliehenen und garantierten Rechte binden allerdings die Bevölkerung, die ihren Nutzen daraus zieht, an diese. Auf diese Art werden die sozialpolitischen Maßnahmen in den einzelnen Staaten zu einem starken Bestandteil der Identifikation mit der Nation, ja zu Orten des nationalen Gedächtnisses. Die verschiedenen Regierungen nutzen übrigens die Sozialgesetzgebung zur Herausbildung (wie in Deutschland) oder Stärkung (wie in Frankreich) des Nationalbewusstseins bis hin zu nationalistischer Propaganda. Während in Deutschland der Lohnempfänger im Mittelpunkt der Sozialmaßnahmen steht, ist es in Frankreich der Staatsbürger. In Belgien begünstigen starke „mutualistische“ Elemente, also Formen wechselseitiger Unterstützung von Arbeitnehmern oder auch Handwerkern, die politischen und religiösen Gemeinschaften, die die Grundlage der nationalen Einheit bilden. Als Beispiel hierfür kann das System von Gent dienen, wo die Unterstützung von Arbeitslosen auf der Grundlage ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit erfolgt. Die Briten haben Mischformen entwickelt, die es erlauben, dass neben staatlichen Systemen oder als Ergänzung zu diesen auch private Einrichtungen gedeihen können. 218

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Bis heute dienen diese Unterschiede, die im politischen Diskurs zu Wesensunterschieden stilisiert werden, zur Rechtfertigung dafür, dass europäische Sozialpolitik subsidiären Charakter hat und es keinen europäischen Sozialstaat gibt. Vielleicht liegt aber gerade in der Betonung dieser Unterschiede und im Willen, sich von den anderen zu unterscheiden, die genuin europäische Dimension der Entwicklung der europäischen Sozialstaaten. Eine Art gemeinsame europäische Erinnerungskultur beruht gerade auf dieser Konkurrenz. Denn, wenn die Sozialstaaten des 19. Jahrhunderts sich auch deutlich national artikulieren, so haben sie sich doch in der Interaktion und in positivem Wettstreit miteinander herausgebildet und sich dabei in erheblichem Umfang wechselseitig angeregt. Die ersten Forderungen nach einer europäischen Harmonisierung der Sozialgesetzgebung kamen übrigens von Industriellen, denen daran gelegen war, einerseits über gut ausgebildete sowie gesunde Arbeitskräfte zu verfügen und andererseits keinem unfairen Wettbewerb aufgrund von unterschiedlichen nationalen Bestimmungen ausgesetzt zu sein. Der Informationsaustausch auf diesem Gebiet erfolgt im Rahmen von Tagungen zum Thema soziale Sicherung, die seit 1880 regelmäßig stattfinden, sowie durch die Schaffung internationaler Organisationen, ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts. Die wichtigste von ihnen, die Association internationale pour la protection légale des travailleurs, die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, wird 1900 in Paris gegründet und hat ab 1901 ihren Sitz in Basel. Die Mitglieder derartiger Verbände kommen vorwiegend aus Europa. Sie halten Tagungen ab, auf denen die Unterschiede und jeweiligen Vorteile der unterschiedlichen nationalen Systeme groß herausgestellt werden. Vor allem dienen diese Treffen aber dem Austausch und wechselseitiger Information. Die regelmäßigen Teilnehmer – Hochschullehrer, Juristen und Wirtschaftler, Arbeitgeber, Leiter von Pensions- und Gesundheitsfonds sowie als Privatpersonen auch Staatsbedienstete – bilden bald eine Gruppe von europäischen Spezialisten für Sozialpolitik. Diese betonen den Zusammenhang zwischen europäischer Modernität und sozialer Sicherung, um so ihre eigene Expertenrolle zu stärken. Sie vertreten die Auffassung, die Regulierung der Arbeitsbedingungen und die Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Bevölkerung würden es den europäischen Staaten gestatten, das Wachstum ihrer Produktivität zu steigern und zugleich Elend sowie eine drohende Sozialrevolte zu verhindern. Auch wenn sie eher unscharf 219

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umrissen ist, hat diese Gruppe wirksam dazu beigetragen, dass der Sozial­ staat zum Erinnerungsort eines Europas des Fortschritts geworden ist. Er ist aber nicht der einzige, denn seit dem Ende des 19. Jahrhunderts haben sich Sozialisten und reformistische Gewerkschaften sozialdemokratischer oder christlicher Orientierung zu internationalen, aber vorwiegend europäischen Verbänden zusammengeschlossen. Hier sind die Internationale Arbeiterassoziation, aus der die Zweite Internationale wurde, der Internationale Gewerkschaftsbund, auch Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale genannt, und der Internationale Verband christlicher Gewerkschaften mit Sitz in Den Haag zu nennen. Die sozialen Forderungen sind ein zentrales Element dieses Arbeiterinternationalismus. In dieser Hinsicht sind die Verkürzung der Arbeitszeit sowie der emblematische Achtstundentag echte Erinnerungsorte der europäischen Arbeiterbewegung. Am Ende tritt auch die Sozialistische Internationale für die Versicherungs­ gesetze ein, die sie zunächst bekämpft hat, weil diese einen Staat, der der Arbeiterbewegung feindlich gegenüberstand, hätten stärken können. Der proletarische Internationalismus überlässt damit immer mehr den Forderungen nach einem durch die Koordination der Sozialpolitik auf europäischer Ebene garantierten sozialen Fortschritt das Feld. Während des Ersten Weltkriegs verlangen die Gewerkschaftsvertreter der Alliierten, die in die Burgfriedenspolitik eingebunden sind, einen Ausgleich für die von der Bevölkerung erbrachten Opfer und treten für die Schaffung einer internationalen Organisation für Arbeit ein, in der die Gewerkschaften die Interessen der Welt der Arbeit vertreten sollen. Die Einrichtung der Internationalen Organisation für Arbeit (IOA beziehungsweise ILO für International Labor Organization) im Jahr 1919, die auf einem Beschluss der europäischen Alliierten beruht, gilt als Sieg der Gewerkschaftsbewegung. Das erste Abkommen, das eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden befürwortet (Vierzigstundenwoche), ist bis in die Gegenwart europäischer Standard geblieben und bildet einen herausragenden Ort der Erinnerung an die Errungenschaften der Arbeiterbewegung.

Die Durchsetzung eines demokratischen und sozialen Europas Die Gründung der IOA ist nicht zuletzt auch eine Antwort auf die revolutionäre Bewegung, die sich, ausgehend von Russland, am Ende des Ersten Weltkriegs in ganz Europa ausbreitet. Angesichts dieser Gefahr 220

Soziale Bürgerrechte

verkörpert und entwickelt die neue Organisation ein reformistisches und demokratisches Gegenmodell. Die europäische Identität, die die Basis gemeinsamen Gedächtnisses bildet, ergibt sich also, wie man sieht, weniger aus der Konvergenz der Politik, die in den einzelnen europäischen Staaten betrieben wird, als vielmehr aus der Selbstdefinition eines sozialen und demokratischen Europas und seiner Abgrenzung gegenüber konkurrierenden Modellen. Zugleich ist die Zwischenkriegszeit auch die Periode, in der es zu einer raschen Ausdehnung des Systems sozialer Sicherung kommt. Das schließt auch die neuen Staaten ein, die in Ost- und Südosteuropa aus der Auflösung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn hervorgegangen sind. Die Sozialpolitik betrifft immer mehr Gruppen der Gesellschaft und die Sozialausgaben wachsen. Die von der IOA vorgeschlagenen Regelungen sind nicht zwingend und bedürfen der Ratifizierung durch die Parlamente der Mitgliedstaaten, sodass es im Detail zu abweichenden Lösungen kommen kann. Trotzdem sind die Vorschläge der IOA und die sie vorbereitenden Diskussionen richtungweisend für die in den einzelnen europäischen Ländern eingeschlagene Politik und für gemeinsame Orientierungen. Deren Hauptachsen sind Regelungen für die Bereiche Ruhestand, Arbeitszeit, vertragliche Gestaltung der Arbeitsbeziehungen, Ausbildung, Sozialpolitik und Hygiene, seit den 1930er-Jahren auch die Freizeit- und Wohnungspolitik. Das Ziel aller Sozialpolitik ist ausdrücklich die Vermeidung beziehungsweise Korrektur von Ungerechtigkeit und Elend sowie der Kampf gegen die Prekarität. Es geht vor allem darum, Revolutionen vorzubeugen, die aus diesen negativen Faktoren resultieren könnten. Die Sozialreformer bemühen sich deshalb um die Schaffung von günstigen Bedingungen für Verhandlungen unter Sozialpartnern. Das gleiche Ziel wird 50 Jahre später ein Jacques Delors verfolgen, der 1985 die europäischen Sozialpartner zu einem Treffen auf Schloss Val Duchesse bei Brüssel versammelt. Wie in der Zwischenkriegszeit werden die verschiedenen Sozialmaßnahmen und -institutionen als Schule der politischen Demokratie, die sie begleiten und stärken, betrachtet. Der Sozialstaat stellt in dieser Hinsicht ein Schlüsselelement der europäischen Identität dar. Seine Träger sind die Vertreter einer breit gefächerten Gruppe von Akteuren auf dem Gebiet sozialer Regelungen, von der reformistischen wie der christlichen Arbeiterbewegung bis zu gemäßigten Arbeitgebern. 221

Sandrine Kott

Von der kommunistischen wie der anarchistischen Arbeiterbewegung werden diese Maßnahmen als Werkzeug der „Klassenkollaboration“ betrachtet und bekämpft, was allerdings die Gleichsetzung des demokratischen mit dem sozialen Europa bestärkt. Der Aufbau des europäischen Sozialstaats erfolgt jedoch auch vor dem Hintergrund ganz anderer und weit entfernter Systeme. Die sozialen Regelungen, die von der IOA in den 1920er-Jahren entwickelt und in den europäischen Mutterländern ratifiziert werden, finden keine Anwendung in den Kolonien. Die Helfer, die man in den 1930er-Jahren nach Lateinamerika, Ägypten und China entsendet, versuchen dagegen, Elemente des europäischen Sozialmodells ohne weitere Anpassung zu exportieren. Dieser Unterschied in den Beziehungen zu den Ländern außerhalb Europas verweist auf die Rolle der Sozialpolitik bei der Durchsetzung eines europäischen Anspruchs auf Vorherrschaft, der auf dem Glauben beruht, dass nur Europa für Werte wie Fortschritt und Demokratie stehe. Dieser Glaube an das Vorhandensein von so etwas wie einem spezifisch europäischen Sozialmodell findet übrigens weitgehende Verbreitung in der Bevölkerung und begünstigt an der Wende zum 21. Jahrhundert innerhalb aller Tendenzen der extremen Rechten in Europa die Entwicklung eines Diskurses des Rückzugs auf sich selbst. Dabei behauptet sich dieses Modell gerade im Gegensatz und in Konkurrenz zu den sozialen Lösungen der Diktaturen Südeuropas, insbesondere zum italienischen Faschismus, der eine korporatistische Organisation der Gesellschaft vorantreibt, deren innere Harmonie durch einen starken Staat gewährleistet sein soll. Dieser Korporatismus übt in wechselnden Formen seine Anziehungskraft auf die katholischen Diktaturen im Süden und Osten Europas aus. Die italienischen Faschisten versuchen übrigens, mithilfe ihrer Freizeitpolitik ein soziales Gegenmodell zu entwickeln. Damit treten sie auch rasch in Konkurrenz zu den Nationalsozialisten, die sich ihrerseits als die Dirigenten eines neuen sozialen Europas darstellen, nachdem sie die Sozialpolitik nach autoritärem Modell umstrukturiert haben. Dieser ehrgeizige Anspruch führt während des Kriegs zur Schaffung eines Instituts für europäische Sozialpolitik, das eine Zeitschrift herausgibt, die an die Stelle derjenigen der IOA treten soll.

Das Recht auf soziale Sicherung In Wirklichkeit dient die Sozialpolitik der Nationalsozialisten vor allem der Rechtfertigung der imperialen Zielsetzungen des „Dritten Reichs“ 222

Soziale Bürgerrechte

sowie der Mobilisierung und Ausbeutung der Arbeiter in ganz Europa zugunsten ihrer Rüstungsindustrie. Dieses totalitäre Sozialprogramm gibt den Alliierten die Gelegenheit, die Bedeutung der Sozialpolitik beim Aufbau eines demokratischen Europas zu betonen und ihr eigenes Sozialmodell neu zu definieren. Im August 1941 verspricht die AtlantikCharta in ihrem Artikel 5 die soziale Sicherheit („Schutz der Arbeitenden“, „social security“) für alle. Im Oktober/November desselben Jahres liefert eine außerordentliche Tagung der IOA in New York den europäischen Staaten, die sich im Krieg gegen NS-Deutschland befinden, die Gelegenheit, erneut die Bedeutung der Sozialpolitik beim Aufbau eines demokratischen Europas zu betonen. Die Veröffentlichung und Verbreitung des Beveridge-Berichts – so benannt nach dem britischen Politiker, der ab 1942 für ihn verantwortlich zeichnet – und dessen negative Aufnahme durch NS-Deutschland verweisen deutlich auf die Rolle, die zu dieser Zeit der Sozialpolitik der Selbstdefinition zukommt. Die soziale Sicherung wird zum Element einer demokratischen und solidarischen Identität Europas in Abgrenzung zur Unterdrückung und Rassenhierarchie der NS-Diktatur. Die Sozialpolitik spielt im Übrigen eine herausragende Rolle in den Programmen der unterschiedlichen Bewegungen des europäischen Widerstands, auf denen das Europa der Nachkriegszeit ruht. In diesem Zusammenhang werden die sozialen Rechte bei Kriegsende zu einem Korrelat der Menschenrechte. Das Recht auf soziale Sicherung, auf frei gewählte und angemessen bezahlte Arbeit, auf Gesundheit und Bildung, auf Erholung und Gewerkschaftsfreiheit sind Bestandteile der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.

Der Dritte Weg im Westen Trotz ihrer Anerkennung als allgemeine Menschenrechte werden die sozialen Rechte nicht in die Europäische Menschenrechtskonvention aufgenommen, die die zehn Mitgliedstaaten des Europarats 1950 unterzeichnen. Die westeuropäischen Organisationen1 verfolgen nämlich vor allem wirtschaftliche Ziele. Ihr Ziel ist die Schaffung eines freien Markts, 1 Gemeint sind hier damit die Europäische Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, die 1948 gegründet wurde, um den Marshall-Plan umzusetzen und aus der 1961 die OECD wurde, sowie die ersten europäischen Verträge, nämlich derjenige über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, auch „Montanunion“) und über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) von 1957.

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Sandrine Kott

der wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand für alle schaffen soll. Insgesamt lässt sich sagen, dass trotz der Verabschiedung der Europäischen Sozialcharta im Jahr 1961 die sozialen Rechte nicht Teil des Sockels an Grundwerten des europäischen Projekts sind, so wie dieses sich am Ende des Zweiten Weltkriegs herausbildet. Zugleich ist festzuhalten, dass das Modell des schützenden und umverteilenden Staats, der jedem seiner Bürger Sicherheit und Stabilität garantiert, sich in den folgenden Jahrzehnten auf ganz Europa ausdehnt. Im Westen erstrecken sich die sozialen Rechte und Absicherungen auf Bevölkerungsteile, die bislang weitgehend vom Zugang zu ihnen ausgeschlossen sind: Bauern und Selbstständige; in den 1970er-Jahren werden etwa 70 Prozent der Bevölkerung von den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung erfasst. Die Gebiete, auf denen der Sozialstaat aktiv wird, weiten sich immer mehr aus und seine Ausgaben nehmen ständig und in bislang unbekanntem Ausmaß zu, bis sie sich schließlich auf durchschnittlich 25 Prozent des Bruttoinlandprodukts belaufen. Dabei bestehen allerdings Unterschiede hinsichtlich der Art wie des Umfangs der Schutz- und Umverteilungsfunktion des Staates. Während die skandinavischen Staaten ein kostspieliges System, das alle Bürger erfasst, entwickeln, bieten die südeuropäischen Staaten lediglich eine teilweise erfolgende Abdeckung. Das Fehlen eines echten europäischen Sozialprogramms und das Ausmaß der Unterschiede von einem Land zum anderen sorgen dafür, dass der Sozialstaat vielfach als rein nationale Angelegenheit betrachtet wird. Zugleich entwickelt sich unter dem Einfluss politischer Bewegungen, insbesondere solchen, die aus Widerstandsbewegungen hervorgegangen sind, auch die kollektive Erinnerung in Hinblick auf den Sozialstaat in die nationale Richtung. Diese Gruppen entwickeln nämlich eine Erinnerungskultur, der zufolge der Sozialstaat das Ergebnis der Befreiungskämpfe zu sein scheint. In der Sprache des kommunistischen Widerstands ist er eine Errungenschaft, die dem Klassenfeind und den kollaborierenden Unternehmern unter den besonderen Bedingungen der Nachkriegszeit abgerungen wurde. Trotzdem zeigen sich Elemente einer Europäisierung der Sozialpolitik bereits in den 1950er-Jahren. Die Freizügigkeit von Waren und Personen wirkt sich positiv auf die Angleichung der Sozialgesetzgebung in den verschiedenen Ländern aus, besonders in Bezug auf Arbeitsschutz und -hygiene. Diese Angleichung wird übrigens durch Harmonisierungsanstrengun224

Soziale Bürgerrechte

gen der Europäischen Kommission unterstützt. Auch die Expertentreffen, die vom Europarat einberufen werden, machen auf vergleichbare Probleme aufmerksam und schlagen gemeinsame Lösungen vor, insbesondere auf dem Gebiet der Renten. Schließlich legen die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (zuvor: der Europäischen Gemeinschaften) Normen auf dem Gebiet der Arbeitsbeziehungen, der Gleichheit von Mann und Frau sowie der Politik für abhängige Personen fest. All diese Beschlüsse haben Rückwirkungen auf die jeweilige nationale Gesetzgebung, auch wenn dies nicht offenkundig ist und von den Politikern der einzelnen Länder nur selten thematisiert wird. Einzelnen Gruppen, die sich auf nationaler Ebene nur schwer durchsetzen können, wie beispielsweise Frauen bietet Europa Unterstützung und einen Raum zur Mobilisierung. Andere Gruppen wie die Migranten, deren soziale Rechte innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten werden, sind direkte Nutznießer der Harmonisierung der Sozialpolitik auf europäischer Ebene. Die 2002 eingeführte europäische Krankenversicherungskarte ist ein wichtiges materielles Zeichen für diese Europäisierung der sozialen Rechte. Sie trägt die europäische Fahne und sieht in allen Ländern gleich aus, in manchen ist sie Teil des nationalen Sozialversicherungsausweises. Migranten wie europäische Touristen legen Wert auf dieses Dokument und machen es dadurch zu einem europäischen Erinnerungsort des Sozialstaats. Abgesehen von den realen Auswirkungen der Europäisierung des Sozialstaats, war die Nachkriegszeit auch eine Periode, in der man einen optimistischen, ja auftrumpfenden Sozialstaatsdiskurs entwickelte. Inmitten einer breiten sozialliberalen Bewegung triumphiert der westliche Wohlfahrtsstaat, der nach den Worten des britischen Soziologen Thomas H. Marshall aus den sozialen Rechten die krönende dritte Etappe eines demokratischen Prozesses macht, der im 16. Jahrhundert mit dem Erwerb von Bürgerrechten begann und sich im 19. mit dem politischer Rechte fortsetzte. Diese Erzählung erfüllt offensichtlich eine identitätsstiftende Funktion, die von weiten Teilen der europäischen Reformisten geteilt wird. Zu diesen zählen Gewerkschafter, Sozialdemokraten sowie Sozialliberale und sie sind es, die das Sozialmodell eines genuin europäischen Dritten Wegs zwischen dem reinen Marktdenken der USA und den Wohlfahrtsdiktaturen Osteuropas entwickeln und verbreiten. Im Osten gibt es übrigens ebenso wenig wie im Westen eine echte Koordinierung der Sozialpolitik der einzelnen Staaten, denn auch dort 225

Sandrine Kott

kommt den internationalen Organisationen des Blocks, in diesem Fall dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) beziehungsweise Comecon, eine vorwiegend wirtschaftliche Funktion zu. Auf Diskurs­ ebene wird dort jedoch der Begriff Sozialpolitik vermieden, da diese als Krücke des Kapitalismus betrachtet und abgelehnt wird. Für das kommunistische Führungspersonal ist die Umverteilung unter staatlicher Führung eine der Grundlagen des Sozialismus und bedarf deshalb keiner weiteren spezifischen Maßnahmen. Tatsächlich aber werden schon ab Ende der 1940er-Jahre unterschiedliche sozialpolitische Maßnahmen nach sowjetischem Modell ergriffen. Sie betreffen vor allem Arbeiter in der Produktion sowie ihre Familien und werden vom Staat auf Betriebsebene implantiert. Als Antwort auf das westliche Binom Demokratie und Gerechtigkeit gründet die kommunistische Führung ihre Sozialordnung auf Gleichheit und Sicherheit. Die Nostalgie nach dem Kommunismus in den 1990er-Jahren, die sogenannte Ostalgie, beweist, dass von sozialem Abstieg und Arbeitslosigkeit betroffene Teile der Bevölkerung ein hohes Maß an Bindung an diese Werte aufweisen. Nach der Wende können diese deshalb einen Erinnerungsort des sozialistischen Europas darstellen. Trotz dieser deutlichen identitären Akzente entwickeln sich die beiden europäischen Sozialmodelle durchaus in wechselseitiger Abhängigkeit. Im Osten bedeutet das ab den 1960er-Jahren geltende Versprechen einer Konsumgesellschaft für alle eine beträchtliche Umorientierung der Sozialpolitik. Diese wird vor allem deswegen vollzogen, weil es gilt, eine Antwort auf das Bild des Überflusses zu geben, das mit dem wirtschaftlichen Erfolg des Westens während der drei ersten Nachkriegsjahrzehnte verbunden wird. Im Westen wiederum dienen die Alternativen, die die sozialistischen Gesellschaften bieten, Teilen der Linken als Argument für den Ausbau der Sozialpolitik. In den 1970er-Jahren bilden die äußerst niedrigen Arbeitslosenraten in den sozialistischen Staaten einen Ansporn für eine antizyklische Sozialpolitik, wobei Jugoslawien das Modell für eine Arbeiterselbstverwaltung abgibt. Diese Wahrnehmungen des anderen begünstigen einen echten Wettstreit und rechtfertigen die Explosion der Sozialausgaben in beiden politischen Systemen, die ihrerseits die Entwicklung von spiegelbildlich aufeinander bezogenen kollektiven Erinnerungen anregen. Neben den Gegensätzen des Kalten Kriegs gibt es ab den 1950er-Jahren auch Gespräche über gemeinsame Probleme. So organisiert die IOA 226

Soziale Bürgerrechte

1955 eine gesamteuropäische Tagung, auf der das Rentenalter und die Finanzierung der sozialen Sicherung erörtert werden. Ein zweites Treffen im Jahr 1974 widmet sich Fragen der Ausbildung der Arbeitskräfte und der Absicherung der Einkünfte. Solche Diskussionen zwischen Vertretern des Westens und des Sowjetblocks führen 1975 zur Bekräftigung der Bedeutung des sozialen Fortschritts in der Schlussakte der Erklärung von Helsinki. Derartige Konferenzen auf dem Gebiet der Sozialpolitik finden die Unterstützung breiter politischer Strömungen, insbesondere der Sozialistischen Internationale, die in ihnen einen Faktor des Friedens sieht. Sie werden noch durch die Art und Weise verstärkt, in der beide Blöcke ihr wirtschaftliches und soziales Entwicklungsmodell in die Länder des Südens exportieren. Dadurch, dass sie zwei unterschiedliche, aber konvergierende Wege in die Modernität darstellen, tragen diese Entwicklungskonzepte dazu bei, dass auch in den Erinnerungskulturen außerhalb Europas ein Bild des europäischen Sozialstaats entsteht. Es liegt nahe, im Ende des Kalten Kriegs und des produktiven Wettstreits eine Erklärung dafür zu suchen, dass die Umverteilungs- und Sozialschutzmaßnahmen stagnieren beziehungsweise sogar rückläufig sind und sich die Erinnerung an den europäischen Sozialstaat abschwächt. Mit dem Untergang der sozialistischen Systeme im Osten und dem Niedergang der Kommunistischen Parteien des Westens geht die Entfaltung eines ökonomischen Denkens einher, das die Legitimität dieser Umverteilungs- und Regelungsmaßnahmen und deren Bedeutung für die demokratische Stabilität Europas infrage stellt. Die Europäer machen gern die Vereinigten Staaten für dieses „neoliberale“ Denken verantwortlich und zeigen damit deutlich, für wie wichtig sie die implizite Verbindung Europas mit dem Sozialstaat halten. Dabei steht dieses neoliberale Wirtschaftsdenken auch in Europa in einer nie unterbrochenen Tradition. Belege dafür sind das Florieren der 1947 insbesondere von Friedrich Hayek mitgegründeten Mont Pèlerin Society und ab den 1930er-Jahren die Entfaltung des deutschen Ordoliberalismus, eines Denkens, das sich in den 1980er-Jahren zunehmend auch im Osten durchsetzt. Mithin existiert in Europa ein breites Spektrum von Ideen, die dem Staat die Schutzfunktion absprechen. Auf sie beziehen sich etliche politische Strömungen der Rechten in allen Staaten. Dementsprechend fahren seit den 1980er-Jahren mehrere europäische Regierungen, angefangen bei der Margaret Thatchers, ihre öffentlichen Ausgaben zurück und lassen dabei 227

Sandrine Kott

„Brüssel“ als heimlichen Organisator dieser Kürzungen und sozialen Deregulierungen erscheinen. Diese konservativen Kreise stehen am Anfang einer Tendenz zum Vergessen der gleichwohl fortbestehenden Wirklichkeit des europäischen Sozialmodells.

Der Sozialstaat als Zentrum europäischer Identität Europa stellt durchaus den gemeinsamen Raum der Entwicklung von systematischen sozialpolitischen Maßnahmen und der Bekräftigung eines Sozialstaatsmodells dar, das von seinen Befürwortern der Reihe nach mit der Modernität, dem Fortschritt, der Gerechtigkeit und schließlich der Demokratie verbunden wird. Innerhalb dieses gemeinsamen Raums entsteht etwas, was man als „europäisches Erinnerungsmodell“ bezeichnen kann. Dieses Milieu und das von ihm befürwortete Modell haben sich nachdrücklich in den europäischen Kriegen behauptet, einschließlich des Kalten Kriegs, und sich dabei als bedeutsames Mittel zur Mobilisierung der Bevölkerung erwiesen. Am stärksten hat sich der Sozialstaat wohl in diesem Zusammenhang als europäischer Erinnerungsort etabliert. Seine Entwicklung wurde ab dem Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich durch europäische Organisationen begünstigt, die Orte waren und sind, an denen sich eine gemeinsame Normativität herausbildet. Einige eng begrenzte Gruppen – Expertennetzwerke, Gewerkschafts­ eliten, europäische Migranten, kurz: alle, die direkt in seine Entwicklung eingebunden sind und von seinen Segnungen profitieren – halten bis heute die Erinnerung an dieses Sozialmodell wach. In den anderen Gruppen könnte der Sozialstaat heute den Status eines „europäischen Amnesieorts“ beanspruchen, wobei dieser Gedächtnisverlust deutlich macht, wie volatil europäische Erinnerung sein kann. Da sie nur schwach institutionalisiert ist, ist sie ständig durch die Entwicklung nationaler bis nationalistischer Diskurse bedroht, hinter denen gut organisierte und wahrnehmbare Gruppen von Akteuren stehen. Das soziale Europa ist in erinnerungskultureller Hinsicht so schwach, weil zwar in den europäischen Organisationen soziale Normen ausgetauscht, erörtert und festgelegt werden, es aber die Nationalstaaten sind, die für ihre Umsetzung zuständig sind. Insbesondere wird die soziale Solidarität unter den Individuen auf dieser Ebene praktiziert. Doch selbst, wenn er keinen lebendigen Erinnerungsort darstellt, ist der Sozialstaat ein bedeutender Bestandteil der Identität Europas. Diese 228

Soziale Bürgerrechte

muss nicht auf einer Konvergenz der europäischen Sozialstaaten beruhen, sie kann auch aus kreativem Wettbewerb unter den verschiedenen, seit dem 19. Jahrhundert entwickelten nationalen Modellen hervorgehen. Schließlich gibt es diese soziale Identität Europas unbestreitbar in der Wahrnehmung der anderen, für die die Attraktivität Europas auch etwas mit seinen großzügigen sozialen Regelungen zu tun hat. Womöglich sollte man die Erinnerung an den europäischen Sozialstaat vor allem in den Ländern außerhalb Europas studieren, weil sie dort am lebendigsten ist.

Literatur Jean-Claude BARBIER, La Longue Marche vers l’Europe sociale, Paris 2008. Tomasz INGLOT, Welfare States in East Central Europe, 1919–2004, New York/Cambridge 2008. Hartmut KAELBLE und Günther SCHMID, Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004. Franz-Xaver KAUFMANN, Variations of the Welfare State. Great Britain, Sweden, France and Germany Between Capitalism and Socialism, Dordrecht 2011. Sandrine KOTT, Constructing a European Social Model. The Fight for Social Insurance in the Interwar Period, in: Jasmien van Daele, Magaly Rodríguez García, Geert van Goethem, Marcel van der Linden (Hg.), ILO Histories. Essays on the International Labour Organization and its Impact on the World during the Twentieth Century, Bern 2010, S. 173–195. Herbert OBINGER und Carina SCHMITT, Guns and Butter? Regime Competition and the Welfare State during the Cold War, World Politics 63, Nr. 2, 2011, S. 246–270. Klaus PETERSEN, The Early Cold War and the Western Welfare State, in: Journal of ­International and Comparative Social Policy 29, Nr. 3, 1. Okt. 2013, S. 226–240. Gerhard A. RITTER, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 2012. Philipp THER, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt a. M. 2014.

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Christof Mandry

Die Menschenrechte – eine große Idee Die Renaissance und dann die Aufklärung brachten Europa eine Revolution: den Menschen und seine Würde über alle anderen, auch religiöse Werte zu stellen. Dieses Ideal macht heute die Größe der europäischen Idee aus. Es dauerte jedoch Jahrhunderte, bis es ausgereift war, und erst im 20. Jahrhundert wurde es zu einem Gegenprojekt zur Barbarei.

Die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte, von der französischen National­ versammlung am 26. August 1789 verabschiedet, in einem zeitgenössischen Gemälde mit allegorischer Umrahmung. 

Die Menschenrechte – eine groSSe Idee

Humanismus und Menschenrechte gehören zum Selbstverständnis der heutigen Europäer, auch wenn – oder gerade weil – die Geschichte Europas voller gegenteiliger Erfahrungen ist. Die zentrale Stellung des Individuums und seiner Würde verdankt sich einem langen kulturellen und zivilisatorischen Prozess, dessen wesentliche Stationen nicht nur in Europa stattgefunden haben, sondern der insgesamt im Mittelpunkt dessen steht, was Europäischsein ausmacht. In den Menschenrechten stecken unterschiedliche Erinnerungen und teilweise auch gegenläufige und umstrittene Traditionen und Verständnisse. Humanismus und Menschenrechte eint jedoch eine fundamentale Gemeinsamkeit, die gleichzeitig ihre größte Herausforderung darstellt: Humanismus und Menschenrechte sind beide – in unterschiedlicher Weise – Gegenentwürfe zur Barbarei. Im Bewusstsein moralisch-kultureller Überlegenheit steckt jedoch die fatale Tendenz zur Dominanz über andere Völker und Kulturen, die die europäische Geschichte gewissermaßen als dunklen Schatten mit sich führt. Heute nehmen die Menschenrechte einen bedeutenderen Stellenwert im europäischen Selbstverständnis als der Humanismus ein, dessen Profil sich in eine Vielzahl von Bedeutungen auffächert – von der Bezeichnung einer kulturgeschichtlichen Epoche bis zur Selbstbezeichnung von säkularen Weltanschauungen. Durch die Verbindung zum Wortfeld Humanität/humanitär verfügt der Humanismus bis heute über eine positiv besetzte, offene Semantik, auch wenn sich die heutigen Humanitätsideale inhaltlich von den Ursprüngen im Renaissancehumanismus entfernt haben. So gesehen, nehmen die Menschenrechte heute den Stellenwert ein, den der Humanismus lange hatte, und können für sich in Anspruch nehmen, zentrale Erfahrungen europäischer Geschichte zum Ausdruck zu bringen.

Der Renaissancehumanismus Zum europäischen Humanismus gehört nicht nur, dass er seinem Ursprung nach eine europäische Intellektuellenbewegung ist, sondern, dass er sich wesentlich durch Erinnerung auszeichnet. Als sich, ausgehend vom ­Italien der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, jene Geistesströmung ­verbreitete, deren Protagonisten sich als „Humanisten“ bezeichneten, geschah dies mittels einer programmatischen Wiederzuwendung zur 231

Christof Mandry

Antike. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde der Renaissancehumanismus für die meisten späteren Humanismen darin zum Muster, dass die Hinwendung zum Menschsein des Menschen durch eine neue Rezeption der antiken Kultur erfolgte. Europäische Humanismen prägen europäische Kultur, indem sie Vergangenes in seiner Gültigkeit neu entdecken und dadurch dem Vergessen entziehen. Europäische Humanismen sind bis ins 20. Jahrhundert explizit europäisch, indem sie sich das Kulturerbe der Antike als ein europäisches aneignen. Die Europa-Idee keimt in dem Moment auf, als nach der Eroberung von Byzanz die römische Dualität in Ost- und Westrom endgültig obsolet wurde und der europäische Westen das Gefühl ausbilden konnte, eine Einheit zu sein – in Abgrenzung vom nun muslimischen Osten. Die Humanisten vertraten ein neues Bildungsideal, das sich als Gegenentwurf zur Scholastik und dem Bildungsbetrieb der Universitäten verstand. Anders als die Ausbildung an den Universitäten, die Juristen, Ärzte und Theologen – und damit tätigkeitsorientierte Spezialisten – hervorbrachte, wollte die Gelehrtenbewegung der humanistae das antike Menschenbild erneuern und einen uomo universale bilden, dessen umfassende und über den zweckorientierten Spezialisierungen ruhende Bildung ihm eine überlegene intellektuelle Haltung verschaffen sollte. Zwar war die antike Literatur auch im Mittelalter präsent und Bestandteil des Bildungskanons. Doch die Humanisten stellten die sprachliche und literarische Qualität der antiken Literatur in den Vordergrund, weil sie ein im umfassenden Sinn ethisch-ästhetisches Ideal des Menschen verfochten. Dem in ihren Augen degenerierten und ärmlichen Latein des scholastischen Universitätsbetriebs setzen sie den Stil, die Kunstfertigkeit und die Rhetorik Ciceros, Senecas und Quintilians entgegen. Das urbane Lebensgefühl, die Hinwendung zu Sprache und Kunst und die Thematisierung des Menschseins des Menschen machen die Humanisten zum Modell jener Epoche, die durch einen fundamentalen Wandel im Menschenbild gekennzeichnet ist. Was der Mensch ist und wie er in der Welt steht, wird nicht mehr von ewigen Wesenheiten und einem göttlichen Standpunkt aus nachgedacht, sondern von der sinnlichen und ästhetischen Erfahrung des Menschen, seinen schöpferischen und entwertenden Fähigkeiten, seiner technischen, politischen und sprachlichen Gestaltungskraft her ergründet. Insbesondere in den Schriften Ciceros mit ihrem geschliffenen Stil fanden die Humanisten ein Modell. Ciceros Ausführungen über das Ideal 232

Die Menschenrechte – eine groSSe Idee

der humanitas (philanthropia), das die Römer von den Griechen geerbt hätten, galten den Humanisten als maßgeblich. Auch Seneca und die Stoa wurden neu entdeckt. Für Cicero gehörte zur Humanitas nicht nur eine menschenfreundliche Gesinnung, sondern wesentlich auch eine Bildung, die die für ein öffentliches Leben zentralen Haltungen und kommunikativen Fertigkeiten vermittelt. Cicero malte ein Ideal des öffentlich auftretenden Menschen, der über moralische Tugenden wie Milde, Würde, Gerechtigkeit und Freigebigkeit verfügt und souverän auftritt, weil er die öffentliche Rede in all ihren politischen, literarischen, philosophischen und rhetorischen Dimensionen beherrscht. Die Humanisten erneuerten dieses doppelte Ideal einer sowohl ethischen wie auch literarisch-rhetorischen Humanitas und transferierten sie zugleich in ihre eigene Zeit. Da die meisten von ihnen keine Posten an der Universität bekleideten, waren sie für ihre Tätigkeit als „öffentliche Intellektuelle“ auf die Unterstützung frühbürgerlicher Führungsschichten in den Städten sowie vor allem auch auf die Nähe zu den Fürstenhöfen angewiesen. Das Ideal des antiken Rhetors verband sich so mit dem Typus des Renaissancehöflings (cortegiano).

Bildung als Kultivierung Nach der Auffassung der Humanisten gehörten nämlich sowohl das intensive Studium der antiken Sprachen, insbesondere des Lateinischen, als auch seine virtuose Beherrschung in Schrift und Rede zur menschlichen Vervollkommnung hinzu. Das Maß der sprachlich-literarischen Fertigkeit galt ihnen geradezu als Ausdruck der ganzheitlichen Humanitas. Als nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453 zahlreiche byzantinische Gelehrte nach Italien flohen und griechische Manuskripte mit sich brachten, erschlossen sie sich zudem neu die Literatur des griechischen Ostens und die griechische Sprache wurde gegenüber dem Lateinischen aufgewertet. Die humanistischen Gelehrten konnten sich so als Erben der gesamten antiken Bildung fühlen, die ihnen als unübertrefflich galt. Als Ausdruck der Identifikation mit dem antiken Ideal, aber auch zur Selbststilisierung gaben sich viele Humanisten lateinische oder griechische Namen. So verwandelte Philipp Schwartzerdt, der engste Freund von Martin Luther, seinen deutschen Namen in den humanistischen Namen Melanchthon. Die Hin233

Christof Mandry

wendung zur Sprache konzentrierte sich einerseits auf das Studium der Texte, ihrer Grammatik und Stilistik, und andererseits verfassten die humanistischen Autoren zunehmend eigene philosophische, theologische und pädagogische Schriften, die die Anregungen der lateinischen und griechischen Tradition produktiv weiterführten. Glanz und Elend des Menschen wurden durch diese neue Thematisierung des Menschseins zu zentralen, neu verstandenen Fragestellungen. Dabei waren die Humanisten weder religiöse Skeptiker noch waren sie christentumkritisch – wie sie im 19. Jahrhundert gern gesehen wurden –, sondern nutzten ihre Zuwendung zu den Quellen dazu, auch theologische und kirchliche Fragestellungen neu zu verfolgen. Untersuchungen zur Textkritik und Grammatik der Bibel, zu theologischen Schriftstellern, aber auch Bibelübersetzungen und theologische Erörterungen nahmen breiten Raum ein. Die kritische Beschäftigung mit den Texten führte dazu, dass die Wahrheitsfrage zunehmend eine historische Dimension erhielt – berühmt ist in diesem Zusammenhang etwa der Nachweis, dass die „Konstantinische Schenkung“ gefälscht ist, der Nikolaus von Kues und Lorenzo Valla aufgrund sprachlicher Untersuchungen gelang.

Fortleben des Renaissancehumanismus Der Renaissancehumanismus wird deshalb in der späteren Rezeption gern als Vorläufer eines modernen Individualismus und säkularen Menschenbildes gesehen. Für eine solche Sicht, die sich dem kirchlich distanzierten Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts verdankt, hat etwa Jacob Burckhardts epochale Deutung in seinem Buch Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) eine bedeutende Rolle gespielt. Er erkannte im Renaissancehumanismus bereits eine strukturelle Differenzierung zwischen Kirche und Gesellschaft, die den modernen, individuellen Menschen hervorbringen sollte. So wurde der Humanismus vielfach als Beginn einer Ablösung des europäischen Denkens von religiöser Dominanz begrüßt und als Beginn der Freisetzung mensch­ licher Entwicklungspotenziale, die sich nun – nach der „Wende zum Menschen“ – ungehindert von Fesseln des Übernatürlichen entfalten konnte. Der Renaissancehumanismus erscheint damit als notwendige Vorgeschichte einer Entwicklung, die erst mit der Aufklärung und dem 234

Die Menschenrechte – eine groSSe Idee

politischen Freiheitsdenken zum Durchbruch kommen sollte. Erst in dieser Perspektive wird der Humanismus aber zum Kernbestand europäischer Identität gezählt. Diesseits einer solchen Emphase stehen zwei Faktoren, die, ausgehend vom Renaissancehumanismus, europäisches Denken und europäische Kultur bis in die Gegenwart prägen. Zum einen verdankt sich die Einteilung der Geschichte in die Zeitalter Antike – Mittelalter – Neuzeit den Humanisten, die ihre Gegenwart von der als Kulturepoche idealisierten Antike durch eine bloße Zwischenzeit, eben das „Mittelalter“, getrennt sahen. Diese Dreiteilung ist mitsamt ihrem normativen Gefälle bis heute das Gliederungsprinzip der europäischen Geschichtsbetrachtung geblieben. Zum anderen hat der Humanismus wirkungsvoll das europäische Bildungswesen geprägt. Sowohl das von Melanchthon entwickelte protestantische Bildungswesen als auch die Ratio Studiorum der Jesuitenschulen haben humanistische Bildungsideale und mehr noch den Bildungskanon der Humanisten fest integriert. Erst dadurch wurden die Humanitasvorstellungen der Humanisten wirkungsvoll breiteren Kreisen zugänglich gemacht. Generationen von bürgerlichen und adligen Führungsschichten haben so eine Bildungsprägung erhalten, in der antike Literatur, Stil und Rhetorik eine zentrale Rolle spielten. Charakteristisch wird damit für eine europäische Bildungsidee die Zielsetzung der An­eignung einer Identität durch literarisch-sprachliche Selbstgestaltung anhand der antiken Literatur, also gerade nicht vordringlich an der jeweils zeitgenössischen volkssprachlichen Literatur. Damit ist die Grundlage für ein Humanitätsideal gelegt, das seine Dignität weder primär durch sein Alter noch von einem religiösen Nimbus erhält, sondern seinem als überzeitlich verstandenen Gehalt verdankt – ein Ideal, das damit sowohl das Potenzial für eine kosmopolitische Perspektive als auch für eine Perspektive der Superiorität enthielt.

Menschenrechte Zu Recht gelten die Menschenrechte als herausragende humanitäre Errungenschaft, die, ausgehend von Europa und den USA, mehr und mehr in der Welt beheimatet wurden und mittlerweile eine globale Sprache bereitstellen, um Unrecht, Unterdrückung und Entrechtung anzuprangern. Nach europäischem Selbstverständnis gehören sie zum Kern 235

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moderner Staatlichkeit, denn sie formulieren die grundlegenden Ansprüche, denen legitime staatliche Machtausübung genügen muss. Auch wenn bis heute umstritten ist, in welchem Verhältnis die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Nationalversammlung 1789 zu den amerikanischen Menschenrechtstexten von 1776 steht, können die Menschenrechte als europäisches Erbe aufgefasst werden. Denn zum einen können die Auswirkungen der Französischen Revolution auf die europäische Geschichte, das politische Denken und die politischen und gesellschaftlichen Bewegungen in Europa gar nicht ­ unterschätzt werden. Zum anderen beruhen die Menschenrechte auf theoretischen Voraussetzungen, die sich auf komplexe Weise in der europäischen Geistesgeschichte herausgebildet haben und an denen auch die amerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen teilhatten. Die Menschenrechte gehören heute ins Zentrum der europäischen Identität. Als die mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 vom sozialistisch-sowjetischen System unabhängig wurden, wurde ihre Rückkehr in den Kreis der „europäischen Staatenfamilie“ gerade auch als Sieg der Menschenrechte gefeiert. Die universale Geltung des Menschenrechtsethos wird unter Europäern nahezu fraglos geteilt, ebenso wie die Ansicht, dass auch die internationale Politik eine menschenrechtskonforme Weltordnung errichten sollte. Die heute nahezu einhellige Affirmation der Menschenrechte darf allerdings nicht dazu verführen, Europa ohne Weiteres zum Menschenrechtskontinent zu verklären und die europäische Geschichte der Menschenrechte als einen simplen Dreischritt entlang der Eckdaten 1789 – 1948 – 1989 zu konstruieren. Die zentrale Stellung der Menschenrechte im europäischen Bewusstsein ist bei näherem Hinsehen viel jüngeren Datums als zumeist angenommen. Die Menschenrechte sind viel eher ein schwieriges europäisches Erbe, dessen Auftrag auch in Europa noch keineswegs voll erfüllt ist.

Kein leichter Anfang Wenn heute die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 mit Recht als politisch-öffentlicher Ursprung der europäischen Menschenrechtsgeschichte betrachtet wird, darf dies nicht zur Ansicht verleiten, die weitere Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 236

Die Menschenrechte – eine groSSe Idee

sei unter Menschenrechtsgesichtspunkten nur als Durchsetzungsgeschichte anzusehen, die zwar holprig verlaufen sei und Rückschläge zu verkraften gehabt habe, letztlich aber im 20. Jahrhundert zum Erfolg geführt habe. Dies würde unzutreffenderweise voraussetzen, dass die Menschenrechte im Grunde allgemein begrüßt worden wären, sich dann aber gegen reaktionäre oder totalitäre Kräfte hätten behaupten müssen. Diese allzu harmonische Sichtweise übersieht, dass die Menschenrechte im 19. Jahrhundert keine Rolle gespielt haben, sondern rasch gegenüber den Bürgerrechten ins Hintertreffen gerieten. Aber auch die Bürgerrechte waren eine Angelegenheit der männlichen Bürger in den europäischen Staaten und wurden weder den Frauen noch den Einwohnern der überseeischen Gebiete der europäischen Staaten oder ihrer Kolonien zugestanden. Für ihre Forderung nach Frauenbürgerrechten musste die Revolutionärin Olympe de Gouges bereits 1793 das Schafott besteigen und in den meisten europäischen Staaten setzte sich das Frauenwahlrecht erst nach dem Ersten Weltkrieg durch. In Frankreich mussten Frauen bis 1944 auf ihr Wahlrecht warten. Die Menschen- und Bürgerrechte waren im 19. Jahrhundert nicht nur vor allem eine männliche Angelegenheit, sie waren zudem ein liberales, das heißt ein Anliegen des Bürgertums. Das erklärt auch, warum die Menschenrechte keineswegs einhellig anerkannt, sondern zutiefst umstritten waren: Sie waren mit einem bürgerlichen Staats- und Gesellschaftskonzept verbunden, das die Auflösung überkommener sozialer Einschränkungen forderte und gesellschaftliche und ökonomische Freiheiten absicherte. Im Kontext der Industrialisierung führte der gesellschaftliche Wandel aber zu einer Massengesellschaft mit enormen sozialen Ungleichheiten – in diesem Kontext wirkte das liberale Konzept der Menschen- und Bürgerrechte faktisch als Begünstigung der besitzenden Schichten, während die Bedürfnisse der verarmten Menschen auf dem Land und der Massen der prekär lebenden Industriearbeiter nicht bedient wurden. Die liberalen Bürgerrechte postulierten eine gleiche Freiheit, die tatsächlich nur unter den Besitzenden bestand. Die großen ideologischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts kreisen aber genau um die Frage, wie in der modernen Gesellschaft Gleichheit zu verstehen ist. Zu den politisch zentralen Vokabeln in diesem Zeitraum gehören „Klasse“, „Nation“ und „Rasse“ (sowie „Zivilisation“), aber nicht die Rechte des Menschen, insofern er „nur Mensch“ ist. 237

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Liberale Rechte – soziale Rechte Die sozialistische Gegnerschaft zum liberalen Menschenrechtskonzept macht dies sehr deutlich. Sozialisten argumentierten, dass die Menschenrechte eine Gleichheit als naturgegeben voraussetzen, die gesellschaftlich gar nicht existiert. Die sozialistischen Bewegungen lehnten deshalb die liberale Menschenrechtskonzeption ebenso ab wie den liberalen Staat, sie stellen soziale Rechte in den Vordergrund, die echte Freiheit erst ermög­ lichen sollten. Damit profilierte sich der Sozialismus folgerichtig auch mit einem alternativen Staats- und Gesellschaftsideal, das ab 1917 in der Sowjetunion und nach 1945 bis 1989 in den sozialistischen Staaten Ostund Mitteleuropas eine Alternative zum Westen darstellte. In diesen Gesellschaften stand nicht Freiheit, sondern Gleichheit im Vordergrund; soziale Grundrechte wie das Recht auf Arbeit, auf Bildung, Erholung und Versorgung galten für all jene, die sich in die sozialistische Gemeinschaft eingliederten. Es gehört zur europäischen Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass Gleichheit vor Freiheit zum Totalitarismus führt – letztlich war es auch die Enttäuschung über das Scheitern des Sozialismus, die im Westen dem Menschenrechtsethos den Weg ebnete – freilich erst, nachdem in West­ europa der wohlfahrtsstaatliche Umbau der Gesellschaften eine soziale Absicherung auf einem Niveau verwirklicht hatte, die die sozialistischen Gesellschaften trotz Freiheitseinschränkungen nie erreichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Erfahrung mit den ungeheuerlichen Verbrechen des Nationalsozialismus kehrten nicht nur die Menschenrechte neu auf die politische Bühne zurück. Sie mussten auch neu verstanden werden, um den Erfahrungen seit dem 19. Jahrhundert Rechnung zu tragen. Die Idee des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, liberale Freiheitsrechte mit sozialen Sicherungsansprüchen zu verbinden, um Freiheit und sozialen Frieden dauerhaft zu sichern, fand schließlich ihren Niederschlag in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 – auch wenn etlichen sozialistischen Staaten die sozialen Rechte nicht weit genug gingen.

Streit um die Herkunft Dort, wo Menschenrechte als humanitäre Errungenschaft gefeiert und zum Identitätsbestandteil einer modernen Gesellschaft gerechnet wer238

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den, kommt die Konkurrenz um ihre Herkunft auf. Tatsächlich ist es innerhalb der europäischen Gesellschaften umstritten, worauf die Menschenrechte historisch-kulturell beruhen. Bereits Georg Jellineks Studie von 1895, der zufolge der Ursprung der Menschenrechte nicht in der Französischen Revolution, sondern in den politischen Kämpfen um die Religions- und Gewissensfreiheit und damit vor allem in den nordamerikanischen Verfassungstexten zu erkennen sei, war nicht frei von antifranzösischen Affekten und dem Interesse, die Menschenrechte für eine anglogermanische Rechtstradition zu reklamieren. Die wissenschaftliche Debatte ist seither nicht zur Ruhe gekommen. Es ist wichtig, zu sehen, dass in der Öffentlichkeit mit der Frage nach den Quellen und legitimen Voraussetzungen der Menschenrechte zugleich verhandelt wird, welche Geschichte eine Bedeutung für das aktuelle gesellschaftliche Selbstverständnis hat. Ob die Menschenrechte wesentliche Impulse zu ihrer Formulierung der Aufklärung verdanken, ob sie auf der christlichen Wertschätzung der individuellen Person beruhen, ob sie im antiken oder mittelalterlichen Naturrechtsdenken vorgebildet waren oder ob sie ihren entscheidenden Anstoß aus den spanischen Diskussionen über die Würde der Indios empfingen – stets geht es nicht nur um historische Erhellung von geistesgeschichtlichen Wirkungszusammenhängen, sondern auch um die Frage, ob normative Kernbestände der heutigen Gesellschaft als christlich oder säkular zu gelten haben. Mindestens ebenso bedeutend ist allerdings die andere Frage, wie es kommen konnte, dass die Menschenrechte eine so breite Akzeptanzbasis gefunden haben. Wie kommt es, dass das Menschenrechtsethos im Großen und Ganzen weite Kreise der europäischen Gesellschaften umfasst, die doch im Übrigen weltanschaulich und religiös plural sind? In Anknüpfung an Émile Durkheim vertritt Hans Joas die These, dass die Menschenrechte Ausdruck einer „Sakralisierung der Person“ und geradezu eine Art säkularisierter Religion der Moderne sind. Damit werden die Menschenrechte einerseits als Ausdruck eines tiefgreifenden Mentalitätswandels wahrgenommen, andererseits wird anerkannt, dass sie eher das Ergebnis eines multifaktoriellen Prozesses sind, anstatt sich einem singulären geistesgeschichtlichen Faktor oder gar einer bestimmten religiösen oder philosophischen Einsicht zu verdanken. Eine Sakralisierung der Person ist dort zu erkennen, so die These, wo die höchste Wertbedeutung, die bislang Gott als transzendenter Macht oder dem Monarchen als 239

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dessen irdischer Repräsentanz zukam, auf die individuelle menschliche Person übertragen wird. Dies wird am Wandel von gesellschaftlichen Institutionen, Werten und Praktiken festgemacht wie etwa in der Abschaffung von Folter und Leibstrafen, dem Kampf gegen die Sklaverei oder auch in der gestiegenen Bedeutung der körperlichen Integrität. Nun wird die Verletzung der Integrität der Person – sei es durch ihre Tötung, Verletzung, Beleidigung, Missachtung ihrer Selbstbestimmung et cetera – als schwerwiegendste Strafhandlung angesehen, während früher Häresie oder Majestätsbeleidigung die Hierarchie der Verbrechen anführten. Die menschliche Person rückt in den Mittelpunkt der moralischen, emotionalen und ästhetischen Wertschätzung und jede Form ihrer Unterordnung unter obrigkeitliche Zwecke, religiöse Gebote oder ökonomische Interessen wird legitimationsbedürftig. Auch in den europäischen Gesellschaften, die sich im 19. und 20. Jahrhundert für besonders „zivilisiert“ hielten, blieb die gleiche rechtliche Anerkennung gerade von Minderheiten gefährdet. Dies zeigte sich etwa in der französischen Dreyfus-Affäre in den späten 1890er-Jahren, die bereits von ihren Zeitgenossen als exemplarische Auseinandersetzung um die Rechte des Individuums gegenüber der „Ehre“ der Armee und des Staates erlebt wurde. Dass schließlich der demokratische Rechtsstaat gestärkt aus dem Konflikt hervorging, ist auch dem zivilgesellschaftlichen Einsatz von Menschenrechtsaktivisten wie etwa der Französischen Menschenrechtsliga zu verdanken.

Der lange Schatten des Kolonialismus Einem europäischen Menschenrechts-Triumphalismus steht nicht nur entgegen, dass die Menschenrechte nach ihrer Erklärung keine bedeutende Rolle in der europäischen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gespielt haben. Weitaus schwerer wiegt die Tatsache, dass die Hochzeit des europäischen Kolonialismus erst anbrach, als die Menschenrechte bereits erklärt worden waren, und dass der Kolonialismus vor allem von Ländern mit liberaler beziehungsweise republikanischer Rechtstradition wie England und Frankreich betrieben wurde. Die europäischen Großmächte legitimierten ihren Expansionsdrang mit ihrer kulturellen, sozialen, wissenschaftlichen, religiösen und moralischen Überlegenheit, aus der sie ihre Mission ableiteten, die Zivilisation zu den 240

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unentwickelten, „primitiven“ Völkern zu tragen. Der Kampf gegen die Sklaverei spielte dabei eine zentrale und nur als perfide zu bezeichnende Rolle. Die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei hatte ihren Ausgang 1787 in England mit einer von Quäkern getragenen Abolitionistenvereinigung genommen. Nach dem Sklavenhandel wurde schließlich auch die Sklaverei selbst verboten – 1833 in den Kolonien des britischen Empire, 1848 in den französischen Kolonien. Die Legitimationslücke für die Expansionsinteressen vor allem auf dem afrikanischen Kontinent wurde durch die Behauptung einer Zivilisierungsmission geschlossen: Die europäischen Großmächte bringen den Menschen in Afrika die Zivilisation, wozu gerade auch die Befreiung aus der Sklaverei zählte. Die Verurteilung der Sklaverei und „humanitäre Interventionen“ waren ein wichtiges Motiv beim „Wettlauf um Afrika“, mit dem die Kolonialmächte einerseits ihre Vorrangstellung untereinander behaupten wollten, andererseits aber auch die Unterwerfung lokaler, teilweise selbst sklavenhaltender Herrschaften legitimierten. Während sich in den Heimatstaaten der Kolonialmächte die Gesellschaften demokratisierten, verfolgten sie in den Kolonien eine als Zivilisationsmission legitimierte rassistische Ausbeutungspolitik. Diese zweigeteilte Politik der europäischen Mächte zieht sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Selbst, als nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschenrechte die internationale politische Bühne betreten und 1948 die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschieden, dauert es noch Jahrzehnte, bis die Menschenrechte eine politische Wirkung entfalten. Staaten wie Frankreich und England, die führende Akteure bei der UN-Menschenrechtserklärung gewesen waren, stemmten sich in Kolonialkriegen der Auflösung ihrer Weltreiche entgegen, bei denen in brutaler Weise Folter, Internierung, Zwangsumsiedlung und andere Menschenrechtsverletzungen systematisch zum Einsatz kamen.

Durchbruch zum europäischen Menschenrechtsethos Zu einem wirksamen Durchbruch der Menschenrechte zu einer weitgehend geteilten, affektiv besetzten Einstellung in der europäischen Bevölkerung und einer grundsätzlichen Ausrichtung der europäischen Politik an Menschenrechten kam es wohl erst in den 1970er-Jahren. Dazu trug zum einen bei, dass die Vereinten Nationen ein internationales Forum bereitstellten, 241

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in dem Menschenrechtsanliegen und die Fortschreibung der Menschenrechtserklärungen öffentlich diskutiert wurden. Zum anderen konnten zivilgesellschaftliche Akteure, die sich den Menschenrechten verschrieben, nun mehr öffentliche Aufmerksamkeit an sich binden. Amnesty International und Human Rights Watch zählen nicht nur zu den wichtigsten Menschenrechts-NGOs, sie haben es mit ihren Aktionen auch vermocht, die Menschenrechtsthematik in die Gesellschaften zu tragen und breitere Kreise als Unterstützer zu gewinnen. Einige Faktoren kamen ihnen dabei zugute. In den europäischen Gesellschaften wurden nach und nach die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und die Untaten des Nationalsozialismus verarbeitet. Später kamen die Erinnerungen an die Kolonialzeit und die Kolonialkriege hinzu. Bei der Deutung dieser Erfahrungen gelang es, das erlittene, aber auch das zugefügte Unheil als Unrecht zu verstehen, das anderen Menschen zugefügt worden war – auf der Basis des empathischen Mitfühlens mit dem anderen. Zudem wurde in den westlichen Gesellschaften eine „utopische Leerstelle“ empfunden, weil der Sozialismus durch die sowjetische Unterdrückungspolitik nach dem Prager Frühling entzaubert worden war. Dieses utopische Defizit konnte der Glaube an das humanitäre Potenzial der Menschenrechte beheben. Schließlich hatte die KSZESchlussakte von Helsinki 1975 die Hoffnung auf Entspannung im Kalten Krieg genährt. Die Schlussakte enthielt auch ein Bekenntnis zur Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, worauf sich die Bürgerrechtsbewegungen in den osteuropäischen Staaten beriefen. Diese Bewegungen wie die Solidarność in Polen oder die tschechoslowakische Charta 77, aber auch Dissidenten wie Alexander Solschenizyn wurden in Westeuropa gewissermaßen als Menschenrechtshelden äußerst populär und beförderten die fortschreitende Identifikation mit den Menschenrechten. Die Menschenrechte konnten sich so in Europa als nahezu unangefochtene dóxa etablieren. Getragen wurden sie von einer Vielzahl an Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen, die sich sowohl innerhalb ihrer Gesellschaften, aber auch international für Menschenrechtsbelange engagierten und auch von ihren Regierungen erwarteten, sich für Menschenrechte einzusetzen.

Europäisches Erbe? Ist damit die Sakralisierung der Person vollendet? Sind die Menschenrechte nach einer langen und verworrenen Geschichte zur vollen Aner242

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kennung in Europa gelangt und ist Europa damit endlich zu dem geworden, was es schon lange zu sein beanspruchte, nämlich eine Kultur der Humanität? Es besteht kein Grund zur Überheblichkeit – Europa ist nicht der Kontinent der Menschenrechte im Sinn eines gesicherten Besitzes. Wohl ist es Europäern gelungen, die Teilung in den Menschenrechten abzubauen, jene Grundproblematik der Humanität, die darin besteht, zwar grundsätzlich das gleiche Menschsein aller anzuerkennen, aber doch konkret die Menschenrechte nicht allen zuzugestehen. Doch die nächsten Herausforderungen sind schon zu erkennen. In Zeiten, in denen die europäischen Gesellschaften durch Ungleichheit, Terror, Migrationsdruck und wachsende Pluralität verunsichert sind, nimmt auch die Bereitschaft zu, Menschen- und Bürgerrechte einzuschränken. Der Glaube an Humanität und Menschenrechte ist nicht unerschütterlich und es wird darauf ankommen, überzeugende Gründe zu finden, an ihnen auch in wechselhaften Zeiten festzuhalten. Im erinnernden Rückblick auf ihre Geschichte können Europäer solche Gründe finden, warum eine Teilung bei den Menschenrechten eine Teilung der Humanität bedeutet, gegen die sie Widerstand leisten sollten.

Literatur Florian BAAB, Was ist Humanismus? Geschichte des Begriffs, Gegenkonzepte, säkulare Humanismen heute, Regensburg 2013. Boris BARTH und Jürgen OSTERHAMMEL (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005. Günther BÖHME, Bildungsgeschichte des europäischen Humanismus, Darmstadt 1986. Tony DAVIES, Humanism, Abingdon ²2008. Steffen-Ludwig HOFFMANN (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010. Lynn HUNT, Inventing Human Rights. A History, New York 2007. Hans JOAS, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2015. Samuel MOYN, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge (Mass.) 2010. Martin VÖHLER und Hubert CANCIK (Hg.), Genese und Profil des europäischen Humanismus, Heidelberg 2009.

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Aufklärung, Enlightenment, Lumières, Haskalah … 1758 benutzte der Schwede Carl von Linné erstmals den Ausdruck ‚Homo sapiens‘: Der ‚weise Mensch‘ ist einer, der seine Vernunft nutzt, um alle Lebensbereiche zu erleuchten, und das Wissen um Gott in den Hintergrund drängt. „Ich denke, also bin ich“, sagte bereits René Descartes. Das ist das Ziel einer intellektuellen Bewegung, die im 18. Jahrhundert Europa durchquerte und die Moderne hervorbrachte – eine Revolution und ein Erbe, die jedoch nie ungebrochen angenommen wurden.

Allegorie auf die Französische Revolution, gekrönt von einem Porträt Jean-Jacques Rousseaus.

Aufklärung, Enlightenment, Lumières, Haskalah …

„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, wie Immanuel Kant in seiner Definition der Aufklärung 1784 in der Berlinischen Monatsschrift schrieb, wage es, Vorurteile zu entlarven, jede Zwangsform zu demaskieren und mithilfe der Vernunft alle Lebensbereiche zu erhellen – so lautet die ehrgeizige Devise der Aufklärung, die Generationen geleitet hat und ohne die sich Europa nicht verstehen lässt. Aufklärung bezeichnet deshalb mehr als einen historisch-philosophischen Epochenbegriff: das 18. Jahrhundert. Es geht dabei um eine „utopische“ Kategorie, die auf individuelle Freiheit und politische Emanzipation abzielt – ein andauerndes Projekt des Ausgangs aus selbst verschuldeter Unmündigkeit, das die europäische Denk- und Gefühlskultur bis in die Gegenwart prägt.

Das Aufkommen der Vernunft Die Definition des 18. Jahrhunderts als Epoche der Aufklärung wurde keineswegs im Nachhinein erfunden, sondern avancierte bereits im Bewusstsein zeitgenössischer Beobachter: Aufklärung – Enlightenment, Lumières – Illuminismo – Oświecenie – Haskalah und so weiter. Über Grenzen hinweg wurde die Metaphorik der „Erleuchtung“ dazu verwendet, eine neue Ära auf den Begriff zu bringen, in der Vernunft alle Lebensbereiche lichtet. Nicht mehr sichere Gotteserkenntnis aufgrund einer „illuminatio“ stand jetzt im Vordergrund, sondern das untrügliche Vermögen menschlicher Vernunft. Getragen von Aufklärungseifer und Wahrheitspathos, beginnt sich vor allem in England, Frankreich und Deutschland, in West- und Osteuropa (die Aufklärung erreicht unter Peter dem Großen Russland und findet ihren Höhepunkt unter Katharina II.) eine neue Leitidee durch­ zusetzen: Nicht mehr Herkunft, Tradition oder Machtbesitz sollen die höchste Instanz bilden, sondern das, was den homo sapiens – der Schwede Carl von Linné (1707–1778) verwendete diesen Begriff erstmals 1758 – am meisten auszeichnet: sein einzigartiges Räsonier­ vermögen, über das René Descartes (1596–1650) bereits im Discours de la Méthode (1637) vermerkt hatte: Die Vernunft oder der gesunde Verstand sei die am besten verteilte Sache der Welt und „das Einzige, das uns zu Menschen macht und von den Tieren unterscheidet“. Im ­Discours 245

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formuliert Descartes das Methodenideal „claire et distincte“ sowie den archimedischen Punkt im „Cogito ergo sum“. In Wissenschaft, Politik und Religion avanciert die Vorstellung von einer freien Menschenvernunft, die fähig sei, die Wirklichkeit klar und deutlich zu erfassen, in den folgenden anderthalb Jahrhunderten zum formalen Maßstab und gibt inhaltlich immer stärker das Ziel vor: die Beseitigung von Aberglaube, Schwärmerei und Fanatismus. Von der Herrschaft der Vernunft verspricht man sich Freiheit, Moral und Menschenrechte sowie verbesserte wissenschaftliche und politische Institutionen – kurz: eine Welt, in der glücklichere Menschen lebten. Auch wenn der Begriff Aufklärung tief im Diskurs der europäischen Identität verankert ist, bereitet es erhebliche Schwierigkeiten, seine Konturen klar zu bestimmen – und das sowohl in intellektueller wie in historischer Hinsicht. Die Hauptursache dafür ist in der inneren Viel­ gestaltigkeit dieser Bewegung zu suchen, in der sich gemäßigte Rationalisten mit Vertretern der „Radikalaufklärung“ zusammenfanden. Die zuletzt Genannten, deren Ursprünge – wie Jonathan Israel so treffend dargelegt hat – in der radikalen Religionskritik von Baruch Spinozas Tractatus theologico-politicus (1670) zu finden sind, werden gern überschätzt. Eine weitere Ursache besteht in der Vielfalt der Kontexte, in denen sich die Aufklärung entwickelt hat. Dies erklärt beispielsweise auch die spezifischen Formen, die sie im katholischen, protestantischen und jüdischen Milieu angenommen hat.

Der Dunkelheit trotzen Die Gründungsepoche der westlichen Moderne begann nicht erst im Jahr 1700, sondern, wie Paul Hazard in La crise de la conscience européenne gezeigt hat, bereits in einer Schwellenphase. Das war etwa zu dem Zeitpunkt, als in europäischen Städten die Straßenbeleuchtung aufkam: in Paris (1667), in Amsterdam (1669), in Hamburg (1673), in Turin (1675), in Berlin (1682) sowie in London (1684). Die Erhellung der Nacht – erst durch Laternen und Kerzenlicht, später mit Öl- und Gaslampen – erleichtert es dem städtischen Publikum, ein neuartiges Selbstbewusstsein auszuprägen: der Dunkelheit zu trotzen, um die Abende gesellschaftsfördernd zu verbringen. Als technisch-zivilisatorische Leistung erweiterte die nächtliche Illuminierung den Raum, in 246

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dem sich „Bürger“ versammelten, um über Grenzen (Konfession, Stand, Beruf) hinweg in einen offenen Diskurs einzutreten. In Theatern, Salons und Logen (1717 Gründung der ersten Freimauerloge in London), Lesezirkeln und Kaffeehäusern konstituiert sich, so Jürgen Habermas, eine neuartige Form des kommunikativen Miteinanders: die Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit. Dies führt in weiten Teilen Westeuropas über Polen bis nach Russland zu einem explosionsartigen Wachstum der Presselandschaft mit Neugründungen von Zeitungen, gelehrten Blättern sowie moralischen Wochenschriften (englische Vorbilder: Tatler, Sectator). Zedlers Großes Universal-Lexicon urteilt um 1750 über die „Zeitungs-Schreiber“: Diese seien „in ihren Gedanken nicht nur fast allwissend, sondern auch sehr mächtig, und können in wenigen Augenblicken mehr ausrichten, als der grösste Monarch in vielen Jahren“. Auch in wissenschaftlicher Hinsicht entspricht die Entwicklung nicht exakt der Abfolge der Jahrhunderte. 1620 erscheint Francis Bacons Novum organum scientiarum, mit dem er eine metaphysikfreie Verwissenschaftlichung der Welt (Gründung von Laboratorien, Sternwarten, botanischen Gärten) anstrebt. Es kommt zur Gründung der Royal Society (1660), der Académie des sciences (1666), der Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften (1700) und der Petersburger Akademie der Wissenschaften (1725). Isaac Newton (1643–1727), der Wegbereiter der modernen Physik, bleibt von 1703 bis zu seinem Tod Präsident der Royal Society. Gründungspräsident der Berliner Akademie ist der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716).

Die Erklärung vom 26. August 1789 So schwer es fällt, den Beginn des Jahrhunderts der Aufklärung genau zu datieren, so leicht scheint es zu sein, sein Ende zu bestimmen. Es wird gemeinhin mit der Französischen Revolution, genauer gesagt mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 verbunden. Das Revolutionsjahr 1789 mit dem Legitimationsverlust des Ancien Régime weckt bei Europas Intellektuellen höchste Erwartungen. Radikal ist dagegen die Enttäuschung, als Menschheitsträume von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Terror umschlugen und 247

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Maximilien de Robespierre beginnt, ein totalitäres Reich der Tugend zu errichten. Heftig reagieren Joseph de Maistre (1753–1821) sowie Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald (1754–1840) auf den Versuch ihres „Anti­ helden“ Robespierre, die menschliche Natur mit Gewalt (Terreur) auf eine höhere Stufe zu heben – gemäß Jean-Jacques Rousseaus Vorstellung, der Mensch sei von Natur aus gut. Dem widersprechen die „Gegenaufklärer“ mit Hinweis auf die Erbsünde. In De la souveraineté du peuple (1794) erklärt der Royalist de Maistre: Ein Philosoph, der „mit Vernunftgründen beweisen will, was der Mensch sein soll, verdient unser Gehör nicht“. Für Heinrich Heine (1797–1856) erscheint die Analogie von deutscher Gedankenrevolution und Epochenjahr 1789 evident. In seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) geht es dem in Paris Lebenden darum, die enge Verwandtschaft zwischen Französischer Revolution und Immanuel Kants Revolution der Denkungsart aufzuzeigen: „Die Natur hatte sie bestimmt Kaffee und Zucker zu wiegen, aber das Schicksal wollte, daß sie andere Dinge abwögen, und legte dem einen König dem anderen einen Gott auf die Waagschale ...“ In Heines Perspektive übertrifft der „Zerstörer im Reiche der Gedanken“ sogar Robespierres blutige Taten. Denn Kants Appell, sich von selbst verschuldeter Unmündigkeit zu befreien, sei das allerhöchste Wesen zum Opfer gefallen: der Gott der „Knechtsreligion“ des Deismus. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. […] Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Kants 1784 in der Berlinischen Monatsschrift publizierte „Definition“ betrifft den Fortschritt der menschlichen Gattung und legt eine neue, deontische Geschichtsphilosophie nahe. Reinhard Koselleck spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verzeitlichung des Denkens“, die sich in der Herausbildung des Kollektivsingulars „Geschichte“ manifestiert.

Die Gewaltenteilung Die Debatten über die genaue Bedeutung der Aufklärung sind nicht rein intellektueller Natur, sondern erstrecken sich auch auf die ver248

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schiedenen Auffassungen vom Politischen. Seit der Frühen Neuzeit war der Status von Herrschaft ein zentrales Thema: Hatte Erasmus von Rotterdam (1466/67–1536) mit seiner Querela Pacis (1517) für eine europäische Friedenskonferenz geworben, warnt er später vor Intoleranz und Religionskriegen. Darin folgt ihm der niederländische Rechtsgelehrte Hugo Grotius mit De jure belli ac pacis (1625). Das Werk macht ihn zum Begründer eines aufgeklärten Naturrechts; es enthält die berühmte Formel „etsi deus non daretur“ (als ob es keinen Gott gäbe). Sein Schüler Samuel von Pufendorf (1632–1694) formuliert: „Daß alle Menschen von Natur für gleichwürdig zu halten sind“. Nach einer im Leviathan (1651) entfalteten Denkfigur von Thomas Hobbes (1588–1679) ist der vorstaatliche Naturzustand – wie im England der Bürgerkriegszeit – geprägt vom „bellum omnium contra omnes“. Deshalb erscheint es aufgrund drohender Selbstvernichtung zwingend, einen Gesellschaftsvertrag zu schließen und sein angeborenes Recht auf einen absoluten Herrscher zu übertragen. Dagegen argumentiert John Locke (1632–1704) als „Vater des Liberalismus“ mit dem Vertragsmodell. Bei Locke schaffen die Bürger durch Vertrag eine politische Gewalt (Exekutive). Diese wird durch parlamentarische Mitentscheidung (Legislative) legitimiert. Seine politische Philosophie beeinflusst die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (1776). Seine Schrift De l‘esprit des lois (1748) ist für Charles de Montesquieu Ergebnis der jahrzehntelangen Erforschung europäischer Rechtssysteme, die ihn als Mitglied der Académie française unter anderem nach London führen, wo er auch in die Royal Society aufgenommen wird. Im 6. Kapitel des monumentalen Werks formuliert er das Prinzip der Gewalten­teilung: Legislative, Exekutive und Judikative sind strikt voneinander getrennt zu halten, ansonsten droht despotische Zwangsgewalt. Dieses Prinzip kommt in der Verfassung der Ersten Französischen Republik (1791) jedoch nicht zum Tragen. Maßgeblich wird vielmehr Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Lehre der Volkssouveränität. Kein Zufall, dass Montesquieus Grab – zugleich Symbol und Erinnerungsort – in der Revolutionszeit zerstört wird. Der Mensch, im freien Naturzustand geboren, liegt nach Rousseau überall in Ketten. Korrumpiert werde er nämlich, argumentiert er im Discours sur l’origine et les 249

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f­ ondements de l’inégalité parmi les hommes (1755), durch das Aufkommen des Privateigentums. Abhilfe kann nur von einem Gesellschaftsvertrag kommen, der Privates und Öffentliches neu vermittelt – Rousseaus Gleichheitsanthropologie stößt beim „Vater des Konservativismus“, Edmund Burke (1729–1797), auf entschiedene Ablehnung. Er beeinflusst die Pädagogik von Johann Heinrich Pestalozzi und Joachim Heinrich Campe sowie Ellen Key, die 1901 Das Jahrhundert des Kindes ausruft.

Die deistische Bibel Vor dem Jahrhundert der Aufklärung waren es vor allem die Entdeckung Amerikas (1492), die Reformation in Deutschland (1517) sowie der Dreißigjährige Krieg (1618–1648), die den christlichen Universalismus Alteuropas relativierten und den Wahrheitsanspruch der Offen­ barungsreligion erschütterten. Diese Relativierung fand zwar in ganz Europa statt und bildete ein wesentliches Element der transnationalen Dynamik der Aufklärung, wie sie sich unter anderem an den zahlreichen Formen des Austauschs und der intellektuellen Interaktionen innerhalb der „Gelehrtenrepublik“ ablesen lässt – sie vollzieht sich gleichwohl in jedem einzelnen europäischen Land auf spezifische Weise, je nach politischem und religiösem Kontext und in Abhängigkeit von intellektuellen Traditionen. In England zeichneten sich Aspekte von Aufklärung früher als in Frankreich oder Deutschland ab. Allerdings eröffnet die Glorious Revolution 1688 mit einer konstitutionellen Monarchie – anders als im absolutistischen Frankreich – einen Grundkonsens zwischen Religion und Politik. Wilhelm III. von Oranien (reg. 1689–1702) gewährt „Dissentern“ – protestantischen „Sekten“, nicht aber Katholiken – nach holländischem Vorbild mit dem Act of Toleration (1689) begrenzte Religionsfreiheit. Seine Herrschaft begründet ein optimistisches Zeitalter (Augustan Age), das weitgehend ohne aufklärerische Programmatik auskommt. „Enlightenment“ wird darum später dem Epochenbegriff „Aufklärung“ nachempfunden. Dennoch existiert eine tiefgreifende Verbindung zum kontinentalen Europa: bei der Bezugnahme auf den Deismus, den Ernst Troeltsch als „Religionsphilosophie der Aufklärung“ charakterisiert. 250

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Mit seiner Schrift De Veritate (1623) macht Edward Herbert of Cherbury (1583–1648) die Vernunft zum Kontrollinstrument des Glaubens. Der „Vater des Deismus“ lehrt, dass Menschen über apriorische Vernunftwahrheiten verfügen, anhand derer sie die „Vernünftigkeit“ positiver Religionen messen können. John Locke (1632–1704) stellt die empiristische Philosophie in seinem Hauptwerk Essay concerning human Understanding (1690) auf eine feste Grundlage. Er argumentiert darin gegen die schwärmerische Berufung auf eingeborene Ideen, spricht der Bibel in The Reasonableness of Christianity (1695) jedoch eine moralische Unterstützungsfunktion zu, um die Masse der Menschen moralisch zu leiten. Bei Matthew Tindal (1653–1733) kulminiert der englische Deismus. Sein Hauptwerk Christianity as old as creation (1730) wird zu Recht als „deist bible“ bezeichnet. Natürliche und geoffenbarte Religion erscheinen bei Tindal völlig deckungsgleich. Das Ende des Deismus markiert der schottische Aufklärer David Hume (1711–1776) mit einem „tödlichen Schnitt“. Aufgrund seiner Metaphysikfeindlichkeit wird dem Skeptiker ein Lehrstuhl in seiner Geburtsstadt Edinburgh verweigert. Heute beruft sich die Analytische Philosophie auf ihn. Auf der Grundlage seiner „science of man“, die von einem natürlichen Instinkt, einem „natural belief“, ausgeht, erklärt der Antirationalist Ursprung und Geschichte der Religion aus der menschlichen Natur. Was den Status des Aufklärers Hume angeht, ist der „Belief“Philosoph nicht davor geschützt, in seinem Essay über nationale Charaktere (1753/54) Stereotype eines „rassischen Diskurses“ (Michel Foucault) aufzugreifen, weil diese ihm „natürlich“ erscheinen: „Ich hege den Verdacht, daß die Neger und allgemein alle anderen Menschenrassen (denn es gibt vier oder fünf verschiedene Arten) den Weißen von Natur aus unterlegen sind.“

Das Jahrhundert Voltaires Anders als im englischen Konstitutionalismus radikalisiert sich die religionskritische Entwicklung mit dem Absolutismus Ludwigs XIV. (1638–1715). Gewitzt kritisiert Pierre Bayle (1647–1706) die Aufhebung des Edikts von Nantes (1685). Der Wiederherstellung der Monopolstellung des Katholizismus und dem Verbot der reformierten Kirche setzt er die Forderung nach Gewissensfreiheit entgegen. In ganz Europa 251

Thomas Brose

berühmt wird er durch sein Dictionnaire historique et critique (1695/96), das zum Vorbild der Enzyklopädisten wird. In seinen Fußnoten, Bayles Innovation, lässt er widerstreitende Autoritäten zu Wort kommen, die den Gehalt der Bibel historisch-kritisch relativieren. Im Anschluss an Descartes entwickelt Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) einen radikalen Atheismus. Seine Schrift L‘homme machine (1748) sorgt europaweit für Aufsehen. Friedrich II. gewährt ihm am Potsdamer Hof Zuflucht als Vorleser. Karl Marx kennzeichnet ihn im 19. Jahrhundert als „mechanischen Materialisten“ – im Gegensatz zu seinem „historischen Materialismus“. Weit über Frankreich hinaus prägt Voltaires (1694–1778) die Vorstellung von französischer Aufklärung („le siècle de Voltaire“). Trotz seiner Radikalität im Kampf gegen die katholische Staatskirche („Écrasez l’infâme!“) vertritt der philosophische Schriftsteller – entgegen der atheistisch-materialistischen Speerspitze französischer Aufklärung – deistische Positionen. In Le Fanatisme, ou Mahomet le prophète (1741) bekämpft er Absolutheitsansprüche aller monotheistischen Religionen, gibt aber auch seine Islamfeindlichkeit zu erkennen; im Dictionnaire philosophique (1769) äußert er sich abwertend gegenüber dem „verachtenswerten Judentum“. Schwer erträglich ist auch sein Rückgriff auf den „rassischen Diskurs“: Wie Hume teilt Voltaire die Vorstellung, dass Intelligenz und Charakter unter den Nationen unterschiedlich verteilt sind und dass „Neger“ keine Fähigkeit besitzen, sich kulturell zu entwickeln. Voltaire wird zum Inspirator der von Denis Diderot (1773/74 am Zarenhof Katharinas II.) und Jean Baptiste le Rond d’Alembert herausgegebenen Encyclopédie – dem Symbol und „Schwungrad“ der Aufklärung. In über 70 000 Artikeln werden darin alle Wissensgebiete beschrieben: Staat, Kirche, Gesellschaft, Wissenschaft, Justiz, Pädagogik und Wirtschaft. Viertausend Subskribenten machten das gewaltige Werk – 17 Bände mit elf Bildbänden (1751–1772; 1780 insgesamt 35 Bände) – zu einem kommerziellen Erfolg und zur Waffe der bürgerlichen Öffentlichkeit. Im Triumphzug wird Voltaire 1791 ins Pantheon überführt und als „Unsterblicher“ gefeiert. Denn sein Andenken soll ewig währen: als das eines Vorkämpfers für Gerechtigkeit. Zu einem Symbol und Erinnerungsort wird dabei ein Justizskandal: die „Affäre Calas“. Zu Unrecht beschuldigt die Justiz den hugenottischen 252

Aufklärung, Enlightenment, Lumières, Haskalah …

Tuchhändler Jean Calas, für die Tötung seines Sohnes (Suizid) verantwortlich zu sein – um dessen Konversion zu verhindern. Nachdem der Angeklagte unter Folter gesteht, wird er trotz Widerruf 1762 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Als Intellektuellem par excellence gelingt es Voltaire, die Rehabilitierung des Justizopfers zu erreichen. Anders als bei der „Affäre Dreyfus“ mit Émile Zolas zentraler Rolle ist diese Leistung Voltaires in Europa kaum bekannt. 2007 kommt unter dem Titel Voltaire und die Affäre Calas eine schweizerisch-französische Koproduktion in die Kinos, um daran etwas zu ändern. 1998 wird mit Blick auf Voltaires Jahre am Hof Friedrichs II. das Voltaire-Programm für einen deutschfranzösischen Schüleraustausch ins Leben gerufen.

Europäische Schnittstellen Als überragende Gestalten der Aufklärung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation stehen der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz und Immanuel Kant am Anfang und Ende des Zeitalters. Die deutschen Verhältnisse mit ihrer Kleinstaaterei, so Heine später, lassen keine politische Revolution zu, wohl aber umwälzende Gedankengänge: Johann Christoph Gottsched (1700–1766) berichtet von einer Krise, aus der ihn schließlich Leibniz‘ Théodicée (1710) gerettet habe. „Ich hub an, Ordnung und Wahrheit in der Welt zu sehen, die mir vorhin, wie ein Labyrinth vorgekommen war.“ Wie am Echo des Enzyklopädie-Artikels „Lissabon“ nachzuvollziehen, erschütterte jedoch alsbald die Zerstörung der Tejo-Metropole 1755 den aufgeklärten Optimismus Europas – mit Candide ou l‘optimisme (1759) polemisiert Voltaire gegen Leibniz‘ Formel von der „besten aller möglichen Welten“. Deshalb ist es Johann Georg Hamann (1730–1788) eine Generation später nicht mehr möglich, sein Heil in metaphysischen Büchern zu suchen. Aus seiner labyrinthischen Erfahrung rettet ihn die Lektüre eines anderen Buches: der Bibel. Auf Voltaires Ode Au roi de Prusse reagiert Hamann mit Au Salomon de Prusse – einer heftigen Polemik gegen den Philosophenkönig Friedrich (1740–1786), die aufgrund ihrer Schärfe keinen Verleger findet. Seinen Königsberger Mitbürger Kant erweckt er durch eine Übersetzung David Humes nicht bloß aus dem „dogmatischen Schlummer“. Er gibt ihm weiter zu denken, indem er schreibt, wahre 253

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Aufklärung bestehe „in einem Ausgange des unmündigen Menschen aus seiner allerhöchst selbst verschuldeten Vormundschaft“. Einen viel beachteten Beitrag zum italienischen Illuminismo erbringt Cesare Beccaria (1738–1794). Der Mailänder Rechtsphilosoph und Mitbegründer der Kriminologie wird zum bedeutendsten Kritiker des unaufgeklärten Strafvollzugs (Inquisition, Tortur, Galgen) in Europa. Mit seinem Hauptwerk Dei delitti e delle pene (1764) tritt er für die sofortige Abschaffung der Todesstrafe ein – etwa im Gegensatz zu Kant und Goethe. Sein Traktat Von den Verbrechen und von den Strafen wird noch im 18. Jahrhunderts in fast alle europäischen Sprachen übersetzt (auf Französisch 1765, ins Deutsche 1766). Damit gilt er – auch in Nordamerika – als Wegbereiter westlicher Strafrechtskultur. Nach Beccaria müsse die Unschuldsvermutung bis zum Erweis des Gegenteils gelten; bei der Strafzumessung sei auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu achten; Vergeltung dürfe kein Strafzweck an sich sein. Um herausragende Leistungen zu würdigen, verleiht die Neue Kriminologische Gesellschaft seit 1964 die Beccaria-Medaille. Die Europäische Union hat 2007 das Programm Prevention of and fight against crime eingeführt, das den Namen des italienischen Aufklärers trägt. Das Zeitalter der Aufklärung in Polen – Oświecenie – ist eng mit der Regierungszeit des Königs Stanisław II. August Poniatowski (reg. 1764– 1794) verbunden. Nach der „Ersten polnischen Teilung“ durch Russland, Österreich und Preußen (1772), die Voltaire als Parteigänger Friedrichs II. wohlwollend beurteilt, versuchen König und Staatsrat, das verbliebene Territorium durch Reformen zu stärken: 1773 etwa durch die Einrichtung eines Bildungsministeriums, des ersten in Europa. Das Land steht an der Spitze der Verfassungsbewegungen. Unter dem Eindruck der Unabhängigkeit der USA (Verfassung 1787) und der Französischen Revolution wird 1791 vom Vierjährigen Sejm (1788–1792) eine moderne Verfassung beschlossen. Polen wird zur konstitutionellen Monarchie mit Gewaltenteilung in Legislative und Exekutive. Vor allem das Bürgertum, aber auch Bauern und Juden erhalten Rechte. Obwohl Polen erst 1918 seine Unabhängigkeit wiedergewinnt, trägt Poniatowskis Herrschaft dazu bei, westlich-aufgeklärte Werte zu verbreiten. Als polnischer Nationalfeiertag erinnert der 3. Mai heute an ein Ereignis von europäischer Tragweite: die Verkündung der ersten Verfassung des Kontinents im 18. Jahrhundert. 254

Aufklärung, Enlightenment, Lumières, Haskalah …

Nathan der Weise Das 18. und 19. Jahrhundert eröffnet dem Judentum neue Möglichkeiten. Die preußische Metropole nimmt dabei eine Vorreiterrolle ein. Von Berlin über Königsberg bis nach Russland verbreitet sich die jüdische Aufklärung, die Haskalah (Erziehung; Vernunft – hebräischer Wortstamm „s-k-l“), die im 19. Jahrhundert ihre meisten Anhänger in Deutschland (mit der deutsch-jüdischen Symbiose) wie auch in vielen osteuropäischen Ländern findet. Sie trifft allerdings, vor allem in Polen wie auch im Osten Europas, auch auf den Widerstand der Chassidim, dieser Anhänger einer Erneuerung des Judentums auf der Grundlage der talmudischen Tradition, der Ablehnung der Modernität und einer innigen Frömmigkeit. Politisch wird den Juden 1791 von der Pariser Assemblée constituante das volle Bürgerrecht zugesprochen. Zu den wichtigsten Vordenkern der Haskalah, den Maskilim, zählt in Preußen Moses Mendelssohn (1729–1786). Neben dem Talmudstudium widmete er sich „weltlichem“ Wissen (Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften) und setzt sich für die Annäherung der Juden an die deutsche Kultur ein (Übersetzung der hebräischen Bibel), was der rabbinischen Orthodoxie blasphemisch erscheint. Der jüdische Philosoph bekämpft französischen Atheismus (La Mettrie) und empiristischen Skeptizismus (Hume). Als „deutscher Sokrates“ erlangt er mit Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767) Berühmtheit und fordert mit Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), den jüdischen Glauben als vernünftige Religion mit „geoffenbartem Gesetz“ anzuerkennen. Jüdische Reformer setzen sich im 19. Jahrhundert für die systematische Erforschung der eigenen Tradition ein. In Berlin gründet Leopold Zunz (1794–1886) 1819 den Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden. Zum Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt, verweigert der aufgeklärte Monarch von Potsdam 1771 Mendelssohns Bestätigung. Unterstützung erhält er dagegen von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781). In der Gestalt Nathans des Weisen (1779) verewigt der Dramatiker seinen Freund Moses und entwirft die Vision des friedlichen Zusammenlebens der Weltreligionen: Christentum, Judentum und Islam – wegen der Rassenideologie durfte das Stück ab 1933 nicht gespielt werden. Als der zwölf Jahre verfemte 255

Thomas Brose

Nathan zur Neueröffnung des Deutschen Theaters auf die Bühne kommt, ist dies 1945 ein bewegendes Plädoyer für Religionsfreiheit und Toleranz nach der Schoah.

Ambivalenzen der Moderne Die Aufklärung, ursprünglich nicht revolutionär, trägt mit ihrem philosophischen Potenzial aber wesentlich dazu bei, das Umstürzlerische im Reich der Gedanken geschichtlich zu realisieren. Das zeigt sich bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Sein in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) formuliertes Diktum, die Eule der Minerva, Vogel der Weisheit und Symbol der Aufklärung, beginne erst mit hereinbrechender Dämmerung ihren Flug, also Philosophie könne bloß konstatieren, wird von den Linkshegelianern radikal negiert. Darum versteht sich Ludwig Feuerbach (1804–1872) als Reformator, nennt sich „Luther II“ und beansprucht als Aufklärer des 19. Jahrhunderts, Das Wesen des Christentums (1841) erstmals völlig zu durchschauen. Karl Marx radikalisiert Hegels Anschauungen zu Religion und Menschenrecht. Friedrich Nietzsche (1844–1900) kritisiert nicht nur Kants Aufklärungsphilosophie (kategorischer Imperativ), sondern deren Transformationen im 19. Jahrhundert (bürgerliche Moral; Sozialismus). Sie gelten ihm als Nachwirkungen einer jüdisch-christlichen Synthese, die „Sklavenmoral“ generiert (Décadence). Dass auch dem „Überschuss von Missratenen, Kranken, Entarteten“, von dem in Jenseits von Gut und Böse (1886) die Rede ist, Lebensrecht zugebilligt wird, erscheint Nietzsche als selbstvernichtend und nihilistisch. Der Nationalsozialismus treibt diese Logik auf die Spitze. Er leitet sich vom „Volkswillen“ her, von einem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Szientismus (angefangen mit dem Sozialdarwinismus) sowie von einer antihumanistischen Interpretation der Philosophie Nietzsches. Auf dieser Grundlage entwickelt der „Führer“ als deren Vollstrecker eine durch die Errungenschaften der Aufklärung (Demokratie; Gewaltenteilung) von der Moderne erst möglich gemachte (Zygmunt Bauman) Form totalitärer Herrschaft. Dass der Vernunft ein Irrationalismus inhärent ist, der die „Rückkehr zur Barbarei“ im NS-Staat ermöglicht, ist das Ziel von Max Horkheimers und Theodor W. Adornos 256

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­ ialektik der Aufklärung (1944). Adorno stellt zwischen Holocaust und D Erdbeben von Lissabon 1755 eine Analogie her: Beide Katastrophen – schreibt er in der Negativen Dialektik (1966) – wirkten so erschütternd, dass die europäische Kultur davon für immer geprägt bleibt.

1989 in hellem Licht Die Prinzipien der Aufklärung stoßen zwar nach 1945 bei vielen westlichen Intellektuellen – bei den Vertretern der Frankfurter Schule ebenso wie bei den Philosophen Paul Ricœur und Jacques Derrida – auf eine gewisse Skepsis; trotzdem entsteht im östlichen Teil Europas ab den 1970er-Jahren ein neuer Schwung, der Grenzen überwindet, um individuelle Freiheit und politische Emanzipation zu ermöglichen. Wie aus Untertanen Bürger werden, lässt sich exemplarisch an drei Ländern Mittelosteuropas zeigen: In Polen beginnt die Solidarność„Revolution“ schon 1980. Gemeinsam berufen sich dabei Arbeiter und Intellektuelle wie Lech Wałęsa, Tadeusz Mazowiecki und Bronisław Geremek auf die Menschenrechte und bauen darauf, dass Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wie José Casanova gezeigt hat, zu den Kirchen zurückgefunden haben, während der Papst Johannes Paul II. für die Aufhebung von Jalta und die Einheit des Kontinents plädiert. In der DDR spielen evangelische Pfarrer, die „Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ (1988/89) sowie protestantisch geprägte Bürgerrechtler eine entscheidende Rolle in der „Friedlichen Revolution“ von 1989. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 bilden Künstler und Intellektuelle in der Tschechoslowakei eine neue Bürgerrechtsbewegung, die 1977 die Charta 77 veröffentlicht. Dabei macht Václav Havel die Menschenrechte zum argumentativen Angelpunkt seiner Kritik und beruft sich auf die Schlussakte von Helsinki (1975) mit Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit. Was folgt, ist die „Samtene Revolution“ 1989 als gewaltlose Erhebung des Volkes. Insofern hat das Jahr 1989 bewiesen, dass die Aufklärung noch nicht ihr Ziel erreicht hat. Auch wenn der historische Kontext grundsätzlich anders ist, stellt sie für alle, die in transnationaler Perspektive für die individuellen Freiheits- und die Menschenrechte sowie die politische Emanzipation eintreten, eine Inspirationsquelle dar. Dieser Wille, das 257

Thomas Brose

Erbe des kritischen Aufklärungs- und Toleranzdenkens fortzusetzen, findet sich in dem 2003 mit Bezug auf europäische und polnische Erfahrungen von dem Publizisten Stefan Wilkanowicz vorgelegten – und nicht realisierten – Entwurf einer „Präambel der europäischen Verfassung“: „Wir Europäer wollen … – im Bewusstsein des Reichtums unseres Erbes, das aus den Errungenschaften des Judaismus, des Christentums, des Islam, der griechischen Philosophie, des römischen Rechts und des Humanismus, der sowohl religiöse als auch nichtreligiöse Quellen hat, schöpft, – im Bewusstsein des Wertes der christlichen Zivilisation, welche die Hauptquelle unserer Identität ist, – im Bewusstsein der häufigen Fälle von Verrat, der an diesen Werten von Christen und Nichtchristen begangen wurde, – eingedenk des Guten und des Bösen, das wir den Bewohnern anderer Kontinente gebracht haben, – im Bedauern der Katastrophen, die durch totalitäre Systeme, die unserer Zivilisation entsprangen, verursacht wurden, … unsere gemeinsame Zukunft bauen.“

Literatur Dominique BOUREL, Moses Mendelssohn. Begründer des modernen Judentums, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Zürich 2007. Thomas BROSE, Johann Georg Hamann und David Hume. Metaphysikkritik und Glaube im Spannungsfeld der Aufklärung, 2 Bde., Frankfurt a. M. 2006. Thomas BROSE (Hg.), Religionsphilosophie. Europäische Denker zwischen philosophischer Theologie und Religionskritik, Würzburg 22001. José CASANOVA, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994. Stéphane van DAMME, À toutes voiles vers la vérité, Paris 2014. Robert DARNTON, The Business of Enlightenment. A Publishing History of the Encyclopédie, 1775–1800, Cambridge (Mass.) 1979. Michel DELON, Dictionnaire européen des Lumières, Paris 1997. Sabine DOERING-MANTEUFFEL, Das Okkulte. Eine Erfolgsgeschichte im Schatten der Aufklärung, München 2008. Jürgen HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 51971.

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Jonathan ISRAEL, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity, 1650–1750, Oxford 2001. Jonathan ISRAEL, Enlightenment Contested. Philosophy, Modernity, and the Emancipation of Man 1670–1752, Oxford 2006. Jonathan ISRAEL, Democratic Enlightenment. Philosophy, Revolution, and Human Rights 1750–1790, Oxford 2011. Hans JOAS und Klaus WIEGANDT (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a. M. 2005. Matthias LUTZ-BACHMANN (Hg.), Postsäkularismus. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. 2015. Wilhelm SCHMIDT-BIGGEMANN, Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1988. Werner SCHNEIDERS (Hg.), Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 2001. Barbara STOLLBERG-RILINGER, Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2011. David SORKIN, The Religious Enlightenment. Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna, Oxford 2008. Charles TAYLOR, A Secular Age, Cambridge (Mass.) 2007. Tzvetan TODOROV, L’esprit des Lumières, Paris 2006.

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Gesine Schwan

Die Demokratie weit von Athen Im antiken Griechenland galt derjenige, der nicht am Leben der Polis – also an der Politik – teilnahm, als Idiot. Individualismus und die gegenwärtige, alles erfassende Ökonomisierung haben die Situation verändert und die Demokratie von ihren anspruchsvollen Ursprüngen abgekoppelt. Sie bleibt jedoch das Fundament, auf dem sich Europa nach 1945 aufbauen wollte. In Griechenland sind es heute jedoch die Gläubiger, die Gesetze machen, und nicht die Politik.

Mai 2010: Kommunistische Gewerkschafter besetzen die Akropolis, um gegen EU-Sparpläne zu demonstrieren.

Die Demokratie weit von Athen

Entsetzt und empört zeigte sich die deutsche Bundeskanzlerin, als im Jahr 2011 der griechische Premierminister Giorgos Papandreou ihr mitteilte, dass er ein Referendum abhalten wolle. Über die einschneidende Einigung zwischen der griechischen Regierung und der Troika von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, das heißt über deren sogenanntes Hilfspaket, sollte demokratisch abgestimmt werden, denn es schränkte die Souveränität der griechischen Demokratie erheblich ein. Hier war, so lautete die empörte deutsche und europäische Reaktion, ein verschuldetes Land, das auf die finanzielle Hilfe von außen angewiesen war – und dessen Premier erdreistete sich, nach langen Verhandlungen noch das Volk darüber befragen zu wollen, ob es dem Ergebnis zustimmen wolle. Als ob es zu den beschlossenen Regelungen eine Alternative gegeben hätte, als ob die Griechen noch die Freiheit hätten, anders zu entscheiden, als ob sie noch Herr wären im eigenen Haus, als ob ihre Demokratie gegenüber den Anforderungen der Finanzmärkte noch etwas zu sagen hätte. Welche Anmaßung aus Athen! Es war doch klar, wo hier die Macht und wo die Abhängigkeit lag! Wir brauchen finanzmarktkonforme Demokratien, lautet seitdem die Forderung der deutschen Bundeskanzlerin. Immerhin regte sich in Deutschland sogar im konservativen Lager – insbesondere beim Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Frank Schirrmacher – heftiger Widerspruch gegen den selbstverständ­ lichen Anspruch, die griechische Demokratie den auswärtigen Finanz­ institutionen unterzuordnen. Politische Freiheit und Demokratie einfach suspendieren zu wollen, sei ein verheerendes Zeichen. Aber am Oktroi gegenüber Griechenland änderte das nichts. Deutlicher kann man die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Berufung auf Europas konstituierende Werte einerseits und der heutigen politischen Praxis der Europäischen Union andererseits nicht beschreiben. Jerusalem, Athen und Rom gelten als die symbolisch herausragenden Gründungsstädte Europas. So hat es etwa der französische Philosoph und Schriftsteller Paul Valéry in einer berühmt gewordenen Definition formuliert: „Unbedingt europäisch ist alles, was von den drei Quellen – Athen, Rom und Jerusalem – herrührt.“1 1 Paul Valéry, Die Krise des europäischen Geistes (La Crise de l’Esprit), 1919, in: Paul Valéry, Œuvres, hg. von. J. Hytier, Paris 1957, Bd. I, 988–1013.

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Gesine Schwan

Jerusalem steht für die religiöse jüdisch-christliche (heute auch muslimische) Tradition, Rom für das Recht und Athen für klassische Philosophie, politische Freiheit, bürgerliche Gleichheit, kurz: für die Demokratie. Dass die Unterwerfung unter Gläubiger in einem Spannungsverhältnis zur politisch-demokratischen Freiheit steht, wurde und wird von denen, die gegenwärtig in der EU das Sagen haben – vor allem von Teilen der deutschen Regierung – gar nicht mehr als legitime Herausforderung ernst genommen. Dabei finden sie sich übrigens in Übereinstimmung mit den Athenern der griechischen Antike, die einer der Urväter der europäischen Geschichtsschreibung, Thukydides, in seinem berühmten Peloponnesischen Krieg im sogenannten Melier-Dialog beschreibt.2 Nachdem die Melier den Athenern militärisch unterlegen waren, sei es für die Melier müßig, so die athenische Position im Dialog, sich auf Gerechtigkeit oder Freiheit zu berufen. Wer die Macht hat (die Athener), entscheidet und unterwirft die Besiegten (die Melier). Hier wurde ein radikaler Unterschied zwischen Freiheit und Gerechtigkeit innerhalb der demokratischen Polis einerseits und gegenüber Fremden andererseits gemacht. Diese haben keinen Anspruch auf Gerechtigkeit.

Die Inspirationsquelle So hat das klassische Athen zwar den Grund gelegt für den universal geltenden Anspruch auf Freiheit und Demokratie, aber ihn außerhalb seiner Polis selbst nicht respektiert. Vielmehr folgte diese Universalisierung erst aus der weiteren europäischen Geschichte von Menschenrechten (die Athen konsequenterweise zum Beispiel gegenüber den „Barbaren“ auch noch nicht anerkannte) und politischer Demokratie, wie sie sich seit der UN-Deklaration der Menschenrechte, dem allgemeinen europäischen Bekenntnis zur Demokratie in den Europäischen Verträgen und gerade kürzlich mit der Verabschiedung der „Sustainable Development Goals“ durch die Vereinten Nationen im September 2015 nieder­ geschlagen hat.

2 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, übersetzt und hg. von Helmuth Vretska, Stuttgart 1966, S. 84–116.

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Die Demokratie weit von Athen

Und doch strahlt Athen als europäischer Erinnerungsort über die Jahrhunderte hinweg auch auf unsere Gegenwart aus. Millionen Touristen pilgern nach Athen und besichtigen die Akropolis und die Agora. Denn dort wurde vor etwa 2500 Jahren zum ersten Mal, für die Zukunft unendlich inspirierend, und vor allem systematisch über die Welt nachgedacht. Dort wurde der kühne Versuch unternommen, deren mythische Interpretation als Werk und Handlungsort der Götter zu einer vernünftig einsehbaren und begründbaren metaphysischen Ordnung weiterzudenken. Mehr noch: Dieses Nachdenken verfolgte originell und konzentriert die Frage nach der anzustrebenden Gestalt eines freiheitlichen Zusammenlebens von gleichen Bürgern. Freiheit und Bürgergleichheit galten als Grundlage dessen, was man philosophisch und damit verallgemeinernd als Existenzbedingungen der „menschliche Natur“ und eines „guten“ gelungenen Lebens definierte, womit vor allem Aristoteles – neben Platon einer der Giganten der klassischen griechischen Philosophie – doch bereits die Grundlage für die eben bezeichnete spätere Universalisierung von Menschenrechten und Demokratie etablierte. Alle Menschen seien vernunftbegabte und politische, das heißt auf das Zusammenleben in der Polis angelegte Wesen – so die Ausgangsannahme des Aristoteles, aus der das Recht auf gleiche bürgerliche Freiheit und politische Teilhabe folgte; freilich noch nicht konkret für Sklaven und Frauen und auch nicht für ihn selbst, der, als Metöke von der Chalkidike stammend, in Athen kein Bürgerrecht hatte. Aber gegen alle herkömmlichen sozialen Hierarchien und Ungleichheiten wurde in Athen das Prinzip der Bürger- und Rechtsgleichheit praktiziert, gesetzlich festgelegt und philosophisch fundiert sowie Politik als Ort und Praxis eines dementsprechenden Zusammenlebens von Freien und Gleichen positiv begründet. Wer sich nur um seine privaten Dinge kümmerte, war ein „Idiot“ (griechisch: idiotes). Die noch heute anhaltende negative Bedeutung dieses Begriffs rührt auch daher, dass es zum athenischen Bürgerverständnis und klassisch philosophischen Menschenverständnis gehörte, in der Polis Verantwortung zu übernehmen. Allerdings hat die Wertschätzung der politischen Verantwortung in der Folge der zunehmenden und globalen Vorherrschaft ökonomischen Denkens und privater Individualisierung in den letzten Jahrzehnten erheblich an Anerkennung verloren. Unter diesem Aspekt gilt heute vielfach als Idiot, wer sich nicht nur um sein Privatleben kümmert, sondern in die Politik geht. 263

Gesine Schwan

Die Gefallenenrede des Perikles Was kann die Erinnerung an Athen dagegen ausrichten? Sie kann die­ jenigen, die weiterhin ein freiheitliches und gerechtes Gemeinwesen als Bedingung gelungenen Lebens betrachten, inspirieren und in ihrem Handeln bestärken. Denn Athen hat sowohl die zahlreichen Gefährdungen der Demokratie als auch den kulturellen Reichtum und die Würde gezeigt, die das menschliche Leben in der freiheitlichen Polis erlangen kann und die es auszuzeichnen vermögen. Paradigmatisch dafür ist die sogenannte Gefallenenrede des Perikles, wieder in der Version des Thukydides aus dem Peloponnesischen Krieg. Der berühmte athenische Staatsmann hat sie 431/430 v. Chr. am Ende des ersten Kriegsjahres gegen Sparta zur Ehrung der Gefallenen gehalten. Kern dieser Rede ist die Rechtfertigung dafür, dass Athen von den Gefallenen das Opfer ihres jungen Lebens fordern durfte. Sie liegt in der Verfassung und der politischen Kultur der athenischen Polis. Athen steht darin als die „Schule von Hellas“ und anders als das unfreie Sparta für Freiheit, Gleichheit, Weltoffenheit gegenüber Fremden, Selbstlosigkeit und Unabhängigkeit. „Die Staatsverfassung, die wir haben, richtet sich nicht nach den Gesetzen anderer, viel eher sind wir selbst für manchen ein Vorbild. Mit Namen heißt sie, weil die Staatsverfassung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist, Demokratie. […] Frei leben wir als Bürger im Staat und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen, wenn er sich einmal ein Vergnügen macht. […] Wie ungezwungen wir aber auch unsere persönlichen Dinge regeln, so hüten wir uns doch im öffentlichen Leben, allein aus Furcht, vor Rechtsbruch – im Gehorsam gegen Beamte und Gesetze, hier vor allem gegen solche, die zum Nutzen der Unterdrückten erlassen sind. […] Außerdem haben wir reichlich für geistige Entspannung nach der Arbeit gesorgt, durch Wettkämpfe und feierliche Opfer, die wir jährlich feiern, durch eine geschmackvolle Ausstattung unserer Häuser, die uns Tag für Tag erfreut und die Sorgen verscheucht. Dank der Größe 264

Die Demokratie weit von Athen

der Stadt strömen aus aller Welt alle Güter bei uns ein. […] Wir lieben die Kunst mit maßvoller Zucht, wir lieben den Geist ohne schlaffe Trägheit. Reichtum dient uns der rechten Tat, nicht dem prunkenden Wort, und seine Armut einzugestehen ist für niemanden schmählich, ihr nicht zu entrinnen durch eigene Arbeit [gilt als] schmählicher. Mit derselben Sorgfalt widmen wir uns dem Haus wie dem Staatswesen, und ist auch jeder von uns seinen eigenen Arbeiten zugewandt, so zeigt er doch im staatlichen Leben ein gesundes Urteil. Einzig und allein bei uns heißt doch jemand, der nicht daran teilnimmt, nicht untätig, sondern unnütz; und nur wir entscheiden in Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch. […] Wir allein sind gewohnt, nicht aus Berechnung des Vorteils, sondern im sicheren Vertrauen auf unsere Freiheit jemandem zu helfen.“3 Der französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing hatte versucht, die Verfassung der Europäischen Union mit dem Verweis auf die Perikles-­ Rede beginnen zu lassen. Zu ihrer Rezeptionstradition gehört Abraham Lincolns Gettysburg Address, seine berühmte Gefallenenrede im Amerikanischen Bürgerkrieg.

Die anspruchsvolle Demokratie Eine solche Volksherrschaft verlangt eine breite Bildung: Die Athener gingen oft ins Theater. Sie ist auch immer wieder durch Gesetzlosigkeit oder Tyrannei gefährdet. Auf diese Athener Erfahrung kennen wir zwei gegensätzliche politische Reaktionen: Härte und Abschreckung durch „drakonische“ Strafen (Drakon, um 650 v. Chr., hat die zeitgenössischen Strafen allerdings vor allem registriert) oder die Weisheit des Solon (640–558 v. Chr.), der für Gerechtigkeit durch Ächtung der Schuldsklaverei eintrat und Wachsamkeit gegen den tyrannischen Missbrauch konzentrierter Macht unterstrich. Im 20. Jahrhundert hat vor allem Hannah Arendt die Erinnerung an die Athener Polis wieder lebendig gemacht. Ihre persönliche Erfahrung mit zwei totalitären Systemen ebenso wie mit Flucht und Staatenlosigkeit war sicher ein entscheidendes Motiv dafür, die politische Verantwor3 Aus der „Gefallenenrede“ des Perikles, Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, übersetzt und hg. von Helmuth Vretska, Stuttgart 1966, Bd. II. 34–46.

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Gesine Schwan

tung als wesentliches Merkmal der Bürger in der Tradition der Athener Polis theoretisch zu durchdringen und praktisch zu fordern, um eine Wiederkehr mörderischer Politik zu verhindern. Als zentrale Aufgabe unterstrich sie in der Folge von Karl Jaspers die Bedeutung von wahrhaftiger Kommunikation und Verständigung, mit der immer erneut die unvermeidlichen und prinzipiell auch fruchtbaren Konflikte in der Politik überwunden oder gehegt werden müssen. Die gemeinsame Anerkennung von Wahrheitsliebe und die Warnung vor der Zerstörung des demokratischen Gemeinwesens durch Lüge beziehungsweise permanente Unehrlichkeit gehören zu ihren zentralen Anliegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Deutschland unter besonderer Beobachtung. Würde es sich zu einer tragfähigen Demokratie entwickeln? Maßnahmen wie die sogenannte Reeducation durch die US-Amerikaner sollten dazu beitragen, dass die traditionelle Vorliebe der Deutschen für ökonomischen Erfolg (auch unter diktatorischen Bedingungen) im Vergleich zu den bürgerlichen und politischen Freiheiten sich in eine Vorliebe für diese Freiheiten verwandeln würde. In den folgenden Jahrzehnten wurden immer wieder Meinungsumfragen zugunsten dieses Wandels angeführt. Demnach hätten sich die Deutschen über mehrere Generationen hinweg zu wirklichen Demokraten gewandelt. Dabei war immer unsicher, wie sich das in Krisenzeiten – unter schwierigeren ökonomischen Bedingungen – entwickeln würde. Die aktuelle Flüchtlingskrise hat mit der beeindruckenden Willkommenskultur aus der Mitte der Zivilgesellschaft gezeigt, dass sich in der deutschen Gesellschaft in der Tat demokratische Werte beachtlich tief verankert haben. Auf der anderen Seite gibt es freilich erhebliche Ressentiments, Aversionen und Gewaltakte, die nicht nur dem Respekt der Athener Polis vor Flüchtlingen, sondern auch den Grundwerten unserer Demokratie, ja dem Recht widersprechen. Eine pikante Pointe stellt dabei die Auseinandersetzung zwischen Teilen der deutschen Bundesregierung und der griechischen Regierung seit der Bankenkrise dar: Während die Athener gegenüber der Troika und der Europäischen Union auf dem Vorrang der demokratischen Selbstbestimmung beharren, forderte Berlin bisher den Vorrang des ökonomischen Erfolgs vor demokratischen Wahlen oder Referenden. Damit wäre Berlin politisch-kulturell wieder an den Beginn der Nachkriegsdemokratisierung zurückgekehrt, während die griechische Regierung den europäischen Erinnerungsort Athen hochhält. Davon können wir uns zugunsten 266

Die Demokratie weit von Athen

der Europäischen Union und ihres demokratischen Zusammenhalts inspirieren lassen.

Literatur Pim den BOER, Heinz DUCHHARDT, Georg KREIS und Wolfgang SCHMALE (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2: Das Haus Europa. München 2012. THUKYDIDES, Der Peloponnesische Krieg, übersetzt und hg. von Helmuth Vretska, Stuttgart 1966 (II. 34–46; V. 84–116). Paul VALÉRY, Die Krise des europäischen Geistes (La Crise de l’Esprit), 1919, in: Paul Valéry, Œuvres, hg. von J. Hytier, Paris 1957, Bd. I, S. 988–1013. Ruprecht ZIEGLER, Justus COBET, Barbara PATZEK, Regina HAUSES, Helga SCHOLTEN und Joachim LEHNEN, Metropolen europäischer Kultur. Eine Geschichte vierer Städte, Unikate 34/2009, S. 8–33.

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François Hartog

Die Geschichte als Inspiration Die Geschichte hat zwei Jahrhunderte lang dazu gedient, die große europäische Erzählung als Epizentrum der Zivilisation zu erstellen. „Ich war die so vergötterte schöne Klio“, schrieb Charles Péguy. Die Muse Klio wird heute von einer anderen vom Thron gestoßen, von Mnemosyne (Gedächtnis), die von ihr Rechenschaft fordert und unsere Beziehung zur Zeit tiefgreifend verändert.

Alexandre VéronBellecourt: Allegorie a la gloire de Napoleon I. La muse Clio montre aux nations les faits mémorables de son règne (1806).

Die Geschichte als Inspiration

Ist die Geschichte ein europäischer Erinnerungsort? Das ist eine ziemlich ikonoklastische Frage, die noch in den Siebzigerjahren die Historiker verwundert oder sogar schockiert hätte. Ja, sie hätten sie ganz einfach nicht begriffen. Denn es verstand sich von selbst, dass es auf einer Seite die Erinnerung gab und auf der anderen die Geschichte, ihr eigentliches Gebiet, das genau dort begann, wo die Erinnerung endete. Es sind die Umwälzungen, die seither stattgefunden haben und insbesondere von dem unaufhaltsamen Anstieg des Bedürfnisses nach Erinnerung in Europa und anderswo geprägt sind, die dazu geführt haben, dass die Geschichte zugleich als Fach und als wichtiger Glaube der modernen Welt hinterfragt wurde, einer Welt, die nunmehr nicht mehr die unsrige ist. Kann nun die Geschichte, die mit dieser modernen Welt einherging und dazu gedient hat, sie auszudrücken und ihr Sinn zu verleihen (den Sinn der Geschichte), noch die unsrige sein? Der im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung von Herodot eingeführte Begriff „Geschichte“ überlebte zwar 25 Jahrhunderte lang, ohne jemals aufgegeben worden zu sein, wurde jedoch höchst unterschiedlich gebraucht und verstanden. Denn jede Epoche unterwarf ihn, indem sie ihn aufgriff, ihren eigenen Absichten und bewahrte gleichzeitig einen variablen und immer revidierbaren Teil seiner früheren Verwendungsweisen. Er war einfach da, vertraut und bequem, mit einer rasch erworbenen Selbstverständlichkeit, und jedes Mal erneuert, weil er Einordnungen des Geschehenen und Geschehenden ermöglichte und neue Ausblicke auf die Welt und deren Vergangenheit bot. Worum ging es, wenn nicht darum, besser zu verstehen, um besser in der Gegenwart, in seiner Gegenwart zu handeln? In jeder der aufeinanderfolgenden Gegenwarten. Klio wurde seit der Antike als Muse der Geschichte anerkannt, weil diejenigen, die sie besang, einen schönen Ruhm (kleos) erlangten. Das erinnert uns daran, dass in Griechenland die erste Geschichte aus dem Epos hervorgegangen ist. Und lange Zeit hindurch hat die Geschichte die Heldentaten, die Fürsten und die großen Männer gefeiert, um Beispiele zu bieten, die es nachzuahmen galt (und manchmal nicht nachzuahmen galt). Doch heute scheint Klio in unseren europäischen Gesellschaften von Mnemosyne ersetzt worden zu sein, der Muse des Gedächtnisses beziehungsweise der Erinnerung, die seit Hesiod im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung als die Mutter der Musen bekannt ist, so, dass durch eine Art Umkehrung der Filiation die Mut269

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ter die Stelle der Tochter eingenommen hat. Es ist nicht mehr die Geschichte, die die Erinnerung beurteilt und bemisst, sondern die Erinnerung, die sich zur Geschichte zurückwendet, sie befragt, sie sogar verwirft und jedenfalls Mühe hat, zu begreifen, was sie zwischen dem Ende des 18. und dem des 20. Jahrhunderts repräsentieren konnte für eine Welt, deren neue Religion sie zu werden anstrebte. Diese Periode entsprach der Einrichtung und der Behauptung der modernen Welt: Die Nationen und Kolonialreiche gingen Hand in Hand. Doch zwei Weltkriege später gibt ein ausgeblutetes und in Ruinen liegendes Europa seine Reiche auf und stürzt sich in den Wiederaufbau. Eine andere Ära beginnt, die des Kalten Kriegs, des Fortschritts um jeden Preis und des Wettrüstens zwischen dem Osten und dem Westen, und zwar bis zum Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und dem Ende des sowjetischen Reichs. Die Geschichte ist wohlbekannt und es geht hier nicht um sie. Im Nachhinein betrachtet, erschienen diese eineinhalb Jahrhunderte als eine besonders aktive, umtriebige und gewalttätige Epoche der Weltgeschichte, die die Welt umgewälzt hat mit ihren wissenschaftlichen Entdeckungen, ihren technologischen Hochleistungen und Zerstörungen, ihren sozialen Errungenschaften und wilden Ausbeutungen, ihren demokratischen Regimen und brutalen Diktaturen, den Millionen Toten, den Massenverbrechen und den Genoziden. Und all das in unerhörten Maßstäben und in einem nie da gewesenen Tempo. Hat unter all diesen Bedingungen, die den einmaligen Verlauf ermöglicht haben, der dem alten Schema der Abfolge der Reiche (wie man es bereits im Buch Daniel gelesen hat und dabei das Muster einer von der Vorsehung geprägten Geschichte erkannt hat) nicht nur bloß etwas hinzugefügt hat, die Geschichte – und damit meine ich die Auffassung der Geschichte oder, besser, den modernen Geschichtsbegriff – eine Rolle gespielt: seine Rolle? Gehen wir von einem allgemeinen Satz aus: Der Geschichtsbegriff kann sich nur wandeln, sobald sich unsere Beziehungen zur Zeit verändern. Denn seit der Ausarbeitung der ersten Kalender haben die menschlichen Gruppen aus der Zeit immer ein gesellschaftliches Objekt gemacht, bei dem religiöse, politische und wirtschaftliche Aspekte auf dem Spiel stehen. Und die Freilegung einer spezifisch „historischen“ Zeit fällt mit dem zusammen, was wir als „Neuzeit“ bezeichnen. 270

Die Geschichte als Inspiration

Die Geschichte: eine Religion In den 1870er-Jahren, einer Zeit, in der die Geschichte als eine etablierte Macht angesehen wurde, wurde sie von Pierre Larousse so definiert: „Die von Bossuet im 17. Jahrhundert angeregte, im 18. von Vico, Herder und Condorcet weitergeführte und im 19. von so vielen klugen Köpfen weiterentwickelte historische Bewegung kann sich in einer nahen Zukunft nur noch verstärken. Heute ist die Geschichte sozusagen zu einer Weltreligion geworden. […] Sie ist dazu bestimmt, innerhalb der modernen Zivilisation das zu werden, was die Theologie im Mittelalter und in der Antike war, die Königin und die Maßgeberin des Bewusstseins der Menschen.“1 Wie konnte es zu solch einem glühenden Bekenntnis zur Geschichte und ihrer Zukunft kommen? Am Ende eines langen Weges, dessen einzelne Abschnitte so heißen: die Anerkennung, dass die Menschen die Geschichte machen, der Übergang von einer Auffassung der Vervollkommnungsfähigkeit, die sich noch nach einem göttlichen Ideal ausrichtet, zu einer Auffassung der Fortschritte der Vernunft hin zum Fortschritt, das Heraustreten aus der lähmenden Vorgabe der 6000 Jahre der biblischen Chronologie und die Öffnung auf eine sich endlos fortsetzende Zukunft. Die Zeit erschien nun, um es mit Ernest Renan zu sagen, als „der universelle Faktor, der große Koeffizient des ewigen ,Werdens‘“, sodass „alle Wissenschaften, durch ihren Gegenstand auf einen Zeitpunkt der Dauer verteilt, historisch wurden und die Geschichte, die der menschlichen Gesellschaften, sich als die jüngste der Wissenschaften erwies“.2 Man war von einer Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens und Teil der Rhetorik zu einer Geschichte als Herrscherin über ein ständig im Werden begriffenes Universum übergegangen, die den Status einer Wissenschaft anstrebte. Man trat aus dem alten Historizitätsregime heraus und in das moderne Historizitätsregime ein, das durch die Vorherrschaft der Kategorie der Zukunft und einen wachsenden Abstand zwischen dem Erfahrungsraum und dem Erwartungshorizont charakterisiert war, um die von Reinhart Koselleck entwickelten Kategorien aufzugreifen. Die 1 Pierre Larousse, Grand Dictionnaire universel du XIXe siècle, Bd. 12, Eintrag „Geschichte“. 2 Ernest Renan, „Lettre à Marcelin Berthelot“, in: Œuvres complètes, Paris 1947, I, S. 634.

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Zukunft ist das „Telos“: das Ziel. Aus ihr kommt das Licht, das die Vergangenheit beleuchtet. Die Zeit ist nicht mehr ein bloßes Einteilungsprinzip, sondern der Akteur, der Operateur einer Geschichte als Prozess, die nur der andere oder der wahre Name des Fortschritts ist. Diese von den Menschen gemachte Geschichte wird als Beschleunigung erlebt. In dieser historisch gewordenen Welt kann man nur an die Geschichte glauben. Dieser Glaube kann unscharf sein oder reflektiert (von den Geschichtsphilosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx theoretisiert) und sogar verworfen werden, aber er wird mehr und mehr geteilt. Alexis de Tocqueville war es, der 1840 die klarste Formulierung geliefert hat: „Wenn die Vergangenheit nicht mehr die Zukunft erhellt, dann marschiert der Geist in der Finsternis.“3 Mit diesen Worten nimmt er das Ende des alten Historizitätsregimes zur Kenntnis und liefert gleichzeitig die Formulierung des neuen Regimes, das heißt den Schlüssel für die Intelligibilität der Welt seit 1789, in der nunmehr die Zukunft die Vergangenheit erhellt und den Weg zum Handeln anzeigt. Von der Zukunft aus – und für ihn folglich aus Amerika – muss man Frankreich und Europa betrachten, um dort dieses unaufhaltsame Fortschreiten zur Gleichheit der Bedingungen auszumachen.

„Die Vorstellung eines marschierenden Volks“ Der Geist wandert folglich nicht oder nicht mehr in der Finsternis voran. Eine neue Zeit benötigt eine neue Geschichte. Denn die mit dem alten Historizitätsregime verbundene greift nicht mehr: Sie erhellt nichts mehr. Im alten Historizitätsregime (vor 1789, um dieses symbolische Datum zu verwenden) hatten die Akteure gewiss ihre Gegenwart, lebten in dieser Gegenwart und versuchten, sie zu begreifen und zu bewältigen. Doch, um sich darin zurechtzufinden und ihrer historischen Erfahrung einen Sinn zu verleihen, begannen sie, in die Vergangenheit zurückzublicken in der Hoffnung, sie könne Intelligibilität, Exempel und Lehren bringen. Und die Geschichte war das Inventar dieser Exempel und die Erzählung dieser Lehren. Im neuen Regime verhält es sich nun umgekehrt: Man blickt in die Zukunft, sie ist es, die die Gegenwart erhellt und die Vergangenheit erklärt. Zu ihr muss man möglichst schnell gelangen. Sie richtet 3 Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, Paris 1981 [1835–40], II, S. 399.

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Die Geschichte als Inspiration

die historischen Erfahrungen aus und die Geschichte ist teleologisch: Das Ziel zeigt den bereits zurückgelegten und den vor uns liegenden Weg an. Alle modernen nationalen und imperialen Geschichten wurden nach diesem Modell gedacht und geschrieben, und zwar in Europa und auf der übrigen Welt. Sie ist zu dem Schnittmuster geworden, nach dem die verschiedenen Geschichten zurechtgeschnitten werden, und zugleich ein Maßstab für den Eintritt in die Moderne und ein Maß für die Entfernungen, die es noch zurückzulegen gilt. Das „Schon“ ist auf der Seite Europas (das Zentrum) und das „Noch-nicht“ gilt für die übrige Welt (die Peripherie). Die Entdeckung und die Gestaltung der Geschichte als Prozess, der vom Fortschritt regiert wird, hat einer glücklichen, selbstbewussten und siegessicheren Zeit der Geschichtsphilosophien, der Universalgeschichten oder der Zivilisation entsprochen. François Guizot drückte es in ­seiner Vorlesung an der Sorbonne im Jahr 1828 so aus: „Die Idee des Fortschritts, der Entwicklung, erscheint mir als die grundlegende Idee, die in dem Wort Zivilisation enthalten ist“; sie bedingt zwei Dimensionen: die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und die des Menschen selbst. Es ist im Grunde „die Idee eines marschierenden Volkes, nicht um seine Stelle zu wechseln, sondern seinen Zustand“. Deshalb müsste man „eine Universalgeschichte der Zivilisation schreiben“4. Erst im 20. Jahrhundert wird das Wort Zivilisation in den Plural gesetzt. Von der Beschleunigung getragen, schwemmte die Neuzeit auch die Begriffe Anachronismus, Überrest, Avantgarde und Rückstand hinweg und ausgehend von Charles Darwin auch den Begriff der Evolution, der, auf die menschlichen Gesellschaften angewendet, zum Evolutionismus wurde. Die Eisenbahn wird rasch als Eintritt in „eine neue Ära in der Geschichte der Menschheit“ wahrgenommen und der Dichter Adelbert von Chamisso schrieb: „Im Herbst [1837] war ich, votum solens, in Leipzig, die Eisenbahn mit vorgespanntem Zeitgeist zu befahren. – Ich hätte nicht ruhig sterben können, hätte ich nicht vom Hochsitze dieses Triumph­ wagens in die sich entrollende Zukunft hinein geschaut.“5 Bildhafter und optimistischer lässt sich der Einstieg in das neue Historizitätsregime 4 François Guizot, Histoire de la civilisation en Europe, Paris 1985 [1828], S. 62, S. 58. 5 Adelbert von Chamisso, zitiert bei Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? Zeitschichten, Frankfurt a. M. 2000, S. 176.

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nicht ausdrücken. Für Karl Marx, ebenfalls ein Anhänger der Eisenbahn, sind die künftigen Revolutionen dazu ausersehen, in einigen Jahrzehnten zu den „Lokomotiven der Geschichte“ zu werden. Außerhalb von Europa lässt die Neuzeit den Wilden vom Status des Kindes (den er in den Diskursen der Missionare und der Kolonisten seit dem 16. Jahrhundert besaß) zu dem des Primitiven übergehen. Er ist nicht gänzlich außerhalb der Zeit, aber weit zurück – er wird jedenfalls außerhalb der großen Geschichte angesiedelt und besitzt selbst keine. Keine wirkliche Geschichte in dem Sinn, den der moderne Geschichtsbegriff ihr zuschreibt, der sie als Regisseurin der Welt und „neue Theologie“ einsetzt: als universelle Klio. Deshalb obliegt es auch den Kolonialisten, diese Eingeborenen in die Geschichte eintreten zu lassen, indem man sie (notfalls mit Gewalt, aber nur zu ihrem Besten) den Zug der Geschichte besteigen lässt. Frappant ist der Wechsel in der Beziehung zur Zeit, der zwischen Jean-Jacques Rousseau und den Begründern der Ethnologie stattgefunden hat. In seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) forderte Rousseau den Philosophen zum Reisen auf: „Die ganze Erde ist von Völkern übersät, von denen wir nur die Namen kennen – und wir wagen ein Urteil über das Menschengeschlecht zu fällen. Nehmen wir an, ein Montesquieu, ein Buffon, ein Diderot, ein Duclos, ein D’Alembert, ein Condillac, oder derartige Menschen würden zur Unterrichtung ihrer Landsleute beobachtend und beschreibend, wie sie es verstehen, die Türkei, Ägypten, das Berberland […] besuchen. Nehmen wir an […], sie würden dann die moralische, politische und die Naturgeschichte des Gesehenen erstellen, und wir würden unter ihrer Feder eine neue Welt hervortreten sehen, und würden so lernen, die unsrige zu erkennen.“6 Hier stehen der Philosoph und der Wilde einander noch auf Augenhöhe gegenüber: in ein und derselben Zeit. Schon einige Jahrzehnte danach – mit der 1799 gegründeten Gesellschaft der Menschenbeobachter (Société des observateurs de l’homme) – nimmt die philosophische Reise die zeitliche Dimension einer Reise zurück in die Natur an: Sie wird zu einer Rückkehr zu den Ursprüngen 6 Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders., Schriften zur Kulturkritik, übers. von Kurt Weigand, Hamburg 1978, S. 133–134.

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der Menschheit. Die wilden Völker „schildern uns die Geschichte unserer eigenen Vorfahren“ und ihre Beobachtung ermöglicht uns, „eine genaue Stufenleiter der verschiedenen Grade der Zivilisation“7 zu erstellen. Man ist also in einer Zivilisation im Singular und das Maß wird vom Zentrum aus genommen. Je weiter man sich von ihm entfernt, umso tiefer steigt man in der Stufenleiter. Mit dem Evolutionismus verfestigt sich die Temporalisierung und der Wilde wird zum Primitiven. Er wird weniger als unser Vorfahr gesehen denn als der letzte Zeitgenosse des Wollhaarmammuts. Der Primitive ist zwar in der Zeit angesiedelt (und nicht mehr außerhalb wie der Mensch des Naturzustands bei Rousseau), aber in einer Zeit, die für uns seit Langem verstrichen ist. Er ist ein lebender Anachronismus, so etwas wie ein Zeugenberg. Heute lebende wilde Stämme zu treffen, läuft darauf hinaus, „Denkmale der Vergangenheit“ zu besichtigen, betont Lewis Morgan. Für Edward B. Tylor, einen anderen Begründer der Ethnologie, sind die letzten Tasmanier Männer der Altsteinzeit: „Der Mensch der Altsteinzeit ist keine philosophische Interferenz mehr, er ist zu einer greifbaren Wirklichkeit geworden.“8 Bei den ersten Begegnungen mit ihnen am Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen sie den Entdeckern noch als ­Vertreter des glücklichen Naturzustands. Die Kinder von einst sind sehr alt geworden, was natürlich nicht daran hindert, sie weiterhin wie Kinder zu behandeln. In der Erwähnung des Menschen der Altsteinzeit klingt deutlich die in eben diesen Jahren stattfindende Entwicklung der Urgeschichte an. Man ist vom vorsintflutlichen Menschen von Jacques Boucher de Perthes (1788–1868) zum urgeschichtlichen Menschen übergegangen. Die Grabungen werden immer zahlreicher. Auf die jüngsten Entdeckungen gestützt, entwerfen die ersten Ethnologen einen allgemeinen Rahmen. Sie legen eine ethnologische Zeit frei und determinieren die Stadien in der Entwicklung der Menschheit mit der Dreiteilung in Wilde, Barbaren und Zivilisierte. In seinem 1877 publizierten Werk ­Ancient Society verfeinert Morgan diese Einteilung: Das wilde Stadium unterteilt sich in ein niederes, mittleres und höheres, nach dem Modell der Archäologen. Desgleichen für die Barbarei. Der zivilisierte Zustand 7 Jean Copans und Jean Jamin, Aux origines de l’anthropologie française. Les mémoires de la Société des observateurs de l’homme en l’an VIII, Paris 1994, S. 76. 8 Edward Tylor zitiert bei G. W. Stocking Jr in Victorian Anthropology, London 1987, S. 283.

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zerfällt, was nicht verwunderlich ist, in einen alten sowie einen modernen und wiederholt den in Frankreich eingeführten Gegensatz zwischen den „Anciens“ und den „Modernes“. Das moderne Historizitätsregime hat also zwei Seiten: die des Fortschritts und der Beschleunigung (in Europa, also im Zentrum) und die der Evolution (anderswo, an der Peripherie). An einem Pol findet man den modernen, immer auf die Zukunft ausgerichteten Menschen, am anderen Pol den Primitiven, der in einer stagnierenden Zeit oder einer permanenten Gegenwart dahinvegetiert. Zwischen diesen beiden Polen erstrecken sich alle möglichen Kombinationen oder zeitlichen Regime. Man ist nie um Klassifizierungen verlegen. Die Kolonisierung hat es ­verstanden, sie zu ihrem Vorteil einzusetzen. Die Evolution oder das Werden gilt zwar für das gesamte Universum, aber nur Europa (vor allem Deutschland, Frankreich und England) hat es verstanden, aus dem Werden diese unerhörte Zeit zu extrahieren, nämlich die Neuzeit und, einem Alchemisten gleich, die alte Zeit, die des alten Historizitätsregimes (das selbst wieder eine zusammengesetzte Mischung war), in eine neue Zeit umzuwandeln. Diese mühsame Operation, die sich über mehrere Jahrhunderte erstreckt hat, war nicht von allem Anfang an in das Schicksal Europas eingeschrieben, sie hätte auch anders verlaufen können. Man kann nur sagen, dass sie durch eine Gesamtheit von Bedingungen ermöglicht wurde. Einige von ihnen habe ich erwähnt. Auf diesem sozusagen präparierten Gebiet war die von dieser futuristischen Zeit getragene Geschichte bereit, ihre großen Erzählungen zu fabrizieren, mit denen die europäischen Nationen einerseits ihre Auserwählung bestärkt und ihre Herrschaft gerechtfertigt und andererseits ihre Rivalitäten verschärft und ihre Antagonismen genährt haben – bis zur vollständigen Verblendung auf beiden Seiten im Verlauf des Großen Kriegs.

Die Geschichte als Bewegung Zwei Allegorien führen uns diesen Moment der Geschichte vor Augen, den man im zuvor beschriebenen Sinn als einen europäischen bezeichnen kann. Die erste zeigt das Abheben der Geschichte oder die Ingangsetzung des modernen Historizitätsregimes, die zweite ihren Absturz: eine buchstäblich an den Boden geheftete Geschichte und eine stillstehende Zeit. Die erste ist ein Gemälde zum Ruhm Napoleons von Alexandre Véron276

Die Geschichte als Inspiration

Bellecourt, einem akademischen Maler, der mehrere Szenen des imperialen Heldenepos abgebildet hat. Das Bild trägt den Titel Clio montre aux nations les faits mémorables de son règne (Klio zeigt den Nationen die denkwürdigen Taten ihrer Herrschaft) und wurde in der Kunstausstellung von 1806 gezeigt. Man sieht darauf Klio, antik gekleidet, die mit dem Finger auf das zeigt, was sie soeben auf eine große Stele geschrieben hat, nämlich die Heldentaten Napoleons, um eine Gruppe mehr oder weniger exotisch gekleideter Menschen auf diese Heldentaten aufmerksam zu machen – Indianer mit ihrem Federschmuck, Türken, Orientalen und sogar Chinesen, die hier wie fleißige Studenten vor einer schwarzen Tafel versammelt sind. Im Hintergrund erblickt man den Louvre. Napoleon ist anwesend in Gestalt seiner Büste als römischer Kaiser mit der Inschrift „Veni, vidi, vici“, die ihn als neuen Caesar ausweist. Zu Klios Füßen liegen die Schriftrollen (Klios vorangegangene Arbeiten) und man kann die Namen Herodot, Thukydides und Xenophon entziffern. Die durchaus klassische Gliederung gehorcht noch dem Kanon der „Historia magistra vitae“: mit der Vorbildlichkeit des großen Mannes in der Art Plutarchs und einer Ruhm vergebenden Klio. Doch da ist noch etwas, was von der Bewegung des Bildes ausgeht. Napoleon ist nicht nur Caesar, er ist auch eine Verkörperung der Geschichte: Er ist diese vorwärtsdrängende Kraft, deren Auswirkungen bis ans Ende der Welt spürbar sind, derjenige, in dem Hegel den „Weltgeist“ erkannte, als er durch Jena ritt. In seinen Mémoires d’outre-tombe sagte François-René de Chateaubriand von ihm, dass er 16 Jahre lang das Schicksal gewesen sei, ein nie ruhendes Schicksal, ständig in Bewegung, um Europa neu zu gestalten. Er war dieser „Eroberer, der die Erde übersprang“. In ihm manifestieren sich zwei Merkmale der modernen Geschichte: ihre Macht über das Los der Länder und der Menschen und ihre Ausführungsgeschwindigkeit, denn sie ruht niemals. Napoleon taucht auf, obwohl man ihn anderswo oder später erwartet. Unter der Auswirkung einer Zeit, die zum Akteur und zu einem Prozess geworden ist, kommt es zu einer Synchronisierung der Welt bis hin nach China. Die Gliederung des Bildes ist eine Übersetzung dieses Faktums. Das moderne Historizitätsregime galoppiert. Um geschrieben zu werden, geht die Geschichte von der Erstellung von Synchronismen (die unabdinglich sind, um ein Davor und ein Danach festzusetzen) zur ­Synchronisierung über, die gemäß einer Stufenleiter der Zeit Folgendes 277

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festlegt: ein „früher als“, ein „später als“, Vorsprung oder Rückstand (deren Merkmal die exotischen Kostüme sind), ein „bereits“ und ein „noch nicht“. Der Eroberer ist auch der große Synchronisator: „Kosmoskrator“ und „Chronokrator“, Herr über die Welt und Herr über die Zeit. Seine raschen Ritte quer durch Europa mit seinen Artilleriebataillonen und dem Code civil im Gefolge drücken auch ein Aufeinanderprallen der Temporalitäten aus. Mit dieser Allegorie befindet man sich zwischen der „Historia magistra“ und der neuen Geschichte. Der Flug des Adlers steht auch für den Flug der Geschichte.

Das Gedächtnis als Beschwörung Am anderen Ende des Bogens übersetzt eine zweite Allegorie den Sturz der Geschichte. Es handelt sich um eine Skulptur, die 1989 von Anselm Kiefer geschaffen wurde. Sie trägt den Titel Der Engel der Geschichte oder auch Mohn und Gedächtnis und verweist damit direkt auf den Engel der Geschichte von Walter Benjamin, der über das Bild von Paul Klee mit dem Titel Angelus novus nachgedacht hat. Hier erscheint der Engel nurmehr in der Gestalt eines plumpen Bombenflugzeugs aus Blei. Kiefer hatte sich eine große Menge Blei vom Dach des Kölner Doms besorgt. Das Flugzeug, dessen Rumpf und Flügel zerknittert sind, scheint eher aus einer archäologischen Grabung zu stammen als flugbereit zu sein. Die Geschichte, deren Bote es war, die der Toten und der Zerstörungen, hat stattgefunden. Auf den Flügeln liegen links und rechts dicke Bücher, ebenfalls aus Blei, aus denen Mohnblumen wachsen; deshalb auch der andere Titel, der auf einen Gedichtband von Paul Celan verweist, Mohn und Gedächtnis, der 1952 publiziert wurde und in dem es in Zusammenhang mit der Schoah um Gedächtnis und Vergessen geht. Der Mohn, darauf hat Celan hingewiesen, „bedingt das Vergessen“. Seine Blüte, die zugleich das Vergessen bringt und das Gedächtnis hemmt, erzeugt letztlich ein Vergessen, das sich unmöglich vergessen lässt. Halten wir hier nur die Allegorie einer erstarrten Geschichte fest: Der Engel fliegt nicht mehr weg und auch das Flugzeug nicht. Die Zeit steht still, Todesstille herrscht. Der Betrachter wird mit einer Vergangenheit konfrontiert, die nicht vergeht, oder mit einer undatierten Gegenwart, zu der sich nur ein Bezug herstellen ließ, in dem Gedächtnis und Vergessen sich vermischen oder vielmehr aufeinanderprallen, und deren Schweigen 278

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mit seinen vielfachen Wertigkeiten tatsächlich jahrelang der wesentliche Ausdruck gewesen ist. Das Flugzeug als stolzer Vektor der Errungenschaften der Technik im Anschluss an die Eisenbahn der 1830er-Jahre ist an den Boden gefesselt und selbst ein in Ruinen liegendes Zeugnis. Es gehört nun zu den Ruinen, die es selbst hat entstehen lassen. Kann sich die Neuzeit, die des modernen Historizitätsregimes, wieder in Gang setzen? Und welche Ruhmesgesänge könnte Klio nun anstimmen? Das Werk Kiefers, das am Ende der 1980er-Jahre entstand, aber von 1945 spricht, ist dem Gedächtnis verpflichtet: Es will die Erinnerung an die Katastrophe und die Verbannung des Vergessens darstellen. Es begleitet den Aufstieg der Erinnerung und verstärkt deren Sichtbarkeit. Zwei Gedenkstätten (unter vielen anderen möglichen) zeugen von dieser Konfiguration, in der das Gedächtnis zum Blickwinkel geworden ist, von dem aus man die Geschichte betrachtet. Wir befinden uns allerdings in dem, was die Psychoanalyse als Nachträglichkeit bezeichnet hat. Diese Denkmäler sind von ihrer Konzeption und ihrer Architektur her bereits selbst Zeugnisse. Das erste ist das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das schließlich 2005 in Berlin eingeweiht wurde. Es liegt auf einem Gelände in der Nähe von Adolf Hitlers Bunker und ist das Werk des amerikanischen Architekten Peter Eisenmann. Der Besucher entdeckt ein Feld mit 2700 Stelen aus grauem Beton, die ungleich verteilt sind und dadurch den Eindruck eines in Ruinen liegenden und verlassenen Friedhofs wecken können. Er wird ohne nähere Angaben oder Erklärungen aufgefordert, zwischen den Stelen umherzuwandern und sich von dem Ort beeindrucken und verstören zu lassen. In diesem Labyrinth ohne Wörter wirkt das Gedächtnis über den Affekt. Wenn der Besucher Geschichte benötigt, muss er sich ins Untergeschoss begeben zum Informationsstand. Dort kann man in einer permanenten Ausstellung die verschiedenen Spuren der Auslöschung sehen und lesen. Dieses Zentrum der Geschichte, das im ursprünglichen Projekt nicht vorgesehen war, stützt das Gedächtnis ab. Der „Geschichtsort“ wird in den Dienst des Erinnerungsortes gestellt, der dieses Denkmal in erster Linie sein will. Den Lauf der Zeit zurückschreitend, hat die Erinnerung auch den Krieg von 1914 erfasst, und zwar in dem Moment, in dem die allerletzten Kämpfer wegsterben. Die Feiern zum 100. Jahrestag haben eine Vielzahl von Gedenkfeiern gebracht. Am 11. November 2014 hat der Präsident der französischen Republik eine neue Gedenkstätte eingeweiht: den „Ring 279

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der Erinnerung“, das internationale Gefallenenmahnmal von NotreDame-de-Lorette. An diesem Ort in der Nähe von Arras befand sich bereits eine 1925 eingeweihte nationale Nekropolis, die die Überreste der Soldaten beherbergte, die bei den heftigen Kämpfen auf dem Hügel von Notre-Dame-de-Lorette in den Jahren 1914/15 gefallen waren. Das Mahnmal, das Werk des Architekten Philippe Prost, hat die Form einer großen, teilweise frei über dem Abhang schwebenden Ellipse und listet auf der Innenseite des Rings 580 000 Namen von zwischen 1914 und 1918 gefallenen Soldaten auf. Die Namen gehören 40 Nationalitäten an und sind ohne jede Unterscheidung alphabetisch gereiht. Indem der Besucher über einen Graben in das Innere des Rings eintritt, dringt er sozusagen auch in das Gedächtnis des Ortes ein und die Geschichte kann ihm, wenn er es wünscht, mehr über diese Namen mitteilen, die in den offiziellen Registern der kriegführenden Länder ordnungsgemäß eingetragen sind. Doch das ist auch schon alles. Der Ring schließt sich. Der frei schwebende Aspekt der Anlage (zumindest ihre Inszenierung) verweist vielleicht auf die Fragilität des Gedächtnisses. Sollte der Ort nicht mehr besucht, sollten die Namen nicht mehr buchstabiert werden, dann würde das Vergessen endgültig den Sieg davon­tragen. Vom Gemälde von Véron-Bellecourt über Kiefers Engel der Geschichte und das Mahnmal in Berlin bis zum „Ring der Erinnerung“ hat sich der Gang der Geschichte in Erinnerungswege verwandelt. Das ist die Gesamtbewegung mitsamt dem Bruch, der stattgefunden hat. Sie führt von der Ingangsetzung des modernen Historizitätsregimes zu seiner Infragestellung, von einer glorreichen und gebieterischen Zukunft zu einer ungewissen und bedrohenden Zukunft, vom Futurismus zum Präsentismus, zumindest in Europa. Doch seit Langem schon, mindestens seit dem von Paul Valéry bereits 1919 diagnostizierten „Selbstmord Europas“, ist Europa nicht mehr das Zentrum und seine Klio, seine universelle Klio, hat bleierne Flügel. Die Behauptung, die Historiker bräuchten nur wieder das Mantra von Larousse aufzugreifen und über alles, was sich abgespielt hat und weiter abspielt, hinwegzusehen, wäre völlig falsch. Zweifel und Infragestellungen sind ausgedrückt und Umformulierungen vorgeschlagen worden. Führen wir hier die der Begründer der Annales an, Marc Bloch und Lucien Febvre, die die Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft in das Zentrum der Vorgehensweise des Historikers rücken wollten. Auf der Seite der Anthropologen hat 280

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Claude Lévi-Strauss in Race et Histoire (1952) den Evolutionismus ab­gelehnt und die Zivilisationen weniger in der Zeit gestaffelt als über den Raum verstreut dargestellt. Daraus ergab sich, dass der Fortschritt von der „universellen Kategorie“ zurückgestuft wurde auf einen bloßen „besonderen, unserer Gesellschaft eigentümlichen Existenzmodus“9.

Das Ende der Geschichte Nun müssen wir noch versuchen, Klio nicht mehr von innerhalb Europas zu erfassen, sondern von außerhalb. Denn diese moderne Klio steckte im Gepäck des Kolonisators, der bestrebt war, sie zu objektivieren und zu naturalisieren, indem er sie als Herrscherin über die Welt und Herrscherin über die Zeit hinstellte. Die Erfolge seiner Eroberung und seiner Herrschaft haben im Gegenzug deren Relevanz bestätigt. Nachdem man das Schema einer Heilsgeschichte und einer von der Vorsehung bestimmten Geschichte beiseitegelegt und die Neuzeit in Gang gebracht hat, hat der Evolutionismus einen neuen operationellen Rahmen geliefert. Dann hat der Marxismus die Geschichtswissenschaft gebracht und nach 1945 sind die Entwicklung und die Modernisierung zu den Leitworten der großen internationalen Organisationen wie der Vereinten Nationen und der Dekolonisierungen geworden. Was damals stattfand, war nichts anderes als ein Transfer des modernen Historizitätsregimes. Jeder konnte seinen Waggon im Zug der Geschichte haben, ja sogar seine eigene Lokomotive. Die Beschleunigung, das Primat der Zukunft, die Nation und der Nationalismus, das heißt die damit einhergehende teleologische Geschichte, waren durchaus da. Auch die mehr oder weniger revolutionären Varianten kamen vor, die sich auf den Motor des Klassenkampfs stützten, wo es unter anderem darauf ankam, zu wissen, wem die Rolle des Proletariers zugedacht war. Die chinesische Revolution hat hier einen großen Coup gelandet. Der Marxismus konnte mithelfen, den Kolonisator zu verjagen, war aber gleichzeitig die Speerspitze des modernen Historizitätsregimes. Mit ihm musste man die Vergangenheit zum Verschwinden bringen, ihre Ungerechtigkeit und ihren (religiösen) Aberglauben, und dazu bereit sein, die gegenwärtigen Generationen zu opfern, indem man

9 Claude Lévi-Strauss, Anthropologie structurale, Paris 1958, S. 368.

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die Konterrevolutionäre aufspürte, damit die Zukunft möglichst schnell stattfinden konnte. Eine Bemerkung des Historikers Dipesh Chakrabarty ist äußerst erhellend. Er erwähnt seine Anfänge als Historiker in Kalkutta in der berühmt gewordenen Gruppe der „Subaltern Studies“ (die in den 1970er-Jahren indische Historiker versammelte, die sich auf den Marxismus beriefen) und schreibt, dass für sie „Marx ein örtlicher bengalischer Name“ war. Nie stellten sie sich Fragen über seine deutschen Ursprünge, die intellektuellen Kategorien, die er einsetzte, oder über die Geschichte ihrer Bewegung im europäischen Denken. Kurz gesagt: Die Frage nach der Beziehung zwischen einem Ort und einem Denken stellte sich nicht. Für Chakrabarty stand die „universelle Relevanz des europäischen Denkens“10 einfach fest. Erst einige Jahre später und von Australien aus, wo er wohnte, hat er eine Denkarbeit in Angriff nehmen können, die ihn dazu geführt hat, „Europa als Provinz“ zu sehen, wie der Titel seines Buches lautet, das in den „Postcolonial Studies“ rasch zu einem Standardwerk geworden ist. Europa als Provinz sehen, das heißt begreifen, inwiefern Marx kein „örtlicher bengalischer Name“ ist. Das heißt ermessen, inwiefern die Kategorien, die er einsetzte, eine Geschichte hatten, und vor allem den Abstand erkennen, der zwischen diesen Kategorien und den nicht westlichen Realitäten, die diese Kategorien erfassen sollten, liegt. Diese kritische Rückkehr zur europäischen Geschichte ist interessant, denn sie stellt sich die schwierige Frage, was man heute aus ihr machen kann. Doch andere, radikalere Optionen plädierten und plädieren weiterhin für ihre vollständige und endgültige Ablehnung, weil sie im Gepäck des Kolonialherrn gekommen ist. Der zeitliche Abstand zwischen Kiefers Flugzeug (das uns zum Jahr 1945 zurückführt) und dem Datum der Skulptur (1989) lässt uns ermessen, wie lange Europa gebraucht hat, um sich dessen bewusst zu werden, dass das moderne Historizitätsregime 1945 zerschellt ist, selbst wenn (vielleicht vor allem wenn) die Jahrzehnte danach ein entfesseltes Wettrüsten waren und ein Wettlauf um den Fortschritt und die Modernisierung sowie um das Vergessen im Rahmen des Antagonismus zwischen Ost und West, in dem die Krisen des Kalten Kriegs ihre Rolle spielten. Diese Jahre haben vermutlich auch den Blick verdeckt. 1989 jedoch fällt 10 Ibd., S. 21.

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die Berliner Mauer und kündigt sich das Ende des sowjetischen Imperiums an. Man kann darin den Gnadenstoß für die Neuzeit und den modernen Geschichtsbegriff sehen. Denn die Ideologie, die sich als die futuristischste verstand (mit den Dutzenden Millionen Toten, die sie hinter sich gelassen hat), ist schwer gescheitert. Mochte der Stern auch schon seit einiger Zeit tot sein, so gelangte sein Licht weiterhin noch an verschiedene Orte der Erde und die historischen Schulen, die sich auf ihn beriefen, haben weitergemacht und manche tun dies auch heute noch. Die Misserfolge der revolutionären Gärung der Jahre 1950–1960, als deren Trägerin sich etwa die Organisation für Solidarität der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas (OSPAAAL) verstand, deren Mitglieder sich 1966 zum ersten Mal in Havanna versammelten, haben da und dort die Progressisten dazu geführt, sich von einer Moderne abzuwenden, die sie wieder einmal enttäuscht hat. Im Mittleren Orient eröffnete die iranische Revolution 1979 einen neuen Weg und erlaubte es, „die linken Bezugnahmen und Diskurse durch einen religiösen Diskurs zu ersetzen“11. Eine andere Zukunft mit mitunter apokalyptischen Beiklängen zeichnete sich ab. Der moderne Geschichtsbegriff verlor endgültig sein Vermögen, Sinn zu erzeugen, während das, was wir als Fundamentalismen bezeichnen, sowie manche indigenistische Bewegungen mehr Macht und Sichtbarkeit erlangten. Und was wurde aus der einst so vergötterten Klio? Hat sie in der heutigen Welt noch einen Platz? Oder ist, anders ausgedrückt, ein anderer Geschichtsbegriff gerade dabei, den modernen Begriff zu ersetzen, der mit der Welt des neuen Jahrhunderts nicht mehr in Einklang ist und nicht mehr sein kann? Das Gedächtnis spielt, wie wir gesehen haben, die erste Rolle in Europa, aber auch anderswo. Eine Gedenkkultur ist entstanden und hat Gestalt angenommen, die sich in vielen Mahnmalen manifestiert und von zahlreichen, großen und kleinen Gedenkfeiern zelebriert wird. Einerseits hat sich die Geschichte, die Geschichte der Historiker, in den Dienst dieses Gedenkens gestellt, das im Grunde ein sehr historisches in seinen Vorgehensweisen ist, denn es ermittelt und archiviert fleißig alle Arten von Spuren. Es handelt sich um voluntaristische Erinnerungen, die es eher zu rekonstruieren als wiederzufinden gilt, um Erinnerungen, die man nicht hat, die man nicht haben konnte (weil eine Weitergabe nicht 11 Ahmet Insel, Des sociétés brutalisées, in: Esprit, Mai 2016, S. 69.

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stattfinden konnte), um eine Lücke und eine Abwesenheit, die man zu füllen versucht, um Erinnerungen, die in der Öffentlichkeit als ein Recht anerkannt werden sollen: als ein Recht auf die Erinnerung. Andererseits haben die Historiker versucht, der Realität einer Welt nach den Kolonien und nach der Aufteilung von Jalta gerechter zu werden, indem sie die nationalen, imperialen und kolonialen Geschichten hinter sich gelassen und beinahe technische Antworten vorgeschlagen haben wie: „connected history“, geteilte Geschichte, Verflechtungsgeschichte und schließlich globale Geschichte, um dem modernen Historizitätsregime und dessen Teleologie zu entkommen. Eines steht fest: Sollte ein neuer Geschichtsbegriff auftauchen, so wird er sicher nicht in den Werkstätten Europas angefertigt werden. Vor 1789 gab es Geschichten. Vielleicht stehen wir im Begriff, erneuerte Formen von Geschichte wiederzufinden. Dann wird die Geschichte im Singular nur ein Moment gewesen sein, ein Moment im Leben der Klio.

Literatur Dipesh CHAKRABARTY, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, aus dem Englischen von Robin Cackett, Frankfurt a. M. 2010. François HARTOG, Régimes d’historicités. Présentisme et expériences du temps, Paris 2012. François HARTOG, Croire en l’histoire, Paris 2013. Reinhart KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. Lewis MORGAN, Die Urgesellschaft oder Untersuchung über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Nachdr. Wien 1987.

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Die Vernunft – die Grenzen einer Ambition Unter den Grundlagen der zunächst europäischen und dann west­lichen Zivilisation nimmt die Vernunft einen wichtigen und vielleicht sogar den ersten Platz ein. Doch Europa erlebt derzeit eine recht paradoxe doppelte Entwicklung: Da ist einerseits ein Rationalismus, der umso virulenter ist, als er sich von außen bedroht fühlt, und andererseits eine Zurückhaltung angesichts der Gräuel des 20. Jahrhunderts, die den Glauben an die Vernunft ins Wanken gebracht hat.

„Ratio“, aus der Proposopographia des Philipp Galle (niederländisch, um 1585–1590). 

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Seit ihrer griechischen Herkunft wähnt sich die europäische Kultur eher imstande, die Fülle des im Menschen Angelegten zu verwirklichen, und hat den Akzent auf das gelegt, was zumindest nach ihrer Ansicht das eigentliche Wesen des Menschen bildet, nämlich den logos. Dieses an Bedeutungen reiche Wort wurde im Lateinischen mit ratio übersetzt, das vor allem „Rechnen, Berechnung“ bedeutet. Von ihm leitet sich das französische raison ab – diese Bedeutung ist zwar veraltet, aber in dem Ausdruck livre de raison, was so viel wie Kontobuch heißt, immer noch vorhanden. Die Neuzeit versteht sich als Verwirklichung dieses Projekts des europäischen Menschen. In dem Bild, das sie sich gern von den Zeitaltern der Menschheit macht, deren unaufhaltsame Abfolge parallel zu den Entwicklungsstadien eines Individuums verlaufe, sieht sie sich wie ein „Zeitalter der Vernunft“, das auf eine unschuldige, aber naive antike Kindheit und eine unruhige mittelalterliche Jugend folgt. Diese Vernunft sollte sich gegen ihre Feinde durchsetzen, vor allem den gefährlichsten, die Religion. Während der Französischen Revolution wurde die Göttin Vernunft, dargestellt von einer Schauspielerin, am 10. November 1793 vor dem Gebäude gefeiert, das vormals Notre-Dame de Paris hieß. Diese Apotheose war die Krönung eines älteren Prozesses, der bereits in der radikalen Aufklärung begann, die als Zeugen für die Macht der Vernunft die spektakulären Erfolge der Himmelsmechanik mit dem Werk Isaac Newtons (1688) heranzog. Doch bereits Moses Maimonides sah in der geometrischen Demonstration der Asymptoten einen Sieg der Vernunft über die Vorstellungskraft und Galileo Galilei in der Hypothese von Nikolaus Kopernikus einen Sieg der Vernunft über die Sinne.1 Ihre Überlegenheit auf dem Gebiet der Moral wurde schon seit Langem behauptet, so etwa bei Platon. Vorbereitet von dem Prinzip „nichts ist ohne Grund“2, das Gottfried Wilhelm Leibniz beinahe auf dieselbe Ebene wie das Prinzip der Identität hob, fand sie nunmehr Eingang in die Theorie der Erkenntnis. Doch die Über1 Moses Maimonides, Führer der Unschlüssigen. Übers. (und Anmerkungen) von Adolf Weiß, 3 Bde., 1. Aufl. Berlin 1923/24, 3. Aufl. Meiner, Hamburg 1995; Galileo, Dialogo sopra i due massimi sistemi de mondo Ptolemaico et Copernico, 3, hg. von Ferdinando Flora, Mailand 2008 (1632), S. 340. 2 Hiob 5,6 Vulg.; Bernard de Clairvaux, De laudibus Virginis matris, 1, PL 183, 56 c; Isaak von Stella, Predigt 37, PL 194, 1813; Nicolas von Cues, De Sapientia, II, § 35, S. 58.

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legenheit der Vernunft sollte auch in anderen Kontexten wiederkehren, bei gewissen Ärzten oder Wirtschaftswissenschaftlern, die die Vorteile eines vernünftigen Verhaltens berechneten. Charles Marie Tanneguy Duchâtel etwa schrieb: „Das ist das Bestreben der Zukunft, die Unterwerfung des Verlangens der Sinne unter die Gebote der Vernunft, welche die Sittlichkeit des Menschen und seine Fortschritte in der Zivilisation messen.“3 Der Besitz der Vernunft nach den Kriterien der Aufklärung gilt als Prinzip der Zulassung zur Menschlichkeit oder – im Gegenteil – als Ausschluss von ihr.4

Die Vernunft vor Europa Die Aufwertung der Vernunft in der Aufklärung war selbst wieder von einer viel älteren intellektuellen Stimmung vorbereitet worden, die viel weiter als jegliche Erwähnung einer Idee von Europa zurückreicht, in dem Sinn, in dem wir sie verwenden. Es heißt oft, die Kultur Europas entspringe zwei wesentlichen Quellen, die von zwei archetypischen Städten versinnbildlicht werden: Jerusalem und Athen. Dabei wird die Rationalität der „griechischen“ Seite des europäischen Erbes vorbehalten, um die „jüdische“ Seite auf den sittlichen und geistigen Bereich einzugrenzen. Im Grunde enthalten jedoch beide Quellen der europäischen Kultur eine mehr oder weniger explizite Form der Rationalität. Das gilt auch für die biblische Quelle, die lehrt, dass die Welt nicht in einem irrationalen Prozess geschaffen wurde, sondern durch ein göttliches Wort (davar, logos, verbum). Diese Vorstellung einer schöpferischen Befehlsgewalt kommt aus dem alten Orient und ein erster Nachweis ist vermutlich der sumerische Begriff enem, akkaisch: awatu.5 Die hebräische Bibel enthält keine Begriffe im klassisch-philosophischen Sinn, diese sind das Monopol der Philosophie, die griechischen 3 Tanneguy Duchâtel, De la Charité dans ses rapports avec l’état moral et le bien-être des classes inférieures de la société [Über die Barmherzigkeit und ihre Beziehungen zum moralischen Zustand und zum Wohlergehen der niederen Klassen der Gesellschaft], II, Kap. 1, Paris 1829, S. 178. 4 John Locke, The Second Treatise of Civil Government, VI, § 60, hg. von J. W. Gough, Oxford 1966, S. 30. 5 William F. Albright, From the Stone Age to Christianity. Monotheism and the Historical Process, New York 1957 [1940], S. 195.

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Ursprungs ist. Sie verwendet Erzählungen und präsentiert im narrativen Stil die grundlegenden Dimensionen der Vernunft: die Natur und das Bewusstsein. Und zunächst einmal die Idee der Natur, von der jedes philosophische Unterfangen abhängt. Gewiss wird das Wort im Alten Testament nirgends verwendet und dasjenige, das sie bezeichnet (t.èva’), erscheint erst später in der Mischna und bedeutet nicht Wachstum (griechisch: physis), sondern das Mal, das Gestalt verleiht.6 Der Begriff ist jedoch implizit bereits in der ersten Erzählung der Schöpfung vorhanden. Jedes Ding wird darin „nach seiner Art“ (Genesis 1,12; 21; 24–25) geschaffen und nicht wie ein Chaos von Merkmalen. Jedes Geschöpf besitzt interne Eigenschaften und entfaltet sich im Sein, indem es ihnen treu bleibt. So erfolgt die Fortpflanzung „je nach der Art“ dessen, was sich fortpflanzt. Die Vorstellung einer Schöpfung durch das Wort und die Tatsache, dass ihr Ergebnis ein System deutlich unterschiedener Wesen ist, sind eng verbunden. Das Geschaffene ist gleichsam ein Satz, in dem jedes Wort seinen Sinn hat. Das bestimmt die Beziehung des Schöpfers zum Geschaffenen. Gott kann nur darauf warten, dass jedes Ding die Auswirkungen erzeugt, die die immanente Logik seines Wesens ausdrücken. So wartet der Weinbauer darauf, dass sein Weingarten Trauben produziert (Jesaja 5,1–7). Die zweite Gestalt der Vernunft ist das Bewusstsein. Der Logos ist nicht nur theoretisch, er ist auch praktisch. Nach Immanuel Kant und seinem „Primat der praktischen Vernunft“ wäre er in diesem Bereich besser zu Hause.7 Der griechische Logos besaß bereits diese ethische Dimension: Aristoteles zufolge richtet sich jede Tugend nach ihm.8 Die Erkenntnis des Guten und des Bösen ist dem Menschen immer schon anvertraut worden, deutet ein Prophet an: „Es ist dir gesagt worden (huggad), Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: nichts als Recht zu üben, mit Güte und Treue zu lieben und in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott“ (Buch Micha 6,8). Die Präsenz dieses Wissens im Herzen ist ein „Sagen“, das auf das vorausweist, was später die „Stimme“ des Bewusstseins sein wird. 6 Vgl. Ernest Klein, A Comprehensive Etymological Dictionary of the Hebrew Language for Readers of English, New York 1987, S. 239–240. 7 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hg. von Karl Vorländer, Hamburg 1967, S. 138–140. 8 Aristoteles, Nikomachische Ethik, II, 6, 1106b36–1107a2 (horismene logo).

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Das Neue Testament, das bereits über das griechische Begriffssystem verfügt, lässt wieder die ersten Wörter der Genesis anklingen: Der Logos war am Anfang (arche-) von allem (Johannes 1,1). Die Antwort des Menschen ist ein „vernünftiger Dienst“ (logike- latreia) (Römer 12,1). Die Kirchenväter machen das vernünftige Wesen des Glaubens geltend, sogar dessen Gegenstands, also Gottes. Justin der Märtyrer beschreibt das Christentum als die wahre Philosophie, die er in mehreren Schulen gesucht hatte. Nach Gregor von Nazianz ist der Glaube (pistis) „die Vollendung der menschlichen Vernunft“ und für Johannes von Damaskus ist die Liebe zu Gott die wahre Philosophie. Manuel Palaiologos formuliert eine Regel: Nicht vernunftgemäß zu handeln (sun logo-), ist wider Gottes Wesen.9 Die Würde der Vernunft hat ihren Grund also auf höchster Ebene, in Gott selbst. An diese Kirchenväter schließen die großen Scholastiker an, die sich die Erforschung des göttlichen Geheimnisses durch das rationelle Denken vornehmen – „der Glaube, der zu verstehen versucht“ (fides quaerens intellectum), wie es Anselm von Canterbury formuliert, der noch bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel zitiert wird.10 Gilbert Keith Chesterton lässt seinen Detektiv, den Pater Brown, sagen, als der falsche Priester, den er entlarvt hat, ihn fragt, wie er ihn aufgespürt hat: „Sie haben die Vernunft attackiert, das ist schlechte Theologie.“ Kurz zuvor sagt er: „Ich weiß, dass die Leute der Kirche vorwerfen, sie würde die Vernunft herabsetzen, aber das Gegenteil ist der Fall. Auf der Erde macht einzig die Kirche aus der Vernunft etwas wirklich Hohes. Als einzige auf Erden behauptet sie, dass Gott selbst durch die Vernunft gebunden ist.“11

Das Irrationale draußen Mit der Moderne erscheinen nebeneinander die Begeisterung für die Vernunft und ihre Herabsetzung. Erst 1930 wurde in Frankreich die Union 9 Justin der Märtyrer, 1. Apologie, 46; Gregor von Nazianz, Oratio XXIX (Theologica III), 21; Johannes von Damaskus, Dialectica, 3, PG, 94, 533c; Manuel II Palaiologos, Dialog mit einem Muslim, VII, 3bc, hg. von Thédore Koury, Paris 1966, S. 144. 10 Anselmus von Canterbury, Cur Deus Homo, I, 1; PL 158, 362 B; SC Nr. 91, S. 212; Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss, § 77 n., Werke, hg. von H. Glockner, Bd. 8, S. 183. 11 Gilbert K. Chesterton, The Blue Cross (1910), in: Father Brown. Selected Stories, London 2003, S. 33 und S. 28.

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rationaliste gegründet, ein Symptom für eine Reaktion auf den Anstieg dessen, was man als das Irrationale wahrnahm. Wo ist es angesiedelt? Die klassische Vernunft sollte ein Licht ohne Niedergang verbreiten. Ihre Dämonen waren außerhalb wie die niederen Vermögen der Seele: die Sinne in Platons Phaedon oder die Leidenschaften und die Fantasie bei den Stoikern oder Spinoza. Man konnte diese Feinde in ein evolutionäres Schema bringen: Die Bewegung der singulären Erziehung der Person oder der kollektiven des Menschengeschlechts ging zur Vernunft und entfernte sich mehr und mehr von einer ursprünglichen Dunkelheit. Was es zu tadeln galt, gehörte der Vergangenheit an oder deren anachronistischen Überresten. Etwa die „Vorurteile“, seien es die der Kindheit jedes Individuums wie bei René Descartes12 oder die der kollektiven Kindheit des Menschengeschlechts, was in der Rhetorik der Aufklärung als die Mächte der Finsternis bezeichnet wurde. Nur wenige Köpfe wagen es, die Vernunft anzugreifen. Martin Luther, der sie als die „Hure des Aristoteles“13 bezeichnet, fand kaum Nachfolger, nicht einmal in seiner Kirche. Aber ist sie eine letzte Instanz? Für Martin Heidegger ist „die seit Jahrhunderten verklärte Vernunft der hart­ näckigste Feind des Denkens“14. Für ihn steht sie im Gegensatz zu einem direkteren Zugang zu dem, was es zu denken gilt. Und David Hume sagt in einem berühmten Paradox, dass „die Vernunft im Dienst der Leidenschaften steht und stehen soll“15. Er lehnt sich bewusst gegen eine alte philosophische Tradition auf, der zufolge sie die Leidenschaften eher zügeln soll. Stellt die Vernunft einen ausreichenden Antrieb dar? Nur die Leidenschaften liefern uns Gründe zum Handeln. Und diese Leidenschaften können sehr wohl die Vernunft oder eine fehlgeleitete Form von ihr für sich einsetzen oder sogar ihre eigenen Interessen unter dem Vorwand, die Vernunft durchzusetzen oder zu verbreiten, verbergen. Ein recht deutliches Beispiel dafür liefert die ­ Geschichte der Kolonisierung Afrikas und großer Teile Asiens durch die europäischen Mächte. Im Unterschied zur Kolonisierung Südamerikas, die durch die Verbreitung des Glaubens gerechtfertigt war, ging es darum, 12 René Descartes, Principia philosophiae, I, § 71; AT, Bd. VIII, S. 35–36. 13 Martin Luther, Wider die himmlischen Propheten, von Bildern und Sakramenten (1525), WA, 18, S. 164; Letzte Predigt (1546), WA, 51, S. 126. 14 Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 247. 15 David Hume, A Treatise of Human Nature, II, III, 3, S. 415.

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zu zivilisieren und Völkern die Vernunft zu bringen, von denen man annahm, dass sie sie ignorierten oder ablehnten. Wurde die Vernunft, „für deren Achtung wir uns als Herren und Herrscher der übrigen Geschöpfe gebärden“, nicht „zu unserer Qual“16 in uns eingepflanzt? Giacomo Leopardi drückt unmissverständlich aus, was vielleicht hinter Humes Bemerkung stand: Die Vernunft macht unglücklich und neigt dazu, das Menschengeschlecht zu zerstören, indem sie Illusionen untergräbt, auf denen das Leben aufbaut. Sie ist ein Licht, das erhellen soll, aber nicht entzünden.17 Es kann sein, dass die Krise der antiken Welt ebenfalls bereits eine Krise der Vernunft war, eine „Ernüchterung“ ihr gegenüber. Aus gesellschaftlicher Sicht entsprach sie einem „Unvermögen der Philosophie“, aus der Elite herauszutreten, um den Massen Wege zu zeigen, die aus der Hoffnungslosigkeit herausführen.18 Es hätte sich wieder einmal gezeigt, dass „die große Grenze der antiken Zivilisation ihr aristokratischer Charakter ist“.19 Warum wählt man die Vernunft? Die Entscheidung für die Wirklichkeit, die sie enthüllt, ist nur vernünftig, wenn das, was ist, nicht nur etwas Faktisches ist, vor dem man sich nur demütigen und das „So ist es“ seufzen kann wie der junge Hegel angesichts der Alpen. Was ist, kann man notfalls akzeptieren, weil man muss, indem man an die intellektuelle Ehrlichkeit appelliert, in der Friedrich Nietzsche „unsere letzte Tugend“20 sah. Aber man kann sie keinesfalls lieben, ganz einfach, weil sie nicht liebenswert ist. Kann das, was ist, als solches zu einem Objekt der Liebe werden? Aus welchem Blickwinkel kann es als liebenswert erscheinen?

16 Michel de Montaigne, Essais, I, 40, hg. von Jean Céard et al, Paris 2001, S. 400. 17 Giacomo Leopardi, Zibaldone, (23. Oktober 1821), hg. von Lucio Felici, Mailand 2007, S. 422b, und ibd., 22, S. 20b. 18 Maria Zambrano, La agonía de Europa, Madrid 1988 [1945], S. 52–53. 19 Henri-Irénée Marrou, Décadence romaine ou Antiquité tardive? IIIe–IVe siècle, Paris 1977, S. 139. 20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel (Auszüge aus dem Tagebuch der Reise in die Berner Alpen), in: Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1971, Bd. I, S. 618; Friedrich Nietzsche, Morgenröte, V, Bd. XII, S. 44. Vgl. auch mein „Possiamo amare la verità?“, Philosophical News, Nr. 2; La verità, März 2011, S. 48–52.

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Krankheiten der Vernunft Die Vernunft kann zu dick auftragen, sie kann auch zu schwach auftreten. Ersteres ist der Fall beim philosophischen Hochmut. Kurioserweise trifft man diesen zunächst bei einem „Philosophen“ des 18. Jahrhunderts an, bei Voltaire: „[…] der philosophische Hochmut / versäuert heutzutage die friedliche Sanftheit“21. Die Vernunft soll sich nicht überschätzen. Eine ganze Apologetik hat diese weise Empfehlung zum Ausgangspunkt genommen: die Vernunft herabsetzen dank des Skeptizismus, um Raum zu schaffen für den Glauben. Michel de Montaigne zum Beispiel reiht sich in eine ganze Tradition des christlichen Skeptizismus ein. Und Blaise Pascal flirtet mit ihr in seinem: „Demütigt euch, ohnmächtige Vernunft.“22 Selbst Kant spielt in seiner berühmten Formulierung auf sie an: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“23 Die Vernunft tritt zu schwach auf, wenn sie nicht unter den Schlägen ihrer Feinde nachgibt, sondern sich selbst aus dem Spiel bringt. Diese Idee lässt sich anhand des Bildes der Müdigkeit und des Schlafs veranschaulichen. So hatte Edmund Husserl in seinem berühmten Vortrag in Wien (1935) erklärt, dass die Hauptgefahr für Europa nicht als Kontinent, sondern als „eine interne Teleologie der Vernunft“ nichts anderes sei als die Müdigkeit.24 Er übertrug auf die Philosophie einen Zweifel, den sehr konkrete Ereignisse plausibel gemacht hatten oder machen sollten: Der Große Krieg war auf einem Kontinent ausgebrochen, der auf seine Rationalität stolz war. Der Holodomor und die Schoah haben das Vertrauen der europäischen Vernunft in sich selbst erschüttert. Seither verzweifelt der postmoderne Mensch, weil er die aus der Aufklärung hervorgegangene Vorstellung des Fortschritts aufgegeben hat. Es scheint also, dass die Gefahr heute weniger der Hochmut als das entgegengesetzte Laster ist, eine übertriebene Bescheidenheit, die man als Kleinmut bezeichnen kann. Der Begriff ist alt, denn es handelt sich um ein Laster, das von Aristoteles unter dem Namen mikropsukhia

21 Voltaire, À Horace (1772). 22 Blaise Pascal, Pensées, Br. 434; Bd. II, S. 347 und vgl. Br. 282, S. 205. 23 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorwort zur zweiten Auflage. 24 Edmund Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, in: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hg. von Walter Biemel, Den Haag 1962 [1936], S. 348.

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beschrieben wurde und das René Descartes als „bassesse“ (niedrige Gesinnung) oder „humilité vicieuse“25 (lasterhafte Demut) bezeichnete. Neu hingegen ist ihre Anwendung auf die intellektuellen Forschungen, die nur bei Sokrates vorweggenommen wird, der die Verlockung des „Hasses auf die Rede“ (misologia) verwirft, die Platon als Analogon zur Misanthropie inszeniert, die denjenigen befällt, der jetzt dem Menschengeschlecht misstraut, weil er einem Menschen vertraut hat, der dieses Vertrauen missbraucht hat.26 Das „sapere aude“ (wage es, weise zu sein), der Wahlspruch der Aufklärung nach Kant (Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!), wird eher lautstark verkündet als wirklich praktiziert.27 Eine Synthese von Hochmut und Demut wird vom Positivismus vertreten, in dem die Vernunft nicht nach oben blickt und jede Transzendenz ablehnt. Er richtet den Blick nicht nur auf ein außerhalb liegendes Göttliches. Bei seinem Begründer Auguste Comte implizierte er zunächst den Verzicht auf die Erfassung der letzten Ursachen der Phänomene und die Resignation, weil man nur deren Gesetze festhalten könne.28 Hinter all dem errät man die Verlockung, die der Mensch verspürt, sich als selbstgenügsam zu betrachten – den „exklusiven Humanismus“. Exzessiver Hochmut und exzessive Demut kommen bestens miteinander aus: Sich für fähig zu halten, seine eigenen Grenzen selbst bestimmen zu können, ist im Grunde der Gipfel der Hochmut.

Das Irrationale drinnen In der Moderne nimmt so etwas wie ein Selbstmord der Vernunft konkretere Gestalt an. In der europäischen Geschichte ist die Vernunft nicht immer ein Prinzip der Einheit gewesen. Sie konnte als Rechtfertigung für einen nationalen Imperialismus dienen. Etwa den des revolutionären Frankreichs, das Europa plündert und ihm den Code civil bringt, den­ jenigen Englands, das das „abergläubische“ Irland kolonisiert, oder denjenigen Deutschlands, das Ordnung in die polnische Anarchie bringt. 25 Aristoteles, Nikomachische Ethik, IV, 3, 1129b9–11; 1125a19–27; René Descartes, Traité des passions, III, § 159, AT, Bd. XI, S. 450. 26 Platon, Phaedon, 89cd. 27 Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?, erster Absatz. 28 Auguste Comte, Discours sur l’esprit du positivisme, 1, S. 138 sq.

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Umgekehrt haben sich kulturelle Regionen beauftragt gefühlt, den vermeintlich „austrocknenden“ Rationalismus, den man der französischen Aufklärung zuschrieb, zu kompensieren oder zu komplettieren. Etwa das romantische Deutschland von Madame de Staël, das „Land der Denker und Dichter“ oder das von 1914, das für die „Kultur“ und gegen die britisch-französische „Zivilisation“ kämpfte. Oder auch das Russland der Slawophilen, das die Seele, die die Totalität erfasst, gegen die analysierende, zersetzende und letztlich tötende Vernunft ausspielte. Die Idee, der zufolge die Vernunft sich selbst in Gefahr bringen kann, wird bei Kant in der transzendentalen Dialektik der ersten Kritik eindrucksvoll behandelt. Die Vernunft geht ihren eigenen Netzen in die Falle und verheddert sich in Antinomien, wenn sie nicht mehr von der Sensibilität geleitet wird. Die kantsche Revolution kehrt die klassische Hierarchie der Vermögen der Seele um, bei der die niederen Vermögen wie die Wahrnehmung oder die Vorstellungskraft abgewertet wurden. Kant rehabilitiert die Sinne.29 Die niederen Vermögen sind keine Ketten oder keine Fallen mehr für die Vernunft, sondern nützliche Schutzgeländer, die verhindern, dass die Vernunft zum Opfer ihrer selbst wird. Nietzsches Idee einer „Treue zur Erde“30 ist somit eine ferne Konsequenz der Verteidigung der Sensibilität durch Kant, der doch sein Gegner war. Die Idee einer Dialektik der Aufklärung erhielt ihren ersten Ausdruck in dem berühmten und diesen Titel tragenden Buch von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.31 Wenn nun die Vernunft ihre eigenen Fundamente untergräbt, dann ist das historische Projekt der Aufklärung, nämlich die vollständige Rationalisierung des Lebens, zum Scheitern verurteilt. Die Moderne, die sich auf den Weg gemacht hatte, um dieses Projekt zu verwirklichen, erfüllt ihre eigenen Versprechen nicht. Sie nährt sich als Schmarotzer von dem, was sie nicht reproduzieren kann, eine Idee, die bereits bei Charles Péguy auftaucht.32 29 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 8–10; Werke, Bd. VI, S. 432– 436. 30 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, I: Von der schenkenden Tugend, 2; Bd. IV, S. 99. 31 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947. 32 Charles Péguy, De la situation faite au parti intellectuel dans le monde moderne devant les accidents de la gloire temporelle (1907), in: Œuvres en prose complètes, hg. von Robert Burac, Paris 1988. Bd. II, S. 725.

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Betrachten wir die berühmte Radierung eines Malers der Aufklärung, nämlich Francisco de Goyas: Ein Mann ist vor einem Tisch eingeschlafen, auf seinen Ellbogen gestützt. Seltsame Tiere tauchen im Hintergrund auf. Ein katzenartiges Tier sitzt hinter dem Stuhl, ein anderes hinter dem Rücken des Schläfers. Geflügelte Tiere, Fledermäuse oder Vögel, werfen ihren Schatten auf ihn. Die Vögel gemahnen an Raubvögel. Einer von ihnen wird sich auf die Schulter des Schläfers setzen wie die Taube des Heiligen Geists auf die der Evangelisten. Die Bildunterschrift lautet: „Der Schlaf (sueño) der Vernunft gebiert Ungeheuer“33. Warum die Vernunft einschläft oder Albträume hat, wird jedoch nicht gesagt. Das Bild ist vielschichtig: Der Schläfer ist vermutlich der Maler selbst, auf seinem Tisch liegen Blätter Papier und ein Pinsel. Er ist kein Rohling, sondern ein zutiefst menschliches Wesen, männlich, erwachsen, gut gekleidet. Die Vögel, die über ihn herfallen und von denen einer den Pinsel umklammert, sehen aus wie Eulen – und die Eule ist der Vogel der Minerva, der Göttin der Vernunft. Das sitzende katzen­ artige Tier mit den dreieckförmigen Ohren scheint ein Luchs zu sein, dessen durchdringende Augen die Aufklärung symbolisieren. Der Titel selbst ist mehrdeutig: Das kastilische Wort sueño bedeutet auch „Traum“ wie das russische сон. Kommt die Gefahr daher, dass die Vernunft einschläft, oder daher, dass es unmöglich ist, völlig das Bewusstsein zu verlieren? Ihre Träume sind umso gefährlicher, als sie die eigentlichen Träume der Vernunft sind. Der Mensch wird also „nach Prinzipien träumen, mit Vernunft delirieren“.34

Der Irrationalismus des Rationalismus Am meisten muss sich die Vernunft vor ihren Freunden hüten. Denn die angeblichen „Rationalisten“ sind dies nicht wirklich. Für Heidegger schielt der Irrationalismus dort, wo der Rationalismus blind ist.35 Und Leo Strauss merkt grausam an: „Der ,Irrationalismus‘ ist nur eine Spiel33 Francisco de Goya, Los capruchos, Nr. 43 (um 1799). 34 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Allgemeine Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile, hg. von Karl Vorländer. Hamburg 1963, S. 123; vgl. auch Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 40, Werke, Bd. VI, S. 510. Terenz, Der Eunuch, Vers 63. 35 Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 29, Tübingen 1960, S. 136.

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art des modernen Rationalismus, der selbst schon ,irrationalistisch‘ genug ist.“36 Für viele selbsternannte Rationalisten ist die Vernunft nur sekundär. Sie entspringt dem Irrationalen. Sie erklärt sich aus der darwinschen Idee eines Überlebens des Tüchtigeren als ein Verhalten, das im Kampf für das Leben durch die natürliche Auswahl beibehalten wird, bei dem ein vernunftbegabtes Lebewesen mehr Trümpfe als andere besitzt. Der Amerikaner E. O. Wilson schreibt folglich am Beginn einer populärwissenschaftlichen Präsentation der Wissenschaft, die er mitbegründet hat: „The human mind is a device for survival and reproduction, and reason is just one of its various techniques. […] The intellect was not constructed to understand itself but to promote the survival of human genes“37 (deutsch: Der menschliche Geist ist eine Einrichtung für das Überleben und die Fortpflanzung, und die Vernunft ist nur eine seiner verschiedenen Techniken. […] Der Intellekt wurde nicht konstruiert, um sich selbst zu verstehen, sondern um das Überleben menschlicher Gene zu fördern). Die Intelligibilität dessen, was ist, stellt ein Faktum dar, das man zu oft für eine Selbstverständlichkeit hält und das man nicht versucht, selbst wieder intelligibel zu machen. Die größten Wissenschaftler wagten es jedoch, einzugestehen, dass sie ihnen rätselhaft erschien, so beispielsweise Albert Einstein: „Undenkbar auf der Welt ist, dass sie denkbar ist.“38 Wir bräuchten eine Philosophie der Natur, die wenigstens von der Rationalität der Natur Zeugnis ablegen und sozusagen einen „Logos“ des „Logos“ bringen könnte. Für die Anhänger der beiden biblischen Religionen kommen alle diese Phänomene oder, besser ausgedrückt, diese Hypothesen „nach“ dem „Logos“. Allein der Logos steht am Anfang. Nur er ist das Prinzip. Der englische Physiker Fred Hoyle hatte sich über die Hypothese des Abbé Georges Lemaître über die Ausdehnung des Alls lustig gemacht und von einem „Big Bang“ gesprochen – ein Ausdruck, der seither eingeführt ist und seine abwertende Bedeutung eingebüßt hat. Doch dieses Bild des 36 Leo Strauss, Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer (1935). Einleitung, Nr. 1, in Gesammelte Schriften, hg. von Heinrich Meier, Stuttgart 1997, Bd. II, S. 9. 37 Edward O. Wilson, On Human Nature, Cambridge 1978, S. 1–3. 38 Albert Einstein, Physik und Realität, in: Journal of the Franklin Institute, 221–3, März 1936, S. 313–347, Zitat auf S. 315.

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Die Vernunft – die Grenzen einer Ambition

Anfangs von allem suggeriert ein Geräusch ohne Bedeutung und kein letztes, der Vernunft zugängliches Prinzip. Die Behauptung, das Sein sei in letzter Instanz rational, liefert keine Antwort auf die Fragen, die sich die Wissenschaft stellt und die sie zu beantworten sucht. Aber sie liefert ihr den Boden, auf dem sie sich bewegt und den sie dann nicht sehen kann und nicht sehen soll. Nietzsche hat sehr wohl erkannt, dass diese Annahme ein Glaube ist, der ­seinen Ursprung in der Bibel hat. Für ihn sind wir, selbst wenn wir die begeistertsten Anhänger der Aufklärung sind, noch immer fromm, denn unser Glaube an die Vernunft ist immer noch ein „metaphysischer Glaube“, eine ferne Konsequenz von Entscheidungen, die von der griechischen Philosophie und dem Christentum getroffen worden waren. Nietzsche zufolge nehmen wir unser Feuer noch immer von dem Brand, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, der auch der Glaube Platos war.39 Nietzsches Wunsch war, dass wir die letzten Haltetaue, die uns an diesen Glauben binden, loslassen. Doch können wir das? Und sollten wir es wollen?

Literatur Rémi BRAGUE, Le Règne de l’homme. Genèse et échec du projet moderne, Paris 2015. Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Markus Michel, Frankfurt a. M. 1971, Bd. 12. Max HORKHEIMER und Theodor W. ADORNO, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1981. Immanuel KANT, Kritik der reinen Vernunft, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1974.

39 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, V, § 344; KSA, Bd. III, S. 574–577.

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Die Aura des Bildes Das Bild, das in der polytheistischen Antike blühte, wurde von den drei in Europa entstandenen Monotheismen verboten: Im Judentum, Christentum und Islam ist Gott nicht im Bild wiederzugeben. Erst mit der Wandlung vom Römischen Reich zum christlichen Mittelalter setzt sich die figurative Kunst durch. Ausgehend von dem Moment, in dem die Gestalt Christi diejenige des Kaisers auf einer Münze in Konstantinopel Ende des 7. Jahrhunderts ersetzt, übernimmt das Christentum bereitwillig das Bild und wird nicht mehr aufhören, es mit unvergleichlicher Ikonografie zu bereichern.

Francisco de Zurbarán, Das Heilige Antlitz, Öl auf Leinwand, um 1631, Stockholm, National­ museum.

Die Aura des Bildes

Der gegenwärtige Bildersturm Vor dem Internationalen Gerichtshof von Den Haag begann am 22. August 2016 der Prozess um die Zerstörung islamischer Bild- und Schriftkulturen in Timbuktu. Vier Jahre zuvor hatte eine dschihadistische Miliz jahrhundertealte Friedhöfe und Manuskripte vernichtet. Der Vorgang hatte weltweit Entsetzen ausgelöst, zumal diese Zeugnisse seit 1988 zum Weltkulturerbe der UNESCO zählten. Die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan in Afghanistan im März 2001, der Angriff auf die Zwillingstürme von New York am 8. September desselben Jahres und die Vernichtung zahlreicher antiker Stätten der syrischen Stadt Palmyra im Jahr 2015 sind im Verein mit den Ikonoklasmen von Mali nur die markantesten Ereignisse islamistisch bestimmter Bilderstürme, die sich in den letzten Jahrzehnten ereignet haben. Die Statuen von Bamiyan standen bildlich für den Buddhismus, die Zwillingstürme von New York für ein westlich geprägtes Lebens- und Finanzsystem, die Mausoleen in Timbuktu für einen sinnesbezogenen Islam und die Bauwerke von Palmyra für den Polytheismus und das Christentum. Diese Zerstörungen sind in einem doppelten Sinn als global zu bezeichnen; horizontal, insofern sie sich überall ereignen können, und vertikal, indem sie sich auf sämtliche Zeitentwürfe beziehen, die der endzeitlichen Fixierung auf das Hier und Jetzt die Zeichen der Geschichte entgegensetzen. Gegen alle Formen der Materialisierung von Glaubensgehalten in Werken und Orten gerichtet, zielen diese Bilderstürme gegen jede Form der materialisierten Erinnerung. Dass die Klage gegen eines dieser Verbrechen vor dem in Europa situierten Weltstrafgericht stattfand, ist nicht ohne symbolische Bedeutung, denn sowohl der Bildersturm wie auch dessen Bekämpfung gehören zu den unauslöschlichen Erfahrungen Europas selbst. Als der Ikonoklasmus in den 1970er-Jahren erstmals umfassend analysiert wurde, geschah dies mit Blick auf Zerstörungstaten im Zuge von Diktaturen und Revolutionen wie auch religiöser Bewegungen in Europa, um aktuelle Vorgänge wie die chinesische Kulturrevolution oder auch die Zerstörungen der 1968erBewegung in ihrem historischen Stellenwert begreifen zu können. Diese Reflexionen wurden im Bewusstsein dessen angestellt, dass der behandelte Gegenstand an sein Ende gekommen sei. Angesichts des Aufstieges elektronischer Kommunikationsmedien gehe es auch um eine historische 299

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Distanznahme, denn, wie Martin Warnke es in einem programmatischen Aufsatz Anfang der 1970er-Jahre formulierte: „Die Kameramänner, Regisseure, Werbefachleute und Demoskopen übernehmen die Rolle der Meißel­schläger und Farbvirtuosen vergangener Jahrhunderte.“ Die folgenden Jahrzehnte haben jedoch gezeigt, dass der Bildersturm ungeachtet der weitsichtigen Qualität dieser Aussage keinesfalls als historisch abgeschlossenes Phänomen gelten kann. Wie eh und je spielt er in historischen Umbruchsituationen eine immer neue und eigene Rolle. Der Zerfall der Sowjetunion war mit massiven Bilderstürmen auf die ­Statuen der Stalinzeit verbunden und etwa der Sturz der Hussein-Statue bei der Einnahme Bagdads durch amerikanische Truppen im Jahr 2005 wurde als ein bleibendes Zeichen angesehen. Vor allem aber erwies sich, dass der scheinbar atavistische Bildersturm mit den avanciertesten Formen der Neuen Medien Hand in Hand ging und dies insbesondere seit Einführung des Internets. Das Ereignis von Bamiyan hat auch aus dem Grund in der westlichen Welt Entsetzen ausgelöst, dass es keinesfalls der rural bestimmten Welt eines rückständigen Islam zugeordnet werden konnte; vielmehr wurde es mit einer massenmedialen Präsenz verbunden, die ihm eine instantane globale Aufmerksamkeit ermöglichte. Damit aber blieb die Frage des Bildersturmes von ständig sich erneuernder Aktualität. Das Bedrückende der beschriebenen Vorgänge war nicht nur die Steigerung der zerstörerischen Systematik, sondern die Wiederkehr einer als überholt erachteten europäischen Problematik. Es scheint, als würde eine für Europa abgeschlossen geglaubte Geschichte der Gewalt als globales Phänomen zurückkehren. Diese Wiederkehr des als Eigenes betrachteten Von-außen macht es umso stärker erforderlich, Europa in seiner weltweiten Verspannung zu denken.

Bild und Bildersturm historisch Die Definition Europas wird weder historisch noch aktuell jemals an ein Ende kommen können. Was diesen Kulturkreis jedoch als einen Sonderfall vereint, ist der bis heute nachwirkende Konflikt zwischen einer bildfreundlichen, wenn nicht bildsüchtigen Antike und der latent bildkritischen Nachantike. Die Götter des Olymps hatten sich die Verehrung teilen können, sodass etwa Mars, Venus und Minerva verschiedene 300

Die Aura des Bildes

Aspekte der wahrnehmbaren Welt, der Ideen und Leidenschaften auf sich zu ziehen vermochten. In dieser teilbaren und teils auch dissonanten Götterwelt waren die Natur und mit ihr die Materie und die Welt der Sinne einbezogen und daher waren Bilder die bevorzugten Medien ­dieses polytheistischen Kosmos. Alle monotheistischen Religionen haben gegen dieses Verständnis von Götterwelt, Materie und Form opponiert. Das frühe Christentum hat an das Bildverbot der jüdischen Glaubensgemeinschaft (Moses 2 [Exodus], 20, 4) entschieden angeknüpft (Apostelgeschichte, 17, 22 ff.). Die Gottheit ist bildlich nicht darstellbar: Dies gehört zur Grundüberzeugung der Urchristen. Obwohl zunächst weniger entschieden als das frühe Christentum, war auch der Islam zu Beginn von derselben spirituellen Bestimmung geprägt. Wenn Europa durch das Judentum, vor allem das Christentum und zumindest über Spanien auch durch den Islam bestimmt wurde, dann verkörpert dieser Kontinent das Ensemble der drei im Ursprung bildfeindlichen Weltreligionen. Ihnen allen war gemeinsam, dass Gott jenseits der Welt ist, die er geschaffen hat: Er kann in ihr selbst nicht dargestellt werden, ohne dass er auf unzulängliche Weise verkleinert wird. Jede Darstellung ist folglich Gotteslästerei. Im Landesmuseum von Trier befindet sich eine eigenartig amorphe, nach oben verjüngende Steinskulptur, die auf eine besonders sprechende Weise die über lange Zeit gültige Bildkritik der Urchristen verkörpert. In ihrer scheinbar abstrakten Form könnte sie in den Umkreis der frühen

Verstümmelter Torso einer Statue der Venus oder Diana, Marmor und Sandstein, 2. Jh. n. Chr., Trier, Rheinisches Landesmuseum.

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Figuren eines Constantin Brâncuși oder Naum Gabo gerückt werden. Die Skulptur entstammt jedoch sowohl der Antike wie auch dem Mittelalter. In ihr steckt eine Diana- oder Venusfigur, wie sie die Venus von Capua, heute in Neapel, darstellt. Über die Jahrhunderte hinweg wurde die an Ketten aufgehängte Trierer Statue den Steinwürfen der Pilger preisge­ geben. Die Verwandlung der machtvollen Göttin in einen formlosen Torso sollte den Glauben diskreditieren, dass in Skulpturen Göttliches wohnen könnte. Die Trierer Figur gehört zu den markantesten Beispielen, in denen der bildkritische Grundansatz der europäischen Nachantike Gestalt geworden ist.

Christliche Bildpraxis gegen den Geist der Negation Dass sich trotz dieser theologisch begründeten Bildfeindlichkeit eine unwiderstehliche Bildkunst entwickeln konnte, die das antike Erbe aufgenommen und in unterschiedlichsten Formen aktualisiert hat, gehört zu den Mirakeln der europäischen Kultur. Die Anfänge verliefen zunächst im Verborgenen. Ende des 2. Jahrhunderts gaben wohlhabende Christen, die ihren Besitz besiegeln wollten, der Versuchung nach, kryptisch-christliche Motive wie zum Beispiel die Figur des guten Hirten zu verwenden. Die Situation änderte sich, als Kaiser Konstantin mit der Tolerierung des Christentums das Bündnis zwischen Staat und Kirche einleitete, womit die christliche Ikonografie den Modi der kaiserlichen Repräsentation assimiliert wurde. Die in den Kaiserkult übernommene Figur des Sonnengottes sprang als Sol invictus auf die Darstellung Christi über. In Byzanz wurden Ende des 7. Jahrhunderts die auf Münzen angebrachten Kaiserporträts von Bildern Christi verdrängt und auch die Feldstandarten trugen dessen Antlitz. Das Kreuz wandelte sich vom Träger des Gemarterten zum Ständer seines Rundbildes, sodass die Christus-Ikone zum Staatsbild wurde, in dem die Einheit des Reiches garantiert war. Im Konflikt zwischen dem bildkritischen Judentum und der bildgeprägten heidnischen Antike war das Christentum zur Antike zurückgekehrt. Karl der Große, dem die Wiedergewinnung der antiken Kultur durch die Überlieferung der antiken Quellen gelang, hat entgegen der lange gültigen Meinung auch Großplastiken erlaubt und teils gezielt verwendet. Das Gebot, dass Bilder niemals angebetet werden dürften, blieb jedoch 302

Die Aura des Bildes

Metzer Statuette, Bronze, nach 800, Paris, Musée du Louvre.

maßgeblich. Die von Karl dem Großen in Auftrag gegebenen Libri Carolini, die wesentlich dazu beitrugen, dass Europa in den byzantinischen Osten und den nachrömischen Westen geteilt wurde, wendeten sich zwar gegen jede Form des Bildkultes, begründeten aber die gemeinschaftsstiftende Funktion von Statuen. Die Metzer Statuette, die nach jüngsten Überlegungen ihn selbst zeigte, ist ein Reflex dieses Anspruches.

Die Erstickung der Bildkritik Die feine Unterscheidung zwischen Bildkult und Bildverehrung war in der Praxis jedoch nicht durchzuhalten. Eine Gruppe von herausragenden Skulpturen aus dem 10. und 11. Jahrhundert wie das Gerokruzifix im Kölner Dom, die sitzende Muttergottes aus der Münsterkirche in Essen und die Imadmadonna in Paderborn barg Reliquien und damit wurde die Grenze zwischen der Anbetung heilsbringender Körperpartikel und der sie umhüllenden Form diffus. Das überragende Beispiel bietet die Statue der heiligen Fides von Sainte Foy in Conques, die als Objekt einer Wallfahrt höchste Berühmtheit erlangte. Ein ungeheurer Form- und Materialaufwand lässt den Leib der unbewegt aufrecht auf einem Thron sitzenden Gestalt erstrahlen; es 303

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dominiert der metallische Körper einer hoheitsvollen, mit Edelsteinen und Emailaugen ausgestatteten Figur. Sie setzte die Kritik am Bildkult dadurch außer Kraft, dass die Kritikpunkte gewissermaßen übererfüllt wurden. Wie dieser overkill funktionierte, hat ein bildkritischer Kleriker, Bernhard von Angers, minutiös festgehalten. Auf seiner Reise nach Conques fragt er angesichts einer Statue auf dem Hochaltar von Aurillac ­seinen Reisebegleiter voller Sarkasmus: „Was denkst du, Bruder, über dieses Götzenbild? Würden Jupiter oder Mars eine solche Statue als ihrer unwürdig erachtet haben?“ Auch angesichts der Fides von Conques (Sainte Foy) betont er, dass er diese Art Götzendienst für „mit den Gesetzen der christlichen Religion nicht zu vereinbaren“ hält. Am nächsten Tag aber erfährt er sein Damaskuserlebnis, indem die Statue mitsamt der in ihr verborgenen Reliquien Wunder tut, woraufhin er vom Feind dieser antiken Kultform zu deren Anhänger mutiert. Bernhard von Angers konnte nicht wissen, wie sehr seine Assoziation gerechtfertigt war. Eine Untersuchung des Inneren der Fides-Figur hat ergeben, dass die gegenwärtige Erscheinung ihres Kleides und ihres Thrones einer nach 984 vorgenommenen Fassung entspricht. Sie verbirgt

Heilige Fides von Sainte Foy, Holzkern überkleidet mit Gold, Edel- und Halbedelsteinen und Emailarbeit, um 980, Conques, Schatzkammer von Sainte Foy.

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einen älteren Goldmantel, unter dem sich wiederum ein noch aus dem 9. Jahrhundert stammender Holzkern mit den Reliquien der Heiligen befindet. Bei dem Gesicht aber handelt es sich um die Maske eines Kaiserkopfes aus dem 4. oder 5. Jahrhundert. Um die Fides mit diesem Relikt der Antike zu veredeln, wurde selbst deren Geschlechtsumwandlung in Kauf genommen. Auf diese Weise erhielt sie eine solche Suggestivkraft, dass auch hartgesottene Rationalisten wie Bernhard von Angers alle Bedenken vergaßen. Wie die Trierer Figur verkörpert die Statue der heiligen Fides den so kritischen wie produktiven Grundkonflikt der nachantiken Bildkultur.

Bilderstürme und Deformationsästhetik Im Gegenzug wurden die ursprünglichen Einwände gegenüber dem Bild und insbesondere dessen dreidimensionaler Form jedoch immer neu radikalisiert, bis sie sich in religiös und zumeist auch sozialrevolutionär geprägten Bilderstürmen Bahn brachen. Dabei ereignete sich immer wieder das paradoxe Phänomen, dass den Figuren gerade seitens der Bilderstürmer jenes Leben vermittelt wurde, das doch aus den Kunstwerken gleichsam herausgeschlagen werden sollte. So vermerkten katholische Chronisten der Hussitenrebellion entsetzt, dass die Aufständischen an den Bildwerken Strafen exekutierten, „als ob jene glaubten, sie träfen lebendige Menschen“. Nicht anders gingen die Bilderstürmer der Wiedertäufer an ihr Werk; so wurde das Gesicht einer Äbtissin des Domes von Münster mit Schlägen gezeichnet. Von den Hugenotten hieß es, sie hätten kein Bild zurückgelassen, „ohne ihm den Kopf abzuschlagen, wie bei einem lebenden und empfindenden Heiligen“. Über die Zerstörung der Grabskulptur des französischen Königs Ludwig XI. in Cléry im Jahr 1652 wurde berichtet: „und als hielten sie ihn lebendig in Henkersgewalt, schlugen sie ihm die Arme, die Beine und schließlich den Kopf ab.“ Der religiös bestimmte Bildersturm ist seit dem Westfälischen Frieden Geschichte, aber die Gleichsetzung von Bild und dem, was es repräsentiert, hat weitergewirkt. Sie hat den immer neu erzeugten Zwang ausgelöst, Gemeinschaften oder Einzelpersonen zu treffen, indem die sie symbolisierenden Bildwerke zerstört wurden. Diese Art des Verweises hat die abendländische Geschichte bis heute zu einem Schlachtfeld der destruktiven Vertauschungen von Bild und Körper gemacht. 305

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Mutilierter Kopf des Grabsteins einer Äbtissin, Münster, Dom.

Mit ihren Bilderstürmen war die Französische Revolution ein Modell für Vorgänge, die bis in die jüngste Vergangenheit reichen. Im August 1792 begann die Phase des Terrors mit dem Umsturz aller Zeichen des alten Regimes. Zu den ersten Aktionen gehörten die Umstürze der Reiterstatuen der Könige, so die Ludwigs XVI. auf der Place de la Victoire. Spöttisch hieß es: „Sie war so hohl wie die Macht selbst.“ Der Höhepunkt dieser bis in das Jahr 1794 reichenden Aktionen waren die Angriffe auf die mittelalterlichen Kirchen und deren Skulpturen. Die zwischen Dezember 1793 und September 1794 abgeschlagenen Königsköpfe von Notre Dame in Paris zeigen erneut jene Destruktionsästhetik, die in der Reformation dazu führte, dass die Objekte in mutilierter Form ihre eigene Schmach auswiesen. Es erscheint wie ein Wunder, dass zahlreiche Kirchen überlebt haben und nicht wie etwa Saint-Chandelle in Arras als Zeugen einer despotischen Geschichte niedergelegt wurden. Der Furor dieser Aktionen wurde erst wieder durch die Zerstörungen der Pariser Kommune aufgenommen, mündend im Sturz der VendômeSäule am 16. Mai 1871. Im 20. Jahrhundert ereigneten sich die tiefgreifendsten Bilderstürme im Zuge der antiklerikalen Kampagnen der sowjetischen Revolution, der antistalinistischen Reaktionen im Ungarn des Jahres 1956 und des Zerfalls des Sowjetreiches nach 1989. Bei ihnen ging es vornehmlich um Beweise einer neuen Machtordung, die in der Lage war, gegenüber den Symbolen der gestürzten Regime die Tabula rasa des Ikonoklasmus aufzuführen. Als Sonderform kommt in allen totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts – und hier insbesondere im Bereich des Nationalsozialismus – die Unterdrückung und teils auch Vernichtung aller modernen Kunstformen als Repräsentanten der verfolgten 306

Die Aura des Bildes

Königsfiguren vom Portal des nörd­ lichen Querschiffes von Notre Dame, Paris, Sandstein, nach 1220, ­beschädigt 1793/94.

Ethnien und Kulturen hinzu – um den Preis, dass seine eigenen Symbole vernichtet und auf Dauer verboten wurden.

Die Lizenz zur Reproduktion Trotz seiner religiös, politisch und ethnisch begründeten ikonoklastischen Grundanlagen hat Europa eine wohl unvergleichliche Vielfalt an Bildkulturen hervorgebracht. Ihr Ursprung liegt in der paradoxen Entwicklung der christlichen Bildkultur. Eine der Möglichkeiten der Überwindung der urchristlichen Abwehr aller figürlichen Bilder bestand darin, das Bild Christi nicht als Bild, sondern als ikonisch abgedrückten Körper zu werten. Die westliche Tradition schreibt ein solches Bild der heiligen Veronika zu, die dem kreuztragenden Christus ihren Schleier gereicht hatte, woraufhin er sich diesen auf sein Gesicht legte und darauf einen Abdruck aus Schweiß und Blut hinterließ. Da es aus diesen körperlichen Stoffen gebildet ist, handelt es sich streng genommen nicht um ein Bild, sondern um gelöste Partikel des Körpers Christi. Die vera icon ist das Produkt einer körperlichen Spur, während der Schleier der Veronika, Vorbild aller zukünftigen Leinwände, zum Medium wird, indem sich ihm die Körperpartikel einprägen. Das Veronika-Bild wurde immer wieder kopiert, wobei der formale Typus, das halslose Gesicht mit seitlich fallenden Haaren auf Leinen, als Wahrheitsbeweis galt, weil es selbst als eine Körperreliquie zu werten war. Obwohl es im strengen Sinn kein Bild ist, hat es als Kopie erlaubt, in den Reproduktionen seiner selbst den Gnadenschatz wiederzufinden. Die Kopie war als Übertragungsmittel der heiligen Substanz sanktioniert. 307

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Dieser Prozess gilt auch für alle anderen Ikonen. Eine Besonderheit der von Christus selbst durch Berührung geschaffenen Bilder lag jedoch darin, dass sie zur Reproduktion tendierten. Zu den Legenden eines berühmten, aber nicht überlieferten Bildes dieser Art gehörte es, dass es sich von selbst in das Leinen eines Tuches drückte, in das es verborgen wurde. Auch das Mandylion reproduzierte sich selbst. Als es in einer gefährlichen Situation eingemauert wurde, hat es sich in die Mauer gedrückt und das Keramidion („Ziegelsteinbild“) geschaffen. Hierin liegt der Grund, warum mit der Reproduktion im christlichen Verständnis nicht etwa eine Schwächung der Aura des Originals verbunden wird, sondern deren Stärkung. Seit der Spätantike lebt die christliche Bildwelt von in Massenproduktion gefertigten Reproduktionen der Bilder Christi, Mariae, der Heiligen, der Styliten und anderer charismatischer Personen. Für sie galt dasselbe wie für die Berührungsbilder: Indem die Form reproduziert wurde, konnte die in ihr versammelte Heilsmacht übertragen werden. Selbst die kleinen, massenhaft produzierten Devo­ tionsfiguren waren in ihrem Wert nicht gemindert; die Echtheit des Urbildes und dessen kraftausstrahlende Heilssubstanz konnten sich in jede der vervielfältigten Nachbildungen übertragen.

Die Entfaltung der Bildmedien Aus demselben Impuls ist der Papierdruck entstanden. So hat, was immer wieder übersehen wird, Johannes Gutenberg mit der Produktion von Devotionsbildern begonnen. Auch mit den chemophysikalischen und elektronischen Bildmedien, die dazu tendieren, im Sinne des The medium is the message (Marshall MacLuhan) die Inhalte in die technischen Bedingungen ihres bildlichen Transportes zu verlagern, wurde diese sakrale Ausgangsbestimmung zu keinem Zeitpunkt geschwächt oder gar überwunden; vielmehr haben diese beiden Grundmotive durch die massenhafte Bildproduktion immer neue Energiequellen erhalten und dies gilt insbesondere für die im Jahr 1839 erfundene Fotografie. Das Vermögen des Veronika-Bildes, im Bild eine unmittelbare Spur des Abgebildeten zu erhalten, wurde zu einem ubiquitären Prinzip. Wenn die Fotografie, wie William Henry Fox Talbot es 1844 formulierte, nicht durch Künstler geschaffen, sondern „by Nature’s hand“ eingedrückt seien, schien mit diesem Bildmedium urplötzlich die Möglichkeit gegeben, Gebilde einer 308

Die Aura des Bildes

Michelangelo Buonarotti, Pietà ­Rondandini, Marmor, 1564, Mailand, Castello Sforzesco.

höheren Ordnung, wie sie die Kunstwerke darstellten, authentisch zu reproduzieren. Im Sinne von Fox Talbot, der die Veronika-Legende wiederaufführte, indem er statt „Christus“ das Wort „Nature“ einsetzte, suchten Fotografen, die Kluft zwischen Natur und Christus wieder zu schließen. Trotz aller entgegengesetzten Beteuerungen ist die Fotografie eine Variante des Veronika-Bildes, die sich der sakralen Magie niemals vollständig entziehen konnte. Roland Barthes Fototheorie „Die helle Kammer“ hat dieses Motiv in besonders eindringlicher Weise offengelegt. Von dieser religiös begründeten Spannung, das Unsichtbare zu zeigen, zehren die naturwissenschaftlichen Verfahren, Unsichtbares sichtbar zu machen, bis heute. Hierüber wird ungern gesprochen, aber von den frühen Röntgenbildern bis hin zu den Evokationen des Nanobereiches oder der Ränder des Universums schwelen religiöse Deutungsmuster weiter, die zwischen der spiritualistischen Bildkritik und der Sichtbarmachung von nicht Darstellbarem schwanken.

Die Paradoxie der europäischen Bildpraxis Eine der Unverwechselbarkeiten Europas liegt in dieser Paradoxie. Aus der bildfeindlichen Grunddisposition ist eine Bildkultur entstanden, die 309

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sich nicht trotz, sondern wegen dieser bildfeindlichen Ausgangslage entfaltete. Die europäische Bildpraxis ist bis in die Gegenwart dem Motiv verhaftet, die Verneinung in die Kunst selbst zu integrieren. Dies hat zu einer beispiellosen Reflexion des Bildes aus der Negation von ihm selbst geführt. Wohl in keinem zweiten Kulturkreis ist die Frage nach der Berechtigung und der Seinsbestimmung des Bildes in vergleichbarer Weise zu einem Motiv der Bildpraxis selbst geworden. Dies gilt insbesondere für die Kunst der Neuzeit. Zu den herausragenden Beispielen, die die strukturelle Gültigkeit des Prinzips verdeutlichen können, gehört die Mailänder Pietà Rondanini von Michelangelo. Sie ist als Verneinung ihrer selbst zu begreifen. Die überschlanke Erscheinung des Leibes Christi und Mariae und die in der Seitensicht linear werdende Linienführung dieser Gruppe, die wie aus einem einzigen Bogen zu bestehen scheint, lässt nicht ohne Grund bereits an abstrakte Skulpturen des 20. Jahrhunderts denken. Der spanische Maler Francisco de Zurbarán hat in seiner Stockholmer Fassung der vera icon das Haptische des Tuches als Trompe-l’Œil simuliert, um im Gegenzug das Antlitz Christi zu einem ephemeren, klagenden, wie aus einer tieferen Raumschicht kommenden und dorthin auch wieder zurückkehrenden Gebilde zu machen (siehe Abb. S. 298). Während der Stoff als Illusion des wirklichen Leinens auftritt, verliert sich das Gesicht Christi wie ein Schatten. Das Bild verneint sich, um sich selbst als vera icon eine desto größere Präsenz zu geben. Als Selbstnegation gelangt das Bild zur großen Form. Auch bei Lucio Fontanas Schlitzbildern (Concetto Spaziale) der 1960er-Jahre geht es um die Bildwerdung des Bildes im Prozess seiner Zerstörung. Der Schnitt durch die Leinwand, der hierin eine Gemein­ samkeit mit mittelalterlichen Lanzenstichbildern aufweist, erzeugt ein unnachahmliches Bild durch die Zurücknahme der Möglichkeit, ein ­solches zu erschaffen. Es war und ist diese Dialektik, die aus dem Zusammenspiel und dem Gegeneinander von Ikonoklasmus, Bildkritik und Formwerdung die Unnachahmlichkeit der europäischen Bildkultur begründet hat. Mit ihrer sich der Negation widersetzenden und damit den Widerspruch in sich hineinnehmenden und austragenden Formenwelt hat sie das Denken in Gegensätzen und Distanzen sichtbar in die Welt gebracht. Das Den Haager Gericht weist auf eine europäische Konfliktgeschichte zurück, aus 310

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der heraus die theologische, begriffliche und künstlerische Umkehrung von Gewalt in Kreativität geleistet wurde.

Literatur Roland BARTHES, La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980. Herbert BECK und Horst BREDEKAMP (Hg.), Kunst um 1400 am Mittelrhein. Ein Teil der Wirklichkeit, Ausstellungskatalog, Frankfurt a. M. 1975. Hans BELTING, Das echte Bild, München 2005. Jörg Jochen BERNS, Von Strittigkeit der Bilder. Texte des deutschen Bilderstreits im 16. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin und Boston 2014. François BŒSPFLUG, Dieu et ses images. Une histoire de l’Éternel dans l’art, Montrouge 2008. Horst BREDEKAMP, Theorie des Bildakts, Berlin 2010. Olivier CHRISTIN, Une révolution symbolique. L’iconoclasme huguenot et la reconstruction catholique, Paris 1991. Georges DIDI-HUBERMAN, Images malgré tout, Paris 2003. Cécile DUPEUX et al. (Hg.), Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille?, Ausstellungs­ katalog, Bern 2000. David FREEDBERG, The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago/London 1989. Beate FRICKE, Ecce fides. Die Statue von Conques, Götzendienst und Bildkultur im Westen, München 2007. Emmanuel FUREIX (Hg.), Iconoclasme et Révolutions de 1789 à nos Jours, Ceyzérieu 2014. Dario GAMBONI, The Destruction of Art: Iconoclasm and Vandalism since the French Revolution, London 1997. Herbert L. KESSLER und Gerhard WOLF (Hg.), Holy Face and the Paradox of Representation, Bologna 1998. Bruno LATOUR und Peter WEIBEL (Hg.), Iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art, Karlsruhe 2002. Eckhard LEUSCHNER und Mark R. HESSLINGER (Hg.), Das Bild Gottes in Judentum, Christentum und Islam. Vom Alten Testament bis zum Karikaturenstreit, Petersberg 2009. Silvia NAEF, Y a-t-il une „question de l’image“ en Islam?, Paris 2004. Louis RĖAU, Histoire du Vandalisme. Les monuments détruits de L’art français, 2 Bde., Paris 1959. Martin WARNKE (Hg.), Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks, München 1973.

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Robert Gildea

Flächenbrand 1968 Der Mai 68 hat sich in ganz Europa wie ein Lauffeuer verbreitet, unter anarchistischem Vorzeichen in Paris, antikommunistischem in Prag, antifaschistischem in Deutschland oder in Italien. Die Forderungen waren nicht dieselben, aber zwei Punkte verbinden die verschiedenen Bewegungen: das jugendliche Alter der Demonstranten und der Wunsch, den Zweiten Weltkrieg hinter sich zu lassen.

August 1968: Truppen des Warschauer Paktes besetzen die ČSSR und beenden den „Prager Frühling“.

Flächenbrand 1968

Die Erinnerungen an die Ereignisse von 1968 sind vielfältig, widersprüchlich und wechselhaft. Wenn auch die Erinnerung an den Pariser Mai 1968 zu dominieren scheint, waren auch andere Ereignisse Gegenstand sofortiger Erinnerungsarbeit, die die Protestbewegungen beschreiben und rechtfertigen sollte: der Tod eines Studenten, Benno Ohnesorgs, der bei einer Demonstration am 2. Juni 1967 den Kugeln der Berliner Polizei zum Opfer fiel, die Schlacht von Valle Giulia zwischen Demonstranten und Polizisten am 1. März 1968 in Rom, die Demonstrationen in Polen im März 1968, der Prager Frühling, der am 20. August 1968 von den russischen Panzern niedergeschlagen wurde. Die Erinnerung an diese Ereignisse wurde von Anfang an infrage gestellt. Konservative Stimmen äußerten sich feindselig gegenüber den aggressiven Debatten an der Universität und der Gewalt auf der Straße, die an vergangene Revolutionen erinnerten. Aber vor allem haben sich die Erinnerungen an 1968 im Lauf der Zeit verändert, hatten Höhen und Tiefen, je nachdem, wie sich das Erbe des Zweiten Weltkriegs, des Kalten Kriegs, der Revolutionen in der Dritten Welt oder der Globalisierung auf sie auswirkte. Da die Erinnerungen an 1968 sowohl lokal wie national begrenzt blieben, haben sie kein europäisches Gedächtnis herausgebildet. Sie wurden durch verschiedene nationale Traditionen geprägt. Die Pariser Barrikaden ordneten sich so in eine lange revolutionäre Tradition ein, die auf die Pariser Kommune von 1871 und die Revolution von 1848 zurückgeht. Die italienischen Protestbewegungen nahmen sich in ihrem Kampf gegen das, was sie als faschistisches Erbe der italienischen Gesellschaft und des italienischen Staates ansahen, die antifaschistischen Organisationen zum Vorbild. In Westdeutschland bezog man sich manchmal auf den kommunistischen Widerstand gegen die Nazis oder die Verschwörung gegen Hitler vom Juli 1944, weil die deutsche Jugend unter der Last der Nazivergangenheit ihrer Eltern litt. So erklärte Gudrun Ensslin – sie hatte mit Andreas Baader die Rote Armee Fraktion mitbegründet – vor dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) nach dem Tod von Ohnesorg: „Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren!“1 In Osteuropa war der Antifaschismus zwar die offizielle Ideologie der kommunistischen Regime, hatte aber für die enttäuschte Jugend seinen Reiz 1 Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 2017, S. 96.

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verloren, da sie ihn als Ausdruck des herrschenden, überholten und verknöcherten stalinistischen Systems ansah. Als Rudi Dutschke, einer der Führer der westdeutschen studentischen Protestbewegung, im April 1968 nach Prag kam, um die frohe Botschaft der marxistischen Revolution zu bringen, stieß er auf das Unverständnis der tschechoslowakischen Aktivisten, für die der Marxismus nur zur kommunistischen Diktatur führen konnte und die die Demokratie und die Konsumgesellschaft, die Dutschke ablehnte, herbeisehnten. Das zersplitterte europäische Gedächtnis von 1968 gewann in einem weiteren, weltweiten Rahmen an Kohärenz. Antikolonialistische und antiimperialistische Bewegungen setzten die Dritte Welt von Kuba und Afrika bis zum kulturrevolutionären China in Aufruhr und lieferten Modelle für eine „Revolution in der Revolution“, die die Politik infrage stellten, die viele der europäischen Extremisten als stalinistisch kritisierten. Riesenporträts von Fidel Castro, Hô Chí Minh, Mao Zedong und vor allem von Ernesto „Che“ Guevara wurden auf den großen Protest­ märschen in Europa vorangetragen, besonders auf der internationalen Demonstration gegen den Vietnamkrieg im Februar 1968 in Berlin. Manche Protestbewegungen der Dritten Welt brauchten länger, um im Gedächtnis von 1968 Platz zu finden, wie etwa die mexikanische, die am Vorabend der Olympischen Spiele im Oktober 1968 durch das Regime brutal unterdrückt wurde. Andere bedeutende Bewegungen wie die USamerikanische Bürgerrechtsbewegung beeinflussten die Kampagne für die Bürgerrechte in Nordirland und die zweite feministische Welle in weiten Teilen Europas, ohne jedoch mit der revolutionären Dynamik der Dritten Welt mithalten zu können.

Zwischen Befreiung und bewaffnetem Kampf Der Einfluss der Revolutionen in der Dritten Welt hatte seinerseits eine Spaltung des Gedächtnisses von 1968 zur Folge. Das Bild des Guerillakampfs rechtfertigte die Anwendung von Gewalt und führte zugleich zu einer tiefen Spaltung zwischen denen, für die 1968 ein politischer Kampf war, und jenen, die darin eine friedliche soziale und kulturelle Revolution sahen. Nach der Repression bei den ersten Demonstrationen 1968 durch die Regierungen spalteten sich die Aktivisten in zwei Gruppen auf: diejenigen, die die sozialen Beziehungen und Lebensweisen 314

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mithilfe der gegenkulturellen Presse, der Wohngemeinschaften und des feministischen, lesbischen und homosexuellen Militantismus verändern wollten, und diejenigen, die sich für den bewaffneten Kampf entschieden. Diese Strömung wurde von der Palästinensischen Befreiungsorganisation beeinflusst und erreichte ihren Tiefpunkt mit den Morden, die in den 1970er-Jahren durch die Rote Armee Fraktion in Deutschland, die italienischen Roten Brigaden und Action directe in Frankreich begangen wurden. Die konservative und auch gemäßigte öffentliche Meinung nutzte dies aus, um 1968 als eine Protestbewegung, die zwangsläufig zu sexuellen Exzessen und zum Terrorismus führe, zu stigmatisieren. Als 1976 der Sieg Nordvietnams den Exodus der Boat People nach sich zog, verlor die Revolution in der Dritten Welt ihre Aura als Befreiungsbewegung und wurde als Brutstätte von Diktatur und Gräueltaten an den Pranger gestellt. Das Ausmaß dieser Kritik beeinflusste auch die politischen Entscheidungen und den weiteren Weg alter Achtundsechziger. Manche Aktivisten jüdischer Herkunft, die vom Massaker der israelischen Athleten durch eine palästinensische Gruppe bei den Olympischen Spielen in München 1972 aufs Höchste schockiert waren, kehrten ihrem Radikalismus den Rücken und engagierten sich für die zionistische Sache. Andere ehemalige Linksradikale verstanden, dass sie in der direkten Auseinandersetzung mit dem Staat nichts erreichen würden, und verlegten sich auf lokale, gewaltfreie und höchst symbolische Aktionen. Ein anderes Gedächtnis konstituierte sich rings um emblematische Kämpfe wie den Streik der Arbeiter von LIP in Besançon 1973, die Aktionen gegen die Atomkraftwerke in Wyhl in Baden-Württemberg und in Gorleben in Niedersachsen, die Aktivitäten der religiösen Gemeinschaft von Isolotto bei Florenz, die antipsychiatrischen Versuche in La Borde in der Nähe von Orléans und in Triest oder auch die Feier einer Avantgardekultur in der Kapelle von Balatonboglár in Ungarn. Manche westliche Marxisten, die für den Prager Frühling nur Verachtung übriggehabt hatten, hatten die marxistischen Losungen bald satt und verfielen dem Charme der neuen antikommunistischen Rhetorik der Menschenrechte, wie sie von den osteuropäischen Dissidenten verkörpert wurde. Diese Tendenz wurde durch die Bewegung der Charta 77 in der Tschechoslowakei und den Streik in Gdańsk 1980, der Geburtsstunde von Solidarność, bestens illustriert. 315

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Der Prozess gegen Mai 68 Die Erinnerung an 1968 durchlief im Lauf der Zeit eine spektakuläre Entwicklung, wobei sie eine dynamische Beziehung mit dem wechselnden Geschick des Kalten Kriegs und anderer internationaler Ereignisse unterhielt. Die Kritik an 1968, Nährboden für Übertreibungen aller Art, nahm in den 1980er-Jahren an Intensität zu. Die Rückkehr des Kalten Kriegs mit der Krise der Pershing-II- und der SS-20-Raketen isolierte die politischen Extremisten. In Wir haben sie so geliebt, die Revolution (1987) interviewte Daniel Cohn-Bendit, der sich fragte, ob er ein „has been“ oder „der letzte Mohikaner“ sei, einige alte militante Genossen in ganz Europa, darunter inzwischen eingesperrte Mitglieder der Roten Brigaden und Joschka Fischer, der schwor, mit der Gewalt Schluss gemacht zu haben. Großsprecherische Erzählungen schildern die Geschichte des Übergangs von 1968 von den „Jahren der Hoffnung“ zu den „Tagen des Zorns“ (Todd Gitlin) oder von den „Jahren der Träume“ zu den „Jahren des Pulvers“ (Hervé Hamon und Patrick Rotman). Man publizierte Untersuchungen, die sich auf die mündlich überlieferten Berichte der „Generation“ stützten, die 1968 aktiv war und ihr Gedächtnis bewahrte. Diese Arbeiten konzentrierten sich auf eine militante Elite wie die Maoisten der Gauche prolétarienne, die nicht unbedingt typisch für die Studentenund Jugendbewegung und die an die Grenzen des politischen Extremismus gestoßen waren. Aktivisten, die ihrer Überzeugung treu geblieben waren, wie Tariq Ali, pakistanischer Herkunft, oder Guy Hocquenghem, Verteidiger der Rechte der Homosexuellen, ließen ihrem Abscheu vor ihren früheren Genossen, die sich an die Parteipolitik oder die Medien „verkauft“ hatten, freien Lauf. Der 20. Jahrestag bot den Medien die Gelegenheit, die 68er-Generation fertigzumachen. Die im französischen Fernsehen im Mai 1988 ausgestrahlte und vom reuigen Maoisten Bernard Kouchner präsentierte Sendung Der Prozess gegen Mai kritisierte den subversiven Einfluss der Universität, die politische Gewalt und den radikalen Feminismus. Das Ende des Kalten Krieges und der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa trugen zusätzlich dazu bei, das Gedächtnis zu spalten. Für die einen führten die Befreiungsbewegungen von 1968 ganz natürlich zu denen von 1989. Gábor Demszky, der liberale Bürgermeister von Budapest, erklärte im Jahr 1990, dass „1968 eine 316

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wirkliche Veränderung gebracht hat, in deren Folge die Welt einen kultivierteren und, glücklicherweise, westlicheren Weg eingeschlagen hat […] Es war das Ende des sowjetischen Systems.“2 Alte Achtundsechziger wie Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer übernahmen die Führung der Grünen in Frankreich und in Deutschland; der Erste wurde 1994 ins Europaparlament gewählt, der Zweite 1998 zum deutschen Außenminister ernannt. Andere hingegen denunzierten die Verbrechen des Kommunismus, um die alten Achtundsechziger, die sie als Lakaien oder nützliche Idioten der kommunistischen Regime präsentierten, umso mehr zu stigmatisieren. Von Dänemark bis Polen, von Ungarn bis zur Tschechischen Republik wurden sie öffentlich angeklagt und aufgefordert, ihre Vergangenheit zu bereuen. Die Dritte Welt wurde zu einem Schauplatz, auf dem frühere Aktivisten eingreifen und 1968 mit dem Kampf gegen den globalisierten Kapitalismus verknüpfen konnten. Zu Beginn des neuen Jahrtausends erschienen zahlreiche persönliche und positiv gehaltene Erzählungen über 1968. Man kann etwa Luisa Passerinis Autoritratto di gruppo (1998), Sheila Rowbothams Promise of a dream (2002) und die posthume Veröffentlichung von Rudi Dutschkes Tagebuch Jeder hat sein Leben ganz zu leben (2003) erwähnen.

Die 68er-Jahre 2008, als der 40. Jahrestag von 1968 näher rückte, versprach Nicolas Sarkozy, „das Erbe von 1968 zu liquidieren“. Aber das Gedächtnis von 1968 wurde wieder einmal neu erfunden. Viele Milieus schrieben es neu – sowohl als Lebensmodell oder moralische Revolution wie auch als politische Revolution. Man sprach nicht mehr von einem Jahr, sondern von den 68er-Jahren als Teil der „langen 1960er-Jahre“. Es konnte sich in dem Bild verkörpern, auf dem Cohn-Bendit im Mai 1968 vor der Sorbonne einen Polizisten anlächelte – mit einem Lächeln, „in dem“, so sagte er, „Freiheit und Vergnügen sich reimen3“. Die Erzählungen der Aktivisten verbanden Selbstzufriedenheit und Bedauern über ihre Misserfolge mit einem positiven Urteil über die Art, wie sie es verstanden 2 Robert Gildea, James Mark und Anette Warring (Hg.), Europe’s 1968. Voices of Revolt, Oxford 2013, S. 286–287. 3 Daniel Cohn-Bendit, Forget 68, Paris 2008, S. 18.

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haben, ihre Erfahrung von 1968 in ihr persönliches und berufliches Leben einzubauen. Sie hatten das Gefühl, trotz aller Missverständnisse und Fehlinterpretationen an einem europäischen Meinungsaustausch teilgenommen zu haben. Die Erinnerung an 1968 hat eine neue Generation junger Leute beeinflusst, die wegen des globalisierten Kapitalismus, der zunehmenden Ungleichheit und der Wirtschaftskrise empört sind und 2011 an der Occupy-Wall-Street-Bewegung und ihren Folgeaktionen überall auf der Welt teilgenommen haben. Jeffrey Weeks, ein alter britischer Achtundsechziger und Kämpfer für die Rechte der Homosexuellen, fasste es 2010 wie folgt zusammen: „Ich habe kein Heimweh nach der Zeit um 1968. Ich denke aber, dass sie uns Möglichkeiten eröffnet hat, die immer noch andauern.“4

Literatur Philippe ARTIÈRES und Michelle ZANCARINI-FOURNEL, 68. Une histoire collective, 1962–1981, Paris 2008. Ingo CORNILS und Sarah WATERS (Hg.), Memories of 1968. International Perspectives, Bern 2010. Philipp GASSERT und Martin KLIMKE (Hg.), Memories and Legacies of a Global Revolt, Washington DC 2009. Robert GILDEA, James MARK und Anette WARRING (Hg.), Europe’s 1968. Voices of Revolt, Oxford 2013. Kristin ROSS, May ‘68 and its Afterlives, Chicago 2002.

4 Robert Gildea, James Mark und Anette Warring (Hg.), op. cit., S. 285.

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1989 – das Ende der Illusionen Schon wurde vorhergesagt, dass das Ende der Geschichte – also das Ende der Konflikte – gekommen sei, da die Zukunft leuchtend aussah und ein Gefühl von Freiheit vorherrschte. Die Zukunft gestaltete sich jedoch anders als erwartet und das Nachkriegseuropa wirkt jetzt gefährdet und seiner Illusionen beraubt.

22. Dezember 1989: Öffnung des Grenzübergangs am Brandenburger Tor. 

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Konnte man den Kollaps des Weltkommunismus voraussehen? Jedenfalls fantasierte man in den frühen Achtzigerjahren in den osteuropäischen Dissidentenküchen oft darüber. Als Produkt dieser Gespräche betrachte ich meinen Aufsatz, den ich im März 1985 für die Westberliner Kulturzeitschrift Kursbuch schrieb: ein annäherndes Szenario der Auflösung des östlichen Bündnisses. Zitat: „Der Warschauer Vertrag wird gekündigt, die in der osteuropäischen Region stationierten sowjetischen Truppen werden mit Militärmusik und Blumen verabschiedet, und die Länder des ehemaligen Ostblocks beginnen mit der Regelung ihrer eigenen Probleme. Durch freie Wahlen, an denen mehrere Parteien teilnehmen dürfen, schaffen sie ihre parlamentarischen Institutionen, sie öffnen die Grenzen und garantieren die Freiheitsrechte, einschließlich eines vernünftig beschrankten Privatbesitzes, alles andere – das McDonalds-Netz, die Arbeitslosigkeit und die Peepshows – kommen von selbst.“ Diesem mutigen Traum fügte ich aber ahnungsvoll zu: „Jedenfalls müssen wir voraussetzen, dass eine solche Veränderung die betroffenen Länder völlig unvorbereitet fände. Paradoxerweise ist nämlich nicht nur das System sowjetischen Typs in diesen Gesellschaften dermaßen unorganisch geblieben, dass es bei Völkern mit schwächeren Nerven nur mit Waffengewalt aufrechterhalten werden konnte, sondern auch demokratisch-pluralistisches Gedankengut hat in diesen Ländern kaum eine Basis.“ Vier Jahre später begann ein faszinierender Prozess: Die Systeme in den kleineren Warschauer-Pakt-Staaten fielen eines nach dem anderen wie Dominosteine, und zwar in der Reihenfolge: Polen, Ungarn, DDR, Bulgarien, ČSSR und Rumänien. Mit einiger Verspätung brachen ähnlich strukturierte Regime in Jugoslawien und der Mongolei zusammen, Schließlich fiel die strengste, längste und von der Außenwelt am dichtesten abgeschirmte Diktatur in Albanien. Vietnam folgte Chinas Beispiel. Unter Beibehaltung der führenden Rolle der Kommunistischen Partei, das heißt des Einparteisystems, wechselte das Land zu einem halbwegs marktwirtschaftlichen Modell um. Michail Gorbatschows Abdankung am Ende Dezember 1991 zeitigte auch den Zerfall der Sowjetunion und die Entstehung von mehr als einem Dutzend unabhängigen Staaten auf deren ehemaligen Gebiet, die sich zumindest verbal für freiheitlich-demokratisch und marktwirtschaftlich erklärten. Heute existieren nur noch zwei klassische Länder des „realen Sozialis320

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mus“. Kuba und die extrem isolierte, mit Atomwaffen ausgerüstete dynastische Despotie von Nordkorea. Diesem Universum gemeinsam war die weltanschauliche Aushöhlung. Der Marxismus-Leninismus als historische Legitimation des Sozialismus von jedwedem Modell war bestenfalls Intimwissen der offiziellen Ideologie und blieb den breiten Schichten der Öffentlichkeit praktisch unbekannt. Hiervon zeugte die Sendung des Budapester Rundfunks von 1985, in der ein Journalist einige Passanten auf dem Karl-Marx-Platz über den Namensgeber dieses zentralen Ortes der ungarischen Hauptstadt befragte. Das Ergebnis der Umfrage machte Furore. Reporter: Wer war Karl Marx? Passant: Ach, fragen Sie mich nicht so was. Reporter: Warum nicht? Passant: Ich habe einfach keine Zeit, um solche Dinge zu studieren. Reporter: Sie müssen doch in der Schule etwas über ihn gehört haben. Passant: Ich habe halt viel gefehlt. Andere Stimme: Er war ein sowjetischer Philosoph, Engels war sein Freund. Weibliche Stimme: Ja, klar, ein Politiker. Und er hat – wie hieß es doch gleich? – Lenin, ach ja, Lenin, also er hat Lenins Werke auf Ungarisch übersetzt. Reporter: Können Sie mir sagen, nach wem der Marx-Platz benannt ist? Weibliche Stimme: Nach Karl Marx. Reporter: Wo hat er gelebt? Weibliche Stimme: Er ist doch tot. Reporter: Wissen Sie, nach wem der Marxplatz benannt ist? Verschiedene Stimmen durcheinander: Nein, wir kommen von Szeged, wir wissen das nicht. Was die eingangs erwähnten fünf Satelliten der UdSSR anbelangt, da hing der Sturz der einzelnen Diktaturen in diesen Ländern eminent mit deren spezieller Beziehung von Moskau ab. Solange das Sowjetsystem als Bremser aller osteuropäischen Reformen auftrat, konnten selbst offene gesamtgesellschaftliche Ausbruchsversuche – der ungarische Volksaufstand 1956, der „Prager Frühling“ 1968 und die Bewegung der polnischen Solidarność –, und sei es auch durch bewaffnete Interven321

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tion, gestoppt werden. Sobald jedoch die Kremlführung mit dem Doppelprogramm Perestroika und Glasnost sowie mit dem „neuen Denken“ in der Außenpolitik selbst tief greifende Veränderungen verkündete, manifestierten sich die bis dahin vorhandenen zentrifugalen Tendenzen bei den Verbündeten, zumal der Moskauer Patron eindeutig auf den personellen Wechsel an der Spitze der Bruderländer hin arbeitete – die Ablösung der alten Garde von János Kádár über Todor Schiwkow bis Erich Honecker war direkt vom Kreml initiiert. Wichtiger war die Tatsache, dass die Sowjetunion aufgrund der eigenen, durch die Nachrüstung mit verursachten wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihre Rohstofflieferungen an die Ostblockstaaten zuerst stufenweise und dann radikal gekürzt hatte und immer weniger bereit war, die Verantwortung für die missglückten Entscheidungen der einzelnen Regierungen mitzutragen. Den Plan des allmählichen Rückzugs aus Osteuropa hat Gorbatschow im vertrauten Kreis bereits im Juli 1986 sogar zum Prinzip erhoben, indem er sich zum Verhältnis der UdSSR zu ihren „Bruderländern“ äußerte: „Im Grunde brauchen wir die Führung über sie gar nicht. Das bedeutet nämlich, dass wir sie uns auf den Hals laden.“

Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch Da die ökonomische Stabilität der einzelnen sozialistischen Staaten bereits in den Siebzigerjahren die ersten Lücken aufwies, begannen sie, die Atmosphäre der Entspannung nutzend, Bankkredite unter Garantie westlicher Regierungen aufzunehmen. Bis zur Mitte der Achtzigerjahre akkumulierten sie einen Schuldenberg von insgesamt 80 Milliarden Dollar. Dabei war nicht die Summe entscheidend – allein Mexiko stand bei den Kreditgebern unvergleichbar höher in der Kreide. Nicht zu meis­tern war eher die Herausforderung, die nach dem Moskauer Modell gestalteten Ökonomien regelmäßig mit sowjetischer Aushilfe zu versorgen, damit sie funktionsfähig bleiben. Die Spitzenreiter der Verschuldung waren Polen und Ungarn, die bereits mit der Tilgung der Zinsen Schwierigkeiten hatten. Etwas besser bestellt war die DDR, die gleichzeitig die Vorteile des zollfreien „deutschen Binnenhandels“ und die sowjetischen Lieferungen genoss. Die SED-Führung benahm sich laut der galligen Bemerkung eines sowjetischen Experten „wie ein zartes 322

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Kälbchen, das intensiv an zwei Muttertieren, an der BRD und der UdSSR, herumsaugt“. Ganz absurd reagierte der rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu auf die ökonomische Misere, indem er, beginnend mit den Achtzigerjahren, die Rückzahlung der bis dahin aufgenommenen elf Milliarden Dollar Westanleihen befahl – eine Wahnsinnidee, die die Lebensgrundlagen der rumänischen Bevölkerung ruinierte. Ebenso wie die wirtschaftlichen und die damit zusammenhängenden sozialen Schwierigkeiten die einzelnen Länder unterschiedlich getroffen haben, differierten auch die Stärke der kommunistischen Machtelite sowie die Haltung der Bevölkerung zu dieser. Von einer krisenreifen Situation können wir am Vorabend der sowjetischen Reformära nur im Fall von Polen reden, wo es dem Regime trotz des 1981 eingeführten Ausnahmezustands misslungen war, die Solidarność und andere oppositionelle Strukturen völlig auszuschalten und zur gleichen Zeit die Produktion anzukurbeln. Für die Lage in Ungarn wäre eher der Begriff „vorkritisch“ zutreffend. Die Autorität der Herrschenden wurde noch von breiten Bevölkerungsschichten nicht angezweifelt, ihre Akzeptanz musste jedoch durch immer neuere Zugeständnisse erkauft werden. So betrachtete János Kádár die Erhöhung des Lebensniveaus als sine qua non des sozialen Friedens, und zwar „jährlich um fünf Prozent“, denn unterhalb dieses Prozentsatzes „merken die Leute keine Besserung“. Außerdem bot man die „kleinen Freiheiten“ wie erleichterten Westtourismus und lockere Zensur für die Künstlerzunft an, weswegen die Volksrepublik als „lustigste Baracke im Lager“ galt. Den Hebel des Konsums benutzte auch die DDR-Führung in ihrer Doktrin der „Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik“ – und machte aus der östlichen Hälfte Deutschland einen für sozialistische Verhältnisse ansehnlichen Wohlstandsstaat. Ähnlich sorgte die Prager Führung um das Wohl der Doppelnation, um sie von der aktiven Politik fernzuhalten. Das Ergebnis löste aber beim letzten Parteichef Miloš Jakeš gemischte Gefühle aus: „Die Leute fressen in sich hinaus, was geht, und verlangen immer mehr. Zur Arbeit haben sie aber immer weniger Lust.“ In Bulgarien und Rumänien lockte das Regime die Gesellschaft in Ermangelung von materiellen Segnungen eher mit Nationalismus, der häufig auf Kosten der nationalen Minderheiten – in Bulgarien waren es die Türken, in Rumänien die Ungarn und die Deutschen – ging. 323

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Die sozialistische Gesellschaft Dementsprechend gestaltete sich der Widerstand gegen die staatliche Willkür. Außer Polen wurde dieser hauptsächlich von kleinen Dissidentengruppen, einzelnen mutigen Systemkritikern und in Einzelfällen auch von reformfreudigen Funktionären getragen. Die latente Unzufriedenheit brach lediglich in extremen Fällen aus – wie etwa im rumänischen Kronstadt im Herbst 1987, als die Arbeiter sich um ihre Lohntüten betrogen fühlten. Solche kurzen Kollisionen breiteten sich jedoch zu keinem landesweiten Protest aus. Eine leichte Erklärung für die Passivität der Ostblockgesellschaften wären die Übermacht des Staates, der mal offene, mal verdeckte Terror der Geheimpolizei und die massenhafte Bespitzelung. Die Ursachen liegen aber vielmehr in einer negativen Zeitillusion. Hunderte Millionen Menschen zwischen Wladiwostok und Plauen lebten in der Annahme, dass die Bedingungen, unter denen ihre Existenz abläuft, mehrere Menschenalter lang, wenn nicht immerwährend wesentlich unverändert bleiben. Einiges kann sich sogar bessern, es gibt plötzlich ein reicheres Sortiment in den Läden, Westfilme in den Kinos, eine Lohnerhöhung in den Fabriken, einen genehmigten Gedichtband – aber alles in demselben uniformierten Rahmen der grauen Unfreiheit. Selbst den Herrschenden erschien ihr eigenes System in derselben Optik, allerdings mit umgekehrten, positiven Vorzeichen. Irgendwann auf den Parteischulen der Fünfzigerjahre lernten sie Marx’ und Engels’ Theorie der sozioökonomischen Formationen auswendig: Auf den Urkommunismus folgte die Sklavenhaltergesellschaft, auf diese der Feudalismus, der wiederum von der Herrschaft des Kapitals abgelöst werden sollte und am Höhepunkt der Weltgeschichte erreicht die Menschheit den Sozialismus und dessen perfekte Variante, die kommunistische Gesellschaft. Alles, was jenseits deren Grenzen lag, galt als eine Welt von gestern, als ein einziger Krisenherd. Die tödliche Ironie der Weltgeschichte wollte, dass Staaten, die sich als das Nonplusultra der ökonomischen Entwicklung betrachteten, nun den angeblich rückständigen Kapitalismus um Überlebenskredite anbettelten. Während das Zukunftsbild des Ostens immer bleicher wurde, verwandelte sich der Westen, vor allem Westeuropa, in den Augen der hinter dem Eisernen Vorhang lebenden Bürger immer mehr zu einer Realutopie. 324

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Der republikanische Moment In dem ursprünglichen Diskurs über die Ereignisse des Jahres 1989 handelte es sich um eine Kette von Revolutionen, die zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems führen sollten. Bezeichnenderweise versahen die Protagonisten den Umsturz vielerorts mit relativierenden Beinamen wie „friedlich“, „samten“, „weich“ oder „singend“ und in der Tat verlief der Prozess in den kleinen Ostblockstaaten bis auf Rumänien blutlos. Hingegen mündete die anfänglich von oben angeordnete sowjetische Perestroika sehr bald in bürgerkriegsähnlichen, hauptsächlich nationalen Konflikten, die das Regime letztendlich zerstört haben, ohne dass sie mit einem zentralen Zusammenstoß zwischen Macht und Gesellschaft charakterisiert werden könnten. Jedenfalls erlebte die Öffentlichkeit in den einzelnen Ländern euphorische Höhepunkte, in denen Hunderttausende direkt Beteiligte ihren ­Willen zur radikalen Änderung verkörpert sahen. So geschah es in Polen nach der Gründung der ersten nichtkommunistischen Regierung, in Ungarn während der Neubestattung von Imre Nagy und seiner Mitstreiter, in der DDR am Tag der Maueröffnung, in Bulgarien während der Großkundgebung vor der Alexander-Newski-Kathedrale, in der Tschechoslowakei während der Protestwoche am Wenzelsplatz und nicht zuletzt in Rumäniens heißen Tagen, als sich der Diktator Ceaușescu am Balkon des ZK-Sitzes direkt mit seinem wütenden Volk konfrontiert sah. Überall sahen sich die kommunistischen Parteien gezwungen, sich von ihrer in Verfassungen verankerten führenden Rolle zu verabschieden, und allgegenwärtig wurden Forderungen nach freien Parlamentswahlen gestellt. Diese von Niccolò Machiavelli als „republikanisches Moment“ bezeichneten Phasen des Machtvakuums dauerten aber nicht sehr lang. Nach und nach übernahmen die miteinander rivalisierenden neuen und alten Eliten die politische Initiative und auf die Romantik der Lyrik des Straßenprotestes folgte die Prosa der Privatisierung, die ursprüngliche Akkumulation des neokapitalistischen Systems mit Massenarmut, Oligarchenwirtschaft und Parteienhass. Vom Gesichtspunkt dieses Prozesses gesehen, erscheinen die Massen des Jahres 1989 eher als Statisten der Historie. Wie bereits angedeutet, klammerten sich die jungen Demokratien, indem sie die Unabhängigkeit von der UdSSR auf ihre Fahne schrieben, hauptsächlich an die europäische Idee. So galt als einer der populärsten 325

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Programpunkte der ungarischen Demokratie der Slogan, das Land sollte „auf den europäischen Zug aufspringen“. Die Erwähnung des Kontinents wurde in der 1988/89 entstehenden zensurfreien Presse geradezu in­flationär. Der Autor Péter Esterházy machte sogar den ironischen Vorschlag, dass jeder, der das Wort „Europa“ in den Mund nimmt, verpflichtet werden sollte, einen Forint in die Staatskasse einzubezahlen, was angesichts der zweistelligen Inflation recht wenig zur Sanierung ungarischer Finanzen beigetragen hätte. Im Grunde handelte es sich um die Hoffnung auf eine rasche Integration in die damals so genannte Europäische Gemeinschaft sowie um die Annahme, dass die Aneignung der politischen und moralischen Werte von Freiheit und Demokratie zugleich eine beschleunigte Transformation nach sich ziehen. Viele ungarische Bürger, sogar Berufspolitiker, hofften darauf, dass die Grenzöffnung für die DDR-Bürger als Gegenleistung die rasche Aufnahme der Republik in die Gemeinschaft freier Völker des Kontinents nach sich ziehen würde. Wie wir wissen, dauerte für Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien allein das Klopfen an der Tür der Europäischen Union 15 beziehungsweise 17 Jahre. Der einzige ehemalige Ostblockstaat, der diese Hürde ohne Weiteres nehmen konnte, war die DDR – allerdings erst nach der Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik. Selbstverständlich wurde mit diesem Zuvorkommen keineswegs der Widerstand der ostdeutschen Bürgerbewegung gegenüber der SED-Herrschaft honoriert, vielmehr ging es um die Lösung der deutschen Frage, die jahrzehntelang die Spaltung des gesamten Erdteils symbolisierte.

Die deutsche Wiedervereinigung Kurz nach Honeckers Ablösung, die eindeutig auf Moskaus Betreiben geschah, trat sein Nachfolger Egon Krenz am 1. November 1989 seinen Vorstellungsbesuch im Kreml an. Dort entwickelte sich zwischen ihm und Gorbatschow anhand der ausgebliebenen Erdöllieferungen ein denkwürdiger Dialog. Krenz: Wir gehen davon aus, dass die DDR ein Kind der Sowjetunion ist, jedoch müssen anständige Leute ihre Vaterschaft anerkennen oder wenigstens dem Kind seinen Vaternamen belassen. (Heiterkeit.) 326

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Gorbatschow: Du musst wissen: Keine ernsthaften politischen Akteure, weder Thatcher noch Mitterand noch Andreotti und Jaruzelski, streben nach Deutschlands Vereinigung. Am wichtigsten für uns ist es jetzt, dieselbe Linie in deutschen Angelegenheiten weiterzuführen, wie wir dies bis heute mit Erfolg getan haben. Was der Sowjetführer wirklich dachte, sagte er für den internen Gebrauch auf der Sitzung des Politbüros: „Ohne Hilfe der Bundesrepublik können wir sie [die DDR] nicht über Wasser halten.“ Es dauerte nur noch eine Woche bis zum Mauerfall, durch den die Existenz des ehemaligen westlichen Vorpostens des Kommunismus infrage gestellt wurde. Am Ende des Januars 1990 redete Gorbatschow im Kreis seiner engsten Mitarbeiter Tacheles: „Nun ist klar, dass die Vereinigung [der beiden deutschen Staaten] unvermeidlich ist, und wir haben kein moralisches Recht, uns ihr zu widersetzen. […] Unsere Gesellschaft wird schmerzhaft auf die Abtrennung der DDR und noch mehr auf deren Verschlucken durch die BRD reagieren. Millionen von Frontsoldaten leben noch unter uns. Das Bewusstsein unserer Gesellschaft wird ein schwieriges Trauma ertragen müssen.“ Was er damals noch nicht einsehen wollte, war die Tatsache, dass der Zerfall des Ostblocks die Vorstufe der Auflösung der Sowjetunion einleiten wird. Schließlich konnte man dieselbe Souveränität, die man Polen, Ungarn, der CˇSSR, Bulgarien und Rumänien soeben gewährt hatte, nicht mehr lange Litauen, Georgien oder der Ukraine verweigern. Zweifelsohne war die Wiedervereinigung der größte Erfolg der Bundesrepublik und Gorbatschow hatte recht mit der Bemerkung, dass sie keineswegs auf allgemeine Begeisterung der europäischen Partner stieß. Nach dem bald darauf folgenden Zerfall des sowjetischen Imperiums ist Deutschland eindeutig zum bestimmenden Faktor auf dem Kontinent geworden. Allerdings verlief der Prozess des „Zusammenwachsens dessen, was zusammengehört“ (Willy Brandt), alles andere als glatt und auch die versprochenen „blühenden Landschaften“ (Helmut Kohl) in den neuen Bundesländern ließen lang auf sich warten. Wichtiger war die Tatsache, dass die Mentalität der ostdeutschen Gesellschaft mehr Ähnlichkeiten mit der der polnischen oder tschechischen als mit der westdeutschen aufwies. Hier unterliefen einige Fehler der westdeutschen Seite. Wir denken vor allem an die mechanische Übertragung der westlichen Parteistruktur auf die ehemalige DDR, was zum Absterben von 327

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zahlreichen demokratischen Parteien führte – bei den freien Wahlen zur Volkskammer kandidierten Dutzende von ihnen. Als einzige spezifische „ostdeutsche“ Partei blieb die nachkommunistische PDS übrig, in der vor allem die Verlierer der Wende ihre Fürsprecher sahen.

Zusammenbrüche In den Ländern, die nicht das Glück hatten, von einem mächtigen und reichen Westteil „verschluckt“ zu werden, nahm die Entwicklung eigene Wege. Vor allem wurde das Erbe des alten Regimes grundverschieden gehandhabt. Während in Deutschland unter dem Druck der noch starken Bürgerbewegung durch die Etablierung der Gauck-Behörde relativ früh der institutionelle Rahmen für die Transparenz in diesem heiklen Thema gebildet wurde, zögerten die anderen Nachwenderegierungen mit der Freigabe der Akten der ehemaligen Staatssicherheitsdienste. In Polen optierten sogar führende ehemalige Dissidenten offen für eine gruba kreska, einen dicken Schlussstrich, und auch in Ungarn gab es Stimmen im demokratischen Lager, die die Vernichtung der Spitzeldossiers forderten. Diese Haltung hing einerseits mit dem friedlichen, konsensmäßigen Charakter der Wende zusammen, andererseits mit der Angst, dass durch die Entlarvung von allzu vielen Zuträgern in den Reihen der Bürgerbewegungen diese selbst kompromittiert werden. Einflussreiche gesellschaftliche Gruppen wie die Kirchen leisteten der Durchleuchtung einen zähen Widerstand. Allerdings erwies sich die Geheimhaltung als undicht – nach und nach sickerten Einzelfälle in die Öffentlichkeit durch, wurden sie teilweise von den Medien kolportiert und teilweise von den einander befehdenden Parteien als Munition gebraucht. Katholische und protestantische Bischöfe, berühmte Filmregisseure und Schriftsteller, Spitzensportler und Regierungschefs konnten jederzeit der Zusammenarbeit mit der kommunistischen Geheimpolizei verdächtigt werden und eine Verifizierung des Verdachts wurde durch die unklare, teilweise chaotische Aktenlage erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Zur gleichen Zeit dienen in allen Nachwenderegierungen ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter der Geheimdienste wie StB (ČSSR), Hauptverwaltung III/III (Ungarn), Darschawna Sigurnost (Bulgarien) oder Securitate (Rumänien). Äußerst schwerwiegend waren die Folgen der osteuropäischen Wende im nationalen Bereich. Die Wiedererringung der Souveränität brachte 328

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nicht nur Dutzende neuer Staatsgrenzen, Währungen und ein Aufblühen der Symbolik, sondern auch weitere Aufspaltungen von Staaten, im Fall der ČSSR friedlich, in Jugoslawien aber in der Form eines brutalen Krieges. Wegen der enormen Unkosten der Transformation und des Tempos der Globalisierung, dem die kleineren Mitgliedstaaten kaum folgen konnten, entstanden Spannungen innerhalb der multinationalen Gesellschaften, die von chauvinistischen Kräften geschickt manipuliert wurden und mancherorts zu blutigen Auseinandersetzungen führten. Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und andere Übel der ostmitteleuropäischen Vorkriegszeit – in der Zeit der Diktatur sorgfältig unter den Teppich gekehrt – kamen nun offen zum Vorschein und richteten sich nach der Ost- und Süderweiterung, besonders während der Weltfinanzkrise, die die meisten ehemaligen Ostblockstaaten besonders schwer getroffen hat, gegen die Union. In der Sprache des Ostpopulismus wird die Rolle von Brüssel mit derjenigen von Moskau anno Leonid Breschnew gleichgesetzt. Europas neue Probleme hängen aber nicht nur mit seinem Engagement im Osten zusammen. Das Umfeld ist seit 1989 insgesamt labiler geworden, Konflikte, die davor unter der Ägide der beiden Supermächte ausgefochten worden waren, drohen immer mehr außer Kontrolle zu geraten, die Kriege (in Afghanistan, Kambodscha, in Irak und zuletzt in Syrien) werden zyklisch und generieren eine Massenflucht, die Europas Solidarität und Aufnahmekapazität auf die Probe stellt. Zentrifugale Tendenzen (Brexit) nehmen zu und Wladimir Putins offensiver Auftritt lässt sich als Fanal eines neuen Kalten Krieges begreifen. Aber zurück zum Jahr 1989 und dessen Rezeption in den ehemaligen Ostblockstaaten. Mit einer gewissen Melancholie müssen wir feststellen, dass ein Vierteljahrhundert seit dem Umschwung genügte, um die Ereignisse von damals zu verdrängen. So paradox es erscheinen mag, aber es ist wahr: Je mehr Informationen in den Neuen Medien über die Einzelheiten der großen Transformation gespeichert werden, desto geringer ist das aktive Wissen über die Zeit. Die Träger der emanzipatorischen Bewegung wie Charta 77 oder die Gewerkschaft Solidarność existieren praktisch nicht mehr, die meisten demokratischen Parteien, die damals ins Parlament einzogen, sind inzwischen aus der Wählergunst gefallen. Die Generation der Protagonisten und Zeitzeugen tritt nach und nach von der Bühne ab. Der Diskurs über die Wende wird immer seltener – und eher auf Fachkreise begrenzt – geführt. Die politischen Eliten beziehen 329

György Dalos

sich nur sporadisch, etwa zu runden Jahrestagen, auf ihre Vorgeschichte, eher zur Legitimierung als zur Rückbesinnung. Und das ist nicht das Schlimmste, was mit dem Erbe von 1989 geschehen kann.

Das Erbe von 1989 Wenn Jarosław Kaczyński, einst in dem oppositionellen „Komitee zur Verteidigung der Gesellschaft“ (KOS) tätig, heute an der Spitze der Partei „Recht und Gerechtigkeit“, Polen zu einem autoritären, kirchlich und nationalistisch indoktrinierten Land machen will, Medienmacht erheischt und Abtreibung verbietet, dann spielt er ebenso mit dem moralischen Kapital der osteuropäischen Befreiungsbewegung wie Viktor Orbán, der einst die libertäre Jugendpartei Fidesz gründete und heute von einer „illiberalen Demokratie“ schwafelt, was praktisch immer mehr auf seine persönliche Macht und den Abbau der freien Institutionen, Errungenschaften des Jahres 1989, hinausläuft. Trotzdem will man hoffen, dass die risikoreichen Anstrengungen der Wendegeneration ein bleibendes historisches Phänomen zutage gefördert haben, das mithelfen kann, wie es György Konrád in den späten Siebzigerjahren wünschte, „die langsame Revolution der Selbstbestimmung“ zu vollenden. Ein Funken von Enttäuschung war bereits in der rosigen Hoffnung enthalten. Wenn Bärbel Bohley, eine der Protagonisten der Wende in der DDR, behauptete: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, erfasste sie damit lediglich den Unterschied zwischen der moralischen Indikation der osteuropäischen Bürgerbewegungen und der politischen Rationalität des westlichen Handels auf der europäischen Front des Kalten Krieges. Selbstverständlich feierte die freie Welt den polnischen Papst, den Elektriker Lech Wałęsa, den tollpatschigen tschechischen Dramatiker Václav Havel und die Bilder von der Grenzöffnung, Mauerfall, Hinrichtung von Despoten, sie pries den in der eigenen Heimat bereits völlig unpopulär gewordenen Vater der Perestroika mit dem Friedensnobelpreis. Im Grunde ging es aber dem Westen darum, die eigene Überlegenheit zu beweisen, und am wenigsten wollte oder konnte man diesen Haufen von bankrotten Ländern ökonomisch und sozial einverleiben – oder poetischer gesagt: integrieren. Vielmehr wurden sie dem freien Spiel der Kräfte überlassen, bei denen jedoch immer mehr die beginnende Globalisierung die Spielregeln diktierte. 330

1989 – das Ende der Illusionen

Anno 1989 merkte man davon höchstens den Ausfall des Goldregens. So versprach Präsident George Bush senior im Sommer des wunderbaren Jahres in seiner Budapester Rede, lediglich mit einer Hilfe von 25 Millionen Dollar der ungarischen Marktwirtschaft unter die Arme zu greifen, und selbst Warschau bot er höchstens 100 Millionen an, wobei der kommunistische Premier Mieczysław Rakowski und der Arbeiterführer Wałęsa unisono von zehn Milliarden Dollar träumten. Selbst mit den Krediten musste man aufpassen, denn, wie ein Bush-Begleiter, der Gouverneur von New Hampshire John H. Sununu, bemerkte, „sonst benehme sich Polen wie ein Kind in einem Süßwarenladen“. In der Tat stellten sich die ihre Diktatur losgewordenen ehemaligen Ostblockstaaten voller infantiler Hoffnungen, die Hand aufhaltend, in die Warteschlange vor ihrer Zukunft. Etwas großzügiger griff die US-Regierung in die Geldbörse, als sie im Dezember 1989 mit 24 000 Soldaten das benachbarte Panama angriff, um den dortigen, mit dem Drogenkartell verbundenen Diktator Manuel Noriega zu stürzen. Der erfolgreiche Kleinkrieg mit mehreren Hunderten von Todesopfern war nur die Ouvertüre einer Reihe militärischer Operationen der allein gebliebenen Supermacht, die nun nichts mehr mit dem früheren, ideologisch begründeten Ost-West-Konflikt zu tun hatten – so der nicht enden wollende Afghanistankrieg und die Invasion in Saddam Husseins Irak. Indirekt, politisch oder finanziell sind aber die USA auch in die aktuellen Nahostkonflikte verwickelt, in denen Gegner völlig neuen Typus wie der Islamische Staat oder andere islamistische Terrorgruppen erscheinen. Hierzu kommt die sich als starke Macht allmählich rehabilitierende Russische Föderation, die vor allem die Europäische Union destabilisierend beeinflussen möchte.

Ein Pyrrhussieg Trotzdem ist Europas Problem, das ausgerechnet mit dem historischen Jahr 1989 zusammenhängt, eine eigene Entität. Mit der Ost- und Süderweiterung entstand eine Koalition von 27 Staaten, deren Mitglieder politisch, ökonomisch, sozial und kulturell kaum unterschiedlicher sein könnten. Während die Globalisierung einerseits die einigende Tendenz verstärkt und die Großstädte von Madrid bis Wrocław zu einer einzigen Plaza macht, löst sie andererseits als Gegenreaktion den Hang zur 331

György Dalos

Nationalstaatlichkeit aus. Es scheint eine neue Spaltung aufzukommen, die den unerwarteten Erfolg des Jahres 1989 für den Westen als einen Pyrrhussieg erscheinen lässt. 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde die neue kontinentale Solidarität durch die Welt­ finanzkrise auf die Probe gestellt und sie wird heute über die weltweite Fluchtbewegung arg beschädigt. Unsere Freiheitshelden von Gdansk, Timişoara, Leipzig oder Prag geraten einer nach dem anderen in Madame Tussauds Panoptikum. Ob das nun, wie Francis Fukuyama meint, wirklich das „Ende der Geschichte“ oder nur, wie ich glaube, erst der Anfang einer höchst unangenehmen, neuen historischen Phase ist, sei dahin­ gestellt. Jedenfalls muss ich als ehemaliger Teilnehmer jener Bewegung, die unmittelbar zur Vorgeschichte des Jahres 1989 gehört, eingestehen, dass wir damals mutiger und freier dachten, als wir sprachen, und heute angstvoller und hoffnungsloser denken, als wir sprechen.

Literatur György DALOS, Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2010. Timothy GARTON ASH, Ein Jahrhundert wird abgewählt, München 1990. Ilko-Sascha KOWALCZUK, Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR, 1985–1989, Berlin 2002. Ilija TROJANOW, Die fingierte Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte, München 2006. Richard WAGNER, Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland, Berlin 1991.

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3. Die Wiege

Ulrike Guérot

Verführt oder entführt? Vom Mythos der Europa auf dem Stier Es ist einer unserer ältesten Mythen: Die junge Nymphe Europa wird unwiderstehlich von einem Stier angezogen – ein Trick des Gottes Zeus –, der sie von Asien nach Westen mitnimmt. Aber war diejenige, die unserem Kontinent seinen Namen gegeben hat, verführt oder aber entführt worden? Eine grundlegende Frage für Europa, die die Nationalstaaten spaltet.

Guido Reni: Der Raub der Europa (um 1632/35).

Ulrike Guérot

Es ist einer der ältesten sagenumwobenen Mythen des Altertums überhaupt, wieder und wieder gezeichnet, gemalt und in Bronze gegossen. Schon Ovid beschreibt den Mythos ausführlich, der fortan jahrtausendelang bis heute rezipiert, adaptiert und ausgeschmückt wird, so, wie die jeweilige historische Zeit die Europa auf dem Stier, ihr Europa – und man darf vermuten: damit sich selbst –, sehen will. Der Mythos ist auch deswegen lebendig geblieben, weil er letztlich uneindeutig bleibt und der komplexe Stoff des Mythos meist in dem einen Bild – eine junge Frau auf einem Stier – verdichtet wird, das sich aber für verschiedene Interpretationen eignet. Geht es wirklich um eine Liebesgeschichte, wie uns Ovid glauben machen will? Oder doch um eine Entführung, Vergewaltigung gar? „Nach der Erzählung des Hefiobus und des Bacchulides wird Europa, wie sie mit Nymphen, gleich der Nora, die Brautblumen pflückt, vom Stierzeus, welcher Safran aus dem Munde haucht, davon getragen, getäuscht wie Nora.“ So beschreibt Friedrich Gottlieb Welcker in seinem Buch Über eine Kretische Kolonie in Theben, die Göttin Europa und ­Kadmos den König von 1824 die Entführung der Europa durch Zeus auf dem Stier. Die Europa wurde also getäuscht, was viele Darstellungen einer glücklich reitenden jungen Frau so nicht unmittelbar zum Ausdruck bringen. Zeus bemühte immerhin den Geruch von Safran, das edelste aller damaligen Gewürze, um sich der Europa nähern zu können, und zwar genau in dem Moment, in dem sie Brautblumen pflückte. Wen sollte sie denn eigentlich heiraten? War es Brautklau durch einen alten, unansehnlichen und vielleicht unappetitlichen Mann, der die Europa einem Jüngling wegstehlen wollte? Hat Zeus Europa, die Tochter des phönizischen Königs Agenor, also verführt oder entführt? Genau entlang dieser feinen Linie verläuft die matriarchale und die patriarchale Deutung des Europa-Mythos: Verführung darf sein, Entführung nicht. Der Mythos symbolisiert mithin Liebesbeziehung und Geschlechterkampf zugleich, der permanent neu austariert werden muss, jenen Moment, in dem eine Verführung in die sexuelle Übergriffigkeit kippen kann, der bis heute in feministischen Magazinen diskutiert wird. Europa und der Stier vertreten darum das Prinzip einer spannungs­ geladenen Affinität, die immer auf neue und widersprüchliche Art alle nur vorstellbaren Grenzziehungen übersteigt und die permanenten 336

Verführt oder entführt? Vom Mythos der Europa auf dem Stier

­ eränderungen unterworfen ist – so wie der Kontinent selbst, der dem V Mythos seinen Namen verdankt: Die Grenzen in Europa haben sich in der Geschichte stets verändert, fast als ob die Lust auf Grenzveränderung das Wesensmerkmal Europas sei. Damit verweist der Mythos auch genau auf das, was Europa auch heute wieder ausmacht: das Ringen Europas mit Nationalstaaten, die ein einheitliches Europa relativieren beziehungsweise infrage stellen. Im Mittelalter wird die königliche Europa als Karte dargestellt: ein üppiger Frauenkörper mit wallendem Kleid, in dem alle damaligen Monarchien und Völker – Germania, Francia, Bulgaria, Scotland, Greca – ihren angestammten, organischen Platz haben. Libidinös formuliert, könnte man sagen: Die Völker schlüpfen unter das Kleid der Europa. Die Europa als Karte, die in der Symbolsprache mit der Donau als paradiesischem Mutterstrom an den Garten Eden erinnert, verströmt Fruchtbarkeit und Geborgenheit. Diese königliche, ja erhabene Darstellung der Europa verschwindet jedoch mit der Entwicklung der frühneuzeitlichen Nationalstaaten zu Beginn des 16./17. Jahrhunderts aus der europäischen Kartografie. Zeitgleich tauchen Darstellungen – zum Beispiel bei Tizian – auf, auf denen die Europa nunmehr ein wabbeliger, verfetteter Körper ist, der, an den Hörnern des Stieres hängend, durch den Sand gezogen wird: Die Vergewaltigung einer grenzenlosen Europa durch den europäischen Nationalstaat hat begonnen. Wann immer der Nationalstaat, der männliche Leviathan, so wie von Thomas Hobbes dargestellt, mächtig, mit Bart und Zepter, übermächtig, gar militärisch wurde, ging es der Europa nicht gut: 1933 malt Max Beckmann die Europa wie einen Verfügungskörper, der einem Sack gleich über dem Rücken des Stieres hängt. The rape of Europe wiederum heißt eine moderne Videoinstallation von 2012, in der die strukturelle Gewalt der europäischen Finanzkrise fast physisch zum Ausdruck kommt. In diesen Momenten erweist sich, was die Mutter der Europa, Telephassa, schon damals befand: Der Stier hat die Europa nicht verdient. Die Antwort der Europa muss Liebesentzug sein. Überwiegt also das Männliche in der Geschichte – festgemacht an Topoi wie Nationalstaat, Krieg, Markt, Macht, Militär –, leidet die Europa. Sie muss dann den Stier enthornen. Wie? Die Europa kann dabei auf andere mythologische Frauengestalten zurückgreifen: Die Amazonen haben sich Stierhodensäcke auf den Kopf gebunden, als sie die thrakische 337

Ulrike Guérot

Armee besiegt haben. Das revolutionäre Bonnet Rouge der französischen Revolution ist eine Nachbildung der sogenannten phrygischen Mütze, die auf diese Stierhodensäcke zurückgeht. Übertragen heißt das: Die Europa muss den Stier kastrieren, um frei zu sein. Anders formuliert: Sie muss dem nationalstaatlichen Leviathan den Schwanz abschneiden. Europa heißt nachnationales Matriarchat!

Literatur Ulrike GUÉROT, Res Publica Europaea. A Citizens-Based Concept to Re-Think Political Integration of Europe, in: Riccardo Fiorentini und Guido Montani (Hg.), The European Union and Supranational Political Economy, London/New York 2015, S. 133–155. Thomas HOBBES, Leviathan, Stuttgart 2012 [1651]. Almut-Barbara RENGER und Roland Alexander ISSLER (Hg.), Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst, Bd. I: Europa – Stier und Sternenkranz. Von der ­Union mit Zeus zum Staatenverbund, Göttingen 2009. Reinhard SPIELER, Max Beckmann 1884–1950. Der Weg zum Mythos, Köln 1994.

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Jonas Grethlein

Am Anfang war das Epische Homer hat die europäische Kultur in vielerlei Hinsicht befruchtet: Seine beiden Erzählungen, die Ilias und die Odyssee, bilden die ­Matrix unserer gesamten Literatur und prägen die Art und Weise, wie Menschen ihre Geschichten erzählen. Achilles, Hektor, Andromache, Odysseus, Penelope begleiten uns durch die Jahrhunderte. Jenseits ihrer Aura reflektieren die homerischen Epen auch die Wandlungen der Weitergabe: Diese Helden sind auf der Suche nach Ruhm – und was ist Ruhm anderes als der Versuch, Spuren in der Erinnerung zu hinterlassen?

Homer, der blinde Seher. Römische Kopie nach griechischem Original des 4. Jh. v. Chr. (Rom, Musei Capitolini).

Jonas Grethlein

Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom war ein wortgewaltiger Verfechter eines festen Lektürekanons. Den homerischen Epen räumte er einen zentralen Platz in der westlichen Kultur ein: „Everyone who now reads and writes in the West, of whatever racial background, sex or ideological camp, is still a son or daughter of Homer.“1 So markant diese Behauptung auch ist, sie erfasst die Strahlkraft der homerischen Epen nicht ganz. Der Einfluss von Ilias und Odyssee ist keineswegs auf den Westen und die Literatur beschränkt; er zeigt sich auch in anderen Traditionen und in einer Vielzahl von Medien. Auch die Metapher, nach der heutige Leser und Autoren Homers Kinder seien, verkennt die Mannigfaltigkeit der Auseinandersetzungen mit dem homerischen Epos. Die nicht wenigen Werke etwa, die Episoden aus der Ilias oder Odyssee umschreiben, würde man passender als homerische Geschwister bezeichnen.

Der rätselhafte Homer Gab es Homer überhaupt und wenn ja, wer war er? Bereits in der Antike rätselte man, wer sich hinter dem Namen Homer verbarg. Viele Städte, darunter Smyrna, Argos, Chios und auch Athen, erhoben den Anspruch, die Mutterstadt des Ilias- und Odyssee-Dichters zu sein. So uneinig man sich auch über sein Leben war – das dokumentieren die verschiedenen antiken Biografien –, so unbestritten war, dass Homer der Dichter schlechthin war, ja, dass die Griechen ihm ihre Kultur und ihre Identität verdankten. Die Spekulationen über Homers Leben halten bis in die Gegenwart an. Zuletzt erregte ein österreichischer Dichter und Literaturwissenschaftler mit der These Aufsehen, Homer sei ein kastrierter Schreiber im assyrischen Staatsdienst gewesen … Seit den alexandrinischen Philologen, die im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. Handschriften der Ilias und Odyssee systematisch miteinander verglichen und kommentierten, ist das homerische Werk Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Nachdem Homers Epen im Mittelalter im Wesentlichen nur durch eine magere lateinische Zusammenfassung, die Ilias Latina, zugänglich waren, gewannen sie im 17. und 18. Jahrhundert durch die zahlreichen Übersetzungen in die modernen 1 Harold Bloom, A Map of Misreading. New York 1975, S. 33.

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Am Anfang war das Epische

europäischen Sprachen an Bedeutung. In der Querelle des anciens et des modernes, dem Streit, ob antike Kunst auch noch in der Gegenwart als Vorbild gelten könne, spielte vor allem die Ilias eine große Rolle. Der deutsche Philologe Friedrich August Wolf eröffnete dann die moderne Homerforschung mit der These, Ilias und Odyssee seien nicht einem Autor, Homer, zuzuschreiben, sondern das Produkt einer langen mündlichen Tradition. Die Diskussion um die Entstehung der beiden Epen hält bis in die Gegenwart an. Immer wieder erreichten wissenschaftliche Debatten um Homer eine breitere Öffentlichkeit. Nicht zuletzt Troja als Erinnerungsort im wört­ lichen Sinn, nämlich als der Ort, den die Achaier unter Agamemnon belagerten, erregte die Gemüter. In den 1870er-Jahren führte der deutsche Großhändler und Archäologe Heinrich Schliemann Ausgrabungen im anatolischen Hisarlık durch und identifizierte die Relikte mit dem homerischen Troja. Die gebildete Öffentlichkeit war begeistert, viele Gelehrte blieben skeptisch. Am Anfang des 21. Jahrhundert gelangten Homer und Troja erneut in die Tagespresse, als der Basler Gräzist Joachim Latacz hethitische Quellen und jüngere Ausgrabungen der trojanischen Unterstadt zum Anlass nahm, die Ilias als Zeugnis eines historischen Konflikts zu studieren. Homers Gedicht, so Latacz, erzähle den Krieg, in dessen Verlauf Troja im 12. Jahrhundert v. Chr. zerstört wurde. So sehr Latacz’ reißerische Behauptung, man sei kurz davor, das „Rätsel“ Trojas zu lösen, die Öffentlichkeit auch bewegte, sie vermochte die Fachwelt nicht zu überzeugen. Im 8. oder 7. Jahrhundert v. Chr. entstanden, reflektiert die Ilias vor allem die gesellschaftliche Welt der frühen Archaik und lässt sich nur schwer mit einem Ereignis aus dem 12. Jahrhundert verbinden. Die Ilias lässt sich ebenso wenig als Geschichtsbuch lesen, wie es vergebliche Mühe ist, die Irrfahrten des Odysseus auf einer Karte des Mittelmeeres einzutragen. An Schliemann lässt sich auch die politische Dimension des Erinnerungsortes Homer erschließen. In Hisarlık machte Schliemann einen umfangreichen Depotfund, mehrere Tausend Objekte, darunter sehr wertvolle Gegenstände aus Gold. Nach einer kurzen Leihgabe an ein Museum in London wurde der sogenannte Schatz des Priamos in Berlin ausgestellt, bis er am Ende des Zweiten Weltkrieges von der Roten Armee nach Russland gebracht wurde. Über Jahrzehnte hinweg galt der Schatz allgemein als verschollen, erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 341

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wurde er wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Seitdem wird kontrovers diskutiert, ob Russland den Schatz als Staatseigentum behalten oder als Kriegsbeute Deutschland restituieren soll. Zuletzt hat auch die Türkei Ansprüche geltend gemacht. Am Schatz des Priamos wird nicht nur deutlich, wie das Gedächtnis der Antike heute noch politisch relevant, sondern auch, dass das in Erinnerungsorten angelegte Kapital konfliktträchtig sein kann.

Die Matrizen der europäischen Kultur Homer beschäftigt nicht nur die Altertumswissenschaften. Auch andere Disziplinen greifen immer wieder auf die Welt und Charaktere des griechischen Heldenepos zurück. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zum Beispiel interpretierten die Odyssee, um die Dialektik der Aufklärung und damit die Kulmination der Aufklärung in der nationalsozialistischen Barbarei zu erklären. Am Beispiel des Odysseus zeige sich, wie der Versuch, Mythen zu überwinden, in neue Abhängigkeiten und schließlich wieder zu Mythologien führe: „Kein Werk […] legt von der Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos beredteres Zeugnis ab als das homerische, der Grundtext der europäischen Zivilisation.“ Odysseus gelinge es zwar, sich gegen primitive Mächte wie Polyphem oder Skylla und Charybdis zu behaupten, aber der Preis dafür sei seine Selbstaufgabe: „Der Listige überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten draußen sich selbst entzaubert. Er eben kann nie das Ganze haben, er muss immer warten können, Geduld haben, verzichten, er darf nicht vom Lotos essen und nicht von den Rindern des heiligen Hyperion, und wenn er durch die Meerenge steuert, muss er den Verlust der Gefährten einkalkulieren, welche Szylla aus dem Schiff reißt.“ Auch in der modernen Literatur sind Ilias und Odyssee ein fester Bezugspunkt. Den Mythos des Trojanischen Krieges greifen so verschiedene Texte wie Jean Giradoux’ Drama La guerre de Troie n’aura pas lieu, das Gedicht Shield of Achilles des Briten W. H. Auden und die Erzählung Kassandra der ostdeutschen Schriftstellerin Christa Wolf auf. Vielleicht noch präsenter als die Ilias und der Zorn des Achill ist das Schicksal des Odysseus. Neben James Joyces Ulysses, mit seiner komplexen Darstellung von Bewusstseinsprozessen einem der zentralen Romane der Moderne, 342

Am Anfang war das Epische

und Nikos Kazantzakis’ Odyssee, einem Epos in 33 333 Versen, stehen zahlreiche andere Werke, denen die Odyssee als eine Folie dient. Die Figur der Penelope etwa taucht immer wieder in feministischen Texten auf, zum Beispiel in Margaret Atwoods Penelopiad (2005). Atwoods Novelle kann als eine Gegendarstellung zur Odyssee verstanden werden; sie verleiht denen eine Stimme, die im Epos stumm bleiben: Die Dienerinnen, die bei Homer als Strafe für ihren Verrat und die Unzucht mit den Freiern umgebracht werden, verteidigen sich bei Atwood als unschuldige Ver­ gewaltigungsopfer. Das Epos Omeros des karibischen Autoren Derek W ­ alcott illustriert, dass Homer nicht nur in der westlichen Tradition aufgerufen wird, sondern auch in Literatur, die sich kritisch mit der europäischen Kolonialgeschichte auseinandersetzt. Der Roman Die Akte H. (1981) des albanischen Schriftstellers Ismael Kadare wiederum zeigt, wie sich auch im kommunistischen Osteuropa Fragen über Freiheit und Ursprung um Homer herum kristallisierten: Zwei irischstämmige Homergelehrte, die an Milman Parry und Albert Lord erinnern, kommen nach Albanien, um die Entstehung von Ilias und Odyssee im Licht lebender mündlicher Traditionen besser verstehen zu können, und stoßen dabei auf die ländliche Welt des Balkans mit seinen schwelenden Nationalitätskonflikten. Die Prominenz homerischer Motive in der modernen Literatur darf uns nicht vergessen lassen, dass Ilias und Odyssee das europäische Erzählen noch in ganz anderer Weise geprägt haben. Die technische Raffinesse der beiden homerischen Epen ist erstaunlich. Obgleich sie sich auf mündliche Traditionen stützen und über Jahrhunderte vor allem im Vortrag zirkulierten, bieten Ilias und Odysseus keineswegs eine einfache lineare Erzählung. Beide Epen konzentrieren sich auf einen kurzen Zeitabschnitt, die Ilias auf 51, die Odyssee auf 41 Tage, blenden aber durch Vor- und Rückverweise einen größeren Handlungszusammenhang ein: die Ilias den gesamten Trojanischen Krieg, die Odyssee alle Abenteuer des Odysseus. Während die Ilias dadurch besticht, dass sie Achills Tod und den Fall Trojas nur andeutet, aber nicht selbst erzählt, berichtet in der Odyssee der Held seine spektakulärsten Abenteuer selbst. Neben direkter Rede und nicht chronologischer Darstellung finden sich bei Homer weitere wichtige Erzähltechniken, etwa Ringkomposition, Spiegelung oder interne Fokalisation, die zuerst direkt von ihm übernommen wurden und dann einen allgemeinen Grundstock des Erzählens in der europäischen Tradition bildeten. 343

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Die Ilias und Odyssee entwickeln zwei Plottypen, die ihren Einfluss, wenn nun auch meist ohne direkten Bezug auf Homer, bis in die Gegenwart ausüben. Der Ilias liegt ein Plot zugrunde, den man tragisch nennen kann: Im Mittelpunkt steht ein Held, der sterben muss und durch sein Schicksal die menschliche Fragilität illustriert. Achill ist der Beste der Achaier sowie der größte Held auf dem Schlachtfeld und doch erlangt er unvergänglichen Ruhm nur um den Preis des vorzeitigen Todes. Wie eine immer dunkler, größer und schwerer werdende Wolke überschattet sein Ende die Ilias. Nicht nur die griechische Tragödie, auch die griechische Geschichtsschreibung übernahm den Plot des scheiternden Helden. Herodot erzählt in seinen Historien Geschichte als die Abfolge von Reichen, die wachsen und schließlich untergehen, bei Thukydides ist die Polis Athen der tragische Held. Auch wenn der Einfluss nur selten direkt ist, lebt der tragische Plot der Ilias in zahlreichen modernen fiktionalen und faktualen Erzählungen, Romanen, Dramen und Historien weiter. Die Odyssee prägt dagegen einen romantischen Plot aus: Der Held zieht aus, muss zahlreiche Prüfungen bestehen und kehrt am Ende glücklich zurück. Die Komödien des Menander perfektionieren die teleologische Plotgestaltung der Odyssee. Alle Elemente der Handlung greifen wie Zahnrädchen ineinander und bewirken, dass am Ende ein scheinbar unüberwindbares Problem gelöst wird. Der Einfluss von Menander und anderen Vertretern der Neuen Komödie auf den griechischen Roman ist schwer zu überschätzen. Aber wie die vielen Anspielungen belegen, hat die Odyssee auch unmittelbar auf die Gattung des Romans eingewirkt, die sich erst in der Kaiserzeit entwickelt zu haben scheint. Die Trennung und abschließende Vereinigung von Odysseus und Penelope ist zum Modell für die Romanhandlung geworden, in der ein junges Paar auseinandergerissen und erst nach zahlreichen Abenteuern wieder vereint wird. Mit seinen schematischen Charakteren mag uns der griechische Roman fremd sein und doch speist sich aus ihm der frühneuzeitliche Roman. Vor allem die Aithiopika des Heliodor wurden im 16. und 17. Jahrhundert in die modernen europäischen Sprachen übersetzt und dienten vielen Romanen wie dem Persiles des Miguel de Cervantes als Vorlage. Heute findet sich der romantische Plot, den die Odyssee entwickelte, in unzähligen Werken der Unterhaltungsliteratur. Die Wirkmacht von Ilias und Odyssee als Erinnerungsorten liegt nicht nur in der Rezeption ihrer Motive, sondern auch in ihrer Erzähltechnik begründet: Homer, 344

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so können wir sagen, hat der europäischen Literatur zwei grundlegende Plotformen vermacht. Der Einfluss Homers ist keineswegs auf die Literatur beschränkt, er ist auch in der bildlichen Kunst unübersehbar. Drei recht unterschiedliche Werke mögen die Breite der Homerrezeption in der neuzeitlichen Malerei verdeutlichen: Auf Peter Paul Rubens’ Odysseus und Nausikaa auf der Insel der Phaiaken sehen wir Odysseus, der nackt aus dem Gestrüpp steigt, und Nausikaa, die sich ihm zuwendet, während ihre Gespielinnen sich zu verstecken versuchen. Der noch teils düstere Himmel kündet von dem Sturm, dessen Opfer Odysseus geworden ist. In ganz anderer Form begegnet uns Homer bei Cy Twombly. Die zehn Bilder Fifty Days at Iliam stellen den Trojanischen Krieg weitgehend ungegenständlich, dafür mit hoher Expressivität und durch die eingetragenen Namen homerischer Helden unmissverständlich dar. Romare Bearden schließlich verschmolz in Collagen den antiken Mythos mit der afroamerikanischen Tradition: Bei ihm sehen die Charaktere der Odyssee wie afrikanische Stammesmitglieder aus, der Hintergrund erinnert an Landschaften in Afrika. Der Reiz seiner Collagen besteht nicht zuletzt in der Verfremdung, die einen ­zentralen europäischen Erinnerungsort nach Afrika projiziert. Auch im Film gehören die homerischen Epen zum festen Sujetbestand. Der deutsche Regisseur Wolfgang Petersen machte 2004 den Trojanischen Krieg zu einem Hollywood-Kassenschlager. In Troy spielt Brad Pitt Achilles, Orlando Bloom Paris und Diane Kruger Helena. Achills Tod und der Fall Trojas sind anders als bei Homer Teil der Handlung, dafür fehlt der homerische Götterapparat völlig. Während Petersens Film das heroische Genre bedient, nutzten die Coen-Brüder die Odyssee als zentralen Bezugspunkt für eine Komödie: O Brother where are thou ist, wie der Untertitel sagt, eine Mississippi-Odyssee und zeigt den Sträfling Everett McGill und seine Kumpanen auf der Flucht aus dem Gefängnis. Viele ihrer Abenteuer wie die Begegnung mit einem einäugigen Bibelverkäufer transformieren in satirischer Weise homerische Motive, bevor Everett schließlich zu seiner Frau, die passenderweise Penny heißt, zurückkehren kann. Ernst ist dagegen der Film Ulysses’ Gaze, der 1995 den Großen Preis der Jury bei Cannes gewann. Der griechische Regisseur Theo An­gelopoulos zeigt eine zeitgenössische Odyssee durch den krisengeschüttelten Balkan, in dem nur noch die Melancholie an eine größere Vergangenheit erinnert. Viele andere Filme oder auch Computerspiele, 345

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etwa Battle for Troy (2004), könnten genannt werden, aber bereits Troy, O Brother Where are thou und Ulysses’ Gaze veranschaulichen neben der Prominenz des Erinnerungsortes „Homer“ auch die Vielfalt der Auseinandersetzungen mit ihm. Sowohl künstlerisch ambitionierte als auch auf ein Massenpublikum abzielende Unterhaltungsfilme bedienen sich homerischer Sujets. Derselbe Stoff wird in den Dienst der Satire gestellt oder aber für eine tiefgründige Meditation über die gegenwärtige Lage Europas genutzt.

Homer als Horizont des Denkens Das Potenzial der homerischen Epen, das Denken über die europäische Gegenwart anzuregen, soll an dieser Stelle noch weiter ausgeführt werden. Eine Reihe von Gedichten junger Briten, die im Ersten Weltkrieg als Soldaten dienten, nehmen Anleihen bei Homer. Sie bezeugen, dass das epische Ideal des Ruhmes und schönen Todes vor allem die Zöglinge der public schools in die von Giftgas verseuchten Gräben der Front begleitete. Eine diametral entgegengesetzte Deutung Homers findet sich in Simone Weils 1939 verfasstem Essay L’Iliade ou Le poème de la force. Mit zahlreichen Zitaten aus der Ilias unterfüttert die französische Philosophin die These, Homer demonstriere wie kein Zweiter die verheerende Wirkung der Gewalt (force) sowohl auf die Täter als auch die Opfer: „Das Elend des Menschen wurde noch nie mit so viel Bitterkeit zum Ausdruck gebracht, was ihn sogar unfähig macht, sein Elend zu fühlen“ (§ 22). Weil nutzt die Ilias, mit der junge Soldaten den Krieg in leuchtenden Farben verherrlichten, um die Schrecken des Krieges als Abgrund der Zivilisation zu begreifen. Das Werk des Italieners Primo Levis illustriert, dass man die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch im Horizont der Odyssee zu begreifen versuchte. Von Beruf aus Chemiker, verfasste Levi nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Berichten, Erzählungen und Essays, die seine Erlebnisse als Häftling in Auschwitz reflektieren. Neben Dante Alighieris Divina Commedia taucht die Odyssee immer wieder in Levis Texten auf, vor allem in Se questo è un uomo (1947), La tregua (1963) und Se non ora, quando? (1982). Odysseus verkörpert für Levi das humanistische Prinzip: Auch wenn er in seiner Existenz bedroht wird, verliert er seine Würde nicht und kann sich am Ende behaupten. Ihm stehen die „Muselmänner“ gegenüber, die, ihrer Subjektivität und Menschlichkeit beraubt, 346

Am Anfang war das Epische

schattengleich im Lager hocken. Zugleich dient Odysseus, der am Hof der Phaiaken seine Abenteuer selbst erzählt und damit verarbeitet, auch als Modell für Primo Levi, der in seinen autobiografischen Erzählungen seine traumatischen Erfahrungen zu bewältigen versucht. Homers anhaltende Präsenz im kulturellen Gedächtnis Europas belegen zahlreiche Zeitungsartikel und Fernsehdokumentationen, die die seit 2015 stark angewachsene Flucht von Menschen vor allem aus dem Nahen Osten und Afrika als „Odyssee“ bezeichnen. Auch eine Ausstellung im Palau Robert in Barcelona zu Beginn des Jahres 2016 trug den Titel „Refugiats, l’Odissea cap a Europa“. In vielen Fällen mag der Begriff „Odyssee“ ohne Bezug zu Homer gebraucht werden. Aber in ebendiesem Gebrauch wird sinnfällig, wie fest verankert Homer im kulturellen Gedächtnis ist: so fest, dass sich der Titel eines seiner beiden Epen als Synonym für abenteuerliche und entbehrungsreiche Reisen etabliert hat und dies im Vokabular vieler europäischer Sprachen: „Odyssee“, „Odyssée“, „Odyssey“, „Odissea“, „Odisea“, „Odisseia“ … Wie jedoch eine tote Metapher wieder lebendig werden kann, so kann auch der homerische Ursprung im Begriff der Odyssee reaktiviert werden. Dies belegt das Buch des britischen Journalisten Patrick Kingsley The New Odyssee. The Story of Europe’s Refugee Crisis (2016), das die Flüchtlingskrise am Beispiel des Schicksals des Syrers Hashem al-Souki schildert. Dem Buch ist als Epigraf ein Zitat aus der Odyssee vorangestellt: „If any god has marked me out again / for shipwreck, my tough heart can undergo it. / What hardship have I not long since endured / at sea, in battle! Let the trial come.“ Die homerische Folie gibt den Flüchtlingen Würde, ja einen heroischen Status, und nicht zuletzt einen Platz in Europa. Wie dieser kurze Überblick zeigt, erstreckt sich die Rezeption Homers über ganz Europa und über Europa hinaus, sie findet in verschiedenen Medien statt und ist facettenreich, bisweilen widersprüchlich. Mit der Ilias hat man den Krieg verherrlicht und zugleich als äußerste Bedrohung der Zivilisation erkannt. Während Adorno und Horkheimer in Odysseus das Sinnbild der Dialektik der Aufklärung erblicken, die in der Barbarei des Nationalsozialismus kulminiert, macht ihn Levi zu einem Modell dafür, wie er den Schrecken des Konzentrationslagers trotzen könne. Als Erinnerungsorte bilden die Ilias und die Odyssee einen Horizont, in dem europäische Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle immer wieder ihre eigenen Erfahrungen betrachtet haben. Vor dem Hintergrund 347

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der homerischen Epen gewinnt die gegenwärtige Geschichte an Schärfe, vom Ersten Weltkrieg über Auschwitz bis zur Flüchtlingskrise.

Hektor und Andromache: die mythischen Abschiede Nach dem Streifzug durch die Rezeptionsgeschichte von Ilias und Odyssee wollen wir nun ein homerisches Motiv, die Begegnung von Hektor und Andromache in der Ilias, in den Blick nehmen. Auch hier kann keine Vollständigkeit angestrebt werden, dafür sollen die ausgewählten Beispiele die Präsenz des homerischen Erinnerungsortes verdeutlichen, der über Ländergrenzen hinweg – in verschiedenen Medien – aus immer wieder neuen Perspektiven erschlossen wird. In der zweiten Hälfte des sechsten Buchs der Ilias erzählt Homer, wie Hektor nach Troja geht, während der Kampf vor den Toren der Stadt weitertobt. Er sucht Paris auf und hält an, für das Wohl ihrer Männer zu Athena zu beten. Den Höhepunkt der Szene bildet der Dialog mit seiner Frau, der Hektor, schon wieder auf dem Weg zurück in die Schlacht, bei den Skaischen Toren begegnet. Andromache, den gemeinsamen Sohn Astyanax auf dem Arm, appelliert an Hektor, sein Leben nicht zu riskieren und bei ihr in der Stadt zu bleiben. Hektor weist dieses Ansinnen zurück. Auf dem Schlachtfeld drohe in der Tat der Tod, aber als Held könne er sich dem Kampf nicht verweigern. Als er seinen Sohn in den Arm nehmen möchte, erschrickt dieser und fängt an, zu schreien. Hektor weist schließlich seine Frau an, sich um die Heimarbeit zu kümmern, und geht selbst in die Schlacht, denn „Krieg ist Sache der Männer“. Er wird nicht, wie Andromache befürchtet, fallen – noch nicht. Wenn er später von Achill umgebracht wird, ahnt Andromache nichts: Während Griechen und Trojaner den Leichnam umringen, bereitet sie ihrem Mann ein Bad vor. Bereits in der Antike zog der Abschied Hektors von Andromache Aufmerksamkeit auf sich. Sophokles ahmt die Episode im Ajax nach, wenn der Titelheld auf die Sklavin Tekmessa mit ihrem gemeinsamen Sohn Eurysakes trifft. Das epische Echo verleiht einem im zeitgenössischen Athen aktuellen Problem, nämlich dem Status illegitimer Kinder, Gewicht und Bedeutung. In einem ganz anderen Kontext evoziert Aristophanes die Szene, wenn er Lysistrate sagen lässt, ihr Mann zitiere Hektors „Krieg ist die Sache der Männer“, aber jetzt sei Schluss damit: „Krieg wird die Sache der Frauen sein!“ Während sich Sophokles auf den Auftritt des 348

Am Anfang war das Epische

Kindes konzentriert, richtet Aristophanes den Fokus auf das Geschlechterverhältnis, das sich in der homerischen Szene abzeichnet. In beiden Fällen dient die heroische Szene als Horizont, in dem Fragen der Gegenwart verhandelt werden. Auch in der antiken Malerei hat sich der Abschied von Hektor und Andromache niedergeschlagen. Es gibt in der Vasenmalerei nur wenige Darstellungen des Kriegerabschiedes, die wir durch Namensinschriften mit Sicherheit als die homerische Szene identifizieren können, aber dafür scheint das Motiv in der römischen Malerei beliebt gewesen zu sein. Plutarch berichtet, wie Brutus’ Frau Porcia beim Anblick eines solchen Gemäldes in Tränen ausbrach, als ihr Mann im Begriff war, Italien zu verlassen (Plutarch, Brutus, 994 D–E). In der Klage der Andromache spiegelt sich ihr Abschiedsschmerz wider. Uns sind auch zwei Fresken erhalten, die Hektors Verabschiedung von Frau und Kind zeigen, eines in der pompejanischen Casa del Criptoportico, das andere in Rom in der Domus Aurea. Einen zentralen Aspekt des modernen Interesses am 6. Buch der Ilias benennt Alexander Pope (1688–1744), wenn er Homer dafür preist, dem Zuschauer nicht nur Bewunderung und Schrecken einzuflößen, sondern auch sein Herz mit Zärtlichkeit berühren zu können: „In the present Episode of the Parting of Hector and Andromache, he has assembled all that Love, Grief, and Compassion could inspire.“2 In Friedrich Schillers Gedicht Hektors Abschied erwidert der trojanische Held auf die Klagen seiner Frau voller Pathos: „All mein Sehnen will ich, all mein Denken / In der Lethe stillen Strom versenken, / Aber meine Liebe nicht.“ Das Gedicht findet sich zuerst im zweiten Akt der Räuber; hier stimmt es Amalia an, die ihren Geliebten Karl Moor für tot hält. Schiller, der das Gedicht mehrfach überarbeitete, hielt es für eines seiner besten. Auch nach Schiller faszinierte das Motiv so verschiedene Dichter wie den Russen Ossip Mandelstam, Carol Ann Duffy, seit 2009 die Hofdichterin der Queen, und Michael Longley, der den Abschied in den Kontext des Nordirland-Konflikts projiziert. Noch prominenter als in der Dichtung ist der Abschied Hektors von Andromache in der modernen Malerei. Die Spannung zwischen Emotion und Kontrolle scheint das Motiv für die Ästhetik des Klassizismus beson2 Alexander Pope, The Poems, vol. 9: The Odyssey of Homer. Books I–XII, hg. von Maynard Mack. London 1967, S. 349.

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ders anregend gemacht zu haben. Als im Jahr 1800 die Weimarer Kunstfreunde Hektors Abschied neben Rhesos’ Tod als Thema für die Preis­ aufgabe wählten, betonte Schiller in seiner Rezension die Affinität der deutschen Sentimentalität zu diesem Motiv. Es scheint, dass man Hektors Abschied mit dem deutschen Klassizismus und seiner Vorliebe für Gefühle, den Tod des Rhesos mit der dramatischen französischen Tradition verband. Aber vergessen wir nicht, dass Jacques-Louis David, der sich den Weg in die Akademie mit dem Gemälde La douleur d’Andromaque ebnete, später auch Hektors Abschied zeichnete (1812). Das Motiv erfreute sich im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts allgemein großer Beliebtheit: In Frankreich malten neben David auch andere Künstler, etwa Joseph-Marie Vien, das Motiv, in Italien Pompeo Batoni, in Amerika Benjamin West und in Deutschland Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Besonders bemerkenswert ist das Gemälde Ettore e Andromaca, das Giorgio de Chirico im Herbst 1917 in Ferrara schuf. Zwei Gliederpuppen stehen zwischen zwei roten Kulissenwänden und vor Holzgerüsten, die sie zu stützen scheinen. Während der Körper der Frau dem frontal stehenden Mann zugewandt ist, neigt sich der Kopf des Mannes dem leicht in den Nacken gelegten Kopf der Frau entgegen. Dabei wirft der Kopf der Frau einen Schatten, der den Hals und einen Teil des Gesichts des Mannes bedeckt. Die kleinen Füße verstärken zusätzlich die delikate Balance, in der die beiden Figuren aufeinander bezogen sind. In dieser Balance sind die Zärtlichkeit und Fragilität begründet, die den Figuren immer wieder zugeschrieben wird. Durch die Abstraktion und die Gesichtslosigkeit der Figuren wirkt die Szene zeitlos, aber sie hatte, als de Chirico sie malte, eine große Aktualität. Italien geriet militärisch zunehmend unter Druck und mobilisierte mehr und mehr Truppen. Die einberufenen Männer ließen sich oft, bevor sie einrücken mussten, noch in einem Fotostudio mit ihrer Frau oder Braut porträtieren. Von de Chirico in die enigmatische Welt seiner pittura metafisica entrückt, hat das bereits auf antiken Vasen so beliebte Motiv des Kriegerabschieds zugleich einen drängenden lebensweltlichen Bezug. Es überrascht nicht, dass Ettore e Andromaca zu den Gemälden zählt, die Andy Warhol in seinen Siebdrucken vervielfältigte. De Chirico zählte zu Warhols Idolen, nicht zuletzt seine idiosynkratischen Schatten beeindruckten Warhol sehr. Das Motiv von Ettore e Andromaca hatte de Chirico selbst nach 1917 immer wieder in Gemälden und Skulpturen aufgegriffen. 350

Am Anfang war das Epische

Warhol konnte also die Bewegung des Künstlers fortsetzen und seine Bilder in eine bereits bestehende Reihe von Kopien einreihen. Der Siebdruck hebt das Ikonenhafte des Motivs heraus und entkleidet es des spezifischen Kontexts, in dem es bei de Chirico ursprünglich stand. Die Reflexion über Original und Kopie wurde vom New Yorker Künstler Mike Bidlo fortgesetzt, der 1989 und 1990 mehrere Bilder von de Chirico, darunter auch Ettore e Andromaca, so exakt wie möglich kopierte und unter dem Titel Not de Chirico ausstellte. Ettore e Andromaca ist nicht das einzige Bild de Chiricos, das Warhol und Bidlo kopierten, und de Chirico nicht der einzige Künstler, dessen Werk kopiert und zum Gegenstand einer Reflexion über den Status von Kunst wurde, aber das Motiv des Abschieds, der mögliche Verlust des geliebten Menschen, gibt dem Nachdenken über Prä- und Absenz, Aura und Reproduktion eine besondere Schärfe.

Die Erinnerung im Epos, das Epos als Erinnerungsort Sowohl der kursorische Durchgang durch die Homerrezeption als auch der Blick auf die Adaptionen der Hektor-Andromache-Szene haben demonstriert, dass Ilias und Odyssee ein fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses in Europa sind. Nun spielt Erinnerung bereits im Epos eine nicht unbeachtliche Rolle, ja das Epos reflektiert selbst seine erinnerungsstiftende Funktion. Die Heroen haben ein starkes Interesse an Erinnerung, sie blicken nicht nur immer wieder in die Vergangenheit zurück, oft um gegenwärtige Ansprüche zu legitimieren, sondern sie sind vor allem auch von der Erinnerung besessen, die sie selbst einmal hinterlassen werden. Ruhm, kleos im Griechischen, ist gerade in der Ilias ein, wenn nicht der zentrale Beweggrund für die Helden. Der bereits erwähnte Hektor ist ein gutes Beispiel für die Sorge der Helden um ihr Andenken. Als Hektor eine Herausforderung zum Duell an die griechischen Helden richtet, spekuliert er siegesgewiß (7.84–90): „Den Leichnam aber gebe ich zurück zu den gutverdeckten Schiffen, / Daß ihn bestatten mögen die am Haupte langgehaarten Achaier / Und ihm ein Mal aufschütten am breiten Hellespontos. / Und einst wird einer sprechen noch von den spätgeborenen Menschen, / Fahrend im Schiff, dem vielrudrigen, über das weinfarbene Meer: ‚Das ist das Mal eines Mannes, der vor Zeiten gestorben, / Den einst, als er sich hervortat, erschlug der strahlende Hektor.‘ / So wird einst einer sprechen, und dieser mein Ruhm wird 351

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nie vergehen.“ Während die Ausdrücke „einst“, „einer von den spätgeborenen Menschen“ und „wird nie vergehen“ die zeitliche Erstreckung des Ruhmes betonen, versinnbildlicht das Schiff seine räumliche Zirkulation. Hektors Besessenheit mit seinem Ruhm kommt dadurch zum Ausdruck, dass er die Funktion des Grabmals umdreht: Grabmäler erinnern an den Bestatteten, in Hektors Fantasie wird das Grabmal seines Gegners jedoch zum Zeugnis seines eigenen Ruhmes. An anderen Stellen wird deutlich, dass das Epos selbst das Medium ist, das den Ruhm der Helden bewahrt. Am Hof der Phaiaken stellt sich Odysseus mit den folgenden Worten vor (9.19–20): „Ich bin Odysseus, des Laertes Sohn, der ich mit allfältigen Listen die Menschen beschäftige, und es reicht die Kunde [kleos] von mir bis zum Himmel.“ Zwar kann Odysseus den Phaiaken nur einen Teil seiner Abenteuer erzählen und hat noch eine Reihe von Prüfungen vor sich, aber trotzdem lässt Homer ihn die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Epos lenken. Es ist die Odyssee, die den kleos des Odysseus bis zum Himmel trägt. Nicht weniger reflexiv ist die Weissagung der Thetis, die Achill in der Ilias wiedergibt (9.412–6): „Wenn ich hierbleibe und kämpfe um die Stadt der Troer, / Ist mir verloren die Heimkehr, doch wird unvergänglich der Ruhm sein. / Wenn ich aber nach Hause gelange ins väterliche Land, / Ist mir verloren der gute Ruhm, doch wird mir lange das Leben / Dauern und mich nicht schnell das Ziel des Todes erreichen.“ Achill wählt die erste Alternative: Er bleibt in Troja und erwirbt sich mit seiner mors immatura unvergänglichen Ruhm. Bereits antike Kommentatoren bemerkten, dass die Ilias dieser Ruhm ist. Ebenso wie die Vorstellung des Odysseus ist Achills Rede doppelbödig. Ohne die Kohärenz der erzählten Welt aufzuheben, legt Homer seinen beiden Helden Worte in den Mund, die sich auf sein Werk beziehen. Homer beleuchtet die Erinnerung, die sein Werk zu stiften vermag, auch indirekt, indem er die Grenzen anderer kommemorativer Medien betont. Die Griechen bauen vor Troja einen Wall, der so gewaltig ist, dass der Ruhm (kleos) der Mauern, die einst Poseidon und Apollon bauten, zu vergehen droht. Aber eine Flut hat den Wall der Griechen zerstört, anders als die Ilias kann er nicht mehr vom Trojanischen Krieg künden. Wenn Nestor den Kurs des Wagenrennens beschreibt, ist er sich unsicher, ob das Wendezeichen ursprünglich ein Wendezeichen oder aber ein Grabmal war. Hier zeigt sich, dass, anders als Hektor hofft, Denkmäler keine 352

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dauernde Erinnerung stiften können. Die Unzulänglichkeit materieller Erinnerungsträger hebt die Unvergänglichkeit des Ruhms hervor, den das mündlich vorgetragene Epos konserviert. Wir können also sehen, dass das homerische Epos nicht nur in Europas Geschichte zu einem herausragenden Erinnerungsort geworden ist, sondern auch selbst seine kommemorative Funktion thematisiert. Die Reflexionen des Epos decken sich aber nicht ganz mit den Funktionen, die es im kulturellen Gedächtnis erfüllt. Die Ilias und Odyssee verkünden in der Tat auch heute noch das Heldentum von Achill, Odysseus und Hektor; sie sind jedoch mehr als lediglich ein Medium des Ruhms dieser Helden. Wie die besprochenen Adaptionen und Rezeptionen Homers demonstrieren, haben Künstler und Schriftsteller in vielfältiger Weise, immer wieder neu und anders, auf Ilias und Odyssee zurückgegriffen. Die Epen erscheinen nicht nur im Licht der jeweiligen Gegenwart, sie lassen diese Gegenwart, um ein bereits gebrauchtes Bild noch einmal zu bemühen, auch in einem Prisma neu aufleuchten. Homer ist ein lebendiger Erinnerungsort. Durch seine Auseinandersetzung mit Kontingenz und Fragilität, aber auch mit dem, was durch Kraft und List erreicht werden kann, durch seine facettenreiche Schilderung der condicio humana regt er zum Nachdenken über das menschliche Leben an.

Literatur Barbara GRAZIOSI und Emily GREENWOOD (Hg.), Homer in the Twentieth Century. Between World Literature and the Western Canon, Oxford 2007. Jonas GRETHLEIN, Memory and Material Objects in the Iliad and the Odyssey, in: JHS Nr. 128, 2008, S. 27–51. Edith HALL, The Return of Ulysses. A Cultural History of Homer’s Odyssey, Baltimore 2008. François HARTOG, Mémoire d’Ulysse. Récits sur la frontière en Grèce ancienne, Paris 1996. Max HORKHEIMER und Theordor W. ADORNO, Die Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969 [1947]. Patrick KINGSLEY, The New Odyssey. The Story of Europe’s Refugee Crisis, London 2016. Christoph ULF (Hg.), Der neue Streit um Troia. Eine Bilanz, München 2003. Elizabeth VANDIVER, Stand in the Trench, Achilles. Classical Receptions in British P ­ oetry of the Great War, Oxford 2010. Simone WEIL, L’Iliade ou le poème de la force, Paris 2014 [1940–1941].

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Du sollst keine anderen Götter neben mir haben Das Christentum ist außerhalb von Europa, das heißt in Jerusalem, entstanden, aber sein vorrangiges Expansionsgebiet war dann Europa, und zwar so sehr, dass Christentum und Europa mehr als ein Jahrtausend lang ein und dasselbe zu sein schienen. Dabei ist das „christliche Europa“ alles andere als einheitlich, und zwar nicht nur aufgrund der zahlreichen Schismen und Häresien, die es gespalten haben, sondern auch aufgrund der Vielfalt der es kennzeichnenden Kulturen und Interessen. Doch ein Prinzip wird auf dem Kontinent mit den zwei anderen Religionen auch außereuropäischen Ursprungs geteilt, die das euro­ päische Erbe geprägt haben, mit dem Judentum und dem Islam: der Glaube an den einen Gott.

Das Auge der Vorsehung, Symbol der Allgegenwart Gottes. Zeichnung von Daniel Chodowiecki aus dem Jahr 1787.

Du sollst keine anderen Götter neben mir haben

Mehr als ein Jahrtausend hindurch schienen Europa und Christentum deckungsgleich zu sein. Auch heute ist dies für viele in Europa wie anderswo noch immer der Fall. Als jedoch in den Jahren nach 2000 der Europäische Konvent unter dem Vorsitz von Valéry Giscard d’Estaing, der das Projekt einer europäischen Verfassung ausarbeiten sollte, daran ging, die Präambel zu formulieren, konnte er sich nicht über den Platz einigen, den das christliche Erbe einnehmen sollte. Die Anhänger einer ausdrücklichen Erwähnung des Christentums standen sowohl denen gegenüber, die auch die anderen in Europa anwesenden Religionen erwähnen wollten, wie auch denen, die im Namen einer strengen Trennung von Staat und Kirche jegliche Erwähnung einer Religion ablehnten. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, begnügte sich die am 29. Oktober 2004 von den Vertretern der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union verabschiedete Präambel damit, die „kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen“ zu erwähnen, auf denen die Werte des heutigen Europa beruhen. Diese Episode, die an die Gretchenfrage in Johann Wolfgang von Goethes Faust gemahnen kann – „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ –, ist in zweifacher Hinsicht aufschlussreich. Sie verweist tatsächlich auf zwei grundlegende Fragen, die in der Öffentlichkeit kontrovers beantwortet werden: Hat Europa christliche Wurzeln? Welchen Platz soll es den Religionen einräumen?

Ein dominierender Monotheismus und zwei marginalisierte ­Monotheismen Die Ursprünge des Christentums wie auch die der zwei anderen in Europa anwesenden Monotheismen – des Judentums, ohne das das Christentum nicht existieren würde, und des Islam, der sich weitgehend in Bezug auf die beiden vorangegangenen Monotheismen definiert – sind nicht in Europa zu Hause, sind sie doch außerhalb der europäischen Kontinents und vor dem Beginn der eigentlichen europäischen Geschichte entstanden. Ihre Geschichte ist aber untrennbar mit der Europas verbunden. Das Judentum war ab dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Italien präsent. Das Christentum fasste in Europa mit der ersten Generation nach dem Tod Christi Fuß, wie aus den Reisen des Paulus von Tarsus durch Griechenland in den Fünfzigerjahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. sowie aus den Martyrien der Apostel Petrus und Paulus in Rom Jahre 355

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später hervorgeht. Der Islam drang weniger als ein Jahrhundert nach dem Tod des Propheten in die christliche und griechisch-römische Welt ein, als die Umayyaden 712 die Meerenge von Gibraltar überquerten. Die drei Monotheismen, die in Europa anwesend sind, noch bevor ­dieses als solches zu existieren beginnt, sind Offenbarungsreligionen, die dem Gedächtnis einen wesentlichen Platz einräumen: „Zachor“, hebräisch für „Erinnere dich!“, ist eine häufige Aufforderung in der Bibel. Das Christentum wiederum ist vollständig auf die Person Christi zentriert, auf seinen Aufruf, „zu seinem Gedächtnis“ zu handeln, und auf seine Präsenz als wiederauferstandener Sohn Gottes, während die europäischen Gedenkkulturen langfristig Erben der von Augustinus von Hippo in seinen (zwischen 397 und 401 abgefassten) Bekenntnissen thematisierten memoria sind, die ab dem Mittelalter von den religiösen Orden, der Liturgie und der Sakralkunst konkretisiert wurde, um bessere Rahmenbedingungen für die Beziehungen zwischen den Lebenden und den Toten zu schaffen. Der Islam schließlich definiert sich zwar als „uralte Menschheitsreligion“ (Rémi Brague), ist aber ebenfalls eine historische Religion, die die Erinnerung an den Propheten weiterträgt. Diese drei Monotheismen sind jedoch weit davon entfernt, den gleichen Einfluss auf die europäische Geschichte und Identität ausgeübt zu haben. Diese Diskrepanz beruht zunächst auf den Unterschieden zwischen den drei Religionen, die allzu oberflächlich als Buchreligionen bezeichnet werden. Beim Judentum identifiziert sich Gott mit dem Schicksal seines auserwählten Volks, das den Messias erwartet. Das Christentum übernimmt zwar das biblische Erbe vollständig, deutet es aber als Vorbereitung auf die Inkarnation von Jesus von Nazareth, dem eingeborenen Sohn Gottes, empfangen von dem Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, unter Pontius Pilatus gekreuzigt und gestorben, am dritten Tage von den Toten auferstanden, dessen Heilsbotschaft sich an die ganze Welt richtet, wie alle Christen in ihrem Glaubensbekenntnis erinnern. Der Islam ist eine universelle Religion wie das Christentum, er ist die Religion Allahs und sein Wissen beruht vollständig auf der Offenbarung, die über Vermittlung des Erzengels Gabriel ihrem Propheten Mohammed zwischen 610 und 632 zuteilwurde, der das Offenbarte in einem ewigen und unnachahmlichen arabischen Text, dem Koran, festhielt. Das unterschiedliche Gewicht der drei Monotheismen in der Gedenkkultur beruht mehr noch auf der Geschichte ihrer Niederlassung und 356

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ihrer Verbreitung. Das Judentum als Religion eines Volkes, das auf die Aufrechterhaltung seiner Einzigartigkeit Wert legt, ist die Religion einer Minderheit geblieben, die lange Zeit als eine fremde Nation angesehen wurde, der man Misstrauen entgegenbrachte, weil man sie für den Tod Christi verantwortlich machte. Die Prägung, die das Judentum in den Gedächtnissen hinterließ, und der Einfluss, den es auf die europäische Kultur ausgeübt hat, übersteigen bei Weitem die geringe Anzahl derjenigen, die sich auf es beriefen, und zwar insbesondere aufgrund des zentralen Stellenwerts, den Autoren und Philosophen jüdischer Herkunft in der Kulturgeschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert eingenommen haben. Aber diese Prägung beruht auch darauf, dass sich das Christentum ebenso sehr auf das Alte Testament wie auf das Neue bezieht und sich an die ganze Menschheit wendet – an die Juden wie an die Nichtjuden, an die freien Menschen wie an die Sklaven, an die Europäer wie an die Nichteuropäer. Der Islam, ebenfalls eine universelle, missionierende und expandierende Religion, hat immer unter seinem chronologischen Rückstand gegenüber dem Christentum gelitten. Vom 8. Jahrhundert bis heute war die Anzahl der Muslime in Europa immer spürbar höher als die der Juden, doch im muslimischen Spanien des Mittelalters wie auch auf dem Höhepunkt der osmanischen Expansion in Europa, also am Ende des 16. Jahrhunderts, befanden sich die Schwerpunkte des Islam immer außerhalb von Europa und diese Expansion hat es nie geschafft, über die Ränder eines Kontinents hinauszukommen, der in ihm sehr rasch die Religion der Ungläubigen und den Feind des Christentums schlechthin gesehen und sich folglich geweigert hat, die in Europa angesiedelten Muslime als vollwertige Europäer anzuerkennen. Ein Jahrtausend hindurch – zumindest jedenfalls bis zum Westfälischen Frieden 1648 – schienen Christentum und Europa deckungsgleich zu sein. Obwohl die missionarische Expansion auf alle Kontinente und die Herrschaft der europäischen Länder über beinahe die ganze Erde dem Christentum am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine weltweite Dimension verliehen haben, versammelte Europa (Russland inbegriffen) damals nach wie vor zwei Drittel der Christen der ganzen Welt. Die meisten europäischen Länder definierten sich übrigens selbst als christliche Länder und hatten an ihrer Spitze Herrscher von Gottes Gnaden, die oft sogar geweiht waren, so etwa neben dem Papst die Zaren von Russland und Bulgarien, die Kaiser von Deutschland und Österreich-Ungarn, die Könige Englands, 357

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Italiens, Dänemarks, Spaniens, Griechenlands, Nor­ wegens, der Niederlande, Rumäniens, Serbiens und Schwedens. Die einzige nennenswerte Ausnahme bildete Frankreich, das einst die „älteste Tochter der Kirche“ und nach der Französischen Revolution eine Republik geworden war, die 1905 noch dazu die Kirchen und den Staat trennte. Innerhalb nur eines Jahrhunderts hat sich allerdings alles radikal verändert. Die Europäer, die sich als Christen bezeichnen, repräsentieren derzeit nur noch ein Viertel der Christen auf der ganzen Welt. In Europa selbst bilden sie nur noch drei Viertel der Gesamtbevölkerung. Die Personen, die an die Göttlichkeit Christi und an die Auferstehung glauben, sind noch weniger zahlreich: Nach einer Meinungsumfrage, die im Juni 2016 in Frankreich bei einer repräsentativen Auswahl von jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren durchgeführt worden war, bezeichneten sich 45 Prozent als Christen, aber nur für 16 Prozent war die Existenz Gottes gewiss (während 30 Prozent sie nur für wahrscheinlich hielten), eine dominierende Haltung, die die britische Soziologin Grace Davie als „belonging without believing“ kennzeichnet1. Von allen Kontinenten der Erde ist Europa auch derjenige, auf dem der Agnostizismus und der Atheismus am stärksten verbreitet sind, aber auch derjenige, dessen jüngere Geschichte von einer Feindseligkeit gegen das Christentum und seine Verfolgung geprägt wurde, deren Radikalität und Brutalität an die schlimmsten Verfolgungen in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung erinnert haben.

Ein vielgestaltiger Monotheismus Das Christentum, das seit dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Europa Fuß gefasst hat, ist rasch zu dessen dominierender, ja sogar ausschließlicher Religion geworden. Daraus darf jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass es den Kontinent einheitlich geprägt hat. Von Anfang an ist das Christentum – wie auch das Judentum und der Islam – mindestens genauso so stark durch seine Vielfalt und seine Pluralität wie durch seine Einheit gekennzeichnet. Das gilt für die grundlegenden Texte der christlichen Religion, und zwar sowohl für diejenigen, die das Alte 1 Umfrage des Instituts Opinion Way zwischen dem 9. und 17. Juni 2016 bei einer repräsentativen Auswahl von 1000 Personen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, in Auftrag gegeben von der Tageszeitung La Croix, die die Ergebnisse in der Ausgabe vom 25. Juli 2016 publiziert hat.

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Testament bilden, wie für die siebenundzwanzig Bücher, die ab dem 4. Jahrhundert für den Kanon ausgewählt wurden, angefangen bei den vier Evangelien, die die Geburt, das aktive Leben, den Tod und die Auferstehung Jesu aus vier verschiedenen Perspektiven schildern, die sich nicht vollständig decken. Die gleiche Vielfalt findet man in der Vielzahl der Sprachen und kulturellen Überlieferungen, die für das Christentum konstitutiv sind, das Aramäische für die von Jesus und der Mehrzahl seiner Jünger gesprochene Sprache, das Hebräische und Griechische für das Alte Testament und das Griechische für die Gesamtheit der Texte des Neuen Testaments, aber auch für die Mehrzahl der Schriften derjenigen, die man seit dem 16. Jahrhundert als die „Kirchenväter“ bezeichnet, das heißt die Autoren, die wie Ignatius von Antiochien (um 35–107/113), Clemens von Alexandria (um 150–220) oder Johannes Chrysostomos (345–407) in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung die Grundlagen der christlichen Lehre gelegt haben. Die Kirchenväter der lateinischen Tradition wie Ambrosius von Mailand (339–397) oder Augustinus von Hippo (354– 430) kommen erst später und sind weniger zahlreich. Die Vorherrschaft des Griechischen in der Frühzeit des Christentums ist auch dadurch belegt, dass die Mehrheit der Schlüsselbegriffe des Christentums trotz der zunehmenden Distanz zwischen dem lateinischen und dem griechischen Christentum griechischen Ursprungs ist, angefangen bei Christus, den Aposteln, der Bibel oder den Evangelien über das Dogma, die Theologie, den Katechismus, die Kathedralen und die Basiliken bis hin zu Ekklesia, Papst, Bischöfe, Priester und Mönche. Diese Vielfalt beruht schließlich auch auf den Spaltungen, die von den Anfängen des Christentums bis heute stattgefunden haben, meistens in Form von Konflikten zwischen den verschiedenen und sogar entgegensetzten Weisen, die Botschaft Christi zu deuten, zu aktualisieren und zu leben. Die zwei tiefsten Spaltungen sind die zunehmende und schließlich im Mittelalter zum Bruch führende Entfernung zwischen dem griechischen und dem lateinischen Christentum sowie das Auseinanderbrechen des lateinischen Christentums im Anschluss an die protestantische Reformation im 16. Jahrhundert mitsamt ihren Folgen. Die überwiegende Mehrheit der Christen Europas, seien sie nun Orthodoxe, Katholiken oder Protestanten, teilt zwar weiterhin – zumindest theoretisch – eine gewisse Anzahl gemeinsamer Fundamente: den Glauben an einen Gott in drei 359

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Personen, die Anerkennung Jesu als des wiederauferstandenen Messias, die Bezugnahme auf das Alte und das Neue Testament, das „Vaterunser“ und das Bekenntnis von Nicäa, die Taufe und die Zehn Gebote – angefangen beim ersten: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ Die Definition dieser Gemeinsamkeiten ist jedoch späteren Datums. Sie erfolgte erst bei dem ersten Konzil in Nicäa, dem ersten allgemeinen Konzil der Bischöfe des Römischen Reichs, das Kaiser Konstantin I. im Jahr 325 einberief. Bestätigt wurden die Beschlüsse im Jahr 380 durch das von Kaiser Theodosius I. erlassene Edikt von Thessaloniki, das aus dem nicäischen Christentum die offizielle Religion des Reichs machte, und dann 381 durch das vom selben Kaiser einberufene Konzil von Konstantinopel. Die Unterschiede sind übrigens weitaus umfangreicher als dieser gemeinsame Sockel, ob es sich nun um die Person Jesu handelt, um Maria und die Heiligen, die Auffassung von der Kirche, die Sakramente oder auch das Priesteramt – ganz zu schweigen von den Unterschieden in der Liturgie, in der Sensibilität und in der Kultur. Der 1948 gegründete Ökumenische Kirchenrat mit Sitz in Genf, dem die katholische Kirche nicht angehört, versammelt derzeit nicht weniger als 345 verschiedene Kirchen, die eine halbe Milliarde Christen in der Welt zusammenfasst, die alle, wenn man ihnen Glauben schenkt, „den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Doch jeder weiß, dass die individuellen Glaubensvorstellungen konkret durch eine Vielfalt gekennzeichnet sind, die viel größer als die der Lehren und Strukturen eben dieser Kirchen ist.

Unterschiedliche Kontexte Die Vielzahl der christlichen Gedächtnisse in Europa beruht nicht nur auf inneren Gründen, sondern genauso sehr – wenn nicht noch mehr – auf der Vielfalt der Kontexte, in denen das Christentum Fuß gefasst hat. Sei es, ob es sich nun um den Unterschied zwischen den Ländern handelt, die auf Lateinisch oder auf Griechisch evangelisiert wurden, um den Kontrast zwischen denen, die vor dem von Kaiser Konstantin 313 erlassenen Edikt von Mailand christianisiert wurden, und denen, deren Christianisierung erst im 10. Jahrhundert oder sogar noch später einsetzt, oder um den Gegensatz zwischen denen, die friedlich christianisiert wurden 360

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(grob gesprochen diejenigen, bei denen sich das Christentum vor dem 6. Jahrhundert verbreitet hat), und denen, denen das Christentum mit Gewalt aufgezwungen wurde (Bekehrung der Sachsen, von Karl dem Großen mit Waffengewalt erzwungen, aber auch die Bekehrungen, die den Untertanen von ihren eigen zum Christentum bekehrten Königen aus ebenso politischen wie religiösen Gründen aufgezwungen wurden wie etwa in Polen, in Ungarn oder in Böhmen). Diese Vielfalt der Gedächtnisse ergibt sich auch aus der mehrhundertjährigen Verflechtung zwischen dem Schicksal des Christentums und dem der Länder, der Staaten oder der Kulturen, in denen es sich entfaltet hat. Dies geht schon allein aus den wiederholten Bemühungen hervor, die alle Herrscher des mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa unternommen haben, um ihre Macht durch das Christentum zu legitimieren, ihre Autorität über die Kirche ihres Landes zu erstrecken und sie in ein Instrument ihrer Macht zu verwandeln, ob es sich nun um die spanische Monarchie handelt, die sich als „katholische Monarchie“ definiert, oder um den König von Frankreich, der sich zum „allerchristlichsten König“ ausruft, um die englischen Monarchen, die als „Verteidiger des Glaubens“ auftreten, um die „Monarchie des heiligen Stefan“, die von der ungarischen Monarchie beansprucht wird, um die Schutzherrschaft des heiligen Sawa über die serbische Monarchie oder um die Vormundschaft der Zaren über die orthodoxe Kirche Russlands. Diese Vielfalt beruht auch auf den verschiedenen Formen, die die Verschränkung von Christentum und Nationalismus angenommen hat und die sich in den meisten europäischen Ländern insbesondere im 19. Jahrhundert entwickelt haben, man denke hier bloß, um nur ein Beispiel zu nennen, an den Wahlspruch „Gott mit uns“, der zunächst von der preußischen Monarchie bei ihrer Ausrufung im Jahr 1701 verwendet wurde und bis 1945 auf den Koppelschlössern der preußischen und deutschen Soldaten angebracht wurde. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts definieren sich praktisch alle europäischen Nationen als christlich, fügen aber nach einer Logik, die während der Jugoslawienkriege wieder eine blutige Rolle gespielt hat, sofort hinzu, dass ihre „nationale“ Interpretation des Christentums über der der anderen steht und dadurch ihre Einmaligkeit rechtfertigt. Sie beruht schließlich auch auf den verschiedenen ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts erfundenen Modalitäten, um das neue Prinzip der Gleich361

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heit aller Bürger ein und desselben Staates ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit zu konkretisieren und folglich – nicht ohne häufige Konflikte – die sich daraus ergebende Trennung zwischen dem Staat und den Kirchen vorzunehmen. Bei dieser Trennung kann man letztlich drei Haupttypen unterscheiden. Da ist zunächst die Minderheit der europäischen Länder wie etwa Frankreich oder Belgien, die sich auf den Laizismus berufen (einen Begriff, der sich nicht in die anderen europäischen Sprachen übersetzen lässt und in dem französischen Gesetz von 1905 nicht aufscheint). An zweiter Stelle folgt die Sowjetunion ab 1920 und dann die von atheistischen kommunistischen Parteien regierten Länder Zentralund Osteuropas, die bis 1989 eine antireligiöse Politik mit abwechselnden Phasen der Verfolgung und der restriktiven Toleranz betrieben; und schließlich die Länder (heute die Mehrheit in Europa, vor allem seit dem Zusammenbruch des Kommunismus), die unterschiedliche Formen der Partnerschaft zwischen dem Staat, den Kirchen und den anderen Religionsgemeinschaften praktizieren (Konkordate mit dem Papsttum, Abkommen mit den protestantischen Kirchen oder den jüdischen Gemeinschaften, das Präferenzbündnis in Russland zwischen der politischen Macht und dem Patriarchat von Moskau, die Organisation und totale Kontrolle des religiösen Lebens durch den Staat in der Türkei). Es ist also keineswegs erstaunlich, dass wir im heutigen Europa bei der Aufteilung ihrer Bewohner zwischen Mitgliedern verschiedener christlicher Konfessionen, Anhängern anderer Religionen oder Personen ohne religiöse Zugehörigkeit eine extreme Vielgestaltigkeit feststellen. 2010 waren von den 730 Millionen Europäern (Russland inbegriffen) angeblich 554 Millionen Christen (davon 35 % Katholiken, 27 % Orthodoxe und 14 % Protestanten), zu denen 44 Millionen Muslime hinzukommen (6 %), 4,3 Millionen Buddhisten (0,6 %), 1,4 Millionen Juden (0,2 %) und schließlich 127 Millionen Personen, die einer anderen Religion angehören oder konfessionslos sind (17 %). Es ist auch nicht erstaunlich, dass man starke Kontraste von einem Land zum anderen feststellt: auf der einen Seite diejenigen, in denen die Einwohner, die sich als christlich definieren, in der Minderheit sind wie etwa in der Republik Tschechien (29 %), in Albanien (33 %) oder in den Niederlanden (39 %), und auf der anderen diejenigen, in denen sie, wenn man den Schätzungen der spezialisierten Institute Glauben schenkt, praktisch die gesamte Bevölkerung bilden wie in Griechenland, Malta, Rumänien, Moldawien oder Armenien. 362

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Eine Geschichte der Verzauberung und der Gewalt In einem berühmten, vor genau einem Jahrhundert geschriebenen Artikel behauptete der Soziologe Max Weber, dass die wachsende Bedeutung der Rationalität, der Wissenschaften und der Technik eine „Entzauberung der Welt“ zur Folge habe. Ein solches Urteil, an das heute der Philosoph Marcel Gauchet anschließt, indem er behauptet, das Christentum sei „die Religion des Ausstiegs aus der Religion“, mag für das 19. und das 20. Jahrhundert relevant sein, also für eine von der Säkularisierung geprägte Epoche, verfehlt aber völlig den langfristigen kulturellen Beitrag und das kulturelle Erbe des Christentums in Europa, nämlich eine „Verzauberung der Welt“. Mehr als ein Jahrtausend hindurch war das vorrangige Bestreben der Kirchen, die Existenz eines erlösenden Schöpfergottes zu verkünden, dessen Namen zu heiligen und mit allen Mitteln und in erster Linie mittels der Schönheit und der Bilder zu seinem Ruhm beizutragen, allen das Leben seines wiederauferstandenen Sohns und dessen Heilsbotschaft nahezubringen und die belebende Wirkung seines Geistes zu feiern. Zudem galt es, zu verkünden, dass das irdische Leben seinen Sinn in der Imitatio Christi finde, das heißt in Glaube, Liebe und Hoffnung, dass alle zur Heiligkeit aufgerufen sind, in Erinnerung zu rufen, dass der Tod besiegt worden ist, die Erinnerung all derjenigen zu pflegen, die Zeugen gewesen waren, um die ganze Menschheit besser auf die glorreiche Rückkehr des Herrn am Ende der Zeiten vorzubereiten. Bei der Umsetzung dieses umfassenden Verzauberungsprogramms hat das Christentum ganze Schätze an Fantasie, Erfindungsreichtum und Kreativität entfaltet, die man nicht genügend hervorheben kann und von denen bis heute sowohl die großen Sanktuarien mit ihren Fresken, ihren Statuen oder ihren Kirchenfenstern als auch die unerschöpflichen Inspirationsquellen zeugen, die von den mittelalterlichen Schriftstellern insbesondere in zwei Werken des 13. Jahrhunderts geschaffen wurden, in dem von Vincent von Beauvais verfassten Speculum maius und in der Legenda aurea von Jacobus de Voragine, die das Leben von ungefähr 150 Heiligen und Märtyrern schildert. Im Gegenzug gibt es gleichwohl auch ein Gedächtnis, das aus permanenten Auseinandersetzungen und Konflikten besteht, von der Verurteilung Christi zum Tod und seinem Verrat durch mehrere seiner Anhänger bis hin zu den zahllosen Abspaltungen und Brüchen, Schismen und 363

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Häresien, die die Geschichte des Christentums bis heute prägen. Konflikte, die umso heftiger sind, als bei ihnen das Wesentliche auf dem Spiel steht – Wahrheit oder Irrtum, wahrer Glaube oder Aberglaube, Gott oder der Teufel – und Kompromisse ausgeschlossen sind. Sie sind tatsächlich durch die Radikalität der christlichen Botschaft überdeterminiert („Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“, Matthäus 10,35), durch die apokalyptische Sicht des Heils und die verschiedenen Formen des Chiliasmus wie auch durch die Dimension, die ein ab dem 4. Jahrhundert zur Staatsreligion gewordenes Christentum angenommen hat. Die Judenfeindschaft und die Feindseligkeit gegenüber dem Islam als konstitutive Grundlagen des westlichen Denkens und seiner Weltanschauung, die Kreuzzüge – sowohl außerhalb als auch innerhalb Europas –, die zahlreichen Religionskriege, die Inquisition, der Kampf gegen die Hexerei wie alle Formen der Intoleranz sind lauter Beispiele, die alle die aus Verfolgung und Gewalt bestehende Kehrseite und die blutigen Dimensionen des Gedächtnisses des europäischen Christentums freilegen.

Die Prägung der Zeit Die Christianisierung der Zeit stellt ein erstes Beispiel für die Tiefe der Prägung des Gedächtnisses der Europäer durch das Christentum dar. Der Ursprung des Kalenders und die in Europa verwendeten Monatsnamen gehen zwar auf Gaius Iulius Caesar zurück (deshalb die Bezeichnung julianischer Kalender), doch der derzeitige Kalender wurde 1582 von Papst Gregor XIII. eingeführt und wird deshalb als gregorianischer Kalender bezeichnet. Überall werden übrigens die Jahre nach dem Datum gezählt, das am Beginn des 6. Jahrhunderts als Geburt Christi festgelegt wurde. Überall hat sich auch ab dem 3. Jahrhundert die Einteilung der Tage in siebentägige Wochen durchgesetzt, während die Übernahme des Sonntags als Ruhetag und Tag des Herrn (dies dominica auf Lateinisch) auf Kaiser Konstantin und das Jahr 321 zurückgeht. Bis heute werden die großen liturgischen Feste – Weihnachten, Ostern und Pfingsten – in der Mehrheit der europäischen Länder als solche anerkannt und überall sind die Feiertage und Ferientage, die mit christlichen Festen verbunden sind, zahlreicher als diejenigen profaner Natur. Und selbst, wenn die Feste christlichen Ursprungs heutzutage ihre religiöse Dimension im Wesentlichen 364

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eingebüßt haben, sind dennoch alle insbesondere während der Französischen Revolution unternommenen Versuche, den christlichen Kalender abzuschaffen, gescheitert, während sich der Kalender christlichen Ursprungs so sehr auf die ganze Welt erstreckt hat, dass er in unserer Zeit als ein „Theft of History“ (Jack Goody) interpretiert werden konnte. Die gleiche Beobachtung gilt für die Christianisierung des europäischen Raums durch das Netz der aus der Spätantike geerbten und im Mittelalter auf den ganzen Kontinent ausgedehnten Diözesen, durch das Geflecht der Pfarreien (und der Friedhöfe und Sanktuarien), die die Dörfer und Städte des Kontinents strukturieren, durch die Netzwerke der religiösen Orden (vor allem der Benediktiner und der Zisterzienser), durch deren Abteien und Priorate, die ihren Einfluss auf die gesamte lateinische Christenheit ausdehnen, und schließlich durch die Pilgerwege, die die verschiedenen Regionen der Christenheit miteinander verbinden und das Straßennetz des Römischen Reichs ablösen („Alle Wege führen nach Rom“, heißt es doch). Der sichtbarste Ausdruck dieser Christianisierung des Raums wird durch die Toponymik der Städte und Landstriche geliefert. Mehr als ein Zehntel aller Gemeinden in Frankreich trägt heute einen Namen, der auf einen Heiligen verweist (darunter 255, die Saint-Martin heißen und damit an den heiligen Martin von Tours erinnern, der 316 in Pannonien geboren wurde und 397 starb, Schutzpatron der Merowinger und der Karolinger war und einer der berühmtesten Heiligen der ganzen Christenheit ist). Und überall in Europa findet man Ortschaften, die den Namen ihres Schutzpatrons tragen, von Santiago do Cacém in Portugal und San Gimignano in Italien bis hin zu Sankt Petersburg in Russland, Saint Andrews in Schottland oder noch Agios Dimitrios in Griechenland. Was für die Zeit und den Raum gilt, das gilt auch für die Familiennamen, die sehr oft selbst wieder nach Vornamen oder Taufnamen, die als wichtiger angesehen wurden, gebildet wurden, weshalb Martin in Frankreich der am meisten verbreitete Familienname ist. Die Zeit, in der die überwiegende Mehrheit der Eltern ihre Kinder taufen ließ, meistens unmittelbar nach ihrer Geburt, und ihnen einen christlichen oder der Bibel entstammenden Vornamen gab, ist sicherlich vorbei. Dennoch ist heute in Europa die Anzahl der Eltern, die ihren Kindern weiterhin einen christlichen Vornamen geben, weitaus höher als die Anzahl derjenigen, die sie taufen lassen, und in allen europäischen Ländern sind – auch hier 365

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mit großen Unterschieden von Land zu Land – die Vornamen christ­ lichen Ursprungs mit Abstand die zahlreichsten. Die Überfülle des religiösen Erbes ist ein letzter Indikator für die dauerhafte Prägung der europäischen Gedächtnisse durch das Christentum. Das gilt in erster Linie für die zahllosen religiösen Gebäude (Kathedralen, Abtei-, Stifts- und Klosterkirchen, Abteien, Klöster und Priorate, Pfarrkirchen, Kapellen und so weiter), die in Europa im Lauf der Jahrhunderte von der Antike bis heute mit der Vielfalt an Stilen und dem historischem Reichtum, der sie charakterisiert, gebaut wurden. Sie sind in der europäischen Liste des Weltkulturerbes der UNESCO (ungefähr ein Drittel der Gesamtzahl) nicht grundlos überrepräsentiert, auch wenn sie sich heute mehr aus ästhetischen, kulturellen oder touristischen Gründen als aus religiösen oder sakralen behaupten. Sie sind weitaus zahlreicher als die Gebäude anderer Religionen. Frankreich zählt an­geblich knapp über 100 000 „christliche religiöse Gebäude“ (vor allem katholischer Herkunft) im Vergleich zu 2200 Moscheen, 500 Synagogen und 300 buddhistischen Tempeln.

Das Erbe des christlichen Denkens Die Prägung der Geschichte und der Gedächtnisse Europas durch das Christentum beschränkt sich keineswegs auf die bereits erwähnten Aspekte, sondern gilt auch für zahlreiche andere Bereiche, die heute als profan betrachtet werden, an deren Ursprung man aber entweder Impulse aus dem Christentum findet oder – mehr noch – Evolutionen, die mit ihm zwar zusammenhängen, aber unabhängig von ihm oder sogar in der Gegnerschaft zu ihm entstanden sind, sei es durch eine Übertragung der Sakralität oder durch die Säkularisierung. Der schweizerische Philosoph Denis de Rougemont (1906–1985) fasste dies folgendermaßen zusammen: „Das Denken des Abendlands und sein Vokabular sind aus den großen theologischen Debatten der Urkirche hervorgegangen. Die großen Philosophien, die von Descartes und Kant, von Hegel und Auguste Comte und von Marx, waren ursprünglich theologische Stellungnahmen. Die Theologie zu ignorieren heißt, mit der fruchtbarsten Überlieferung der abendländischen Kultur zu brechen. Das bedeutet im Grunde, sich dazu zu verurteilen, die Entdeckungen, die seit mehr als 5000 Jahren gemacht und von den 366

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Kirchenvätern und den großen Ketzern formuliert worden sind, von neuem zu machen.“2 Ein erstes Beispiel wird von dem Begriff „Person“ geliefert, der unter den Werten, auf die sich die Europäer heute berufen, einen zentralen Stellenwert einnimmt. Im zeitgenössischen Verständnis ist dieser Begriff mit den Werten der Würde, der Freiheit, der Gleichheit und der Universalität, die ihm anhaften, ein vollständig säkularisierter, sei es auch nur insofern, als er sowohl auf die Anhänger einer Religion (gleichgültig welcher) angewendet wird wie auch auf die, die sich als Atheisten oder Agnostiker verstehen. Aber seine Ursprünge reichen dennoch auf eine Auffassung zurück, die aus der Bibel und den Anfängen des Christentums kommt und der zufolge jede menschliche Person ein Geschöpf Gottes ist, nach seinem Ebenbild geschaffen, mit Freiheit und Vernunft begabt sowie von der Sünde durch die göttliche Gnade und das freie Opfer Christi erlöst (eine Auffassung, die durch das römische Recht in der juristischen Definition der Person verankert und vom Christentum geschickt übernommen wurde). Und was für den Begriff Person gilt, das gilt genauso für die Menschenrechte, die weitgehend christlichen Ursprungs sind, auch wenn ihre säkularisierte Formulierung mehr als ein Jahrhundert lang auf den entschiedenen Widerstand der katholischen Kirche (insbesondere im Syllabus errorum von 1864) stieß. Die Gleichheit zwischen Männern und Frauen ist ein zweites Beispiel für diese indirekten Überlieferungen, deren Ursprünge weitgehend jüdisch-christlich sind, die aber säkularisiert wurden oder sich am Rand der Kirchen und sogar gegen sie durchgesetzt haben. Am Ursprung findet man nicht nur die Schöpfungserzählungen der Bibel, sondern auch den wichtigen Platz, den Frauen und Männer gleichermaßen im öffentlichen Leben Christi eingenommen haben, von seiner Mutter Maria, ohne deren freie Zustimmung Jesus nicht hätte geboren werden können, bis hin zu den Frauen, die zu seinem Grab gekommen sind und die ersten Zeugen seiner Wiederauferstehung waren. Dann allerdings wurden das Priesteramt und die Bischofswürde den Männern vorbehalten (eben weil die Kirche mütterlich und marianisch, aber von männlichen und unverheirateten Priestern im Namen Gottes des Vaters geleitet wird). Erst in 2 Denis de Rougemont, Der Anteil des Teufels – La part du Diable. Aus dem Französischen von Josef Ziwutschka. Wien 1949 [1942].

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der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die protestantischen Kirchen von dieser Regel abgewichen. Doch abgesehen davon, dass das religiöse Leben den Frauen genauso wie den Männern offenstand (was das Christentum in einer Dualität und nicht in einem Dualismus einrichtet) und den Äbtissinnen der großen weiblichen Abteien sehr ausgedehnte Befugnisse zugestanden wurden, kann man nicht genug betonen, welch große Rolle die Heiligen und Mystikerinnen im Leben der Kirche gespielt haben – von Hildegard von Bingen über Katharina von Siena, Teresa von Ávila oder Therese von Lisieux bis hin zu Mutter Teresa. Die von Christus selbst behauptete Unauflösbarkeit der Ehe, ihre Anerkennung als Sakrament auf dem Zweiten Konzil von Lyon 1274 und die vom kanonischen Recht durchgesetzte Regel, der zufolge die Verbindung zwischen zwei Gatten auf der gegenseitigen freiwilligen Zustimmung beruhen muss, können trotz der rechtlichen und faktischen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, die in den damaligen Gesellschaften herrschte, als weitere Indizien für eine Aufwertung der weiblichen Existenz gewertet werden. Die Bedeutung des Einflusses, den in Europa das Christentum und die Religion auf die Sprachen, die Literaturen und die Wissenschaften ausgeübt haben, ist ein weiteres Beispiel für diese indirekten Überlieferungen. Zumindest bis zur Mitte des Mittelalters hatten die Kleriker in der abendländischen Christenheit das Monopol der geschriebenen Sprache und der Bildung (und nach ihnen die Universitäten), woraus sich die dominante Stellung des Lateinischen als Sprache der Kirche und des Wissens erklärt. In zahlreichen Sprachen war übrigens die Förderung der Vernakularsprachen als Literatursprachen oft mit der Religion verknüpft. Man braucht hier nur an die Schaffung des modernen Italienischen durch Dante Alighieris Göttliche Komödie und an die des Deutschen durch Luthers Bibelübersetzung denken. Alle europäischen Sprachen enthalten schließlich eine Unzahl von Wörtern und Wendungen biblischer oder religiöser Herkunft, selbst wenn dies meistens in Vergessenheit geraten ist, ob es sich nun um ein Substantiv handelt wie bei Talent, Lavabo, Propaganda oder Sintflut oder um ein Bild wie das salomonische Urteil, den Weg nach Damaskus, den guten Samariter oder die Arbeiter im Weinberg oder auch einen Ausdruck wie die Heimkehr des verlorenen Sohns, die Suche nach dem verlorenen Schaf, den neuen Wein in alten Schläuchen oder die Trennung von Spreu und Weizen. 368

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Ein letztes Beispiel schließlich aus einer Liste, die man beliebig verlängern könnte, ist dasjenige der Beziehungen zwischen Religion und Politik. Indem Christus diejenigen, die ihn fragten, aufforderte: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“, und indem er mehrmals sagte, dass das Reich Gottes „nicht von dieser Welt“ ist, hat er in diesen von den Evangelisten festgehaltenen Worten von vornherein jede Form der Theokratie abgelehnt und die Grundlagen der Autonomie der politischen Macht und der Politik gegenüber der religiösen Macht und der Religion gelegt. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts galt zwar einerseits in Europa die Regel der Komplementarität und der Verflechtung zwischen dem Politischen und dem Religiösen. Diese Regel beruhte selbst wieder auf der Trennung zwischen dem geistlichen Bereich und dem weltlichen Bereich, wodurch die wachsende Emanzipation des Politischen vom Religiösen erleichtert wurde. Doch andererseits lässt sich durch die säkulare Überlagerung der beiden der berühmte Satz des deutschen Juristen Carl Schmitt besser verstehen, dem zufolge „alle wesentlichen Begriffe der modernen Staatstheorie nichts anderes sind als säkularisierte theologische Begriffe“, ebenso wie die Bezeichnung „säkulare Religionen“, die von Soziologen wie Raymond Aron auf die politischen und ideologischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts in Europa angewendet wurden.

Die Kehrseite des Monotheismus: Zweifel und Atheismus Das christliche Gedächtnis, das bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dominiert hat, war nie ein ausschließliches gewesen. Im mittelalterlichen Europa koexistierte das Christentum manchmal friedlich, manchmal konfliktreich mit dem Islam, der in Sizilien bis zum Ende des 11. Jahrhunderts präsent war, in Spanien bis zum Ende des 15. Jahrhunderts sowie in Südosteuropa ab dem 14. Jahrhundert, aber auch mit dem Judentum, das trotz der wiederholt angeordneten Vertreibungen so ziemlich über den ganzen Kontinent verstreut war. Ganz zu schweigen von den zahlreichen ländlichen Regionen, in denen verschiedene nicht christliche Glaubensvorstellungen oder Häresien fortbestehen, von denen die bekannteste die Häresie der Katharer ist, die im 12. Jahrhundert von der Kirche an den Pranger gestellt wurde, weil sie die Grundlagen des christlichen Glaubens infrage stellte. Trotz der Predigtkampagnen der 369

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Franziskaner und der Dominikaner, der Einrichtung der Inquisition, der Kreuzzüge gegen die Katharer sowie gegen die heidnischen Völker im Nordosten, aber auch trotz der wiederholt gegen die einen oder die anderen getroffenen Vertreibungsmaßnahmen (von der Vertreibung der Juden aus England 1290 oder aus Frankreich 1394 bis zu ihrer Vertreibung aus den spanischen Besitztümern 1492 oder aus Portugal 1497 sowie der Vertreibung der Morisken 1609) war das Christentum niemals unangefochten. Als Nachweis sei hier nur ein Beispiel angeführt, das des Müllers Menocchio aus dem Friaul, der nach seinem zweiten Prozess durch die Inquisition 1599 verbrannt wurde und in seinem ersten Prozess 1584 (aus dem er frei hervorging), wie Carlo Ginzburg gezeigt hat, in aller Offenheit eine Kosmogonie und Glaubensvorstellungen entwickelt hat, die die Autorität der Kirche und ihrer Lehre zutiefst infrage stellten. Ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelten und verbreiteten sich allmählich immer radikalere Kritiken an den Anmaßungen der Kirchen, Besitzerinnen der religiösen Wahrheit und wesentlicher Dogmen des Christentums wie der Offenbarung und sogar der Existenz Gottes zu sein. Diese Kritiken, die zunächst indirekt formuliert wurden – etwa von dem jüdischen niederländischen Philosophen Baruch Spinoza (1632–1677), dem Anhänger einer rationalistischen Auslegung der Bibel, für den Gott und die Natur eins sind, oder von Pierre Bayle (1647–1706), einem in die Vereinten Provinzen geflüchteten französischen Reformierten, dessen Dictionnaire historique et critique die Grundlagen einer Philosophie des Zweifels legte –, griffen im Jahrhundert der Aufklärung sowohl in England als auch in Frankreich um sich. Auf der einen Seite fanden sich deistische Philosophen wie John Locke, Voltaire oder sogar Immanuel Kant, die jede geoffenbarte Religion ablehnten, auf der anderen die ersten Materialisten wie Julien Offray de La Mettrie oder Denis Diderot, die die Auswüchse der Religionen genauso wie die Religion als solche ablehnten. Diese Ideen, die im 19. Jahrhundert zunächst von Ludwig Feuerbach aufgegriffen und weiterentwickelt wurden (in Das Wesen des Christentums von 1841), dann von Karl Marx, für den die Religion nichts anderes als eine Entfremdung war, von Friedrich Nietzsche, der den „Tod Gottes“ theorisierte, und von Sigmund Freud, für den die Religion eine Illusion ist, bildeten die Grundlage für die radikale ­Kritik des Christentums und für den militanten Atheismus, der sich dann in Europa durchsetzte und gewissermaßen das verborgene Antlitz 370

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der ­tausendjährigen Vorherrschaft des Christentums repräsentiert. Denn genauso, wie es keinen Antiklerikalismus ohne Klerus gibt, genauso gibt es keinen Atheismus ohne Monotheismus. Daraus resultiert das Paradox eines Europa, das zugleich der am stärksten vom Christentum geprägte Kontinent ist, aber andererseits auch derjenige, der die heftigsten Angriffe gegen das Christentum erlebt hat: mit der während der Französischen Revolution betriebenen Entchristianisierungspolitik und noch mehr mit dem militanten Atheismus und den antireligiösen Verfolgungen der sowjetischen Revolution von 1917 und der kommunistischen Regime nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch mit der Christenfeindlichkeit des Nationalsozialismus. Zudem ist Europa heute der Kontinent, in dem der Atheismus am stärksten verbreitet ist – auch hier mit enormen Unterschieden von Land zu Land (85 % in Schweden, das somit das am stärksten atheistische Land der Welt wäre, 35 % im Großbritannien, 29 % in Frankreich und 21 % in Belgien, wenn man jüngeren Umfragen Glauben schenkt).

Ein globales Gedächtnis Das Christentum als universelle und missionarische Religion hat sehr früh versucht, sich über den europäischen Raum hinaus zu erstrecken. Mit den Anfängen der europäischen Expansion sind die Entdeckungen, Eroberungen und die Evangelisierung mit einer Aufteilung der Welt einhergegangen, die selbst wieder die internen Spaltungen des christlichen Europa reproduzierte und heftige Debatten auslöste – von Bartolomé de Las Casas und seinem Engagement für eine missionarische und koloniale Praxis, die die Indianer respektiert, über die „schwarze Legende“ der spanischen Kolonisierung in den Vereinigten Provinzen und in den protestantischen Ländern bis hin zur Vertreibung der Jesuiten aus den portugiesischen und spanischen Kolonien und der Abschaffung ihres Ordens durch Papst Clemens XIV. im Jahr 1773. Während Spanien, Portugal, Frankreich und später Belgien und Italien den Katholizismus unterstützten, zogen die Vereinigten Provinzen, England, die skandinavischen Länder und später Deutschland den Protestantismus vor und Russland die Orthodoxie. Zwischen den verschiedenen Konfessionen kam es zu einem Wettstreit und einer Rivalität, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert erreichte und die man heute in der religiösen Architektur der 371

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zum Christentum bekehrten Länder wiederfindet – mit auf der einen Seite imponierenden barocken Bauten, die oft dem lokalen Stil angepasst sind, von Zentral- und Lateinamerika und den Philippinen bis Goa oder Macau, und auf der anderen Seite den zahlreichen im 19. Jahrhundert erbauten neogotischen und neoromanischen Kirchen, die die mittelalterlichen Konstruktionen Europas imitieren und in Afrika oder Asien nachgebaut wurden. Welches Urteil man auch immer über die Ausdehnung des Christentums über Europa hinaus und deren Modalitäten fällt, ihre Konsequenzen sind jedenfalls für die Beziehung Europas zur Welt wesentlich: Drei Viertel der Christen leben heute außerhalb des europäischen Kontinents und auch die Vitalität des Christentums ist außerhalb Europas am stärksten. Und durch eine Art Umkehrung der Beziehung zwischen Europa und der übrigen Welt trägt die Dynamik des Weltchristentums wieder zur Erneuerung des europäischen Christentums bei, wovon die Wahl von Papst Franziskus im Jahr 2013 zeugt – er ist der erste nicht europäische Papst seit dem 8. Jahrhundert – sowie die Tatsache, dass die Europäer nur noch 45 Prozent der wahlberechtigten Kardinäle stellen.

Nach der Säkularisierung In der Geschichte der Sedimentationen, der Neuauslegungen und der Transformationen des europäischen Christentums stellt der Eintritt in das Zeitalter der Moderne am Ende des 18. Jahrhunderts einen entscheidenden qualitativen Sprung dar. Mit der Aufklärung und der Französischen Revolution, der industriellen Revolution und der Beschleunigung des europäischen Wachstums kam eine strukturelle Umwälzung in Gang, die man gewöhnlich als eine Dynamik der Säkularisierung und der Entchristianisierung kennzeichnet. Ihre Auswirkungen auf das religiöse Leben sind wohlbekannt: ein zunehmender Rückgang des Einflusses der Kirchen, eine Umwandlung der Glaubensinhalte (nur wenige glauben heute noch an die reale Präsenz Christi in der Hostie, an die Wunder, an die Existenz des Teufels oder an die Wiederauferstehung, wie dies die Christen des Mittelalters und der Neuzeit taten) und das rasche Anwachsen des Agnostizismus und des Atheismus. Während des ganzen 19. Jahrhunderts waren die Kirchen bestrebt, diese Herausforderung anzunehmen. Sei es, indem sie die „Irrtümer“ der 372

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Moderne anprangerten (das war vor allem die Haltung der katholischen Kirche bis zur Wende, die das Zweite Vatikanische Konzil in den Jahren 1962–1965 darstellt, mit dem sie versucht hat, sich mit der Moderne zu versöhnen), sei es indem sie „alternative Modernitäten“ entwickelte (Marienerscheinungen, protestantische Erweckungsbewegungen, Ökumenismus als Gegenhaltung zu den früheren Spaltungen). In Westeuropa haben von den Kirchen unterstützte Christen eine ausschlaggebende Rolle bei der Ingangsetzung des europäischen Einigungsprozesses nach 1945 gespielt, desgleichen in Mittel- und Osteuropa beim Zusammenbruch des Kommunismus und des sowjetischen Blocks. Neben den westlichen Ländern, in denen das Christentum anscheinend zu verschwinden droht, behalten andere eine starke christliche Prägung – ganz zu schweigen von der wiedergefundenen Vitalität der Orthodoxie. Der Platz, den die drei Monotheismen in Europa einnehmen, hat sich innerhalb von drei Generationen tiefgreifend verändert. Das Judentum, das mit seiner Vielfalt, seiner Vitalität und seiner Ausstrahlung das 19. Jahrhundert und das erste Drittel des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet hat, ist praktisch aus den „Bloodlands“ (Timothy Snyder) Osteuropas verschwunden und bleibt von der Schoah traumatisiert. In zahlreichen Ländern hat sich der Rückgang des Christentums ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beschleunigt, wobei es sich um einen richtiggehenden Schrumpfungsprozess handelt. Der Islam hingegen ist in voller Expansion und wird sowohl von den Migrationsbewegungen und dem Aktivismus zahlreicher Muslime getragen. Und wenn heute in Europa viel öfter von Religion als in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Rede ist, so ist das vor allem auf die Herausforderung zurückzuführen, die diese neue Präsenz des Islam darstellt. „Wird das Christentum aussterben?“, fragte sich 1977 der französische Historiker Jean Delumeau, als er sich mit den jüngsten Entwicklungen Westeuropas, mit den Auswirkungen des Jahres 1968 und mit der Beschleunigung des Rückgangs des institutionellen Christentums3 befasste. Wie wird die Zukunft des Judentums, des Christentums und des Islam in Europa beschaffen sein? Was wird aus dem vielgestaltigen Erbe, das das Christentum unserem Kontinent hinterlassen hat? Niemand kann das vorhersehen, denn die Geschichte besteht aus Freiheit und Überraschungen, 3 Jean Delumeau, Le christianisme va-t-il mourir?, Paris 1977.

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aus Kontingenz und Unvorhergesehenem und selbst, wenn wir mitunter versucht sind, das zu vergessen, wissen wir sehr wohl – Paul Valéry rief es nach dem Ersten Weltkrieg in Erinnerung –, dass alle Zivilisationen – angefangen bei der unsrigen – sterblich sind. Doch der Reichtum der christlichen Gedächtniskulturen, die Kapazität des Christentums, sich seit zwei Jahrtausenden zu erneuern, die Tiefe der vom Judentum hinterlassenen Prägung sowie die Vitalität des Islam und die Herausforderung, die er darstellt, legen eher den Gedanken nahe, dass die Zukunft der Monotheismen in Europa eine offene und eine viel­gestaltige Zukunft sein wird.

Literatur Rémi BRAGUE, Europe, la voie romaine, Paris 1999. Rémi BRAGUE, Die Dieu des chrétiens et d’un ou deux autres, Paris 2008. Philippe BUC, Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums, aus dem Englischen von Michael Haupt, Darmstadt 2015. José CASANOVA, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994. José CASANOVA, Europas Angst vor der Religion, Berlin 2013. Guillaume CUCHET, Comment notre monde a cessé d'être chrétien, Paris 2018. Grace DAVIE und Danièle HERVIEU-LÉGER (Hg.), Identités religieuses en Europe, Paris 1996. Jean DELUMEAU, Que reste-t-il du paradis?, Paris 2000. Carlo GINZBURG, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, übers. von Karl F. Hauber, Frankfurt a. M. 1979. Rolf KIESSLING, Jüdische Geschichte in Bayern. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2019. Henry LAURENS, John TOLAN und Gilles VEINSTEIN, L’Europe et l’islam. Quinze siècles d’histoire, Paris 2009. Jörg LAUSTER, Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums, München 2016. David NIRENBERG, Anti-Judaismus: eine andere Geschichte des westlichen Denkens. Aus dem Engl. von Martin Richter. München 2015. Charles TAYLOR, A Secular Age, Cambridge 2007. Joseph H. H. WEILER, L’Europe chrétienne? Une excursion, Paris 2007. Yosef Hayim YERUSHALMI, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, aus dem Amerikanischen von Wolfgang Heuss, Berlin 1988.

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Die Barbaren, die Wilden und wir Das Wort „Barbar“ bezeichnet zunächst einen, der nicht Griechisch spricht, dann jemanden, der an den Rändern des Römischen Reichs wohnt, schließlich den „Wilden“, den man bei der Eroberung der Neuen Welt entdeckt, und schließlich den unzivilisierten gesellschaftlichen Außenseiter. Der Barbar ist eine vielgestaltige, schwer greifbare Figur. Vor allem aber ist er das Gegenteil des Zivilisierten, weil ja „jeder das Barbarei nennt, was bei ihm ungebräuchlich ist“, wie Michel de Montaigne sagt.

Wien 1910: „Erste Internationale Jagdausstellung. Afrikanisches Jägerdorf (Äthiopien)“.

Thomas Serrier

Beim Betreten des Berliner Pergamon-Museums stößt man sogleich auf einen 113 Meter langen Fries, den ein beeindruckender Kampf der Giganten ziert. Es geht um deren Ringen mit den Göttern des Olymps. Der Pergamon-Altar, dieses hellenistische Meisterwerk aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, stellt den wilden Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei dar. Es bedarf aber gar nicht des Umwegs über die deutsche Hauptstadt, um zu begreifen, dass die unterschiedlichen Vorstellungswelten – erst die griechische und die römische, dann die europäische und westliche – der Ort schlechthin sind, an dem die Barbaren in der Antike eingefallen sind und den sie seither nicht mehr verlassen haben. Zwar ist Europa selbst in seiner mittelalterlich-christlichen Gestalt aus der Überwindung dieses Gegensatzes entstanden, der für die griechische Welt und die des Imperium Romanum konstitutiv war, gleichwohl hat der metaphorische Gebrauch des Gegensatzpaares Griechen – Barbaren überdauert. Die Definition dieser „asymmetrischen Gegenbegriffe“ (Reinhart Koselleck) hat als Einschluss- beziehungsweise Ausschlusskriterium Teil an allen Diskursen über Segregation und die Bestimmung eines Herrschaftsraums. Die Scheidelinie zwischen innen und außen gilt für alle gesellschaftlichen Konfrontationen, für imperiale und koloniale Beziehungen, für nationale Antagonismen sowieso. Vom römischen Limes bis zu den Mauern der Gegenwart gilt die Konstante, dass der Barbar immer der andere ist, der Nachbar, der Fremde, als Rivale und Gefahr. Der Barbar an sich existiert gar nicht, es gibt ihn nur im Blick der „Zivilisierten“. Diese können, wie es 1914 die extremsten französischen Chauvinisten taten, bei Bedarf die ganze deutsche „Kultur“ mit Barbarei gleichsetzen, während ihre deutschen Pendants die französische „Zivilisation“ als blanke Dekadenz betrachten. Die ersten Zeugnisse für diesen Begriff stammen aus den Perserkriegen, die von Herodot ausdrücklich als Konflikt zwischen Griechen und Barbaren bezeichnet werden, während der Trojanische Krieg von Homer noch nicht als solcher gefasst wird. Der Autor zielt dabei explizit auf Erinnerung ab: „Herodot von Halikarnass stellt hier die Ergebnisse seiner Erkundungen vor, damit die Zeit nicht die Erinnerung an das Tun der Menschen auslöscht und damit die hervorragenden Taten der Griechen wie der Barbaren nicht dem Vergessen anheimfallen […].“ Der militärisch draußen gehaltene Barbar dringt somit freilich ins Zentrum des Denkens 376

Die Barbaren, die Wilden und wir

der Athener ein. Aischylos und Euripides bringen Barbaren auf die Bühne; Aristoteles verfasst eine – leider verschollene – Abhandlung über die Sitten der Barbaren. Was aber ist ein Barbar? Man erkennt ihn an seinen Gurgellauten (bar-bar), die nur wenig mit dem griechischen logos gemein haben. Doch logos, das meint zugleich Sprache und Denken. Deshalb ist man, ausgehend von jemandes Unfähigkeit, sich sprachlich auszudrücken, rasch dabei, dem Betreffenden das Menschsein abzusprechen, ihn in die Nähe der Animalität zu rücken. Der Barbar erscheint so zugleich als der physisch und der geistig-moralische andere. Ihn charakterisieren abstoßende Züge: Er trägt wirres Haar, trinkt aus Schädeln, hat einen maßlosen Hang zu seiner eigenen Sippe, seinem Häuptling, zum Trinken und zum Kampf. All das hindert ihn daran, sich in einem freien politischen Gemeinwesen zu organisieren. Trotzdem ist der Barbar, dieser potenzielle Gegner, nicht nur eine abschreckende Kontrastfigur. Andernfalls wäre es ja auch wenig ruhmreich, ihn zu bezwingen. Er ist von übermenschlicher Kraft und stets fähig, große Taten zu vollbringen – lange vor Conan der Barbar und Game of Thrones. Der „sterbende Galates“ aus den Kapitolinischen Museen in Rom enthält alle Bestandteile des Archetypus: Der Barbar im Todeskampf ist nackt, trägt eine dichte Mähne und einen kräftigen Schnauzbart. In Rhetorik und Ikonografie der Griechen und dann der Römer verkörpert er einen Kampf auf Leben und Tod, den lediglich seine Unterwerfung unter das Imperium beenden kann. Auf diese Weise zeigen etwa die Szenen, die auf der Arcadius-Säule in Konstantinopel eingraviert waren, den Sieg über die Goten des Gainas im Jahr 400. In Wirklichkeit ist die (physische oder soziale) Grenze zwischen der Barbarei, dem Reich der Krokodile (Ägypten), dem der wilden Tiere (Libyen) sowie der undurchdringlichen Wälder (Germanien) und der zivilisierten Welt keineswegs unüberwindlich. In Rom ist der Feind von gestern der potenzielle Bürger von morgen. Im 4. und 5. Jahrhundert heiraten einzelne Barbaren sogar in die kaiserliche Familie ein. So ehelicht Flavius Stilicho die Nichte von Theodosius I. und wird zum Schwiegervater von Kaiser Honorius. Auch Romulus Augustulus, der 476 von Odoaker abgesetzte letzte weströmische Kaiser, stammt un­geachtet seines so römisch klingenden Namens aus einer Familie von jenseits des limes. 377

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Wandlungen des anderen Je mehr sich das Christentum mit seiner universellen Botschaft durchsetzt, desto mehr löst sich der Gegensatz Griechen – Barbaren in philosophischer wie politscher Hinsicht auf. Für den Apostel Paulus galt: „Da ist nicht Grieche, Jude, Beschnittener, Unbeschnittener, Skythe, Knecht, Freier, sondern alles und in allen Christus“ (Kolosser 3, 11). Die Zurechnung zu den Barbaren, mit deren Hilfe ursprünglich das Anderssein bezeichnet wurde, wird im Lauf der Zeit ein Mittel, um den moralischen Barbaren, der in jedem von uns schlummert, zu kritisieren. Schon in der Geografie des Griechen Strabon verkörpert der relativ naturnahe Barbar eine gewisse Tugend, während die Leser des Tacitus in dessen Germanenporträts durchaus das erblicken konnten, was man später die „guten Wilden“ nennen sollte. Von da an schlägt auf lange Sicht eine Auffassung ihre Wurzeln in den Köpfen, die in den barbarischen Vorfahren einen regenerierenden Jungbrunnen erblickt, sie als unschuldige Wilde im Gegensatz zu einer auf Abwege geratenen Zivilisation betrachtet. Der Aufstieg der Nationalismen im 19. Jahrhundert wird reichlich Anleihen bei diesen archivalisch erfassten oder auch romanesk überhöhten Quellen machen. Ungeachtet aller komplexen Theorien über die (fränkischen oder galloromanischen) Ursprünge Frankreichs und trotz aller möglichen Narrative bleibt die Niederlage des Vercingetorix gegenüber Gaius Iulius Caesar die Urszene der Geschichte „unserer Vorfahren, der Gallier“ – ganz so, wie der Varus-Bezwinger Arminius (oder Hermann) der Cherusker eine zentrale Figur der deutschen Nationalbewegung war. Ähn­liche Beispiele sind Attila im Fall Ungarns und die Wikinger in Bezug auf die skandinavischen Länder. Die NS-Ideologie von der rassenmäßigen Überlegenheit wird das virile Sparta als Vorbild dem demokratischen Athen vorziehen und eine herbeifantasierte Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus und der Antike hervorbringen. Die „Herrenrasse“ wird jedenfalls ihren Ursprung in heldenhaften germanischen und nordischen Vorfahren finden. Doch gehen wir erst einmal vier Jahrhunderte zurück. Die Entdeckung der Neuen Welt erschüttert das Begriffspaar Griechen – Barbaren, dem es die Figur des Wilden hinzufügt und zugleich die Frage nach dem gemeinsamen Menschsein von Siedlern und Ureinwohnern in den Mittelpunkt stellt. Der Missionar Bartolomé de Las Casas, der für diese Sichtweise kämpft, geht davon aus, dass es „keinen Menschen und keine Rasse gibt, 378

Die Barbaren, die Wilden und wir

die nicht in ihrem Verhältnis zu anderen Menschen oder anderen Rassen barbarisch wäre […]. So wie wir die Menschen aus Indien als Barbaren betrachten, so beurteilen auch sie uns, denn sie verstehen uns nicht.“ Montaigne steht dem in seinen Essais nicht nach, wenn er bemerkt, dass „jeder das Barbarei nennt, was bei ihm ungebräuchlich ist“1, und sich angesichts der Religionskriege die Frage stellt, ob wir Grund haben, den Christen die geringste Überlegenheit gegenüber den Indianern zuzuschreiben, „da wir sie in jeder Art von Barbarei übertreffen“.2 Werden die Wilden der Neuen Welt zunächst auf der Grundlage des Wissens der alten Griechen und Römer über die Barbaren gesehen, so setzt sich in der Zeit der Aufklärung eine teleologische Betrachtungsweise der Menschheit durch. Diese stellt man sich als Kette vor, die vom Zustand der Wildheit bis zur Gesellschaftsbildung reicht. Zu dieser Erfindung historischer Kontinuität von den Barbaren bis zu den Nationen der Neuzeit tritt im 19. Jahrhundert eine Interpretation in den Kategorien sozialer Klassen hinzu. Unmittelbar nach dem Aufstand der Lyoner Seidenweber stellt das Journal des débats vom 8. Dezember 1831 in Bezug auf „die innergesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen der besitzenden Klasse und derjenigen, die über keinen Besitz verfügt“, fest, dass „die Barbaren, die die Gesellschaft bedrohen, nicht im Kaukasus noch in den tatarischen Steppen zu Hause sind, sondern in den Vororten unserer Industriestädte“. Wir begegnen hier offenbar bereits dem Klischee von den unzivilisierten Außenseitern aus den Vorstädten. Zugleich verhilft die imperiale Ausdehnung der europäischen Mächte dem Diskurs über die „Bürde des weißen Mannes“ (Rudyard Kipling) zu neuen Ehren. Dieser bringt Licht ins „Herz der Finsternis“, was freilich wie im gleichnamigen Werk von Joseph Conrad mit einer albtraumartigen Umkehrung der Werteordnung verbunden ist. Die Rede von den Zivilisationsbringern, die man heute mit Distanz und Unbehagen betrachtet, ist im Zenit des europäischen Imperialismus freilich der alles beherrschende Diskurs. In Paris, London, Wien und Berlin stellen „Völkerschauen“ Stämme von Wilden aus und das erstreckt sich zeitlich bis zum kongolesischen Dorf, das im Rahmen der Brüsseler Weltausstellung von 1958 im belgischen Tervuren gezeigt wurde. Gewiss gab es frühzeitig 1 Michel de Montaigne, Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt a. M. 1998, S. 111. 2 Montaigne, op. cit., S. 113.

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­ ritik an derartigen Auffassungen, etwa bei Alexis de Tocqueville, der K 1847 feststellte: „Wir haben die muslimische Gesellschaft in Unordnung gebracht, sie ärmer, unwissender und barbarischer gemacht, als sie es war, bevor sie uns kennenlernte.“ Doch erst die Erfahrung des „dunklen Kontinents“ (Mark Mazower), den das Europa des 20. Jahrhunderts darstellte, führte zur Infragestellung des Grundwiderspruchs zwischen universalistischem Humanismus – von dem die Europäer lange meinten, ihn stolz für sich in Anspruch nehmen zu können – auf der einen Seite und auf der anderen einer „Zivilisation, die es mit diesen Prinzipien nicht so genau nimmt“, wie Aimé Césaire in seiner Rede über den Kolonialismus (1950) schreibt. Diese Kritik, die unter den Auspizien des historischen Materialismus eines Walter Benjamin besonders radikal ausfällt – „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“, heißt es in seinem Essay Über den Begriff der Geschichte –, wird von Claude Lévi-Strauss ins Strukturale gewendet: „Wenn wir denjenigen das Menschsein absprechen, die die ‚wildesten‘ oder ‚barbarischsten‘ Vertreter der Menschheit darzustellen scheinen, dann übernehmen wir damit eine ihrer charakteristischen Einstellungen. Denn Barbar ist zuvörderst der, der an die Barbarei glaubt.“3 Das gilt wohl auch heute noch.

Literatur Nicolas BANCEL, Pascal BLANCHARD, Gilles BOETSCH, Eric DEROO et Sandrine ­LEMAIRE, Zoos humains et exhibitions coloniales. 150 ans d’invention de l’autre, Paris 2011. Alessandro BARBERO, Le Jour des barbares. Andrinople 9 août 378, Paris 2006. Bruno DUMÉZIL (dir.), Les Barbares, Paris2016. François HARTOG, Anciens, modernes, sauvages, Paris 2005. Reinhart KOSELLECK, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. Karol MODZELEWSKI, L’Europe des barbares. Germains et Slaves face aux héritiers de Rome, Paris 2006. Tzvetan TODOROV, Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen, Hamburg 2010. Kostas VLASSOPOULOS, Greeks and Barbarians, Cambridge 2013.

3 Claude Lévi-Strauss, Race et Histoire [1952], in: Anthropologie structurale II, Paris 1973, S. 384.

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Rom – Stadtgeschichte als Weltgeschichte Rom ist viel mehr als eine Stadt, Rom ist eine Idee. Rom ist gleich­bedeutend mit Macht und Größe, die Stadt hat das Reich, die Kirche, die Renaissance verkörpert und nimmt einen einzig­artigen Platz im Herzen der globalen Vorstellungskraft ein.

Erinnerungen an Rom. Raffael und Michelangelo im Anblick der Peterskirche bei ­Vollmond. Gemälde von Carl Gustav Carus (1839). 

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Zum Wesen von Erinnerungsorten gehört, dass sie nicht allein aus der Retorte der Forschung, sondern aus der Grundsuppe des Gemüts – und dabei sowohl Vorstellungen wie Erfahrungen – die erhabene Idee wie die weniger erhabene Wirklichkeit umfassen. Die reflektierte Rom-Idee ist immer wieder untersucht worden, weit weniger aber dieses unartikulierte, ungestalte Rom-Bild kollektiver Erinnerung, das auf Vorstellungen beruht, die uns irgendwie wichtig sind und die eben dadurch zeigen, dass sie weiterwirken. Und das gilt gerade für Rom. Es sind Zweifel geäußert worden, ob es überhaupt ein europäisches Gedächtnis gäbe, das nicht durch das Nationale vermittelt wäre. Und so wird man, um zu einer Antwort zu kommen, mit den einzelnen nationalen Rom-Vorstellungen beginnen müssen. Nun wäre es nicht schwer, allein aus Francesco Petrarca, François-René de Chateaubriand, Johann Wolfgang von Goethe und Lord Byron eine dichte Folge einschlägiger Rom-Zitate zusammenzustellen und zu einem multinationalen Rom-Muster zu vereinigen. Aber bevor man erhebende Zitate bringt, sollte man sich erst einmal über die drei gedanklichen Schritte klar werden, die dafür erforderlich sind. Zuerst Rom als Bezugspunkt für die einzelnen Völker, sozusagen die bilateralen Beziehungen zwischen (sagen wir) den Franzosen und Rom, den Skandinaviern und Rom und so weiter – aber von Anfang an strikt auf den Kern unserer Frage zuführend, das heißt, was Rom ihnen spezifisch (oder: spezifisch ihnen) bedeutet. Dann stellt sich die Frage nach dem gemeinsamen Nenner dieser selbstbezeichneten ‚bilateralen‘ Rom-Bekenntnisse. Wenn Schweden, Spanier und Ungarn über ihr Verhältnis zu Rom sprechen, sagen sie dann auch Gemeinsames? Und in welchen Bereichen verdichtet sich das? Endlich folgt die Frage, ob es Aussagen über Rom gibt, die von Anfang an allgemeingültig formuliert sind und Rom als gemeinsamen (europäischen oder gar universellen) Bezugspunkt, als Ort gemeinsamer Herkunft, gemein­ samer Erinnerung ansprechen.

Rom in der Erinnerung der einzelnen Nationen Um die ganze Spannweite dessen zu erfassen, woraus sich die Rom-Vorstellung nährt, könnte man für die einzelnen Nationen mit viel gelesenen Rom-Romanen beginnen und mit ihren Forschungsinstituten in Rom enden. Für das Rom-Bild der Deutschen beispielsweise hat der 1876 382

Rom – Stadtgeschichte als Weltgeschichte

erschienene Jugendroman Ein Kampf um Rom von Felix Dahn, der den Untergang der Ostgoten in Italien schildert, eine prägende Rolle gespielt, verschlungen von ganzen Generationen deutscher Jugendlicher, Jungen wie Mädchen. Lateinbuch plus Kampf um Rom, könnte man sagen, waren die Grundnahrung dieser Rom-Vorstellung. Wohlgemerkt: Kampf um Rom, nicht Kampf gegen Rom. Gegen Rom kämpft der Deutsche eigentlich nur im Teutoburger Wald, in der Reformation und vielleicht noch ein bisschen im Kulturkampf. Alles andere ist Kampf um Rom, auch dort, wo es nicht so scheint; denn um dieses imaginäre Rom kämpft man in deutschen Gemütern beim Kampf um Rom, um das vorgestellte mehr als um das reale. Bis endlich – im Roman wie in der historischen Wirklichkeit – alles in Nibelungengetöse untergeht. Denn Rom war für einen jungen deutschen Leser etwas schrecklich Ernstes. Auf der anderen Seite steht die Rom-Forschung der einzelnen Nationen. Um möglichst konkret zu bleiben, sei mit der Feststellung begonnen, dass es in Rom nicht weniger als 23 nichtitalienische Forschungsinstitute von 17 verschiedenen Nationen gibt (zusätzlich zu den Kulturinstituten): Forschungsinstitute für Archäologie, Geschichte Kunstgeschichte, fast alle gegründet in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es gibt keine Stadt der Welt mit einer vergleichbaren Konzentration fremder geisteswissenschaftlicher Forschungsinstitute, die sich der Geschichte des Gastorts widmen. Schon dieses bloße Faktum sagt für unser Thema viel aus. Denn diese Nationen gründeten und finanzierten solche kostspieligen Institute ja aus der Überlegung, daraus selbst Nutzen zu ziehen: Nur um Rom zu huldigen, hätten keine Regierung und kein Parlament die erforderlichen Mittel bewilligt. Es ist dann auch interessant (und oft geradezu eine Antwort auf unsere Frage), wie in den Gründungsaufrufen die Argumentation auf das eigene, das nationale Interesse zugespitzt wird: Neben der allgemeinen römischen Grundlegung, die in irgendeiner Weise jede europäische Nation für sich in Anspruch nimmt, und neben der aus römischen Studien erwarteten Vertiefung humanistischer Bildung für die schulische Erziehung wurden nicht selten handfeste Motive ins Feld geführt, die unmittelbar der Erforschung der eigenen nationalen Geschichte zugutekommen würden, etwa die unbestreitbare Einsicht, dass im Vatikanischen Archiv Überlieferung bewahrt blieb, die – etwa für die englische, französische und deutsche Geschichte im Mittelalter 383

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von großer Bedeutung – in den dortigen nationalen Archiven nicht erhalten ist. Kurz: Es ist die Einsicht, dass wir immer aus Rom mehr hinwegtragen als dort hintragen werden. Mit der Rom-Erinnerung arbeiten die Nationen eben an ihrer eigenen Identität: Darin liegt der konstruktive Aspekt ihrer Rom-Erinnerung; ja sie wollen sich Rom angeeignet haben, unabhängig davon, wie intensiv sie das auch wirklich getan haben. Darüber zu sprechen, gibt es in Rom Gelegenheiten genug. Solche Institutsgründungen und ihre (selbst für die Augen von Finanzministern stichfeste) Rechtfertigung, aber auch entspanntere Anlässe wie die Hundertjahrfeiern solcher Institute, die Einführung eines neuen Rektors in einer der nationalen Schulen in Rom, die erste oder die letzte Rede eines Botschafters (die Vatikanbotschafter jeweils mit anderer Akzentuierung als die Quirinalbotschafter) – all das sind Gelegenheiten, die spezifischen Bindungen an Rom, die die einzelnen Völker haben oder sehen, zu artikulieren und als spezifischen Dank an Rom zu formulieren.

Gemeinsamkeiten nationaler Rom-Erinnerung Fragt man nun, was diesen einzelnen „nationalen“ Rom-Beziehungen gemeinsam ist, so wird man große Übereinstimmung finden; ja man stellt fest (und das ist bemerkenswert), dass im Dank an Rom jeweils die europäischen Gemeinsamkeiten nicht weniger als die nationalen Besonderheiten hervorgehoben werden; dass also beim Blick auf Rom die nationale und die europäische Perspektive weitgehend zur Deckung kommen können. Das schafft nur Rom. Und tatsächlich hatte Rom ja allen alles geboten: eine gemeinsame Sprache, eine Kultur von hohem Rang und großer Integrationskraft; römisches und kanonisches Recht; Schutz, Ansehen, Infrastruktur eines wohlgeordneten Reiches erst, dann den Gnadenschatz, die Ämter und Pfründen einer Weltkirche, deren Zentrum Ziel zahlloser Pilgerfahrten wurde, selbst von den Rändern der Welt. Dabei blieb das Rom der Antike unvergessen, verbaute man seine heidnischen Reste als Spolien in den Kirchen oder machte sie sogar zu Hoheitszeichen der Kommune. Denn in Rom hatte die Antike ein Nachleben: „Nachleben“ in jenem schönen weiten Sinn, der mehr bedeutet als bloß Überleben. Und ein „Nachleben“ hatte die Antike auch überall dort, wo Rom hingekommen war. 384

Rom – Stadtgeschichte als Weltgeschichte

Von den Römern erobert worden zu sein, das hat – auch an der Peripherie, von den Portugiesen bis zu den Rumänen – dann auch noch keiner Nation missfallen. Welches andere Reich könnte das von sich sagen? Es gab auch Widerspruch, auch Abwehrgesten gegen den Anspruch Roms, vor allem bei den Deutschen, die sich Rom in der Teutoburger Schlacht vom Leibe hielten, wie sie später bei Reformation und Kulturkampf („Schweigt mir von Rom!“) periodisch immer wieder einmal polternd hervorhoben. Um sich dann im Mittelalter Rom umso mehr in die Arme zu werfen, nachträglich in das Gewand des Römischen Reiches und in die Rolle römischer Kaiser schlüpfend: „Heiliges Römisches Reich deutscher Nation“! Die bekannte, von Tacitus lebhaft geschilderte Szene, wie sich die Brüder Arminius (der der Teutoburger Schlacht) und Flavus (der zu den Römern übergegangen war) über den Weser-Fluß hinweg anschreien: „Du Barbar!“, „Du Römer!“ – aber nun standen sie, die deutschen Könige des Mittelalters, sozusagen auf dem römischen Ufer des Flusses. Ja der junge, von Rom geradezu trunkene Kaiser Otto III. wird in seiner berühmten Rede den Römern sogar zurufen, er sei im Grunde mehr Römer als sie. Doch die Römer, weit weniger sentimental als alle Germanen, haben dem jungen Sachsen diese Idee eines erneuerten Rom nicht abgenommen. Wie stark Rom von seiner Idee lebt, merkt der Historiker schon daran, dass sich zu seinem Erstaunen über die Rom-Idee schreiben lässt, ohne auf die Kommune, die Bewohner, die jeweilige Gegenwart, kurz: auf die „stadtrömische“ Geschichte überhaupt einzugehen. Dabei ist dem Ausländer und Wahlrömer heute die aktuelle Problematik der Stadt, dem Historiker die harte historische Wirklichkeit des real existierenden Rom sehr vertraut: Idee und Wirklichkeit Roms zur Deckung zu bringen, ist für Vergangenheit und Gegenwart eine harte, manchmal verzweiflungsvolle Arbeit. Der Ausdruck „stadtrömisch“ scheint als Wort eigens dafür erfunden zu sein, um darauf aufmerksam zu machen, dass es neben der Idee Rom und neben den universalen Mächten (dem Papsttum und dem Kaisertum, für die oft einfach synonym „Rom“ gesetzt wird) auch noch eine – kümmerliche – historische Gegenwart Roms gibt, die zu ihrem Unglück auch noch an der Idee gemessen wird: Eine Trennung zwischen Idee und Wirklichkeit ist undenkbar bei anderen Städten, sogar bei ­Florenz oder Venedig. Und nicht nur Rom in seiner jeweiligen Gegenwart, gemessen an ­seiner alten Größe, sondern auch die jeweiligen Römer, gemessen an der 385

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Statur der Konsuln, der Märtyrer, der Renaissancekünstler; der Taschendiebstahl im 64er Bus gesehen gegen den Hintergrund römischer Heeresdisziplin, der Rohrbruch vor dem Hotel belächelt aus dem vagen Wissen von römischen Aquäduktsystemen. Auch in diesem Sinn ist die Präsenz der Vergangenheit in Rom stark, ja sie müsste die Römer in ihrer Gegenwart erdrücken, wären diese nicht durch ihr Wesen dagegen gefeit. Mögen Kaiser, Könige, Präsidenten auftreten, die Römer sahen das mit der Gelassenheit derer, die andere ankommen sehen und selbst immer schon da sind.

Zwischen europäischer und universaler Erinnerung Gibt es Aussagen über Rom, die von vornherein Rom als allgemeinen Bezugspunkt europäischer Entwicklung und Erinnerung darstellen, also eine europäische Rom-Erinnerung, die größer ist als die Summe der nationalen Erinnerungen? Und wenn es sie gibt: Lässt sich erkennen, ob eine solche Rom-Idee nur im Hirn von Humanisten und Historikern arbeitet oder auch im Gemüt schlichter Menschen nistet, also bis in die Kapillaren kollektiver Erinnerung eingedrungen ist? Auch hier sei zu besserer Veranschaulichung mit einer Episode begonnen, die in schlichten Worten Großes sagt. Ein mittelalterlicher Chronist, Dudo von Saint-Quentin, erzählt zum Jahr 860, ein Wikingerhäuptling habe, auf einem Raubzug mit seinen Drachenschiffen bis ins Mittelmeer vorstoßend und das kleine Luni bei Pisa erobernd, schon geglaubt, Rom eingenommen zu haben: ratus cepisse Romam caput mundi. Eine erstaunliche – keineswegs lächerliche, sondern ergreifende – Geschichte: Was für ein Rom-Bild mag dieser Barbar in sich getragen haben, aus was für ungestalten Klötzen mag seine Rom-Idee zusammengesetzt gewesen sein, dass er eine zerfallende römische Provinzstadt für Rom hielt? Vielleicht hatte man ihm, als er (sagen wir:) Hamburg plünderte, gesagt: Das ist das Rom des Nordens. Und da genügte jetzt vielleicht, dass er in Luni das erste Amphitheater seines Lebens sah, denn solch ein monumentaler Anblick war ihm gewiss noch nicht zugestoßen: Das muss Rom sein, sagte er sich, das richtige Rom. Das ist Rom-Erwartung, Rom-Idee nicht aus dem Hirn, sondern aus dem Gemüt: Vor jeder Anschauung, vor jedem Wissen, evoziert die bloße Nennung Roms bereits Vorstellungen. Diesen elementaren Vorstellungen 386

Rom – Stadtgeschichte als Weltgeschichte

sind wir gleichfalls auf der Spur, wenn wir die monumentalen Sentenzen nehmen, die es über Rom wie über kein anderes historisches Gebilde gibt, was immer sie dabei ansprechen: die Monumentalität Roms (Roma quanta fuit, ipsa ruina docet, „Wie gewaltig Rom ist, zeigen sogar noch seine Ruinen“) – da könnte man ja meinen: na, so reden halt die Dichter. Aber nein. Dass die monumentalen Ruinen der einstigen Größe Roms entsprechen (quanta fuit), ist etwas Spezifisches und nicht selbstverständlich; man denke an Thukydides, der über Sparta sagt: Wenn diese Stadt später einmal veröden würde, wird sich anhand dessen, was an Tempeln und Gebäuden übrig bleibt, niemand mehr vorstellen können, wie mächtig Sparta einmal war, kurz: „Sparta quanta fuit“ sagt nichts, „Roma quanta fuit“ aber sagt etwas. Und so sind es die heidnischen Monumente, mit denen das christliche Mittelalter Rom kenntlich macht. Also solche großen Sentenzen oder poetischen Formeln über Rom wie über kein anderes historisches Gebilde: die Überzeitlichkeit Roms (Quando cadet Roma, cadet et mundus, „Wenn Rom fällt, fällt auch die Welt“, Pseudo-Beda); die Einzigartigkeit Roms (Par tibi, Roma, nihil, „Dir, Rom, ist nichts gleich“, Hildebert von Lavardin); die Exemplarität Roms (Rom als die Urbs schlechthin); die Autorität Roms (Roma locuta causa finita, „Rom hat gesprochen, die Sache ist abgeschlossen“); die Weltgeltung Roms (Roma caput mundi, „Rom Haupt der Welt“); Rom als Abbild der Welt (Rome fut tout le monde, et tout le monde est Rome, Joachim du Bellay) und anderes mehr. Das sind Aussagen, die Rom von vornherein über jeden speziellen Bezug stellen – und von denen eine einzige genügte, im Gemüt jedes Barbaren das Bild Roms ins Unermessliche wachsen zu lassen. Rom ist hier mehr als nur europäischer Erinnerungsort, Rom ist hier Welttopos und war es schon damals, als die Welt und Europa noch deckungsgleich waren. Rom ist eben auch universeller Bezugspunkt und übersteigt damit jede übliche – nationale oder europäische – Dimension; ist ein „Weltknoten“, ein „Weltwesen“, wie Ferdinand Gregorovius gesagt hat, von dem auch das schöne Wort stammt, der Blick über Rom mache einen „mehr zum Philosophen als hundert Winterabende hinter dem Aristoteles“. Der Dimension des Universellen entgeht niemand, der sich mit Rom einlässt. Ja, Sigmund Freud hat das menschliche Erinnern und Vergessen, die Schichtung der „seelischen Vergangenheit“, am Beispiel der historischen Schichtung Roms demonstriert, um daran mit viel 387

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topografischem Detail zu veranschaulichen, dass „im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, daß alles irgendwie erhalten bleibt“. Rom hat immer nur große Vergleiche auf sich gezogen, so, wie es Bezugspunkt nur für große Ansprüche war (Venedig wie Konstantinopel als „zweites Rom“, Moskau als „drittes Rom“). Mit seiner hohen Legitimationskraft hat Rom allerdings auch allen alles geliefert: dem Kaiser Argumente gegen den Papst, dem Papst Argumente gegen den Kaiser, dem Kaiser Argumente gegen die Kommunen. Man konnte sich auf Gaius Iulius Caesar berufen wie auf die Caesar-Mörder, auf bewahrende Traditionen wie auf gracchische Reformen und, wenn man noch linker war, notfalls auch auf Spartakus. Aus der großen Truhe der Rom-Idee nimmt man sich einzelne Stücke heraus und instrumentalisiert sie zu Gegenwartszwecken: Aus der Rom-Idee wird das Rom-Argument. Denn es gibt nichts, was man Rom nicht entnehmen, und nichts, was man über Rom nicht aussagen könnte: Rom-Preis, Rom-Elegie, Rom-Beschimpfung.

Nationale, konfessionelle, zeitliche Divergenzen Wenn wir die Gemeinsamkeiten der europäischen Nationen bei ihrem Blick auf Rom stark hervorgehoben haben, so wollen wir doch auch die Unterschiede nicht übersehen. Ist ein gemeinsamer Nenner erkennbar, dann sind neben den Konvergenzen gerade die Divergenzen von Interesse. Es ist keine Frage, dass man – immer schon und besonders im 19. Jahrhundert – die eigene Rom-Beziehung auch mit Eifersucht auf den europäischen Nachbarn als privilegiert ansah: wir die würdigsten Erben des Reichsgedankens; aber wir die eigentlichen Erben des politischen Ingeniums; aber wir die wahren Interpreten römischer Kultur; aber wir die älteste Tochter der Kirche und so weiter. Schließlich waren ja die Rom-Erfahrungen auch objektiv verschieden: Im Rom der Renaissance sind die Franzosen Kardinäle und die Deutschen Bäcker; und, ob im Rom-Bild die Perspektive des Humanisten die bestimmende wird oder die des Pilgers, macht einen großen Unterschied. Und die Reformation. Auf den ersten Blick könnte man ja der Meinung sein, die Reformation habe Europa fortan auch darin halbiert, dass nur noch die katholische Hälfte auf Rom Bezug genommen habe. Doch gilt das nur im Sinn geistlicher Herrschaft, ist das Bild Roms sogar über 388

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solche Spaltungen erhaben. Und schließlich ist auch Rom-Polemik noch Rom-Bezug: Was wäre der damalige Protestantismus ohne das existenzielle Bedürfnis (und Pläsier), sich an Rom zu reiben? Man könnte sich umgekehrt vielmehr fragen, warum sich gerade protestantische Historiker so von der Papstgeschichte angezogen fühlten. Sie schrieben Papstgeschichte zwar in kritischer Distanz, aber mit höchstem Respekt vor der Geschichtsmächtigkeit des Papsttums, also nicht einfach aus der Perspektive von Wittenberg: Man denke an die Papstgeschichte von Leopold Friedrich Ranke. Ja, im Innern der päpstlichen Zensurbehörde argumentierte 1838 ein Gutachter, wie wir jetzt nach Öffnung des Archivs der Glaubenskongregation aus den Akten ersehen, im Fall von Ranke: Setzt ihn nicht auf den Index Librorum Prohibitorum, dieser Protestant schreibt Papstgeschichte weniger polemisch als mancher katholische französische oder italienische Historiker heute. Der massive Sockel europäischer Gemeinsamkeiten im Blick auf Rom hat also durchaus seine nationalen, konfessionellen, kulturellen Besonderheiten. Und auch die einzelnen Epochen hatten ihre unterschiedliche Rom-Nähe oder Rom-Ferne, wie man durch die Jahrhunderte verfolgen könnte. Rom-Nähe oder Rom-Ferne: Das Empfinden, ohne Rom nicht auskommen zu können, scheint im 18. Jahrhundert relativ gering. Das päpstliche Rom hatte politisch längst seine Bedeutung verloren und war in das Schussfeld der Aufklärung geraten, als Mittelpunkt eines Klerikerstaates von der modernen Staatslehre verachtet. Mit Rokokofestfassaden aus Pappmaschee, mit Grand-Tour-Tourismus und dem Verkauf von Antikenkollektionen lässt sich kein Staat machen. Gewiss: Charles de Montesquieu schreibt seine Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence (nicht eigentlich ein Buch über römische Geschichte, sondern über Gesetzmäßigkeiten historischen Wandels am Beispiel römischer Geschichte), Edward Gibbon schreibt seine History of the Decline and Fall of the Roman Empire (doch gehört sein Werk eigentlich schon in eine neue Zeit, wird vorbildlich für ganze spätere Historikergenerationen); Johann Joachim Winckelmann mag – selbst um den Preis der Konversion – nirgendwo anders leben als in Rom, aber er sieht schon durch Rom hindurch auf das Griechentum. Der überwältigende Eindruck der Ruinenwelt bleibt, doch hat im Vergleich zu anderen Epochen das 18. Jahrhundert an Rom weniger zu bewundern und zu erinnern. Ganz anders wiederum ist das 19. Jahrhundert in seinem Blick auf Rom, auch 389

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im wörtlichen Sinn: Der Blick der Maler auf Rom und seine Landschaft wird ein anderer, beginnend mit Engländern und Franzosen im späten 18. Jahrhundert, dann Deutschen und Skandinaviern: Die Schäfer verschwinden aus den Ruinen; der Himmel über der Campagna Romana darf sich endlich auch mit dunklen Wolken bedecken; statt den fröhlichen Landmann tanzen sieht man den schwitzenden Landarbeiter schuften. Gewandelt hat sich auch das Rom-Bild der Geschichtswissenschaft, die sich nun ausdrücklich als „kritisch“ bezeichnet, die „Dilettanti“ zunehmend aus ihren Reihen verdrängt und die Geschichte des alten Rom nicht mehr in erster Linie als Paradigma für das Vergehen von Weltreichen nimmt, sondern als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung – mit ganz unliterarischen Themen wie Agrarverfassung, Steuersystem, Sozialstruktur. Nun sind es jene Forschungsinstitute, deren Gründung in Rom man für besonders gerechtfertigt hält: auch das wieder ein gemeineuropäischer Vorgang.

Neuerfindungen von Rom Noch wichtiger aber ist, dass in diesem 19. Jahrhundert auch Rom selbst ein anderes wird: Es gewinnt eine neue politische Gegenwart und wird 1870 Hauptstadt des geeinten Italien – mit einem sozialen und urbanistischen Modernisierungsschub ohnegleichen. Die neue politische Rolle war nicht dazu angetan, die Position Roms als eines Bezugspunkts für Europa zu stärken. Vor allem die Italianisierung Roms durch die Nationalbewegung (wie später durch den Faschismus) schnitt es – nicht intendiert, aber de facto – aus dem europäischen Gedankengewebe heraus. Dass überhaupt das Rom der Gegenwart seine Stimme erhob, war für die Nichtitaliener, die meist doch nur das Rom der Vergangenheit beachteten, ungewohnt und irritierend. „Roma o morte“, wer hätte vorher so etwas gesagt? Und als diese nationale Selbstverpflichtung dann 1870 eingelöst und Rom italienisch wird – da stellt Theodor Mommsen dem italienischen Politiker Quintino Sella die berühmte Frage: „Was habt ihr mit Rom vor? In Rom kann man ohne kosmopolitische Vorhaben nicht sein!“ Womit er den Italienern, die Rom soeben entpapalisiert und nationalisiert hatten, in Erinnerung rief, dass niemand, nicht einmal die Italiener, sich Rom einfach aneignen könnten. Anders gesagt: Er forderte von den Italienern Rom als europäischen, ja universellen Erinnerungsort ein. 390

Rom – Stadtgeschichte als Weltgeschichte

Bei vergleichbaren Themen wird dem Historiker gern die Frage gestellt, welches (Rom oder Florenz oder Spanien) denn gemeint sei, und meistens lässt sich das auch präzisieren, etwa: das Florenz der Renaissance, das Spanien der Entdeckungen. Nicht so bei Rom. Bei Rom fragt man nicht danach, wann sein „Eigentliches“ anzusetzen sei. Nicht der Historiker macht etwas aus Rom, sondern Rom macht etwas aus dem Historiker. Und so könnte man abschließend fragen: Was ist am Ewigen Rom denn eigentlich das Ewige? Doch wohl, dass Rom, nachdem es als Haupt eines Weltreichs, das vielen Regionen Europas den Grund legte, gestürzt worden war, sich – in völlig neuen Zusammenhängen – abermals zum Haupt einer Welt erheben konnte, nun zum Haupt der Weltkirche. Und dass Rom so auf andere, aber nicht weniger herrscherliche Weise fortfuhr, Europa zu beherrschen und zu durchdringen, aber auch in nachmittelalterlicher Zeit als Zentrum von Kultur und Kunst in ungebrochener Vitalität unvergessene Impulse zu geben.

Literatur Arnold ESCH, Wiederverwendung von Antike im Mittelalter. Die Sicht des Archäologen und die Sicht des Historikers, Berlin 2005. Marc FUMAROLI, Rome dans la mémoire et l’imagination de l’Europe, Rom 1997. Andrea GIARDINA und André VAUCHEZ, Il mito di Roma. Da Carlo Magno a Mussolini, Rom/Bari 2000. Walter KASPER, Rom, in: Christoph Markschies und Hubert Wolf (Hg.), Erinnerungsorte des Christentums, München 2010, S. 107–127. Michael MATHEUS, Rom, in: Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis, Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, München 2012, S. 263–279. Paolo VIAN (Hg.), Speculum mundi. Roma centro internazionale di ricerche umanistiche, Rom 1992.

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Das Recht als Versprechen Europa zeichnet sich durch eine besondere Achtung des Rechts aus. Die Entwicklung umfassender Regeln und Prinzipien hat zu einem Bündel universeller Rechte und zu Strukturen geführt, die diese schützen – und Europa damit zu einem Versprechen des Rechts gemacht.

Allegorie auf das Zwölftafelgesetz aus einem rechtshistorischen Buch von 1555. 

Das Recht als Versprechen

Europa ist geprägt von Recht. Stets wurde Recht gesetzt, ausgelegt und angewendet. Priester, Philosophen und Rechtskundige (iuris periti) entwickelten Regeln, Maximen oder Prinzipien der „Gerechtigkeit“, schrieben sie auf und entschieden Einzelfälle, aus denen schrittweise Rechtssammlungen und Gesetzestexte entstanden. Einzelne und deren Familien, ganze Völker und Staaten kämpften um „ihr Recht“. Die elementaren Postulate zum Schutz der Menschen- und Bürgerrechte sind im europäischen Raum entstanden, ebenso die zu deren Schutz erdachten Verfassungen ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Was heute zu einem universal anerkannten Katalog derjenigen Rechte zählt, die dem Menschen unabhängig von Ort und Zeit zukommen sollen, gehört zu einem weit verstandenen Europa. Auch wenn alle anderen Kulturen innerhalb eines religiös-moralischen Komplexes Regeln des Zusammenlebens entwickelt haben, so ist Europa doch in besonderer Weise auf das Recht fixiert. Dies erschließt sich vor allem dem historisch vergleichenden kultur- und rechtsgeschichtlichen Blick.

Das geschriebene Recht als Quelle Europa ist mit seinen vielen Völkern und Sprachen, seinen Kriegen und Friedensschlüssen immer als geistige Einheit verstanden worden. Während des Mittelalters bildeten westliches „Abendland“ und östliches „Morgenland“ noch ein elliptisches, einheitlich denkbares christliches Europa. Seine Brennpunkte waren Ostrom (Byzanz) und Westrom (Rom). Während Byzanz in der Mitte des 15. Jahrhunderts von den Osmanen erobert wurde, umfasste das westliche „lateinische“ Europa wesentlich die von der römischen Kirche geformten Länder, einschließlich Englands und Skandinaviens, des Baltikums, Polens und Litauens sowie des südöstlichen Gürtels von Ungarn bis zum Balkan. Traditionell wurde auch das orthodoxe russische Zarenreich ohne seine sibirischen und asiatischen Teile dazugerechnet. Dieser wandelbare und von Divergenzen der Sprachen, Kulturen, dynastischen Loyalitäten und Konfessionen geprägte Raum ist seit der Antike stets auch als Rechtsraum verstanden worden. Seine Grundlagen sind Schriftlichkeit, Legalismus und Rationalität. Die zentralen Rechtssätze wurden – wie im Alten Orient unter Hammurapi (1792–1750 v. Chr.) und im Dekalog des Alten Judentums (fixiert etwa im 7. Jahrhundert 393

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v. Chr.) – in Stein gemeißelt oder in Metall gegossen. Sie waren lesbar, erlernbar und auf diese Weise traditionsbildend. Dies gilt auch für die athenischen Gesetze Solons (594 v. Chr.), für das kretische Stadtrecht von Gortyn (500–450 v. Chr.) und vor allem für die legendären römischen Zwölftafelgesetze (451/450 v. Chr.). Mit letzteren, so ungesichert ihr Text sein mag, beginnt die weltgeschichtliche Rolle des römischen Rechts. Mit dieser Orientierung auf Texte (Schriftlichkeit) ist zugleich der Gedanke verbunden, das von der jeweiligen Autorität gesetzte „Wort“ sei für die Ordnung maßgebend. Wie dunkel und auslegungsbedürftig dieses Wort sein mochte, es war doch Ausdruck eines an Sprache gebundenen Geltungswillens. Ein Gott, ein dem Gott als Sprachrohr dienender Mensch, eine irdische Autorität jeder Art – gleichviel, der Befehl war ausgesprochen und sollte befolgt werden (Legalismus). Normativ waren Willkürhandlungen außerhalb des Gesetzes ausgeschlossen. Wer das Gesetz überschreiten oder anders auslegen wollte, musste „argumentieren“. Das sind die Anfänge rechtlicher Regel- und Kanonbildung sowie der Bezugnahme auf Denkgesetze (Rationalität).

Die drei Wunder des Mittelalters Um die Rolle des Rechts in Europa verständlich zu machen, muss an eine elementare und immer wieder bestätigte Einsicht erinnert werden. Sie besagt, dass sich das mittelalterliche und neuzeitliche Europa in mehreren Wellen des geistigen Erbes der Antike versichert habe. Das geschah erstmals in der sogenannten karolingischen Renaissance, in der nicht nur imperialer Gestus, Titulatur und Gesetzgebungsaktivität des römischen Prinzipats wiederaufgenommen wurden, sondern auch erste Texte der antiken Literatur wieder ans Licht kamen. Eine zweite Welle stieg dann – weitaus intensiver – im 11. und 12. Jahrhundert auf. Nun nutzte Kaiser Friedrich I. Barbarossa das römische Recht als Stütze seines Herrschaftsanspruchs, Privilegien zugunsten des Rechtsstudiums in Bologna (1158) wurden erteilt und es begann, was man das „erste Wunder“ des 12. Jahrhunderts nennen könnte, das Aufblühen einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur. Auf die Universitäten Bologna und Pavia folgen im 13. und 14. Jahrhundert rasch aufeinander Rechtsschulen in Padua, Neapel, Montpellier, Avignon und Toulouse, Salamanca, Valladolid, Lérida, Coimbra, 394

Das Recht als Versprechen

Prag, Krakau, Wien, Pécs, Heidelberg und Köln, um nur die wichtigsten zu nennen. Dort entstand in einem offenen und frei begehbaren Bildungsprozess ein europäisches Netzwerk von „Juristen“, also ein eigener, durch Spezialwissen geprägter und entsprechend anspruchsvoller Berufsstand. Die Juristen kamen nicht mehr aus den Kloster- und Kathedralschulen der Kirche, sondern bildeten in den privilegierten Universitäten eigene Fakultäten, an denen auch Elemente von Rhetorik und Philosophie, notarielle, anwaltliche und diplomatische Fähigkeiten erworben werden konnten. Dieses „erste Wunder“ setzte eine in der Völkerwanderung und im Frühmittelalter niemals ganz abgerissene Tradition des römischen Rechts voraus. Sie zeigte sich nicht nur in der „Gesetzgebung“ der in das Römische Reich eingedrungenen germanischen Stämme (leges barbarorum), sondern auch in zahlreichen kommentierten Bruchstücken antiker Rechtsüberlieferung. Das aufblühende Städtewesen und der Fernhandel sowie eine damit einhergehende allgemeine „Verrechtlichung“ des sozialen Lebens verlangten aber mehr. Es war daher eine welthistorische Fügung, dass im 11. und 12. Jahrhundert in mehreren Stufen der mehr oder weniger verlorene Text der Digesten (Pandekten) auftauchte. Er gelangte aus Unteritalien nach Pisa sowie 1406 nach Florenz und wird heute als Codex Florentinus – „F“ – in der Biblioteca Laurenziana als große Kostbarkeit verwahrt. Damit war der wesentliche Teil der Textmasse wieder verfügbar, die im 6. Jahrhundert aus den Schriften der juristischen Klassiker aus der Zeit der späten römischen Republik und der Kaiserzeit verbindlich gemacht worden war. Worum handelte es sich? Der in Ostrom (Byzanz) regierende Kaiser Justinian I. (reg. 527–565 n. Chr.) ließ zunächst die älteren kaiserlichen Anordnungen und Lösungen von Einzelfällen (constitutiones, Edikte, Mandate, Dekrete und Re­skripte) in einem neuen Codex Iustinianus sammeln (529, überarbeitet 534 n. Chr.). Anschließend kompilierte eine Kommission aus nahezu 2000 Juristenschriften der klassischen Zeit die wichtigsten Zitate (knapp 10 000) und brachte sie – überarbeitet – in eine plausible Ordnung. Das ergab in erstaunlich kurzer Zeit ein Gesamtwerk von 50 Büchern, in Kraft gesetzt am Ende des Jahres 533 n. Chr., die sogenannten Digesten. An Codex und Digesten schloss sich noch ein knappes Lehrbuch an, die Institutionen. Damit war der Komplex im Wesentlichen abgeschlossen. Er sollte seit seiner Wiederbelebung in Oberitalien welthistorische 395

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Bedeutung erlangen und zum Fundament des europäischen Rechtsverständnisses werden. Zu diesem „ersten Wunder“ des 12. Jahrhunderts kommt noch ein zweites hinzu, gleichfalls in Bologna. In der Kirche hatten sich seit dem Urchristentum Konzilsbeschlüsse, päpstliche Einzelentscheidungen, Lehrschreiben und sogenannte Canonessammlungen in großer Menge angehäuft. Nun erreichte ein Einzelner, der Kleriker Gratian, eine vergleichbare Ordnungsleistung, indem er das bis 1139 vorliegende vorhandene Material in nahezu 4000 Capitula harmonisierte und kommentierte. In dem nach ihm benannten Decretum Gratiani geht es um die Bestimmung kirchlicher Rechtsquellen, um Personen- und Ämterrecht, Prozessrecht, Vermögensrecht, Ordensrecht und Eherecht. Eingeschoben ist ein eigener Traktat über Strafrecht und Kirchenbußen. Am Ende steht die Lehre von den Weihehandlungen und Sakramenten. Diese Privatarbeit, die aber bald faktische Gesetzeskraft erlangte, wurde in ganz ähnlicher Weise wie das römische Recht von den folgenden Generationen der „Kanonisten“ (Dekretalisten) wissenschaftlich bearbeitet, kommentiert und in einzelnen Traktaten entfaltet. Neue Sammlungen entstanden, die schließlich im Zuge einer Redaktion von 1582 eingearbeitet wurden. Das Gesamtwerk (Corpus Iuris Canonici) blieb bis 1917 in Kraft. Das römisch-italienische Ius commune (Corpus Iuris Civilis) und das kirchliche kanonische Recht (Corpus Iuris Canonici) durchdrangen sich gegenseitig auf subtile Weise. Das kirchliche Prozess- und Strafrecht veränderten den weltlichen Prozess und schufen die Vorstellung individueller Zurechnung (Schuld), umgekehrt übernahm das Kirchenrecht gemeinrechtliche Begrifflichkeit und Systematik. Trotz der seit dem Hochmittelalter einsetzenden Trennung kirchlicher und staatlicher Gewalt blieben beide Seiten eng miteinander verzahnt. Weltliche und geistliche Ordnung wurden komplementär gedacht und praktiziert. Die kirchliche Ämterordnung, das Finanzwesen und vor allem die Gesetzgebungsmacht wirkten vorbildlich für die Entstehung des weltlichen Staates im gesamten „lateinischen“ Europa. Das neue europäische Universitätswesen verbreitete wissenschaftlich-juristisches Denken und strukturierte auf diese Weise den „europäischen Rechtsraum“. Bis in die Gegenwart hieß der höchste Ausbildungsgrad „Doktor beider Rechte (utriusque iuris). Der große doppelte Bogen des in der Praxis vielfältig 396

Das Recht als Versprechen

verwandelten, angereicherten und an neue ökonomische Bedingungen angepassten römischen „gemeinen“ Rechts und des Kirchenrechts überspannte rund 700 Jahre und senkte sich erst im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Nationalismus und der Nationalkodifikationen einerseits, der durch die Säkularisationen um 1800 weltlich entmachteten Kirche andererseits. Jeder der alten und viele neue Nationalstaaten gaben sich nun Gesetzbücher des Zivil- und Strafrechts, schufen Gerichtsverfassungen und Prozessordnungen, Handelsgesetzbücher, große Komplexe neuen Gesellschaftsrechts, Industrierechts und Versicherungsrechts. Vor allem in den Zivilgesetzbüchern blieben aber die alten gemeinrechtlichen Grundlagen erhalten, allerdings nun in historisch „gereinigter“ und nach neuen wissenschaftlichen Kriterien geordneter Form. Aber auch in den davon unabhängigen Gesetzen schimmert bis heute die gemeinrechtliche Systematik und Regulierungstechnik durch. Ein „drittes Wunder“ des Hochmittelalters war die Wiederaneignung der antiken Philosophie, insbesondere des Aristoteles, der in der Scholastik durch Thomas von Aquin zum Philosophen schlechthin aufstieg. Seine „Politica“ aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. wurde von Wilhelm von Moerbeke (um 1215–1286) ins Lateinische übersetzt. Sie war das am meisten gelehrte, kommentierte und immer wieder auf neue Lagen umgesetzte Buch zur politischen Theorie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Es gehörte zur Grundausbildung an den Universitäten, auch für Juristen. Die protestantischen Länder haben dies im Neoaristotelismus des 16. und 17. Jahrhunderts weiter intensiviert. Anhand der Lektüre und der zahlreichen Kommentierungen von Aristoteles’ Politik lernte man in ganz Europa die Unterscheidung guter und schlechter Staatsformen, hörte von den Vorzügen der „gemischten“ Verfassung, definierte das gute Regiment und den Staatszweck „Gemeinwohl“, erörterte die Staatskrankheiten und ihre Heilung. Nimmt man zu Aristoteles’ Politik noch die gesamte antike Staatsliteratur, insbesondere Cicero und Tacitus sowie die staatsrechtlichen Bruchstücke des römischen Rechts, hinzu, dann hat man die Fragen im Blick, die das europäische politischjuristische Denken beherrschten: Wie entsteht der Staat und wie lässt er sich legitimieren, welches ist die beste Verfassung, was ist Souveränität und wer ist Träger der Staatsgewalt, welchen Bindungen unterliegt er, wer hat das Recht der Gesetzgebung, wer darf Steuern erheben und zu welchem Zweck? Diese Debatte war europäisch und überkonfessionell. 397

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Sie leistete, was sich für das gesamteuropäische Bewusstsein als zentral erweisen sollte: eine Verständigung über die Elementarsätze einer wissenschaftlichen Politik, über die Rechtsgrundlage legitimer Herrschaft sowie über deren Begrenzung durch übergeordnete Normen, einschließlich des (höchst umstrittenen) Widerstandsrechts gegen den illegitimen Herrscher. Ohne diese gewissermaßen zur Selbstverständlichkeit gewordene Rechtsbindung der Obrigkeit wäre die Verfassungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts gar nicht denkbar gewesen. Ohne die antike Lehre von den gemischten Staatsformen (respublica mixta) und ohne die Einübung des Satzes „rex regnat, sed non gubernat“ seit dem 16. Jahrhundert wäre die Trennung von Regierung und Verwaltung – und damit auch die moderne Gewaltentrennungsdoktrin – nicht akzeptiert worden. Ohne die jahrhundertelange Praxis genossenschaftlicher und städtischer Selbstverwaltung gäbe es keine moderne Demokratie. „Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debetur“ (was alle angeht, muss von allen gebilligt werden) ist ein mittelalterlicher Satz. Dass das Volk als oberste Legitimationsquelle gelten solle, wurde von Marsilius von Padua im 14. Jahrhundert formuliert. Auch wenn man diese Anfänge nicht im Sinne des modernen demokratischen Prinzips und der Volkssouveränität lesen darf, so nehmen doch hier Gedankenströme ihren Ursprung, die später – in ganz anderen Kontexten – herrschend und geschichtsmächtig werden sollten.

Die Entstehung eines universellen öffentlichen Rechts Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert entfaltete sich in ganz Europa das neuzeitliche Natur- und Völkerrecht (ius naturale, ius gentium europaeum). Es bediente sich seiner aristotelischen, römisch rechtlichen und mittelalterlichen Quellen, es begleitete die Entstehung des modernen Staates der frühen Neuzeit als die rationale, für alle Gemeinwesen passende Rechtstheorie und entwickelte Schritt für Schritt ein „ius publicum universale“, das später „Allgemeine Staatslehre“ und schließlich „(Europäische) Verfassungslehre“ genannt wurde. Es bot die Möglichkeiten, eine Konstruktion der Herrschaftsverhältnisse im Innern eines Staates zu liefern (vor allem durch die Erfindung des fiktiven Herrschafts- und Unterwerfungsvertrags), Rechte und Pflichten der Individuen ebenso wie Rechte und Pflichten des Herrschers zu definieren. Die demokratischen Grundprinzi398

Das Recht als Versprechen

pien, die Menschen- und Bürgerrechte zur Distanzbestimmung zwischen Individuum und Staatsgewalt, die wechselseitige Balance und Kontrolle der Staatsfunktionen – alle diese Denkfiguren, die den modernen Verfassungsstaat kennzeichnen, sind das Ergebnis einer in die Antike zurückreichenden Tradition. Die um diese Fragen kreisende Debatte verlief wahrhaft europäisch. Alle prägenden Theoretiker – von Thomas von Aquin und Marsilius von Padua, Thomas Morus und Niccolò Machiavelli, Jean Bodin, Johannes Althusius, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, John Locke und Jean-Jacques Rousseau bis zu den politischen Denkern des 19. und 20. Jahrhunderts – haben diesen Grundbestand immer neu verwandelt und mit seiner Hilfe die politischen Zustände ihrer Gegenwart reflektiert. Die großen Verfassungsdokumente (Magna Charta 1205, Goldene Bulle 1356) gehören zum UNESCO-Weltkulturerbe. Gewiss hat der Staat in Europa hundert Gestalten. Er hat so viele historische Verschiedenheiten wie es Landschaften, Regionen und Sprachen gibt. Europa kennt Zentralstaaten und Bundesstaaten, unabhängige Städte, Parlaments- und Präsidialherrschaften, direkte und repräsentative Demokratien, Monarchien und Republiken. Diese Staatsformen sind auf dem langen Weg von der imaginären Civitas Dei des heiligen Augustinus über den mittelalterlichen Dualismus von Kirche und Staat schließlich weltlicher Staat geworden. Seit dem 16. Jahrhundert ist sein wesentliches Instrument die Gesetzgebung. An die Stelle von Gottes Allmacht trat die gesetzgeberische Allmacht des Souveräns, allerdings eines an seine Grundgesetze gebundenen Souveräns. In der modernen Form heißt er Verfassungsstaat. Diese historisch erstaunliche Entwicklung hat etwas hervorgebracht, was man „gemeines europäisches Verfassungsrecht“ nennen könnte. Es ruht auf dem prinzipiellen und faktischen Konsens über Basiselemente der Verfassungen. Die Staaten wollen parlamentarische Demokratien mit freiheitlichem Wahlrecht sein, außerdem Rechtsstaaten mit unabhängigen Richtern, sie wollen Menschen- und Bürgerrechte wirksam garantieren, wollen die Staatsfunktionen horizontal und vertikal gliedern, um Machtmissbrauch zu verhüten. Alle Staatsfunktionen sollen sich „öffentlich“ vollziehen. Minderheiten sollen besondere Garantien erhalten und alle Bürger sollen ein Minimum an ökonomischer Gleichheit und Schutz vor elementaren Lebensrisiken genießen. Dies sind die Prämissen, unter denen sich die werdende gemeinsame Rechtsund Verfassungsordnung Europas entwickelt. 399

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Das europäische „gemeine Recht“ Man muss also die genannten drei „Wunder“ des 12. Jahrhunderts gewissermaßen als eine sich gegenseitig stützende Einheit sehen. Die aus den Texten des römischen Rechts ab dem 12. Jahrhundert aufsteigende europäische Rechtswissenschaft hat ihre Spuren vor allem im Privatrecht hinterlassen. Das daraus entstandene „gemeine Recht“ ist im 18. und 19. Jahrhundert in die nationalen Bürgerlichen Gesetzbücher übergegangen. Letztere wären ohne die in den Jahrhunderten zuvor entwickelten dogmatischen Lösungen für die typischen zivilrechtlichen Konflikte undenkbar gewesen. Das erlaubt und erleichtert heute die innereuropäische Rechtsvergleichung und alle Einzelschritte hin zu einer europäischen Rechtsharmonisierung. An Letzterer wird aus gleichermaßen politischen und wirtschaftlichen Motiven gearbeitet. Eine vollständige europäische „Rechtseinheit“ wird nach menschlichem Ermessen nicht zu erreichen sein, jedenfalls solange Europa ein Staatenbund besonderer Art bleibt, in dem die Einzelstaaten ihre zentralen Gesetzgebungskompetenzen behalten. Europa bewahrte auch im Recht stets gleichzeitig Einheit und Vielfalt. Die das „lateinische“ Europa umklammernde Dreiheit von römischem Recht, kanonischem Recht und Staatsdenken ist nicht so zu verstehen, als habe sie alles einheimische partikuläre Recht unterdrückt oder verdrängt. Ganz im Gegenteil: Das Europa des Mittelalters und der Neuzeit war durchweg „multinormativ“. Über die alten oral tradierten Rechts­ gewohnheiten (droit coutumier) legten sich im Lauf der Jahrhunderte mehrere Schichten. Genannt sei hier das Lehenrecht, entstanden aus Schutz- und Militärhilfeversprechen sowie Landvergabe. Es bewahrte bis zur Entstehung der Söldnerheere im 15. Jahrhundert seine Funktion, verwandelte sich dann aber in einen eigentumsähnlichen Titel. Vielfältig waren weiter die unzähligen Stadtrechte und Landrechte. Die ständische Ordnung jener Zeit sah zudem für jeden „Stand“ eigene Rechte vor, etwa für den geistlichen Stand das Kirchenrecht, für die Kaufleute das Kaufmanns- und Handelsrecht, für die in Zünften zusammengeschlossenen Handwerker die Zunftrechte. Ab dem 15. Jahrhundert breiteten sich über Stadt und Land die Gebote der Obrigkeiten zur Ordnung der „guten policey“ aus. Sie regulierten das gesamte Leben des Gemeinwesens im Sinne des aristotelischen „guten Lebens“. Im 16. und 17. Jahrhundert wuchsen 400

Das Recht als Versprechen

sie zu umfassenden „Policeyordnungen“ zusammen und entfalteten sich bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert in kaum überschaubarer Fülle. Diese „Multinormativität“ warf natürlich erhebliche Probleme auf, besonders vor den vielen miteinander konkurrierenden Gerichten. Jeder Richter hatte nach Stand und Zugehörigkeit, nach dem zuständigen Gericht und nach dem anzuwendenden materiellen Recht zu fragen. Welches der vielen Rechte sollte primär und welches – im Fall von Lücken – sollte subsidiär gelten? Galt zunächst das lokale, einheimische Recht als vorrangig, was freilich zu beweisen war, das römische Recht als subsidiär, so drehte sich im Zuge allmählicher Durchsetzung des gelehrten, am römischen Recht geschulten Richtertums das Verhältnis um: Für das römische „gemeine“ Recht galt nun eine Vermutung, die aber durch den Nachweis spezieller lokaler Rechte entkräftet werden konnte. Wurde schon für das weltliche „gemeine Recht“ die einzigartige Bedeutung als europäisches Phänomen unterstrichen, so gilt dies in gleicher Weise für das kanonische Recht. Schon seine Trennung vom weltlichen Recht „in der Wurzel“ ist für die moderne Distanz zwischen Staat und Kirche und damit für das Grundrecht der individuellen und kollektiven Glaubensfreiheit ausschlaggebend. Auch wenn jede europäische Nation die Trennung von Staat und Kirche anders ausgestaltet hat, so gilt doch die gemeinsame Überzeugung, dass weltliche und geistliche Gewalt unterschiedlichen Sphären angehören und sich unterschiedlich legitimieren. Hier liegt auch der Unterschied zu den orthodoxen Kirchen Russlands, der Ukraine, Bulgariens, des Balkans, Griechenlands und Syriens, die gewissermaßen als Nachfahren des byzantinischen „Ostrom“ eine intensivere Verflechtung von Kirche und Staat kennen. Das „römische“ Kirchenrecht war insgesamt zentralistischer. Es verfügte ab der Durchsetzung der päpstlichen Gesetzgebungsgewalt im 13. und 14. Jahrhundert über eine zentrale regulierende Instanz. Ihr gelang es, Sonderentwicklungen in den einzelnen Diözesen unter Kontrolle zu halten und auf „Rom“ auszurichten. Dort entschied der Gerichtshof der Rota Romana die Zweifelsfälle. Und nachdem 1582 die sogenannten Correctores Romani den Kernbestand des Corpus Iuris Canonici amtlich festgeschrieben hatten, war eine moderne Kodifikationsstufe erreicht – früher als in allen weltlichen Herrschaften und Staaten. Schließlich floss das öffentliche Recht der Neuzeit, verstanden als Sammelbegriff für Verfassungsrecht, allgemeine Staatslehre, Natur- und 401

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Völkerrecht, aus verschiedenen Quellen. Auf der einen Seite war es ein Abkömmling des antiken Erbes von römischem Recht und griechischrömischem Staatsdenken, auf der anderen Seite regelte es konkrete Herrschaftsverhältnisse und mündete sowohl in eigentümlichen Institutionen, etwa den Parlements und anderen Obergerichten, als auch in den ländertypischen „Fundamentalgesetzen“, den Vorläufern der späteren Verfassungen der Nationalstaaten. Dies ist das Grundmaterial für die heutige „Europäische Verfassung“, wie sie sich im Vertrag von Maastricht (1992) und im Vertrag von Lissabon (2009) präsentiert und den politischen Zustand der immer noch mit vielen Unwägbarkeiten belasteten Europäischen Union abbildet. Wie auch immer sich die europäische Zukunft gestalten wird, ihre verfassungsrechtliche Semantik stammt aus den Herkunftsgebieten des römischen und des kanonischen Rechts sowie der Staatsphilosophie von Antike, Mittelalter und Neuzeit.

Common Law und europäische Konvergenzen Alles bisher Gesagte bezog sich auf Kontinentaleuropa. Dort war das römische Recht tatsächlich das bedeutendste Ferment einer europäisch verbindenden Rechtskultur. England (ohne Schottland), Skandinavien, Russland, die westlichen Provinzen des Osmanischen Reichs, die hier beiseite bleiben, wurden aus unterschiedlichen Gründen vom römischen Ius commune nicht berührt. Dennoch gehören sie zur europäischen Rechtskultur, und zwar aus mehreren Gründen. Die lernwilligen Scholaren des Mittelalters und der frühen Neuzeit wanderten quer durch Europa. Zulassungsbeschränkungen und sprachliche Hemmnisse gab es nicht, unterrichtet wurde in Latein. Schon deshalb diffundierten die Rechtskenntnisse in alle Regionen, auch wenn sich dort unterschiedliche Justizapparate ausbildeten. Wo die Gerichte bis in die Gegenwart nicht von römischrechtlich „gelehrten“ Richtern, sondern von Laienhonoratioren besetzt waren, genügte das heimische, in Entscheidungssammlungen und Gesetzbüchern aufbewahrte Recht. In anderen Ländern, speziell in England, entwickelte sich ab der normannischen Eroberung (1066) ein eigentümliches Justiz- und Ausbildungssystem. Dort standen während des Mittelalters die Gerichte der Grafschaften, der Grundherren, der Städte und Boroughs neben den geistlichen Gerichten. Mit der Herausbildung der königlichen Macht 402

Das Recht als Versprechen

­ ildeten sich dann drei zentrale Gerichte (Court of Exchequer, Court of b Common Pleas, Court of King’s Bench), deren Entscheidungen das für England bis heute geltende common law formten. Wie im antiken römischen Recht bildeten sich in England typische Klageformeln (writs) aus. Die dabei entstehende Vielfalt wurde in den klassischen Juristenschriften des 12. und 13. Jahrhunderts (Ranulf de Glanville, Henry de Bracton) erstmals geordnet und später an die Zustimmung des Parlaments gebunden. Das Parlament selbst setzte daneben ab dem 13. Jahrhundert durch sogenannte statutes neues Recht. Richterrecht und Gesetzesrecht standen also nebeneinander. Soweit die Gerichte des common law nicht angerufen werden konnten, wurde die Lücke im Rechtsschutz durch eine bei dem königlichen Kanzler am Court of Chancery entstandene, von Formalien entlastete Rechtsprechung nach Billigkeit (equity) ausgefüllt. Hier und an weiteren königlichen Gerichten wirkten nun zunehmend gelehrte Richter, die auch für römisches Recht offen waren. Allerdings verhinderten die ständisch organisierten und mächtigen Anwälte (Barrister), die auch die Juristenausbildung übernahmen, die auf dem Kontinent übliche Verwissenschaftlichung und Verstaatlichung des Juristenstands. Im Machtkampf zwischen Königtum und Parlament während des 17. Jahrhunderts vertraten die Anwälte mehrheitlich die Position des Parlaments und damit des common law. Von herausragender Bedeutung wurden dabei die vier Bücher von Sir Edward Coke, Institutes of the Laws of England (1628–1644). Im 18. Jahrhundert konnte man dann von einer in sich geschlossenen Rechtsordnung des common law sprechen. Seine über­ ragende Darstellung erlangte es durch die Commentaries on the Laws of England (vier Bände, 1765–1769) von Sir William Blackstone (1723– 1780). Mit Blackstone begannen auch der akademische Unterricht in englischem Recht und die Ausstrahlung des Common Law auf den gesamten Raum des englischen Commonwealth sowie auf die Vereinigten Staaten – durchaus vergleichbar mit der Breitenwirkung des römischen Rechts. Dieses Common Law, das zur bedeutendsten „Rechtsfamilie“ der modernen Welt aufstieg, ist also nach seiner Genese eine besondere insulare Rechtsordnung. Da sie aber über das römisch-italienische Recht – teilweise wieder vermittelt über das kanonische Recht der mittelalter­ lichen Kirche – angeschlossen war und auch den kontinentalen Prozess 403

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der Verwissenschaftlichung auf besondere Weise vollzog, besteht an der Zugehörigkeit des englischen Rechts zum westeuropäischen Recht kein Zweifel. Im Vergleich zum Kontinent ist die Fortbildung des Rechts durch richterliche Entscheidungen stärker ausgebildet, während dort der Akzent eher auf die systematisch angelegten Kodifikationen des Gesetzesrechts gelegt wurden. Seit Langem werden jedoch Konvergenzen zwischen „Richterrecht“ und „Gesetzesrecht“ diesseits und jenseits des Ärmel­ kanals beobachtet. Geradezu fundamental ist jedoch der Beitrag Englands zum europäischen Verfassungsdenken. Die lange Reihe berühmter Dokumente (Magna Charta Libertatum, 1215; Petition of Right, 1628; Habeas Corpus Act, 1679; Bill of Rights, 1689) führte zu den grundlegenden europäischen und amerikanischen Verfassungstexten und damit zur menschenrechtlichen Tradition Europas. Ebenso sind Staatsdenker wie Thomas Hobbes, John Locke, Jeremy Bentham und John Stuart Mill, um nur diese zu nennen, aus der europäischen Debatte um Errichtung und Begrenzung von Staatsmacht, Bindung und Freiheit nicht wegzudenken. Der europäische Rechts- und Verfassungsraum und das Commonwealth mit seiner Tradition des Common Law sowie seinen fundamentalen Beiträgen zum Staatsdenken bilden also einen eng verzahnten historischen Komplex. Seit dem Aufstieg Amerikas zur Weltmacht im 19. und 20. Jahrhundert ist auch das angloamerikanische Recht ein Weltrecht geworden, nicht anders als das römische Recht der Antike. Auf dem europäischen Kontinent hat das römisch-italienische Recht vom 12. bis zum 20. Jahrhundert den Weg zum nationalen Gesetzgebungsstaat genommen und hat sich auf seine Weise über „Rezeptionen“ oder „Translationen“ in der ganzen Welt verbreitet. Vom Zeitpunkt der Entstehung des Rechts bis zur Gegenwart spannt sich ein 2000 Jahre überbrückender Bogen. „Europa als Rechtsraum“ oder „Europa als Rechtsgemeinschaft“, diese Formeln fordern und legitimieren, und zwar in dreifacher Weise: Als man ab 1947 an den schrittweisen Aufbau europäischer Institutionen ging, dachte man zunächst an einen gemeinsamen Raum der Menschenrechte. Der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der neu gegründeten Vereinten Nationen (Paris, 10. Dezember 1948) folgten die Europäische Menschenrechtserklärung und die Gründung des Europarats mit dem Gerichtshof in Straßburg (1949). Europa als Rechtsraum bedeutete insoweit die Anerkennung 404

Das Recht als Versprechen

jenes alten ethisch-rechtlichen Erbes, das nun – nach der Verletzung durch Kriege, Genozid und Vertreibungen – wieder auf „Gesetzestafeln“ stabilisiert und eingeschärft werden sollte. Von der Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“, wie sie Winston Churchill in seiner Zürcher Rede am 19. September 1946 entwarf, freilich ohne England und Russland, schien aber zunächst nur ein Nahziel erreichbar, der ökonomische Zusammenschluss. Nach Montanunion und Euratom entstand mit den Römischen Verträgen von 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). „Europa als Rechtsgemeinschaft“ verengte sich damit jahrzehntelang auf das Recht der EWG, auf den Austausch von Waren und Dienstleistungen, später auf den Raum der gemeinsamen Währung und der Aufhebung der Grenzen, wenigstens in „Kerneuropa“. Bald darauf erweiterte sich der Raum wieder schrittweise zu einer politischen Europäischen Union in der heutigen Gestalt. Die Sequenz der Verträge von Maastricht bis Lissabon gab dem Gebilde die heute geltende „Verfassung“. Die Formel „Europa als Rechtsraum“ legitimierte insoweit den Aufbau der europäischen Institutionen. Mit der Aktivierung des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte seit 1990 und seit der Flüchtlingswelle der Jahre 2014–2017 rückt aber der menschenrechtliche Kontext des europäischen Rechts wieder stärker in den Vordergrund, nicht ohne Spannungen zu den europäischen wirtschaftlichen und sozialen Interessen. Europa ist also gleichzeitig Wirtschaftsraum, politischer Verfassungsraum und menschenrechtliches Versprechen. Dass das eine nicht ohne das andere gedacht werden kann, ist der Kern der heutigen Problematik. Eine dritte Variante der Formel „Europa als Rechtsraum“ evoziert eine von Rechtshistorikern, Rechtsvergleichern und Wirtschaftsrechtlern gleichermaßen getragene Vision, nämlich die einer Reaktivierung des im Verlauf der europäischen Geschichte gleichsam verschütteten „Ius Commune“, also des in den allermeisten europäischen Staaten als Grundlage und historischer Ausgangspunkt dienenden „gemeinen Rechts“.

Das Recht als Fundament Nicht zufällig bewegte diese dritte Variante der Formel ab den späten 40er-Jahren vor allem die Rechtshistoriker und regte zu verschiedenen Buch- und Forschungsprojekten an. Das europäische Ius Commune galt 405

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nun als zentrales Mittel der geistigen Rekonstruktion Europas und zugleich als Vorbereitung der angestrebten Rechtseinheit. Das römischitalienische Recht des Mittelalters und der Neuzeit vermittelte nach der Katastrophe der zwei Weltkriege eine zentrale Botschaft: Europa sollte mehr als ein Bündel von Nationalismen, Hass und Selbstzerstörung sein. Europa verfüge, so sagte man, über den Schatz eines vornationalen Gemeinrechts. Er sollte gehoben und durch Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung für die Zukunft Europas ausgemünzt werden. Als Ausgangspunkt diente die Tatsache, dass Europa vom 13. bis zum 18. Jahrhundert über eine prinzipiell homogene Wissenschaftskultur des Rechts verfügt hatte. Von Bologna aus hatte sich das wiederentdeckte gelehrte römische Recht in West- und Mitteleuropa ausgebreitet und schrittweise die vielfältigen einheimischen Rechte überformt. Später nannte man dies „Rezeption“ und erklärte es als Prozess der „Verwissenschaftlichung“ des Rechts, um nationalistische Vorwürfe einer inhaltlichen Überfremdung abzuwehren. Parallel hierzu gab es nach dem Zweiten Weltkrieg eine gewisse Renaissance der klassischen Kanonistik, begünstigt durch das besonders kirchenfreundliche Klima. Das Recht der römischen Weltkirche war in der Tat das perfekte Pendant zum römischen Recht. Es galt für alle katholischen Christen auf den Gebieten des Eherechts, des kirchlichen Vermögensrechts, des Prozessrechts und der Kirchenstrafen. Inspiriert vom römischen Recht prägte es die Lebenswelt von Norwegen bis Sizilien, von Polen bis Spanien und bildete eine parallele europäische Rechtsordnung, eine mindestens ebenso starke Klammer für das „lateinische Europa“. Es umschloss auch England sowie nach den Reformationen des 16. Jahrhunderts auch die lutherischen und calvinistischen Kirchen, die auf diesem Fundament weiterbauten. Auch die kirchliche Seite des öffentlichen Lebens wurde „verrechtlicht“ und „verwissenschaftlicht“. Das Individuum erhielt eine scharf umrissene Rechtsposition, es gab genaue Verfahrensregeln und Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit, die wiederum auf die weltliche Seite zurückwirkten. Man spricht deshalb vom römisch-kanonischen Prozess. Diese komplexe europäische Rechtswelt des gemeinen Rechts und Kirchenrechts, auf die noch näher einzugehen ist, wurde mit der Entstehung der Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert aufgesprengt. Nun gab es europäische Staaten mit festen Grenzen. Sie pochten auf ihre Souve406

Das Recht als Versprechen

ränität, errichteten Grenzregime, bauten territoriale Verwaltungen auf, schufen Steuersysteme, entwickelten erstmals Handelsbilanzen für ihre Länder und sie ordneten – nicht zuletzt – ihre Justiz und ihr Rechtswesen autonom. Alle Kodifikationen verwendeten die Nationalsprachen. Auf Dänemark (1683), Bayern (1756) und Preußen (1794) folgten Frankreich (1804), das Habsburgerreich (1811), das Deutsche Reich (1900) und die Schweiz (1912). Auch die katholische Kirche schloss sich 1917 diesem Kodifikationsprozess an. Insgesamt wurden damit die Erträge der „Verwissenschaftlichung“ des 19. Jahrhunderts eingebracht, in ein nationalsprachliches Gewand gekleidet und von den neuen Parlamenten beschlossen. Das war zur Zeit der Herrschaft des Bürgertums auch gar nicht anders möglich, aber es bedeutete auch das Ende der europäischen Rechtseinheit des „heute geltenden römischen Rechts“. Europa sollte im 20. Jahrhundert also „Rechtsgemeinschaft“ sein oder (wieder) werden. Das zielte nicht auf weltliches Privatrecht oder Kirchenrecht, sondern auf eine Verankerung der verschiedenen Nationalökonomien in einem neuen gemeinsamen Rechtsrahmen. Darüber hinausgehend, mochte man an die Bindungskraft von „Recht“ schlechthin gedacht haben, also an etwas Dauerhaftes, dem sich die Partner unterwerfen, an verlässliche Institutionen, die nicht vom Wind der Politik bewegt werden. Im Hintergrund gab es bereits die Vision einer Verfassung Europas.

Europa als Rechtsraum Die heutige europäische Rechtsordnung, wie sie sich in den umfangreichen Vertrags- und Normwerken darstellt, ist von „gubernativer Rechtssetzung“ und den Spannungen zwischen Nationalstaaten und einem von Kritik begleiteten „Staatenverbund“ eigener Art geprägt. Ob dieser Verbund langfristig eine eigene Identität gewinnt und sich zu einem europäischen Bundesstaat zusammenschließen soll, ist heftig umstritten. Offenbar gibt es in ganz Europa Tendenzen zum Rückzug auf den eigenen Nationalstaat. Noch schwerer zu prognostizieren ist die Frage, ob und wie sich dieser Verbund in einer Umgebung von nichteuropäischen Mächten und inmitten einer rasanten Globalisierung wird halten können. Gewiss aber ist, dass Europa den in 2000 Jahren gewachsenen Traditionen des Roman Law und Common Law nicht entkommen kann und dies auch um den Preis seiner Selbstzerstörung nicht versuchen sollte. 407

Michael Stolleis

Das rechtliche Gedächtnis Europas und die aktuelle Auseinandersetzung um die künftige Verfassung der Europäischen Union sind nicht voneinander zu trennen.

Literatur Armin von BOGDANDY, Pedro CRUZ VILLALÓN und Peter M. HUBER (Hg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. I, Heidelberg 2007. Helmut COING, Europäisches Privatrecht 1500 bis 1800, 2 Bde., München 1985/1989. Dieter FLACH, Das Zwölftafelgesetz – Leges XII tabularum, Darmstadt 2004. Peter HÄBERLE und Markus KOTZUR, Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden 2016. Paul KOSCHAKER, Europa und das römische Recht, München 1966 [1947]. Stephan KUTTNER, Repertorium der Kanonistik (1140–1234), Vatikanstadt 1937. Peter LANDAU, Europäische Rechtsgeschichte und kanonisches Recht im Mittelalter, ­Badenweiler 2013. Pierre LEGENDRE, L’Autre Bible de l’Occident. Le Monument romano-canonique. Étude sur l’architecture dogmatique des sociétés, Paris 2009. Peter STEIN, Römisches Recht und Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur, Frankfurt a. M. 1996. Franz WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967 [1952]. Reinhard ZIMMERMANN, Roman Law, Contemporary Law, European Law. The Civilian Tradition Today, Oxford 2001.

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Étienne François

Die drei Strahlen: Jerusalem, Athen und Rom Sie liegen an den Quellen der europäischen Meistererzählung: ­Jerusalem, die Heilige Stadt, Athen, die Wiege der Demokratie, und Rom, die Hauptstadt des Reichs. Seit Jahrhunderten bilden sie den mythischen Sockel Europas.

Ideale Ansicht der Stadt Athen mit der Akropolis und dem Areopag. Gemälde von Leo von Klenze (1846).

Étienne François

„Jerusalem, Athen, Rom. Die drei rhythmischen Städte“, heißt es bei ­Victor Hugo in einem Fragment von Choses vues im Jahr 1867 und er fügt, um dieses auf den ersten Blick überraschende Adjektiv zu rechtfertigen, hinzu: „Das Ideal setzt sich aus drei Strahlen zusammen: dem Wahren, dem Schönen und dem Großen. Aus jeder dieser drei Städte dringt einer dieser drei Strahlen. Alle drei ergeben das ganze Licht. Jerusalem legt das Wahre frei. […] Athen legt das Schöne frei. Rom legt das Große frei. Rund um diese drei Städte hat der menschliche Aufstieg seine Entwicklung vollzogen.“ Diese drei von allen Europäern verehrten Städte nehmen eine zentrale Stelle in der europäischen Vorstellungswelt ein: Jerusalem wird auf den Weltkarten des Mittelalters im Zentrum angesiedelt, Athen mit Platons Akademie und Rom sowohl mit seinem Umbilicus urbis (Nabel der Stadt), der auf dem Forum angesiedelt ist und als Zentrum der Stadt und des Reichs fungiert, als auch mit dem vom Papst zu Ostern und zu Weihnachten erteilten Segen Urbi et orbi (der Stadt und dem Erdkreis). Daraus erklärt sich auch, dass sie im Lauf der Jahrhunderte Streitobjekte rivalisierender Mächte waren, die sie in ihren ausschließlichen Besitz nehmen wollten, wobei der Extremfall heute noch Jerusalem ist – aber auch, dass sie Pilger, Bewunderer und Forscher anlockten und auch weiterhin anlocken, die aus ganz Europa und der ganzen Welt herbeiströmen, um hier die Wurzeln ihrer Identität zu finden und sich niederzulassen. Jerusalem, die Hauptstadt Davids und Tochter Zions, beherbergte zwei Tempel und ist für die Juden die Heilige Stadt schlechthin, die der ­Klagemauer und der Jeschiwot, aber auch die, die die größte Anzahl an Charedim, an Ultraorthodoxen, zählt und die allein in Ostjerusalem die Hälfte der Bewohner der in Palästina errichteten Kolonien versammelt. Sie ist es auch für die Christen als Stadt von Jesu Aufstieg zum Tempel, als Stadt der Passion, der Kreuzigung und der Wiederauferstehung. Sie ist der Sitz eines der fünf Patriarchate und zählt an die 40 christliche ­Kirchen – angefangen bei der Grabeskirche, die im 4. Jahrhundert auf Anregung Helenas, der Mutter Kaiser Konstantins, die dort das Heilige Kreuz entdeckte, erbaut wurde und die sich Griechen, Kopten, Äthiopier, Syriaker, Armenier und Katholiken teilen. Sie ist dies auf die gleiche Weise für die Muslime: als Ort der Himmelfahrt des Propheten Mohammed von dem Felsen aus, auf dem ein 691 oder 692 vollendeter goldener Dom errichtet wurde, und als Stätte der al-Aqsa-Moschee, die von dem 410

Die drei Strahlen: Jerusalem, Athen und Rom

zweiten Kalifen Umar erbaut wurde, der Jerusalem 637 eroberte. Sie ist nach Mekka und Medina die dritte heilige Stätte des Islam. Athen und Rom beherbergen zahlreiche archäologische und Forschungszentren, die mehrheitlich im 19. Jahrhundert eingerichtet wurden, wobei das älteste von ihnen die 1846 gegründete École française d’Athènes ist. Diese drei Städte sind permanente Quellen der Anregung und behaupten sich auch durch die Reichweite ihrer Ausstrahlung durch ganz Europa. Die Anordnung der Synagogen lehnt sich an die der Tempel in Jerusalem an. Die überwiegende Mehrheit der Kirchen hat einen kreuzförmigen Grundriss sowie eine Ausrichtung des Chors in Richtung Jerusalem und spiegelt damit die Stadt der Passion und der Wiederauferstehung wider, auf die gleiche Art und Weise wie auch die zahlreichen Reliquien aus Jerusalem und die Sanktuarien, in denen sie glorifiziert werden wie etwa in der Sainte-Chapelle in Paris. Alle europäischen Städte haben irgendwann versucht, zu einem Ebenbild der einen oder der anderen dieser drei Städte zu werden, wie zum Beispiel Vilnius, das bis zum Zweiten Weltkrieg als „Jerusalem des Nordens“ bezeichnet wurde, Genf, das während der Reformation zum „protestantischen Rom“ wurde, oder Edinburgh, das im 18. Jahrhundert „Athen des Nordens“ genannt wurde. In der Zeit der Klassik errichtete man so ziemlich überall Imitationen des klassischen Athen: Das zwischen 1788 und 1791 erbaute Brandenburger Tor in Berlin lehnt sich an die Propyläen der Akropolis in Athen an, während die Walhalla, der große Tempel über der Donau, der auf Veranlassung des Königs Ludwig I. von Bayern zwischen 1830 und 1842 erbaut wurde, um als Gedenkstätte für die Berühmtheiten der deutschen Geschichte zu dienen, dem Parthenon nachgebaut wurde: Ihr Architekt, Leo von Klenze, war übrigens derjenige, der die neoklassischen Pläne von Athen zeichnete, das nach seiner Befreiung von der osmanischen Herrschaft zur Hauptstadt des neuen Königreichs Griechenland wurde und 1830 König Otto I., der selbst der Sohn Ludwigs I. von Bayern war, anvertraut wurde. Alle großen europäischen Städte besitzen schließlich auch Triumphbögen, die mehrheitlich nach dem Vorbild derjenigen von Titus, Septimius Severus und Konstantin in Rom errichtet wurden, Obelisken, die sich an den zwölf Obelisken des antiken Rom inspirieren, Kuppelkirchen nach dem Vorbild des Pantheons oder auch Prachtstraßen, die von einem zentralen Platz ausgehen wie die von der Piazza del Popolo, etwa in Versailles oder in Sankt Petersburg, wobei 411

Étienne François

sich das beste Beispiel für einen Urbanismus und eine Architektur, die sich zugleich an Athen und an Rom anlehnen, durch eine List der Geschichte nicht in Europa, sondern in Nordamerika befindet, nämlich in Washington. Wenn man noch die zahllosen Kunstwerke hinzufügt, die aus diesen drei Städten gekommen sind – angefangen bei den Statuen des Parthenon, die Lord Elgin dem British Museum vermacht hat – oder die sich auf sie beziehen und die man in allen Museen antrifft, sowie die noch zahlreicheren Reproduktionen und Kopien, die jeder besitzt, so wird man unschwer zugeben: Durch ihre Ausstrahlung und ihre Vervielfältigung in ganz Europa sowie durch die Bewunderung und die Verehrung, die ihnen überall entgegengebracht werden, sind Jerusalem, Athen und Rom die Städte par excellence, die Europa Sinn und Gestalt verliehen haben und ohne die man es unmöglich verstehen kann.

Literatur Jean-Yves BORIAUD, Jerusalem. Innenansichten einer Spiegelstadt, übers. von Irene Rumler, Tübingen 1990. Alexandre GRANDAZZI, Urbs. Die Geschichte der Stadt Rom von ihren Ursprüngen bis zum Tod des Augustus, Darmstadt 2019. Vincent LEMIRE (Hg.), Jérusalem, histoire d’une ville-monde, Paris 2016. Christian MEIER, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Berlin 1993. Yannis TSIOMIS, Athènes à soi-même étrangère. Naissance d’une capitale néoclassique, Marseille 2017. Jakob VOGEL, Jerusalem. Zur spannungsreichen Topographie eines europäisch-christ­ lichen „Erinnerungsorts“ im 19. Jahrhundert, in: Kirstin Buchinger, Claire Gantet, Jakob Vogel (Hg.), Europäische Erinnerungsräume, Frankfurt a. M. 2009, S. 88–102.

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John Tolan

Islam – dasselbe und das andere in Europa Der Islam, der heute im Mittelpunkt leidenschaftlicher Diskussionen steht, ist in Europa seit seinem Eindringen im Gefolge der arabischen Eroberungen 711 als Religion und Kultur bekannt. Im Mittel­ alter wird er als ein rivalisierender und deshalb gefährlicher Monotheismus und sein Begründer als falscher Prophet wahrgenommen. Der Islam faszinierte hingegen die Aufklärung und Napoleon ­Bonaparte wurde von Johann Wolfgang von Goethe als „der neue Mahomet“ beschrieben.

Napoleon Bonaparte nimmt 1799 in Kairo an den Feierlichkeiten zum Geburtstag des Propheten Mohammed teil. Gemälde von Alexandre Colin.

John Tolan

1916 steckten die deutschen militärischen Besatzungsmächte den belgischen Historiker Henri Pirenne in ein Gefangenenlager. In seiner Gefangenschaft vertiefte er sich, während der Große Krieg den Kontinent zerfleischte, in Überlegungen über die Entstehung Europas, die er nicht im klassischen Griechenland oder Rom ansiedelte, sondern viel näher bei ihm in den karolingischen Gebieten, die sich über das heutige Deutschland, Frankreich und Holland erstrecken. Und der Geburts­ helfer, wenn man so sagen kann, der externe Faktor, der diese Geburt ermöglicht hat, war der Islam. Die islamischen Eroberungen hatten das römische Mittelmeer in einen muslimischen See verwandelt und Nordeuropa vom Handel mit dem Osten und dem Süden abgeschnitten, wodurch sie die Gründung einer neuen Zivilisation in Nordeuropa herbeigeführt hatten. Wie er 1922 schrieb: „Ohne den Islam hätte es das Frankenreich vermutlich nie gegeben und ohne Mohammed wäre Karl der Große undenkbar.“ Die These von Pirenne wurde im vergangenen Jahrhundert kritisiert, nuanciert und revidiert: Er habe die Bedeutung des Handels zwischen Nordeuropa und dem östlichen vorislamischen Mittelmeer überschätzt und die anhaltenden Verbindungen zwischen dem lateinischen Europa und der muslimischen Mittelmeerwelt unterschätzt. Für manche seiner Kollegen ist die Geschichte des mittelalterlichen Europas ganz im Gegenteil die der zunehmenden Einbeziehung des lateinischen Europas in die weitläufigere Ökumene, die ihr Zentrum im Nahen Orient und im Mittelmeer hatte, eine Einbeziehung, die durch die italienischen Händler in den Häfen der Levante erleichtert wurde, durch die Gelehrten, die das arabische Wissen für die lateinische Welt übersetzten, sowie durch die sowohl muslimischen als auch christ­ lichen Fürsten, die ihre Herrschaft über gemischte Bevölkerungen von Juden, Christen und Muslimen ausübten. Europa wurde, so scheint es, zu Europa in Verbindung mit dem und in Abgrenzung vom Islam, der zugleich als eine dem Christentum nahe wie auch als rivalisierende „abrahamische“ Religion angesehen wurde und als eine Zivilisation, die die Europäer, die sie aus der Nähe oder aus der Ferne beobachteten, zugleich anziehen und abstoßen konnte. Der Islam war in Europa präsent, seitdem die Truppen von Tariq ibn Ziyad im Jahr 711 die Meerenge von Gibraltar überquert hatten. Muslime lebten in Spanien bis zur Vertreibung der Morisken im Jahr 1609 sowie im mittel­ alterlichen Sizilien und Süditalien. Die osmanische Expansion in Europa 414

Islam – dasselbe und das andere in Europa

im 14. Jahrhundert führte die Muslime bis auf den Balkan, wo sie noch heute angesiedelt sind, nach Albanien, nach Bosnien und anderswo. Ihre europäische Hauptstadt, Istanbul, war von 1517 bis 1924 der Sitz des Kalifats. In Spanien, in Sizilien und im osmanischen Europa regierten die muslimischen Eliten über gemischte Gesellschaften, in denen Christen und Juden den Status von Dhimmis hatten, von geschützten, aber zweitrangigen Minderheiten. Der Islam bot somit manchen Europäern einen wesentlichen religiösen und juristischen Rahmen, während er für andere einen rivalisierenden Monotheismus darstellte und eine Zivilisation, die je nach den Umständen bedrohend oder verlockend, exotisch oder vertraut wirkte. Dieser letzte Aspekt soll hier analysiert werden: der Islam als Spiegel Europas.

Den Islam benennen Auf Arabisch bedeutet islam „Unterwerfung“ und genauer „Unterwerfung unter den Willen Gottes“. Ein Muslim ist eine Person, die sich dem göttlichen Willen unterworfen hat. Doch diese Begriffe tauchen in den europäischen Sprachen erst spät auf: islam ist im Französischen zum ersten Mal 1697 verwendet worden, im Englischen 1818; das französische Wort musulman ist ab Mitte des 16. Jahrhunderts vorzufinden und moslim im Englischen ab 1615. Zuvor beziehen sich die Wörter, die die Muslime bezeichneten, gewöhnlich auf ihre ethnische Herkunft: „Araber“, „Türken“, „Perser“, „Mauren“. Doch die Europäer des Mittelalters nannten sie oft „Ismaeliten“ oder „Sarazenen“. Der Genesis zufolge ist Ismael der älteste Sohn Abrahams und Hagars, der Magd Sarahs, Abrahams Frau. Der Engel des Herrn, der Hagar die Geburt des Kindes ankündigt, warnt sie: „Er wird ein wilder Mensch sein, seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn; und wird gegen alle seine Brüder wohnen“ (Genesis 16,12). Später bringt Sarah einen Sohn zur Welt, Isaak. Als Isaak abgestillt ist, geben seine Eltern ein Fest und Sarah sieht, wie Ismael seinen kleinen Bruder verspottet. Sie sagt zu Abraham: „Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn; denn dieser Magd Sohn soll nicht erben mit meinem Sohn Isaak“ (21,10). Gott fordert Abraham auf, seiner Frau zu gehorchen, und tröstet ihn mit der Ankündigung: „Auch will ich der Magd Sohn zum Volk machen, darum dass er deines Samens ist“ (21,13). 415

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Als Hieronymus, der an der Wende zwischen dem 4. und dem 5. Jahrhundert in Jerusalem lebte, seine Kommentare zu den Büchern des Alten Testaments abfasste, erklärte er, dass die Nachfahren Ismaels, deren korrekte Bezeichnung Ismaeliten oder Hagarener sei, „nunmehr Sarazenen heißen, zu Unrecht den Namen Sarah beanspruchen und sich dergestalt als von einer freien Frau abstammend präsentieren“. Hieronymus stellt eine Verbindung zwischen der biblischen Geschichte von Ismael und seinen Nachfahren und der griechisch-römischen Ethnografie hinsichtlich der Sarazenen her und verknüpft sie insbesondere mit Überlieferungen, die man bei Claudius Ptolemäus (in seiner Geographie, um 150) und Ammianus Marcellinus (Mitte des 4. Jahrhunderts) findet. Eusebius, der Chronist des 4. Jahrhunderts, eine der wichtigsten Quellen für Hieronymus, erwähnt die Σαρακηνοι (die Sarakenoi, die Sarazener) in mehreren Werken und identifiziert sie als die Nachkommen von Ismael. In Wirklichkeit hat dieser Name etymologisch nichts mit Sarah zu tun und die Araber bezeichneten sich nicht als „Sarazenen“. Am Beginn des 5. Jahrhunderts, zwei Jahrhunderte vor der Hidschra, entwirft Hieronymus ein frappierendes Bild der sarazenischen Barbarei. Gott und sein Engel haben die Wildheit und Feindseligkeit der Ismaeliten vorhergesagt, die in der heiligen Geschichte der Familie Abrahams verwurzelt sind. Die lateinischen Autoren des Mittelalters hatten den gleichen Reflex angesichts der „sarazenischen“ Eroberungen weiter Gebiete des früheren Römischen Reichs. Beda der Ehrwürdige, der um 730 in einer Abtei in Northumbria schrieb, griff den Kommentar auf, den Hieronymus zu Genesis 16,12 verfasst hatte, und fügte hinzu: „Jetzt ist seine Hand wirklich gegen alle: denn die Sarazenen haben ganz Afrika erobert, das Wesentliche Asiens und einen Teil Europas.“ Für Hieronymus und Beda sind die Worte, die der Engel an Hagar richtet, ganz wesentlich für das Verständnis nicht nur der biblischen Geschichte, sondern auch der ewigen Wahrheiten über die Nachkommen Ismaels, die Sarazenen, deren Wildheit von diesem göttlichen Botschafter klar angekündigt wurde: Sie ist das unwandelbare Merkmal eines deutlich erkennbaren Volks. Wenn für die modernen Historiker (ganz zu schweigen von den mittelalterlichen Muslimen) der Aufstieg des Islam einen scharfen Bruch in der Geschichte der „Sarazenen“ darstellt, dann ist diese Transformation aus der Sicht der von der Bibel gespeisten christlichen Geschichte ein unmerklicher: Die Sarazenen von Beda sind im Wesentlichen die gleichen wie die von 416

Islam – dasselbe und das andere in Europa

Hieronymus. Im Lauf der nachfolgenden Jahrhunderte werden dann die europäischen Autoren die verstreuten Informationen über Mohammed und den Islam in dieses Schema einfügen, ohne es wesentlich zu verändern. Hieronymus und Beda stellten die Sarazenen als Götzenverehrer dar, eine Idee, die sich in der europäischen Kultur als merkwürdig hartnäckig erweisen sollte. Das sehr populäre Werk von Richard Johnson, die Famous History of the Seven Champions of Christendom (1596), schildert die Abenteuer eines bis in die Fingerspitzen englischen heiligen Georg, der nach Ägypten reist, wo er einen Drachen entdeckt, der sich anschickt, Sabra, die Tochter des Königs Ptolemäus, zu verschlingen. Er tötet das Ungeheuer und fordert die Prinzessin auf, „auf [ihren] Mohammed“ zu verzichten und zur Christin zu werden. Sie erklärt sich bereit, ihr Land und ihre Götter aus Liebe zu ihm aufzugeben. Georg zerstört dann die Götzen von Mohammed und nimmt eine massive Bekehrung der Sarazenen vor, wobei er die niedermetzelt, die die Taufe ablehnen. Johnson hat sich das ausgedacht, was man als einen englischen Kreuzzug bezeichnen könnte. Der gute heilige Georg, der die Bilder und die Götzen verabscheut, ergötzt sich an ihrer Zerstörung und an der Bekehrung der Götzenanbeter zum „wahren Glauben“. Das Bild der Sarazenen als Götzenanbeter, deren oberster Gott Mohammed (oder Mahomet, Mahon, Mahound und so weiter) ist, wird im 12. Jahrhundert auf beeindruckende Art von den Dichtern, Chronisten und Hagiografen behandelt. Zur selben Zeit verfasst ein anonymer französischer Dichter das Rolandslied, den grundlegenden Text für eine der wichtigsten Gattungen der mittelalterlichen Literatur, das Heldenlied (Chanson de geste). Seine älteste schriftliche Variante ist in Gestalt eines einzigen Manuskripts aus dem 12. Jahrhundert erhalten, das heute in Oxford aufbewahrt wird. Wir finden darin „Heiden“, die eine Triade von Götzen anbeten: Mohammed, Apollo und Tervagant. Während die Chronisten der Kreuzzüge sich für die jüngsten Ereignisse des Heiligen Landes interessierten, siedelte Roland seinen spektakulären Konflikt in Spanien an, wo das Frankenheer Karls des Großen den sarazenischen Horden gegenüberstand. Die Heiden schwören bei ihren Göttern, darunter Mohammed, die sie im Kampf anrufen. „Heiden haben Unrecht und Christen haben Recht“, verkündet Roland und reitet in das Gemenge. Bewiesen wird diese Behauptung auf dem Schlachtfeld: Diejenigen, die 417

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Mohammed angerufen haben, als der Kampf begann, werden besiegt und die Sieger zeugen von ihrer Tugend, indem sie die heidnischen Götzen vernichten.

Mohammed, falscher Prophet und Betrüger Um den Islam in Misskredit zu bringen, attackiert Geert Wilders, der ­niederländische Abgeordnete der Partij voor de Vrijheid (rechtsradikal), dessen Propheten, den er als Terroristen, Pädophilen und Psychopathen beschimpft. Wilders ist bei Weitem nicht der Erste, der die Gestalt Mohammeds im Dienst der europäischen Politik mobilisiert. Die Kontroverse im Jahr 2005 über die Karikaturen Mohammeds, die in der dänischen Zeitung Jyllands-Posten publiziert wurden, und die Ermordung der Zeichner von Charlie Hebdo in Paris im Januar 2015 haben den explosiven Charakter der westlichen Ansichten über den Propheten Mohammed veranschaulicht. Die Kontroverse, die von der Geschichte des europäischen Kolonialismus und Orientalismus sowie von dem Terrorismus, der den Islam als Rechtfertigung verwendet, ihre Färbung erhielt, hat eine Lawine von Polemiken und Gewalttaten ausgelöst. Jahrhundertelang stand Muhammad (oder „Mahomet“, wie er meistens genannt wird) im Zentrum des europäischen Diskurses über den Islam. Für die Chronisten der Kreuzzüge war er bald ein goldener, von den „Sarazenen“ angebeteter Götze, bald ein gerissener Häresiarch, der falsche Wunder vollbracht hat, um die Araber vom Christentum wegzuführen. Diese beiden Porträts stellten ihn als Wurzel des sarazenischen Irrtums hin und legitimierten implizit den Kreuzzug, der das Heilige aus dem sarazenischen Joch befreien sollte. Diese polemischen Darstellungen haben sich hartnäckig erwiesen. In leicht modifizierten Formen haben sie bis zum Ende des 17. Jahrhunderts den dominierenden europäischen Diskurs über den Propheten geliefert. Im 19. und 20. Jahrhundert haben Varianten des Bildes vom „Schwindler“ Muhammad erlaubt, den europäischen Kolonialismus in muslimischen Gebieten zu verteidigen und das Werk christlicher Missionare zu fördern. „Mahomet“ nimmt einen wichtigen und mehrdeutigen Platz in der europäischen Vorstellungswelt ein: Er ist darin die Verkörperung des Islam und löst nach­ einander Furcht, Ekel, Faszination oder Bewunderung aus, aber nur selten Gleichmut. 418

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1409 verfasst Laurent de Premierfait, ein Humanist am Hof des französischen Königs Karl VI., eine biografische Skizze des „Verräters Machomet“, den er als „falschen und lügnerischen Propheten und Zauberer“ hinstellt: Machomet, sagt uns Laurent de Premierfait, war ein Händler, der mit seinen Kamelen durch Ägypten und Judäa reiste, wo er mit Juden und Christen plauderte und von ihnen Stellen aus dem Alten und dem Neuen Testament lernte. Er begab sich in die Provinz Corozaine, wo er der darüber hocherfreuten mächtigen und reichen „Khadija“ (arabisch: Chadidscha) Gewürze und andere Waren verkaufte. Machomet war ein Zauberer und Hexer, was ihm erlaubte, diese „reiche“ Dame davon zu überzeugen, er sei „der Messias, das heißt der Erlöser und Sohn Gottes, den die Juden erwarteten“. Machomet hetzt seine Anhänger zum Krieg auf: Die Araber erobern weitläufige Gebiete zwischen Persien und dem Reich Herakleia. Um den Menschen das wahre Wesen des „Verräters Machomet“ zu offenbaren, schlägt Gott ihn mit Epilepsie, worüber Khadija „sehr erzürnt“ ist. Doch Machomet ist jemand, der sich nicht so leicht vom Weg abbringen lässt. Er erklärt, der Erzengel Gabriel sei gekommen, um zu ihm zu sprechen, er sei, von dessen Glanz geblendet, hingestürzt. Machomet verfasst Gesetze, die neue Elemente mit anderen, im Alten und im Neuen Testament aufgelesenen vermischt. Diese Sammlung ist nichts anderes als der „schändliche und unwürdige Alcoran“. Dann, so erzählt Laurent de Premierfait zum Abschluss, starb Machomet und landete sofort in der Hölle. Sein „stinkendes Aas“ wurde in eine eiserne Truhe gelegt, die man in einen Tempel von Mekka brachte, dessen Decke mit Magneten ausgestattet war: Der Sarg schwebte also in halber Höhe und bot das falsche Zeugnis der Heiligkeit des falschen Propheten. Der erste europäische Autor, der den Propheten mit diesen Eigenschaften dargestellt hatte, war der byzantinische Chronist Theophanes gewesen, der um 815 eine Weltgeschichte verfasste, die (um 875) von dem päpstlichen Bibliothekar Anastasius ins Lateinische übersetzt wurde. Für Theophanes ist „Μοναμεδ“ (Mouamed), der „Anführer und falsche Prophet der Sarazenen“, wichtig genug, um eine kurze biografische Notiz zu verdienen. Theophanes behauptet, die Juden hätten sich zunächst auf ihn gestürzt und ihn für den Messias gehalten, den sie seit so langer Zeit erwarteten. Als sie ihn Kamelfleisch (eine verbotene Nahrung) essen sahen, hatten sie ihren Irrtum begriffen, aber einige, die aus Angst bei 419

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ihm geblieben waren, „brachten ihm verbotene, gegen uns Christen gerichtete Dinge bei“. Theophanes erzählt die Heirat von Mouamed mit Chadidscha und seine Reisen nach Palästina auf der Suche nach Schriften von Juden und Christen. Er erwähnt den epileptischen Anfall Mouameds und Chadidschas Besorgnis. Mouamed beruhigt sie und sagt zu ihr: „Ich habe oft die Vision eines Engels namens Gabriel, und da ich unfähig bin, seinen Anblick zu ertragen, falle ich in Ohnmacht und stürze.“ Chadidscha bittet „einen Mönch, der dort lebte, einen ihrer Freunde [der aufgrund seiner Irrlehre verbannt worden war] um Rat“. Laurent de Premierfait weist seinem Machomet einen christlichen Begleiter zu, einen Priester, der sich mit dem Papst zerstritten hat und offenkundig bestrebt ist, sich zu rächen. Das letzte Vorbild für diesen dissidenten Christen ist Bahira, ein christlicher Mönch, der (verschiedenen Hadithen zufolge) in der Person des jungen Muhammad den künftigen Propheten erkannte. Hier erklärt der Mönch von Theophanes Chadidscha, dass Mouamed tatsächlich ein Prophet ist, der vom Engel Gabriel besucht wird, der ihm Visionen schickt. Mouamed verspricht dann allen, die im Kampf gegen den Feind fallen, ein Paradies voller sinnlicher Wonnen: Nahrung, Getränke, Frauen. Er hält noch so manche anderen Reden „voll von Ausschweifung und Dummheit“. Im 12. Jahrhundert schmückten mehrere lateinische Autoren diese Elemente noch aus, um in Vers und Prosa pittoreske Legenden um Mahomet zu schaffen, der als ein Schlitzohr und ein Lump hingestellt wird. Sie wurden später von Enzyklopädisten des 13. Jahrhunderts wie Vincent de Beauvais und Jacobus de Voragine wieder aufgegriffen und setzten sich als die klassischen europäischen Biografien des Propheten durch. Diese verleumderischen Legenden wurden im Lauf der nachfolgenden Jahrhunderte von verschiedenen europäischen Autoren umgeschrieben, und zwar selbst von denen, die Zugang zu seriöseren Informationen und insbesondere zu den lateinischen Übersetzungen des Korans hatten. Jean-Israël de Bry und Jean-Théodore de Bry veröffentlichten 1597 Les actes de Mechmet I Prince des Sarrazins, eine Mischung dieser Überlieferungen mitsamt den ersten Radierungen, die die erwähnten Szenen darstellen. Auf ihre Darstellung vom Leben Mahomets folgt eine Reihe von Prophezeiungen hinsichtlich des Endes der osmanischen Herrschaft. Die letzte Prophezeiung wird Mahomet selbst zugeschrieben, die ankündigt, dass sein „Gesetz“ (Lex Maumetana) nach 1000 Jahren, das heißt 1621, verschwinden wird, erklären die Ver420

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fasser. Ihr Werk soll die Leser zugleich beruhigen (die osmanische Bedrohung wird in weniger als 25 Jahren vorüber sein) und ihnen eine mächtige Verachtung für das „mahometanische Gesetz“ einflößen. Es sollte verhindert werden – und das war auch ihre stillschweigende Botschaft –, dass ihre Leser den osmanischen Islam verurteilten, der verschiedene religiöse Gemeinschaften anerkannte und duldete und somit eher bewundernswert als verdammenswert war.

Mahomets Aufwertung in der Aufklärung: ein Visionär In der Aufklärung kam es zu einer erneuten Prüfung des Propheten des Islam. Mahomet wurde für die radikalen Republikaner und die Deisten zu einem Helden, den sie postum für ihr Anliegen einspannen konnten, und zwar trotz oder vielleicht eher wegen der Feindseligkeit, die ihm in den traditionellen christlichen Polemiken entgegengebracht wurde. In den Auseinandersetzungen über die religiösen und politischen Systeme erschien der Islam wie ein Glaubenssystem unter anderen, weder schlimmer noch besser als manche christlichen Konfessionen. Manche erhoben die religiöse Toleranz des Osmanischen Reichs zum Vorbild. Henry Stubbe (1632–1676) verfasste 1671 sein The Originall & Progress of Mahometanism, in dem er „Mahomet“ als eine „außergewöhnliche Person“ mit einer „großen Seele“ darstellte. Weit davon entfernt, das Christentum entstellt und verfälscht zu haben, habe Mahomet versucht, zu dessen reinstem Ausdruck zurückzukehren. Stubbe schildert die Geschichte des Judentums und des Urchristentums und legt den Akzent auf die Brüche in den Doktrinen und Institutionen und auf die heidnischen Ursprünge zahlreicher Elemente der christlichen Praxis und Lehre. Jesus selbst habe nie behauptet, Gott zu sein, und, da die meisten Urchristen Juden waren, hätten sie ihn tatsächlich nicht als solchen angesehen. Die Einführung der Lehre von der Göttlichkeit Jesu hatte unter den ersten Christen erbitterte Spaltungen ausgelöst. Das Christentum, behauptet Stubbe, sei ausgeartet in eine Variante des Heidentums, die den „drei Göttern der Dreifaltigkeit“ und einer Göttin, der Jungfrau Maria, huldige. Die Frömmigkeit, die man den Heiligen entgegenbrachte, „unterschied sich wenig von der der Heiden für ihre Helden und niederen Gottheiten“. In dieser Welt, die von einem gespaltenen, korrumpierten und von dem Krieg zwischen Byzanz und Persien erschütterten 421

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Christentum beherrscht wurde, sei Mahomet erschienen. Mit sechs Jahren Waise, wurde er von seinem Onkel Abu Talib aufgezogen, der dafür sorgte, dass sein Neffe eine solide Erziehung erhalte und sich mit den Prinzipien der verschiedenen Sekten des Judentums und des Christentums vertraut mache. Mahomet wuchs unter der Wertschätzung seiner Landsleute heran, die ihn für einen Propheten hielten. Er predigte die Einfachheit, trug Kleidung aus grober Wolle und schlief auf einem Strohsack direkt auf dem Boden. Mahomet „verfasste seine Gedichte“ in reinem Arabisch, lobte Gott für seine Einheit und rief die Leute dazu auf, ihn anzubeten. Er predigte gegen die Götzen, zog sich die Feindschaft mancher Einwohner von Mekka zu, genoss aber den Schutz seines Onkels Abu Talib. 622, kurz nach dessen Tod, emigrierte Mahomet nach Medina, wo er „eine prophetische Monarchie“ errichtete. Dort „schrieb er zu verschiedenen Zeiten den größten Teil des Koran“. Stubbe erzählt, wie Mahomet die Einwohner von Medina und deren Verbündete mobilisierte, um Mekka und die übrige Arabische Halbinsel zu unterwerfen. „Seine Anhänger waren ihm mehr zugetan und liebten ihn mehr, und diejenigen, die seine Religion aus Angst ergriffen hatten, hielten aus Zuneigung und Gewissen an ihr fest.“ Stubbe war ein Freund und Bewunderer von Thomas Hobbes, mit dem er eine längere Korrespondenz unterhielt. Sein Mahomet passt gut zu dem Modell des wohlwollenden Monarchen im Leviathan von Hobbes, der die Vorschriften einer einfachen, natürlichen Religion anwendet, um die Sittlichkeit durchzusetzen und Achtung für die Autorität zu schaffen, ohne die Macht einer Klasse habgieriger Priester auszuliefern. Das Buch von Stubbe ist nicht eine bloße akademische Übung in Religionsgeschichte: Es ist ein polemisches Buch, das auf die anglikanische Kirche und die Monarchie abzielt. Genauso wie Mahomet wäre auch der König gut beraten, die Priester ihrer Macht zu berauben und ihre abergläubische Lehre zu verbannen, um zum einfachen und rationalen Monotheismus der ersten Christen zurückzukehren. Es wäre auch gut, wenn er die Ausübung verschiedener Kulte erlauben würde, wie dies die „Mahometaner“ tun. Das Werk von Stubbe zirkulierte in handschriftlicher Form – in Großbritannien einen Verleger zu finden, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Aber er war bekannt bei John Toland, George Sale, Henri de Boulainvilliers und anderen Autoren, die aus dem Propheten einen aufgeklärten Reformator machen wollten. 422

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Es ist bekannt, dass Voltaire 1742 in seinem Stück Mahomet der Prophet Mahomet die archetypische Rolle des Fanatikers zuteilte. Weniger bekannt ist, dass der Philosoph später seine Meinung änderte, und zwar zum Teil nach der Lektüre der englischen Übersetzung des Korans, die George Sale angefertigt hatte. In seinem Essai sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) wirft Voltaire dem Koran vor, „Widersprüche“, „Absurditäten“ und „Anachronismen“ zu enthalten, gibt aber auch zu, dass andere Passagen „sublim“ seien. Seine Beschreibung der Botschaft des Korans sowie des Lebens und der Lehren des Propheten präsentiert Letzteren weitgehend wie eine biblische Person. Er fragt sich, „warum Mahomet und seine Nachfolger so große Sachen getan haben und die Juden so kleine“ (49). Weil die Juden unter sich geblieben sind und sich geweigert haben, sich mit den eroberten Bevölkerungen zu vermischen, während „die Araber einen mutigeren Enthusiasmus und eine großzügigere und kühnere Politik hatten“ (49–50). Die Araber sind den Juden überlegen und ihr Erfolg erklärt sich daraus. Mahomet ist größer als Alexander der Große. Er wird für Voltaire sogar zu dem großen Mann, an dessen Maßstab die anderen gemessen werden müssen, ein Prüfstein, zu dem er in seinem Essai sur les mœurs mehrmals zurückkehrt. Napoleon Bonaparte sah sich als einen neuen Eroberer und Gesetzgeber der Welt, der auf den Spuren von Mahomet wandelt. In seinem Mémorial de Sainte-Hélène berichtet Emmanuel de Las Cases, dass Napoleon in Mahomet einen Staatsmann und einen vorbildlichen General sah, der seine Truppen zu motivieren wusste und letzten Endes ein erfolgreicherer Eroberer war als er selbst auf seiner windumtosten Insel im Südatlantik. Wenn Mahomet seinen Getreuen sinnliche Wonnen versprach, so deshalb, weil dies die einzige Botschaft war, die ihnen zugänglich war: Diese Manipulation war für den ehemaligen Kaiser alles andere als ein Skandal (wie für die europäischen Autoren seit dem 12. Jahrhundert), sondern weckte nur Bewunderung in ihm. Für Johann Wolfgang von Goethe war Napoleon selbst ein „neuer Mahomet“. Goethe übersetzte das Stück, arbeitete es aber dabei stark um, um die negativen Seiten der Hauptfigur abzuschwächen. Viele Autoren des 19. Jahrhunderts (wie Alphonse de Lamartine oder Thomas Carlyle) verfassten Biografien, die den Propheten als einen Visionär, einen Helden und einen Gesetzgeber für sein Volk darstellten. Der Prophet des Islam war zu einem Restaurator 423

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des Monotheismus geworden, zu einem modernen Gesetzgeber, einem archetypischen Propheten und einem bewunderten Staatsmann: zu einer Gestalt, die Debatten und Meinungsverschiedenheiten auslöste, aber einen zentralen Platz in der kulturellen, politischen und religiösen Geschichte Europas einnahm.

Der Koran, vertraut und fremd zugleich Der Koran gehört in der grundlegendsten Bedeutung des Wortes zum europäischen Erbe, da er 711, dem Jahr der Eroberung eines großen Teils der Iberischen Halbinsel durch die Muslime, nach Europa gelangt ist. Seit diesem Zeitpunkt ist er ein integrierender Bestandteil des Lebens der europäischen Muslime. Für die christlichen europäischen Leser war der Koran zugleich von einer verwirrenden Vertrautheit und zutiefst fremd. Das zeigt sich deutlich in der Reaktion von Ricoldo da Monte di Croce, einem florentinischen Dominikaner, der am Ende des 13. Jahrhunderts nach Bagdad reiste, um Arabisch zu lernen, den Koran zu studieren (so hoffte er) und die Muslime zum Christentum zu bekehren. Er bewunderte die Schönheit der Stadt, war entzückt über den herzlichen und wohlwollenden Empfang durch die muslimischen Gelehrten, aber es gelang nicht, auch nur einen Einzigen zu überzeugen. Er erzählt, wie er sich beim Studium des Korans wunderte, dass Gott die darin enthaltenen „Lästerungen“ erlaubte (und sogar zu verzeihen schien): dass Jesus menschlichen und nicht göttlichen Wesens sei, dass es sich in Wirklichkeit um einen Muslim handelte, der nie behauptet hatte, Gott zu sein, dass die Apostel, Abraham und andere biblische Gestalten allesamt Muslime seien. Diese andere Lektüre der heiligen Geschichte war für Ricoldo und andere Christen sehr verwirrend. Die erste lateinische Übersetzung des Korans – eigentlich die erste Übersetzung überhaupt – wurde 1143 durch Robert von Ketton angefertigt. Das Ziel dieses Unterfangens – wie auch einiger späterer – lag darin, die unerlässliche Dokumentation für die Widerlegung des Korans zur Verfügung zu stellen, der als eine abweichende und ketzerische Version des Christentums angesehen wurde. Robert und seine Mitarbeiter fügten Anmerkungen am Rand des Manuskripts hinzu, um den Leser zu lenken, wobei sie die Stellen hervorhoben, die für die christlichen Leser besonders skandalös sein mussten. Letztere werden ständig 424

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aufgefordert, die „Demenz“, die „Gottlosigkeit“, die „Lächerlichkeit“, die „Dummheit“, die „Lüge“ und die „Gotteslästerung“ des Gelesenen zu bemerken. Manche Anmerkungen präsentieren die muslimischen Überlieferungen bezüglich Jesus und der Jungfrau als „monströse und unerhörte Fabeln“. Für die Autoren der Anmerkungen sind der Teufel und Mahomet, sein Schüler, die Autoren dieser Häresie. Sie werfen Mahomet vor, die Frauen zu sehr zu lieben und die Unzucht der Sarazenen auszubeuten, indem er ihnen „Huris“ (schöne Mädchen) im (islamischen) Paradies verspricht. Alle diese Marginalien sind jedoch nicht feindlich: Manche heben im Gegenteil Passagen hervor, die mit der Bibel konform sind. Es gibt zahlreiche neutrale „nota“ („bemerke!“) und gelegentliche „bene dicta“ („gut gesagt“). Paradoxerweise hat Robert von Ketton den Text in ein elegantes (obwohl manchmal umständliches) Lateinisch übersetzt, das eines heiligen Textes würdig ist. Andere Gelehrte des Mittelalters und der Renaissance übersetzten den Koran ins Lateinische, um „Mahomets Irrtümer“ zu bekämpfen. Doch insgesamt sind sie bemüht, ehrliche und getreue Übersetzungen des heiligen muslimischen Buchs anzufertigen. Wenn sie den Sinn des Textes nicht verstehen konnten, hatten sie den gleichen Reflex wie die muslimischen Leser: Sie zogen die Arbeit der muslimischen Koranexegeten heran. Der lateinische Koran ist zugleich die Pseudooffenbarung einer feindlichen Religion und ein kanonischer Text, der von den Gelehrten mit einer bemerkenswerten Gründlichkeit und der größten Sorgfalt kopiert und kommentiert wurde. Er stößt ab und brüskiert, er fasziniert und zieht an. Wenn manche den „Alcoran“ und dessen vermeintlichen Verfasser Mahomet geißelten, prüften ihn andere genauestens auf der Suche nach einem positiven Beweis für die Wahrheit des Christentums. Eine Abhandlung des 13. Jahrhunderts, die im lateinischen Orient verfasst wurde, De statu Sarracenorum, betont die Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Islam, hebt das Lob von Jesus und Maria im Koran hervor und macht beruhigende Vorhersagen über die bevorstehende und massive Bekehrung der Muslime zum Christentum. In einer vergleichbaren Gesinnung, aber viel systematischer, schrieb Nikolaus von Kues seine Cribratio Alchorani (Sichtung des Korans, 1461) und suchte in diesem heiligen muslimischen Text die Bestätigung der christlichen Wahrheit, wobei er dessen Ablehnung äußerst wichtiger christlicher Lehren wie der Fleischwerdung und der Auferstehung verharmloste. 425

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1542 kerkerte der Stadtrat von Basel den Gelehrten Theodor Bibliander ein, weil dieser auf Lateinisch eine Textsammlung über den Islam gedruckt hatte, in dem auch die Übersetzung des Korans durch Robert von Ketton enthalten war. Die Stadtväter hielten es für gefährlich, die „Fabeln und Häresien“ von Mahomet zu veröffentlichen. Erst nach der Intervention von Martin Luther höchstpersönlich ließen die Räte den Gefangenen frei und erlaubten ihm, den Koran zu veröffentlichen. Luther war überzeugt davon, dass die beste Waffe gegen die Türken darin bestand, einem jeden die Möglichkeit zu geben, sich von den „Lügen und Fabeln“ Mahomets zu überzeugen. Der Koran wurde im Jahr darauf mit einem Vorwort Luthers publiziert. Der Band von Bibliander enthielt nicht nur den Koran, sondern auch eine ganze Reihe von polemischen mittelalterlichen Texten und ein Vorwort von Bibliander selbst, in dem er das Leben und die Laufbahn des „Häresiarchen“ Mahomet schilderte. Die kritische Absicht wird wortgewaltig auf der Titelseite verkündet, die ­ „Machumetis Alcoran“ (den Koran Mahomets) als das Werk Satans und des Antichristen hingestellt, das nur so wimmelt von „perversen Lehren“ und Aberglauben. Diese Seite beruhigt jedoch die Leser, indem sie ihnen ankündigt, dass sie in diesem Band auch „Widerlegungen“ dieser Lehre durch verschiedene christliche Autoren finden werden. Doch das Werk kann sich eine ganz besondere Ausstattung zugutehalten. Es handelt sich um große, luxuriöse, mit Marginalien geschmückte Bände, durch die es praktisch zu einem Äquivalent der Zürcher Bibel von 1543 wird. Biblianders Umgang mit dem Text geht über den des Humanisten hinaus: Er kompiliert verschiedene handschriftliche Fassungen, bietet Randglossen, die den Leser durch den Text führen und ihm rasch Zugang zu den Stellen geben, die wichtige muslimische Lehren darlegen, die mit dem protestantischen Christentum Biblianders übereinstimmen oder nicht. Seine Interpretation ist also nicht nur beziehungsweise nicht durchgehend polemisch und er macht den Koran einer bisher nie da gewesenen Anzahl von christlichen Lesern zugänglich. Mehrdeutigkeit und Kontroverse begleiteten dann auch die erste englische Übersetzung des Korans, die drei Monate nach der Enthauptung von König Karl I. während des Englischen Bürgerkriegs im April 1649 erschien. Die Behörden verhafteten den Drucker, konfiszierten die gedruckten Exemplare und hielten eine Gerichtsverhandlung ab, die schließlich alle Beteiligten freisprach und die Veröffentlichung gestat426

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tete. Alexander Ross, der Übersetzer, verfasste ein Vorwort, das die Veröffentlichung des Korans rechtfertigte und dabei implizit die neuen Machthaber Englands kritisierte. Lief ein so „derber“ und so „ungehöriger“ Text nicht Gefahr, die Engländer noch mehr als die anderen Europäer zu verführen? Warum sollten die cromwellschen Behörden versuchen, dessen Veröffentlichung zu verhindern? Ross kann natürlich nicht offen diese Behörden angreifen, aber er verhehlt nicht, was er im Grunde denkt, und gibt zu verstehen, dass die englische Gesellschaft von denen bedroht wird, die nicht mehr dem Evangelium folgen und deren Verhalten „die Instabilität in der Religion“ offenbart: von den Türken, aber auch den Cromwellianern, die den König getötet und die Kirche attackiert haben. Die royalistischen Autoren verglichen später Cromwell mit Mahomet und zogen über die Regierung her, die die Veröffentlichung des „türkischen Alcoran“ gestattet hat, was ein Beweis für ihre Gottlosigkeit sei. Die Parlamentarier zahlten mit gleicher Münze heim: Andrew Marvell verurteilt die Monarchisten, deren Gezeter Prophezeiungen seien, die würdig seien, „alcoraniert“ zu werden.

Der Koran auf dem Prüfstand der wissenschaftlichen Kritik 1738 schreibt Voltaire seinem Freund Nicolas-Claude Thieriot, ein englischer Teufelskerl habe eine sehr schöne Übersetzung des heiligen Alcoran angefertigt. Die englische Übersetzung des Korans durch George Sale war 1734 in London erschienen. Voltaire war nicht der einzige aufmerksame Leser des Korans von Sale. Man kann hier auch Jean-Jacques Rousseau anführen, Thomas Jefferson und Johann Wolfgang von Goethe. Sales Koran war ein Monument der Gelehrsamkeit der Aufklärung. Seine Übersetzung lehnt sich an die jüngsten Arbeiten der Orientalisten an sowie an die Überlieferungen des radikalen englischen Republikanismus (und insbesondere an Henry Stubbe und John Toland). Und es ist die erste Übersetzung in eine europäische Sprache, die nicht als eine Widerlegung des Islam oder eine Anprangerung der Irrtümer der Türken präsentiert wird. Sale stellt seiner Übersetzung eine Einleitung von 187 Seiten ohne jede Verunglimpfung und Polemik voran. Es handelt sich um eine fundierte Präsentation des Lebens von Mahomet, der Struktur des Korans, einer Analyse der koranischen Lehre und eines historischen Überblicks über das Auftauchen und die Expansion des Islam. 427

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Goethe las und schätzte ebenfalls den Koran von Sale. David Friederich Megerlin veröffentlichte 1772 eine deutsche Übersetzung, Die türkische Bibel, oder des Korans, die er als „Mahomets Lügen- und Fabelbuch“ hinstellte. Goethe schrieb einen Verriss, bezeichnete sie als „eine schändliche Produktion“ und äußerte den Wunsch, einen Übersetzer zu finden, der imstande sei, den Koran „in einem Zelt“ unter „orientalischen Himmeln“ zu lesen und den Sensibilitäten der Dichter und der Propheten gerecht zu werden. Während manche christlichen Leser den Koran weiterhin in Grund und Boden verdammten, begannen andere, nun zahlreicher, ihn als einen wichtigen poetischen und kulturellen Text zu betrachten, der Respekt und Interesse verdient. Das orientalistische Studium des Korans im 19. Jahrhundert, das hauptsächlich auf Deutsch erfolgte, spielte eine wesentliche Rolle für die „Säkularisierung“ des heiligen Buchs der Muslime. Es wurde wie ein historisches und literarisches Dokument untersucht und der gleichen Art der Textkritik unterzogen, die die Bibelgelehrten damals auf die Bibel anwendeten. Abraham Geiger (1810–1874) war ein herausragender Intellektueller im Umkreis der Wissenschaft vom Judentum. 1833 – als Student in Bonn – hatte er einen ausgezeichneten Essay mit dem Titel Was hat Mohammed aus dem Judentum aufgenommen? veröffentlicht. Wie aus dem Titel hervorgeht, war Geiger wie die jüdischen und christlichen Polemiker vor ihm der Meinung, Mohammed, der Verfasser des Korans, habe aus den jüdischen und christlichen Quellen geschöpft. Doch für Geiger war Mohammed keineswegs ein Betrüger, sondern ein von seiner Mission überzeugter Reformator. Von seinen jüdischen Lehrern unterrichtet, übermittelte er den Arabern (mitunter leicht modifizierte) Fassungen der Erzählungen und Gesetze der Bibel. Geiger war bestrebt, zu zeigen, dass der Koran weitgehend aus dem rabbinischen Judentum hervorgeht und dieses widerspiegelt, was Mohammed von seinen jüdischen Lehrmeistern, die der Thora, der Mischna und dem Talmud treu geblieben waren, gelernt hatte. Der Islam ist folglich eine Form des Judentums, die dem Geist und dem Gesetz Mose treuer als das Christentum geblieben ist. Der Essay von Geiger wurde von anderen Spezialisten des Korans herzlich aufgenommen, denn er kündigte eine neue Orientierung im Studium des Korans und, etwas allgemeiner, in der vergleichenden Religionswissenschaft an. Gustav Weil, ein Mitschüler Geigers in Heidelberg, wendete wie er die Methode der Bibelkritik auf den Text des Korans an. 428

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Doch sein Zugang zum Text erwies sich als einfühlender und reifer als derjenige Geigers. Weil siedelte den Koran in dem allgemeinen Kontext jüdischer, christlicher und vorislamischer Textgeschichte an. Seine gewissenhafte Aufmerksamkeit gegenüber der Sprache der Suren und deren Struktur bildet in mancher Hinsicht die Grundlage der modernen europäischen Koranstudien. Theodor Nöldeke verwendete die Methoden und die Einblicke Weils in seiner Geschichte des Quorans (1860), einem Werk, das für die Spezialisten heute noch unersetzlich ist. Diese Intellektuellen nahmen den Islam und den Koran ernst und unterwarfen Letzteren dem gleichen Typ strenger Textkritik, die sie auch auf die Bibel und den Talmud anwendeten. Manche dieser Spezialisten arbeiteten noch dazu zusammen und korrespondierten mit den ähnlich gesinnten muslimischen Reformatoren und Exegeten. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist es tatsächlich unmöglich, die „muslimischen“ und die „westlichen“ Forschungen über den Islam zu trennen, denn sie haben innerhalb einer globalisierten akademischen Forschung fusioniert. Die europäischen Forschungen über den Koran, die vor allem in Berlin und Paris betrieben werden, versammeln Spezialisten der ganzen Welt und stützen sich auf Jahrhunderte eines gewissenhaften Textstudiums von Muslimen und Nichtmuslimen.

Andalusien im Geist In seinem Islam Quintet hat der englische Essayist und Romanautor Tariq Ali eine Reihe anschaulicher Porträts von Interaktionen zwischen Juden, Christen und Muslimen in der Welt des Mittelmeers im Mittelalter und am Beginn der Neuzeit gezeichnet. Jeder Roman beschreibt einen Moment der Spannung zwischen den Kulturen des Humanismus und der Toleranz (in denen das geistige Leben aufblüht und in denen Juden, Christen und Muslime Nachbarn und Freunde sind) und mächtige Wellen der Intoleranz – in Ägypten und in Syrien im 12. Jahrhundert (The Book of Saladin, 1998, deutsch: Das Buch Saladin), in der Spätzeit des Osmanischen Reichs (The Stone Woman, 2000, deutsch: Die steinerne Frau, 2001) oder im normannischen Sizilien des 12. Jahrhunderts (A Sultan in Palermo, 2005, deutsch: Der Sultan von Palermo, 2005). Der erste Roman der Serie, Im Schatten des Granatapfelbaums (1993), der in Granada am Beginn des 16. Jahrhunderts spielt, beginnt mit einer Verbrennung 429

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a­ rabischer Bücher, die von Kardinal Francisco Jiménez de Cisneros angeordnet wurde – ein schlechtes Vorzeichen, das auf das Ende der andalusischen Zivilisation hindeutet. Angesichts der zunehmenden Verfolgungen durch ihre neuen kastilischen Lehnsherren begreifen die muslimischen Dorfbewohner, dass sie zwischen dem freiwilligen Exil, der Bekehrung oder der Rebellion wählen müssen, wenn sie dem Schicksal ihrer 1492 vertriebenen jüdischen Nachbarn entkommen wollen. Bewusst oder unbewusst lässt Ali das Bild anklingen, das Heinrich Heine 170 Jahre vor ihm in seinem Stück Almansor (1823) entworfen hat, das in Alhambra im 16. Jahrhundert spielt und den Gegensatz zwischen einem toleranten Islam und einem sektiererischen Christentum behandelt. Die Protagonisten sind Muslime, die Opfer zunehmender Verfolgungen vonseiten ihrer neuen christlichen Herren sind. Eine Figur beklagt, dass man auf dem Minarett, auf dem der Muezzin die Gläubigen zum Gebet rief, jetzt die christlichen Glocken mit ihrem melancholischen Kehrreim läuten höre. Die Hauptfigur Almansor erzählt dem Freund Hassan, dass der „furchtbare Ximenes“ in Granada den Koran verbrannt habe. Hassan antwortet: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Zahlreiche Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts beschreiben den mittelalterlichen Islam und insbesondere al-Andalus (aber auch Bagdad und das Osmanische Reich) als einen Hafen der Toleranz in einer Welt voller Gewalt. Wir finden das gleiche Bild in der Zeit der Aufklärung bei Autoren wie Sale oder Voltaire. Saladin hat nach Voltaire „nie jemanden wegen seiner Religion verfolgt. Er war zugleich menschlich, ein Eroberer und ein Philosoph.“ Er behandelte seine Gefangenen mit Milde, gab den Armen Almosen (ob sie nun Christen, Juden oder Muslime waren), gestattete allen, ihren Kult in ihren heiligen Stätten auszuüben, unterzeichnete und respektierte wortwörtlich die Friedensverträge, die seine christlichen Gegner eiligst verletzten, und war in den Augen Voltaires das Paradebeispiel eines aufgeklärten Monarchen. Der Philosoph entwirft ein ähnliches Porträt von Saladins Neffen Sultan al-Kamil, der ratlos die missionarische Predigt des barfüßigen italienischen Fanatikers Franz von Assisi vernimmt. In einem von konfessionellen Spaltungen zerrissenen Europa, das von der religiösen Gewalt und den vom Staat unterstützten Verfolgungen der religiösen Minderheiten geprägt war, machten manche eine idealisierte 430

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muslimische Toleranz zum Vorbild einer europäischen Politik. Martin Luther war bestrebt, die Deutschen wieder zur Vernunft zu bringen, die die Muslime wegen ihrer Frömmigkeit und Gerechtigkeit bewunderten und die Herrschaft des Sultans der Unterdrückung durch ihre Landsleute vorzogen. 1530 schrieb er, man müsse das Volk warnen, da man die Türken und deren Religion vor dem Tor habe, aus Furcht, dass es, vom Glanz der türkischen Religion und vom äußeren Anschein der fremden Bräuche gerührt – oder von der schwachen Demonstration oder der Entstellung der eigenen Bräuche gekränkt –, Christus verleugne und Mohammed folge. Im 16. und 17. Jahrhundert hielten Reisende und Gefangene nach ihrer Rückkehr ihre Eindrücke von Algier, Salé oder Konstantinopel fest. Diese Bilder waren uneinheitlich. Manche betonten die Prüfungen, die diejenigen erlitten hatten, die ihrer Freiheit beraubt waren, unter schwierigen und oft degradierenden Bedingungen arbeiten mussten und von den Arabern und den Türken verunglimpft (und manchmal wortwörtlich angespuckt) wurden. Gleichzeitig aber waren viele Reisende von dem Raffinement und dem Reichtum beeindruckt, die sie erblickt hatten, und drückten ihre Bewunderung gegenüber der Toleranz aus, die einem verwirrenden Durcheinander aus jüdischen, christlichen und muslimischen Gemeinschaften entgegengebracht wurde, in dem alle erdenklichen Sprachen praktiziert wurden. Manche Reisenden hoben ebenfalls hervor, dass manche der Europäer, die ihre Freiheit wiedergewonnen hatten (oder auch freiwillig gekommen waren), einfach nur bleiben wollten und glanzvolle Karrieren in der osmanischen Armee oder Verwaltung machten. Tatsächlich boten die Osmanen und ihre Verbündeten bessere Aufstiegs- und Bereicherungsmöglichkeiten als viele europäische Gesellschaften. Die osmanische Welt löste ein gewisses Unbehagen aus, denn sie war sagenhaft aufgrund ihres Reichtums, ihrer Kultur und ihres Luxus. Die vermeintlich hedonistische Zivilisation der Türken wurde von denen angeprangert, die befürchteten, sie könne die Europäer, Männer und Frauen, verführen – und sogar die, die ihre Insel nie verließen, aber dazu verleitet werden konnten, osmanische Produkte wie den Kaffee zu konsumieren. Die Philosophen der Aufklärung nahmen die religiöse Toleranz des Osmanischen Reichs zum Vorbild. 1763 publizierte Voltaire den Catéchisme de l’honnête homme. Dieses kleine Werk hat die Form eines Dialogs zwischen einem griechischen Mönch und einem „honnête homme“, 431

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die einander auf einer Straße in Aleppo begegnen. Der Mönch befragt den honnête homme über dessen Religion. Dieser antwortet: „Ich bete Gott an; ich versuche gerecht zu sein und ich bin bestrebt, Wissen zu sammeln.“ Er verhehlt nicht, wie wenig er vom Alten wie vom Neuen Testament hält. Gott hat sich als unfähig erwiesen, die Querelen der christlichen Sekten zu beenden. In Europa massakrieren und verfolgen sich die Christen gegenseitig, behauptet der honnête homme. Der Mönch antwortet ihm, dass er die Verfolgungen verabscheue, und dankt dem Himmel, dass „die Türken, unter denen ich lebe, niemanden verfolgen“. Woraufhin der honnête homme ausruft: „Ach! Könnten doch alle Völker Europas dem Beispiel der Türken folgen!“ Voltaires Kampf ist hier wie auch sonst immer das „Écrasez l’infâme!“ (Zermalmt das Infame!) und insbesondere der Kampf gegen die brutalen, repressiven und irrationalen Maßnahmen und Lehren der katholischen Kirche, die aus dem Islam und Mohammed das abschreckende Gegenbild zum Christentum und zu Jesus gemacht hat. Doch dieser, ein beschnittener Jude, der die Kaschrut (jüdische Speisegesetze) einhält und wie ein gemeiner Verbrecher hingerichtet wurde, hat nichts mit den Christen gemein, die auf die jüdischen Gesetze verzichtet haben, die er selbst einhielt. Mohammed hingegen wurde die göttliche Gunst zuteil, der Beweis dafür sind seine militärischen Siege. Er hat ein Gesetz erlassen, das die Muslime der ganzen Welt heute noch einhalten. Im 19. Jahrhundert richtete eine gewisse Anzahl reformierter Juden in Mitteleuropa den Blick auf das muslimische mittelalterliche Spanien, das die Entstehung eines „goldenen Zeitalters“ der jüdischen Kultur und Literatur ermöglich hätte. Die Werke Heinrich Heines und die einer ganzen Generation reformierter aschkenasischer Juden veranschaulichen diese Tendenz. Sie träumten davon, sich selbst und ihre Glaubensgenossen in raffinierte, elegante und gebildete Sephardim zu verwandeln. Nichts spiegelt dieses Bild von al-Andalus besser als die Gesamtheit der Synagogen wider, die im 19. Jahrhundert in Mitteleuropa im maurischen Stil errichtet wurden. Die juristische Emanzipation der Juden erlaubte es ihnen, Grundstücke zu erwerben und Synagogen zu bauen, die nicht nur als Kultstätten für wachsende Gemeinden dienten, sondern auch eindringlich ihre neue Stellung in der europäischen Gesellschaft versinnbildlichten. Viele Synagogen wurden in „christlichen“ Stilen errichtet und unterschieden sich mit ihren dekorativen Elementen kaum von den Kirchen. 432

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Doch eine gewisse Anzahl reformierter jüdischer Gemeinden wählte den neomaurischen Stil. In Leipzig (1855), Wien (1858), Budapest (1859), Berlin (1866) und andernorts wuchsen prachtvolle Synagogen aus dem Boden, verziert mit Kuppeln, hufeisenförmigen Bögen, Stuckverzierungen und Türmen, die an Minarette erinnerten. Die Synagoge von Budapest steht heute noch in Pest in der Dohány-Straße. Die meisten neomaurischen Synagogen sind von den Nationalsozialisten zerstört worden. Im Europa des ausgehenden 20. und des anbrechenden 21. Jahrhunderts wird die „Convivencia“ oder friedliche Koexistenz verschiedener Konfessionen in den Dienst verschiedener rhetorischer Zwecke gestellt. Für die spanischen Politiker der Zeit nach Francisco Franco hat die Convivencia einen mächtigen Gegenmythos zur „Leyenda negra“ geliefert, die Spanien mit der Inquisition und dem Fanatismus verbindet. Die Convivencia hat den regionalen und zivilen Behörden in Andalusien und in Toledo ein positives Selbstbild geboten, das sowohl den Bürgerstolz nähren und die Touristen anziehen kann. Anderswo war die Convivencia für diejenigen nützlich, die sich zugleich den islamischen Extremisten und den politisch rechts stehenden europäischen Nationalisten entgegenstellten und geltend machen wollten, dass der Islam eine Religion und eine Kultur der Toleranz ist. Die Präsenz und die Sichtbarkeit des Islam haben im Europa des 20. und 21. Jahrhunderts Kontroversen ausgelöst, Debatten über den Bau von Moscheen und Minaretten, über das Tragen des Kopftuchs oder des Schleiers, über Halal-Mahlzeiten in Schulkantinen und so weiter. Diese Debatten können sowohl die Islamophobie (der Islam ist nicht vereinbar mit den republikanischen Werten) und die Islamophilie (der Islam ist eine Religion der Toleranz) auslösen oder auch differenziertere oder mehrdeutigere Reaktionen. Ob man nun den Islam als einen Fremdkörper in Europa betrachtet oder als einen integrierenden Bestandteil der europäischen Kultur – man kommt immer auf ihn zu sprechen, wenn man Europa zu definieren versucht.

Literatur Kecia ALI, The Lives of Muhammad, Cambridge 2014. Mohamed ARKOUN (Hg.), Histoire de l’islam et des musulmans en France du Moyen Âge à nos jours, Paris 2006.

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John Tolan

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Rémi Brague

Averroës Der andalusische Philosoph, der große Kenner des Aristoteles, verkörpert in den europäischen Gedächtnissen eine Form des Humanismus avant la lettre. Er war jedoch auch ein Mensch seiner Zeit – im Dienst der muslimischen Staaten Spaniens – und rechtfertigte als solcher den Dschihad.

Averroës auf dem Fresko Triumph des Hl. Thomas von Aquin von Andrea da Firenze, (eigentl. Andrea Bonaiuto) in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz.

Rémi Brague

In dem Gedächtnis der Beziehungen zwischen dem lateinischen Abendland und dem mittelalterlichen Islam nimmt der andalusische Philosoph, Jurist und Arzt Ibn Ruschd (1126–1198) eine ebenso herausragende wie positive Stellung ein. Weniger als eine Generation nach seinem Tod wurde sein Name wie der des persischen Philosophen und Arztes Avicenna (980–1037) und der eines Zeitgenossen, des jüdischen Philosophen, Juristen und Arztes Maimonides, rasch latinisiert, woraus hervorgeht, dass er in die europäische Kultur Eingang gefunden hat. Heutzutage wird er als ein Humanist avant la lettre angesehen, ja als Bindeglied zwischen der arabischen und der abendländischen Kultur. 1997 machte ihn der ägyptische Regisseur Youssef Chahine zum Helden seines Films Das Schicksal, in dem er als ein von den Fundamentalisten angefeindeter Apostel der Toleranz und der Weisheit dargestellt wird. Der Film wurde auf den 50. Filmfestspielen in Cannes preisgekrönt. Sechs Jahre später wurde das erste private muslimische Gymnasium in Frankreich in Lille nach ihm benannt und, als 2008 ein interuniversitäres Austauschprogramm zwischen dem Maghreb und der Europäischen Union eingerichtet wurde, wurde es ebenfalls unter seine Schutzherrschaft gestellt. Wer war er in Wirklichkeit und worauf beruht dieser Ruf? Er stammte aus einer Familie von Juristen im Dienst der muslimischen Staaten Spaniens – sein Großvater war Kadi (oberster Richter) in Córdoba gewesen –, er wurde in Córdoba geboren und stand ebenfalls im Dienst der Almohaden, die ihn 1169 zum großen Kadi von Sevilla und dann von Córdoba ernannten. Als Hofarzt des Sultans und loyaler Untertan seines Herrn unterstützte er dessen Politik und das auch, als dieser zum Dschihad gegen die christlichen Königreiche im Norden aufrief. Am Ende seines Lebens wurde er jedoch der Ketzerei angeklagt, fiel in Ungnade und starb im Exil in Marokko. Sein Herrscher, der Kalif Abu Yaqub Yusuf I. (1184 gestorben), hat ihn angeblich im Jahr 1166 beauftragt, Aristoteles zu erklären. Er stellte also Kompendien aller verfügbaren Werke zusammen, paraphrasierte einige und fünf Werke wurden dreimal Wort für Wort erklärt. Sein Ziel war es, das Denken von Aristoteles in seiner ganzen Reinheit wiederzugeben, von Übersetzungsfehlern befreit, lückenlos und ohne die späteren Hinzufügungen. Aristoteles stellte für Averroës den höchsten Gipfel der menschlichen Intelligenz dar. Da bei ihm alles wahr war, reichte es aus, ihn gut zu verstehen, um zur Wahrheit der Dinge vorzudringen. So vermerkt er die Nerven in seiner Theorie der 436

Averroës

Wahrnehmung, obwohl ihre Rolle erst von Galenos (um 129–216) entdeckt wurde. Sein Bestreben, nichts zu Aristoteles hinzuzufügen, hinderte ihn übrigens nicht daran, dort, wo der Text dunkel war, sehr originelle Lehren vorzuschlagen, etwa die Theorie, der zufolge ein getrennter Intellekt existiere, das heißt eine universelle und unsterbliche Intelligenz, an der alle Menschen teilhaben. Da er als der beste und auch als der jüngste Kenner des Aristoteles galt, wurden seine großen Kommentare rasch von den abendländischen Philosophen, Theologen und Schriftstellern aufgegriffen, aber auf sehr unterschiedliche Weise: Während die einen in ihm eine unverzichtbare Autorität sahen – so etwa Dante Alighieri, der ihn unter den Philosophen und Dichtern, die vor Christus gestorben waren, im Limbus ansiedelte, oder später Raffael, der ihn auf seinem Fresko Die Schule von Athen darstellt –, werfen ihm andere wie Thomas von Aquin, der zwar seine Kommentare verwendet, vor, mit seiner These von der Ewigkeit der Welt und vom getrennten Intellekt ein „perversor et depravator“ der Philosophie von Aristoteles zu sein. Im Unterschied zu den Christen, die die großen Kommentare von Aristoteles vorzogen, privilegierten die Juden die Kompendien. Sie interessierten sich auch für die Verteidigung der Philosophie, die Averroës unter dem Titel Die Inkohärenz der Inkohärenz verfasst hatte, um die Kritiken des persischen Philosophen al-Ghazālī zu widerlegen, der in seiner Abhandlung Die Inkohärenz der Philosophen (1095) der Philosophie vorgeworfen hatte, den Glauben zu gefährden. Die großen juridisch-theologischen Schriften von Averroës, vor allem Der entscheidende Traktat und Die Enthüllung der Demonstrationsmethoden der Dogmen der muslimischen Religion, wurden ebenfalls im 15. Jahrhundert von den jüdischen Gelehrten Salomo ben Simon Zemach Duran oder Elia Delmedigo aufgegriffen, während sie Christen nicht bekannt waren. In der Zeit der Renaissance wurden die Kommentare zu Aristoteles von Neuplatonikern wie Giovanni Pico della Mirandola aufgegriffen und dann 1550 in Venedig gleichzeitig mit den Werken von Aristoteles selbst auf Lateinisch publiziert. Sein Ansehen als Verteidiger der Philosophie und der Vernunft war so groß, dass man ihm in der Zeit der Klassik den lateinischen Traktat der Drei Schwindler zuschrieb, eine Satire der drei mittelalterlichen Monotheismen, die unauffindbar ist, weil sie nie geschrieben wurde. 437

Rémi Brague

Die philologische Erforschung seiner Werke wurde durch die Monografie Averroès et l‘averroïsme (1852) von Ernest Renan eingeleitet, der in ihm den Vertreter einer „rationalen Wissenschaft, die lernt, ohne die Offenbarung auszukommen“, sieht. 1931 schließlich beschloss die Union Académique, internationale kritische Ausgaben des arabischen Originals und seiner Übersetzungen ins Lateinische und Hebräische in Angriff zu nehmen. Auf arabischer Seite hingegen – ein erstaunliches Paradox – wurde Averroës Jahrhunderte hindurch ignoriert. Erst in der Nahda, das heißt in der Bewegung der arabischen Renaissance im 19. Jahrhundert, wurde er wiederentdeckt. Seine Schriften wurden nun als wegweisend hingestellt und in den Dienst eines Aufrufs zur Reform und zur Emanzipation der muslimischen Gesellschaften gestellt. Die jahrhundertelange Nachwirkung der Schriften von Averroës bei den christlichen und jüdischen Gelehrten, die Kritiken, die am Ende ­seines Lebens an ihn gerichtet wurden, sowie seine späte Wiederent­ deckung durch die arabischen Reformatoren tragen zu einem besseren Verständnis seines heutigen Rufs bei. Man darf jedoch nicht vergessen, dass Averroës der offizielle Philosoph der Almohaden war und in seiner Abhandlung Die Inkohärenz der Inkohärenz schrieb, dass „jeder Mensch verpflichtet ist, die Prinzipien des Gesetzes [Scharia] anzuerkennen und sich ihnen zu unterwerfen und natürlich dem, der sie aufgestellt hat. Sie anzufechten und zu diskutieren, ist schädlich für die Existenz des Menschen. Es ist also eine Pflicht, Andersgläubige zu töten.“1

Literatur Roger ARNALDEZ, Averroès, un rationaliste en islam, Paris 1998. Ernest RENAN, Averroès et l’averroïsme, in: Œuvres complètes, Bd. III, Paris 1949 [1852]. Christian SCHÄFER, Heidrun EICHNER, Matthias PERKAMS (Hrsg.) Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013. Dominique URVOY, Averroès. Les ambitions d’un intellectuel musulman, Paris 1998.

1 Tahāfutal-tahāfut, XVII, § 17, hg. von Maurice Bouyges, Beirut 1930, S. 527.

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4. Nahkampf

Emmanuel Fureix / Thomas Serrier

Die Barrikade – Schutzschild des Volkes Die Barrikade ist eine Behelfsmauer, bestehend aus schief übereinandergetürmten Pflastersteinen und vollen Säcken, die den Aufständischen der Jahre 1588, 1830, 1848, 1871 … als Schutzwall dient und in ganz Europa immer wieder auftaucht. Nach und nach gerät sie außer Gebrauch, andere Demonstrationsformen gewinnen die Oberhand, als bildliche Vorstellung bleibt sie aber weiterhin eng mit dem revolutionären Kampf verbunden.

18. März 1871: Barrikade auf der Chaussée Ménilmontant in Paris.

Emmanuel Fureix / Thomas Serrier

Die Barrikade, diese eher willkürliche Ansammlung von Gegenständen, hat etwas ausgesprochen Lächerliches an sich; zugleich ist sie dank der Bilder, die sie auslöst und in Bewegung setzt, „eine Volk erzeugende Maschine“ (Alain Corbin). Sie bringt es immer wieder fertig, den Aufständen dadurch einen Sinn zu verleihen, dass sie politische Märtyrer hervorbringt und die künftige Emanzipation ankündigt. Einer ihrer besten Kenner, der Historiker Mark Traugott, hat vom Ende des 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Europa 155 Ereignisse verzeichnet, in denen sie Verwendung fand. So wurden Barrikaden beispielsweise in Paris 1648 während der Fronde errichtet. Die Barrikade bleibt aber bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ein eng lokalisiertes Element und kulminiert erst während der revolutionären Ereignisse der Jahre 1848/49. Sie wird zum Zeichen des „Völkerfrühlings“ schlechthin und als solches zum europäischen Gedächtnisort, der an eine Reihe von Ereignissen erinnert, die in Frustration und Repression endeten. Seit diesem Höhepunkt erscheint jede Errichtung einer Barrikade als Wiederkehr und als Erinnerung an ein vergessenes Jahr 1848. Doch was ist eigentlich eine Barrikade? Ein zufälliges Sammelsurium von Gegenständen, Pflastersteinen, Möbeln, umgestürzten Autos, Fundstücken von Baustellen und so weiter. Der Gassenjunge Gavroche vergleicht die Barrikade im Roman Die Elenden (1862) von Victor Hugo mit dem „Tee von Mutter Gibou“, einem Sud aus Essig, Öl, Eiern und Mehl. Doch im Juni 1848 kann die Barrikade auch fast wie eine mit dem Lineal gezeichnete Festung aussehen. Mal mehr, mal weniger improvisiert, ist sie ein Zeichen dafür, dass Aufrührer sich verbündet haben, die die herrschende Macht auf lokaler oder nationaler Ebene herausfordern. Sie erfüllt auch eine Vielfalt von Funktionen: taktische, soziale, politische und symbolische. Die Barrikade schneidet dem Gegner die Kommunikationswege ab, sie verzögert seine Angriffe und schützt die Aufständischen. Sie wirkt auf eine ganz bestimmte Weise gemeinschaftsbildend, sie bringt Nachbarn und Berufskollegen zueinander, die kämpfen, sich langweilen, miteinander plaudern, singen und provozierende Parolen rufen. Doch eine Barrikade bedeutet auch Herrschaft über den Stadtraum, sie umgrenzt einen Bereich der Souveränität und zieht eine Grenze zwischen „denen“ und „uns“. Es mag hoch angesehene Vorläufer gegeben haben, in den Jahren 1588, 1648 und 1795 und 1827 in Paris, doch erst 1830 wird sie zum 442

Die Barrikade – Schutzschild des Volkes

festen Bestandteil aufständischen Handelns und revolutionärer Symbolik, zur Synekdoche für die Revolution der Neuzeit. Ausdruck ihrer europäischen Dimension ist nicht zuletzt die Verbreitung des Wortes, das sich von „barrique“, dem Fass, mit dem man die Straße versperrt, herleitet. Man findet es ebenso im Englischen wie im Deutschen, Italienischen, Spanischen, Polnischen, Russischen, Schwedischen und so weiter. Mehr als 4000 Barrikaden werden 1830 in Paris während der drei Tage der Julirevolution, der „Trois Glorieuses“, errichtet. Dazu kommen die in der Provinz, etwa in Nantes und Lyon. In den Folgemonaten breitet sich das Phänomen aus – bis hin nach Brüssel, Lüttich und Gent. Das aufständische Warschau wird im Juli 1831 in Frankreich vom Moniteur als „heldenhafter Boulevard der europäischen Freiheiten“ gefeiert, kurz bevor es den Russen wieder in die Hände fällt. Die Furcht vor der Verbreitung des revolutionären Virus herrscht in allen europäischen Fürstenhäusern. Der Herzog von Baden sperrt den Übergang über den Rhein zwischen Straßburg und Kehl und Nikolaus I., der russische Zar, missbilligt die Julimonarchie von Louis-Philippe, die ihre Existenz den Barrikaden des Sommers 1830 verdankt: „Ich betrachte sie als gefährliches Beispiel und werde nie zurückhalten mit dieser Meinung.“1 Die bald enttäuschte revolutionäre Hoffnung versteht sich ja auch als europäische. So kann noch im Januar 1834 ein Mitglied der Gesellschaft für Menschenrechte schreiben: „Dieser europäische Aufstand […], der endlich den alten Kontinent von den Ketten der Sklaverei befreien wird, hat begonnen.“ Die Barrikade ist das visuelle Zeichen, in dem sich diese Antinomie von Emanzipation und Reaktion kristallisiert.

Paris als Herd des Aufstands Die Barrikaden von Juli 1830 und Februar 1848 beleben die Erinnerung an die Französische Revolution neu und damit auch die Vorstellung von Paris als europäischem Revolutionsherd. In seinen Feuilles d’automne (1831) spricht Victor Hugo von den „Verästelungen der großen zentralen Revolution, deren Krater Paris ist“. Der Kommunarde Jules Vallès wird 1 Zit. nach Emmanuel Fureix, Les Émotions protestataires, in Alain Corbin (Hg.), Histoire des émotions, Bd. II: Des Lumières à la fin du XIXe siècle, Paris 2016, S. 299–322. Dies gilt auch für die folgenden Zitate.

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Emmanuel Fureix / Thomas Serrier

die Stadt seinerseits als „Biwak der Revolution“ bezeichnen. Doch auch einfache Beteiligte wie der Schreiner Désiré Lapie, der während der ­Commune der Nationalgarde angehörte, sind stolz darauf, dass „man es vom Ozean bis zum Ural hören wird, wenn Paris seine Stimme erhebt, denn nichts widersteht einem freien Volk“. Derartiger Frankozentrismus findet sich nicht nur unter Franzosen. Im Denken und in den Schriften von Jungdeutschen und Linkshegelianern, von Schriftstellern und Politiktheoretikern, von Heinrich Heine und Ludwig Börne bis zu Karl Marx spielen die Lehren, die aus den Pariser Barrikaden von 1830 und 1848 zu ziehen sind, eine zentrale Rolle. Der junge Friedrich Engels brachte 1847 in Brüssel ein Stück zur Aufführung, bei dem eine Barrikade im Mittelpunkt steht; an dessen Ende dankt der Fürst eines deutschen Kleinstaats ab und die Republik wird ausgerufen. Jahrzehnte später hatte Walter Benjamin wohl die Absicht, in seiner Fragment gebliebenen Studie Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts (1935) der Verbindung des haussmannschen Städtebaus mit den Barrikaden von 1848 nachzugehen. 1848 findet die Barrikade übrigens eine weit größere Verbreitung auf dem Kontinent als 1830. Barrikaden sieht man auf den Straßen von Palermo bereits im Januar, im Februar in Paris und im März in München, Berlin, Wien, Mailand, Venedig, Budapest Krakau und Jassy (Iaşi); Neapel und Prag folgen im Mai und so weiter. Einige Profis des Straßenkampfes betreiben europäischen Barrikadentourismus. So kämpft der polnische General Ludwik Mierosławski im Frühjahr 1848 im Raum Posen gegen die Preußen und Anfang 1849 während des Risorgimento in Sizilien, dann in Baden, der letzten Bastion der 48er-Revolution in Deutschland, um schließlich ins Schweizer beziehungsweise Pariser Exil zu gehen. Der russische Anarchist und Internationalist Michail Bakunin ist auf den Barrikaden von Paris bis Prag und Dresden zu finden. Vor allem Polen und Rumänen, die im Februar 1848 im Exil in Paris leben oder dort studieren, exportieren den Straßenkampf in ihre Herkunftsländer. Doch auch die gewöhnlichen, an ihren Wohnorten engagierten Kämpfer sind über Bilder und Erzählungen über die Barrikaden in den Nachbarländern informiert. Zwei Jahrzehnte später wird der Pole Jarosław Dąmbrowski während der Pariser „Blutwoche“, die das Ende der Commune von 1871 bedeutet, auf der Barrikade der Rue Myrha sterben. An ihn erinnert man sich in Polen als einen der Helden des antizaristischen Aufstands von 1863 und noch in den Jahren nach 2000 ver444

Die Barrikade – Schutzschild des Volkes

körpert er im Comic Le Cri du peuple („Der Schrei des Volkes“), den der Zeichner Jacques Tardi dem Pariser Aufstand widmete, diese Art von Europareisenden in Sachen Revolution. Im Rückblick stellt sich die Barrikade von 1848 als diejenige dar, die die größte bildliche Verbreitung fand: Auf fliegenden Blättern wie in der illustrierten Presse ist sie überall auf dem europäischen Kontinent präsent und prägt das historische Bewusstsein der Zeitgenossen. Der im Hintergrund zu sehende städtische Raum wechselt, die Barrikade selbst scheint archetypisch unveränderlich zu sein. Sie besteht aus einer Anhäufung von Brettern und Pflastersteinen, auf der fast ausschließlich männliche Helden zu sehen sind, gelegentlich in Begleitung einer – im Unterschied zur Allegorie Eugène Delacroix‘ von 1830 – höchst realen „Amazone“, und sie wird von einer der jeweiligen Sache geweihten Fahne gekrönt. Sofort nach Beendigung der Kämpfe werden die Barrikaden gründlich beseitigt und die kleinste Spur beseitigt, sodass sich das visuelle Gedächtnis nur an den stereotypen Reproduktionen festmachen kann.

Die Barrikade als Allegorie des Aufstands Auch wenn es einige Daguerreotypien von Barrikaden des Jahres 1848 gibt, so wird doch die Barrikadenfotografie erst später zu einem regelrechten Akt der Souveränität. Giuseppe Garibaldi lässt 1860 das von den Rothemden gehaltene aufständische Palermo von Gustave Le Gray ablichten und 1871 verewigen Auguste Hipollyte Collard und Bruno Braquehais zur Zeit der Pariser Commune die riesige, irrtümlicherweise für uneinnehmbar gehaltene Barrikade, die den Zugang zur Place de la Concorde versperrte. Die weitaus weniger perfektionierten Barrikaden im Osten von Paris, wo die Aufständischen zu Hause sind, werden ihrerseits von anonymen Fotografen abgebildet: Sie zeigen stolz das Volk von Paris, das seine Stadt zurückerobert. Die Barrikade ist so heftig, so lyrisch, so schelmisch und so volkstümlich wie das berühmte „Gavroche-Lied“ („Wenn ich am Boden liege, so ist Voltaire dran schuld / Hab‘ ich die Nase in der Gosse, so liegt es an Rousseau“), sie findet Eingang in die klassischen Werke der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in Gustave Flauberts Éducation sentimentale, in das Werk von Victor Hugo und von Jules Vallès (L’Insurgé/„Der Aufrührer“, 1886). Die Literatur, insbesondere mit ihrer Unzahl an populären und kommerziellen Varianten, ist bis 445

Emmanuel Fureix / Thomas Serrier

heute einer der Orte, an denen Träume aufbewahrt werden. Das mag erklären, weshalb die mit der Barrikade verbundenen (bildlichen) Vorstellungen bis heute wirkmächtig sind, auch wenn deren strategische Funktionen heutzutage rückläufig sind. Seit 1871 ist ein Niedergang der Barrikade als Mittel des Straßenkampfes zu verzeichnen. Als revolutionäre Technik wird sie von der leninistischen Doxa als überflüssig betrachtet, aber als Symbol spinnt sie noch lang den immer wieder unterbrochenen Faden der Träume vom Aufstand fort. Mithilfe der Macht, die von Vorstellungen ausgeht, strukturiert die Barrikade in bewährter Weise noch die Protestbewegungen des 20. Jahrhunderts, obwohl nach den Erfahrungen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs klar ist, dass sie den modernen Formen des mechanisierten totalen Krieges nicht angemessen ist. Der Fotojournalist Willy Römer und Alfred Döblin, der Autor von Berlin Alexanderplatz, dem wir aber auch Karl und Rosa, ein Buch über Liebknecht und Luxemburg, verdanken, haben für alle Ewigkeit den flagranten Unterschied zwischen den Waffen der aufständischen Spartakisten und den Mitteln zu ihrer Repression festgehalten. Klaus Neukrantz, dem Autor des proletarischen Berlinromans Barrikaden am Wedding (1931), trug der Umstand, dass er den Barrikadenmythos beförderte, 1941 den Tod in einem NS-Konzentrationslager ein. In George Orwells Homage to Catalonia („Mein Katalonien“) spürt man noch die fiebrige Erregung der Barrikaden im Barcelona von 1936, während Henri Cartier-Bressons oder Robert Doisneaus Fotos von der Befreiung von Paris im Jahr 1944 und den sie gewohnheitsgemäß begleitenden Straßenkämpfen bereits von Hochglanzästhetisierung gezeichnet sind. Parallel dazu kann die Errichtung von Barrikaden nicht die erbarmungslose Niederschlagung des Warschauer Aufstands durch die NS-Besatzer verhindern. Die Archivbilder vom Aufstand in Ostberlin am 17. Juni 1953 machen deutlich, wie obsolet der Rückgriff auf dieses historische Modell angesichts der Leichtigkeit, mit der sich die sowjetischen T-34-Panzer in der Phantomlandschaft der noch von den Verheerungen des Kriegs gezeichneten deutschen Hauptstadt bewegen, mittlerweile geworden ist. Es sind nicht mehr die Bilder der erbärmlichen Anhäufungen von ein paar Steinen und herausgerissenen Reklametafeln, die in Zusammenhang mit den antisowjetischen Aufständen von Budapest (1956) und Prag (1968) um die Welt gehen. Derartige Stillleben aus einer 446

Die Barrikade – Schutzschild des Volkes

längst verflossenen Zeit können neben Bildern der nackten Brutalität der Konfrontation von Gesichtern mit Panzern nicht bestehen. Im Pariser Mai erleben die Barrikaden noch einmal einen Frühling (so wie auch im Italien dieser Zeit) und beweisen so, dass die alten Vorstellungen vom Aufstand so wie zugleich die Erinnerung an die Commune von 1871 gelegentlich wiederkehren. Doch im Gegensatz zu den romantisierenden, scheinrevolutionären Phantasmen über 1968 haben die damaligen Barrikaden zur harten Verurteilung der im Quartier Latin neu aufgeführten Revolutionsfarce durch die Befürworter von Recht und Ordnung und zu einer gewissen Ratlosigkeit bei den Europäern geführt. Ist die Barrikade also am Ende? Wenn man auf den Majdan von Kiew blickt, auf dem 2014 Barrikaden errichtet wurden, so spricht das eher für das Gegenteil. Im Wesentlichen aber ist die Barrikadenrhetorik heute in einer ganzen Reihe von Werken der engagierten Literatur aufbewahrt. Beispielhaft für sie können die Texte des ehemaligen DDR-Liedermachers und Dissidenten Wolf Biermann stehen, in denen die alten Kampferzählungen aufleben. Mittels solcher Übertragungsformen überleben historische Bezüge vorwiegend in der Vorstellungswelt, allerdings stark verblasst. Die gegenwärtigen sozialen Bewegungen suchen nach Organisations- und Handlungsformen, die der 2.0-Epoche entsprechen. Sie entfernen sich damit von den fantastischen Visionen und Betrachtungsweisen der sozialen Kämpfe, wie sie im 19. Jahrhundert vorherrschten. Doch von der Pariser „Nuit debout“ bis hin zu den weltweiten Varianten der „Occupy-Wall-Street“-Bewegung gehen die Empörten dieser Welt zumindest metaphorisch weiterhin auf die Barrikaden.

Literatur Sylvie APRILE, Jean-Claude CARON und Emmanuel FUREIX (Hg.), La Liberté guidant les peuples. Les révolutions de 1830 en Europe, Paris 2013. Alain CORBIN und Jean-Marie MAYEUR (Hg.), La Barricade, Paris 1997. Éric HAZAN, La Barricade. Histoire d’un objet révolutionnaire, Paris 2013. Rudolf JAWORSKI und Robert LUFT (Hg.), 1848–1849. Revolutionen in Ostmitteleuropa, München 1996. Mark TRAUGOTT, The Insurgent Barricade, Berkeley 2011.

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Marie-Claire Lavabre

Der Streik – die Emanzipation in Aktion So vielgestaltig „die“ Streiks und so bruchstückhaft die Erinnerungen daran sind, so sehr regt „der“ Streik im Singular die kollektive Fantasietätigkeit an, die den Wunsch nach Emanzipation und das Heimweh nach vergangener Solidarität miteinander verknüpft. Er hat seine wirklichen und seine fiktiven Helden – von den Bergleuten in Germinal über die Streiks von 1936 bis zum Werftarbeiter Lech Wałęsa in Gdańsk –, die alle reichlich in der Literatur und im Film vertreten sind.

„Das sind die ‚geistigen‘ Waffen der Arbeitgeber“: Generalstreik in Berlin Januar 1919.

Der Streik – die Emanzipation in Aktion

Von der Forderung der Charta von Amiens 1906, den Generalstreik als Mittel der gewerkschaftlichen Aktion einzusetzen, bis zur Parole „Generaltraum!“ (Rêve général) bei den Demonstrationen der französischen Jugendlichen im Jahr 2006 entzündet sich das Vorstellungsvermögen der Europäer weniger an der historischen Erfahrung „der“ Streiks als an einer Art Heimweh nach „dem“ Streik. Heimweh nach der Gruppe, die sich als solche empfindet, Heimweh nach der gelebten Solidarität, der im Rausch der Brüderlichkeit wiedergewonnenen Würde, der geteilten Hoffnung der Unterdrückten in einem Europa, in dem die Möglichkeiten, zu streiken, zurückgehen und die Legitimität von Protestaktionen, die am Erfolg der Streiks gemessen werden, infrage gestellt wird. Der Aufschwung der Industrialisierung und die gleichzeitige Entstehung eines Elendsproletariats im 19. Jahrhundert führen zu Antagonismen, die sich in neuen Aktionsformen manifestieren. Bald musste man einer Form des sozialen Protests einen Namen geben, die, auch wenn sie nicht ganz neu war, mit ihren Ritualen und Symbolen, Demonstrationen und roten Fahnen den Gegensatz von Kapital und Arbeit am eindringlichsten zum Ausdruck brachte. Es genügt jedoch, das Wortfeld zu hinterfragen, um die von vornherein ambivalenten, ja mehrdeutigen Konnotationen des Wortes „Streik“ zu erfassen. „Streiken“ oder „in den Streik treten“ setzt eine aktive an die Stelle einer passiven Form und auf Französisch (gegen 1845–1848) wie auch auf Spanisch (1855) bedeutet es, aktiv die Arbeit zu verweigern – anstelle von Untätigkeit wider Willen. Das englische, mehrdeutige Wort „strike“ hatte schon 1768, also noch früher, die moderne Bedeutung, die Arbeit niederzulegen, um den Arbeitgeber zu zwingen, auf Forderungen einzugehen. Das Wort ist von „striking or downing one’s tools“ (das Werkzeug niederlegen) abgeleitet. „Streik“ im Deutschen und „strajk“ auf Polnisch scheinen verwandte Wurzeln zu haben. Es gibt in der Tat kaum ein soziales Phänomen, das an sich so gegensätzlich, ja dialektisch wie der Streik ist. Er ist zugleich ein Druckmittel, wenn nicht gar eine Machtdemonstration, und die Ausübung einer Freiheit, ja sogar eines Rechts, das immer wieder begrenzt und infrage gestellt wird. Je nach den Gegebenheiten handelt es sich sowohl in der Vergangenheit wie in der Gegenwart darum, finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen, um eine Lohnerhöhung zu erreichen, oder die Arbeit einzustellen, um den Arbeitsplatz zu erhalten, für bessere Arbeits- und 449

Marie-Claire Lavabre

Lebensbedingungen zu kämpfen oder sich gegen die Ankündigung eines Personalabbaus und einer Infragestellung sozialer Errungenschaften zu wehren. Die Streikformen sind vielgestaltig: Der Streik kann organisiert oder spontan, ja sogar ein wilder Streik sein, punktuell oder lange andauernd, sektoriell, appellativ oder insurrektionell, wenn nicht revolutionär, wirtschaftlich oder politisch motiviert, ein Warn- oder ein Generalstreik, ein Punktstreik, Bummelstreik, Dienst nach Vorschrift. Er ist in jedem Fall Erfahrung, Stärkung der Einheit und zugleich Dramatisierung, Zuspitzung der sozialen Antagonismen. Wie dem auch sei, wenn man heute von „Streiks“ im alten Ägypten, im spätrömischen Reich oder im Mittelalter sprechen kann oder auch von dem von Lysistrata angezettelten Streik der Frauen im gleichnamigen Stück von Aristoteles, so nur in Form der Rückschau, des Anachronismus und der Metapher, vielleicht als Vorzeichen des Streiks als Erinnerungsort der Revolten aller ausgebeuteten Frauen und Männer, Sklaven, Galeerensträflinge und Leibeigenen. Denn der Streik ist im 19. Jahrhundert in erster Linie der emblematische Ausdruck der Revolte der Arbeiter, in Europa, aber auch in der Neuen Welt, wo die europäische Immigration in aufeinanderfolgenden Wellen den Aufschwung der Industrialisierung und das Wachstum des Kapitalismus sicherte. Deshalb auch hier wieder die entgegengesetzten Vorstellungen vom Streik: Organisation, Solidarität und Hoffnung für die einen, Unordnung, Bedrohung und Schrecken für die anderen.

Streiken Auch wenn Industrialisierung, soziale Proteste und Arbeiterorganisationen in diesem langen 19. Jahrhundert, das im 20. seine Fortsetzung findet, überall in Europa Hand in Hand gehen, so unterschiedlich sind Abfolge und lokale Traditionen, so werden üblicherweise die langen, harten, gut organisierten, kontrollierten Streiks in Deutschland und Großbritannien, deren Teilnehmer von mächtigen Gewerkschaften finanziell entschädigt werden, den immer wieder sporadisch aufflammenden, zuweilen gewalttätigen Streiks in Frankreich und Italien gegenübergestellt. Diesbezüglich erinnert man sich an die Streiks ohne jeden Zweifel zuerst auf nationaler, ja lokaler und kaum auf europäischer Ebene, außer im Fall einiger emblematischer Orte wie Asturien, dem Ruhrgebiet, den 450

Der Streik – die Emanzipation in Aktion

englischen und französischen Bergbaurevieren oder Zentren der Hafen-, Automobil- oder Textilindustrie. Die Streikerfahrungen sind vielfältig. Das Gedächtnis des Streiks, das sozusagen gesetzmäßig hier und dort dominiert, anderswo unterdrückt, ja verschwiegen wird, immer spaltet, schöpft ebenso aus den Niederlagen und bitteren Erfahrungen, aus der „blutgetränkten roten Fahne des Arbeiters“ (1877) und der Repression, dem Verrat wie den Siegen und aus den individuellen und kollektiven Erinnerungen an Solidarität, Glück und kleinen wie großen Ruhm. „Die Streiks“ wie die Erinnerungen daran sind vielgestaltig, bruchstückhaft in den Autobiografien der Aktivisten, in den lokalen Gedenkfeiern, in den von den Historikern zusammengetragenen Archiven mündlicher Geschichte, in den Dokumentarfilmen, die sich auf nachträgliche Zeugnisse stützen, in den oft internationalen, europäischen Kinofilmen der jüngsten Vergangenheit. „Der Streik“ hingegen verweist auf ein ständig reaktiviertes Imaginäres, auch in der heutigen Regressionsphase, und zieht seine Kraft aus der Überwindung der rechtlosen Existenz in jenen begeisternden Momenten, in denen man, unabhängig von der Aktionsform – Zerstörung der Arbeitsmittel oder deren symbolische Aneignung im Streik mit Fabrikbesetzung – das Gefühl der Macht eines Kollektivs erfährt, das in diesem Moment die Würde wiederfindet, die dem isolierten, durch Müdigkeit und die Schwierigkeiten des Alltags geknebelten Arbeiter abgesprochen wird. Einige ausgeprägt männliche Figuren ragen hervor: der Arbeiter als Held der Arbeit und Soldat der Rebellion, besonders der Bergmann, der Hafenarbeiter, der Stahlarbeiter und der Metallarbeiter. Andere wie die Landbevölkerung oder Angehörige der weiblichen Berufe zum Beispiel, die traditionellerweise weniger streiken, stehen in deren Schatten. Einige Daten, die im kollektiven Kalender verzeichnet sind, begleiten diesen Überblick über die Vorstellungen vom Streik, angefangen mit dem 1. Mai als internationalem Kampftag der Arbeiterklasse und nicht als dem „Tag der Arbeit“. Auch die Tradition, des Streiks für den Achtstundentag – einer der Höhepunkte des Arbeiterkampfs und der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert – zu gedenken, ist umstritten, was deren Beurteilung, also auch das Angedenken betrifft. Verschiedene Traditionen spalten und überlagern sich: Tag der Arbeiter für die Arbeiter, Tag der Arbeit, wenn es darum geht, jeden besonderen Bezug auf die Arbeiterbewegung zurückzuweisen oder abzuschwächen, Tag des 451

Marie-Claire Lavabre

Maiglöckchens (in Frankreich) oder Frühlingsfest. Das ändert aber nichts daran, dass es die Aktionen der Arbeitergewerkschaften waren, die den 1. Mai als Tag des Generalstreiks, Tag der Demonstrationen, ja als Feiertag in Europa durchgesetzt haben. Zuerst 1886 in den Vereinigten Staaten, wo die Streiks des 1. Mai die Hinrichtung oder Verurteilung mehrerer Gewerkschaftsführer zur Folge hatten. Dann 1889 anlässlich des Internationalen Arbeiterkongresses in Paris, auf dem der Vorschlag angenommen wurde, am 1. Mai 1890 auf internationaler Ebene zu demonstrieren. 1891 schließlich mit der Schießerei von Fourmies in Nordfrankreich, der neun Menschen, darunter vier junge Frauen und zwei Kinder, zum Opfer fielen. Dieses Gedächtnis der Arbeiterbewegung und weniger der Welt der Arbeiter ist mehr oder weniger lebendig, je nachdem, wie mächtig die Gewerkschaften und Parteien sind und wie bereit, sich darauf zu berufen und es also zu erhalten. Die Tatsache, dass die Arbeiterorganisationen in eine Krise geraten sind und an Einfluss verloren haben, trägt ohne jeden Zweifel dazu bei, dieses Gedächtnis in der Öffentlichkeit sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene abzuschwächen.

Das Streikgedächtnis in Film und Literatur Wenn die Streikenden „ihre“ glücklich oder unglücklich verlaufenen Streiks in Erinnerung behalten, so haben emblematische Streiks ein übernationales, ja sogar europäisches Echo gefunden. Es sind die Bilder und insbesondere der Film, die deren Erinnerung lebendig erhalten, deren Geschichte erzählen. Wer außer einigen Fachhistorikern und Aktivisten könnte sich in Frankreich oder in Deutschland den ersten Streik in der Textilindustrie im Jahr 1905 in dem sich rasch industrialisierenden Norditalien ohne Mario Monicellis Die Peitsche im Genick (Originaltitel: I compagni) vorstellen? Dieser kürzlich wieder zugänglich gemachte Film aus dem Jahr 1963 handelt von der den Körpern zugefügten Gewalt, von der ungesicherten Lage und der Angst der Arbeiter, von der Solidarität und dem Stolz im Kampf, aber auch von Verrat, Streikbrechern und anderen „gelben“ Gewerkschaftern, von Versuchen, dem Arbeiterstand zu entkommen, sowie von individuellen Konflikten, von den Unternehmern, die unter dem Vorwand, angesichts der Konkurrenz Arbeitsplätze zu erhal452

Der Streik – die Emanzipation in Aktion

ten, Druck ausüben, und von der Angst der Besitzenden: Alle diese Themen, die die Vorstellung vom Streik dauerhaft strukturieren, vor und nach den 1960er-Jahren, in denen die Transformationen und der Umschwung stattfanden, die die 68er-Bewegungen zu Ende führten, werden angeschnitten. Die Literatur hat jedoch mit Émile Zolas Germinal dem Streik im wahrsten Sinn des Wortes ein Denkmal errichtet. Dieser Roman, der am Ende des Zweiten Kaiserreichs spielt, wurde durch direkte Beobachtung des großen Streiks von Anzin im März und April 1884 und der Lebensbedingungen der Bergarbeiter und ihrer Familien in den Bergarbeitersiedlungen von Denain inspiriert. Er bietet eine realistische und insofern ambivalente Darstellung des Streiks und seines Ablaufs bis zur Repression an seinem Ende. Er entnimmt seinen Titel dem republikanischen Kalender und bildet zugleich eine Metapher für das Erwachen und Erstarken des Klassenbewusstseins der Arbeiter. Wenn der Roman zu Beginn einen isolierten Mann zeigt, „einen arbeits- und obdachlosen Arbeiter“, der „in sternenloser, rabenschwarzer Nacht“ einherschreitet, so endet er im „Sonnenglanz“, an einem „Frühlingsmorgen“, der von den Geräuschen arbeitender Menschen erfüllt ist, „eine[r] schwarze[n] Rächerarmee, die langsam in den Furchen keimte, für die Ernten des künftigen Jahrhunderts emporwachsend, deren Keimen alsbald die Erde durch­brechen sollte“�. Weltweit bekannt, übersetzt und regelmäßig neu aufgelegt, war Germinal im Lauf des 20. Jahrhunderts mehrmals Gegenstand von Verfilmungen, deren letzte 1993 vor allem auf lokaler Ebene auf große Resonanz stieß. „Émile-Zola“-Schulen und „Germinal“-Verbände, die sich für das Bergbaugedächtnis einsetzen, wirken als Banner dieser verarmten Industrieregion, die so Ruhm und Erbe für sich reklamiert. Der Bezug auf Germinal ist jedoch widersprüchlich, da in diesem Roman das in krassester Weise dargestellte Arbeiterelend auch als erniedrigend und als inhärente und endogame Ursache irrationaler Gewalt gesehen wird. Die Streiks am Höhepunkt der Russischen Revolution von 1905 haben ihr ganz anderes Symbol mit dem 1925 gedrehten Stummfilm Panzerkreuzer Potemkin Sergei Eisensteins gefunden, der kurz nach Der Streik herauskam, der bereits 1924 gedreht, aber ebenfalls 1925 gezeigt wurde. Dieser erste Film des Regisseurs erzählt die blutige Repression eines archetypischen Arbeiterstreiks und schließt mit der Aufforderung, nicht zu vergessen, um die Zukunft zu gewährleisten. 453

Marie-Claire Lavabre

Die Streiks der in Frankreich infolge eines Wahlsiegs an die Macht gelangten Volksfront werden ihrerseits entschieden mit der Freude assoziiert – der Freude der Streikenden, die in den Höfen der besetzten Fabriken tanzen, mit der Charles Trenets, des „Fou chantant“, mit der des ersten bezahlten Urlaubs in einer schon beunruhigenden und bedrohlichen Zeit, der es heute noch nicht gelingt, die Erinnerung an diesen beispiellosen Freudenausbruch zu trüben. Davon zeugt die Ikonografie des im Übrigen bescheidenen Gedenkens an den Front populaire im Jahr 2016, besonders das liebenswerte Foto der „im Hof der Fabrik von Nanterre während der Streiks von 1936 eingeschlossenen Fiat-Arbeiter“ am Beginn eines „Objektbuchs“, La France rouge (das rote Frankreich), das auf die Archive der Kommunistischen Partei Frankreichs, die als „nationales Kulturerbe“ präsentiert werden, neugierig machen soll.1 In dem ganzen, der Volksfront gewidmeten Kapitel mit Fotografien streikender und demonstrierender Massen, einem Plakat vor dem Hintergrund der roten Fahne, das dazu aufruft, am 1. Mai 1936 die Arbeitereinheit zu feiern, einem „Album des Sommers 36“ werden nur Bilder des Glücks präsentiert. Das Kino beziehungsweise der Film standen dem schon damals nicht nach mit Das Leben gehört uns von Jean Renoir und dem noch besser bekannten Film Zünftige Bande (Originaltitel: La Belle Équipe) von Julien Duvivier mit Jean Gabin. In diesem Film dominieren Freude, Begeisterung und Lieder, aber der von Duvivier vorgesehene Schluss wurde als zu pessimistisch für die Stimmung und den Geschmack der Zeit beurteilt und musste schließlich geändert werden. Das gefeierte oder geschmähte Erbe der 68er-Bewegung scheint vor allem aus der sexuellen Befreiung und dem kulturellen Wandel zu bestehen. Mit Ausnahme Frankreichs und Italiens, vom „schleichenden Mai“ bis zum „heißen Herbst“, schlossen sich die Arbeiter und Angestellten tatsächlich kaum der studentischen Revolte und dem darin zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen und politischen Ideal an. Unter dem Titel Die Linksradikalen im Mai 68 widmet La France rouge dieser Bewegung nur zwei Seiten, dürftig illustriert mit der Fotografie einer streikenden Werft und zwei Bildern von Demonstrationen mit Gewerkschaftsfahnen, denen ein erstaunlich bitterer Kommentar bei­ 1 Émile Zola, Germinal, übersetzt von Armin Schwarz, Berlin 1930 [1885].

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Der Streik – die Emanzipation in Aktion

gefügt ist: „Die Grenelle-Abkommen sanktionierten die Lohnforderungen, aber die KPF wird nicht mehr als revolutionäre Partei gesehen.“ Dennoch hat ein Gelegenheitsfilm, Die Wiederaufnahme der Arbeit in der Fabrik Wonder, das Bild einer weinenden jungen Arbeiterin festgehalten, die es ablehnte, in dieses „Gefängnis“ zurückzukehren. Auch sie ist – zusammen mit den Schablonendruckplakaten der Hochschule für bildende Künste und „Dany le Rouge“ (Daniel Cohn-Bendit) – ein Symbol für 1968 in Frankreich. Es bleibt noch hinzuzufügen, dass gewisse Aktionsformen – Fabrikbesetzungen und Geiselnahmen, Streikkomitees und Generalversammlungen – als Spuren von 1968 weiterbestanden, während im Streik der Frauen des Joint français 1972 und dem der LIP-Belegschaft 1973, auf den ein Dokumentarfilm unter dem Titel Les LIP oder die Macht der Phantasie zurückkommt, neue erfunden wurden. Neue Akteure sind auf den Plan getreten – Frauen, Immigranten, Jugendliche mit ländlichem Hintergrund, unqualifizierte Arbeiter –, die im Rückblick aufgewertet wurden. 2011 erinnert der Film We Want Sex (Originaltitel: Made in Dagenham) an einen Streik der Frauen in einer Autofabrik in England im Jahr 1968 und schließt – zur Erinnerung und um die Authentizität zu gewährleisten – mit der Präsentation von Teilnehmerinnen und Zeugen dieses damals noch unvorstellbaren Kampfs um Lohngleichheit. Bernardo Bertoluccis Film 1900 (Originaltitel: Novecento) gehorcht 1976 zweifelsohne derselben Logik, wenn er Landarbeiterstreiks in Süditalien zeigt und mit dem Filmplakat das monumentale Gemälde von Guiseppe Pellizza da Volpedo, Il Quarto Stato (Der vierte Stand), allgemein bekannt macht. Der vierte Stand wird hier in expliziter Bezugnahme auf die Histoire socialiste de la Révolution française (Sozia­listische Geschichte der Französischen Revolution) von Jean Jaurès durch marschierende Arbeiter, die von zwei resoluten Männern mit der Jacke über der Schulter angeführt werden, und eine Frau mit ihrem Kind im Arm vertreten, deren Bewegung Unentschlossenheit suggeriert zwischen Teilnahme am Marsch der Streikenden und vielleicht dem Versuch, diese zurückzuhalten und vor dem kommenden Zusammenstoß zu bewahren. Dieses großartige Abbild des revoltierenden Volkes hat in Wallonien, einer verwüsteten Industrieregion, ein monumentales Gemälde, Il Quarto Stato en 2014, angeregt, das anlässlich des „Internationalen Tags für die Beseitigung der Armut“ enthüllt wurde. Wäh455

Marie-Claire Lavabre

rend jedoch das Werk von Pellizza da Volpedo mit dem Kampf und folglich der Hoffnung assoziiert wird, ist der vierte Stand zur „Vierten Welt“ geworden, die wohl oder übel in erster Linie mit der extremen Armut assoziiert wird. Die großen Streiks der englischen Bergleute 1984–1985 markieren den Beginn einer anderen Wahrnehmung des Streiks: derjenigen der Des­ industrialisierung, der Niederlage der Arbeiter und, noch bedenklicher, der Disqualifizierung der Arbeitskämpfe, insbesondere der Streiks. Doch hat der britische Film die Auswirkungen der Wirtschaftspolitik von Margaret Thatcher umfassend behandelt und so das öffentliche Gedächtnis der Not der arbeitenden Klassen aktiviert. Filme wie Mit Pauken und Trompeten (1997) oder Billy Elliot (2000), um nur die populärsten beziehungsweise die bekanntesten zu nennen, zeigen als Kontext oder Thema die Brutalität jener Zeit, aber auch den Widerstand der Arbeiterkultur und die Solidarität, die in den Streiks zum Ausdruck kam. Schließlich sind noch die Streiks in Osteuropa zu erwähnen, die nach der Meinung der Spezialisten selbst wenig dokumentiert sind. Sie wurden nicht förmlich verboten, doch als gesetzwidrig in Bezug auf die von den sozialistischen Arbeitern erwartete Disziplin angesehen. Sie fanden statt, aber waren quasi unsichtbar, ja undenkbar. Trotzdem waren sie zahlreich: 1953 in Ostberlin, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei, 1956, 1968 und 1970 in Polen. 1980 entdeckte ganz Europa, wiederum in Polen, anlässlich eines Streiks mit mehreren Tausend Streikenden die Lenin-Werft in Gdańsk. Lech Wałęsa, ein schnauzbärtiger Arbeiter, praktizierender Katholik, sticht heraus. Bald erreicht Solidarność eine extrem große Anhängerschaft und löst in Europa eine gewaltige Sympathiewelle aus. Andrzej Wajda hat einen Film darüber gedreht. Der Mann aus Eisen, ein streikender Arbeiter aus Gdańsk, knüpft an den 1977 gedrehten Film Der Mann aus Marmor an, einen im Stachanowismus und im Stalinismus verlorenen Arbeiter. Wajdas Der Mann aus Eisen erhielt 1981 die Goldene Palme in Cannes, einige Monate bevor das Kriegsrecht in Polen eine Situation schuf, die im Rückblick wie ein Intermezzo auf dem Weg zum Postkommunismus erscheint. Die hier erwähnten Streiks sind nur einige unter vielen anderen, die kaum angedeutet worden oder unerwähnt geblieben sind. Sie gehören zum 19. oder 20. Jahrhundert in Europa, in England, Frankreich, Italien 456

Der Streik – die Emanzipation in Aktion

und Polen; sie betreffen die Welt der Landarbeiter, die Bergleute, die Arbeiter der Automobil-, Textil- und Hafenindustrie; sie mobilisieren verschiedene Akteure, Männer und Frauen, Arbeiter in der Stadt und auf dem Land, Mitglieder der Arbeiteraristokratie und Aktivisten. Diese Auswahl, die Länder, Regionen, Ortschaften, Industriezweige und repräsentative oder nicht repräsentative Personen kreuzt, privilegiert mit dem Film einen der Vermittler des öffentlichen Gedächtnisses unter anderen. Sie erhebt keineswegs den Anspruch auf Repräsentativität von Streikformen und Streikarten, aber sie erlaubt es, deren Diversität zu zeigen. „Der Streik“ erweist sich in seiner symbolischen Dimension als privilegierter, dramatisierter, ritualisierter Ausdruck der gesellschaftlichen Antagonismen, des Kampfs der Arbeiter gegen ihre Ausbeuter, der Schwachen gegen die Mächtigen, der Armen gegen die Besitzenden. Ob offensiv oder defensiv, siegreich oder nicht, verkörpert „der Streik“ vor allem das Gedächtnis einer Interessengemeinschaft, die sich in der Aktion bewährt, sich in der Solidarität verwirklicht, die der Zukunft zugewandt ist, während „der Streik als Erinnerungsort“ heute wie ehemals an Vorstellungen gebunden ist, die im öffentlichen Raum – von Ausnahmen abgesehen lokal verwurzelt – von Nichtbeteiligten, Politikern, Intellektuellen oder Kulturverantwortlichen formuliert werden.

Literatur „200 ans de révoltes ouvrières“ (dossier spécial), L’Histoire, Nr. 404, Oktober 2014. Bruno FULIGNI, La France rouge. Un siècle d’histoire dans les archives du PCF (1871– 1989), Paris 2011. Romain LABA, „Solidarité“ et les luttes ouvrières en Pologne, 1970–1980, Actes de la recherche en sciences sociales, Bd. 61, März 1986. Mario LIPPOLIS, Ben Venga Maggio e ‘i gonfalon selvaggio, Carraia 1987. Michelle PERROT, Les vie ouvrières, in: Pierre Nora (Hg.), Les Lieux de mémoire, Bd. III.3: De L’archive à l’emblème, Paris 1997. Bernard PUDAL und Jean-Noel RETIERE, Les grèves ouvrières de 1968, un mouvement social sans lendemain mémoriel, in: Dominique Damamme et al. (Hg.), Mai–Juin 68, Paris 2008. André ROSSEL, 1er Mai. 90 ans de luttes populaires dans le monde, Paris 1977. Michel VERRET, Mémoire ouvrière, mémoire communiste. Revue française de science politique, 1984, Bd. 34, Nr. 3.

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Marie-Claire Lavabre

Filme (in der Reihenfolge der Nennung im Text) Die Genossen, französisch-italienisch-jugoslawischer Film von Mario Monicelli, mit Marcello Mastroianni, Annie Girardot u. a., 1963. Germinal, französisch-italienisch-belgischer Film von Claude Berri, mit Miou-Miou, Renaud, Gérard Depardieu u. a., 1993. Der Streik, sowjetischer Film von Sergej Michailowitsch Eisenstein, 1924. Der Panzerkreuzer Potemkin, sowjetischer Film von Sergej Michailowitsch Eisenstein, 1925. Das Leben gehört uns, auf Initiative der Kommunistischen Partei von Jean Renoir gedrehter französischer Film, 1936. Zünftige Bande, französischer Film von Julien Duvivier, mit Jean Gabin, Charles Vanel u. a., 1936. Die Wiederaufnahme der Arbeit in der Fabrik Wonder, französischer Dokumentarfilm von Studenten der Filmhochschule IDHEC, 1968. Les LIP oder die Macht der Phantasie, französischer Dokumentarfilm von Christian Rouaud, 2007. We want Sex Equality, britischer Film von Nigel Cole, 2011. 1900 (1. Epoche), italienisch-französisch-deutscher Film von Bernardo Bertolucci, mit Burt Lancaster, Robert de Niro, Gérard Depardieu u. a., 1976. Mit Pauken und Trompeten, britischer Film von Mark Herman, 1997. Billy Elliot, britischer Film von Stephen Daldry, 2000. Der Mann aus Eisen, polnischer Film von Andrzej Wajda, 1981.

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Hartmut Kaelble

Klassengesellschaft, Klassenkampf – das Echo der Vergangenheit ‚Management‘ und ‚Prekariat‘ haben in unserem alltäglichen Sprechen die Begriffe ‚Arbeitgeber‘ oder ‚Arbeiterklasse‘ ersetzt. In unserer Vorstellung jedoch bewahrt ‚Klassenkampf‘ noch die trügerische Erinnerung an eine stabile und erfolgreiche Zeit – auch wenn dieser Zustand nicht für jeden galt –, in der jeder ­seinen Platz und Aussicht auf eine sichere Zukunft hatte, im Gegensatz zu der Unsicherheit, die die Wahrnehmung unserer Gegenwart dominiert.

1. Mai 1903: sozialdemokratisches Flugblatt (nach einem Entwurf von Otto Friedrich).

Hartmut Kaelble

Von Klassengesellschaft und von Klassenkämpfen spricht man in Europa seit den 1980er-Jahren immer weniger. Auch die damit zusammenhängenden Ausdrücke wie Bürgertum, Kleinbürgertum oder Arbeiter gehen im geschriebenen Deutsch, Französisch, Italienisch, wohl auch Polnisch, auch im durch außereuropäische Gesellschaften mit geprägten Englisch und Spanisch zurück und werden in jüngster Zeit oft durch Ausdrücke wie Prekariat, Personal, Management, Armut und Reichtum ersetzt. Auch in den großen sozialwissenschaftlichen Umfragen zu den Gesellschaften Europas wird nach Klassenkonflikten, Klassenstolz, bewusst gezogenen Klassentrennlinien meist nicht mehr gefragt. Gerät die Klassengesellschaft allmählich in Vergessenheit? Verblassen die Erinnerungen an die sozialen Klassen und Klassenkonflikte, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa entstanden und durch die sich Europa bis in die 1970erJahre von den modernen außereuropäischen Gesellschaften, den USA und Japan, unterschied? Oder steckt in unseren Erinnerungen immer noch mehr von Klassengesellschaft, als die Sprache verrät? In scharfem Kontrast zur Sprache begegnen uns weiterhin im Alltag überall Erinnerungstücke an die Klassengesellschaft. Sie hat ihre Orte. Die Stadtzentren erinnern überall in Europa an das europäische bürgerliche Zeitalter, das Museum, die Oper, das Schauspielhaus, die Börse, der Bahnhof, das Kaufhaus, die Gymnasien, die Cafés, der städtische Park, die Plätze, die Denkmäler und Brunnen, in manchen Städten auch die Universität und die Kirche, die im 19. Jahrhundert auf ganz eigene Weise restauriert wurde. Nicht nur viele Fabrikgebäude und Unternehmervillen, sondern auch Arbeiterviertel in vielen früheren europäischen Industriestädten stehen oft noch und haben die Weltkriege und die Abrisswut der 1960er-Jahre überlebt. Rote Fahnen, gereckte Fäuste und große Transparente auf Demonstrationen sind immer noch in unserer Erinnerung, wachgehalten auch durch manche Straßennamen. Wir halten weiterhin den 1. Mai als Feiertag, organisieren Streiks, tragen weiterhin Anzüge wie das Bürgertum und Mützen wie die Arbeiter, trinken weiterhin proletarische Schnäpse und bürgerliche Weine, manchmal sogar aus den Gläsern von einst, essen bürgerliche Butter und proletarisches Schmalz, sehen proletarischen Fußball und bürgerliches Tennis. Diese Überreste von anderen Lebensweisen gehören immer noch zu unserem Alltag. Sind sie nur leere Gehäuse, die mit anderen Inhalten gefüllt werden oder transportieren sie auch Erinnerungen an die Klassengesellschaft? 460

Klassengesellschaft, Klassenkampf – das Echo der Vergangenheit

Positive Erinnerungen Wenn man genau hinsieht, ist die vergangene europäische Industrieund Klassengesellschaft keineswegs vergessen oder verdrängt, sondern lebt positiv in unseren Erinnerungen. Ohne als Klassengesellschaft bezeichnet zu werden, bleiben viele Elemente der Industriegesellschaft aus der Zeit vor den 1970er-Jahren in nostalgischer Erinnerung und werden in der öffentlichen Debatte immer wieder mobilisiert: die starken Gewerkschaften und eine gut ausgebildete, zukunftssichere, auf ihre Arbeit und ihr eigenes Milieu stolze Arbeiterschaft; die Eigentümer­ unternehmer, die für ihren Betrieb Verantwortung übernahmen, statt dem nur an Karriere und hohem Gehalt orientierten Manager; ein Bürgertum, das sich durch eine gemeinsame Lebensweise und durch gemeinsame Werte in Familie, in der Arbeit, in der Kultur und Kunst wiederfand und gleichzeitig abgrenzte; das klassische, an seinem Beruf und dem Dienst an der Allgemeinheit orientierte, noch nicht kommerzialisierte Bildungsbürgertum; die gedruckte Zeitung und der für Printmedien schreibende, ordentlich verdienende Journalist; der normale Erwerbslebenslauf mit lebenslanger Bindung an einen Beruf und lebenslangem Auskommen für Arbeiter und Zukunftssicherheit für die Nachkommen des bürgerlichen Mittelstands; die steigenden Löhne und Einkommen und der stetig verbesserte Lebensstandard; die klassische Familie mit wenigen Scheidungen und vielen Kindern; die geringe Immigration; Kirchen als Lebensmittelpunkt; die solide Sicherung im Alter und im Krankheitsfall durch staatliche Sozialversicherungen; die klassischen staatlichen, nicht deregulierten und zuverlässigen Dienstleistungen der Bahn, der Post, der städtischen Sparkassen, der städtischen Verkehrsbetriebe und Elektrizitätswerke; die festen Wählermilieus und stabilen Parteien mit steigenden Mitgliederzahlen; der weitgehend souveräne Nationalstaat, aber auch die breit akzeptierte europäische Integration. Was von diesen immer wieder beschworenen Vorstellungen in der Vergangenheit wirklich Realität war, bleibe dahingestellt. Aber diese lange Liste der guten Seiten der europäischen Industriegesellschaft zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1970er-Jahren in der heutigen Erinnerung ließe sich noch verlängern.

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Hartmut Kaelble

Negative Erinnerungen Erinnerungen sind keine Geschichtsschreibung. Sie greifen aus der Geschichte das heraus, was ihnen als Sehnsuchtsreserve im Kontrast zur Gegenwart wichtiger scheint. Für das Europa vor den 1970er-Jahren blenden sie vor allem drei Dinge aus. Sie lassen vergessen, dass die Europäer sehr oft von Ängsten vor gesellschaftlichen Umbrüchen und Zukunfts­optimismus getrieben waren. Zukunftssicherheit war oft kein prägendes Gefühl. Die Erinnerungen lassen auch vergessen, dass große Teile der Europäer lange Zeit nicht an diesen schönen Erinnerungen partizipierten, viele Europäer bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in bitterer ländlicher Armut lebten, auswanderten, das Bürgertum oft schweren Krisen gegenüberstand, staatliche Sozialversicherungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts oft nur wenig leisteten und halfen, normale Erwerbslebensläufe bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts keineswegs die Regel waren, hohe Immigration und Konflikte um Immigration in Europa eher der Normalfall war. Die Erinnerungen leiden zudem an dem tiefen Widerspruch, dass sie eigentlich unvereinbar sind mit anderen, weiterhin lebhaften Erinnerungen an die düsteren Zeiten Europas vor den 1970er-Jahren, an die Weltkriege, an die Weltwirtschaftskrise, an die Inflation besonders in Deutschland und an die bürgerkriegsartigen Zustände in der Zwischenkriegszeit und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, auch an die internationalen Spannungen und Atomkriegsängste des Kalten Krieges. Viele Erinnerungen haben vor allem die Prosperitätszeit der 1950er und 1960er-Jahre vor Augen, die in der rund hundertjährigen Geschichte der Industriegesellschaft alles andere als die Normalität war. Diese Erinnerungen sind allerdings nicht in allen Ländern, nicht in allen politischen Richtungen und nicht in allen sozialen Milieus der europäischen Gesellschaften dieselben. Es gibt keinen europäischen Erinnerungskonsens in den Details. Die Erinnerung wird in vielen Ländern Ostmitteleuropas und Osteuropas eng mit dem kommunistischen Regime und seinen sozialen Klassen, seiner Machtelite und seinen Arbeitern verbunden, in Westeuropa dagegen eher mit Demokratie. Sozialdemokratische, liberale oder christlich-konservative Erinnerungen wählen sich unterschiedliche Erinnerungsthemen aus. Aber gemeinsam sind doch die nostalgischen europäischen Erinnerungen an diese vergangene Zeit. Vergangenheitsvergessene Zukunftsvisionen sind selten geworden. 462

Klassengesellschaft, Klassenkampf – das Echo der Vergangenheit

Warum diese Erinnerungen? Warum diese Nostalgie der vergangenen Industriewirtschaft mit ihrer Klassengesellschaft? Man muss dazu zuerst festhalten, dass diese Erinnerungen meist keine individuellen Lebenserinnerungen sind. Nur noch die Minderheit der heute über 60-Jährigen kennt diese Gesellschaft aus eigener Erfahrung als Jugendliche und junge Erwachsene. Für die meisten Europäer sind die europäischen Gesellschaften vor den 1970er-Jahren vergangene Geschichte, die sie nur aus Büchern, Museen, dem Fernsehen und Erzählungen der Älteren kennen. Sie sind eine kollektive Erinnerung, in der das Veto der individuellen Erfahrung keine große Rolle mehr spielt und die sich vor allem in der öffentlichen Debatte und in der kollektiven Erfahrung neuer Ereignisse wandelt. Überhaupt gibt es keine fest umrissenen gesellschaftlichen oder politischen Gruppen, die diese Erinnerung mobilisieren. Diese Erinnerungen an die Industrie- und Klassengesellschaft können deshalb von ganz unterschiedlichen Akteuren eingesetzt werden. Einen entscheidenden Grund haben allerdings diese Erinnerungen: Sie werfen einen kritischen Blick auf die Gegenwart und werden ins Gedächtnis gerufen, um Schwächen der gegenwärtigen Gesellschaft aufzudecken, und zwar je nach politischem Blickwinkel unterschiedliche Schwächen: der Niedergang einer selbstbewussten, zukunftssicheren, kohärenten Industriearbeiterschaft und die Entstehung des Prekariats; die unsicheren Zukunftsaussichten einer dramatisch expandierenden Akademikerschaft; ein krisenhafter Wohlfahrtsstaat mit brüchigen Renten; wachsende soziale Ungleichheiten in den Vermögen, in den Einkommen, im Wohnen und in der Gesundheit; die Schwächung des Nationalstaates durch die Globalisierung, aber auch die Krisen und umstrittenen Entscheidungen der Europäischen Union.

Eine Klassengesellschaft? Für die positiven Erinnerungen mit ihrem Beiklang des Abschieds gibt es keine rechten Worte. In den Ausdrücken der Industriegesellschaft, des Kapitalismus 2.0, des organisierten Kapitalismus, der Wissensgesellschaft oder der Individualisierung wird meist wenig an den Verlust und den Bruch der 1970er-Jahre gedacht, der die Erinnerungen prägt. 463

Hartmut Kaelble

Warum sagt man nicht doch einfach Klassengesellschaft? Ein Grund: Das Europa zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1970erJahren passte sicher selten voll in eine Theorie der revolutionären Klassengesellschaft. Die Interessengegensätze zwischen Arbeit und Kapital waren sehr einflussreich, aber meist nicht unüberbrückbar und nicht kompromissresistent. Es drohte nicht jedes Jahr der Ausbruch einer sozialistischen Revolution. Große Teile der Gesellschaft ließen sich nicht einfach entweder dem Kapital oder der Arbeit zuordnen, weder die Bauern noch die Dienstboten noch viele kleine Händler, Transporteure, Handwerker noch die kleinen Beamten. Regierungen, Gerichte und staatliche Verwaltungen wurden nicht einfach durch die Kapitalbesitzer gesteuert. Auch das Bildungsbürgertum, Journalisten, Schriftsteller und Professoren vertraten nicht einfach Interessen der Kapitalbesitzer. Klassengesellschaft drückt zudem viel zu wenig die positiven Erinnerungen der vergangenen Industriegesellschaft aus. Klassengesellschaft besaß und besitzt überwiegend – allerdings nicht ausschließlich – negative Konnotationen. Dazu ein kurzer Blick in die Geschichte dieses Begriffs. Schon als er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Bildungsbürgertum entwickelt wurde, schilderte er eine negative Zukunftsgesellschaft. In jenem Zukunftsszenario standen vom Bürgertum abgetrennt die unteren Klassen: auf der eine Seite die bemitleidenswerten, letztlich guten, unverschuldet durch damals neue Entwicklungen in Not geratenen Armen, die durch bessere Lebensführung, durch Bildung und durch wechselseitige Unterstützung und Vereine wieder aus der Armut herauskommen konnten und sogar in das Bürgertum aufsteigen konnten, aber doch vor der Gefahr standen, in ihrer pauperisierten Klasse hängen zu bleiben; auf der anderen Seite der Pöbel, die aufsässigen, unberechenbaren, wilden, zerstörerischen, unzivilisierten Unterschichten, die gefährlichen sozialen Klassen, die als Bedrohung angesehen wurden. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Klassengesellschaft zu einer Gegenwartsbeschreibung, blieb dabei aber meist negativ. Erst jetzt wurden die Industriebarbeiter in Fabriken in das Zentrum der Unterschichten gerückt, wiederum entweder als bemitleidenswerte Arme oder als Aufrührer. Dieser Begriff des Bildungsbürgertums wurde von Karl Marx zu einem revolutionären Verständnis weiterentwickelt, in dem die Konflikte zwischen den sozialen Klassen im Kapitalismus zu einer Revolution und zu der Abschaffung von sozialen Klassen führen mussten. 464

Klassengesellschaft, Klassenkampf – das Echo der Vergangenheit

Das negative Verständnis von Klassengesellschaft verlor sich erst, als Industriegesellschaften voll entstanden waren. Soziale Klassen als Begriff zur Beschreibung von bestehender Gesellschaft ohne Bezug auf unvermeidbare gesellschaftliche Krisen oder gar Revolutionen wurden am Ende des 19. Jahrhunderts von Sozialwissenschaftlern wie Werner Sombart, Maurice Halbwachs, Max Weber, in anderer Weise etwa von Vil­ fredo Pareto und Thorstein Veblen verwandt. Weber unterschied neben Ständen vier soziale Klassen, die Klasse der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten, das Kleinbürgertum und die – wie er sagte – besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit sowie die Arbeiterschaft. Ab dem Ersten Weltkrieg veränderte sich das Verständnis von Klassengesellschaft wieder. Alle drei scharf miteinander konkurrierenden politischen Richtungen in Europa – der Kommunismus, die demokratischen Parteien und der Faschismus – benutzten den Begriff der Klassengesellschaft negativ wertend. Mit gegensätzlichen Visionen verfolgten sie das Ziel, die Klassengesellschaft entweder abzuschaffen oder zumindest abzumildern. Diesen negativen Sinn behielt der Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg im Kalten Krieg bei. Es war in den politischen und intellektuellen Auseinandersetzungen während des Kalten Kriegs schwierig, zu dem rein wissenschaftlichen Begriff der sozialen Klassen des späten 19. Jahrhunderts zurückzukehren. All das wirkt immer noch nach. Es sieht jedenfalls gegenwärtig nicht nach einer Rückkehr zu der neutralen Verwendung wie im späten 19. Jahrhundert oder gar nach positiven Erinnerungen an die Klassengesellschaft aus. Eine neutrale Verwendung ist nur im Englischen durchaus üblich, wird aber in anderen Sprachen nicht übernommen. Insgesamt ist Klassengesellschaft ein Erinnerungsort, der sich zwar oft besichtigen, aber nicht leicht in Worte fassen lässt. Unsere Sprache verändert sich, aber unsere Erinnerung an die Vergangenheit folgt ihr nicht einfach. Einerseits geht dieser Ausdruck mit einer ganzen Familie eng damit verbundener anderer Wörter in unserer Sprache zurück. Andererseits leben wir weiterhin in den oft liebevoll restaurierten Gebäuden und Anlagen und mit den Kleidern, dem Essen, den Getränken, den Filmen, Gemälden, Fotos und Romanen jener Zeit und tragen diese positiven kollektiven Erinnerungen an diese vergangene Gesellschaft mit uns herum und in die öffentlichen Debatten hinein. Diese Erinnerungsstücke und kollektiven Erinnerungen lassen sich aber am ehesten noch im eng465

Hartmut Kaelble

lischen, aber viel weniger in anderen Sprachen in einem neutralen Begriff der Klassengesellschaft fassen. In der Regel haben wir für diese Erinnerungen kein rechtes Wort. Gleichzeitig ergeben dieser Erinnerungsorte einen wichtigen Sinn, da sie einerseits den unvermeidbaren Abschied von der Industrie- und Klassengesellschaft in sich tragen, aber gleichzeitig an die schwachen Seiten der heutigen Gesellschaft erinnern, an ihre soziale Unsicherheit, an ihre sich verschärfenden sozialen Ungleichheiten, an den brüchigen Staat und an die ständigen Herausforderungen der grundsätzlichen gesellschaftlichen und politischen Neuorientierung. Sie sind ein wichtiger Erinnerungsort, der freilich noch keinen rechten Namen gefunden hat.

Literatur Rudolf BOCH, Fabriken, in: Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., Bd. II: Das Haus Europa, München 2011, S. 535–542. Louis CHAUVEL, Le retour des classes sociales, Revue de l’OFCE, Oktober 2001. Geoff ELEY und Keith NIELD, The Future of Class in History. What’s Left of the Social?, Ann Arbor 2007. Jürgen KOCKA, Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse, Bonn 2015. Jenny PLEINEN, Klasse, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.de/ zg/Klasse?oldid=106314 (Aufruf: 4.4.2019) Charles TILLY, Social Class, in: Peter N. Stearns (Hg.), Encyclopedia of European Social History, Bd. III, New York 2001, S. 3–18.

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Marie-Claire Hoock-Demarle

Die Spur der Frauen – ein Anhängsel der Geschichte Die Allegorien der Macht sind oft weibliche Figuren – Europa, Britannia, Marianne – und doch hatten die Frauen im Lauf der Geschichte nur selten die Gelegenheit, Macht auszuüben. Es bedurfte außergewöhnlicher Persönlichkeiten, um ihnen allmählich ein wenig gesellschaftliche Sichtbarkeit zu verschaffen. Ihre Emanzipation aus dem Joch von Familie und Religion und ihre Teilnahme am öffentlichen Leben sind das Ergebnis eines organisierten Widerstands – bis hin zum Schock, den Simone de Beauvoirs Buch Das andere Geschlecht und sein Kernsatz – „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ – auslösten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel, Verteidigungsministerin Annegret KrampKarrenbauer und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 17. Juli 2019 im Schloss Bellevue.

Marie-Claire Hoock-Demarle

„Warum“, so fragt 1929 Virginia Woolf in A Room of One’s Own, „sollte man der Geschichte nicht ein Anhängsel hinzufügen? Ein Anhängsel, dem man freilich einen belanglos klingenden Namen geben sollte, damit Frauen darin vorkommen könnten, ohne dass es unschicklich erschiene“.1 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es in der Vorstellungswelt der Europäer gestern wie heute keineswegs an weiblichen Figuren mangelt(e), angefangen bei Europa, diesem Opfer einer Entführung, die man als Urszene der Beziehungen zwischen den Geschlechtern betrachten kann, die auch gleich dem neuen Kontinent die Geschlechterhierarchie einschreibt. Im Lauf der Jahrhunderte legen sich die verschiedenen Staaten, die den neuen europäischen Raum bilden, der Reihe nach ihre eigene emblematische Figur zu. Neben einer Italia Turrita, die eine Krone aus Türmen trägt mit einem fünfzackigen Stern als Spitze, oder der ­Mutter Russland, die im Totengesang, den Sergei Prokofjew für Sergei Eisensteins Alexander Newski komponierte, angefleht wird, findet man Britannia, eine römische Göttin, die unter Elisabeth I., mit der sie verschmilzt, zur Nationalikone umgedeutet wird. Da gibt es Germania, zunächst eine Gefangene, die den Verlust des gleichnamigen, von den Römern eroberten Gebiets beklagt und die man im 19. Jahrhundert neu erfindet, um sie nach den napoleonischen Kriegen zur Personifikation der nationalen Einheit und schließlich zur kampfbereiten Wächterin des Reichs zu machen. Und schließlich taucht Marianne auf, die Allegorie der Republik, die während der Französischen Revolution aufkommt. All diese Allegorien, die man inmitten der Machtzentren oder aber an den Grenzen wie Wachen aufgestellt findet, sind bis heute fest in der geopolitischen Landschaft Europas verankert. Als Statuen auf den Plätzen von Paris und London, als Glasfenster in der Frankfurter Paulskirche (1848), als Denkmal am Ufer des Rheins (Niederwalddenkmal, 1883) oder als schlichte Büste in jedem Rathaus in Frankreich, hinterlassen sie alle ihre Spur in der komponentenreichen und mitunter ruckartigen Erzählung der europäischen Geschichte.

1 Virginia Woolf, A Room of One’s Own, erschienen in der Zeitschrift Forum, März 1929, dann im Verlag Harcourt Grace & Co, New York 1989; eine deutsche Übersetzung liegt vor in: Ein eigenes Zimmer/Drei Guineen. Essays, Leipzig 1989, S. 46. Die französische Übersetzung, auf die sich die Autorin des vorliegenden Aufsatzes bezieht, stammt von Clara Malraux.

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Die Spur der Frauen – ein Anhängsel der Geschichte

Aber so viel Platz den Frauenfiguren auch im Bilderbuch des kollektiven Bewusstseins der Europäer und bei der Herausbildung seiner Gedächtnisorte eingeräumt werden mag – sie dienen lediglich dem Ruhm der einzelnen Nationen und dem Gedenken an bestimmte historische, politische oder kriegerische Ereignisse, die allesamt in der Hand von Männern liegen. Paradoxerweise sind all diese zu Ikonen gewordenen Frauen bloße Ausgeburten männlicher Phantasmen, die sich regelrecht des Körpers dieser Frauen bemächtigen, sodass sie keineswegs die „andere Hälfte“ abbilden, die die Frauen auf europäischem Boden darstellen. Wo aber findet man die Wegmarken, die in unterschiedlicher Form den langen Marsch eines ganzen Teils der europäischen Bevölkerung auf der Suche nach Sichtbarkeit und Anerkennung begleiten? Offenbar sind sie nicht auf dem Gebiet der Statistik zu finden, in der – im Unterschied zu den Gemeinderegistern, die im 17. Jahrhundert in ganz Europa eingeführt werden – das reale demografische Gewicht der Frauen erst zu Ende des 19. Jahrhunderts verzeichnet wird. Erst zu diesem Zeitpunkt setzt sich neben dem Eintrag nach Haushalten – mit dem Vater/ Familienoberhaupt an der Spitze – der individuelle Eintrag durch, bei dem in aller Klarheit steht: „Geschlecht, maskulin oder feminin“. Und diese Unschärfe bei der Erfassung der Tätigkeit von Frauen bleibt in ganz Europa noch lange bestehen: „Bis 1914 hat es kein Staat vermocht, die Tätigkeit von Frauen korrekt zu erfassen […] So tauchen [die Frauen] mitunter als „nicht berufstätig“, mitunter in der Rubrik ihres Mannes auf, wie es dem jeweiligen Bearbeiter so beliebt.“2 Wie soll man spezifisch weibliche Erinnerungsorte ausfindig machen, wenn es bis in die jüngste Vergangenheit keine Frauengeschichtsschreibung gibt? „Ist eine Geschichte der Frauen möglich?“, fragte sich 1984 Michelle Perrot, die sich damals auf die Spuren einer erst noch zu beackernden Geschichte machte, und Gisela Bock schrieb in ihrem Buch Frauen in der europäischen Geschichte (2000): „Als in Europa um die Mitte der Siebzigerjahre […] die Geschichte der Frauen entdeckt wurde, bedurfte allein schon die Frage, ob sie überhaupt eine Geschichte haben, noch lange Zeit besonderer Legitimation.“3 Mit dem Erscheinen von Histoire des 2 Jacques Dupâquier, Histoire de la démographie. La statistique de la population des origines à 1914, Paris 1985, S. 334. 3 Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, München 2000, S. 346.

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femmes en Occident in den Jahren 1991/92 („Geschichte der Frauen im Abendland“) hat uns das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nicht das von Virginia Woolf beschworene „Anhängsel“ mit unverdächtigen Namen beschert, wohl aber ein Werk der Erinnerung an Frauen über einen langen Zeitraum – die „longue durée“ der neuen Historiker –, mit dessen Hilfe man Schicht für Schicht eine ganze Archäologie der frauenspezifischen Erinnerungsorte freilegen kann, die bislang auf dem Grund des Schweigens der Geschichte lagen. Und diese Orte mit ihrem extremen Formenreichtum entwickeln sich im Lauf der Zeit und in Abhängigkeit von den je besonderen Strategien der Frauen, die sie ersinnen. Es gibt unter ihnen die Figuren, die „großen Frauen“ – um einen Neologismus zu wagen –, die mithilfe von List oder Lust an der Provokation, durch Transgression oder Forderungen der Welt ihren Stempel aufgedrückt und auf ihre Art Erinnerungsorte geschaffen haben. Und diese Stimmen, Taten, Schriften und Schicksale wurden – oft mündlich – von Generation zu Generation weitergetragen und brachten konsistente Frauengruppen hervor, die nach und nach Formen der Soziabilität, des gesellschaftlichen Verkehrs, entwickelten und beherrschten, die ihnen Sichtbarkeit beziehungsweise sogar Einfluss im öffentlichen Raum Europas verschafften. Am Ende standen umfangreichere, besser organisierte Bewegungen, die Widerstand leisteten und Emanzipation einforderten. Sie haben „der anderen Hälfte“, wenn auch mit erheblichen Unterschieden in zeitlicher und räumlicher Hinsicht, ihren Platz im zivilen wie politischen Leben verschafft. In diesen Zusammenhang gehört auch das Buch Das andere Geschlecht (1949), in dem sich der Leit- und Kernsatz „Man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird es“ findet. Damit war die Bahn frei für eine andere Geschichte, die nunmehr von den Frauen selbst in die Hand genommen wird, von Frauen, die die krasse Bilanz von Simone de Beauvoir dazu zwingt, sich der Lage, die man ihnen aufzwingt, aber auch der Wege zur Freiheit bewusst zu werden.

Über einige große Frauen Die von Zeus entführte Europa leidet und schweigt. Doch schon in der Antike, in der das Heiratsalter immer mehr gesenkt wird, Frauen direkt von der Autorität des Vaters an die des Ehemanns übergehen und das Frausein sich immer mehr darauf beschränkt, Ehefrau (uxor) oder aber 470

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an den Haushalt gebundene Mutter (matrona) zu sein, kommt es vor, dass eine Frau ins kollektive Gedächtnis eingeht und in diesem quer durch die Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag aufbewahrt wird. Das ist der Fall bei Antigone, die offen ihren Onkel Kreon herausfordert, weil dieser sich weigert, Antigones Bruder, den Vaterlandsverräter Polyneikes, beisetzen zu lassen. Die Auseinandersetzung ist politischer Natur und die Worte Antigones, wie sie in den gleichnamigen Tragödien von Sophokles, Aischylos und Euripides stehen, bedeuten die Entstehung eines autonomen weiblichen Diskurses und eines Widerstands mit weiblichem Gesicht gegen die herrschende Ordnung. Antigone ist in den entscheidenden Momenten der europäischen Geschichte zur Stelle, vom durch die Religionskriege gezeichneten 16. Jahrhundert mit Antigone ou la pitié („Antigone oder das Mitleid“) von Robert Garnier (1580) bis zur Antigone des Jean Anouilh, der aus ihr eine Figur der Résistance aus dem Jahr 1944 macht. Mit Jeanne d’Arc, der heiligen Johanna, wird eine weitere Frau zu einer doppelt verwertbaren Gedächtnisikone. Sie entstammt als Bäuerin freilich der am tiefsten schweigenden Masse der „anderen Hälfte“ und wird einerseits zur seltsam geschlechtslosen Kriegerin zu Pferd (Reiterstatue von Emmanuel Frémiet, 1874) und zum Schnittpunkt der aufeinanderfolgenden Nationalismen. Andererseits ist sie die brave Lothringerin, „Jehanne la bonne Lorraine“, die als Hexe vom weltlichen wie geistlichen Gericht zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und von François Villon in der Ballade des dames du temps jadis (1460), der „Ballade der Frauen von einst“, unsterblich gemacht wird. Sie steigt zur Erinnerungsfigur schlechthin auf, wird sogar heiliggesprochen und an zentraler Stelle in allen Formen der Kunst thematisiert: im Theater durch Friedrich Schiller (1801), Charles Péguy (1910) und Bertolt Brecht (1930), in der Musik durch Giuseppe Verdi (1845) und Arthur Honegger (1938), im Kino durch Carl Theodor Dreyer (1928) und Robert Bresson (1962). Als Kultfigur steht sie in der Erzählung von großen Frauen in einer Reihe mit der Jungfrau Maria und der heiligen Genoveva. Im europäischen Maßstab gibt es eine ganze Reihe von heiligen Frauen wie etwa Elisabeth von Thüringen, die Tochter des Königs von Ungarn, deren beispielhafte Lebensführung sie im Gedächtnisdiskurs zu Leit­ figuren macht, während Hildegard von Bingen und Teresa von Ávila im 20. Jahrhundert zu Kirchenlehrerinnen (doctores ecclesiae) erhoben 471

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werden und ihr hohes Ansehen der Kraft ihres Glaubens und dem Gehalt ihrer Schriften verdanken. Fernab von aller Mystik haben weniger legendäre, aber nicht weniger starke Frauen ihre Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, angefangen bei Theodora, einer Kurtisane und dann Gemahlin Justinians, des Kaisers von Konstantinopel, die eine ganze Reihe von frauenfreundlichen Reformen angeregt hat, die in den 529 erlassenen Codex Justinianus eingingen. Zeitlich und geografisch näher steht uns Königin Luise von Preußen, die es 1807 unternahm, im Rahmen einer Begegnung in Tilsit Napoleon, den Besieger der Preußen in der Schlacht von Jena und Auerstedt, milde zu stimmen. Sie wird zur Kultfigur der Befreiungskriege werden, in denen sich ab 1813 der Widerstand gegen Napoleon manifestiert; das Kaiserreich wird noch im Jahr 1871 den Mut und die Tugend dieser Frau und „Mutter des Vaterlands“ herausstellen. Andere Herrinnen über begehrte Landstriche wie Anne de Bretagne und Eleonore von Aquitanien hatten es in der Hand, durch Verheiratung mit französischen oder englischen Königen die geopolitische Konfiguration des europäischen Kontinents von Grund auf zu verändern. Eine andere mächtige Frau, Elisabeth I., prägte ihre Gegenwart so tiefgehend, dass man ihre Regierungszeit als Elisabethanisches Zeitalter bezeichnet. Später wird eine als Katharina II. zur allmächtigen Zarin aufgestiegene deutsche Prinzessin – die einzige Frau, der die Bezeichnung „die Große“ zuteilwurde – die Betrachtungsweise von Frauen und ihrer realen Macht ebenso verändern wie die Österreicherin Maria-Theresia, die sich Friedrich II. widersetzte, auch wenn der Titel (beziehungsweise der Untertitel) der Biografie, die ihr Elisabeth Badinter 2016 widmete – Le Pouvoir au féminin. MarieThérèse d’Autriche, l’impératrice – reine Maria („Maria-Theresia. Die Macht der Frau“, München 2017) – für einige immer noch gewöhnungsbedürftig zu sein scheint. Doch diese Frauen – und das ist einer der Widersprüche des anderen Geschlechts – setzten mitunter alles daran, ihre Geschlechtszugehörigkeit vergessen zu machen wie etwa Elisabeth I., die sich zur Virgin Queen, zur jungfräulichen Königin, erklärte und jegliche Feminität ablehnte: „Ich habe Herz und Mut eines Königs, und zwar eines Königs von England“ (Tilbury-Rede, August 1588). In ähnlicher Weise trägt Christine von Schweden offiziell den Titel eines „Königs von Schweden“, trägt Männerkleidung und lehnt Ehe wie Mutterschaft ab. So will es das Paradoxon dieser Art weiblicher Macht, dass 472

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einige große Frauen Ikonen von größerer Zerbrechlichkeit sind als die weiblichen Allegorien, die den Vorstellungen der Männer entsprangen. Im Lauf der Zeit tauchen im europäischen Gedächtnis auf den unterschiedlichsten Gebieten immer mehr weibliche Leitfiguren auf. Wir können sie nicht alle hier aufzählen und beschränken uns auf die exemplarische Erwähnung von großen Reisenden. Hier steht an erster Stelle Maria Sibylla Merian (1647–1717), die Tochter des berühmten Vedutenstechers, dessen Ansichten von europäischen Städten gesammelt in Theatrum Europaeum erschienen, während sie selbst, auf Insekten und Schmetterlinge spezialisiert, auf eigene Kosten und mit ihrer Tochter für zwei Jahre nach Surinam reiste. In diesem Kontext zu erwähnen ist auch Lady Mary Wortley Montagu, die in ihren berühmten Turkish Embassy Letters über ihren langen Orientaufenthalt berichtet, oder aber die Erforscherinnen unbekannter Welten wie Alexandra David-Néel. Auf dem deutlich maskulin dominierten Gebiet der Malerei haben sich drei Frauen in ihrer Zeit durchsetzen können. Sie sind alle drei Töchter von Malern, haben also ihre Ausbildung im Vaterhaus erhalten – die Kunsthochschulen waren Frauen ja auch verschlossen – und sie alle haben in ihrem außergewöhnlichen Unabhängigkeitsdrang ganz Europa durchquert. Die Erste von ihnen, Artemisia Gentileschi, die im Schatten Caravaggios ihre Ausbildung erhielt, war eine starke Persönlichkeit – als Opfer einer Vergewaltigung ließ sie sich auf einen öffentlichen Prozess ein –, wie auch ihre Selbstporträts zeigen, die ersten von einer Frau gemalten. Sie zeichnet sich zudem durch die Heftigkeit ihrer Bilder aus. Diese stellen gern biblische Heldinnen dar, die ihre Unterdrücker umbringen. Die 1741 geborene Angelika Kauffmann und die 1755 geborene Élisabeth Vigée-Lebrun gehören zu den Persönlichkeiten, die das kollektive Gedächtnis einer komplexen Epoche prägten. Die Erstgenannte, eine gebürtige Schweizerin, lebte von Porträts berühmter Zeitgenossen, die sie ebenso in Italien wie in London anfertigte, wo sie 1768 in die Royal Academy aufgenommen wurde. Die Zweite kommt unbeschadet durch alle Krisen – sie stirbt 1842 – und bleibt dabei ständig die Porträtistin der Höfe Europas, vom Versailles Marie-Antoinettes bis hin zu Wien und Russland, wo sie sechs Jahre im Exil verbringt. Ob sie sich nun eher durch Heftigkeit oder Anmut auszeichnen, sie alle sind Zeuginnen ihrer Epoche und ihrer wilden Entschlossenheit, mithilfe ihrer Kunst die Umrisse eines weiblichen kulturellen Erinnerungsorts zu entwerfen. 473

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Wissenschaftlerinnen – die ihren männlichen Kollegen auf ihrem Fach ebenbürtig waren, auch wenn sie vielleicht nicht dieselben Titel trugen – wie Caroline Herschel, die als Entdeckerin von Planeten die erste Frau war, die als Ehrenmitglied in die Royal Astronomical Society aufgenommen wurde, oder die Mathematikerin Margaret Cavendish oder Madame du Châtelet, die Übersetzerin von Isaac Newton, hatten schwere Kämpfe auszufechten, um die Anerkennung ihrer Arbeit und ihrer Entdeckungen durchzusetzen. Erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert werden die Leistungen von Frauen als Wissenschaftlerinnen anerkannt. Vorreiterin ist dabei Marie Curie, eine nach Paris ausgewanderte Polin, die gleich zwei Nobelpreise erhielt. Selten sind sie also nicht, die Frauen, die die Kulturgeschichte Europas geprägt haben, doch die von Männern oder offiziellen Institutionen erstellte Leiterzählung kümmerte sich bislang nicht groß darum. Die Académie française nahm 1980 erstmals eine Frau auf und hat es bis heute lediglich auf sieben weibliche Mitglieder gebracht. Tempel der Erinnerung und des Gedenkens wie Westminster Abbey, das Pariser Pantheon und die im 19. Jahrhundert von Ludwig I. von Bayern errichtete Walhalla haben lange keine Vertreterin des weiblichen Geschlechts anerkannt und aufgenommen. Westminster Abbey hat eine ganze Reihe von Königsgräbern aufzuweisen, aber Frauen kommen dort nur als Gemahlinnen vor und Elisabeth I., die allerdings dort beigesetzt ist, teilt sich seltsamerweise mit ihrer Halbschwester Mary I. ein Grabmal, dessen Epitaph eine wenig königliche Inschrift ziert: Regno consortes et urna, hic obdormimus Elizabetha et Maria sorores („Gemeinsam auf dem Thron und im Grab ruhen hier die Schwestern Elisabeth und Mary“). Unter den 43 Persönlichkeiten von nationaler Bedeutung, derer man dort gedenkt, befinden sich nur fünf Frauen – Jane Austen, Charlotte Brontë, Jenny Lind sowie unsere Zeitgenossinnen Diana, Princess of Wales, und Peggy Ashcroft, die 1991 gestorbene Shakespeare-Darstellerin. In der bayrischen Walhalla finden sich unter den 130 verehrungswürdigen Persönlichkeiten nur zwölf Frauen repräsentierende Büsten oder Stelen und unter diesen nur zwei Frauen unserer Zeit: die 2003 dank ihres Widerstands gegen den Nationalsozialismus aufgenommene Sophie Scholl und seit 2009 Edith Stein nach ihrer Heiligsprechung durch die katholische Kirche. Das Pantheon, das den „Grands Hommes“ gewidmet ist, zeigte sich äußerst zögerlich dabei, eine „große Frau“ aufzunehmen, und 474

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im 21. Jahrhundert wurde neben 79 herausragenden Persönlichkeiten männlichen Geschlechts nur drei Frauen – Marie Curie, Germaine Tillion und Geneviève de Gaulle-Anthonioz – das Vorrecht zuteil, an diesem Ort zu ruhen, wobei in zwei Fällen die Särge nicht einmal ihre sterblichen Überreste enthalten. Zahlreiche Bemühungen, auch Olympe de Gouges, George Sand, Louise Michel und Simone de Beauvoir ins Pantheon aufzunehmen, blieben vergeblich. Soll man aus dieser dürftigen Bilanz den Schluss ziehen, dass Frauen das europäische Gedächtnis so wenig geprägt haben, dass dieses sie kaum berücksichtigt hat? Und dass diejenigen, die ihr außergewöhnliches Schicksal in die erste Reihe gestellt haben, dies trotz ihrer Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht erreichten? Oder müssen wir die Spuren, die diese Frauen im kollektiven Gedächtnis hinterlassen haben, anderswo als im offiziellen Gedenken suchen?

Weibliche Soziabilität Wenn man „die andere Hälfte“ als Gesamtheit betrachtet, ist es klar, dass weder die göttliche noch die politische und gesellschaftliche Ordnung ihre Aufnahme in die große europäische Leiterzählung begünstigen. Abgesehen von einigen Ausnahmen, bleiben Frauen deshalb so lange von den politischen und kriegerischen Ereignissen ausgeschlossen, weil sie wegen ihrer Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht, das seit Adam und Eva als das schwache dargestellt wird, von den Männern abhängig sind. Und auch, wenn diese Beziehung durch die Französische Revolution oder durch Gesetzbücher wie etwa das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 reale Veränderungen erfährt, so besteht sie doch in vielen Bereichen fort. Der Code civil, den Napoleon Bonaparte in den eroberten Gebieten einführt und der in vielen von ihnen bis ins Jahr 1900 in Kraft bleibt, enthält eine klare Neudefinition der Rolle eines jeden Geschlechts innerhalb der Familie: Die eheliche und die väterliche Gewalt liegen beim Ehemann beziehungsweise Vater und haben den Status von Grundprinzipien, was für den Mann die Schutz- und für die Frau die Gehorsamspflicht impliziert. Frauen sind in Frankreich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht selbstständig, was die Regelung ihres eigenen Besitzes angeht; sie benötigen die ausdrückliche Genehmigung ihres Ehemanns, um ein Bankkonto zu eröffnen. Es gibt nur wenige Ausnahmen von der Regel, 475

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was a contrario zeigt, wie sehr die Rechtsprechung jegliches Selbstständigkeitsstreben von Frauen einengt. In der internationalen Welt des Handels ist es hingegen üblich, in geschäftlichen Angelegenheiten von den Vorrechten des Mannes abzusehen. Dies gestattet es beispielsweise der Heldin von Daniel Defoes Roman Roxana, The Fortunate Mistress (1724), in so ungewöhnlicher Weise die erste Geige zu spielen. Reich geworden durch ihre späte ­Eheschließung mit einem holländischen Händler, legt sie sich den großsprecherischen Titel She-Merchant zu. Ähnlich verhält es sich mit den Witwen, denen gewisse Ausnahmen von den sonst üblichen Reglementierungen zugestanden werden. Sie können als Familienvorstand, ja mitunter sogar als Leiterinnen von Unternehmen fungieren, so etwa Ende des 17. Jahrhunderts Glückel von Hameln, die Witwe eines reichen jüdischen Händlers, dessen Geschäfte sie zunächst in Hamburg und dann in Metz weiterführt. Sie ist die Autorin eines Tagebuchs, das zum ersten weiblichen Erinnerungsort dieser Art wird. Diese Witwen führen mit ihren Erinnerungen und ihrem Briefwechsel neue weibliche Töne ein, so etwa „Frau Rat“, Johann Wolfgang von Goethes Mutter. Bettina von Arnim wird aus dieser Frankfurterin, die unverblümt ausspricht, was sie denkt, die weibliche Leitfigur ihrer Schriften über Goethe, aber auch über die soziale Frage im Preußen ihrer Zeit machen. Abgesehen von diesen Ausnahmen, steht es der anderen Hälfte insgesamt nicht zu, sich eigene Gedächtnisorte zu schaffen und dort Strategien der Anerkennung einer Eigenidentität des anderen Geschlechts zu entwickeln. Dies bleibt bis zum großen Bruch der Französischen Revolution die Aufgabe einer Minderheit von durch Geburt oder Vermögen privilegierten Frauen. Nur diese sind in der Lage, im Lauf der Jahrhunderte spezifische Formen weiblicher Soziabilität, eigene Arten gesellschaftlicher Vernetzung, herauszubilden, die dauerhaft die europäische Geschichte prägen werden. Frauen aus dem (Hoch-)Adel haben als erste die Bedeutung eines solchen Vorgehens erkannt, mit dessen Hilfe der Ausschluss von Frauen aus der Sphäre der Macht durch eine kulturelle gesellschaftliche Rolle kompensiert werden kann, mit der sie noch auf die Nachwelt ausstrahlen. So versammelt Eleonore von Aquitanien, die von Henry Plantagenet, König von England, getrennt lebt, Mitte des 12. Jahrhunderts in Form einer cour d’amour, eines „Liebeshofs“, die berühmtesten Troubadoure ihrer Zeit um sich. Deren Herkunft aus oft sehr einfachen Verhältnissen spielt 476

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für sie keine Rolle, was bereits eine Herausforderung der ständischen Gesellschaft ihrer Zeit und einen Schritt in Richtung der offenen Vernetzungsformen der künftigen Salons darstellt. Die italienische Renaissance setzt diese Entwicklung fort, etwa mit den Höfen von Isabella d’Este in Mantua und ihrer Schwägerin Elisabetta Gonzaga in Urbino. Baldassare Castiglione führt beide als Vorbilder in seinem Libro del Cortegiano (1528) an. Diese Höfe sind nicht nur Orte der Begegnung von Malern, Gebildeten und Gelehrten aus ganz Europa, sondern sie manifestieren bereits zwei Charakteristika der erst im Entstehen begriffenen weiblichen Soziabilität: den Austausch in Form eines Netzwerks, das zwei kulturelle Orte miteinander verbindet, und einen gezielten Kosmopolitismus. Zwei Jahrhunderte später funktionieren die Pariser Salons der Aufklärung nach diesem Vorbild, auch dann, wenn die Frauen, die solche Salons führen, nicht von adliger Herkunft sind und sich die sozialen Codes von jeglicher Hierarchie und Hofetikette verabschiedet haben. Diese Orte explizit weiblicher Soziabilität zeichnen sich vor allem durch den gewollten Abstand zu Orten der Macht aus: Paris zieht man Versailles vor, wo übrigens manche Salonnière nicht empfangen wird, so etwa im Fall von Madame Geoffrin, der Repräsentantin eines Bürgertums in vollem sozialen und intellektuellen Aufschwung. Als Ehefrau des Direktors der Glasmanufaktur Saint-Gobain verfügt sie über ein erhebliches Vermögen, aber über keinerlei Adelstitel. Madame Necker ist die Frau eines Genfer Bankiers, der freilich zum Minister Ludwigs XVI. werden sollte, aber ihr Ort ist ihr Salon in Paris, in dessen Mittelpunkt ihre Tochter Germaine steht, die künftige Madame de Staël. Madame du Deffand, die einer Familie aus niederem Provinzadel entstammt, hält Salon in dem ehemaligen Kloster, in das sich Madame de Montespan zurückgezogen hatte, nachdem sie in Ungnade gefallen war. Jede Ortswahl ist charakteristisch für die geistige Unabhängigkeit dieser neuen Generation von Frauen, die zum Teil die Régence und ihre Freizügigkeit in sittlichen und geistigen Dingen gekannt haben und entschlossen sind, sich zu behaupten. Und auch in diesem Fall dominiert ein Kosmopolitismus, der sich auf ein großes Europa einschließlich Russlands erstreckt. Neben den großen Geistern der Zeit wie Voltaire, Jean Baptiste le Rond d’Alembert, Denis Diderot, Jean-François Marmontel und Jean-Jacques Rousseau stehen die Salons – sei es das „Geistesbüro“ der Madame du Deffand oder das „Laboratorium der Encyclopédie“ von Mademoiselle de 477

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Lespinasse – miteinander im Wettbewerb um die vorübergehend in Paris weilenden Ausländer. Lord Chesterfield, Henry Bolingbroke und auch John Law sind Stammgäste des Salons von Madame de Tencin. Eine Generation später verkehrt Melchior Grimm, der Autor der Correspondance littéraire, in dem von Madame d’Épinay und Horace Walpole ist bei Madame du Deffand zu finden. Stanislas Poniatowski, der künftige polnische König, findet bei Madame Geoffrin, die später nach Warschau reisen wird, einen beinahe mütterlichen Zufluchtsort. Diese Orte, die fest in den geografischen und sozialen Raum Europas eingeschrieben sind, bringen Formen von Soziabilität und Kommunikation hervor, die die Geschlechterbeziehungen zutiefst verändern. Mit ihrer Vorliebe für die Konversation und den Briefwechsel bedienen sich die salonnières nunmehr in subversiver Weise zweier Ausdrucksformen, die man den Frauen deswegen zugestanden hatte, weil sie bislang ausschließlich Teil des privaten Raums waren, wie es zu ihrer Zeit noch Madame de Sévigné gehalten hatte, die vorzugsweise mit ihrer Tochter korrespondierte. Der Briefwechsel zwischen Madame Geoffrin und Katharina II. oder zwischen Madame du Deffand und Horace Walpole und Voltaire sind dagegen kulturelle Monumente der Aufklärung. Die Revolution lässt die weiblich besetzten kulturellen Orte nicht einfach verschwinden, diese zerstreuen sich vielmehr in Randgebiete Frankreichs oder werden bewusst andernorts eingerichtet. So bildet sich zwischen 1798 und 1802 in Jena ein Kreis – man spricht nicht mehr von Salons, die assoziiert man mit der vorrevolutionären Zeit – von Männern wie Frauen der Generation, die man später als „Frühromantiker“ bezeichnen wird. Die Mitglieder des Kreises – das sind vor allem die Brüder Schlegel und ihre Frauen (Ehefrau beziehungsweise Partnerin) – treffen sich alle am gleichen Ort und setzen zur Empörung ihrer Zeitgenossen die revolutionären Prinzipien der Universalität, der Gleichheit und der Brüderlichkeit um. Friedrich Schlegel lebt in wilder Ehe mit Dorothea, der Tochter des jüdischen Berliner Philosophen Moses Mendelssohn. Caroline Michaelis hat August Wilhelm Schlegel nach einer abenteuerlichen Zeit als „Jakobinerin“ in der kurzlebigen Mainzer Republik geheiratet, verlässt ihn aber, um mit dem Philosophen Friedrich Wilhelm Schelling zu leben, der ebenfalls im Jenaer Kreis verkehrt. Diese beiden außergewöhnlichen Frauen beteiligen sich aktiv an den Diskus­ sionen über das Verhältnis Mann – Frau, Paarbeziehungen und Ehe. Mit 478

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seinem Roman Lucinde (1799) erregt Schlegel einen Skandal, weil seine Heldin, deren Vorbild Dorothea ist, auf allen Gebieten – Geschlechtsrollen, Lebensgemeinschaft und schriftstellerische Tätigkeit – als gleichberechtigt auftritt. Im Katechismus der Vernunft für edle Frauen, der in Athenäum, der Zeitschrift des Kreises, erscheint, lautet das Credo der neuen Frau wie folgt: „1) Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm. 2) Ich glaube, daß ich nicht lebe, um zu gehorchen oder mich zu zerstreuen, sondern um zu seyn und zu werden.“4 Diese turbulente Avantgarde steht nicht allein. Im Berlin dieser Jahrhundertwende ziehen verschiedene Orte geselliger Begegnung die durchreisenden Ausländer an. Dies gilt insbesondere für die von zwei Jüdinnen – Henriette Herz, die Gattin eines Arztes, und Rahel Levin (ab 1814 Rahel Varnhagen) – ins Leben gerufenen und geführten Salons. Diese Orte spezifisch weiblicher Soziabilität sind das Produkt einer paradoxen Gesellschaft, der jüdischen Gemeinschaft Berlins, die zwar von Friedrich II. geschützt wird, deren Angehörige aber nicht das Bürgerrecht besitzen und die es trotzdem verstanden haben, eine Rolle im kulturellen Leben eines toleranten Berlins zu spielen. Hannah Arendt erklärt das so: „[…] gerade weil die Juden außerhalb der Gesellschaft standen, wurden sie für kurze Zeit eine Art neutralen Bodens, auf dem sich die Gebildeten trafen“5. Rahel gibt ihrem ersten Berliner Salon – 1826 wird sie einen zweiten gründen – den emblematischen Namen „Mansarde“. Sie drückt damit ihr Verlangen nach dem aus, was Virginia Woolf „a room of one’s own“ nennen wird, ein eigenes Territorium außerhalb der Normen und sozialen Codes, in dem sie eine eng begrenzte Gesellschaft von Menschen empfangen wird, ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede und Geschlechtszugehörigkeit. Das „Experiment Mansarde“, von dem die umfangreiche Korrespondenz Rahels hin­reichend zeugt, ist der Versuch, einen Ort zu schaffen, an dem sich in Dialog und brieflichem Austausch eine reale kulturelle Mischung von gesamteuropäischer Dimension herstellt und ausdrückt. Weit weg von Berlin, aber in enger Verbindung mit den Berliner Orten gebildeter Geselligkeit, entsteht ein anderer, der zum regelrechten 4 Athenäum. Eine Zeitschrift 1798–1800, I, Hamburg 1798, S. 176. 5 Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1959, S. 63.

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„Laboratorium Europas“ erhoben werden wird, ein authentisch weiblicher Erinnerungsort. Schloss Coppet, wo Jacques Necker im Jahr 1790 Zuflucht fand, ist der Ort, an dem seine Tochter sich von 1804 bis 1814 niederlässt, im Exil, zu dem Bonaparte sie 1803 gezwungen hat. Am neutral gebliebenen Ufer des Genfer Sees ist dies der ideale Kreuzungspunkt der Kulturen und der Transitwege zwischen den Hauptstädten Europas. Diesen Ort des Exils, fernab vom Zentrum der Macht, verwandelt Madame de Staël in einen Raum offener Geselligkeit, der auch den durchreisenden Stendhal 1817 fasziniert: „Ich höre, dass es in diesem Herbst am Ufer des Genfer Sees zur erstaunlichsten Zusammenkunft gekommen ist: das waren die Generalstände der öffentlichen Meinung Europas […]. Ist es nötig, dass ich den Namen der außergewöhnlichen Person nenne, die die Seele dieser Versammlung war? Meiner Meinung nach ist das ein Phänomen von politischer Tragweite.“6 Madame de Staël spielt hier mit allen Paradoxen, sie nutzt die Exterritorialität des Ortes und die Heterogenität der Gruppe, um den Ort des Exils zu einem der interkulturellen Begegnung zu machen. Er steht den verschiedenen Ausländern, die sie beherbergt, offen, wobei diese die Besonderheiten ihrer Sprache und der Kultur ihrer Herkunft bewahren. Wie etwas später George Sand in Nohant (Berry), so unternimmt es die an der Schwelle zur Modernität stehende Madame de Staël, aus dem Haus der Schriftstellerin einen der seltenen weiblich besetzten Gedächtnisorte in Europa zu machen.

Auf den Spuren „paradoxer Bürgerinnen“ In seinem Essay Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber setzt sich der Königsberger Richter und spätere Stadtratspräsident (Bürgermeister) Theodor Gottlieb von Hippel, der als eingefleischter Junggeselle gleichwohl Schriften über die Ehe, die Frauen und die Erziehung verfasst, mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf eine der „beiden Hemisphären des menschlichen Geschlechts“ auseinander: „Eine Reihe von Jahrhunderten hatte Europa nur Eine Gestalt. Despotismus und Sklaverei, Unwissenheit und Barbarei herrschten überall; und warum sollten die Weiber nach einer, wenn gleich langen, Unterdrückung nicht 6 Stendhal, Genève 6 juillet 1817, in: Rome, Naples et Florence, Paris 1817, S. 336.

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zu jenem Range erhoben werden können, der ihnen als Menschen gebührt?“7 Hippel greift damit in einem veränderten Kontext eine alte europäische Debatte wieder auf, die bereits ein Hauptgegenstand der Cité des Dames („Das Buch von der Stadt der Frauen“, 1405) von Christine de Pizan war, nämlich die Querelle des sexes oder Querelle des femmes („Geschlechterstreit“). Doch während in „der Querelle des sexes, die wie kaum ein anderes Thema die Kultur der Frühen Neuzeit prägte, […] es um Würde und Wert des ‚anderen‘ Geschlechts“8 ging, verweist Hippels Wortwahl auf einen inzwischen vollzogenen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der „anderen Hälfte“ des Menschengeschlechts. Es ist nicht mehr die Rede von deutlich christlich und moralisch konnotierten Begriffen wie „Würde“ und „Wert“, sondern vom Recht der Frauen auf den Status eines menschlichen Wesens und speziell – das Thema kehrt immer wieder – das Recht auf Bildung, wobei diese mitunter bereits als Koedukation verstanden wird. Zu gleicher Zeit erscheint A Vindication of the Rights of Woman (1792) von Mary Wollstonecraft, die unmittelbare Zeugin der Revolution und auch der Hinrichtung von Marie-Antoinette war. Ihr Buch antwortet auf die Rights of Man (1791) von Thomas Paine und übt Kritik am überholten Modell, das sich an der Sophie de Rousseau in Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France (1790) orientierte. Sie ist übrigens nicht die Einzige, die diesen entscheidenden Moment, diese historische Scharnierstelle, nutzt, um Bürgerrechte für die „andere Hälfte“ der Menschheit einzufordern. 1791 veröffentlicht Olympe de Gouges ihre Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne, in der sie unterstreicht, dass Frauen als vollwertige Individuen auch aktive Staatsbürgerinnen sind. Gouges, die stets zwischen einem universalistischen Ansatz und der Realität tief verwurzelter Geschlechterunterschiede schwingt, hat zwar ihre Spur im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, dies aber mit dem Gang zum Schafott bezahlt. Sie ist ein Musterbespiel für die paradoxen Staatsbürgerinnen, von denen Joan Scott spricht: „Ich betrachte diese Frauen nicht als exemplarische Heldinnen. Ich betrachte sie vielmehr als Stätten – historische Orte oder Markierungspunkte –, an denen 7 Theodor Gottlieb von Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Frankfurt a. M. 1977 [1793], S. 243. 8 Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, op. cit., S. 15.

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entscheidende politische und kulturelle Auseinandersetzungen ausgetragen werden.“9

Dynamische Erinnerungsorte Das Empire zeigt wenig Neigung, zur Emanzipation der Frauen beizutragen, doch auch die in Wien wie in Paris folgende Restauration und das Viktorianische Zeitalter, das drei Viertel des Jahrhunderts umfasst, bremsen die Entwicklung hin zu größerer Aufmerksamkeit für die Frauen und ihre Forderungen. „Der Mann ist für den Staat zuständig, die Frau für die Familie“, ist die offizielle Devise von Veröffentlichungen wie The Angel in the House (London, 1854), dem Bestseller und unerlässlichen Vademecum des 3-K-Dogmas (Kinder – Küche – Kirche), der dem anderen Geschlecht nur einen sehr engen Raum einräumt. Dazu kommen im Zusammenhang mit der von England ausgehenden Industrialisierung schwierige soziale Verhältnisse, die insbesondere die Frauen der arbeitenden Klassen betreffen. Das Betätigungsfeld von Frauen, das kurzfristig ein öffentliches und politisches gewesen war, sucht sich deshalb neue Orientierungen und wendet sich vom Politischen nunmehr dem Sozialen zu. Dieser Perspektivenwechsel wird von den verschiedenen Revolutionen, die im Europa des 19. Jahrhunderts stattfinden, begleitet und sucht sich neue Ausdrucksmöglichkeiten und breit gefächerte Formen des Engagements, die ihren Niederschlag in den Erinnerungsnarrativen finden. Die mitunter recht paradoxen Arten des Vorgehens lassen sich an den Karrieren von bereits angesehenen Schriftstellerinnen ablesen. Die Frau aus dem Volk, die Dorfbewohnerin und die Heimarbeiterinnen sind Heldinnen der 1840er-Jahre, etwa in Le Compagnon du tour de France (Gefährten von der Frankreichwanderschaft) von George Sand (1840), von Louise Otto-Peters Schloss und Fabrik, später auch in den Romanen von George Eliot (Silas Marner, 1861). Einflussreicher sind jedoch die Zeitungen, diese zwar kurzlebigen, aber dafür öffentlichen Tribünen wie etwa La Voix des femmes von Eugénie Niboyet, das English Woman’s 9 Joan W. Scott, Only Paradoxes to Offer. French feminist and the Rights of Man, Cambridge (Mass.) 1996; S. 16: “I do not think of these women as exemplary heroines. Instead I think of them as sites – historical locations or markers – where crucial political and cultural contests are enacted […].”

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Journal und die 1849 gegründete Frauen-Zeitung von Louise Otto-Peters. Diese Zeitungen tragen mitunter die sozialen Veröffentlichungen weiter, die Frauen auf der Grundlage von Untersuchungen der Armenkolonien veröffentlichten. Das waren im Fall von Bettina von Arnims Dies Buch gehört dem König (1843) das „Vogtland“, das berüchtigste Armenviertel Berlins, bei anderen weitere Armenkolonien in Europa, zum Beispiel bei Flora Tristan mit Promenades dans Londres (1840) und dann der 1844 verfassten, aber erst 1973 veröffentlichten Tour de France. All diese Studien wenden sich gegen die Doppelbelastung von Arbeiterinnen und deren spezielle Härte, etwa am Beispiel der Wäscherinnen von Nîmes, die Flora Tristan darstellt. Sie fordern angemessene Arbeitsbedingungen und deren Recht auf Bildung für sie alle. Englische Essays wie A Plea for Woman (1843) von Marion Reid oder The Subjection of Women (1869) von John Stuart Mill und seiner Frau Harriet fordern Bürgerrechte – zivilrechtlich wie staatsbürgerlich – für Frauen ein und betonen die Wichtigkeit von Emanzipation durch Bildung. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wird daraus in ganz Europa ein dynamischer, ein beweglicher Erinnerungsort, wobei es allerdings zu Ungleichzeitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten kommt, die dieser Entwicklung mitunter schaden. Neu in der Geschichte von Frauen ist dabei, dass all diese Bewegungen die Form und die Bezeichnungen von bisher rein männlichen Organisationen wie Bund oder Verein annehmen, Suffrage Association oder National League, Union oder Conseil National. Unter all diesen Bezeichnungen hat jedenfalls die Suffragettenbewegung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ihren Platz im kollektiven Gedächtnis Europas gefunden. Informelle Gruppen wie The Langham Place Ladies wirken wie Inkubatoren dieser Bewegung, die das andere Geschlecht in den Mittelpunkt der Politik rückt, indem sie für den Erhalt voller Bürgerrechte, für Gleichheit und das Wahlrecht eintreten. Die Frauen setzen sich dabei öffentlich in Szene, mitunter durchaus mit Gewalt, wenn sie beispielsweise Schaufensterscheiben einschlagen oder sich vor öffentlichen Gebäuden anketten. Zu einer Zeit, in der die Fotografie und auch schon das Kino auf Bilder von Ereignissen aus sind, hinterlassen sie damit sichtbare Spuren. Die zahlreichen Frauenbewegungen auf dem Kontinent sind eher reformistisch orientiert, zielen vor allem auf die Bürgerrechte ab und sind damit weniger öffentlich sichtbar. In Frankreich tun sich die 483

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oft durch den Saint-Simonismus beeinflussten Frauen schwer damit, sich gut strukturiert zu organisieren, und das trotz des Auftretens von starken Persönlichkeiten wie Hubertine Auclert und Madeleine Pelletier, für die vor allem die Erziehung von Mädchen zu Individuen eine große Rolle spielt. Letztere schreibt etwa im Jahr 1906: „[Die Frau] wird Individuum und dann erst Geschlecht sein“10. In Deutschland ruft die „Frauenfrage“ – der Begriff ist dem der „Arbeiterfrage“ nachgebildet – eine mächtige, aber gespaltene Bewegung hervor. Die bürgerliche Frauenbewegung gründet 1894 den „Bund Deutscher Frauenvereine (BDF)“, eine echte Institution mit einem ganzen Netzwerk von Aktivitäten zu den Themen Bürgerrechte, Bildung, Situation am Arbeitsplatz, Prostitution, Mutterschaft und Schutz von Kindern. Die 1889 von Clara Zetkin gegründete proletarische Frauenbewegung, der sich auch Rosa Luxemburg anschließt, beruft sich auf die Schriften von Sozialisten wie August Bebel, Die Frau und der Sozialismus (1879), und Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie (1884). Damit schließt sie sich der sozialistischen Partei mit ihren Streiks, Demonstrationen und Parteitagen an und schafft einen Ort, an dem Frauen politischen, ja internationalen Einfluss ausüben können, an dem die Forderungen nach Frauenrechten aber hinter den Forderungen der Arbeiterklasse, die sich nicht gerade viel um die Geschlechterdifferenz kümmert, zurückstehen müssen. Es ist eines der Paradoxa dieser dynamischen weiblichen Gedächtnisorte des 19. Jahrhunderts, dass sie sich männlichen Bewegungen, seien es Parteien, seien es Gewerkschaften, anpassen und damit riskieren, ihre ­Spezifizität zu verlieren. Dies ist beispielsweise 1914 der Fall, wenn Gertrud Bäumer, die damalige Vorsitzende des Bundes Deutscher Frauenvereine, sich den Parteien anschließt, die den Burgfrieden mit der Regierung des Kaisers eingegangen sind. 1933 wird die Organisation zusammen mit Parteien und Gewerkschaften verboten.

Bücher, die zu Marksteinen geworden sind Wenn es gilt, einen weiblichen Erinnerungsort aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auszuwählen – eine schwierige und notgedrungen will10 Madeleine Pelletier, Les femmes et le féminisme, La Revue socialiste, 1906, Paris, Société nouvelle de librairie et d’édition, tome XLIII (janvier–juin 1906), S. 44.

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kürliche Angelegenheit –, dann wird man wohl am besten nicht ein Werk auswählen, sondern zwei, die von Schriftstellerinnen an zeitlichen Kristallisationspunkten der weiblichen Erinnerung vorgelegt wurden. Das erste, Virginia Woolfs 1929 erschienener Essay Ein eigenes Zimmer, prangert die soziale Lage der Frauen an, die sich nicht gebessert hat, und das trotz des 1918 errungenen Wahlrechts und trotz der Feststellung, dass „keine Epoche jemals ein schärferes Bewusstsein der Geschlechts­ zugehörigkeit hatte als unsere“, was wir sicherlich der Kampagne der Suffragetten verdanken. Dieser Sachverhalt erfordert einen Perspektivwechsel: Die Frauen müssen ihre eigene Erinnerungskultur herausbilden und dabei zunächst mit einer anderen Herangehensweise an sich selbst beginnen. Die Autorin erinnert die Frauen daran, in welchem Maß sie selbst ihre Zukunft beeinflussen können, und schärft ihrer Leserin ein, „dass es viel wichtiger ist, du selbst zu sein, als alles andere“. Zwei Jahrzehnte nach dieser emblematischen Formulierung erscheint Das andere Geschlecht (Le Deuxième Sexe) von Simone de Beauvoir, das einen weiteren Ort weiblicher Erinnerung darstellt. Nur eine Generation trennt Beauvoir von Woolf, doch sind das 20 tragische Jahre für die Frauen in Europa. Sie leiden in NS-Deutschland, Italien und Spanien unter Diktaturen, die den Frauen Weltanschauungen und Familienideologien aufzwingen, denen einige sich unter Inkaufnahme des Exils zu entziehen suchen. Sie werden im Namen von Rassismus und Antisemitismus zu Opfern von Verfolgung und Ausrottung, die freilich nicht nach Geschlechtern unterscheiden. Dazu kommt der Zweite Weltkrieg, der wie bereits der Erste die nunmehr als Familienoberhaupt fungierenden Frauen in die Industrieproduktion drängt, unter anderem die Rüstungsindustrie, und sie an seinem Ende doch wieder an den heimischen Herd zurückschickt und auf ihre althergebrachte Rolle verweist. Im Umfeld des Jahres 1949 haben einige Neuerungen – die Neufassung des bürgerlichen Rechts, das endlich überall durchgesetzte Wahlrecht und die Aufnahme des Rechts auf Arbeit in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) – die Lage der Frauen gebessert, das Grundproblem besteht aber fort. Mit ihrer Ablehnung eines „Wesens der Frau“ oder einer „natürlichen, biologisch bedingten Rolle“, seit Jahrhunderten hartnäckig betriebenen Zuschreibungen, verbindet Beauvoir die Feststellung, dass die Frau ist, „wozu sie gemacht worden ist“, dass sie sich aus dieser „Situation“ aber befreien muss. Damit wirft sie die Grundlagen der uralten Debatte um die 485

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Geschlechterfrage über den Haufen, plädiert für „Unterschiede innerhalb der Gleichheit“ und formuliert die Beziehung der Geschlechter neu: „Bei ihrer gegenseitigen Anerkennung als Subjekt bleibt jedes dennoch für den Partner ein Anderes.“11 In einem Abstand von 20 Jahren prägen diese beiden Bücher die kollektive Erinnerung der europäischen Frauen, „die, mit dem schweren Erbe der Vergangenheit belastet, sich eine neue Zukunft schaffen“12. „Selbst sein“ bei Virginia Woolf und bei Simone de Beauvoir, sich als autonomes „anderes“ behaupten – der ursprünglich vorgesehene Titel des Zweiten Geschlechts sollte L’Autre lauten13 –, damit ist die Geschichte der Frauen an einem Wendepunkt angelangt. Zum einen ändern sich die von den feministischen Bewegungen eingeforderten Rechte – die Bestimmung über den eigenen Körper, die Gleichstellung der Geschlechter, das Recht auf Parität im öffentlichen Leben –, zum anderen geht die Debatte seit den 1960er-Jahren weit über Europa hinaus, sie globalisiert sich. Unter dem Einfluss der Women’s Studies in den USA wird sie zum Teil des Kampfes aller Minderheiten – Frauen, Schwarze, Kolonisierte, Migranten – für Emanzipation und Anerkennung in Form der Integration. Ein anderer Erinnerungsdiskurs formiert sich, der die Geschichte der Frauen und ihre Erinnerungsorte zum Teil eines weltweiten Zusammenhangs werden lässt, dessen Inventar noch zu erstellen ist.

Literatur Hannah ARENDT, Rahel Varnhagen, München 1959. Gisela BOCK, Frauen in der europäischen Geschichte, München 2000. Georges DUBY und Michelle PERROT (Hg.), Geschichte der Frauen, 5 Bde., Frankfurt 1993. Ute FREVERT, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986.

11 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek 1968, S. 681. 12 Ebd., S. 264 (Einleitung zu Bd. 2). 13 Im Französischen kann „L’Autre“ gleichermaßen „den anderen“ wie „die“ und „das andere“ bezeichnen. Übersetzungen und Zitate bevorzugen u. W. in der Regel – und u. E. völlig zurecht – in diesen Zusammenhängen das Neutrum. Es dürfte gleichwohl unstrittig sein, dass die homonyme weibliche Form beim Rezipienten mehr oder weniger mitschwingt, Anm. des Übersetzers.

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Ute GERHARD, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Hamburg 1990. Marie-Claire HOOCK-DEMARLE, L’Europe des lettres. Réseaux épistolaires et construction de l’espace européen, Paris 2008. Olwen HUFTON, Frauenleben. Eine Europäische Geschichte 1500–1800. Aus dem Engl. Von Holger Fliessbach und Rena Passenthien. Frankfurt a. M. 1998. Antoine LILTI, Le Monde des salons. Sociabilité et mondanité à Paris au XVIIIe siècle, Paris 2005. Mona OZOUF, Les Mots des femmes. Essai sur la singularité française, Paris 1995. Michelle PERROT, Les Femmes ou les silences de l’histoire, Paris 1998. Michelle PERROT (Hg.), Une histoire des femmes est-elle possible?, Paris 1984. Joan W. SCOTT, Only Paradoxes to Offer. French feminist and the Rights of Man, Cambridge (Mass.) 1996. Petra WILHELMY, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914), Berlin 1989. Natalie ZEMON DAVIS, Drei Frauenleben. Glikl, Marie de l’Incarnation, Maria Sibylla Merian, Berlin 1996.

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Régis Schlagdenhauffen

Homosexualität – das gefesselte Begehren Von ihrer „Erfindung“ durch Sappho auf der Insel Lesbos bis zur Homoehe hat die Homosexualität in Europa unter fast s­tändiger Repression gelitten. Es hat lange gedauert, bis die Erinnerung an diese Verfolgungen ins öffentliche Bewusstsein gedrungen ist. Dies ist erst in letzter Zeit dank der Aktivisten der schwul-lesbischen, bi- und transsexuellen Bewegung gelungen.

Die Villa Lysis des Barons Jacques d’Adelswärd-Fersen auf Capri.

Homosexualität – das gefesselte Begehren

Angefangen beim alten Griechenland mit seiner Hochschätzung der Päderastie über die Verurteilung der Sünde der Sodomie und die Erfindung des Begriffs „homosexuell“ (durch den ungarischen Schriftsteller Karl Maria Kertbeny im Jahr 1869) bis hin zum Zugang zur Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in den Niederlanden des Jahrs 2001 kann wohl der ganze europäische Kontinent als Gedächtnisort für die verschiedenen Formen der Homosexualität betrachtet werden. Die Vielzahl derartiger Orte zwingt zu erheblicher Verdichtung, wenn man die europäischen Orte dieser Art zusammendenken will. Der Weg durch Raum und Zeit, der hier gegangen werden soll, wird von vier Wendepunkten der Erinnerung markiert. Die Stadt Mytileni auf der Insel Lesbos im Ägäischen Meer bildet die erste Etappe dieses Wegs. Hier wurde im 7. Jahrhundert v. Chr. die Dichterin Sappho geboren, deren Liebespoesie vor allem dem weiblichen Begehren und der Verehrung der Aphrodite gewidmet ist – und das in einer Zeit, lange bevor man überhaupt an die Existenz einer homosexuellen Orientierung dachte. Die zweite Etappe ist ganz anderer Natur. Sie ist verbunden mit der Rue Montorgueil in Paris, wo im Jahr 1750 die letzte Verurteilung zum Tod auf dem Scheiterhaufen wegen Sodomie ausgesprochen wurde. Seit 2014 erinnert an der Ecke Rue Montorgueil/ Rue Bachaumont (2. Arrondissement) eine Gedenktafel an die beiden letzten Männer, die aus diesem Grund auf der Place de Grève verbrannt wurden. Unsere Erinnerungseise führt dann nach Italien, das für die Homosexuellen im Exil eine zentrale Rolle spielte. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten, die dort Zuflucht fanden, ist Karl Heinrich Ulrichs (1825– 1895), alias Numa Numantius. Dieser Jurist, der gegen 1865, also ein paar Jahre vor der Erfindung des Begriffs Homosexualität, den des „Uranismus“ prägte, sprach als Erster öffentlich von seiner Liebe zu Männern. Nachdem er deswegen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, ging er ins Exil nach L’Aquila und gab dort eine literarische Zeitschrift namens Alaudœ heraus. Ein paar Hundert Kilometer weiter südlich liegt gegenüber Neapel die gern von homosexuellen Künstlern aufgesuchte Insel Capri. Baron Jacques d’Adelswärd-Fersen (1880–1923) zählt zu jenen, die dem Zauber der „blauen Grotte“ verfallen sind, von der Roger Peyrefitte zu berichten weiß, dass hier schon Kaiser Tiberius mit seinen Gespielen schwimmen ging. Die Villa Lysis, dieser „Tempel der Liebe und 489

Régis Schlagdenhauffen

des Schmerzes“, den d’Adelswärd-Fersen errichten ließ, ist heute ein Ort für Ausstellungen, insbesondere zum Thema der Homo­sexualität in der Kunst. Als Ort des Gedenkens an die Repression, der die Homosexuellen während der NS-Zeit zum Opfer fielen, sind die Konzentrationslager Stätten des unsäglichen Leidens der Träger der „rosa Dreiecke“, die sie dort an ihre Kleidung heften mussten. Diese Art der visuellen Kennzeichnung wurde im österreichischen Konzentrationslager Mauthausen zum ersten Mal praktiziert. 1984 wurde dort eine Tafel in Gestalt eines rosa Dreiecks mit der Inschrift „Totgeschlagen, totgeschwiegen“ angebracht. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist das spezielle Schicksal der homosexuellen KZ-Häftlinge integraler Bestandteil der Ausstellungskonzepte der KZ-Gedenkstätten in Dachau, Sachsenhausen, Natzweiler und anderen. Diese Entwicklung kann nur verstanden werden, wenn man die Rolle berücksichtigt, die das 1985 gegründete Schwule Museum von Berlin gespielt hat, die erste Einrichtung dieser Art in Europa. Hier wirkt die besondere Geschichte dieser Stadt fort, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die europäische Hauptstadt der Homosexualität war. In diesem Zusammenhang ist das Erbe des Gründers der deutschen Bewegung für die Emanzipation der Homosexuellen, Dr. Magnus Hirschfeld, besonders zu erwähnen. Als Bewahrer dieser Traditionen widmet sich das Museum inzwischen auch mithilfe einer Bibliothek und eines Archivs der Geschichte der Homosexualität in Europa bis heute. Seit dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bringt es sich zudem stärker in die Auseinandersetzungen ein, die von der schwullesbischen, bi- und transsexuellen Bewegung getragen werden, und widmet seither auch den Lesben und Transsexuellen spezielle Ausstellungen. Ein anderes Ergebnis dieser Arbeit an einer lange verschüttet gebliebenen Erinnerung ist das 1987 in Amsterdam eingeweihte Homomonument, das älteste Mahnmal Europas zum Gedenken an die Opfer der Homophobie und für die Emanzipation der Homosexuellen. Auch dieses Werk der Künstlerin Karin Daan bezieht sich auf das rosa Dreieck der homosexuellen Häftlinge in den nationalsozialistischen Lagern. Seine weiteren Bestandteile sind ein Ort der Information über Schwule, Lesben, Bi- und Transsexuelle sowie ein Pissoir zur Erinnerung an einen Ort, der jahrzehntelang informeller Begegnungsort unter Männern war. Das Homomonument führt das ganze Jahr lang über 490

Homosexualität – das gefesselte Begehren

unterschiedliche Veranstaltungen durch wie zum Beispiel Travestien von Kampfspielen anlässlich des Fests der Königin. Unter den Publikationen für Homosexuelle, die als Erinnerungsorte aus Papier gelten können, ist vor allem der jährlich erscheinende Spartacus-Führer zu nennen. Wie der Guide bleu oder der Michelin bespricht er die touristischen Orte, die sich in diesem Fall eigens an Homosexuelle wenden, sowie die jeweiligen nationalen und europäischen Entwicklungen in Bezug auf Homosexualität. Er zeigt damit die ständige Bewegung der politischen Landschaft, aber auch der Formen des Erinnerns an die sexuellen Minderheiten in Europa auf.

Literatur Robert ALDRICH (Hg.), Gay life and culture: a world history, London 2010. Lisa DOWNING und Robert GILLETT, Queer in Europe, London 2011. Régis SCHLAGDENHAUFFEN (Hg.), Homosexuel-le-s en Europe (1939–1945), Paris 2017.

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Johann Chapoutot

Untergangsängste Die heute von den Theoretikern der extremen Rechten verbreitete Angst vor dem angeblichen großen Bevölkerungsaustausch, der in Europa bereits im Gange sei und auch die Kultur betreffe, ist wohl die vorläufig letzte Erscheinungsform eines Dekadenzdenkens, das die europäische Geistesgeschichte seit dem Fall von Rom begleitet.

Die Verfallszeit des Römischen Reiches in der Vorstellung des 19. Jh.: Les Romains de la décadence. Gemälde (1847) von Thomas Couture.

Untergangsängste

Wenn ein Gespenst in Europa umhergeht, dann das der Dekadenz, des Verfalls, des Untergangs. Schuld daran ist wohl das Ende Roms, das im Lauf der Jahrhunderte zum „Fall des Römischen Reichs“ emporstilisiert wurde, obwohl die auf Rom zurückgehenden Verwaltungsstrukturen, Techniken und Normen eher eine lange Entwicklung durchgemacht haben, sodass „Rom“ weitaus mehr am Leben geblieben als gestorben ist … Gleichwohl haben das Ende der Herrschaft der weströmischen Kaiser und die Herausbildung barbarischer Königreiche die Vorstellungswelt einer christianitas geprägt, aus der langfristig das römisch-lateinische Europa werden sollte, so, wie die Eroberung von Konstantinopel bis heute die griechisch-orthodoxe Vorstellungswelt prägt. Die Frage nach dem Ende Roms ist älter als dieses Ende selbst. Sie stellt sich bereits sehr früh, nämlich im 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, in dem sich die römische Republik in Bürgerkriegen selbst zerfleischt. Historiker, Redner und Philosophen beklagen den Verlust des mos maiorum. Mit der Auflösung dieses althergebrachten Wertesystems gerieten die Grundlagen der Ewigen Stadt ins Wanken. Sallust, Livius und Tacitus haben das Ende der Republik und den Beginn der Fürstenherrschaft, die wir als Imperium bezeichnen, miterlebt. Sie alle beklagen diesen Verfall, geißeln die Schwächung der öffentlichen und privaten Moral und prophezeien angesichts von Feinden wie den Germanen, die sich nicht von Luxus und Kultur verweichlichen lassen, ein rasches Ende. Im 4. und 5. Jahrhundert betrachteten die Christen das Ende des kaiserlichen Roms als gerechte Strafe Gottes für eine verdorbene, götzendienerische und sündige Stadt. Im Grunde genommen waren die Interpretationsschemata der Heiden des 1. und der Christen des 5. Jahrhunderts die gleichen: Moralischer Verfall oder Sündhaftigkeit waren der notwendige und hinreichende Grund für den politischen und geopolitischen Tod. Für die Christen eröffnete der Tod freilich die Aussicht auf eine glückliche Auferstehung, das Ende des heidnischen Imperiums stellte sich zwar als nachhaltige schreckliche Warnung dar – die Faust Gottes würde die ganze christianitas zerschmettern, sofern sie dem Taufversprechen untreu würde –, zugleich aber als Versprechen eines christlichen Regnums. Während dieser gesamten Zeit, die erst viel später den Namen Mittelalter erhalten sollte, hielten gelehrte Exegeten begierig Ausschau nach den sicheren Anzeichen für einen Verfall des 493

Johann Chapoutot

Christentums, der auf das unvermeidliche nahe Ende verweisen würde. Dieses würde freilich den Beginn des tausendjährigen christlichen Reichs und das mögliche Eingehen ins Himmelreich bedeuten. Diese Auffassung, eine Mischung aus beunruhigter Beobachtung und glücklicher Klage, ist eine Konstante des christlichen Mittelalters. Man beobachtete den Todkranken, um zur Stelle zu sein, wenn es um die Verteilung des Erbes ging. Kleriker und Prediger fühlten den Puls der Welt, fanden sie alt und hinfällig, kündigten ihr baldiges Ende an. Im Zusammenhang mit den großen Plagen der Zeit wie etwa den Pestepidemien, die den Westen demografisch auszehrten und kulturell erschütterten, kam es zu eschatologischen Schüben, an der Wende zum 16. Jahrhundert begleitet von Predigtwellen, einer regelrechten Angsttheologie (Jean Delumeau). Diese geißelte den Sittenverfall und rief dazu auf, Buße zu tun, bevor die Strafe Gottes zuschlage. Die große Spaltung des Westens in Gestalt der Reformation und die anschließenden Religionskriege sowie die millenaristischen Vorstellungen, denen man im 16. und 17. Jahrhundert begegnet, sind nur in diesem Zusammenhang verständlich. Die protestantischen Reformationsbewegungen gehören in diesen Kontext von Vorstellungen von Verfall und Apokalypse. Die Verderbtheit Roms, des „Großen Babels“ der Päpste, war Zeichen der Offenbarung – und das ist die wörtliche Bedeutung des Begriffs „Apokalypse“ – des bevorstehenden Endes und der notwendigen „Reformierung“ der Sitten. Die sogenannten großen Entdeckungen, diese Ausdehnung des christlichen Abendlandes auf die fünf Kontinente, die man vom 16. bis zum 19. Jahrhundert erlebte, haben möglicherweise die Untergangsbesessenheit in den Hintergrund treten lassen. Die Entdeckung neuer Welten, die unglaublichen Profite, die durch Expeditionen und Eroberungen generiert wurden, mögen den Europäern vor Augen geführt haben, dass ihre Welt so alt gar nicht war. Die Entdeckung neuer Völker brachte eine für die Zeitgenossen wundersame Verjüngung mit sich. Aufgrund des Kontakts zu diesen Gruppen von „Eingeborenen“, „Ureinwohnern“ beziehungsweise „Naturvölkern“ konnte Europa sich zur Beherrschung einer neuen Welt berufen fühlen, wobei diese neuen Völker jedoch erst zum wahren Glauben bekehrt werden mussten. In diesem Zusammenhang wird im Westen ein neuer Tonfall spürbar. In dem Maß, in dem die Gelehrten und Experten sich für die Fähigkeit der Vernunft begeistern, die Welt zu erforschen, zu vermessen und ihre Gesetzmäßigkeiten zu 494

Untergangsängste

entdecken, verliert das Untergangsdenken an Bedeutung. Die Lust an Entdeckungen, wie sie sich in einem Unterfangen wie dem der Encyclopédie äußert, steht auf der Tagesordnung, die Philosophen befassen sich mit dem Naturzustand, mit Naturgesetzen, aber auch mit dem Gesellschaftsvertrag und arbeiten mit Begeisterung an der Neubegründung von menschlichen Gruppenbildungen und Gemeinwesen. An die Stelle des Untergangs tritt eine wiedergefundene Jugendfrische, wie die Huronen und sonstige Wilde der Neuen Welt sollen die Menschen wieder den Gesetzen der Natur gehorchen, die uns dazu anhalten, solidarisch und gut zu sein. Der Höhepunkt dieses Optimismus wird im 18. Jahrhundert erreicht – mit einem Voltaire, der Handel und Wissenschaften als Friedens- und Wohlstandsfaktoren preist, und mit einem Jean-Jacques Rousseau, der davon überzeugt ist, dass der Mensch von Natur aus gut und wohlwollend ist. Nichts kann dieses Vertrauen trüben, nicht einmal der Anblick der Ruinen der Antike. In der Renaissance wurden die erbleichten Skelette der römischen Tempel für Pierre de Ronsard und Joachim du Bellay zum Vorwurf elegischer Klagen, im 18. Jahrhundert dagegen versetzt die Entdeckung von Pompeji und Herculaneum, die von der Vulkanasche zwar erstickt, aber im Tod intakt erhalten blieben, die Zeitgenossen in Begeisterung. Johann Joachim Winckelmann begeistert sich für die ewige Jugend der Menschheit, von der die antiken Statuen zeugen, und die Generation der künftigen Träger der Französischen Revolution – die, wie Karl Marx schreibt, „in dem römischen Kostüme“ auftraten – sieht in dem zu neuem Leben erweckten römischen Gemeinwesen das Modell der Zukunft. Schon das Wort „Revolution“ scheint die Angst vor und die Fixierung auf den Verfall in weite Ferne zu rücken: Mit diesem Begriff aus der Astronomie, mit dieser Drehung um sich selbst (re-volvere) vollzieht die politische Gemeinschaft eine Rückkehr zum Ursprung, zu dem, was ihr den ersten Atem einhauchte. Doch nicht nur die Revolutionäre blicken nach Griechenland und Rom. Für die romantische Generation, die sich am Befreiungskrieg der Griechen gegen das Osmanische Reich beteiligt, macht die Erinnerung an die Antike die Begriffe „Geschichte“ und „Hoffnung“ geradezu zu Zwillingen. Der englische Dichter Lord Byron, der 1824 in Messolongi stirbt, sieht angesichts des drohenden Untergangs eines nur dem Kommerz geweihten Europa das Heil ausschließlich in den „isles of Greece“ und ihrem „eternal summer“. 495

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Ende einer Welt, Ende der Welt Was die einen als Wiedergeburt und Befreiung empfinden – die Revolution –, das ist für andere eine Katastrophe, das Ende einer Welt, ja das Ende der Welt … Die Kultur der Konterrevolution bringt das Untergangsdenken wieder ins Spiel. Nicht in der unmittelbaren Gegenwart, in der die Gewalt triumphiert: Ein Komplott satanischer Kräfte hat das Chaos in Europa entfacht, Altäre zerstört und die Könige enthauptet. Während sich die aus der Revolution hervorgegangenen Ideen im Lauf des 19. Jahrhunderts nach und nach verbreiten, setzt sich in den Köpfen ihrer Gegner die Idee des Verfalls, der Dekadenz, fest, etwa bei dem britischen Parlamentarier und Philosophen Edmund Burke. Für ihn gilt, dass ein Europa, dem es nicht gelingt, sich vom Übel der Revolution zu befreien, in dem die Ideen von Wahlrecht, von Teilen und Gleichheit um sich greifen, einem unabänderlichen Untergang geweiht ist. Diese Angst verbindet sich mit einem anderen Begriff, dem der Entartung. Im 19. Jahrhundert schreiten die Naturwissenschaften so voran, dass ihr Ansehen im Vergleich mit den anderen Formen des Wissens beständig wächst und ihre Ideen und Begriffe sich zunehmend durchsetzen. Die Entartung und der Untergang ganzer Gattungen werden durch die Paläontologie belegt. Die Medizin untersucht und behandelt die des Körpers. Der Begriff lässt sich ohne Weiteres auf die Gemeinschaft, ja auf die Spezies Mensch übertragen, sodass das Binom Verfall – Entartung zu einem Gemeinplatz des wissenschaftsgläubigen Zeitalters wird. Das gilt insbesondere für die Rechte, erreicht aber auch die Linke: Man denke nur an das Werk eines naturalistischen Schriftstellers wie Émile Zola, der darstellt, wie körperliche Erschöpfung und moralische Verkümmerung Hand in Hand gehen. Bei der Rechten nimmt der Untergangsdiskurs religiöse Züge an – die Christenheit verleugnet ihre Sitten und verstößt gegen die Gebote Gottes – oder sie streift sich das Kostüm der Rassenbiologie über. Die einen ergeben sich wie Arthur de Gobineau in den vom Schicksal vorgezeichneten Tod der weißen Rasse, die anderen – wie etwa die britischen, französischen und deutschen Sozialdarwinisten – treten für entschiedenes biologisches Handeln ein, um das Aufgehen der arischen, nordischen oder kaukasischen Rasse im Sumpf der Rassenmischung abzuwenden. Im Russland dieser Zeit, derjenigen Wladimir Petscherins, Alexander 496

Untergangsängste

Herzens und Fjodor Dostojewskis, tut sich eine lange anhaltende Spaltung zwischen „Europäern“ auf der einen Seite und „Slawophilen“ auf der anderen auf, die die gemeinsame Abneigung gegenüber einem trocken-materialistischen und individualistischen „Westen“ verbindet. Diese Spaltung ist noch bei einem Alexander Solschenizyn der Jahre nach 1991 zu beobachten. Auch der Erste Weltkrieg bringt diese Obsessionen nicht zur Ruhe, im Gegenteil. Das Massensterben im Krieg bestärkt die panische Angst vor dem biologischen Verschwinden der „weißen Rasse“, die vier Jahre lang einen brudermörderischen Krieg geführt hat. Immer mehr Stimmen erheben sich auch, um die Kolonisierung wegen der mit ihr verbundenen Rassenmischung als biologische Falle zu kritisieren. Solche Töne sind nicht zuletzt in Deutschland zu hören, wo man gegen die Besetzung von Reichsgebieten durch französische Kolonialtruppen protestiert. Der Nationalsozialismus macht regelrecht mobil gegen diese biologische Entartung und verbreitet lange vor dem italienischen Faschismus, der dies erst ab 1938 tut, die Idee eines Kriegs der Rassen. Im Unterschied zu den überholten westlichen Demokratien können die Regime, die sich den Kampf gegen den Untergang – für den Sowjetkommunismus ist damit die bürgerliche Dekadenz gemeint – auf die Fahnen geschrieben haben, auf erheblichen Rückenwind zählen und das Heraufkommen eines „neuen Menschen“ als ihr Ziel darstellen. Trotz des Siegs über den Nationalsozialismus und 30 Jahren vor allem wirtschaftlichen Aufschwungs hält sich das Untergangsdenken. Es weist lediglich am Rand noch religiöse oder rassische Züge auf – doch ist dieser Rand noch durchaus aktiv und tritt bei Gelegenheit lautstark in Erscheinung. Der Dekadenzbegriff wird zum Leitmotiv der Kritik an der Leistungsgesellschaft, wie sie die studentische Linke der 1960er-Jahre vorbringt: In Opposition zu einem verweichlichten, ja abgestorbenen Westen gilt es, Geist und Seele mithilfe der aktuellen revolutionären Bewegungen in der Dritten Welt neu zu wappnen und an sich selbst in Form gemeinschaftlichen Lebens zu arbeiten, fern von jeglicher Ausrichtung an Konsum und Geld. Das Schwächeln der revolutionären Bewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren lässt die Rechte wieder die Angst vor dem Untergang, den sie überall am Werk sieht, hervorholen. Sie ­thematisiert den demografischen Rückgang der „Weißen“, den Verlust von „Maßstäben“ und „Werten“, was dazu führe, dass der Westen 497

Johann Chapoutot

vor den Stärkeren die Segel streicht. Während die Idee des Untergangs sich früher noch auf Hoffnungs-, millenaristische oder religiöse Vorstellungen stützen konnte, bleibt ihr heute nur noch die latente Verzweiflung eines „no future“ – ein Nährboden für religiösen wie politischen Extremismus. Damit ist derartiges Denken gefährlicher denn je.

Literatur Claude und Huguette CAROZZI, La Fin des temps. Terreurs et prophéties au Moyen Âge, Paris 1982. Johann CHAPOUTOT, Le Nazisme et l’Antiquité, Paris 2013. Johann CHAPOUTOT, La Révolution culturelle nazie, Paris 2017. Norman COHN, Les Fanatiques de l’Apocalypse. Courants millénaristes révolutionnaires du XIe au XVIe siècle, traduit de l’anglais par S. Clémendot, Brüssel 2010 [1957]. Zeev STERNHELL, Les anti-Lumières. Une tradition du XVIIIe siècle à la guerre froide, Paris 2010.

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Bo Stråth

Brüssel oder der Austritt aus der Geschichte Brüssel ist sowohl die geografische als auch die mentale ­Hauptstadt Belgiens, das Zentrum des in der Nachkriegszeit begonnenen Aufbaus Europas, ein Symbol der Rückkehr zu ­Frieden und Solidarität – und doch verkörpert es inzwischen mehr eine Technostruktur und die neoliberale Deregulierung, die beide von zahlreichen Europäern abgelehnt werden.

Das Berlaymont-Gebäude, Sitz der Europäischen Kommission, mit dem Gedenkstein für Robert Schuman, „Promotor van de Europese Eenheid“.

Bo Stråth

Das Wort „Brüssel“ ist ebenso eine Metapher für die Stadt Brüssel, wie die Bezeichnung „Wüstenschiff“ eine Metapher für Kamel ist. „Brüssel“ steht für das ganze europäische Einigungsprojekt seit 1945, das mehr oder weniger erfolgreich von dort aus gesteuert und kontrolliert wird. „Brüssel“ ersetzt Akronyme wie EGKS, EG, EWG, EU, EWU und andere. „Brüssel“ und seine Institutionen weisen auf Bilder von der Zukunft voraus, die allerdings angezweifelt und angefeindet werden und doch eine wichtige Dimension der Erinnerungsarbeit darstellen. „Brüssel“, das löst in ganz Europa immer wieder Zustimmung und Missbilligung aus, Bewunderung und Abscheu, Gefügigkeit und Widerstand – und das in den Zentren der politischen Entscheidungen nicht weniger als an den Stammtischen und in den Medien. Als Europa sich nach 1945 auf die Suche nach einer Hauptstadt machte, gab es mehrere Vorschläge: Straßburg, Paris, Luxemburg, Mailand, Monza, Stresa, Turin – all diese Städte hatten ihre Anhänger und ihre Gegner, stießen aber in symbolpolitischer Hinsicht auf keinerlei Übereinstimmung. Die Tatsache, dass General Charles de Gaulle nie den Sitz Europas in Brüssel betreten hat, erklärt, weshalb Brüssel erst in den 1970er-Jahren zur unbestrittenen Hauptstadt Europas werden konnte.

Das neue Europa: das Berlaymont-Gebäude „Brüssel“ und Brüssel wurden erst ab den 1960er-Jahren allmählich deckungsgleich, nämlich in der Zeit, in der das Berlaymont-Gebäude am Schuman-Platz gebaut wurde, einen Steinwurf entfernt vom Jubelpark, dem Parc du Cinquantenaire mit seinem u-förmigen Gebäudekomplex und der Arkade von Gédéon Bordiau, die 1905 vom heutigen Triumphbogen ersetzt wurde. Dieser Komplex wurde für die Nationalausstellung von 1880 errichtet, die aus Anlass des 50. Jahrestags der belgischen Unabhängigkeit stattfand. Zu diesem Zeitpunkt freilich war Belgien nicht nur eine zweisprachige Nation mit den entsprechenden staatlichen Strukturen, sondern ein Weltreich, dessen kostbarster Bestandteil der Kongo war, obwohl dessen offizieller „Besitzer“ nicht der belgische Staat war, sondern König Leopold II. als Privatinvestor. Die Schrecken dieses Unterfangens des Königs sollten ein Vierteljahrhundert später einen riesigen europäischen Skandal auslösen. 1880 aber ging von ihm eine imperiale und königliche Ausstrahlung aus, die ganz Belgien erleuchtete. 500

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Heute stößt es auf Ablehnung und eine ganze Reihe kritischer Fragen. Ist das Berlaymont-Gebäude das neue symbolische Zentrum eines anderen, eines zivilisierteren Reiches oder ist es der Gedächtnisort einer postkolonialen Welt? Kurz nach seiner Fertigstellung im Jahr 1967 wurde das Berlaymont zur Verkörperung des neuen Europas, zum Tempel der „Stadt, die auf einem Berge liegt“, der City upon a hill, ja zum neuzeitlichen Berg Horeb, auf dem Moses die Zehn Gebote bekam. Dabei vermittelt dieser Ort weit mehr ein Bild der Technokratie, der überbordenden Reglementierungen und des grauen Alltags von Bürokraten als eines der Prachtentfaltung. Die Anzahl europäischer Beamter nahm nach der Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1958 rasch zu und die Kommission benötigte mehr Büroraum. Aus diesem Grund wurde ein neues Gebäude errichtet, und zwar auf dem Gelände der Dames de Berlaymont, eines 300 Jahre alten Klostergebäudes, in dem eine Schule für Mädchen aus gutem Hause untergebracht war; diese zog nach Waterloo um, an einen anderen europäischen Gedächtnisort. Dieses ultramoderne kreuzförmige Gebäude ließ sich architektonisch vom Gebäude des UNESCOSekretariats in Paris aus dem Jahr 1958 anregen. In ihm wurden die Kommission, der Rat und das noch nicht voll entwickelte Parlament untergebracht. Berlaymont, dieser regelrechte Magnet der Erinnerung an das Versprechen aus dem Jahr 1945, dem Krieg endgültig ein Ende zu setzen, wurde zum Europaviertel. Zu ihm gehört auch das Triangle Building und das Charlemagne-Hochhaus, das die Generaldirektionen für Wirtschaft und Finanzen sowie für Handel beherbergt und als Symbol der wirtschaftlichen Stärke Europas vor der Eurokrise gelten kann. Dazu zählen neben anderen Bauten auch das Justus-Lipsius-Gebäude, das seit 1955 Sitz des Rats ist, und der Leopoldruimte, der vom bescheidenen Anhängsel des Straßburger Europaparlaments zu dessen wahrem Mittelpunkt geworden ist, obwohl das Louise-Weiss-Haus in Straßburg dessen offizielle Residenz geblieben ist. Das Europaviertel strahlte so viel Macht und Modernität aus, Technokratie und Fortschritt, Männlichkeit und Jugendlichkeit, dass man darüber fast die Entdeckung der Kontaminierung durch Asbest im Jahr 1990 vergessen konnte. Brüssel als Gedächtnisort, das ist aber nicht nur das Reich der europäischen Institutionen. Unweit von Berlaymont liegt das historische Herzstück Brüssels mit seiner Grand Place. Die Zunfthäuser und das Rathaus 501

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aus dem Mittelalter, die den Platz umgaben, wurden 1695 von der französischen Artillerie zerschossen, aber in altem Glanz wiederaufgebaut, verfielen dann aber zu Beginn des 19. Jahrhunderts und wurden gegen Ende dieses Jahrhunderts erneut aufgebaut. Sie spiegeln damit die Wechselfälle der Geschichte Europas mit ihren Höhen und Tiefen, Frieden und Krieg, Reichtum und Armut, Wohlergehen und Verfall. Dieser Platz erzählt von einer pränationalen Periode des Kosmopolitismus, aber auch von einem örtlichen Patriziat, das auf sozialer Hierarchie und kleinlicher Kontrolle der Gesellschaft beruhte. Die Grand Place steht für zahlreiche ähnliche europäische Gedächtnisorte wie etwa die Hansestädte rund um die Ostsee und ihre Pendants rund um das Mittelmeer und entlang den Flüssen und den großen Straßen Europas. Dieser Platz erinnert an lokale Macht – im Gegensatz zur Weltmacht, wie sie sich im Triumphbogen ausdrückt. Für viele verkörpert er Tourismus und historischen Kitsch. Aber bietet er uns historisch nicht viel mehr, jenseits aller Nostalgie? Das Nebeneinander der beiden Gedächtnisorte, des neuen Europas auf der einen und des ehemaligen Weltreichs auf der anderen Seite, verweist auf die Zwiespältigkeit des Projekts europäischer Integration. Was ist Europa: eine Alternative zum früheren Weltreich oder seine Verlängerung? Für beide Antworten gibt es gute Argumente, nicht minder gute für diejenigen, die von einer Mischung von beidem ausgehen. Eines steht aber fest: Kein Standpunkt ist unanfechtbar, keiner klar und eindeutig. Europa ist widersprüchlich und entzieht sich jeglicher Definition. Es stellt einerseits eine Alternative zum alten Europa dar, dem es eine neue Ausrichtung verpasst, und andererseits ist es eine Verlängerung des Europas der Imperien mit all ihren Fehlern, entsprechend den beiden Brüsseler Gedächtnisorten, die so eng nebeneinanderliegen. Wir haben es mit der symbolischen Darstellung zweier Bilder zu tun, die miteinander rivalisieren und sich voneinander absetzen und sich zugleich überlappen und wechselseitig verstärken. Zu Brüssel sind Nebenorte der Erinnerung getreten, etwa das Luxemburger Viertel Kirchberg, in dem zahlreiche Banken, europäische Institutionen und Behörden eng beieinanderstehen und die finanzielle wie die politische Macht repräsentieren. Dazu zählt etwa eine Vermittlungsinstitution wie der Europäische Gerichtshof. Ein weiterer derartiger Ort ist das Europaviertel in Straßburg mit dem Louise-Weiss-Haus, in dem unter anderem das Parlament untergebracht ist. Schon der Name dieses 502

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Gebäudes ist ein Ort der Erinnerung an eine jüngere europäische Vergangenheit, mit all ihren gewaltsamen Auseinandersetzungen und ihrem Eintreten für Versöhnung. Louise Weiss, die aus einer kosmopolitischen elsässischen Familie stammte, gründete 1918 die Wochenzeitung L’Europe nouvelle, wurde in der Zwischenkriegszeit zur Suffragette und mit 86 Jahren, also viel später, auf einer gaullistischen Liste gewählte Abgeordnete des Europaparlaments.

Von Maastricht nach Lissabon Maastricht und Lissabon sind als Gedächtnisorte weitere Anhängsel von Brüssel – im Fall von Maastricht, weil an diesem Ort im Februar 1992 der Vertrag über die Europäische Union unterzeichnet wurde, und Lissabon als symbolische Verkörperung der europäischen Hybris einerseits und des Neuaufbaus nach einer Niederlage andererseits. Im Rahmen seines Treffens in der portugiesischen Hauptstadt erklärte der Europarat nämlich im März 2000, Europa werde im Jahr 2010 der „wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensgestützte Wirtschaftsraum der Welt sein. Es wird in der Lage sein, ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum mit quantitativen und qualitativen Verbesserungen auf dem Beschäftigungssektor und mit besserem sozialen Zusammenhalt zu verbinden.“ Der Vertrag von Lissabon von Dezember 2007 unternahm es, nach der Unordnung, die nach der Ablehnung des Entwurfs für eine europäische Verfassung durch die Wähler in Frankreich und den Niederlanden im Frühjahr 2005 herrschte, für Ordnung zu sorgen. Das europäische Führungspersonal klebte das Pflaster eines Ersatzvertrags auf seine Wunden. Dessen Ziel war es, „den mit den Verträgen von Amsterdam und Nizza eingeleiteten Prozess der Steigerung der Effizienz, der verbesserten Kohärenz des Vorgehens und der Erhöhung der demokratischen Legitimität der Union zu verstärken“. In einer ersten Phase diente die Bezugnahme auf „Brüssel“ der Legitimierung politischer Entscheidungen und half auch dabei, die Opposition in den Mitgliedstaaten zum Schweigen zu bringen. Die Tatsache, dass im Lauf des letzten Jahrzehnts Verweise auf „Brüssel“ den gegenteiligen Effekt hatten, muss dem europäischen Projekt als ernsthafte Warnung dienen. „‚Brüssel‘ verlangt das“ – ein solcher Satz löst heute heftige Gegenreaktionen aus, während früher tolerantes Schweigen die Regel war. 503

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In Sachen Legitimität befindet sich „Brüssel“ seit der Eurokrise auf dem absteigenden Ast. Gedächtnisorte sind nicht notwendigerweise stabil, sie können in Abhängigkeit von der Entwicklung der gesellschaft­ lichen Kräfteverhältnisse ihren Sinn ändern und abwechselnd positiv oder negativ konnotiert sein. Als europäische Gedächtnisorte verkörpern Brüssel und „Brüssel“ weniger europäische Institutionen oder Ereignisse als solche, sondern eher die Übersetzung von kollektiven Erfahrungen in realisierbare Erwartungen und Zukunftshoffnungen. „Brüssel“ hat mehrere Bilder von der Zukunft entworfen. Das erste ist das Europas als technokratische Instanz der Hilfe für die (west)europäischen Nationalstaaten, die auf dem Prinzip der sozialen Sicherung beruht und die Zustimmung und politische Legitimität gewährleistet, die im Kontext des kalten Kriegs notwendig sind. Das zweite Bild ist das eines „Europas der Vaterländer, vom Atlantik bis zum Ural“, von dem de Gaulle so gern sprach; das dritte stellen die Pläne aus der Zeit nach de Gaulle für ein föderales Europa dar (der Werner-Plan für eine Wirtschafts- und Währungsunion und der Davignon-Plan auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik), die im Kontext des Zusammenbruchs der 1944 in Bretton Woods geschaffenen internationalen Währungsordnung entstanden sind. An vierter Stelle sind zu nennen: die Verflüchtigung der föderalen Pläne und die Flucht nach vorn unter dem Motto „europäische Identität“ und schließlich die Umwandlung der Träume von einem europäischen Volk, die für das Identitätskonzept konstitutiv sind, in die neoliberale Vorstellung von Bürgern eines europäischen Marktes, wobei diese mit einer grundsätzlichen begrifflichen Aktualisierung der politischen Sprache entsprechend der Devise von der Einheit in der Vielfalt verbunden wurde. All diese Bilder sind Teil eines vielfädigen Gewebes von Erinnerungen, die gleichermaßen Kontinuität wie Diskontinuität verkörpern. Nach dem Zusammenbruch der rein marktwirtschaftlichen Weltbetrachtung im Jahr 2008 und der Austeritätspolitik zum Zweck der Rettung des Euro war ein enormer Verlust an Überzeugungs- und Mobilisierungskraft zu verzeichnen. Die Osterweiterung des Jahres 2004 erwies sich zum einen als unfähig, die Ost-West-Spaltung aus der Zeit des Kalten Kriegs zu überwinden, zum anderen tat sich aufgrund der Austeritätsmaßnahmen eine neue Bruchlinie in Gestalt einer Nord-Süd-Kluft auf. Das Bild der Zukunft, das sich abzeichnet, ist eher das der Renationalisierung und 504

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­ nteuropäisierung. Eine zunehmend nationalistische und fremdenfeind­ E liche Sprache geht mit sich immer deutlicher abzeichnenden autoritären Regierungsformen einher. Diese surfen auf der nationalen Welle und verstärken sie sogar noch, während „Brüssel“ als Garant freier Märkte zunehmend als Überbleibsel des Ancien Régime dasteht. In den ersten Phasen der Verhandlungen über die europäische Einigung, die in den 1950er-Jahren in Paris und auf Schloss Val Duchesse bei Brüssel stattfanden, galt noch der auf Erfahrung beruhende Grundsatz, dass politische Stabilität eine solide soziale Wirtschaft zur Voraussetzung habe und dass die Demokratie diese Stabilität bedrohen könne. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Väter des Vertrags von Versailles festgestellt, dass die Demokratie den Weg in die Zukunft weise, allerdings ohne sich große Gedanken darüber zu machen, wie diese durchgesetzt und gewährleistet werden könne. Die Erfahrungen mit der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre hatten dann gezeigt, wie leicht die Demokratie sich auflösen kann, wenn es an solidem sozialen Engagement fehlt. Der 1919 in Versailles proklamierten Demokratie fehlte die gesellschaftliche Basis. Aufgrund dieser Erfahrung sollte nun bei den Verhandlungen über die Montanunion und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu Beginn der 1950er-Jahre ein soziales Europa die politische Loyalität erkaufen. Die auf dem Gemeinsamen Markt beruhende Wirtschaft sollte die Ressourcen liefern, die für ein Europa der sozialen Umverteilung benötigt wurden. Mithilfe dieser Großzügigkeit entwarfen die führenden Politiker Europas ein Bild, das in deutlichem Kontrast zu den Entbehrungen stand, die das sowjetische Regime seinen Bürgern auferlegte. Freihandel und Konkurrenz in (West-)Europa garantierten wirtschaftlichen Erfolg und damit dank sozialer Absicherung den sozialen Frieden im Inneren, während der bewaffnete äußere Frieden in der Zeit des Kalten Kriegs durch das Gleichgewicht des Schreckens gewährleistet wurde. Das Einigungsprojekt sollte zudem die deutsche und die französische Wirtschaft so eng zu einem Netzwerk wechselseitiger Abhängigkeiten verknüpfen, dass dadurch ein neuer Krieg unmöglich würde. Die Väter des Projekts der europäischen Einigung waren sich voll und ganz der Konsequenzen bewusst, die der Zusammenbruch der Weimarer Republik hatte. Ihnen war auch klar, dass die weiteren Entwicklungen durchaus ihre Wurzeln in der Demokratie hatten. Besondere Aufmerksamkeit widmeten sie den fatalen Folgen des politischen Extremismus. 505

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Es beunruhigte sie, dass die Kommunisten zu Beginn der 1950er-Jahre in Frankreich wie in Italien einen Stimmenanteil von 20–25 Prozent erzielten. Deshalb sollte die Demokratie mithilfe der Solidarität legitimiert werden. Verantwortliche Politiker wie Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi waren auf der Suche nach einer Zukunft, die Lehren aus der Vergangenheit zog. Sie stellten fest, dass die Demokratie sich auch selbst zerstören kann, dass sie kein Selbstläufer ist. Kurz, sie beruht auf einem empfindlichen Gleichgewicht zwischen ihrer Rolle als Ausfluss der öffentlichen Meinung einerseits und andererseits ihrer Aufgabe, diese anzuleiten, zu orientieren. Das Ziel, das so verfolgt wurde, war das einer aufgeklärten, regelbasierten Technokratie, die eine schwankende, wankelmütige Bevölkerung von den Hebeln der Macht fernhielt. Mit dem neuen Europa der 1950er-Jahre meinte man Westeuropa und setzte sich ab vom kommunistischen Osteuropa. In den 1960er-Jahren spaltete sich dieses zusammenhängende Bild in zwei Teile. Auf der einen Seite gab es die föderalistische Ausrichtung, für die Jean Monnet und sein Nachfolger an der Spitze der Kommission, Walter Hallstein, eintraten. Dieser Richtung lag daran, „Brüssel“ zu verdichten, zu konzentrieren. Die zentrale Persönlichkeit der entgegengesetzten Orientierung, die man als imperial bezeichnen könnte, war de Gaulle, der sich für ein „Europa der Vaterländer“ vom Atlantik bis zum Ural aussprach. Auch dieses Europa sollte, das ist unbestreitbar, hierarchisch und zentralisiert organisiert sein, aber eher unter französischer Führung als unter der technokratischen Kontrolle aus Brüssel. De Gaulle wollte „Brüssel“ zugunsten von „Paris“ abschaffen. Großbritannien wollte „Brüssel“ bereits vor de Gaulle verwässern. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war das Land erschöpft und konnte es nicht mehr länger vor sich selbst verbergen, dass das britische Weltreich nicht überlebensfähig war. Aus dem Wunsch heraus, dass nun nicht etwa ein mächtiges föderales Europa die Machtposition einnehmen sollte, die seit den napoleonischen Kriegen England innehatte, tat London alles, um die Tragweite der Römischen Verträge zunichtezumachen. Angesichts des Scheiterns dieser Strategie klopfte Großbritannien an die Tür Europas und bat um Aufnahme. De Gaulle, der sich vor einem Trojanischen Pferd fürchtete, verhinderte mehrmals, dass man sie öffnete. Die 1960er-Jahre, in denen die Zeichen auf soziale Stabilität und endgültigen Wohlstand standen, schienen der von „Brüssel“ betriebenen 506

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Politik recht zu geben. Aber keine Lösung ist dauerhaft und die Frage nach der Verteilung des Reichtums führte zu scharfen Auseinandersetzungen. Die 1968er-Bewegung verlangte nach „mehr Demokratie“. Diese Revolte einer Generation, die keine Verbindung mehr zu Weimar hatte, wollte ein größeres Stück vom Kuchen, vor allem mehr individuelle Freiheit, neue Familienmodelle, weniger Hierarchie und Konvention. Diese Bewegung, in der viele zentrifugale Kräfte am Werk waren, löste ihrerseits eine Reaktion aus. Jean Monnet und Willy Brandt, der 1969 Bundeskanzler wurde, stimmten in der Forderung überein: „mehr Europa und mehr Demokratie wagen“. Ihr Ziel war es, „Brüssel“ wieder zum Garanten dafür zu machen, dass Lehren aus der Vergangenheit gezogen würden und es die Führung in die Zukunft übernähme. Sie wollten sich von de Gaulle absetzen und mit „1968“ aussöhnen. Kaum hatte „1968“ de Gaulle dazu gezwungen, sich von der politischen Bühne zu verabschieden, brachten sie den Werner- und den Davignon-Plan auf den Weg. Beide zielten auf die Schaffung eines föderalen (West-)Europas, das zugleich dank dem Plan einer wirtschaftlichen und politischen Gemeinschaft mit aufeinander abgestimmter Haushaltspolitik demokratischer werden sollte. Die Pläne für ein stärker föderales Europa sowie die Brandts für die Aussöhnung mit Osteuropa waren untrennbar miteinander verbunden und verstärkten sich wechselseitig in der Bemühung, einen Frieden zu schaffen, der dauerhafter als das mit dem Kalten Krieg verbundene Gleichgewicht des Schreckens sein sollte. 1971 brach der US-Dollar zusammen und mit ihm die internationale Ordnung, die auf ihm beruhte. Wenig später lösten der Erdölschock und die erste Wiederkehr der Massenarbeitslosigkeit seit den 1930er-Jahren in Europa Alarm aus. Die Erinnerung an das Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, der gerade eine Generation zurücklag, beunruhigte die politisch Verantwortlichen wie die Wirtschaftseliten Europas. Diese erwiesen sich jedoch als unfähig, eine gemeinsame Therapie für die Krise Europas zu entwickeln, und überließen es den Nationalstaaten, jeweils eigene Lösungen zu finden. Maßnahmen zur Unterstützung von in Schwierigkeiten geratenen Firmen und ihren Angestellten auf nationaler Ebene wurden wichtiger als die Suche nach einer europäischen Lösung. Die Arbeiten am Werner-Plan verliefen im Sand und die Macht von „Brüssel“ nahm ab. Das Ratstreffen, das im Dezember 1973 in Kopenhagen stattfand, und zwar unter Beteiligung Großbritanniens, das nach dem Abgang von de 507

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Gaulle schließlich Mitglied geworden war, machte die völlige Uneinigkeit der Staatschefs in Bezug auf den Werner-Plan deutlich. Um einen Gesichtsverlust zu vermeiden, beschlossen sie, von europäischer Identität zu sprechen. Dieser neue Begriff war hinreichend unbestimmt und lag in solcher Entfernung, dass man sich auf ihn einigen konnte. „Brüssel“ erhielt damit einen neuen Sinn. Mithilfe dieser Erklärung vermied man die Krise, man nutzte die Vorstellung einer europäischen Identität, die ihrerseits auf den Gedanken eines europäischen Volks, eines demos, verwies. Zugleich konnte man somit verschleiern, dass eigentlich rasches politisches Handeln und die Bildung von geeigneten Institutionen notwendig waren. Man konzentrierte sich trotz der Unbestimmtheit des Begriffs im Wesentlichen auf dieses im Entstehen begriffene Volk, anstatt politische Maßnahmen als Antwort auf die Transformation der Wirtschaft und der Arbeitsmärkte zu ergreifen. Was genau mit europäischer Identität gemeint war, wurde kaum erörtert.

Identität oder Markt Der Verkündung einer gemeinsamen Identität im Jahr 1973 wurde in den krisengeschüttelten 1970er-Jahren nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Die 1980er-Jahre brachten dagegen den Beginn eines Vierteljahrhunderts regelrechter politischer und akademischer Besessenheit vom Begriff Identität. Die „Identität“ trat an die Stelle des alten Schlüsselbegriffs eines sozialen Europas. Unter maßgeblicher Beteiligung von Altiero Spinellis „Krokodilsklub“ verlieh das 1979 erstmals nach allgemeinem Wahlrecht gewählte Europaparlament „Brüssel“ eine demokratische Konnotation und belebte den Begriff der Identität neu. Der „Krokodilsklub“ war eine informelle Gruppe von Abgeordneten des Europaparlaments, die ein Jahr nach der ersten Wahl nach allgemeinem Wahlrecht gegründet wurde. Er trat für eine weiter gehende europäische Integration ein und verfolgte das Endziel einer Föderation. Ein neues Komitee, das auf den treffenden Namen „Ausschuss für das ‚Europa der Bürger‘“ getauft wurde, erhielt den Auftrag, nach neuen Mitteln zu suchen, um die Zustimmung der öffentlichen Meinung zur europäischen Idee zu erreichen. Er übergab im Juni 1985 dem Europäischen Rat seinen Bericht. Dieser behandelte „wichtige Aspekte der besonderen Rechte der Bürger, des Bildungswesens, des Kultur- und Kommunikationsbereichs, 508

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des Austauschs sowie des Bildes und der Identität der Gemeinschaft“ und wollte einen „wesentlichen Beitrag zur Herbeiführung ,eines immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker‘“ leisten. Dazu zählten die Einführung eines europäischen Führerscheins, des Eurolottos, eines „Europatages“ am 9. Mai und gemeinsame Studienpläne im Rahmen der Hochschulkooperation sowie im Sport die Aufstellung europäischer Mannschaften, die Verwendung einer Europafahne und -hymne sowie eines europäischen Emblems, um „dem einzelnen Bürger ein klareres Bild von der Dimension und der Existenz der Gemeinschaft [zu] verschaffen“. Die Begriffe „europäische Staatsbürgerschaft“ und „europäische Identität“ waren verbunden mit der Idee einer europäischen Demokratie und der eines europäischen Binnenmarkts. Die Vorstellung von einer europäischen Demokratie hing an der Entwicklung von „Markenzeichen“ und Symbolen; die Angehörigen des demokratischen Volks beziehungsweise der demokratischen Völker wurden als freie Individuen und Teilnehmer eines gemeinsamen Marktes betrachtet – im Gegensatz zum Zusammenhalt von Menschen durch im Wesentlichen auf nationaler Ebene organisierte gesellschaftliche Bindungen. Die europäische Geschäftswelt war diesen Plänen einer weiter gehenden europäischen Integration im Zeichen des Marktes natürlich durchaus gewogen. In dieser Situation unternahm es Margaret Thatcher, die Begriffe Identität und Markt voneinander abzukoppeln. Sie wandte sich gegen die Identitätsrhetorik, die eher ein Ritual als mit politischer Substanz erfüllt war. Sie war die Vertreterin einer neoliberalen Neudefinition der sozialen Beziehungen. Sie ging davon aus, dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur Individuen und Familien. Der Begriff Reform ging seit dem 19. Jahrhundert mit dem des sozialen Fortschritts einher. Nachdem er nunmehr seiner sozialen Substanz beraubt war, nahm er eine neue Bedeutung an, die der wirtschaftlichen Effizienz. Die Austerität, der man die moralische Dimension einer Reinigung zuschrieb, trat an die Stelle der Vorstellung von künftigem Überfluss. Thatcher griff „Brüssel“ an, das mit einer Anpassung seines Wortschatzes reagierte. Während der Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht wandte sich Thatchers Nachfolger John Major gegen den Plan von Jacques Delors, der den Binnenmarkt mit einem sozialen Europa verbinden wollte. Das Sozialprotokoll im Vertragsanhang bedeutete keinen signifikanten Fortschritt im Sinn eines sozialen Europas als Dach des Europas der Märkte. In ihm 509

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findet sich nichts zu den Themen soziale Sicherung und Beschäftigung. Zum gleichen Zeitpunkt schwächelte der Aufbau der Währungsunion, sodass das ganze Projekt in Richtung Austerität abdriftete. So wurde eine Gelegenheit vertan, das Soziale und das Ökonomische zu einem positiven Kreislauf, einem umgekehrten circulus vitiosus, zu vereinen. Die Regierung Major erreichte es in den Verhandlungen, dass selbst das ja durchaus bescheidene Sozialprotokoll zurückgenommen wurde, das Tony Blair zwar 1997 wieder aufgriff, aber ohne damit einen substanziellen Impuls in Richtung auf ein soziales Europa zu verbinden. Politische Führungspersönlichkeiten wie Blair und Gerhard Schröder, die doch sozialdemokratischen Parteien angehörten, nutzten es aus, dass die Vorstellung von einem sozialen Europa bereits neoliberal verwässert war, und traten für einen „Dritten Weg“ ein. Die Rede von einer gemeinsamen Identität und die dieser zugrunde liegende Vorstellung eines europäischen Volks passten schlecht zu derartigen Entwicklungen. Historisch betrachtet, haben sich die nationalen Identitäten in den sich industrialisierenden Staaten dank einer Politik sozialer Integration herausgebildet. Die Annahme, eine neue, auf dem Markt gründende Identität, eine „Marktidentität“, würde eine europäische Gemeinschaft schaffen können, erwies sich als nicht tragfähig. „Brüssel“ versuchte zu retten, was von einem europäischen Zusammenhalt, der durch die Marktkräfte infrage gestellt war, noch zu retten war. Rückblickend nimmt sich das alles aus wie ein Versuch, mithilfe von Worten die Quadratur des Kreises zu bewerkstelligen. „Brüssel“ erfand eine neue Devise für die Europäische Union: Einheit in der Verschiedenheit, wobei „Brüssel“ die Einheit repräsentierte und die einzelnen wohlwollenden „Nationen“ die Verschiedenheit. Die europäische Identität erhielt einen Dämpfer, wurde auf Sparflamme gedreht. Im Jahr 2000, als es darum ging, die Lissabon-Strategie bis 2010 zu verabschieden, stellte sich diese diskrete Korrektur am (Selbst-)Bild freilich als treffliche Lösung dar.

Die Eurokrise Der Zusammenbruch der neoliberalen Weltsicht im Jahr 2008 ließ das alles jedoch in einem anderen Licht erscheinen. Die Diversität ließ nicht mehr an eine Einheit auf einem Markt denken. Die Erwartungen, die man mit dem Begriff des Marktes und mit „Brüssel“ als Garantie verband, 510

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wichen einer Vorstellung, für die der Markt den absoluten Horror darstellte. „Brüssel“ brach mit seiner wirtschaftlichen Grundregel, der zufolge im Kapitalismus Profit und Risiko, Gewinn und Verlust untrennbar miteinander verbunden sind. „Too big to fail“ wurde der neue Modebegriff, der Rettungspläne für in Schwierigkeiten geratene Banken in Höhe von mehreren Milliarden rechtfertigte. Diese hatten eben an der Börse gespielt und verloren. Als dann später die restrukturierte Finanzindustrie gegen die hoch verschuldeten Staaten spekulierte, wurden neue Begriffe wie „Panzerfaust“, „Feuerwall“ und „Feuerkraft“ für „Brüssels“ Kampf gegen den Markt mobilisiert und mehrere Tausend Milliarden Euro als Waffe eingesetzt. Die verbale Wende Brüssels sorgte für Verwirrung und Ratlosigkeit. Die in Kontrast dazu stehende Sprache der Austerität, die im Folgenden den Bürgern Europas aufgezwungen wurde, verbreitete Verbitterung und Wut. Die Vorstellung eines europäischen Deutschlands, wie sie Willy Brandt und Helmut Kohl hegten, entgleiste zunehmend in Richtung eines deutschen Europas, das zunehmenden Ost-West- und Nord-Süd-Spannungen ausgesetzt war. Nach der Kapitulation der griechischen Regierung im Lauf des Jahres 2015 zerbarst die Einheit Europas – und das vor dem Hintergrund der beginnenden Flüchtlingskrise. Mehrere Regierungen weigerten sich, der Politik von Kanzlerin Angela Merkel zu folgen. Zwei miteinander verbundene Krisen, die Euro- und die Flüchtlingskrise, wurden zu den Katalysatoren einer Entwicklung, die „Brüssel“ einen zusätzlichen Macht- und Glaubwürdigkeitsverlust eintrug. Lampedusa, Lesbos und die Südgrenze Ungarns hießen nun die neuen europäischen Gedächtnisorte. „Europa“ und „Brüssel“, diese beiden bisherigen Legitimationsbegriffe, wurden ihrerseits nach 2008 in ihr Gegenteil verkehrt. In der Geschichte Europas, die wir heute wieder etwas deutlicher wahrnehmen, stellen seine Nationen und Weltreiche in zunehmendem Maß seine Gedächtnisorte dar. Politische Führungspersönlichkeiten wie de Gaulle und Thatcher verkörpern das europäische Erbe der europäischen Imperien und modernisierte Versionen von deren zivilisatorischer Mission: Da ist zum einen das Europa der Vaterländer vom Atlantik bis zum Ural unter französischer Führung, zum anderen die neoliberale transatlantische Gemeinschaft unter Thatcher und Ronald Reagan, die ohne Staat und Gesellschaft auskommt und sich als Alternative zur gaullistischen, auf dem Staat beruhenden darstellt. Man hätte in diesem 511

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Zusammenhang auch Merkel mit ihrer Kampagne für wirtschaftliche Effizienz mithilfe einer reinigenden und entmutigenden Austeritätspolitik während der Eurokrise anführen können, doch unterzog die anschließende Flüchtlingskrise ihre Herrschaft einer harten Bewährungsprobe. Es ließen sich noch weitere Imperatoren anführen, so etwa Schröder und Jacques Chirac, die ohne mit der Wimper zu zucken zum Zweck bloßer Machtdemonstration gegen die Regeln des Stabilitätspaktes verstießen, sich zugleich aber dem US-amerikanischen Kreuzzug gegen den Irak widersetzten. Darüber sind freilich auch Blair und José María Aznar nicht zu vergessen, die sich ihrerseits am Feldzug gegen den Irak an der Seite der USA beteiligten. Die alt-neuen nationalen Imperien stellten weniger Europa als solches infrage als vielmehr dessen Anspruch, selbst ein neues Imperium zu sein. Schließlich waren die Herren des imperialen Europa seine Nationalstaaten und sonst niemand. Das Pendant zu dieser Tendenz, Europa als Imperium darzustellen, sieht Europa als Gemeinschaft, als Union, deren föderale Träume auf ihrem sozialen Zusammenhalt beruhen. Verantwortliche Politiker wie Monnet, Hallstein, Brandt und Delors verkörpern diesen Gedächtnisort, der das Bild von Europa als aus seinen einzelnen Nationen bestehendem Imperium überhöht, zur Vorstellung eines Europas, das eine soziale und wirtschaftliche Vereinigung jenseits der Nationalstaaten Wirklichkeit werden ließe. In ihren Augen sollte die Wirtschaft den sozialen Zement dafür liefern. Ein wirtschaftliches Europa war dabei weit mehr als ein Selbstzweck, es sollte vielmehr die Verwirklichung eines sozialen Europas ermöglichen. Dabei ist erst noch auszumachen, wie weit diese beiden Tendenzen eigentlich voneinander entfernt waren und sind, die in unserer Vorstellungs- und Erinnerungswelt mit den Begriffen Imperium und Föderation, Marktmacht und sozialer Zusammenhalt verbunden sind, und in welchem Maß sie die Geschichte eines auf Nationen und Nationalismus beruhenden Europas transzendieren.

Die Herausforderung durch den Brexit Das britische Brexit-Referendum von 2016 hing mit diesen beiden Tendenzen zusammen. Einige Agitatoren träumten von einem neuen britischen Empire ohne die EU, doch das interessierte die Wähler kaum. Das Hauptanliegen der Befürworter des Brexit war vielmehr das Fehlen einer 512

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sozialen Perspektive in Großbritannien, das sie „Brüssel“ anlasteten. Dieses wurde als Monster dargestellt, das soziale Ungleichheit und Zukunftsängste hervorrief. Dabei will es die Ironie der Geschichte, dass gerade die britischen Regierungen mehr als sonst jemand gegen ein soziales Europa kämpften. Die britischen Wähler setzten all ihre Hoffnungen auf sozialen Zusammenhalt auf den historischen Ort der sozialen Integration, den Nationalstaat. Der Brexit verkörpert nicht die Auferstehung des alten Traums vom Empire, vom britischen Weltreich, das an die Stelle eines ein für alle Mal unmöglich gewordenen europäischen Imperiums treten sollte. Der Brexit ist ein Ausdruck der Verzweiflung und ein Memento mori für die Verbliebenen. Er ist eine Herausforderung an Europa. Eine Herausforderung ist eine Drohung, aber auch eine Chance, eine Gelegenheit. Sie zu ergreifen, würde zweierlei bedeuten, zum einen die Schaffung eines sozialen Europas, das in der Lage wäre, die Umverteilung zu organisieren, zum anderen würden damit die Umrisse eines neuen Europas skizziert, das auf den Ruinen der Erinnerung an das alte stünde. Als Erinnerungsort ist die Architektur der Städte Paris, London und Berlin weit mehr ein steinernes Zeugnis von Weltreichen und von nationaler Macht als von europäischer Einheit. Dazu kommt freilich Rom, der europäische Ursprungsort der Idee des Imperiums wie der europäischen Einigung nach 1945. Gleiches lässt sich von der Architektur Brüssels sagen, die einerseits für das Weltreich und andererseits für die europäische Einigung steht, wobei die beiden nicht miteinander vermischt sind, sondern nebeneinanderstehen. Die Gebäude des Europaviertels spiegeln die Macht eines neuen Europas, das in Zukunft seinen Einfluss ausüben wird, während der benachbarte Triumphbogen an vergangene Größe erinnert, die freilich auf Profiten beruhte, die man dem Kongo abgepresst hatte. Ob Brüssel als Leuchtturm inmitten eines von fremdenfeindlichem Nationalismus zerrissenen Europas erscheinen wird oder aber als Gründungsmythos eines Europas, das eine weitere Krise überwunden haben wird, das steht allerdings auf einem anderen Blatt. Aus der Geschichte sind Lehren zu ziehen: Sie erteilt uns ihre Lektionen, aber wir lernen nie aus ihr und oft genug schlägt sie nicht die von uns erwarteten oder erwünschten Wege ein. Eines ist jedoch klar: Die Geschichte ist nicht zu Ende und es ist unmöglich, aus ihr auszutreten. 513

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Literatur Étienne BALIBAR, Nous, citoyens d’Europe ? Les frontières, l’État, le peuple, Paris 2001. Stefano BARTOLINI, Restructuring Europe. Centre Formation, System Building, and Political Structuring between the Nation State and the European Union, Oxford 2005. Dieter GRIMM, Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München 2006. Ulrike GUÉROT, Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie, Bonn 2016. Jürgen HABERMAS, Im Sog der Technokratie. Kleine politische Schriften XII, Frankfurt a. M. 2013. Carola HEIN, The Capital of Europe. Architecture and Urban Planning for the European Union, Westport 2004. Hartmut KAELBLE, Histoire sociale de l’Europe de 1945 à nos jours, Paris 2013 [2007]. Jacob KRUMREY, Staging Europe. The Symbolic Politics of European Integration during the 1950s and 1960s, Florenz 2013. Peter MAIR, Ruling the Void. The Hollowing of Western Democracy, London 2013. Alan MILWARD, The Rescue of the European Nation State, London 1992. Robert SALAIS, Le Viol d’Europe. Enquête sur la disparition d’une idée, Paris 2013. Bo STRÅTH, Europe’s Utopias of Peace. 1815, 1919, 1951, London 2016.

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