Europa: Die Gegenwart unserer Geschichte 3806240213, 9783806240214

Was macht Europa aus? Europa ist ein grandios reicher Kulturraum mit einer überwältigend vielfältigen Geschichte. Seit

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Europa: Die Gegenwart unserer Geschichte
 3806240213, 9783806240214

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einführung: Europa und die Welt, die Welt in Europa
1 EROBERN
Die kartografierte Welt
Die Aufteilung der Welt
Die Kontroverse um die Kreuzzüge
Der Kaufmann und der Intellektuelle: Marco Polo und Matteo Ricci
Die Vermesser der Welt
Die Weltumrundung
Dampfmaschinen, Sextant und Kanonen
Die Gespenster der Sklaverei
Das Rote Kreuz oder: das Humanitäre auf dem Prüfstand
2 BENENNEN
Europa bezeichnet die Welt
Amerika, gelobtes Land
Hollywood – die Erinnerungsfabrik Europas
Die Uhr und der Kalender
Leerstellen im postkolonialen Gedächtnis
Der Kongo und Tintin
Ist die Archäologie eine Kolonialwissenschaft?
Die Sträflinge
in Australien
Dakar, ein
Gedächtnispuzzle
3 EXPORTIEREN
Kapitalismus jenseits von Gut und Böse
Das wechselnde Schicksal der Revolution
Die Kalaschnikow, eine Kriegsikone
Drei Afrikaner und Europa
Indien: Traum und Wirklichkeit
Meiji – Japan unter Einfluss
Die Sprache der Oper
Das Wissen außerhalb von Kirche und Staat
Als Amerika die europäische Wissenschaft erfand
Die Erfindung der Kochkunst
4 AUSTAUSCH
Die Liebe zum Luxus
Das Museum –
Spielball der Erinnerung
Das Kulturerbe, die Welt in Griffweite
Drei Mythen, die für Amerika stehen
Swinging London
Ein toller Käfer
Schreiben zwischen den Welten
Der unverzichtbare Reisepass
Hin und her
„Das alte Europa"
Ein Schritt zur Seite – Europa und die Welt
Was heißt und zu welchem Ende studiert man europäische Erinnerungsgeschichte?
Ein unordentliches Europa?
Karten
Die Autoren
Back Cover

Citation preview

Étienne François / Thomas Serrier (Hrsg.)

Europa Die Gegenwart unserer Geschichte

Étienne François / Thomas Serrier (Hrsg.)

Europa Die Gegenwart unserer Geschichte

Band III Globale Verflechtungen herausgegeben von

Jakob Vogel

Aus dem Französischen von Jürgen Doll, Walther Fekl und Dieter Hornig Wissenschaftliche Mitarbeit: Mike Plitt

TH 4021-4 Francois Europa_Bd 3_VIS_2019_09_04.indd 3

04.09.19 14:43

Abbildungsnachweis: akg images: S. 17, 30, 54, 60, 73, 77, 126, 143, 161, 176, 197, 223, 241, 261, 265, 280, 288, 297, 301, 319, 336, 355, 375, 396, 402, 415, 419, 428, 433, 461; alamy/Antiqua Print Gallery: S. 213; alamy/Kevin hellon: S. 208; bridgeman images: S. 406; wbg-Archiv: S. 34, 447; Wikipedia: S. 94, 108; Wikipedia/Adavyd: S. 115; Wikipedia/Getty Research Institute: S. 201; Karten (S. 483 ff.): Peter Palm, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel „Europa. Notre Histoire“ bei Les Arènes: © Editions Les Arènes, Paris, 2017

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Dirk Michel, Mannheim Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Umschlaggestaltung: Ute Mildt, Zero Werbeagentur, München unter Verwendung des Fotos 10. November 1989: Berliner aus beiden Teilen der Stadt besetzen die Mauer am Brandenburger Tor. Foto: © akg-images Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4021-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-4037-5 eBook (epub): 978-3-8062-4036-8

Inhalt

Einführung: Europa und die Welt, die Welt in Europa

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Jakob Vogel

1 EROBERN Die kartografierte Welt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

Timothy Brook

Die Aufteilung der Welt Herfried Münkler

Die Kontroverse um die Kreuzzüge

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

Alessandro Barbero

Der Kaufmann und der Intellektuelle: Marco Polo und Matteo Ricci

. . . . . . . .

54

Marina Münkler

Die Vermesser der Welt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60

Teresa Pinheiro

Die Weltumrundung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Olaf B. Rader

Dampfmaschinen, Sextant und Kanonen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

Olaf B. Rader

Die Gespenster der Sklaverei Ana Lucia Araujo

Das Rote Kreuz oder: das Humanitäre auf dem Prüfstand

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

108

Valérie Rosoux 5

INHALT

2 BENENNEN Europa bezeichnet die Welt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

115

Wolfgang Reinhard

Amerika, gelobtes Land

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

Simone Blaschka-Eick

Hollywood – die Erinnerungsfabrik Europas

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143

Bruce F. Kawin

Die Uhr und der Kalender

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Wolfgang Reinhard

Leerstellen im postkolonialen Gedächtnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176

Catherine Coquery-Vidrovitch und Bogumil Jewsiewicki

Der Kongo und Tintin

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

Bogumil Jewsiewicki und Isidore Ndaywel è Nziem

Ist die Archäologie eine Kolonialwissenschaft?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

208

Maurice Sartre

Die Sträflinge in Australien Alan Frost

Dakar, ein Gedächtnispuzzle

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213

Mamadou Diouf

3 EXPORTIEREN Kapitalismus jenseits von Gut und Böse

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Jürgen Kocka

Das wechselnde Schicksal der Revolution Enzo Traverso 6

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

INHALT

Die Kalaschnikow, eine Kriegsikone

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Christian Th. Müller

Drei Afrikaner und Europa Pap Ndiaye

Indien: Traum und Wirklichkeit

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

280

Suresh Sharma

Meiji – Japan unter Einfluss

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

288

Akiyoshi Nishiyama

Die Sprache der Oper

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Philipp Ther

Das Wissen außerhalb von Kirche und Staat

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301

Willem Frijhoff

Als Amerika die europäische Wissenschaft erfand

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

336

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

355

Kapil Raj

Die Erfindung der Kochkunst Pascal Ory

4 AUSTAUSCH Die Liebe zum Luxus Franco Cardini

Das Museum – Spielball der Erinnerung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

375

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

402

Dominique Poulot

Das Kulturerbe, die Welt in Griffweite Olivier Lazzarotti

Drei Mythen, die für Amerika stehen Pierre-Olivier François

7

INHALT

Swinging London

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

406

Bodo Mrozek

Ein toller Käfer

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

415

Bernhard Rieger

Schreiben zwischen den Welten

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

428

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

433

Ottmar Ette

Der unverzichtbare Reisepass Ilsen About

Hin und her

Catherine Wihtol de Wenden

„Das alte Europa“

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

447

Andreas Eckert und Shalini Randeria

Ein Schritt zur Seite – Europa und die Welt

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

461

Sanjay Subrahmanyam

Schlusswort und Nachwort zur deutschen Ausgabe Was heißt und zu welchem Ende studiert man europäische Erinnerungsgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Étienne François und Thomas Serrier

Ein unordentliches Europa?

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

480

Andrei Pleşu

Karten

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Die Autoren

8

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

483 504

JAKOB VOGEL

Einführung: Europa und die Welt, die Welt in Europa

Cartagena de Indias, Kalkutta, Macau oder Gorée – an wenigen Orten werden die globalen Verflechtungen der europäischen Erinnerungen in ihrer Komplexität und Vielfalt so deutlich wie in den alten Hafenstädten an der Karibik, am Indischen Ozean, am Chinesischen Meer oder am Atlantik. Knotenpunkte der weltweiten Handelsbeziehungen des frühneuzeitlichen Europas, Sprungbretter der kolonialen Expansion und des Imperialismus, oftmals Ausgangs- und Endpunkte des von Europäern über viele Jahrhunderte hinweg betriebenen Sklavenhandels – mit ihren alten, farbenfrohen Gebäuden aus der Kolonialzeit sind sie heute als Schmuckstücke einer globalisierten Tourismuskultur bei Besuchern und Einheimischen gleichermaßen beliebt. Viele von ihnen tragen deshalb das von den Vereinten Nationen vergebene Gütesiegel des Weltkulturerbes, das den Orten einer geteilten Geschichte Europas mit der nichteuropäischen Welt gleichsam den Status von globalen Erinnerungsorten verleiht. In der Tat ist es unmöglich, eine Geschichte der europäischen Erinnerungen ohne jene Orte zu erzählen, die Europa mit der außereuropäischen Welt teilt, ohne die Episoden des europäischen Ausgreifens über den Kontinent, des Austauschs, aber auch der Abgrenzung und Unterdrückung. Denn vielfach wurden sich die „Europäer“ – wie die folgenden Beiträge deutlich machen – überhaupt erst im Kontakt mit den „Nicht­ europäern“ der untereinander geteilten Kultur bewusst, traten außerhalb des eigenen Kontinents etwa nationale oder auch soziale Unterschiede hinter die gemeinsame europäische Herkunft und die gemeinsamen Erinnerungen zurück. Hiervon zeugt nicht zuletzt die strikte Abgrenzung der „europäischen“ Stadtviertel von jenen der „Einheimischen“, die bis heute das Erscheinungsbild vieler ehemaliger Kolonialmetropolen prägt. Während vielerorts eine gewisse colonial nostalgia die Überreste der europäischen Präsenz in der Welt umweht, herausgeputzte Touristen9

JAKOB VOGEL

orte ihre Bauwerke und Museen als Stätten des Austauschs inszenieren, brechen in den gemeinsam geteilten Erinnerungen von Europäern und Nichteuropäern immer wieder auch die Geschichten der Gewalt, Ausgrenzung und Unterdrückung hervor. Sklaverei und blutige Gewalt­ taten begleiteten nicht nur die europäische Expansion in der Welt, sie zeigen auch bis heute noch ihre tiefen Spuren im weltweiten Erinnerungsgeflecht. Im öffentlichen Diskurs und in der Politik rufen beide Seiten der Geschichte des Ausgreifens Europas in der Welt immer wieder scharfe Auseinandersetzungen hervor. Demgegenüber haben Historiker und andere Sozial- und Kulturwissenschaftler seit Langem deutlich gemacht, dass es ein Missverständnis wäre, beide Aspekte gegeneinander auszuspielen. Tatsächlich zeigt sich gerade hier einmal mehr der schillernde, ebenso umstrittene wie ambivalente Charakter der globalen Erinnerungserzählungen Europas, die sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen lassen. Diesen Ambivalenzen nachzuspüren, ist einer der besonders spannenden Aspekte einer globalen Erinnerungsgeschichte Europas. Was im Lauf der Geschichte im Einzelnen als Teil der eigenen, „europäischen“ Erinnerungen angesehen wurde und was man umgekehrt als fremde, „einheimische“ Traditionen ausgrenzte, war nämlich keineswegs eindeutig oder unumstritten und überdies über die Zeit hinweg durchaus wandelbar: Ob etwa die „christlichen Wurzeln“ oder vielmehr eine laizistische Kultur der Aufklärung und der Wissenschaften als Anfang der „europäischen Zivilisation“ angesehen wurden, war stets abhängig vom Standpunkt der einzelnen Person. Dies gilt auch für die Einordnung der hybriden Mischkulturen in den Kontaktzonen zwischen Europa und der nichteuropäischen Welt, die nicht nur für die Hafenstädte weltweit schon immer charakteristisch war. Ebenso unklar war und ist die Zuordnung der Erinnerungen jener Einflusszonen an den Rändern des Kontinents, am Mittelmeer, gegenüber Russland oder rund um das Schwarze Meer: Allein der für das Geschichtsbild vieler Europäer zentrale Bezug auf die „Heiligen Stätten“ des Christentums, die am östlichen Mittelmeer heute in Israel/Palästina liegen, zeigt, wie unmöglich es ist, einen allein auf den geografischen „Kontinent“ bezogenen europäischen Erinnerungsraum abzugrenzen. Insofern kann es nicht verwundern, dass über die Einordnung der Krim, des Kaukasus oder auch eines über viele Jahr­ hunderte vom Osmanischen Reich dominierten Balkan in den Kreis der 10

EINFÜHRUNG: EUROPA UND DIE WELT, DIE WELT IN EUROPA

europäischen Erinnerungen auch unter Historikern heftige Dispute geführt wurden. Die Beiträge dieses Bandes spüren in diesem Sinn den verschlungenen Wegen nach, die die europäischen Erinnerungen mit der Weltgeschichte verbinden. Sie machen deutlich, dass es unmöglich ist, die europäischen Erinnerungsräume nur von innen heraus zu definieren, denn immer schon besaß der Blick von außen einen wichtigen Anteil an der Beschreibung dessen, was Europa war und ist – selbst wenn dies teilweise eine gewisse „Provinzialisierung“ Europas (Dipesh Chakrabarty) mit sich brachte: In den Augen indonesischer, chinesischer oder auch arabischer Fürsten, Beamter oder Intellektueller konnte Europa mit seinen Erinnerungen und seiner Kultur über viele Jahrhunderte hinweg durchaus als weitaus weniger relevant erscheinen, als dies die Europäer selbst von sich dachten. Eine wichtige Funktion besaß der Blick von außen, wie die Beiträge des Bandes zeigen, nicht zuletzt im Prozess der Ablösung der ehemaligen europäischen Kolonien: Indem sie ihre Unabhängigkeit erklärten, stellten sie ihre Gegenwart bewusst in eine „eigene“, von Europa getrennte Geschichte. Der Gebrauch der Selbstbeschreibung als „Amerikaner“ durch die ehemaligen Kolonisten aus England, Spanien und anderen europäischen Ländern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts war in diesem Sinn ein deutliches Zeichen ihrer Abgrenzung vom europäischen Fürstenstaat und von jener von Europa aus gedachten Geschichte der Entdeckungen und Eroberungen, der der Kontinent „Amerika“ seinen Namen verdankte. Ebenso wie auch die spätere Dekolonisierung brachte die Unabhängigkeit damit ein eigenes, stark durch das nationale Paradigma geprägtes Geschichtsverständnis hervor, in dem Europa nicht mehr den dominanten Bezugspunkt darstellte. Je mehr die Dekolonisierung der ehemaligen europäischen Kolonien in der Welt voranschritt, konnte es deshalb auch erscheinen, als ob sich eine europäische Geschichte allein auf dem Boden des „eigenen“ Kontinents abgespielt hätte, die Weltgeschichte nur unter den Stichworten der „Entdeckung“ oder des „Imperialismus“ zu fassen sei. Auch unter Historikern war dies lange Zeit ein verbreitetes Missverständnis, das erst durch die neue Welle globalhistorischer Forschungen der letzten 20 Jahre endgültig ausgeräumt wurde. Diese haben die zahlreichen Verflechtungen und Zirkulationen deutlich gemacht, die auch die Erinnerungsgeschichte Europas charakterisieren. 11

JAKOB VOGEL

Vier Schritte markieren unsere Suche nach den weltweiten Verflechtungen der europäischen Vergangenheiten: Der erste Abschnitt „Erobern“ verfolgt die globalen Spuren des oftmals gewalttätigen Ausgreifens der Europäer über die Grenzen des Kontinents – jene Geschichte der Eroberungen und (vermeintlichen) „Entdeckungen“, der Sklaverei und des Humanitarismus, die lange Zeit den Kern der Erzählungen über die Weltrolle Europas bestimmte. Der zweite Teil „Benennen“ unterstreicht die dauerhaften Prägungen, die die Europäer durch ihre Präsenz in der Welt hinterlassen haben, und zwar sowohl immateriell in Karten, in den Namen von Orten, Ländern und Erdteilen oder in den Zeit- und Wissensordnungen als auch materiell in den Überresten und Wunden des Kolonialismus. Es wäre jedoch falsch, diese Prägungen der globalen Erinnerungen allein aus der europäischen Perspektive zu betrachten, denn auch die Nichteuropäer hatten stets Anteil an dieser Geschichte und ihren Erinnerungen. Welche vielfältigen, ja zum Teil widersprüchlichen Formen vor diesem Hintergrund die wechselseitigen Austauschbeziehungen annehmen konnten, zeigt der dritte Abschnitt „Exportieren“. Weit davon entfernt, eine Einbahnstraße von Europa in die Welt zu sein, erweist sich hier, wie sehr wesentliche Elemente der „europäischen Kultur“ außerhalb des Kontinents geprägt wurden: Erst in der Abgrenzung vom vermeintlich „anderen“ erhielten Europa und seine Erinnerungen ihr charakteristisches Erscheinungsbild – ein Prozess, in dem einzelne Mittlerfiguren und Intellektuelle von Mahatma Gandhi bis Léopold Sédar Senghor, von Mao Zedong bis Max Weber eine zentrale Rolle spielten. Der vierte Teil „Austausch“ schließlich demonstriert, welche elementare Bedeutung die globale Verflechtung seit Langem für die Kultur und den Konsum in Europa und in der Welt besaß: Das Verschwinden klarer kultureller Grenzen, das manche Autoren einer globalisierten Weltkultur des 21. Jahrhunderts zuschreiben, erscheint dabei als eine sehr alte Herausforderung für die Europäer, die ihren Ort in der Welt immer neu bestimmen mussten. Die globale Ausweitung der europäischen Erinnerungsräume führt den Betrachter insofern zu jenen Verschränkungen, in der sich „Eigenes“ und „Fremdes“ selbst vom Historiker kaum mehr entwirren lassen. Nicht nur in Literatur, Kunst und Film, auch in der weltweiten Konsumkultur, etwa bei der Einführung der Kartoffel, der Gewürze oder des Kaffees, zeigt es sich, wie schwierig es ist, den Beitrag des „anderen“ für die europäische Geschichte genau zu umreißen. Globale europäische Erinnerun12

EINFÜHRUNG: EUROPA UND DIE WELT, DIE WELT IN EUROPA

gen, Verflechtungen und Zirkulationen finden sich auch hier – und dies auch schon lange, bevor das Europa der Aufklärung seine Einzigartigkeit in der Welt behauptete. Eine solche Spurensuche, wie sie der Band aufnimmt, kann natur­ gemäß nur einige der zahllosen Fährten verfolgen, die Europa in der Weltgeschichte gelegt hat. Das Kaleidoskop der Geschichten, das auf diese Weise entsteht, besticht ebenso durch seine Spannungen und Widersprüche, wie sie auch in den eingangs erwähnten Hafenstädten mit ihren farbenfrohen Kolonialbauten, Märkten und Museen auf der einen Seite und ihren Slums sowie den Zeichen von sozialer Segregation, Ausbeutung und Gewalt auf der anderen Seite zu finden sind. Weit davon entfernt, eine Erfolgsgeschichte Europas in der Welt zu präsentieren, verweisen die folgenden Beiträge zu den globalen Verflechtungen der Erinnerungen deshalb auf die tiefgehende Ambivalenz der Vergangenheit, die unsere Gegenwart in Europa und in der Welt prägt. Sich dieser europäischen Geschichte in ihrer ganzen Komplexität zu stellen, die tiefen Wunden der Vergangenheit ebenso wie die bunten Aspekte des Austauschs zu akzeptieren, ist jedoch der erste Schritt, um die alten Gegensätze in der Welt überwinden zu können.

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1 EROBERN

TIMOTHY BROOK

Die kartografierte Welt Man kann heute die Welt nicht ohne Karte sehen noch sich vorstellen. Die Karte ist eine Transkription der Welt, wie sie ist, sie regt auch die Imagination an und bewahrt unsere Erinnerungen. Woran wir uns in Wirklichkeit erinnern, sind die unzähligen Bilder, die uns die Karten veranschaulicht haben.

Der Geo- und Kartograf Gerhard Mercator). Kupferstich (1574) von Frans Hogenberg.

TIMOTHY BROOK

Unser erstes umfassendes Bild der Welt datiert vom 7. Dezember 1972, als ein Satellit ein vom Weltraum aus gemachtes Foto der Erde übermittelte: die blaue Kugel, die wir alle kennen, und die in einer schwarzen Leere schwebt. Auf seiner Oberfläche markieren unter Wolkenspiralen und Wolkenstrudeln die vertrauten Umrisse der Kontinente die ursprüngliche Trennung zwischen Festland und Meer. Wahrscheinlich gibt es niemanden, der etwas älter ist, der diese Ansicht nicht kennt. In Wirklichkeit wussten die, die vor diesem Zeitpunkt gelebt haben, schon, was sie sehen würden, da sie das Gedächtnis des Erscheinungsbilds der Welt hatten, ein Gedächtnis, das auf das 16. Jahrhundert zurückgeht. Den Weltraum als Blickwinkel zu nutzen, konnte glauben lassen, das habe es noch nie gegeben, doch haben die Kartografen sich diesen Blickwinkel vor­ gestellt, bevor man sich dorthin begeben konnte. Eine aktualisierte euklidische Geometrie erlaubte in Verbindung mit einer Flut neuer Informationen über bis dahin unbekannte Regionen, die nach Europa kamen, sich 400 Jahre, bevor die Astronauten die Erde fotografierten, vorzustellen, was das Auge nicht sehen konnte.

Eine Gott vorbehaltene Sichtweise Diese neue Perspektive und dieses neue Modell waren wegen der raschen Zunahme des internationalen Seehandels notwendig geworden. Wenn man Europäern um 1600 das 1972 gemachte Foto der Erde gezeigt hätte, wären sie über ihr Aussehen nicht besonders erstaunt gewesen. Sie stellten sie sich bereits als Kugel vor und hätten die meisten Erdformen, die man darauf sieht, wiedererkannt. Wenn sie auch die Erde natürlich nicht vom Weltraum aus sahen, so sahen sie Karten, die die Geografen zeichneten, indem sie sich selbst in den Weltraum versetzten. Es genügte ihnen nicht, die Karten zu sehen, manche kauften welche trotz des hohen Preises, um damit ihre Wände zu dekorieren oder sie in Form von Globen auf ihre Tische zu stellen. Dieses Foto hätte jedoch die Menschen um 1300 erstaunt. Sie wären aber nicht ganz und gar überrascht gewesen: Wie wir sehen werden, wussten manche Europäer, dass die Erde rund ist, und sie hätten die ihnen vertraute Form des Mittelmeers wiedererkennen können; aber die Gestalt der Erde jenseits dieses Meeres wäre für sie ganz neu gewesen. Denn wir haben die Welt nicht sehen sollen. Diese Sicht war den mittelalterlichen Kosmografen zufolge Gott vorbehalten; so wie sie heute 18

DIE KARTOGRAFIERTE WELT

den Astronauten vorbehalten ist. Bei klarer Sicht sehen wir weniger als fünf Kilometer weit. Um vom großen Maßstab dessen, was wir direkt vor Augen haben, auf den verkleinerten Maßstab der Karten überzuwechseln, muss man kreativ und erfinderisch sein. Obwohl wir alle, ausgehend von unseren täglichen Wegen, Karten in großem Maßstab zeichnen können, ist das Abbilden der Welt das Alpha und Omega der Geschichte der Kartografie. Deshalb erinnern wir uns, wenn wir uns an die Welt erinnern wollen, in Wirklichkeit an eine visuelle Begegnung mit einem Bild, das die Kartografen des 16. Jahrhunderts für uns erfunden haben. Die Karten produzieren Erinnerungen und reproduzieren sie gleichermaßen. Die beiden Vorgänge sind nicht voneinander zu trennen: Wir sehen, woran wir uns erinnern, und wir erinnern uns an das, was wir sehen, und keine der beiden Operationen kann je als Anfang bestimmt werden.

Kreis und Kugel Beginnen wir diese Geschichte der Darstellungen Europas und der Welt durch die europäischen Kartografen um 1300 mit dem Beispiel einer auf Pergament gezeichneten und in der Kathedrale von Hereford in England aufbewahrten Weltkarte. Der Verfasser der Hereford-Karte – vielleicht Richard von Haldingham und Lafford, der sie signiert hat – hat die Welt als einen von Wasser umgebenen Kreis gemalt. Innerhalb dieses Kreises siedelt er alle Arten von Erinnerungen an, biblische, klassische und auch solche jüngeren Datums. Eden, ein Paradies, das von Mauern und Gräben umschlossen ist, damit die Menschen nicht hineinkommen können, befindet sich ganz oben im Kreis, direkt unter einem allsehenden Gott, was erklärt, warum der Osten oben lokalisiert ist. Auf der anderen Seite des Kreises hat der Maler die Säulen des Herakles von Gibraltar platziert, unter denen ein provokant nackter Satan drei Feuerzungen ausspeit. Das zeigt uns zur Genüge, dass der Kartograf von Hereford in der Absicht, die Welt zu kartografieren, in Wirklichkeit eine Karte von Erinnerungsorten gemalt hat, die sowohl biblische wie nicht biblische Stätten umfassen, die beide der Welt der Europäer jener Zeit einen Sinn verliehen. Im Mittelpunkt der Hereford-Karte ist ein anderer, mächtiger Erinnerungsort, den die europäischen Kartografen regelmäßig als Fundament wählten: die Heilige Stadt Jerusalem. Von diesem Angelpunkt aus entfaltet sich die Welt in drei ungleiche Teile, ein Erbe der Noah zugeschriebenen 19

TIMOTHY BROOK

Erdteile (man erkennt im Nordosten von Jerusalem die gestrandete Arche). Das Asien von Sem nimmt die obere Hälfte des Kreises ein; die untere Hälfte teilt sich auf der Ebene des Mittelmeers zwischen dem Afrika Hams und dem Europa Jafets – ein übliches, TO-Karte (Terrarum Orbis) genanntes Format, das damals als Gedächtnisstütze für eine umfassende biblische Kosmologie diente. Jerusalem war weniger ein christlicher Ort – ohne vom Mittelpunkt der christlichen Welt sprechen zu wollen – als ein christliches Gedächtnis. Während zwei Jahrhunderten haben die Kreuzfahrer vergeblich darum gekämpft, aus dieser Stadt das Zentrum des Christentums zu machen. Vielleicht hat die Erinnerung an diese ewige Hoffnung beziehungsweise dieses ewige Scheitern Richard von Haldingham und Lafford dazu ermuntert, die Welt unter diesem Blickwinkel zu zeichnen. Obwohl der Platz, den Jerusalem auf der TO-Karte einnimmt, um 1300 emblematisch war, nährte das wachsende Interesse am verlorenen Wissen älterer mediterraner Kulturen ein anderes Weltgedächtnis. Der griechische Theologe Maximos Planudes (um 1260–1310) befasste sich genau zu dieser Zeit mit den überlieferten Aufzeichnungen von Claudius Ptolemäus, einem in Kairo lebenden griechischen Geografen des 2. Jahrhunderts, um die Karte der drei Bereiche von Jafet, Ham und Sem zu zeichnen, wobei er dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean optisch die gleiche Bedeutung zumaß. Es handelte sich nicht mehr um die Weltsicht, die entlang einer Achse von den Heraklessäulen zum Garten Eden organisiert ist. Sie konnte sogar ohne Rekurs auf die Bibel bestehen, auch wenn Planudes nicht die Absicht hatte, das Bild der Welt zu säkularisieren. Die ptolemäische Weltkarte versuchte ebenfalls, eine Projektion, das heißt eine systematische Formel, zu entwickeln, die es erlaubte, die Erdkrümmung, wie man sie vom Weltraum aus hätte sehen können, darzustellen. Das konnte nur eine partielle Wiedergabe sein, da Planudes über keinerlei Information über die Teile der Kugel verfügte, die er nicht vor sich hatte. Indem er aber die Erdoberfläche jenseits unserer Sichtweite an ihrem Rand krümmte, fand er einen optischen Trick, um denen, die seine Karte betrachteten, zu zeigen, dass die Erde eine Kugel ist. Daran schlossen die Kartografen an, die alle neuen Informationen, die im 16. Jahrhundert von überallher eintrafen, in ihre Arbeit einbeziehen wollten, und nahmen den Kampf auf, um der Welt eine erkennbare Form zu geben. 20

DIE KARTOGRAFIERTE WELT

Wasser und Erde Um 1500 begannen die Reisen das Bild, das sich die Menschen von der Welt machten, zu verändern. Bis dahin haben die Weltkarten wie die von Hereford die Erde im Allgemeinen von Wasser umgeben abgebildet. Ab dem Ende des 15. Jahrhunderts haben die Seeleute angefangen, Karten vom Meer aus zu zeichnen und die Erde als Rand des nautischen Raums zu betrachten. Als sich diese Umkehrung zwischen Erde und Wasser vollzog, benötigten die Seefahrer präzisere Informationen, die eine ­völlig andere Sichtweise bezüglich des Raums erforderte. Richard von Haldingham und Lafford bemühte sich um das, was wir theologische Präzision nennen könnten: Er war auf der Suche nach einem Bild von der Welt, das in einer lesbaren Übersicht alle Erinnerungsorte der europäischen Kultur umfasst. Es handelte sich also nicht um dieselbe Art Präzision, die ein Seemann forderte, der wissen musste, wie man eine Küste ansteuert, ohne auf Grund zu laufen. Der Ozean ist ein Ort, dessen Positionen man keineswegs im Gedächtnis behalten kann, seien sie weit entfernt oder direkt vor dem Bug. Aber das Wasser hat den Vorteil der Beweglichkeit. Solange ein Seemann seine virtuelle Position definieren kann, indem er seinen Kompass konsultiert und die Distanzen misst, kann er sein Schiff als Aussichtsterrasse betrachten und sich zurechtfinden, indem er die von seinen Instrumenten gegebenen Informationen unter verschiedenen Blickwinkeln interpretiert. Durch ein Netz von Linien (die man Kompasslinien nennt), das bei konstantem Winkel von Punkten ausstrahlt, die sich auf einem weiten Kreis befinden (diese Linien wurden auf den Karten nach und nach in Form einer Windrose eingetragen), konnte er seine Position in Bezug auf alle Punkte an der Küste, die er sehen konnte, triangulieren. Das Ergebnis heißt Portolan. Um 1500 haben europäische und osmanische Seeleute die europäischen Küsten kartografiert und begonnen, den Atlantik zu befahren, um diesen zu kartografieren. Die 1513 vom türkischen Seemann Muhiddin Piri (1465/70–1553) erstellte Karte des Zentral- und Südatlantiks zeigt, mit welcher Präzision die Portolantechnik angewandt werden konnte, um vom gesamten Ozean ein einheitliches Bild zu geben.

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Die ganze Erde darstellen Wie die Hereford-Karte hielt die Piris kulturelle Erinnerungen fest, einerseits länger vergangene, andererseits jüngere. Man sieht darauf afrikanische Sultane auf dem Sultanssitz und Männer ohne Kopf mit Gesichtern auf der Höhe des Rumpfs, die alte Legenden exotischer und ferner Länder heraufbeschwören. Aber man sieht auch moderne Schiffe, die den Atlantik überqueren, und Dauen, die inmitten von Papageien in den Antillen segeln und so jüngere Erinnerungen aufbewahren. Die herausragende Leistung Piris verdeckt die wirkliche Herausforderung, der er sich gegenübersah: Es war rein materiell unmöglich, mehrere Portolane aneinanderzufügen, um ein vollständiges, ganz und gar exaktes Bild von der Welt zu erhalten. In der Tat, je mehr Küstenlinien man hinzufügt, umso dürftiger ist das Ergebnis. Das Problem kommt von der Kugelgestalt der Erde. Wie konnte ein Kartograf eine dreidimensionale Kugel in einem zweidimensionalen Format ohne schreckliche Verzerrung wiedergeben? Während des ganzen 16. Jahrhunderts rauften sich die europäischen Kartografen die Haare, um eine geometrische Lösung für dieses Problem zu finden. Die mappa mundi, die Martin Waldseemüller (um 1470–1520) 1507 präsentierte, war ein kühner Versuch. Planudes’ Rekonstruktion von Ptolemäus stellte nur die Hemisphäre mit Europa und dem Indischen Ozean dar, während Waldseemüller das Ziel verfolgte, die ganze Erde zu zeichnen, wie man sie von einem Fixpunkt im Weltall aus (mehr oder weniger oberhalb von Kairo) hätte sehen können, und zwar in einer gekrümmten Form, auf der er alle neuen Kenntnisse der Welt, die er besaß, abbilden würde. Von den zwölf Blättern, die man aneinanderlegen musste, um diese immense Wandkarte zusammenzustellen, gibt das mittlere Blatt der zweiten Spalte von links die vertrauten Konturen Europas und Nordafrikas wieder, die die Europäer sicher auswendig kannten, sodass es im Vergleich zu den anderen Blättern vielleicht unwichtig ist. Rechts davon erstreckte sich Asien, bevor es ebenso plötzlich wie der Kreis auf der Hereford-Karte abbricht. Weiter rechts finden sich verstreute Inseln in der westlichen Hälfte des Pazifischen Ozeans. Waldmüller hat den Pazifik am rechten Rand der Karte eingezeichnet, wo er an die unscharfen Silhouetten der zwei amerikanischen Kontinente angrenzt. Er hat diese Karte sechs Jahre, bevor ein Europäer tatsächlich den Ozean von seinem östlichen Ufer aus sah, 22

DIE KARTOGRAFIERTE WELT

als Vasco Núñez de Balboa (1475–1519) den Isthmus von Panama überquerte, gezeichnet. Anders gesagt, es war nicht die Welt, an die sich irgendjemand hätte erinnern können, es war die Welt der Zukunft. Wenn sich heute noch jemand daran erinnert, dann die Amerikaner, denn es handelt sich um die erste Karte, auf der der Name America aufscheint, auf dem linken unteren Blatt. Wenn die Karte Waldseemüllers das Problem, unbekannte Teile der Welt in ein bekanntes Ensemble zu integrieren, löste, so regelte sie nicht das Problem der Seefahrer, die eine zweidimensionale Karte benötigten, auf der sie die Seeroute eines Schiffs berechnen konnten. Dies war kein geringes Problem. Wenn man nämlich mithilfe eines Kompasses einer gleichbleibenden magnetischen Route folgt, wird das Schiff keine gerade Linie steuern, sondern eine Spirale, die entweder am Nordpol oder am Südpol ausläuft. Ausgenommen, dass man auf direkter Linie nach Westen, nach Osten, nach Norden oder Süden steuert, endet jede Route theoretisch an einem der Pole. Die Seeleute hatten verstanden, wie man die Küsten kartografiert, aber die neue Aufgabe überstieg ihre Möglichkeiten. Waldseemüller ging dieses Problem 1516 mit seiner carta marina an, auf der er die Welt in einem rechtwinkligen Koordinatensystem anordnete, sodass die Meridiane wie Breitengradlinien parallel zueinander verlaufen, während sie sich in Wirklichkeit krümmen und an den Polen zusammentreffen.

Die Projektion Mercators Der Versuch Waldseemüllers animierte eine ganze Generation von Kartografen, sein Modell zu revidieren und zu überarbeiten. Der Mann, der dieses Geometrieproblem zu lösen wusste, war Gerhard de Kremer, besser bekannt unter seinem latinisierten Namen Gerardus Mercator (1512– 1594). Das Geheimnis war nicht, jeden Ort auf der Karte in exakter Distanz zu einem anderen zu platzieren, wie es Piri versucht hatte, sondern ihn mit einer absoluten geometrischen Gesetzmäßigkeit im richtigen Winkel zu den anderen einzusetzen. Man hat diese Methode wie eine Projektion der Welt auf einen Zylinder dargestellt, den man dergestalt ausgerollt hätte, dass man ihn in Form eines Rechtecks flach hinlegen kann. Auf der Projektion Mercators konnte man die konstante Route eines Schiffs zwischen zwei Punkten als gerade Linie nachzeichnen, der man 23

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folgte, indem man den Schiffskurs auf einer bestimmten Kompassrichtung blockierte. Mercator blieb der Methode des Portolan treu, die darin bestand, auf die Wasserregionen seiner Weltkarte Windrosen und Kompasslinien zu zeichnen, als er sie zum ersten Mal in achtzehn Blättern 1569 drucken ließ, aber dies war nur mehr ein Element der Dekoration: eine Erinnerung an die Tradition des Portolan. Obwohl seine Projektion ebenso viele Deformationen wie die von Waldseemüller vorgeschlagene Adaptierung des Ptolemäus produziert hat, ist es die Wandweltkarte Mercators, an die wir uns heute erinnern.

Die Welt von ihren beiden Enden her kartografieren Wegen des damaligen Kenntnisstandes waren China und Amerika die Regionen, die die europäischen Kartografen am wenigsten genau darstellten. Ihre Form schüchterte die Kartografen noch jahrzehntelang ein, da niemand auch nur die geringste Erinnerung daran hatte. Um die ­beiden Amerikas zu zeichnen, fuhren die Europäer kartografierend die Küsten entlang und die Flüsse hinauf und stellten diese Kontinente zu­sehends besser dar. Für China, das dieser Art fremden Eindringens widerstand, fand man eine andere Lösung: chinesische Karten ausleihen. Die Jesuitenmissionare, die als Erste gegen Ende des 15. Jahrhunderts in China einreisten, erwarben chinesische Karten und stellten sie den Kaufleuten und den europäischen Staaten zur Verfügung, die erpicht darauf waren, in den ostasiatischen Gewässern Handel zu treiben. So kamen langsam chinesische Karten nach Europa und manche wurden sogar in europäischen Publikationen abgedruckt. Allerdings war es schwierig, sie auf den Raum bezogen zu interpretieren, und das nicht nur, weil niemand in Europa Chinesisch lesen konnte, sondern auch, weil niemand die chinesische kosmologische Geometrie verstand. Die Grundregel der chinesischen Kosmologie ist, dass der Himmel rund ist und die Erde quadratisch oder wenigstens rechteckig. So tendierten die chinesischen Kartografen dazu, die Konfigurationen der Erde, auch die Chinas, als Quadrate darzustellen, selbst wenn sie keinen rechten Winkel hatten. Da sie ihre Welt als Quadrat im Gedächtnis hatten, zeichneten sie sie so. Es handelt sich um ein durchaus bemerkenswertes Charakteristikum der Karten, die uns das China der Ming-Dynastie hinterlassen hat. Da sie sich nicht vorstellen konnten, dass sie die 24

DIE KARTOGRAFIERTE WELT

symbolische Darstellung Chinas außer Betracht lassen sollten, reproduzierten die europäischen Kartografen, was sie vor Augen hatten. Erstaunlicherweise war das Resultat – das man auf der Karte Chinae regnum in der Universalgeschichte Westindiens von Cornelius van Wytfliet aus dem Jahr 1607 sehen kann – nicht ein topografisch exaktes Bild, sondern eine chinesische Erinnerung an den Blickwinkel, unter dem das Land dar­ gestellt werden sollte. Als vollständigere maritime Informationen bezüglich der chinesischen Küste nach Europa gelangten, änderten die Kartografen ihre Darstellung Chinas und gaben ihm eine ovale Form, obwohl einige wie Samuel Purchas (um 1577–1626), englischer Chronist und Geograf, lauthals protestierten, dies sei ein Irrtum, und nachdrücklich behaupteten, dass die korrekte Konfiguration Chinas die der chinesischen Version sei. Die Beeinflussung machte sich auch in umgekehrter Richtung bemerkbar. Als die Jesuitenmissionare und die gewöhnlichen Reisenden sich über ganz Asien verbreiteten, brachten sie europäische Karten mit. Vor Ort übten diese Bilder Einfluss auf die lokale kartografische Praxis aus und brachten ein neues hybrides Bild der Welt hervor. Ebenso, wie die europäischen Kartenverleger wollten, dass ihre Leser ein Bild von der Welt einschließlich Chinas haben können, reproduzierten chinesische Herausgeber in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts europäische Karten, um die Neugier ihrer Leserschaft anzustacheln. Matteo Ricci (1552–1610), Missionsleiter in Peking, benutzte bewusst die Kartografie, um die Aufmerksamkeit zu wecken, indem er mehrere mappae mundi reproduzierte und sie sowohl an Freunde als auch an Verleger verteilte. Er ist insbesondere berühmt, weil er 1602 eine im 16. Jahrhundert gebräuchliche Variante des Werks von Mercator druckte, die unter dem Namen Pseudozylinderprojektion bekannt wurde, bei der sich die Meridiane in Richtung der Pole krümmen, um zu einem Kompromiss zwischen einem Quadrat und einem Kreis zu kommen. Auf dieser Karte und auf anderen trug er Sorge, die westliche und östliche Hemisphäre leicht zu verschieben, damit China – das er mit seinem dynastischen Namen Großer Ming-Staat bezeichnete – näher an der Stelle sei, an der die Chinesen es erwarteten. Das Ergebnis glich überhaupt nicht dem, was die Chinesen kannten. Einige waren interessiert, aber die meisten waren nicht überzeugt: Diese Karte erinnerte sie an nichts, was sie kannten – außer China und selbst dieses hatte nicht die richtige Form. 25

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Die chinesische Kartografie Eine vollständige Karte der Berge und der Meere der Erde (Shanhai yudi quantu) ist die erste Karte der Abteilung „Geographie“ des Illustrierten Abrisses der drei Mächte [des Himmels, der Erde und der Menschheit] (Sancai tuhui), einer zwischen Anfang 1607 und Ende 1609 abgeschlossenen Enzyklopädie. Diese Karte wurde in zwei halbe Holztafeln graviert, sodass sie sich, in ein Buch gebunden, auf zwei gegenüberliegenden Folianten öffnet. Sie hat die Form eines Kreises, eine archetypische europäische Konzeption; in China ist nur der Himmel rund. Das vom Herausgeber kopierte Original konnte nicht identifiziert werden, aber scheint auf der mappa mundi Waldseemüllers von 1507 zu basieren. Diese beiden Karten stimmen in vielen Punkten überein, darunter das Fehlen des indischen Subkontinents. Aber die Wiedergabe der beiden Amerika ist besonders frappierend. Die Form der Kontinente in den Drei Mächten ist der Interpretation Waldseemüllers besonders nahe – allerdings mit einigen signifikanten Ergänzungen. Am auffallendsten ist die Präsenz des Río de la Plata in Südamerika (von dem die Kartenlegende die wörtliche chinesische Übersetzung Yinhe, Silberfluss, angibt). Dies ist ein Fluss, den Ricci auf seiner mappa mundi besonders hervorhebt, da er mit den Silberminen von Potosí in Peru assoziiert wird. Das Silber wurde in Potosí abgebaut und auf dem Río de la Plata flussabwärts nach Osten, nach Europa transportiert und auf dem Landweg nach Westen bis zum Pazifik, dann wegen des Chinahandels bis nach Manila. Dies war damals der Motor des Welthandels, und der chinesische Kartograf hat ihn für wichtig genug gehalten, um ihn in seine Karte aufzunehmen. Während die Holzschneider der Drei Mächte diese Version einer europäischen Weltkarte zeichneten, reagierten andere Chinesen anders auf die europäische Kartografie. Die Selden-Karte ist in dieser Hinsicht einzigartig; sie trägt den Namen des Juristen und Orientalisten John Selden (1584– 1654), der sie der Bodleian Library in Oxford vermacht hat. Sie ist das Werk eines anonymen Kartografen, der sie wahrscheinlich für einen 1608 auf Java ansässigen chinesischen Kaufmann geschaffen hat. Diese große Seekarte, die eher dazu bestimmt war, öffentlich gezeigt zu werden als der Seefahrt zu dienen, stellt Ostasien dar, von Japan oben rechts bis nach Sumatra unten links. Die Darstellung Chinas ist einer populären lokalen Enzyklopädie von 1599 entnommen und war also dem chinesischen 26

DIE KARTOGRAFIERTE WELT

Betrachter bestens bekannt und für ihn von geringem Interesse. Die untere Hälfte der Karte, die die Küstengebiete und die Inseln des Südchinesischen Meers zeigt, weckt hingegen die Aufmerksamkeit. An seinen Grenzen und den Korridoren entlang, die von ihm ausgehen, sind in gestrichelten Linien, auf denen Kompassablesungen angezeigt sind, die Routen der Handelsschiffe abgebildet. Hier bricht die Selden-Karte mit den üblichen Regeln der Kartografie, nach denen die Karten immer andere Karten kopieren. Der Kartograf hat dem Einfluss des kulturellen Gedächtnisses standgehalten und ein Bild vorgelegt, dass das Gedächtnis der Handelsschifffahrt in den ostasiatischen Gewässern bewahrt, anstatt das politische Gedächtnis der einen oder anderen früheren chinesischen Karte wieder aufzugreifen. Er hatte – und sei es nur, um sich diese Möglichkeit auszudenken – wahrscheinlich eine europäische Portolankarte gesehen, bevor er die seine zeichnete, aber das Verdienst, intuitiv die Daten der Seerouten anschaulich zu machen, gebührt nur ihm. Wir kommen hier zu dem Punkt, an dem die verschiedenen Traditionen der europäischen und chinesischen Kartografie beginnen, ein gemeinsames optisches Bild der Welt zu entwickeln.

Erinnerungen an die Mongolen Die Selden-Karte stellt die Welt als ein Netz von Seerouten dar, in dem sich Erinnerungen an europäische und chinesische Darstellungen mischen. Kurioserweise ist eine der Erinnerungen, die der Selden-Kartograf festhält, Xanadu, die sagenhafte mongolische Hauptstadt, die Samuel Taylor Coleridge in seinem Gedicht Kubla Khan gefeiert hat. Auf der Selden-Karte findet sich Xanadu – Shangdu auf Chinesisch – in der Nordostecke Chinas, unterhalb der Großen Chinesischen Mauer. Dieser Ort sticht besonders deutlich hervor, weil seine Legende die Form einer doppelbauchigen Flasche anstatt des Kreises hat, den der Kartograf für alle anderen Ortsnamen verwendet. Kublai Khan ordnete 1256 den Bau dieser Stadt an, verließ sie aber neun Jahre später zugunsten von Khanbaliq, dem heutigen Peking. 1608 war Xanadu wahrscheinlich nur mehr ein Ruinenfeld, das kein chinesischer Reisender mehr besucht hätte. Indem sie ihr Gedächtnis bewahrt, verewigt diese Karte das jahrhundertealte Gedächtnis der mongolischen Eroberung Chinas. Martin Waldseemüller verfährt mit seiner carta marina auf ähnliche Weise. Wenn auch Xanadu nicht angegeben ist, so doch Peking. Die 27

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Quelle von Waldseemüller war Marco Polo, der mehrere Jahre an diesem Hof verbracht und Berichte darüber nach Europa mitgebracht hatte, wo sie die Leser um 1300 entdeckten – genau zu dem Zeitpunkt, als Richard von Haldingham und Lafford die Hereford-Karte zeichnete. Waldseemüller bezeichnet diese Stadt mit dem Namen Cambalu Metropolis (Stadt Khanbaliq). Sie wird von dem seltsamen Porträt des Großvaters von Kublai erdrückt, dem vor seiner Jurte Hof haltenden Dschingis Khan, dass sich links von ihr befindet. Seit der Zeit, als die Armeen von Dschingis Khan Europa bedroht hatten, waren drei Jahrhunderte vergangen, aber als Waldseemüller die leeren Räume Ostasiens, die seine neue pseudozylindrische Projektion ergeben hatte, füllen musste, zeichnete er Dschingis Khan und die Stadt, die dessen Enkel Kublai gegründet hatte – vielleicht, weil er nichts anderes zur Verfügung hatte, das er an diesem Ort platzieren konnte. Die Mongolen nahmen einen wichtigen Platz im europäischen Gedächtnis ein. Obwohl sie seit mehr als einem Jahrhundert aus China vertrieben worden waren, als Christoph Kolumbus in See stach, nahm er Die Beschreibung der Welt von Marco Polo mit, die er für die beste Informationsquelle über China ansah. Ist es nicht bemerkenswert, dass die beiden äußersten Enden des eurasischen Kontinents dasselbe Gedächtnis teilten? Vielleicht sollten die mongolischen Spuren auf diesen Karten denen, die sie sahen, die Weite und historische Tiefe der Welt in Erinnerung rufen. Als diese Art Kartografie zugunsten einer strikter mathematischen Wiedergabe der Welt zurückging, begannen diese Erinnerungen zu verblassen.

Der Globus Die Geografie, die die Grundlage der Weltkarten bildete, hat nicht nur zweidimensionale Karten produziert. Wenn sie auch eine horizontale Sicht der Welt erarbeiteten, stellten die europäischen Kartografen auch dreidimensionale Globen dar. Richard von Haldingham und Lafford sah keinen Gegensatz zwischen der runden Gestalt der Welt und dem flachen Grund, auf dem wir uns bewegen. Für Martin Waldseemüller und seine Generation handelte es sich um ein mathematisches Problem, das sie durch Weltkarten mit Kartenteilen oder Papierstreifen lösten. Diese Blätter konnten dann in Stücke geschnitten und auf eine Kugel aus Papiermaschee geklebt werden. Dass es gelang, einen dreidimensionalen 28

DIE KARTOGRAFIERTE WELT

Gegenstand herzustellen, den man anfertigen, den man aber mangels Vorläufer nicht wieder ins Gedächtnis rufen konnte, war eine bemerkenswerte Leistung. Dieser Globus hatte eine Form. die es erlaubte, etwas darzustellen, was man nach Meinung dieser Kartografen nie sehen würde. Dennoch setzte er sich schnell als die Darstellung unseres Planeten durch, die wir in Erinnerung behalten. Nachdem der Globus erfunden war, konnte uns das berühmte, 1972 vom Weltall aus gemachte Foto nichts mehr offenbaren. Es bestätigte nur, was wir schon wussten, nachdem wir unser Leben lang Weltkarten gesehen haben. Und doch hatte sich etwas verändert. Diese neue Version des Globus hat unser Gedächtnis nicht unbeschadet überstanden. „Keine Weltkarte ist einen Blick wert, wenn darauf das Land der Utopie nicht verzeichnet ist“, sagte Oscar Wilde. Auf dem wissenschaftlichen Globus wäre weder Platz für das Land der Utopie, den Garten Eden, die Säulen des Herakles noch für Khanbaliq oder Xanadu. Das Satellitenfoto hat der Illusion ein Ende bereitet, es gäbe noch Orte, an denen wir die Jurte von Dschingis Khan und die kopflosen Männer mit ihrem Gesicht auf der Brust von Muhiddin Piri entdecken oder auf andere Weise vor der Realität des begrenzten Raums unseres Planeten, den wir alle teilen müssen, flüchten könnten. Dieses alte Gedächtnis dessen, was die Welt enthalten könnte, musste zugunsten von dem, was sich dort wirklich findet, weggeräumt werden.

Literatur Timothy BROOK, Wie China nach Europa kam. Die unerhörte Karte des Mr. Selden, Berlin 2015. Jerry BROTTON, Die Geschichte der Welt in zwölf Karten, aus dem Englischen von ­Michael Müller, München 2014. J. B. HARLEY und David WOODWARD (Hg.), The History of Cartography, Chicago 1987. John HESSLER, Seeing the World Anew. The Radical Vision of Martin Waldseemüller’s 1507 & 1516 World Maps, Delray Beach 2012. Mark MONMONIER, Rhumb Lines and Map Wars. A Social History of the Mercator ­Projection, Chicago 2004.

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HERFRIED MÜNKLER

Die Aufteilung der Welt Bereits 1494, mit dem Vertrag von Tordesillas, zogen die europäischen Mächte Trennlinien über den Globus, um ihre Einflusszonen zu markieren. Diese und die folgenden Aufteilungen werden ihre Rivalitäten auf vier Jahrhunderte hinaus bestimmen.

Auf Karten lässt sich die Welt leicht aufteilen: Weltkarte aus Descripcion de las Indias Ocidentales (1601) des Autors Antonio de Herrera y Tordesillas.

DIE AUFTEILUNG DER WELT

Niall Ferguson hat sein dem Wettstreit der Zivilisationen gewidmetes Buch The West and the Rest mit der Frage begonnen, wie die Geschichte wohl verlaufen wäre, wenn nicht die Europäer, sondern die Chinesen die Rolle der Entdecker und Eroberer übernommen hätten. Eine wissenschaftlich seriöse Antwort auf diese Frage gibt es nicht, aber allein die Frage genügt, um bewusst zu machen, dass die globale Vorherrschaft der Europäer zwischen dem späten 15. und der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht selbstverständlich war: Eigentlich hatten die Chinesen im 15. Jahrhundert die sehr viel besseren Voraussetzungen zur Entdeckung und Eroberung der Welt. Eine gewaltige Flotte unter Admiral Zhèng Hé stieß bis weit in den Indischen Ozean vor und erreichte die ostafrikanische Küste. Aber dann ließen die Chinesen die Flotte verfallen, während die Europäer am gegenüberliegenden Ende der euroasiatischen Landmasse mit Entdeckungsfahrten und Eroberungen begannen. So wurden sie zu „Entdeckern“ und nicht zu „Entdeckten“. Portugiesen und Spanier hatten bei der Eroberung und Aufteilung der Welt eine Vorreiterrolle: Es waren der seemännische Wagemut und die nautischen Fähigkeiten der Portugiesen, die an der afrikanischen Westküste immer weiter vorstießen, bis ihnen die Umfahrung des afrikanischen Kontinents gelang, und es waren die gewalttätigen und goldgierigen spanischen Krieger, die zu Eroberern Mittel- und Südamerikas wurden und die dortigen Großreiche der Inka, Maya und Azteken zerschlugen. Spanisch (und zeitweilig auch Portugiesisch) wurden dadurch zu Weltsprachen. Vor allem die Spanier setzten einen kontinuierlichen Zufluss von Gold und Silber aus Lateinamerika nach Spanien in Gang, der zu einer wesentlichen Voraussetzung für die wirtschaftliche Vormachtstellung der Europäer wurde. Charakteristisch für die Europäer war, dass sie die Edelmetalle gänzlich anders als die indigenen Völker Amerikas gebrauchten: Weder thesaurierten sie diese noch nutzten sie Gold und Silber wesentlich zur Repräsentation ihrer Macht, sondern sie verwandelten sie in Zahlungsmittel, die den Austausch der Güter beschleunigten.

Globaler Handelswettbewerb Aber die Führungsrolle der beiden Mächte auf der Iberischen Halbinsel endete nach einem Jahrhundert und wurde von Niederländern und Eng31

HERFRIED MÜNKLER

ländern übernommen. Diese überzogen den Globus mit einem Netz von Handelsstationen und Stützpunkten und hielten die Kosten dieses Systems möglichst niedrig. Angeführt von Frankreich kamen weitere Mächte hinzu, die sich in das System des atlantischen (und pazifischen) Handels einschalteten – mit der Folge, dass die Konkurrenz der europäischen Mächte globale Dimensionen annahm. Um zu vermeiden, dass man permanent Krieg gegeneinander führte, wurde die Welt in Einflussgebiete und Kolonien aufgeteilt. Am Anfang dessen steht der Vertrag von Tordesillas vom 2. Juli 1494, in dem Papst Alexander VI., ein Spanier, die Welt in ein portugiesisches und ein spanisches Gebiet aufteilte. Das lief im Wesentlichen auf das Ziehen einer Demarkationslinie, einer Raya, 370 Meilen westlich der Kapverdischen Inseln hinaus und hatte die zu diesem Zeitpunkt nicht absehbare Folge, dass der östlichste Teil Südamerikas, Brasilien, portugiesisch wurde, während Mittelamerika und das restliche Südamerika an Spanien fiel. Der Grund für die zahlreichen Aufteilungsverträge zwischen den europäischen Mächten war: Die Mächtekonkurrenz im westlichen Teil Europas spiegelte sich so im globalen Rahmen wider. Verträge waren der eine Modus zur Vermeidung oder Begrenzung von Kriegen, die Freundschafslinien, lines of amity, waren der andere: Sie trennten „den Bereich des europäischen Friedens und Völkerrechts von einem überseeischen Raum der Friedlosigkeit und völkerrechtlichen Anarchie“.1 Diese lines of amity wurden relevant, als mit den Niederlanden und England protestantische Mächte im Prozess der Entdeckung und Eroberung an Bedeutung gewannen: Sie akzeptierten nicht den Papst als Schiedsinstanz, wie es Portugiesen und Spanier zuvor getan hatten, weswegen anstelle von Vertragsschlüssen große Gebiete abgesteckt wurden, in denen man in der Form eines Kaperkriegs um Raumkontrolle und Reichtum kämpfte. Das Prinzip einer Eindämmung der europäischen Mächtekonkurrenz durch die Festlegung von territorialer Vorherrschaft als Kriegsvermeidung ist bis zur Berliner Kongokonferenz von 1885 zu beobachten, die den Wettlauf um afrikanische Kolonien in eine geregelte Form brachte und den europäischen Mächten bestimmte Gebiete als ihren „Besitz“ zuwies. Die politische Landkarte Afrikas ist bis heute dadurch geprägt. 1 Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 184.

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DIE AUFTEILUNG DER WELT

Wie Europa, so die These von Eric Lionel Jones, durch die Konkurrenz der Mächte, die immer wieder in Kriegen ausgetragen wurde, zum dominanten Raum für die globale Ordnung wurde, so hat es sich durch diese Kriege auch wieder ruiniert und ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts unter den Weltmächten in eine nachgeordnete Position geraten.

Literatur Niall FERGUSON, Civilization. The West and the Rest, London 2011. Eric Lionel JONES, The European Miracle. Environments, Economics and Geopolitics in the History of Europe and Asia, Cambridge 1981. Herfried MÜNKLER, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005.

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ALESSANDRO BARBERO

Die Kontroverse um die Kreuzzüge Die Kreuzzüge, die in der abendländischen Kultur bald als heroische Expeditionen, bald als ein krimineller Wahnsinn angesehen wurden, versammelten Christen aus Frankreich, Flandern, Italien, dem Heiligen Römischen Reich und England zur Eroberung Jerusalems und eines weitläufigen Gebiets im Mittleren Orient. Sie sind immer noch die Quelle stark divergierender Gedächtnisse zwischen den Bewohnern des heutigen Europas.

Kaiser Franz Joseph als Schirmherr der Kreuzritter: Mosaik in der Kapelle des Österreichischen Pilger-Hospizes zur Heiligen Familie in Jerusalem.

DIE KONTROVERSE UM DIE KREUZZÜGE

Am 18. März 2011 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Beschwerde der italienischen Staatsbürgerin finnischer Herkunft Soile Lautsi, die die Entfernung des Kruzifixes aus den Klassenräumen ihrer Kinder verlangte, zurückgewiesen. Die Affäre hat Aufsehen erregt, weil der Gerichtshof zwei Jahre zuvor ihren Antrag in erster Instanz für zulässig erklärt und Italien zur Begleichung einer Geldstrafe verurteilt hatte. Derartige Fälle sind in manchen europäischen Ländern wie Italien, Spanien und der Schweiz häufig und verursachen in der Öffentlichkeit leidenschaftliche Stellungnahmen zugunsten des Kruzifixes in den Schulen. Über den Appell an die nationale Identität hinaus lautet das am häufigsten wiederkehrende Argument, das Kreuz sei ein universelles Symbol der Toleranz und Liebe und könne folglich niemanden kränken.

Das Kreuz: ein spaltendes Symbol In Wirklichkeit hat das Symbol des Kreuzes immer tief gespalten. Die Tatsache, dass Jesus zur Kreuzigung verurteilt worden war, nährte lange Zeit hindurch das Misstrauen der römischen Behörden gegenüber den Christen, die schuldig waren, weil sie einem Führer folgten, der offenkundig ein Verbrecher gewesen war. Die Christen selbst waren sich dessen so sehr bewusst, dass in den ersten Jahrhunderten das Kreuz in der Ikonografie sehr selten war: Seine Behauptung als universelles Symbol des Christentums begann recht zögerlich in der Zeit Konstantins, als die christliche Religion nicht mehr verfolgt wurde. Die symbolische Nutzung des Kruzifixes bezeugt ab dem Mittelalter, dass Jesus und das Kreuz nunmehr in enger Symbiose gedacht wurden, aber nur von den Christen. Für die Muslime, die in Jesus einen großen Propheten verehren, ist die Vorstellung seines Todes auf dem Kreuz so abstoßend, dass in der islamischen Lehre der Sohn Marias der Folter entgeht und lebendig in den Himmel auffährt. Folglich sind die Muslime, die ihre Kinder in die Schulen katholischer Länder schicken, durchaus konsequent, wenn sie einerseits die Erinnerung an Jesus hochhalten und andererseits die Zurschaustellung des Kruzifixes als Gotteslästerung empfinden. Ab 1095 nahmen die christlichen Pilger auf dem Weg nach Jerusalem die Gewohnheit an, ein Kreuz auf ihre Kleider zu nähen. Papst Urban II. hatte die Gläubigen zu einer neuartigen Pilgerfahrt aufgerufen und das Symbol, das sie wählten, nahm unzweifelhaft kriegerische Konnotationen 35

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an. Es drückte die Absicht der crucesignati aus, um jeden Preis ans Ziel zu gelangen, und war ein Symbol der Eroberung. Nach der Einnahme von Jerusalem im Jahr 1099 errichteten die Pilger ein Kreuz auf dem Felsendom, das Saladin schleunigst entfernen ließ, als er viele Jahre später die Heilige Stadt zurückeroberte. Im 15. Jahrhundert bestürzte die Erinnerung an diese Profanierung den ägyptischen Chronisten Ibn Taghribirdi noch immer: „Das Verbotene ist zulässig geworden, das Kreuz ist im Mihrab aufgestellt worden. Jetzt wäre es gerecht, es mit Schweineblut zu bedecken.“

Der Kreuzzug: ein moderner Begriff Unsere Geschichtslehrbücher bezeichnen das von Urban II. im Jahr 1095 ausgedachte Unterfangen als den Ersten Kreuzzug. Damals nannte ihn niemand so. Diejenigen, die aufbrachen, fühlten sich als Pilger und wurden auch so genannt. Der Begriff „Kreuzfahrer“ für diejenigen, die ein Kreuz als Signum auf ihre Kleider genäht hatten, hat sich in den Vulgärsprachen vermutlich rasch durchgesetzt. Die mittelalterliche Kultur war empfänglich für visuelle Symbole, vielleicht mehr noch als die unsrige, und das Kreuz wurde rasch zu einem sehr populären Logo. Doch niemand machte sich die Mühe, ihrer Fahrt und ihrem Krieg einen Namen zu geben. Kaum war Jerusalem erobert, verkündeten die crucesignati in dem Heiligen Land ein Königreich, um dessen Krone sich ihre Anführer sofort stritten. Zwischendurch musste weitergekämpft werden, weil die Muslime ringsum nur danach strebten, die Ungläubigen ins Meer zurückzutreiben und die Heilige Stadt zurückzuerobern. Die christlichen Freiwilligen trafen weiterhin mit ihrem Kreuz auf den Kleidern ein, aber nunmehr verstreut. Erst ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1145, rief Papst Eugen III. erneut die Gläubigen auf, sich zu bewaffnen und massenweise aufzubrechen, weil er über die Siege besorgt war, die Imad ad-Din Zengi, der Emir von Mossul, davongetragen hatte. Das nennen unsere Lehrbücher den Zweiten Kreuzzug, aber auch hier verwendeten die Zeitgenossen diesen Ausdruck nicht. Die Freiwilligen, die sich auf den Weg machten, wurden in den Liedern immer noch „die Pilger“ genannt. Im 12. und 13. Jahrhundert kam es zu immer häufigeren Hilfsexpeditionen und es erschien nützlich, ein spezifisches Wort für das zu finden, was letztlich ein eigenständiges, anders geartetes und häufig vorkom36

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mendes Phänomen war. Die Vorstellung, dass der Papst im Notfall die Gläubigen zum Krieg gegen die Feinde Gottes und der Kirche Roms aufrief, hatte in die Mentalitäten Eingang gefunden. Diejenigen, die aufbrachen, wussten nun, dass sie ein Anrecht nicht nur auf geistlichen Ablass hatten, sondern auch auf konkrete rechtliche und steuerliche Privilegien. Bald beschränkte der Papst seine Aufrufe nicht mehr auf die Verteidigung des Heiligen Landes, sondern benutzte sie auch für die Ausbreitung des Christentums in Osteuropa, den Kampf gegen die Ketzer und sogar die Konflikte mit den christlichen Königen, die seine Weisungen anfochten. Doch für das Volk wie auch für uns heute waren die Kreuzzüge vor allem Expeditionen über das Mittelmeer hinaus. In der christlichen Vorstellungswelt mischte sich der Wunsch, die Pilgerfahrt nach Jerusalem zu unternehmen, um Christus am Tag des Jüngsten Gerichts sagen zu können, „ich bin zu dir gekommen“, sowie die Lust, es mit den perfiden Ungläubigen aufzunehmen, mit dem Traum von einer neuen Welt, einer Grenze, hinter der die ganze Welt neu geboren werden konnte: Das Heilige Land oder vielmehr das „Outremer“, wie man damals sagte, war der Wilde Westen unserer Vorfahren im Mittelalter. Deshalb gibt es ein Vokabular, das immer die Vorstellung der Fahrt betonte. In den offiziellen, auf Latein verfassten Dokumenten sind die häufigsten Begriffe Passagium generale oder iter Hierosolymitanum. Im Französischen, der gemeinsamen Sprache der französischen, englischen und normannischen Ritter und damit der auf den Kreuzfahrten am meisten gesprochenen, hieß es le saint veage oder le pelerinage de la croiz. Wann also bezeichnete man sie als Kreuzfahrten? Sehr spät und indirekt. Am Beginn des 13. Jahrhunderts sieht man in den vulgärsprachlichen Quellen Begriffe wie crozada oder croiserie auftauchen, die allerdings in der offiziellen Sprache der Verwaltung und der Kultur, im Lateinischen, keine Entsprechungen hatten. Der Begriff cruciata verbreitete sich zwischen dem 13. und dem 14. Jahrhundert, bezog sich aber lange Zeit nur auf die Steuern, deren Erhebung der Papst erlaubte, um die Expeditionen zu finanzieren. Das ist noch mitten im 16. Jahrhundert die Bedeutung von cruzada in dem Land, das damals in dem permanenten Krieg gegen die Muslime am aktivsten war, nämlich im Spanien des katholischen Königs. Das ist laut dem Oxford English Dictionary auch der Sinn von crusade, das ursprünglich croisade geschrieben wurde, als das Wort Ende des 16. Jahrhunderts im Englischen auftauchte. Seine 37

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derzeitige Schreibweise wurde erst im 18. Jahrhundert fixiert, als alle europäischen Sprachen den Begriff im heutigen Sinn übernahmen. Wie so oft im Beruf des Historikers kann man ein Ereignis oder eine historische Phase erst dann benennen und konzeptualisieren, wenn es oder sie zu Ende sind. Am Beginn des 18. Jahrhunderts, als die letzten Manifestationen der Kreuzfahrergesinnung verschwanden, fingen die Historiker an, sie zu zählen und gelangten so zu der Zahl, die heute üblicherweise in den Lehrbüchern steht, nämlich neun.

Eine neue Idee: der Heilige Krieg Aber waren sich in diesem Fall die Zeitgenossen dessen bewusst, dass die Predigten von Urban II. und die Eroberung von Jerusalem der Anfang eines neuen Zeitalters waren? Man ist versucht, die Frage mit einem Nein zu beantworten. Die Initiative des Papstes schrieb sich in einen Kontext ein, in dem sich der Konflikt mit der muslimischen Welt seit Langem radikalisiert hatte. In Spanien war die Reconquista bereits fortgeschritten und der permanente Krieg an der frontera zog die Blicke Europas auf sich. Im Orient bedrohte der türkische Vormarsch die letzte christliche Macht an diesem fernen Horizont, nämlich das Byzantinische Reich. 1071 gewann Sultan Alp Arslan die Schlacht bei Manzikert und nahm den Kaiser Romanos IV. Diogenes gefangen. Ausbrüche der Intoleranz, die christliche Gemeinschaften und ausländische Pilger im Heiligen Land heimsuchten, hatten sich nun seit Generationen wiederholt. Bereits 1009 hatte der verrückte Kalif al-Hakim die Grabeskirche abreißen lassen, die allerdings auf Kosten des byzantinischen Kaisers sofort wiedererrichtet wurde. Das Eingreifen des Papstes eröffnete tatsächlich ein neues Zeitalter. Ein Zeitgenosse, der Mönch Guibert von Nogent, der Verfasser einer der wichtigsten Chroniken dessen, was wir den Ersten Kreuzzug nennen, stellte fest, Gott „instituit nostro tempore praelia sancta“ – „hat in unserer Zeit die Heiligen Kriege eingeführt“.1 Guibert von Nogent besaß die Gabe der prägnanten Formulierungen, wie aus dem Titel seiner berühmt gewordenen Chronik hervorgeht: Gesta Dei per Francos (Gottes Taten durch die Franken). Doch über die Formulierung hinaus rührte er an 1 Guibert de Nogent, Gesta Dei per Francos, in: Recueil des historiens des croisades, Historiens occidentaux, Bd. IV, Paris 1879, S. 124.

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einen wesentlichen Punkt: Bis dahin konnte in der christlichen Welt von einem gerechten Krieg die Rede sein, aber nie von einem Heiligen Krieg. Und selbst dieses Konzept eines gerechten Krieges hatte sich nur mit Mühe durchgesetzt: Unter den ersten Märtyrern befanden sich Militärs, die die Folter in der Überzeugung über sich ergehen ließen, dass ein Christ nicht zu den Waffen greifen könne. Erst im 5. Jahrhundert gelangte Augustinus zu der Schlussfolgerung, die in Ermangelung von etwas Besserem auch heute noch gültig ist. „Man führt Krieg, um den Frieden zu erhalten.“2 Doch während des ganzen Frühmittelalters erlegte die Kirche dem Krieger, der im Kampf getötet hatte, eine Buße auf, und zwar selbst dann, wenn dies in einem gerechten Krieg unter dem Befehl eines christlichen Herrschers geschah. Alles änderte sich mit der Pilgerfahrt der Jahre 1095–1099. Als Urban II. allen denen, die aufbrachen, die Vergebung ihrer Sünden garantierte, dachte er sicherlich nicht, dass er die immer schon dem Klerus zustehenden Befugnisse überschritt: Doch die crucesignati begriffen, dass derjenige, der im Namen des Kreuzes tötete, keine Sünde beging. Er erfüllte ganz im Gegenteil den Willen Gottes. Zwei Generationen später war auch der gebildetste Klerus davon überzeugt. Bernhard von Clairvaux, der große Propagandist des Zweiten Kreuzzugs, schrieb in seinem Lob der Tempelritter: „Die Ritter Christi kämpfen in voller Sicherheit die Kämpfe ihres Herrn, ohne zu fürchten zu sündigen, wenn sie Feinde töten, und ohne irgendeine Gefahr zu laufen, wenn sie umkommen: denn der für Christus erhaltende oder gegebene Tod hat nichts von einer Sünde an sich und sichert sogar einen großen Ruhm.“3 Das war nun wirklich ein Heiliger Krieg, in dem man den Märtyrerruhm sowohl gewann, wenn man tötete, als auch, wenn man getötet wurde.

Die lange Dauer des Kreuzzugs In den Geschichtslehrbüchern endet die Zeit der Kreuzzüge mit dem Fall von Akkon, der letzten christlichen Stadt im Heiligen Land, im Jahr 1291. Bis zu diesem Datum finden wir es normal, dass die Päpste und die 2 Augustinus, Brief 189, § 6, in: M. Poujoulat und M. l’abbé Raulx (Hg.), Œuvres complètes de saint Augustin, aus dem Lateinischen übersetzt von M. Pouloujat, Bar-le-Duc 1864, 3 Bde., Bd. 2, S. 527. 3 Bernhard von Clairvaux, Buch an die Tempelritter – Lob der neuen Ritterschaft, III, 4.

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Könige wie besessen sind von der Idee, Jerusalem zu verteidigen und zurückzuerobern, nachdem die Stadt 1187 in Saladins Hände gefallen war. Wir wundern uns nicht, dass Kaiser Friedrich I., genannt Rotbart, mit fast 70 Jahren einen Kreuzzug unternommen hat, um dann Tausende Kilometer von dem Reich entfernt, das er 38 Jahre lang regiert hatte, in einem Fluss in Kleinasien zu ertrinken. Wir akzeptieren es als eine normale Tatsache, dass Ludwig IX., der Heilige, sein Königreich Frankreich zu Fuß durchquert hat, um sich in Aigues-Mortes einzuschiffen und an der Spitze eines Heers, von dem nur wenige zurückkehrten, in Ägypten einzumarschieren; und dass er es trotz dieses Desasters 20 Jahre danach noch einmal versucht hat, wobei er diesmal – immer noch auf der Suche nach einer Bresche in der Verteidigung der muslimischen Welt – in Tunesien einmarschierte. Und wenn wir bei Jean de Joinville lesen, dass die Ankündigung des vom König ausgesprochenen Gelübdes beim zweiten Mal keine Begeisterung auslöste, sondern nur Entmutigung und nur wenige Lehensleute bereit waren, ihm zu folgen, dann sagen wir uns eventuell, dass die Zeit der Kreuzzüge wirklich zu Ende ging und der Tod des Königs, der im Lager der Kreuzfahrer an einer Seuche starb, die gerechte Grabinschrift für eine zu Ende gegangene historische Phase ist. Wir finden uns schwerer mit dem Gedanken ab, dass die Kreuzzüge keineswegs im Jahr 1291 endeten. Steven Spielberg hatte Spaß mit seinem Film Indiana Jones und der letzte Kreuzzug, aber die Zeitgenossen wussten nicht, was wir hingegen wissen, nämlich dass Jerusalem von den christlichen Mächten nie wieder erobert werden würde, zumindest nicht bis 1917, als General Edmund Allenby dort einmarschierte – „Jerusalem is Rescued by British after 673 Years of Moslem Rule“, lautete die triumphierende Schlagzeile des New York Herald. In Wirklichkeit wurden weiterhin Kreuzzüge unternommen, meistens gegen die entstehende Macht des Islam, das Osmanische Reich, und dies trotz einer beinahe ununterbrochenen Reihe von Niederlagen – von Nikopolis im Jahr 1396 bis zu Warna im Jahr 1444. Die Vorstellung, dass es die Pflicht der Christen sei, Jerusalem zurückzuerobern, blieb in allen Köpfen, mochten sich nun auch die politischen Horizonte ändern und neue kulturelle Welten abzeichnen, als die Zivilisation des Mittelalters ihren Höhepunkt erreichte, den wir Renaissance nennen. Der Kreuzzug gehört zu den Obsessionen der großen Mystiker, die im 14. und 15. Jahrhundert eine neue, nun weibliche Form verkörpern, die 40

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Religiosität zu verstehen. In der Zeit des Großen Schismas schrieb Katharina von Siena dem Papst und den Kardinälen und wiederholte unermüdlich, dass die Christen den Frieden brauchten, um nach Jerusalem zu fahren. In der Zeit des Hundertjährigen Kriegs wollte Jeanne d’Arc die Engländer aus Frankreich vertreiben, damit König Karl VII. sich endlich auf seine größte Pflicht, den Kreuzzug, konzentrieren könne. Der Humanismus entstand mit dem Wunsch, es den Menschen der Antike gleichzutun, und Francesco Petrarca forderte die Christen auf, sich in den Kreuzzügen zu engagieren wie die Griechen in den Perserkriegen. Am Hof von Burgund gelobte man den Aufbruch ins Heilige Land im Verlauf von prunkvollen Ritterfestmählern, die Johan Huizinga im Herbst des Mittelalters als Schwanengesang einer Zivilisation beschrieben hat. In eben diesen Jahren steckte Enea Silvio Piccolomini, der Vertreter der modernsten und anscheinend zynischsten humanistischen Kultur, der spätere Papst Pius II., seine ganze Energie in die Organisation des Kreuzzugs. Er starb im Hafen von Ancona, wo er auf die Flotte wartete, die nach Jerusalem auslaufen sollte. Inquisitoren wie Tomás de Torquemada erwogen den Kreuzzug genauso wie christliche Humanisten wie Marsilio Ficino und man versteht auch manche Meisterwerke von Piero della Francesca wie beispielsweise die Geißelung Christi in Urbino nicht, wenn man übersieht, dass dahinter der Traum von der Rückeroberung Jerusalems steht.

Diejenigen, die nicht einverstanden waren Die andersdenkenden Stimmen waren erstaunlich selten. Erasmus von Rotterdam betonte gern, dass die Christen seiner Zeit schlimmer als die Türken und die von den christlichen Fürsten gegen den Sultan geführten Kriege nicht immer vorbildlich seien. Doch, wenn sich die christliche Welt endlich regenerieren könnte, dann würde es sich wirklich lohnen, meint auch Erasmus, allesamt nach Jerusalem aufzubrechen. Drei Jahrhunderte zuvor war Franz von Assisi noch weiter gegangen: Er hatte das Lager der Kreuzfahrer erreicht, die Damiette belagerten, um jedoch unbewaffnet vor den Sultan und dessen Gelehrte hinzutreten, um mit ihnen zu debattieren. Als Mann seiner Zeit war er natürlich überzeugt, dass wir recht und sie unrecht hatten, wie es in den Heldenliedern hieß, die Franz so sehr liebte. Aber seine Initiative bedeutete, dass man sie mit dem Wort und nicht mit dem Schwert bekehren müsse. Kaiser Friedrich II. dachte 41

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das auf seine Weise ebenfalls, er, der, vom Papst gezwungen, ins Heilige Land aufbrach, mit Sultan al-Kamil (eben dem, der Franz von Assisi höflich wieder weggeschickt und als „heiligen Mann“ bezeichnet hatte) sofort in Verhandlungen eintrat und erreichte, dass Jerusalem zur offenen Stadt unter christlicher Verwaltung erklärt wurde. Doch Friedrich  II. und al-Kamil wurden öffentlich ge-schmäht, weil sie es gewagt hatten, ein Abkommen abzuschließen. Die Mehrheit der Öffentlichkeit sowohl in der Christenheit als auch in der muslimischen Welt verlangte von ihren Herrschern etwas anderes. Mit einem Wort: Die kritischen Stimmen waren immer in der Minderheit. In Spanien konnte deshalb auch Johannes von Segovia (um 1395 – 1458), Doktor der Universität Salamanca und Übersetzer des Korans, erklären, dass es zwar den Muslimen gestattet sei, den Dschihad einzusetzen, die Christen jedoch einen anderen Weg aufzeigen und ein einseitiges Friedensangebot aussprechen sollten, gefolgt von einer Konferenz der Weisen. Doch die katholischen Könige waren mit dem Erfolg der Reconquista zu sehr beschäftigt, um ihm Gehör zu schenken. Granada, die letzte muslimische Stadt, fiel 1492, in dem verhängnisvollen Jahr, in dem die Juden aus Spanien vertrieben wurden und Christoph Kolumbus mit dem Traum in See stach, mit Schätzen beladen aus Indien zurückzukehren, um eine weitere Expedition ins Heilige Land zu finanzieren. Halten wir fest, dass es keine Kreuzzüge gegen die indigenen Bevölkerungen Amerikas gegeben hat. Denn die Kirche verfügte fast sofort, dass die Indios Menschen seien, die Rechte besaßen und nicht daran schuld waren, wenn sie keine Christen waren (die Bulle Veritas ipsa von Papst Paul III., 1537). Man darf nicht vergessen, dass die Christenheit schon an zwei Fronten mobilisiert war, im Mittelmeer und auf dem Balkan, gegen das Osmanische Reich, diesen imponierenden Feind, während eine dritte, von der Reformation eröffnete Front sie im Inneren zerriss: Das waren schon Kreuzzüge genug.

Kreuzzüge und Dschihad Und welchen Krieg führte der Feind? Die Muslime hatten keine klare Vorstellung von den Beweggründen ihrer Gegner. Sie kannten das Wort „Kreuzzug“ nicht, das erst im 19.  Jahrhundert ins Arabische übersetzt wurde, und dachten, dass die ungläubigen Barbaren zusätzlich zu ihrer natürlichen Gottlosigkeit vor allem von der Habgier und der Eroberungs42

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lust angetrieben wurden, was die islamische Welt jedoch nicht daran hinderte, die Konfrontation als einen religiösen Konflikt zu empfinden. Als eine politisch gespaltene Gemeinschaft mit Entsetzen entdeckte, dass der Feind in das Herz von Dar al-Islam eingedrungen war, reagierten der Kalif von Bagdad und der seldschukische Sultan und riefen die Gläubigen zum Dschihad auf. So hat sich in unserer Kultur eine Parallele zwischen den Kreuzzügen und dem Dschihad unter dem gemeinsamen Vorzeichen des Heiligen Kriegs durchgesetzt. Gewiss ist der Dschihad fi sabillilah, „die Bemühung auf dem Weg Gottes“, den die Theologen den „kleinen Dschihad“ nennen, um ihn von der Bemühung um Selbstkontrolle und innere Reinigung oder dem „großen Dschihad“ zu unterscheiden, ein Krieg gegen die Feinde des Glaubens unter der Ägide des Gottes der Heerscharen. Doch in der islamischen Kultur gleicht die legalistische Debatte über den Dschihad eher der christlichen und abendländischen Debatte über den gerechten Krieg als der Verherrlichung des Heiligen Krieges, die die Zeit der Kreuzzüge kennzeichnet. Die Parallele ist legitimer, wenn man sich auf die emotionale Auswirkung bezieht, die die Verkündigung des Dschihad auf die Gläubigen haben konnte und heute noch haben kann. Aus diesem Grund und weniger aus einem plötzlichen Wechsel zum Begriff des Heiligen Krieges haben die muslimischen Herrscher in der letztlich siegreichen Bemühung, die Ungläubigen ins Meer zurückzutreiben, die Verkündigung des Dschihad eingesetzt. In der Zeit der Kreuzzüge merkten die muslimischen Intellektuellen, dass diese neue Popularität des Dschihad ein Merkmal ihrer Zeit war. Am Beginn des 12.  Jahrhunderts verfasste der syrische Prediger al-Sulami ein Buch des Dschihad, in dem er bedauerte, dass nach der glorreichen Zeit der „wohlgelenkten Kalife“, der ersten Nachfolger des Propheten, denen man die großen Eroberungen verdankte, die Verpflichtung, für den Glauben zu kämpfen, in Vergessenheit geraten sei. Erst die fränkische Aggression habe sie wiederbelebt. Dieser Ansatz unterschied sich sehr von demjenigen, der die derzeitige Rückkehr des Dschihad kennzeichnet: Die Notwendigkeit, den Feind zu besiegen, wurde als Mittel gesehen, ein wichtigeres Ziel zu erreichen, nämlich das Erwachen und die moralische Erneuerung der muslimischen Welt. Die faulen und korrupten islamischen Herrscher waren genauso und vielleicht noch mehr die Zielscheibe der Moralisten als die ausländischen Feinde. 43

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Aus dieser Sicht hielt der von den Kreuzzügen ausgelöste Effekt an. Die osmanischen Sultane begingen nicht den Fehler, den Dschihad zu vernachlässigen und setzten ihn weiterhin ein, um der Öffentlichkeit zu beweisen, dass sie ihre Pflicht nicht vergessen hatten, wobei sie in der Bevölkerung das Gefühl nährten, dass hinter den Grenzen des gut geschützten Bereichs – die man als die der Umma, der weltweiten islamischen Gemeinschaft, hinstellte – perfide und gefährliche Feinde lebten, die immer bereit waren, zum Angriff überzugehen. Vom 14. bis zum 18. Jahrhundert kopierte und zitierte man ununterbrochen die mittelalterlichen Chroniken, während die muslimischen Historiker die Geschichte der Kriege gegen die Franken schrieben sowie ihre Helden von Saladin bis hin zu Baibars I. idealisierten und die Öffentlichkeit im Mittleren Orient fürchtete, die Aggression werde sich wiederholen. Im Jahr 1701, als in Europa die ersten Geschichtslehrbücher herauskamen, in denen die Kreuzzüge als ein Wahn dargestellt wurden, der für das ferne und barbarische Mittelalter typisch sei, widersetzten sich die Honoratioren von Jerusalem dem Besuch des französischen Konsuls von Konstantinopel, der die Heilige Stadt besuchen wollte, und flehten den Sultan an, ihm die Erlaubnis nicht zu erteilen, weil sie wussten, dass ihre Stadt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Ungläubigen stand und sie deshalb befürchteten, diese könnten die Stadt erneut besetzen, wie dies in der Vergangenheit so oft der Fall gewesen war.

Die Aktualität des Kreuzzugs im 16. und 17. Jahrhundert Diese Honoratioren waren nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt: Bis in die jüngere Vergangenheit hat die Erinnerung an die Kreuzzüge wie eine lebendige Kraft im christlichen Europa agiert. Die Tatsache, dass die religiösen Beweggründe mit den politischen Gründen verschmelzen und die Aufrufe zum Heiligen Krieg immer öfter die Verteidigung nationaler Interessen kaschieren, erscheint uns als ein Indiz dafür, dass die authentische Kreuzzugsgesinnung verloren gegangen ist. Wir glauben jedoch zu Unrecht, dass wir entscheiden können, was authentisch ist. Für die Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts war die Koexistenz dieser Beweggründe völlig normal. Martin Luther, der am Anfang die Expansion des Osmanischen Reichs als eine göttliche Strafe für die Sünden der Christen gesehen und deshalb vorgeschlagen hatte, sich ihr nicht zu 44

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widersetzen, änderte seine Meinung in der Zeit der ersten Belagerung von Wien im Jahr 1529 und beschloss, man müsse gegen die Türken Krieg führen, um Deutschland und die Christenheit zu verteidigen. Philipp II., der Rey Católico, vertrat die imperialen Interessen Spaniens, als er den Papst um die Erlaubnis für die cruzada, die Finanzierung des Heiligen Kriegs, bat und die Galeerenflotte entsandte, die dann mit den venezianischen Schiffen 1571 die Schlacht von Lepanto gewann. In Frankreich publizierte der Gelehrte Jacques Bongars 1611 seine Geschichte der Kreuzzüge und übernahm den Titel Gesta Dei per Francos von Guibert von Nogent. Nach ihm bemühte sich dann die französische Geschichtsschreibung um den Nachweis, dass das Epos der Kreuzzüge ein hochgradig französischer Ruhmestitel sei. Doch für die Habsburger, die 1683 Wien noch einmal gegen die Türken verteidigten, hieß der Kampf an vorderster Front auch, dass sie dergestalt dem Heiligen Römischen Reich, wenn auch um einen immer höheren Preis, eine Vorrangstellung unter den christlichen Mächten sicherten. Der Krieg gegen die Türken und die Erinnerung an die mittelalterlichen Kreuzzüge überlagerten sich. Alle hatten übrigens das Gedicht Das befreite Jerusalem von Torquato Tasso gelesen, ein richtiggehendes Kultbuch im Barock, dessen Erfolg den Mythos des Kreuzzugs den nachfolgenden Generationen vermittelte. Indem der italienische Dichter das unauflösliche Band zwischen Rittertum und Kreuzzug bestätigte, schuf er eine kulturelle Bezugnahme von großer Tragweite in einer Zeit, in der die europäische Gesellschaft von einem Blutadel dominiert wurde, der vom mittelalterlichen Rittertum abzustammen behauptete und dessen Werte übernommen hatte.

Die Aufklärung als Zwischenspiel: die Kreuzzüge zwischen ­Horror und Lächerlichkeit Plötzlich brach der Konsens zusammen. Im Europa der Philosophen verkündeten die intellektuell einflussreichsten Stimmen eine Enormität: Die Kreuzzüge seien ein Wahn gewesen, eine Sinnlosigkeit und ein Verbrechen, ein Beweis für den Abgrund, in den der Aberglauben, der Fanatismus und die Ignoranz den Menschen des Mittelalters gestürzt hatten und in den sie auch den modernen Menschen verbannen konnten, wenn dieser nicht lernte, der Vernunft zu folgen. In seiner Histoire des croisades, deren erste, 1750 erschienene Fassung später mitsamt Ergänzungen in 45

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den Essai sur les mœurs et l’esprit des nations eingefügt wurde, erklärte Voltaire mit Verachtung, Palästina sei nur eine wertlose „kleine Provinz“, unnützer als die Schweiz, und die Idee, angetrieben vom religiösen Glauben massenweise zu ihrer Eroberung aufzubrechen, „eine seuchenartige Raserei, die damals zum ersten Mal auftrat, damit es keine mögliche Geißel mehr gebe, die die Menschheit nicht heimgesucht hat“.4 Der von Denis Diderot verfasste und 1754 erschienene Eintrag „croisade“ in der Encyclopédie wunderte sich, dass es eine Zeit „ausreichend tiefer Finsternis und ausreichend großer Benommenheit bei den Völkern und bei den Herrschern über ihre wahren Interessen gegeben habe, um einen Teil der Welt in einen unglücklichen kleinen Landstrich zu treiben, um dort den Bewohnern die Kehle durchzuschneiden und sich einer Felsenspitze zu bemächtigen, die keinen Blutstropfen wert war“. Diderot rechnete aus, dass die Kreuzzüge Europa zwei Millionen Männer, die nach Asien aufgebrochen und nie wieder zurückgekehrt seien, gekostet hat. Die Zahl gefiel, wurde von den nachfolgenden Historikern aufgegriffen und zirkuliert in einer vereinfachten Fassung, nach der die Kreuzzüge zwei Millionen Tote verursacht hätten, auch heute noch im Internet. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals wurde in den historiografischen Schriften der Intellektuellen der schottischen Aufklärung der gleiche Ton angeschlagen. In seiner History of England (1754–1762) vertrat David Hume die Auffassung, dass die Kreuzzüge ein fesselndes Thema seien, weil sie „das außerordentlichste und dauerhafteste Denkmal des menschlichen Irrsinns“5 darstellten. In dieser Zeit trat die von den Zeitgenossen kaum erwähnte und weitgehend legendäre Person von Peter dem Einsiedler als wahrem Förderer des Kreuzzugs in den Vordergrund. Wenn, wie Voltaire schrieb, „dieser Pikarde, der aus Amiens aufbrach, um nach Arabien zu wallfahren, der Grund dafür war, dass sich das Abendland gegen das Morgenland bewaffnete und Millionen Europäer in Asien umkamen“,6 dann schien die These, der zufolge die Geschichte der Kreuzzüge und ganz allgemein die Geschichte der Menschheit nur eine Abfolge von Sinn­losigkeiten sei, weitgehend bewiesen.

4 Voltaire, Essai sur les mœurs et l’esprit des nations, in: Œuvres complètes, Paris 1838, Bd. 3, Kap. 54, S. 196. 5 David Hume, History of England, 6 Bde., London 1754–1762. 6 Voltaire, Essai sur les mœurs et l’esprit des nations, a. a. O., S. 193.

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Peter der Einsiedler mochte ein irrer Fanatiker sein, aber auch die anderen Akteure der Kreuzzüge von Urban II. über Richard Löwenherz und Ludwig IX. bis hin zu Gottfried von Bouillon wurden im Jahrhundert der Vernunft sehr wenig bewundert. Man sah in ihnen entweder machiavellistische und berechnende Köpfe, beutegierige Banditen oder Naivlinge, die ihr wahres Interesse ignorierten und ihre Völker opferten „gegen die verrückte Hoffnung, ein zweitausend Meilen von ihrem Land entferntes steinernes Grab zu erwerben oder zu bewahren“, wie Edward Gibbon im letzten Band seiner History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1788) schrieb. Den Horror der Kreuzzüge zu betonen oder sie lächerlich zu machen, war nicht der beste Weg, ihre historische Komplexität zu verstehen. Diese Parteinahme konnte hingegen zu einem nie da gewesenen Respekt für die Beweggründe des anderen Lagers führen. Voltaire hatte zwar 1736 eine Tragödie mit dem Titel Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète verfasst, in der er Mohammed die schlimmsten Verbrechen zuschrieb. Doch, wie er später zugab, hatte er diese andere Zielscheibe nur gewählt, um den katholischen Fanatismus aufs Korn zu nehmen, und er hatte keineswegs die Absicht, den Islam und dessen Propheten anzugreifen: „Wenn sein Buch für unsere Zeit und für uns schlecht ist, so war es recht gut für seine Zeitgenossen und seine Religion noch besser. Man muss zugeben, dass er fast ganz Asien von der Götzenverehrung abgebracht hat.“ Doch die Zensur ließ sich nicht so leicht täuschen und Mahomet le Prophète wurde nach der dritten Aufführung verboten. Es ist paradox, wenn auch durchaus verständlich, dass im Jahr 2005 mitten in der Polemik über die Karikaturen des Propheten, die eine dänische Zeitung veröffentlicht hatte, gewalttätige Versuche stattfanden, die Vorstellungen von Voltaires Tragödie in einem französischen Theater zu verhindern.

Die Wiederkehr der Kreuzzüge: Romantik und Kolonialismus Die Ironie der Aufklärung war jedoch nicht von Dauer. In der Zeit der Französischen Revolution scheuten die Aufständischen in der Vendée und die Sanfedisti des Königreichs Neapel nicht davor zurück, sich stolz auf die Kreuzzüge zu beziehen, und forderten im Namen des Kreuzes und des Heiligen Herzens Jesu die Ausrottung der Feinde des Glaubens. Etwa zur gleichen Zeit veröffentlichte François-René de Chateaubriand das 47

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Génie du christianisme (1802), in dem er die Helden der Kreuzzüge und ihre Opfer- und Abenteuerbereitschaft pries. Kurz danach besuchte er Jerusalem, verbeugte sich vor dem Grab von Gottfried von Bouillon und fühlte sich als der letzte Erbe der Kreuzfahrer – der französischen Kreuzfahrer, wie er tunlichst präzisierte. Der romantische Geschmack rehabilitierte das mittelalterliche Rittertum und begeisterte sich für diese von einem Ideal beseelten Krieger, die überdies gleichsam maßgeschnitten waren, um das neue Bedürfnis nach Nationalhelden zu befriedigen. In England entstand der Mythos von Richard Löwenherz, der auch schon von Gibbon mit Nachsicht betrachtet und in den Romanen von Walter Scott für immer verklärt wurde: Die Populärliteratur, die im 19. Jahrhundert so beliebte Historienmalerei, die Jugendliteratur, der Film und das Fernsehen haben nie aufgehört ihn zu feiern. Ein weiterer Beweis dafür, dass sich die Zeiten geändert hatten, liegt auch darin, dass das Institut de France 1806 einen Preis für einen Essay ausschrieb, der den Einfluss der Kreuzzüge auf die Zivilisation, den Fortschritt und die Freiheit in Europa aufzuzeigen vermochte. Ein Rest von aufklärerischem Rationalismus legte nahe, dass dieser Einfluss unfreiwillig gewesen sei und die Beweggründe der Anstifter alles andere als vernünftig; doch darauf sollte es nicht ankommen. Der Sieger des Wettbewerbs, ein deutscher Gelehrter, bewies, dass Voltaire nichts begriffen hatte und die Folgen der Kreuzzüge ausschlaggebend gewesen waren: Sie hatten der feudalen Anarchie ein Ende bereitet und die Wiedergeburt des Staates verursacht, das Aufblühen der bürgerlichen Zivilisation, den Niedergang des Papsttums und sogar die Entstehung des dritten Standes.7 Der Imperialismus entdeckte daraufhin bald noch direktere Gründe für die Rehabilitierung der Kreuzzüge. Napoleon Bonaparte selbst scheint dieses Thema auf seinem Ägyptenfeldzug nicht verwendet zu haben, doch die Presse bezog sich während des griechischen Aufstandes 1821, der französischen Eroberung von Algier 1830 und selbst während des Krimkriegs 1854 begeistert darauf. Diesmal waren die Türken unsere Verbündeten, aber die Russen konnten sehr gut als Feinde Gottes herhalten, und zwar so sehr, dass dem Krieg in England eine nationale Fastenzeit voranging und man in Frankreich ein episches Gedicht mit dem Titel La Croisade de Sébastopol mit Napoleon III. in der Rolle des neuen kreuz7 A. H. L. Heeren, Essai sur l’influence des croisades, Paris 1808, S. 278–291.

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fahrenden Kaisers verfasste. Ab diesem Zeitpunkt erwähnten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Prediger, die Künstler und die Presse bei jeder neuen Etappe des europäischen Vordringens auf dem Balkan, in Afrika und im Mittleren Orient die Erinnerung an die Kreuzzüge: als Frankreich sich zum Beschützer der Maroniten im Libanon aufwarf, als Ferdinand de Lesseps den Sueskanal eröffnete, als der Berliner Kongress die Grenzen der orthodoxen Länder auf dem Balkan zum Nachteil des Osmanischen Reichs neu festlegte und als Gordon Pascha in Khartum im Kampf gegen den Mahdi starb. Kurz: Die Kreuzzüge waren zum positiven Vorzeichen dieses großen wohltätigen Elans hin zum menschlichen Fortschritt geworden, als den die Menschen des 19. Jahrhunderts den Kolonialismus sahen. In seiner Histoire des croisades (1829) malt sich Joseph-François Michaud den Sieg der Kreuzfahrer aus und scheute nicht davor zurück, zu schreiben: „Ägypten, Syrien, Griechenland [sic] wurden zu christlichen Kolonien, die Völker des Morgenlands und des Abendlands marschierten gemeinsam auf die Zivilisation zu.“8 Louis-Philippe I. schuf 1843 in Versailles die Säle der Kreuzzüge, geschmückt mit den Wappen adliger französischer Familien, die an den Fahrten teilgenommen hatten. Sich einen Vorfahren unter den Kreuzfahrern zugutehalten zu können, war für eine europäische Aristokratie, deren Ursprünge gewöhnlich viel jüngeren Datums waren, zu einem sehr wichtigen Statussymbol geworden. Dieser Kontext nährte unter anderem einen großen Handel mit gefälschten Papieren und Wappen, der zur allgemeinen Betroffenheit oft erst im 20. Jahrhundert aufgedeckt wurde. Das Ende des 19. Jahrhunderts sah mit an, wie in dem Wettlauf um die Kolonien und die Wiederentdeckung der Kreuzzüge ein neuer Konkurrent auf den Plan trat: Deutschland. Deutsche Archäologen gruben in Tyros auf der Suche nach dem Grab von Barbarossa und Kaiser Wilhelm  II. unternahm eine berühmte Reise nach Jerusalem und Damaskus, wobei er sich als Nachfolger der kreuzfahrenden Herrscher präsentierte. Die englische Presse verhöhnte ihn als „Cook’s Crusader“, aber gleichzeitig wurde in England Onward Christian Soldiers zu einer der populärsten religiösen Hymnen. Auch die Encyclopædia Britannica begeisterte sich in ihrer Ausgabe von 1910 an der Erinnerung an die Kreuzfahrer und 8 Joseph-François Michaud, Histoire des croisades, Bd. VI, Paris 1829, S. 175.

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behauptete: „Die Menschheit hat sich um die Erinnerung an diese Millionen Menschen bereichert, die in der gesicherten Hoffnung auf eine ewige Belohnung der Kolonne aus Rauch und Feuer folgten.“ Kaum vier Jahre danach brach der Erste Weltkrieg aus.

Weltkriege und Kreuzzüge In einem derartigen Klima ist es nicht verwunderlich, dass die Bezugnahme auf die Kreuzzüge ab 1914 die Presse, die Reden und die Propagandaplakate überflutete. Die Deutschen setzten sie weniger als die anderen ein, hatten sie doch ihre osmanischen Verbündeten aufgerufen, den Dschihad zu verkünden. Wer sich der Koalition der kolonialen Großmächte Frankreich und England widersetzte, war unweigerlich versucht, mit dem islamischen Irredentismus zu flirten, und es ist kein Zufall, dass Kaiser Wilhelm II. auf seiner berühmten Orientreise sich vor dem Grab von Saladin verneigte. (Später organisierte Benito Mussolini, der die indigene Bevölkerung Libyens von seiner Ehrfurcht gegenüber dem Propheten überzeugen wollte, eine Inszenierung, in der ihm ein berberischer Anführer feierlich das überreichte, was man als das Schwert des Islam ausgab, das jedoch in Wirklichkeit direkt aus einer Werkstatt in Florenz kam; 1940 hatte der Duce vor, es im zurückeroberten Alexandrien hochzuhalten). In England hingegen gab es 1914 eine nie da gewesene Identifizierung mit den Kreuzzügen, die von einer klug eingesetzten Propaganda gespeist wurde und im kollektiven Unbewussten agierte. In der Schlacht von Antiochia im Jahr 1097 hatten die Kreuzfahrer geglaubt, der heilige Georg habe ihnen an der Spitze einer Truppe himmlischer Ritter beigestanden, und 1915 ging in England das Gerücht um, in der Schlacht bei Mons hätten die Engel selbst an der Seite der tommies eingegriffen. Zahllose Pfarrpredigten und Zeitungsartikel verbreiteten die Neuigkeit im ganzen Land wie eine bezeugte Tatsache, obwohl der Schriftsteller Arthur Machen, der diese Psychose gänzlich unfreiwillig mit einer Fiktion ausgelöst hatte, allen, die es hören wollten, bestätigte, dass er alles erfunden hatte. In keinem anderen Land nahm die kollektive Hysterie ein solches Ausmaß an und danach fand man keine Episode mehr, die sich mit der Legende der Engel von Mons vergleichen ließe. Am Ende des Krieges 50

DIE KONTROVERSE UM DIE KREUZZÜGE

reduzierte sich in den demokratischen Ländern die Verwendung des Wortes „Kreuzzüge“ auf einen rein sprachlichen Ausdruck, der allerdings unvorhergesehene Reaktionenen hervorrufen konnte. Doch zwischen den Kriegen gab es auf der Welt nicht nur parlamentarische Demokratien. Neue, linke oder rechte Regime suchten eine Sprache, mit der sie ihre Propaganda verstärken konnten: Der Öffentlichkeit musste man neue Feinde präsentieren. Jedes Mal, wenn ein rechter Diktator mit den Waffen in der Hand den Kommunismus bekämpfte, rückte die Bezugnahme auf den Kreuzzug auf den Plakaten und in den Schlagzeilen der Zeitungen automatisch wieder in den Vordergrund. Einen von der Kirche abgesegneten Kreuzzug führte etwa der „Caudillo“ Francisco Franco gegen die republikanische Regierung, die in einer Lüge als Emanation der „Roten“ hingestellt wurde, und ein Kreuzzug war auch der Einmarsch Adolf Hitlers in die Sowjetunion, der nicht zufällig den Namen des berühmtesten deutschen Kreuzfahrers erhalten hatte: Operation Barbarossa.

Die Kreuzfahrer gefallen nicht allen Im Westen hat die seit mehr als einem Jahrhundert anhaltende neue Begeisterung dem Kreuzfahrer zweifelsohne das Bild eines positiven Helden verliehen. Doch in anderen Kulturen konnte dieses Bild ein anderes Vorzeichen annehmen. In der Sowjetunion von 1938 rückte der Film Alexander Newski von Sergei Eisenstein die Deutschordensritter und den Klerus, der deren Banner mit den den Nazifahnen so ähnlichen schwarzen Kreuzen segnete, in ein negatives Licht. Vor allem in der vom Kolonialismus unterdrückten muslimischen Welt konnte der Widerstand gegen die Besatzer in einen Aufruf zum Dschihad gegen die neuen Kreuzfahrer übersetzt werden. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts, als man die ersten modernen Werke über die Geschichte der Kreuzzüge auf Arabisch publizierte, tauchte das Wort „Kreuzzug“, ein Neologismus, in der arabischen Sprache auf. Die charismatischen Anführer im Kampf gegen den Kolonisator wie Abd el-Kader in Algerien und Umar al-Muchtar in Libyen bezogen sich auf den Dschihad. Kaum war der Staat Israel geboren, wurde er in der arabischen Welt mit den Kreuzfahrerstaaten verglichen und die französisch-englische Aggression gegen Ägypten in der Zeit der Sueskrise (1956) rief die Erinnerung an den Dritten, von 51

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eben diesen Ländern geführten Kreuzzug wach. Laizistische Diktatoren wie Gamal Abdel Nasser, Hafiz al-Assad oder Saddam Hussein verglichen sich gern mit Saladin und offenbarten damit ihre Beeinflussung durch den Okzident, der dessen Statur anerkannt hatte. Die Bronzestatue von Saladin, die 1992 in der Altstadt von Damaskus errichtet wurde, erinnert unweigerlich an die Statue von Richard Löwenherz vor Westminster, an die Ludwigs IX. vor der Basilika Sacré-Cœur oder an die von Gottfried von Bouillon – anscheinend ein Belgier – auf der Place Royale in Brüssel. Doch die Araber sind nicht die Einzigen, die den Aufruf zum Kampf gegen die Kreuzfahrer vernahmen. Der Türke Mehmet Ali Agˇca, der 1981 einen gescheiterten Anschlag auf Papst Johannes Paul  II. begangen hatte, erklärte, er habe den Anführer der Kreuzfahrer töten wollen. Anlässlich seiner Reise in die Türkei im Jahr 2010 wurde auch Benedikt XVI. beschuldigt, einen Kreuzzug vorzubereiten. Mit der Ausbreitung des Konflikts zwischen dem Westen unter der Führung der Amerikaner und dem islamischen Fundamentalismus sind die impliziten Zweideutigkeiten in dieser entgegengesetzten Wahrnehmung des Erbes der Kreuzzüge wieder äußerst folgenreich in Erscheinung getreten. General Dwight D. Eisenhower, der Kommandant der alliierten Streitkräfte in Europa während des Zweiten Weltkriegs und spätere Präsident der Vereinigten Staaten, betitelte seine Kriegsmemoiren Crusade in Europe, ohne dass dies irgendjemand kritisierte. Es kann sein, dass George W. Bush nichts anderes getan hat, als ein banales Syntagma aufzugreifen, als er nach den Attentaten vom 11. September 2001 erklärt hat, es sei an der Zeit, einen Kreuzzug gegen den Terrorismus zu beginnen. Doch es war ein Glücksfall für Osama Bin Laden, in den Erklärungen des amerikanischen Präsidenten die Bestätigung zu finden, dass der Islam die x-te Wiederverkörperung desselben barbarischen Feindes vor sich hatte, den er schon einmal besiegt hatte und der ständig bereit war, von Neuem anzugreifen. Mit einer ebenso sarkastischen wie professoralen Präzision verglich der Anführer von al-Qaida Bush mit Richard Löwenherz und dessen europäische Verbündete mit Friedrich Barbarossa und Ludwig IX. Seither ist der Spott über die neuen Kreuzfahrer und der Aufruf, sie noch einmal vom islamischen Boden zu vertreiben, in allen Reden der Fundamentalisten gang und gäbe. Kurz: Die Kreuzzüge sind nicht mehr eine geteilte, wenn auch von Epoche zu Epoche wechselnde Erinnerung. Ein noch junger Jacques Le 52

DIE KONTROVERSE UM DIE KREUZZÜGE

Goff konnte 1964 über ihre defizitäre Bilanz scherzen und sagen, die einzige Frucht, die Europa von den Kreuzzügen zurückgebracht habe, sei die Aprikose. Ein halbes Jahrhundert danach muss man zugeben, dass jede Bilanz einer Expedition zu zweit erstellt wird und die Kreuzzüge unserer Zeit eine vergiftete Frucht hinterlassen haben.

Literatur Franco CARDINI, Studi sulla storia e sull’idea di crociata, Rom 1993. Tommaso di CARPEGNA FALCONIERI, Medioevo militante. La politica di oggi alle prese con barbari e crociati, Turin 2011. Paul M. COBB, The Race for Paradise. An Islamic History of the Crusades, Oxford 2014. Alphonse DUPRONT, Le mythe de croisade, Paris 1997. Carole HILLENBRAND, The Crusades. Islamic Perspectives, Edinburgh 1999. Bruce HOLSINGER, Neomedievalism, Neoconservatism, and the War on Terror, Chicago 2007. Paul ROUSSET, La Croisade. Histoire d’une idéologie, Lausanne 1983. Elizabeth SIBERRY, The New Crusaders. Images of the Crusades in the 19th and Early 20th Centuries, Aldershot 2000. Christopher TYERMAN, The Invention of the Crusades, London 1998.

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Der Kaufmann und der Intellektuelle: Marco Polo und Matteo Ricci Der eine ist in Europa ein populärer Held, der andere ist so gut wie unbekannt, obwohl er die jesuitische Mission in China begründet hat. In China dagegen werden die zwei Italiener gleichermaßen als die beiden ersten europäischen Bewunderer des Reichs der Mitte betrachtet.

Der italienische Jesuit Matteo Ricci (links) und der chinesische Mathematiker Xu Guangqi auf einem Bild aus Athanasius Kirchers China Illustrata (1667).

DER KAUFMANN UND DER INTELLEKTUELLE: MARCO POLO UND MATTEO RICCI

Während Marco Polo (1254–1324) bis heute fest im populären kulturellen Gedächtnis Europas verankert ist, wie sich nicht zuletzt an zahlreichen Spielfilmen und Fernsehserien zeigt, die ihn und seine Reisen nach China feiern, ist Matteo Ricci (1552–1610) vorwiegend im kulturellen Gedächtnis der europäischen Missions- und Wissenschaftsgeschichte gegenwärtig. Im kulturellen Gedächtnis Chinas nimmt der in Peking beigesetzte Matteo Ricci dagegen einen nicht minder bedeutenden Platz als Marco Polo ein. Auf dem im Jahr 2000 in Peking eröffneten Millenniumsdenkmal sind beide als Vertreter eines auf wechselseitiger Anerkennung beruhenden Austauschs zwischen China und Europa abgebildet. Marco Polos und Matteo Riccis Platz in der europäischen Erinnerungskultur unterscheiden sich dagegen deutlich. Zwar werden beide zu runden Geburts- und Todestagen mit wissenschaftlichen Kolloquien und Ausstellungen geehrt – zum Beispiel die 750-Jahr-Feier von Marco Polos Geburt 2004 und das 400-Jahr-Gedenken zu Matteo Riccis Tod 2010 – und beide sind nach wie vor Gegenstand intensiver Forschungen, aber im populären kulturellen Gedächtnis hat Matteo Ricci kaum einen Platz, woran auch die Benennung eines Mondkraters nach ihm nichts ändern kann. Bis weit ins 19. Jahrhundert galten beide jedoch als die wichtigsten Vermittler von Kenntnissen über die chinesische Kultur in Europa. Marco Polo und Matteo Ricci trennen mehr als 300 Jahre, aber sie gleichen sich darin, dass sie viele Jahre in China lebten und der chinesischen Zivilisation, von deren kulturellen Leistungen sie überaus beeindruckt waren, höchste Anerkennung zollten. Freilich waren es unterschiedliche chinesische Kulturen, die sie betrachteten: Während Marco Polo das China unter der mongolischen Yuan-Dynastie (1279–1368) pries, erwies Matteo Ricci dem China der Ming-Dynastie (1368–1644) höchsten Respekt. Auch verkörperten sie unterschiedliche Sichtweisen: Der Sohn eines venezianischen Fernhandelskaufmanns interessierte sich vor allem für Handel, Währungen, Steuern und die Herrschaft des mongolischen Großkhans als Grundlage gesellschaftlichen Reichtums. Dagegen betrachtete der jesuitische Missionar die chinesische Kultur und insbesondere den Konfuzianismus als Anknüpfungspunkt für die christliche Mission. Dazu musste er sehr viel tiefer in die Grundlagen der chinesischen Kultur eindringen als sein mittelalterlicher Vorläufer. Im kulturellen Gedächtnis der Chinesen sind beide bis heute gleichermaßen als diejenigen verankert, die China 55

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als Erste die ihm gebührende Anerkennung zollten und dies in ihren Schriften nach Europa vermittelten. Anders als im populären kulturellen Gedächtnis Europas genießt Matteo Ricci im wissenschaftlich-kulturellen Gedächtnis uneingeschränkte Anerkennung, während Marco Polos Glaubwürdigkeit in den letzten Jahrzehnten verschiedentlich angezweifelt worden ist. Das gipfelte 1996 in der These der britischen Sinologin Frances Wood, Marco Polo sei nie in China gewesen. Diese These konnte sie zwar nicht plausibel belegen und in der Fachwissenschaft ist sie gründlich widerlegt worden, aber von den Medien wurde sie begierig aufgegriffen und ist seither in der Welt. Die zuvor schon verbreitete These, im 14. Jahrhundert habe Marco Polo keine Glaubwürdigkeit genossen, weil sein Wissen die mittelalterlichen Europäer überfordert habe, wird schon dadurch widerlegt, dass sein Bericht ins Lateinische und in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt worden ist. Marco Polos Bericht galt als exklusive Wissensvermittlung aus eigener Augenzeugenschaft. In der damit verbundenen Anerkennung zeigt sich ein Interesse sowohl an den Reichtümern des Ostens als auch am Wissen über den Osten als Element von Elitenrepräsentation. Auch das Interesse an der Mission spielte eine erhebliche Rolle, weshalb der Dominikaner Francesco Pipino da Bologna Marco Polos Le Devisament dou monde, das im Toskanischen unter dem Namen Il milione verbreitet wurde, nach 1307 unter dem Titel Liber de consuetudinibus et conditionibus orientalium regionum ins Lateinische übersetzte. Diese lateinische Übersetzung ebnete Marco Polo als einem der wenigen mittelalterlichen Autoren den Weg in die Frühe Neuzeit, denn durch ihre Lektüre wurde Christoph Kolumbus inspiriert, den Seeweg zu den Westindischen Inseln und insbesondere nach Zipangu (Japan) zu suchen. Sie hatte Marco Polo als östlich von Cathay gelegen und nicht dem Reich des Großkhans zugehörig, aber immens reich beschrieben. Dass das Cathay Marco Polos mit China identisch war, versuchte schließlich Matteo Ricci in seinen kartografischen Forschungen zu belegen.

Die Akkommodationsmethode 1514 entdeckten die Portugiesen tatsächlich den Seeweg nach China, aber das China, auf das sie trafen, war ein ganz anderes als das von Marco Polo beschriebene. Während die Mongolen der Yuan-Dynastie 56

DER KAUFMANN UND DER INTELLEKTUELLE: MARCO POLO UND MATTEO RICCI

Ausländer, insbesondere Händler, entgegenkommend behandelten, weil sie den Handel als eine der Stützen ihres Reiches begriffen und Fremde gern in die Verwaltung ihres Riesenreichs integrierten, hatte sich China seit der Ming-Dynastie abgeschottet und stand Fremden äußerst misstrauisch gegenüber. Die im Gefolge der Portugiesen nach China gelangenden Missionare, zu denen auch Matteo Ricci gehörte, entwickelten deswegen die Methode der Akkommodation, die eine genaue Kenntnis der chinesischen Kultur erforderlich machte, was ohne Kenntnis der chinesischen Sprache unmöglich war. Missionare wie Matteo Ricci, aber auch Adam Schall von Bell (1592–1666), versuchten, sich der chinesischen Kultur anzupassen, indem sie zum einen als Mathematiker, Astronomen oder Kartenzeichner in China begehrtes Wissen vermittelten und zum anderen an spezifische Elemente der chinesischen Kultur wie den Konfuzianismus anknüpften, um einer chinesischen Elite das Christentum näherzubringen. Gleichzeitig wollten sie die Europäer von den kulturellen Errungenschaften der Chinesen überzeugen. Die Abhandlungen Matteo Riccis über China (De Christiana Expeditione apud Sinas, Augsburg 1615) vermittelten den Europäern des 17. und 18. Jahrhunderts das Bild einer chinesischen Kultur, die der europäischen ebenbürtig, wenn nicht überlegen war. Riccis wie auch Schalls Berichte lösten in Europa eine Chinabegeisterung aus, die vom Ende des 17. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts reichte. Insbesondere Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) betrachtete das konfuzianische China als Vorbild für das nach dem Dreißigjährigen Krieg konfessionell zerrissene Europa. Intensiver noch orientierte sich die Philosophie der Aufklärung an der von Matteo Ricci beschriebenen konfuzianischen Ethik. Christian Wolff (1679–1754) erklärte sie in seiner Schrift De Sinarum Philosophiae (1740) zum Beleg dafür, dass eine anspruchsvolle und funktionierende Ethik ohne Religion denkbar sei, was durchaus im Gegensatz zu Riccis Überzeugungen stand. Wolffs China-Begeisterung wurde von Voltaire in seinem Essai sur les moeurs et l’esprit des nations (1756) noch übertroffen, der China als das Vorbild für ein auf Vernunft gegründetes Staatswesen erkennen zu können meinte. In der Entwicklung der Mission gab es allerdings einen Bruch in der Wahrnehmung Matteo Riccis. Die 1715 erlassene päpstliche Bulle Ex illa die untersagte den jesuitischen Missionaren die Teilnahme am chinesi57

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schen Staatsritus, der von konservativen Theologen als Götzendienst gebrandmarkt wurde. Riccis Missionsmodell der Akkommodation war damit in der katholischen Kirche gescheitert. Als Reaktion darauf verbot Kaiser Kangxi 1717 jede weitere christliche Mission in China. Erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts setzte unter Johannes Paul II. eine Rückbesinnung auf die von ihm entwickelten Missionsmethoden ein, die über die Verehrung Riccis in seiner Heimatdiözese Macerata deutlich hinausgeht. Unter Papst Franziskus, dem ersten Jesuiten auf dem Stuhl Petri, wird diese Position noch energischer vertreten.

Die besondere Nachkommenschaft Marco Polos Während die Erinnerung an Matteo Ricci damit erst in den letzten Jahren zumindest in den kirchlichen Kreisen eine gewisse Renaissance erlebt, firmiert Marco Polo in Europa wie in den USA als Namensgeber von Flughäfen, Reiseunternehmen, Reiseführern, Hotels, Restaurants und zahlreichen einzelnen Produkten von Nudeln bis Schuhen. Seit 2009 zelebriert New York jährlich ein Marco-Polo-Festival, das den kulturellen Beitrag der italienischen und chinesischen zur amerikanischen Kultur und die Verbindung der italienischen und chinesischen Migrantencommunitys von Little Italy und Chinatown feiern soll. Bedeutender noch als solche Festivals für das populärkulturelle Gedächtnis sind europäische Romane wie Italo Calvinos Le città invisibili von 1972 sowie eine ganze Reihe amerikanischer und europäischer Filme und Fernseh­ serien, in denen Marco Polo als Held und Abenteurer einen festen Platz einnimmt – The Adventures of Marco Polo, USA 1938; Marco Polo, Frankreich/Italien 1961; La fabuleuse aventure de Marco Polo, Frankreich 1965; Marco Polo; vierteiliger Fernsehfilm, Italien 1982; Marco Polo, USA 2006, Marco Polo, Webserie auf Netflix, zwei Staffeln, 20 Folgen, 2014. Das von ihnen entfaltete Marco-Polo-Bild eines Abenteurers, der in Kriege, Intrigen und Amouren verwickelt ist, entspricht in keiner Weise dem, was sein Bericht mitteilt. Marco Polo spricht nicht über sich, sondern über die großartige Herrschaft Khublai Khans und die Reich­ tümer des Ostens. Das insbesondere an Letzterem orientierte Interesse der Europäer führte dazu, dass nicht der jesuitische Missionar, sondern der venezianische Kaufmann das europäische Imaginäre des Fernen Ostens entzündete. 58

DER KAUFMANN UND DER INTELLEKTUELLE: MARCO POLO UND MATTEO RICCI

Literatur Vito AVARELLO, L’Œuvre italienne de Matteo Ricci. Anatomie d’une rencontre chinoise, Paris 2014. Michela FONTANA, Matteo Ricci. Un gesuita alla corte dei Ming, Mailand 2008. Simon GAUNT, Marco Polo’s „Le Devisement du monde“. Narrative Voice, Language and Diversity, Cambridge 2013. John LARNER, Marco Polo and the Discovery of the World, New Haven/London 1999. Marina MÜNKLER, Marco Polo. Leben und Legende, München 2015. Ronnie PO-CHIA HSIA, A Jesuit in the Forbidden City. Matteo Ricci, 1552–1610, Oxford 2010. Folker E. REICHERT, Columbus und Marco Polo – Asien in Amerika. Zur Literaturgeschichte der Entdeckungen, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 15, 1988, S. 1–63. Jonathan SPENCE, The Memory Palace of Matteo Ricci, New York 1984. Hans-Ulrich VOGEL, Marco Polo was in China. New Evidence from Currencies, Salts, and Revenues, Leiden/Boston 2013.

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Die Vermesser der Welt Christoph Kolumbus und Vasco da Gama wurden von ihren Zeitgenossen als Helden der europäischen Expansion gefeiert. Die beiden Seeleute, von der Aufklärung wiederentdeckt, wurden im 19. Jahrhundert von der Ideologie des Kolonialismus vereinnahmt, bevor ihr Stern mit dem Ende der Kolonialreiche verblasste.

Statue des Vasco da Gama in Sines vor den Mauern der Burg, in der er seine Kindheit verbrachte.

DIE VERMESSER DER WELT

Wachend stehen sie auf hohen Sockeln wie Waffenbrüder. Mit nur einigen Metern Abstand voneinander flankieren Christoph Kolumbus und Vasco da Gama heute die Kornhausbrücke, die die Hamburger Altstadt mit dem schicken neuen Stadtviertel, der Speicherstadt, verbindet. Kolumbus, der auf der östlichen Seite der Brücke steht, lehnt sich mit der linken Hand an ein Ruder, in der rechten trägt er ein Astrolabium; das Schwert ruht in der Scheide. Vasco da Gama auf der westlichen Seite erhebt seinerseits das Schwert in der linken Hand. Der Anblick des monumentalen Ensembles mitten in der norddeutschen Hansestadt wirkt auf den ersten Blick überraschend. Kolumbus landete im Dienst der kastilischen Krone 1492 auf den Antillen. Sechs Jahre später entdeckte Vasco da Gama für den portugiesischen König den Seeweg nach Indien. Dass Kolumbus in Spanien und Vasco da Gama in Portugal seit dem 16. Jahrhundert als Nationalhelden zentraler Bestandteil der jeweiligen nationalen Narrative sind und durch die Jahrhunderte stets im Dienst der jeweils aktuellen Geschichtspolitiken der beiden Länder standen, mag wenig überraschen. Doch welche Funktion erfüllen diese Statuen in der erinnerungspolitischen Agenda des entfernten Deutschlands? Kolumbus und da Gama wurden aber nicht nur in Deutschland verewigt, auch in anderen europäischen Städten sind Statuen der beiden Entdecker zu sehen, Straßen, Plätze und Gebäude wurden nach ihnen benannt. Zeugt die Präsenz von Statuen der beiden Seefahrer außerhalb Portugals und Spaniens von ihrer besonderen Strahlkraft für die Herausbildung einer europäischen kollektiven Identität? Verkörpern Kolumbus und da Gama den nötigen „Überschuss an symbolischer Bedeutung“,1 die sie zu einem europäischen Erinnerungsort machen?

Geschichte der Expansion Portugal und Kastilien waren Pioniere der europäischen Expansion am Ende des Mittelalters. Dies mag erklären, warum Kolumbus und da Gama ein identitätsstiftendes Potenzial nicht nur für die iberischen Nationen, sondern auch jenseits der iberischen Grenzen besaßen. Doch setzte die 1 Étienne François und Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 16.

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europäische Expansion mit der Eroberung Ceutas ein, als Truppen des portugiesischen Herrschers Johann I. die Stadt im Norden Afrikas militärisch besetzten. Weshalb wurden also ausgerechnet Kolumbus und da Gama zu Ikonen der Expansion? In den ersten 100 Jahren der europäischen Expansionsgeschichte standen weniger die Überwindung der Natur und der Entdeckergeist im Vordergrund, als der spätere gedenkende Blick suggerierte. Das über­ geordnete Ziel der europäischen Expansion war die Suche nach einer Route zwischen Europa und Indien, die als Alternative zur von arabischen und italienischen Händlern dominierten Landesroute dienen könnte. Dass da Gama den Seeweg nach Indien über die Umsegelung Afrikas suchte und Kolumbus über den Atlantik, ist eine Konsequenz der 1479 im Vertrag von Alcáçovas vereinbarten Aufteilung der Einflussbereiche der Erde, wonach die Gebiete südlich der Kanarischen Inseln in den Besitz des portugiesischen Hauses gelangten. Nach Unterzeichnung des Vertrags setzte Portugal die Expeditionen entlang der westafrikanischen Küste fort, bis es 1488 Bartolomeu Dias gelang, das Kap der Guten Hoffnung zu entdecken. In die Annalen der Geschichte trat jedoch Vasco da Gama ein, da er eine Expedition leitete, die am 8. Juli 1497 vor ­Lissabon ins Meer stach und am 20. Mai 1498 Calicut erreichte. Die Motivation, Indien über das Meer zu erreichen, lag wohl auch der Expedition von Christoph Kolumbus zugrunde. Durch den Vertrag von Alcáçovas an der Umsegelung Afrikas gehindert, blieb Spanien nur die westliche Route als Alternative. Dass diese aber von den Zeitgenossen nicht als eine realistische Alternative angesehen wurde, belegt das Zögern der iberischen Königshäuser, Kolumbus’ Expedition zu unterstützen. Nachdem Kolumbus sein Projekt dem portugiesischen König Johann  II. lange ohne Erfolg präsentiert hatte, erlangte er nach mehreren gescheiterten Versuchen die Unterstützung der Katholischen Könige. Die Skepsis der Räte gegenüber seinen nautischen Berechnungen waren zweifellos berechtigt, sodass Kolumbus für einen der folgenschwersten Irrtümer der europäischen Geschichte verantwortlich gemacht werden kann. Sowohl da Gamas Entdeckung des Seewegs nach Indien als auch Kolumbus’ Landung in Amerika waren auf unterschiedlicher Weise für die Geschichte der beiden iberischen Herrscherhäuser folgenreich. Für Portugal begann eine Epoche, die dem Land das Monopol des Gewürzhandels zwischen Indien und Europa einbrachte und damit dem Königreich ­großen 62

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Reichtum und Einfluss verlieh. Für Spanien war der Erfolg von Kolumbus’ Expedition vergleichsweise weniger eindeutig. Zum einen hatte Kolumbus nicht Indien erreicht; zum anderen waren weder die Dimension des amerikanischen Kontinents noch der konkrete Ertrag dieser Entdeckung lange Zeit absehbar. Erst mit der Eroberung des Aztekenreichs durch Hernán Cortés lässt sich von einem spanischen Imperium in Amerika sprechen.

Iberische Erinnerungen Die divergierende politisch-strategische Bedeutung der Landung Kolumbus’ auf den Antillen und der Entdeckung des Seewegs nach Indien bewirkte auch eine unterschiedliche Aufnahme beider Seefahrer in die jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen der iberischen Nationen. In Portugal sorgte eine nationalistisch motivierte Geschichtsschreibung bereits bald nach da Gamas Landung in Indien dafür, dass dieses Ereignis den Charakter einer revolutionären Heldentat erhielt. Im Lauf des 16. Jahrhunderts etablierte sich ein Diskurs in der portugiesischen Historiografie, der darauf abzielte, die portugiesische Herrschaft in Asien als eine universale Leistung festzuschreiben, die Portugal in die Folge der großen Imperien der Menschheitsgeschichte einreiht. Auffällig bei dieser frühen Literatur der Expansion ist der bewusst gedenkende Akt. Nicht wenige Werke rechtfertigen ihre causa scribendi mit der Notwendigkeit, die Ereignisse schriftlich zu verewigen. So etwa in Fernão Lopes de Castanhedas História do descobrimento e conquista da Índia pelos Portugueses (1551–1561), in der dieser die Eroberung Indiens als Säule der portugiesischen Nationalidentität erscheinen lässt. Die Überlegenheit der Portugiesen – das Bewundernswerte – liegt Castanheda zufolge an der Überwindung von Erfahrungsgrenzen: Wie die Antike haben die Portugiesen Territorien erobert und andere Völker beherrscht; anders als jene hätten die Lusitaner aber dies nicht über Land, sondern über die unbekannten Meere getan.2 Castanheda führt hier ein Element ein, das die Reise von Vasco da Gama zum geeigneten Topos europäischer Erinnerungskultur machte: 2 Fernão Lopes de Castanheda, História do descobrimento e conquista da Índia pelos Portugueses, Coimbra 1551–1561, Vorrede.

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Das Heldenhafte an der Entdeckung des Seewegs nach Indien war ihm zufolge nicht die politische Herrschaft und auch nicht die kommerzielle Vormachtstellung Portugals im Gewürzhandel; es war vielmehr die epistemologische Revolution, die Überwindung der Wissens- und Erfahrungsschranken und die Eroberung der Meere als plus ultra im Vergleich zur Antike. Luís de Camões’ Os Lusíadas partizipiert ebenfalls an dieser Idee und macht sie – unter anderem auch durch Aneignung des Epos als europäische narrative Gattung – exportfähig. Portugal wird als Haupt Europas dargestellt: „Und siehe! Am Haupt Europas liegt gebreitet / Der Lusitanen Reich als Scheitel fast.“3 Mehr noch – und für das Verständnis von Vasco da Gama als europäischer Erinnerungsort von Bedeutung: Das Epos besingt zwar die Tapferkeit eines ganzen Volkes, der Portugiesen, doch als primus inter pares hebt sich Vasco da Gama hervor. In Spanien sorgte Kolumbus selbst in seinem Bordbuch und in seinem Brief an Luis de Santángel für eine Heroisierung seiner eigenen Person, die ihn im hagiografischen Duktus als fast Heiligen stilisierte. Der Seefahrer deutete seine Reisen als heiligen Segen der Katholischen Könige und entwarf das Selbstbild als Christusträger.4 Auch die von seinem Sohn Fernando Kolumbus verfasste Biografie unterstreicht die religiöse Deutung des Christoph Kolumbus, indem er diesen weniger als kühnen Seefahrer denn als sendungsbewussten Missionar skizziert.

Europäische Erinnerungen Bereits seit dem 16. Jahrhundert spielt das Symboljahr 1492 eine zentrale Rolle im europäischen Erinnerungskanon. Die Landung von Kolumbus auf den Antillen steht paradigmatisch für den Drang nach Wissen und die Bereitschaft, eigene Wahrnehmungshorizonte zu überwinden. Denn Kolumbus erste Reise brachte im Lauf der Zeit die Sicherheit, dass der Atlantische Ozean befahrbar ist. So eignen sich das Jahr 1492 und 3 Wilhelm Storch, Luís de Camõens. Die Lusiaden, Paderborn 1883, S. 83. 4 Titus Heydenreich, Columbus I: Das Gedenkjahr 1892, in: Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, München 2012, S. 29 ff.; Roland Bernhard, Geschichtsmythen über Hispanoamerika. Entdeckung, Eroberung und Kolonialisierung in deutschen und österreichischen Schulbüchern des 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 42.

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die Person des Kolumbus besonders gut, um Europa als eine Wissensgemeinschaft zu inszenieren. Die Erinnerung an Vasco da Gama schreibt sich ebenfalls in diesen Diskurs ein, war doch die Bewältigung der Meere und besonders die Überwindung des Kaps der Guten Hoffnung nur dank der Wissensvermehrung auf nautischer, kartografischer und mathematischer Ebene möglich. Wie aber gelang es, die nationalen Mythen von Kolumbus und da Gama nach Europa zu exportieren? Es waren dabei vor allem Schriftsteller wie Gonzalo Fernández de Oviedo in seiner Historia general y natural de las Indias, Bartolomé de las Casas in Historia de las Indias oder Petrus Martyr von Anghiera in De Orbe Novo Decades, die in ihren Werken die Bedeutung der Entdeckung Amerikas für Europa herausarbeiteten. Anghiera etwa schreibt in seinem Werk: „Spanien verdient in unserem Zeitalter besondere Anerkennung dafür, dass es so viele Tausend bislang unbekannter Antipoden für die europäischen Völker entdeckt und den Wissenschaftlern reichen Stoff zur Bearbeitung geliefert hat.“5 Als europäische Referenz steht Kolumbus also im Dienst der Wissenschaft: Seine bedeutendste Errungenschaft besteht in der Erfahrung neuer Welten, die europäische Wissenserweiterung ermöglichte. Auch die Entdeckung des Seewegs nach Indien erlangte schon im 16. Jahrhundert europäische Brisanz. Exemplarisch hierfür ist die 1514 in Rom aufgeführte Komödie Trophea von Bartolomé de Torres Naharro. Das Stück war Teil des feierlichen Empfangs von König Manuel I. durch Papst Leo X. In diesem Stück kehrt Claudius Ptolemäus auf die Erde zurück, um die Tatsache zu bestreiten, König Manuel I. habe Länder entdeckt, die der Kosmograf in seinem Werk nicht erwähnt habe. Im ersten Teil erzählt Fama dem ungläubigen Ptolemäus von den Entdeckungen und Eroberungen im Dienst des portugiesischen Königs – vor allem die Eroberung Indiens – und wird dabei nur von den staunenden Ausrufen des Ptolemäus unterbrochen. Solch glorreiche Taten, schließt Fama, lassen die Erinnerung an frühere Herrscher im dunklen Schatten verschwinden.6

5 Hans Klingelhöfer, Peter Martyr von Anghiera. Acht Dekaden über die Neue Welt, Bd. 1, Darmstadt 1972/73, S. 125. 6 Francisco Bethencourt und Kirti Chaudhuri, História da Expansão Portuguesa, Bd. 1: A Formação do Império (1415–1570), Lissabon 1998, S. 441.

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Erinnerungen an die Aufklärung Die Überwindung der Wissensgrenzen blieb durch die Jahrhunderte ein festes Element der europäischen Erinnerung an Christoph Kolumbus und Vasco da Gama. Es wundert deshalb wenig, dass beide Entdecker ausgerechnet in der Aufklärung ihren Einzug in die europäische Kulturgeschichte erlebten. Die Bedeutung der empirischen Rationalität, die Stellung des Menschen im Mittelpunkt seines eigenen Prozesses der Befreiung aus der Unmündigkeit und der Drang nach der naturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erschließung der Welt avancieren Christoph Kolumbus und Vasco da Gama zu Repräsentanten der europäischen Wissenschaft und Wirtschaft. Kolumbus steht dem aufklärerischen Geist nicht als Christusträger, sondern als Naturforscher zur Verfügung. Alexander von Humboldt etwa lobte ganz in diesem Sinn Kolumbus’ „ausgedehnte wissenschaftliche Kenntnisse“.7 Auch Adam Smith erwähnt Kolumbus und da Gamas Entdeckungen im gleichen Atemzug als bedeutende Ereignisse der Menschheitsgeschichte: „Die Entdeckung Amerikas und der Passage nach Ostindien am Kap der Guten Hoffnung sind die zwei größten und wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit.“8 Die Besonderheit der Entdeckungen liegen für Smith aber nicht vordergründig in den wissenschaftlichen Errungenschaften, sondern eher in der Etablierung eines weltumspannenden Handelssystems: „Die Kolonien Spanien und Portugal beispielsweise ermutigen die Industrie anderer Länder stärker als die von Spanien und Portugal […]. Dieser große Bedarf wird fast ausschließlich von Frankreich, Flandern, Holland und Deutschland gedeckt. Spanien und Portugal liefern nur einen kleinen Teil davon.“9 Damit deutet Smith die beiden Seefahrer als europäische Erinnerungsorte: Die Schaffung eines Weltwirtschaftssystems mache die Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien aus.

7 Alexander von Humboldt, Kritische Untersuchungen über die historische Entwickelung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und die Fortschritte der nautischen Astronomie in dem 15ten und 16ten Jahrhundert, Berlin 1836, S. 541. 8 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776, Bd. IV.7, S. 166. 9 Ebd., Bd. IV.7, S. 168.

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Nationalistische Erinnerungen Durch das Aufkommen der modernen Nationalstaaten im langen 19. Jahrhundert wurde die europäische Erinnerung an Kolumbus und da Gama im übertragenen wie im eigentlichen Sinn in Stein gemeißelt. Im Jahrhundert des Denkmalbooms sprossen Statuen der Entdecker wie Pilze aus dem europäischen Boden – vor allem anlässlich des 400-jährigen Jubiläums der Entdeckung Amerikas 1892. Der Logik des Nationalismus entsprechend, erfasste das Denkmalfieber vor allem Portugal, Spanien und Italien, doch auch anderswo in Europa wurden Kolumbus und da Gama in Denkmälern, Straßennamen oder öffentlichen Feiern gedacht. Ein Blick auf die heute noch existierenden Monumente für Kolumbus und da Gama in europäischen Städten unterstreicht die Bedeutung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Höhepunkt der Entdeckungs­ memorialistik. In Spanien wurden zu den Feierlichkeiten des 400. Jubiläums der Landung des Kolumbus auf den Antillen zwei Monumente in den zwei größten spanischen Städten errichtet: In Barcelona wurde das Monument in der zentralen Plaça del Portal de la Pau gegenüber dem alten Hafen zur Eröffnung der Weltausstellung 1888 eingeweiht. Das Kolumbus-Monument im Paseo de la Castellana in Madrid wurde pünktlich zum Jubiläum am 12. Oktober 1892 errichtet. Auch in Portugal boten die 400-Jahres-Feiern der Entdeckung des Seewegs nach Indien die Gelegenheit, um die Erinnerung an da Gama im öffentlichen Raum zu positionieren. Schon 1880 wurden die sterblichen Überreste von da Gama und bezeichnenderweise Luís de Camões, der dem Seefahrer ein literarisches Denkmal gesetzt hatte, in das Hieronymitenkloster in Belém, Lissabon, überführt und feierlich wiederbestattet. Pünktlich zum Jubiläum der Entdeckung der Seeroute nach Indien 1898 wurde dann das Aquarium Vasco da Gama eingeweiht. Die Feierlichkeiten zum 400. Jubiläum standen in beiden Ländern ganz und gar im Dienst der nationalen Narrative, sie betonten die Entdeckungen und Eroberungszüge des 16. Jahrhunderts als Säulen der Ende des 19. Jahrhunderts angegriffenen iberischen Nationalidentitäten: Spanien hatte die amerikanischen Kolonien verloren und Portugal sah mit dem britischen Ultimatum von 1890 seinen kolonialen Besitz in Afrika bedroht. Neben Spanien und Portugal gesellte sich aber auch 67

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I­talien zu den Feierlichkeiten, schließlich soll Kolumbus Genueser gewesen sein. In Rom wurde deshalb 1892 eine Büste von Kolumbus feierlich eingeweiht. Auch viele andere Städte Italiens – insbesondere Genua – gedachten seiner in jener Zeit durch Monumente, Statuen und Gedenktafeln. Auch hier sollte Kolumbus als Nationalheld gefeiert und somit Italiens Beitrag zur europäischen Vormachtstellung in der Welt unterstrichen werden. Portugal, Spanien und Italien hatten historische Gründe, sich im Zeitalter des Nationalismus als Entdeckernationen in Szene zu setzen. Es überrascht deswegen kaum, dass die größte Dichte an Monumenten, Straßennamen, feierlichen Veranstaltungen und Publikationen zum 400. Jubiläum in diesen Staaten zu verzeichnen war. Überraschend wirkt aber, dass auch Länder wie Deutschland und Österreich mit Erinnerungsorten an Kolumbus und da Gama gedachten. Hierbei spielten neu gegründete geografische Gesellschaften eine wichtige Rolle, finanzierten sie doch Expeditionen sowie Publikationen und unterstützten sogar die Errichtung von Kolumbus- und Da-Gama-Monumenten. In diesem Kontext entstanden etwa die eingangs erwähnten Statuen der zwei Entdecker an der Kornhausbrücke in Hamburg. Sie wurden von den Künstlern Hermann Hosaeus und Carl Börner im Auftrag der Stadt Hamburg gestaltet und 1903 eingeweiht. Die Statuen erfüllen dabei in erster Linie ein Bedürfnis der lokalen Erinnerungspolitik, betonen Hamburgs Identität als Hansestadt und Tor nach Übersee. Doch die Tatsache, dass ausgerechnet Kolumbus und da Gama – im ursprünglichen Zustand ebenfalls James Cook und Ferdinand Magellan auf der Südseite der Brücke – als Symbole der Weltoffenheit fungieren, ist charakteristisch für den zeitgenössischen Erinnerungsdiskurs. Beide stehen für den imperialen Drang der europäischen Nationen, der zur Zeit der Kolumbus- und Da-Gama-Jubiläen Ende des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte. In diese Linie schreibt sich ebenfalls die 1897 eingeweihte Statue Kolumbus in Bremerhaven ein. Über solche lokalen Dynamiken hinaus lässt sich in diesen Initiativen aber auch der Drang erkennen, Deutschland als Teil des europäischen kolonialen Projekts zu stilisieren: Die Aneignung der Erinnerungsfiguren Kolumbus und da Gama unterstrich den imperialen Anspruch des 1871 gegründeten Deutschen Reichs im Zeitalter Wilhelms II. Hierfür sprechen auch die Straßennamen in anderen Städten des Deutschen Reiches, die 68

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sich als Industriestädte ebenfalls durch ihre Beteiligung am Welthandel definierten: In Dresden wurde die Columbusstraße 1892 pünktlich zum Jubiläum eingeweiht, aber auch in München (1893), Solingen (1897), Bremen (1898), Mülheim (vor 1902) und Düsseldorf (1909) wurden ähnliche Straßenbenennungen vorgenommen. Die Teilhabe Deutschlands an den erinnerungspolitischen Aktivitäten des 400. Jubiläums der Entdeckung Amerikas war zugleich Zeichen einer wachsenden europäischen Identität, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt über den Kolonialismus definierte. Ähnliches galt auch für Österreich. In Wien finden sich heute noch zahlreiche Monumente, die Kolumbus und Vasco da Gama gewidmet sind, obgleich das Land anders als Deutschland nicht am imperialen Wettlauf um Afrika und andere überseeische Territorien beteiligt war. Wie im Fall Deutschlands dienten die Denkmäler hier der Konstruktion einer nationalen Identität, die sich zugleich in das koloniale Selbstverständnis der Epoche einschrieb. So befindet sich eine Statue von Kolumbus beispielsweise in der Wiener Handelsakademie, wo sie, gepaart mit einer Statue von Adam Smith, die Eingangstreppe des neoklassizistischen Gebäudes flankiert. Dieser Kontext verdeutlicht das Erinnerungspotenzial von Kolumbus: Zwar war Österreich-Ungarn nicht formell eine Kolonialmacht, doch das Land wollte ebenfalls an dem europäischen Freihandelsimperialismus partizipieren. Ähnlich wie Deutschland positionierte sich Österreich damit selbstbewusst im Konzert der europäischen Kolonialmächte. Auch das Naturhistorische Museum in Wien liefert Hinweise auf die Stellung der beiden Seefahrer im nationalen Selbstverständnis Österreichs. In dieser Stätte, die symbolisch für die wissenschaftliche Aneignung der Welt steht, befinden sich vier Statuen von Entdeckern – wie schon auf der Hamburger Kornhausbrücke handelt es sich dabei um Kolumbus, da Gama, Magellan und Cook, also jene vier Seefahrer, die um 1900 den europäischen Kanon der Entdeckungsgeschichte bildeten.

Kolumbus und da Gama – Erinnerungsfiguren eines geeinten Europa? Der historische Rückblick ermöglicht, die Rolle Kolumbus’ und da Gamas für die Entstehung eines impliziten Verständnisses der europäischen Entdeckungsgeschichte zu identifizieren, doch welche Rolle besaßen sie in 69

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der expliziten Suche nach einer europäischen Erinnerungskultur im Kontext des Integrationsprozesses nach dem Zweiten Weltkrieg? Die Notwendigkeit, den europäischen Staatenbund durch einen minimalen identitären Kitt zu verbinden, der für den Zusammenhalt und Rückhalt der Bürger sorgt, ließ in jener Zeit zahlreiche geschichtspolitische Initiativen entstehen. Während jedoch der Krieg, der Holocaust und die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts erfolgreich zu europäischen Erinnerungsorten, ja gar zu Gründungsmythen des vereinten Europa geworden sind, ist der Einsatz Kolumbus’, da Gamas und anderer Entdecker in der Inszenierung europäischer Identität weit bescheidener. Da der europäische Integrationsprozess bereits zu postkolonialen Zeiten stattfand, erscheint der Rückgriff auf die europäische Expansion als Säule europäischer Identität problematisch. Nur sehr zurückhaltend an den Entdeckermythos (und nicht an den Eroberermythos) anknüpfend, gab die Europäische Weltraumorganisation ihrem Beitrag zur Internationalen Raumstation deshalb den Namen Columbus. Die Feierlichkeiten zum 500-jährigen Jubiläum der Entdeckung Amerikas konnten 1992 deshalb auch nicht länger in demselben enkomiastischen Stil wie 100 Jahre zuvor gefeiert werden – weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene. Der Versuch, Spanien als eine ehemalige Entdeckernation in Szene zu setzen, stieß in Lateinamerika auf selbstbewussten Widerstand. Dass die Stadt Buenos Aires die Statue von Kolumbus im Jahr 2015 abreißen ließ und an ihrer statt ein Monument zu Ehren der Befreiungskämpferin Juana Azurduy de Padilla errichtete, lässt sich als eine Kontinuität des Unbehagens deuten, das das erinnerungspolitische Erbe von Kolumbus und da Gama außerhalb Europas hinterließ. Auch die Feierlichkeiten zum 500-jährigen Jubiläum der Entdeckung des Seewegs nach Indien wurden in Portugal zwar mit einer Weltausstellung gekrönt und boten dem Land die Gelegenheit, sich weltweit als Entdeckernation zu inszenieren, doch die Bezüge zu da Gamas Fahrt mussten nun subtiler erfolgen: Die gewählte Thematik der Ozeane ließ zwar Anspielungen auf das Imperium des Orients zu, legte jedoch den Schwerpunkt auf die ökologischen Herausforderungen der Meere in der Gegenwart. In europäischen Städten führte das Unbehagen gegenüber dem kolonialen Erbe nicht zum Abriss von Monumenten der Entdecker. Zwar hatten sie in der Nachkriegszeit deutlich an Bedeutung eingebüßt, 70

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sodass etwa die Statuen Magellans und Cooks auf der Kornhausbrücke in Hamburg, die während der Bombenangriffe zerstört worden waren, nicht wiederhergestellt wurden. Doch die Darstellungen von Kolumbus und da Gama blieben nicht nur erhalten, sondern wurden sogar in einem aufwendigen Prozess renoviert – pünktlich zum 800. Geburtstag des Hamburger Hafens. Das Überleben der Erinnerungsorte Kolumbus und da Gama außerhalb Spaniens, Portugals und Italiens unterstreicht, wie sehr sie heute noch der Stabilisierung lokaler Identität dienen, vor allem in Hafenstädten wie in Hamburg oder in Bremerhaven. Dass die Aneignung der Entdecker dabei nicht im Widerspruch zu einer modernen, kolonialkritischen europäischen Identität stehen muss, zeigt das Bespiel Bremerhaven. Anlässlich des 500-jährigen Jubiläums der Entdeckung Amerikas brachte die Stadt eine Tafel direkt vor dem Kolumbus-Denkmal an, in der mahnend auf die verheerenden Folgen dieser Entdeckung verwiesen wird. Der Blick auf die historische Entwicklung der Erinnerungsorte Kolumbus und da Gama in Europa ergab – wie könnte es anders sein? – ein kaleidoskopartiges Bild vieler Europas im Ringen mit einer kollektiven Identität auf lokaler, nationaler und supranationaler Ebene. Das erste Entdeckungszeitalter löste sich bereits im 16. Jahrhundert aus den nationalen Narrativen Portugals und Spaniens, um als historischer Meilenstein europäischer Geschichte zu fungieren. Die Bedeutung der ersten Entdeckungsreisen schien in der Aufklärung ungebrochen, war dies doch das Zeitalter der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Vermessung und Aneignung der Welt. Das Aufkommen des Nationalismus und des imperialen Kolonialismus im 19. Jahrhundert brachte eine andere Dimension der europäischen Aneignung der Entdeckungsgeschichte mit sich. Das Denkmalfieber der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ergriff aber nicht nur Portugal, Spanien oder Italien, sondern erstreckte sich auch auf weitere europäische Staaten. Dabei zeigte sich, dass das Bemühen, die Entdeckungen erinnerungspolitisch umzusetzen, auch aus Staaten kam, die zwar keinen direkten Bezug zum Entdeckungszeitalter besaßen, aber wie Deutschland und Österreich am neuen Welthandelssystem partizipierten. Christoph Kolumbus und Vasco da Gama standen insofern im Dienst einer kumulativen europäischen Erinnerungskultur, denn beide Heroen erlaubten im Zeitalter des Nationalismus eine Aneignung der kolonialen Expansion für die Konstruktion kollektiver Identität auch 71

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in Ländern, die erst spät oder nicht direkt am Kolonialismus teilhatten. Im europäischen Einigungsprozess verblassten die imperialistischen Töne und mit ihnen die Bedeutung Kolumbus’ und da Gamas auf europäischer Ebene. Die Bemühungen um eine europäische Identität setzen auf die historischen Epochen und Heroen, aus denen die Wertegemeinschaft ihr Selbstverständnis speisen kann: die Antike, die Renaissance, die Aufklärung und – ex negativo – die Kriege, Totalitarismen und der Holocaust im 20. Jahrhundert. Die Ambiguität der europäischen Expansion – deren Folgen noch heute in den Asymmetrien der Welt ablesbar sind – verhindern sowohl einen enkomiastischen als auch einen aufgeklärt kritischen Umgang mit dieser Epoche: Christoph Kolumbus und Vasco da Gama bleiben einstweilen im Lagerraum europäischer Erinnerungsorte.

Literatur Étienne FRANÇOIS und Hagen SCHULZE, Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001. Thomas GERST, Deutschland und das 400-jährige Jubiläum der Entdeckung Amerikas, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas, 1988, Bd. 25.1, S. 849–860. Sanjay SUBRAHMANYAM, The Career and Legend of Vasco da Gama, Cambridge u. a. 1997.

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Die Weltumrundung Seit der Gewissheit über die Kugelgestalt der Erde besetzte auch die Idee von der Erdumrundung die Sehnsüchte von Abenteurern und Geografen. Doch es sollten noch einige Jahrhunderte vergehen, bis die technischen Voraussetzungen dafür gegeben waren und Weltumrundungen in dem Nationalwettstreit der Europäer zu hohem, prestigeverheißendem Ansehen gelangten.

Titelblatt von Jules Vernes Roman Reise um die Erde in 80 Tagen aus dem Jahr 1873.

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1873 erschien in Frankreich unter dem Titel Le Tour du monde en quatrevingts jours ein Roman, in dem der Held Phileas Fogg mithilfe von Ballons, Eisenbahnen und Dampfschiffen den Erdball umrundete. Der Buchtitel spielte mit der Überraschung der Leser über die Reisedauer in Tagen, denn bis kurz zuvor hatten Weltumrundungen noch Jahre gedauert. Doch nun – im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – waren die Dimensionen der Welt durch die Entwicklung neuer Antriebstechniken wie etwa den Einsatz von Dampfmaschinen in Eisenbahnen und Schiffen sowie die Erschließung neuer Verkehrsverbindungen so geschrumpft, dass eine Erdumrundung in 80 Tagen tatsächlich hätte gelingen können – und bald darauf in noch kürzerer Zeit tatsächlich gelang. Dieses Werk von Jules Verne (1828–1905), der sich in vielen seiner im europäischen Gedächtnis überaus präsenten Bücher vom unbeirrbaren Glauben an die Überlegenheit der Technik über die Natur durchdrungen zeigte, spielte mit alten Menschheitssehnsüchten: der vollständigen Durchmessung des gesamten Erdballs. Denn eine Umrundung ging deutlich über Reisen oder Eroberungszüge bis an die Enden der Welt hinaus, wie sie etwa Alexander der Große unternahm oder Marco Polo, Jehan de Mandeville und viele andere in die Ferne trieb. Schon seit der Antike galt für all jene, die von der Kugelgestalt der Erde überzeugt waren, deren vollständige Umrundung als eine gewaltige Herausforderung. Doch es wurde auch schnell klar, dass die Erde mit über 70 Prozent Wasseroberfläche nur mit dafür tauglichen Seefahrzeugen wirklich umrundet werden konnte.

Der Wettstreit um Prestige Im 15. Jahrhundert wurden in Europa die schiffstechnischen und nautischen Grundlagen für zukünftige Weltumfahrungen gelegt. Seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts kam es dann zu Erdumrundungen zur See, von denen die unter der Führung von Fernão de Magalhães (1480–1521) begonnene Expedition von 1519 bis 1522 die berühmteste sein dürfte, weil zum ersten Mal einer Hand voll Männern auf einem Schiff eine vollständige Umfahrung gelang. Von nun an versuchten in den nächsten zwei Jahrhunderten in dichter Folge Seefahrer aus Spanien, England, Frankreich oder den Niederlanden bei ihren erdumspannenden Fahrten neue Länder zu entdecken, handelspolitisch zu durchdringen oder gleich 74

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zu erobern. James Cook (1728–1779) etwa brach ab 1768 dreimal zu solchen Fahrten auf und wurde damit zum vielleicht bedeutendsten Entdecker am Beginn der modernen Welt. Im 19.  Jahrhundert hatten dann auch fast 30 russische Expeditionen dezidiert eine Weltumsegelung zum Ziel. Von jenen Fahrten dürfte die von 1815 bis 1818 dauernde RurikExpedition wegen der persönlichen Teilnahme und literarischen Verarbeitung durch den Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso (1781–1838) in den europäischen Erinnerungen am deutlichsten präsent sein. Ohnehin gehörte es im 19. Jahrhundert zum Prestige und Selbstverständnis der sich formierenden europäischen Nationen, Schiffe ihrer jeweiligen, wenn auch noch so kleinen Kriegsmarinen die Erde umrunden zu lassen, Preußen etwa in den Jahren 1822 bis 1824, Schweden von 1839 bis 1842 oder die k. u. k. Marine Österreich-Ungarns von 1857 bis 1859. In eine solch geartete Kategorie der Vermehrung des Nationalprestiges dürfte auch die erste „Umtauchung“ der Welt fallen, die 1960 dem U-Boot USS Triton innerhalb von 60 Tagen gelang und die belegen sollte, dass US-Militärs technisch in der Lage waren, praktisch zeitlich unbegrenzte Unterwasseroperationen ausführen zu können. Eine Art literarischer Vorlage dazu hatte vielleicht erneut Jules Verne geliefert, als er den im Roman Vingt mille lieues sous les mers auftretenden Kapitän Nemo ein Unterseeboot befehligen ließ, das, elektrisch betrieben, unendlich tauchen und unter Wasser an die 100 Kilometer pro Stunde fahren konnte. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass jener Preis, der für die schnellste Weltumrundung per Segelboot vergeben wird, als Trophée Jules Verne bezeichnet wird. Diese Trophäe hatte im Januar 2012 die französische Rennjacht Banque Populaire V mit einem sensationellen Rekord errungen: In nicht ganz 46 Tagen hatte der Trimaran unter dem Skipper Loïck Peyron (* 1959) die Erde, entlang der südlichen Kaps segelnd, umrundet, ein Törn, der in den Gewässern der Roaring Forties – so nennen Segler die Gewässer zwischen dem 40. und 50. südlichen Breitengrad mit ihren praktisch ohne Landhindernisse dahinjagenden Westwinden und dem daraus resultierenden angsteinflößend hohen Seegang – alles andere als eine gemütliche Spazierfahrt gewesen sein muss. Der Luftraum hingegen geriet in Ermangelung tauglicher Luftfahrzeuge erst spät in den Blick ehrgeiziger Weltumrunder. Immerhin brauchte 1929 das Luftschiff Graf Zeppelin dafür 35 Tage. Flugzeuge 75

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schafften das Umfliegen der Erde schon seit 1924, doch mussten die Maschinen auf ihrem Weg immer wieder landen, um neuen Kraftstoff aufzunehmen. Erst 1986 konnte ein Flugzeug den Erdball umfliegen, ohne zwischendurch betankt zu werden. Die schnellste Erdumrundung gelang dem französischen Überschalljet Concorde. Sie flog im August 1995 in etwas mehr als 31 Stunden um die Erde, ein Rekord, den bisher noch kein anderes Flugzeug brechen konnte. Die Internationale Raumstation ISS jedoch umkreist die Erde, also die Erfüllung jenes klassischen europäischen Topos, in nur noch rund eineinhalb Stunden. Das ist etwa dieselbe Zeitspanne, die schon die erste Erdumrundung im Weltraum 1961 durch den sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin (1934–1968) gedauert hatte. Aus dieser Perspektive gesehen, ist die Erde tatsächlich zu einem schnell zu umrundenden Ball geworden.

Literatur Adalbert von CHAMISSO, Reise um die Welt. Das Tagebuch 1815–1818, Berlin 2015 [1836] (weitere Neuausgabe mit 140 Zeichnungen von Ludwig Choris, Berlin 2012). Ray HOWGEGO, Das Buch der Entdeckungen, Darmstadt 2010. Tony HORWITZ, Cook – Die Entdeckung eines Entdeckers, Hamburg 2004. Christian JOSTMANN, Magellan oder Die erste Umsegelung der Erde, München 2019. Michael NORTH, Zwischen Hafen und Horizont. Weltgeschichte der Meere, München 2016. Wolfgang REINHARD, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 22016. Jules VERNE, Reise um die Erde in 80 Tagen – vollständige Überarbeitung der Erstübersetzung, kommentiert und illustriert, Düsseldorf 2013.

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Dampfmaschinen, Sextant und Kanonen Die Akkumulation von Wissen über die Welt, vor allem in den Bereichen der Geografie und Naturwissenschaften, gleichsam eine Weltdurchdringung aus europäischer Sicht, vollzog sich in einem über Jahrhunderte andauernden Prozess und führte zu einer ersten Phase der Globalisierung. Diese in einer Art produktiver Rivalität gemachten „Entdeckungen“ haben in den europäischen Erinnerungen zudem vielfältige, mitunter sogar völlig davon losgelöste Spuren hinterlassen. Und erst der gemeinsame Einsatz optimierter Antriebstechniken und präziser Navigationsinstrumente für Seefahrzeuge sowie die Möglichkeit, Gewalt an jeden beliebigen Punkt der Erde einsetzen zu können, ließen eine weltumspannende europäische Dominanz möglich werden.

John Harrisons Chronometer aus dem Jahr 1735, das durch präzise Zeitmessung erstmals eine exakte Bestimmung des Längengrades bei der Navigation auf See ermöglichte.

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Was die entsetzte Besatzung der vor den Sandwichinseln ankernden HMS Resolution im Februar 1779 von Bewohnern in einzelnen Portionen an Fleischteilen zurückbekam, waren die sterblichen Reste des vielleicht bedeutendsten Entdeckers am Beginn der modernen Welt: James Cook (1728–1779). Als er 1768, gut ein Jahrzehnt zuvor, zur ersten seiner drei langen Seereisen aufbrach, war ein Drittel der Welt noch unbeschrieben und unkartiert, glaubte man noch an einen legendären Südkontinent von der Größe Eurasiens. Niemand als Cook hatte je zuvor so viele Meilen in für Europäer unbekannten Gewässern zugebracht, niemand so viele Küsten kartografiert oder so viele Objekte gesammelt wie er. Wird er aber auch in diesem Sinn im europäischen Gedächtnis erinnert? Georg Forster (1754–1794), der an Cooks zweiter Weltumsegelung teilgenommen und darüber Bücher verfasst hatte, glaubte, dass angesichts von dessen Taten niemand mehr zukünftig fragen würde, wer Cook sei. Er sollte sich irren. Mag der Name Cook im europäischen Bewusstsein vielleicht noch einigermaßen präsent sein, seine konkreten Forschungsreisen und Entdeckungen sind es sicher nicht. Selbst was Cook seinerzeit Sandwichinseln nannte, hieß zuvor schon lange und auch heute wieder Hawaii – auch dieser Name: gelöscht.

Entdeckungen und Erinnerungen Die Episode illustriert, wie kompliziert das Verhältnis von tatsächlichen Forschungsleistungen bei der Erfassung der Welt und den jeweiligen damit verknüpften Erinnerungen daran ist. Einerseits kann ein Entdecker mit den meisten je zurückgelegten Seemeilen als solcher fast vergessen werden, andererseits kann jemand mit dem Beinamen „der Seefahrer“ in die Geschichte eingehen, ohne je längere Fahrten auf dem Deck eines Schiffes zurückgelegt zu haben, wie der Fall des portugiesischen Königssohnes Heinrich der Seefahrer (1394–1460) belegt. Die Welt der europäischen Expansion war und ist zugleich auch immer eine Welt der Erinnerung und der Deutungshoheit, nicht nur, weil Entdecker den für den eigenen Kulturkreis neuen Landstrichen oder Inseln Namen geben konnten, sondern, weil zu fragen ist, was bedeutete überhaupt „entdecken“? Reichte es, in bestimmte Regionen zu gelangen? Haben jene Skandinavier auf Vikingfahrt, die um 1000 unter Leif Eriksson (um 970–1020) die Küste Nordamerikas erreichten, Amerika auch „entdeckt“? Was gab es 78

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eigentlich an den Nilquellen zu entdecken, da bei den afrikanischen Völkern in den Ursprungsregionen des Weißen oder Blauen Nils deren Quellflüsse ja bekannt waren? Entdecken, so ist offensichtlich, bedeutet also mehr. Es bedeutet zunächst, an Land zu gehen und es zu vermessen. Es bedeutet aber dann, den größeren geografischen Zusammenhang zu erkennen und vor allem das neu Gesehene und Betretene dem Erkenntnis- und Gliederungshorizont der eigenen Kultur einzupassen. Was sich dann an Wechselwirkungen zwischen den alten bekannten und den neuen, eben „entdeckten“ Kulturkreisen entwickeln kann, darf als ein weiterer Schritt bei der Durchdringung der Welt gelten. Wenn es erinnerungsgeschichtlich fast unerheblich zu sein scheint, worin Entdeckertaten tatsächlich bestanden, dann ist es offenbar wichtiger, wer sich an sie erinnert und warum. Das kann zum einen bedeuten, dass bestimmte Landstriche bis hin zu ganzen Kontinenten Namen tragen, die mit ihrer geografischen Beschreibung zu tun haben. Andererseits haben sich Namen manchmal auch von ihren einstigen Trägern und deren Taten losgelöst. Ist im öffentlichen Bewusstsein heute überhaupt noch präsent, wer Amerigo Vespucci (um 1452–1512) eigentlich war, was er bereist und erforscht hat und dass der gebürtige Florentiner der Namenspatron für Amerika ist? Und wem ist schon geläufig, dass es doch eher einem Zufall zu verdanken ist, dass 1507 der Kartograf Martin Waldseemüller (um 1472–1520) den neu entdeckten Ländern im fernen Westen den Namen „America“ gab? Wie verhält es sich erinnerungsgeschichtlich mit anderen großen und bedeutenden Entdeckern? Der aus Genua stammende Cristoforo Colombo (um 1451–1506), der in spanischen Diensten unintendiert dem alten Europa das neue Amerika eröffnete, dürfte mit seinem Namen wohl eine Scheidelinie bezeichnen, die eine Epoche der Isoliertheit der Alten und Neuen Welt von einer bis heute andauernden Durchdringung beider markiert. Doch der von Kolumbus erreichte Doppelkontinent trägt einen anderen Namen. Und dass das Land Kolumbien oder der Mondkrater Colombo mit seinem Namen bezeichnet werden, kann nur als schwacher erinnerungsgeschichtlicher Ersatz für die Bedeutung seiner Entdeckungsreisen gelten. Ebenso erging es dem aus Portugal stammenden Ferdinand Magellan (1480–1521), der 1519 im Auftrag der spanischen Krone die erste Weltumsegelung begann. Zwar wurde er im Verlauf der Reise getötet und konnte 79

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die Umrundung nicht vollenden. Dennoch kann im Vergleich zu dessen Bedeutung die Benennung der zwischen dem südamerikanischen Festland und der Insel Feuerland liegenden Meerenge, die den Atlantischen Ozean mit dem Pazifik verbindendet, als Estrecho de Magallanes, als Magellanstraße, nur als ein unadäquater Erinnerungseintrag gelten. Dagegen müsste Alexander von Humboldt (1769–1859), gemessen jedenfalls an den nach ihm entlehnten geografischen und biologischen Namen, als der wichtigste Entdecker aller Zeiten gelten. Nach ihm sind mindestens 19 Tierarten, 17 Pflanzen und Pilze, 35 geografische Orte, darunter etwa der Humboldtstrom, sowie viele Bildungs- und Forschungseinrichtungen benannt worden. Der als „wissenschaftlicher Wiederent­ decker Amerikas“ erinnerte und als „neuer Aristoteles“ bezeichnete Forscher, wie eine Gedenkmünze der Pariser Akademie der Wissenschaften ihn nennt, hat damit hinsichtlich der Erinnerungseinträge spielend Kolumbus, Magellan oder Cook überblendet. Das zeigt: Erinnerungstechniken können eine materielle Kraft erlangen, die weit über die Wirkung der tatsächlichen Ereignisse hinausreicht.

Die Kraft der Technologie Doch genauso wichtig wie die Frage nach den Wirkungszusammenhängen von Memorialstrategien und Erinnerungstechniken für die Beurteilung der Weltdurchdringung aus europäischer Sicht ist jene nach den technologischen Grundbedingungen dafür: Warum konnte gerade Europa überhaupt diese Kraft entfalten, die nach wenigen Jahrhunderten die gesamte Welt in unterschiedlichste Abhängigkeiten zu dem zweitkleinsten aller Kontinente gebracht hat? Welche Rahmenbedingungen waren – neben jenen ökonomischen Prozessen und Impulsen, die mit den hier nur grob angedeuteten Stichworten wie etwa der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, der Rolle des Seeraubs oder der Entwicklung von Aktiengesellschaften einhergingen – dafür nötig? Oder noch präziser: Gab es neben den ökonomischen Grundbedingungen ein technologisches Wissen, warum gerade europäische Mächte so erfolgreich die Welt durchfahren und im Gefolge größtenteils unterwerfen konnten? Die klare Antwort: Ja, es gab sie, die technischen Besonderheiten und Ansammlungen von Spezialwissen, die die europäische Expansion überhaupt erst ermöglichten. Doch wird bei genauerer Betrachtung auch klar, dass einige der 80

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Rahmenbedingungen wie etwa Spezialkenntnisse und Fähigkeiten in der Navigation oder bestimmte technische Entwicklungen nur im Verbund mit anderen Bedingungen synergetisch gewirkt haben, als Einzelphänomene aber ohne weitere welthistorische Auswirkungen blieben. Dazu zwei Beispiele: Das erste Exempel betrifft die Seefahrtskunst der Polynesier, die mit bis heute rätselhaft anmutenden Navigationstechniken auf ihren Auslegerkanus die über 10 000 Inseln des Pazifischen Ozeans – immerhin die Hälfte der Meeresfläche der gesamten Welt – anzusteuern vermochten. Doch ohne weitere „Zutaten“ wie etwa den ökonomischen Wirkmechanismus des Fernhandels oder die Ausprägung technischer Fertigkeiten für den Bau größerer Schiffe bleibt bei aller Bewunderungswürdigkeit von den Orientierungskünsten nur eines übrig, nämlich ein Wissen, wie man Nadeln im Heuhaufen wiederfindet, mehr nicht. Eine Auswirkung auf andere historische Prozesse blieb diesem Navigationswissen mithin versperrt. Das zweite Beispiel liefert China, das sich im Spätmittelalter zu einer führenden Seemacht zu entwickeln begann und urplötzlich aber keine solche mehr sein wollte. Am Beginn der Ming-Dynastie hatte zwischen 1405 und 1433 der chinesische Admiral Zhèng Hé (1371–1433/35) mit großen Flotten hochseetüchtiger Dschunken weit ausgreifende Expeditionen in den Pazifik und den Indischen Ozean unternommen. Doch aus noch immer nur schemenhaft erkennbaren Gründen zog sich China durch kaiserlichen Befehl konsequent vom Meer zurück und die schiffsbautechnisch sowie nautisch enorm hoch entwickelten Seetraditionen des Reichs der Mitte brachen wieder ab. Lag einer der Gründe darin, dass sich das Riesenreich selbst genügte? Ohne diesen Rückzug von der See jedenfalls hätte China seine Seeherrschaft sicher kontinuierlich weiter ausgebaut und in den ostasiatischen Gewässern wohl kaum Platz für Portugiesen oder Holländer gelassen. In Europa hingegen gab es keine Macht oder Autorität, die die vielfältigen europäischen Seeaktivitäten hätte stoppen können. Selbst wenn Portugiesen, Holländer oder Engländer von einem Tag zum anderen beschlossen hätten, fortan Landratten zu werden, dann wären andere Seefahrtgemeinschaften, egal ob Nationen oder Gesellschaften, umso energischer in diese Lücke hineingesegelt. Es müssen also verschiedene Rahmenbedingungen zusammentreffen, um überhaupt ihre Bedeutung entfalten zu können. Und noch zugespitzter formuliert: Im Grunde haben erst Rivalität und Konkurrenz zwischen den einzelnen 81

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europäischen Mächten und Ländern das enorme Potenzial sowohl für die Entdeckungsfahrten als auch für die letztendliche Eroberung der Welt zu entfesseln vermocht. Und das sollte zudem in den jeweiligen nationalen Erinnerungen Europas eine besondere Bedeutung bekommen. Diese produktive Rivalität zeigte sich zunächst im Wettstreit der Entdecker, die in den meisten Fällen im Auftrag eines Herrschers oder eines Landes aufgebrochen waren. Schien es anfangs wie etwa bei den portugiesischen oder spanischen Monarchen noch zu genügen, die besten verfügbaren Seefahrer – egal, woher sie kamen – für die Durchsetzung der eigenen Interessen zu rekrutieren, so trat bald eine nationale Komponente hinzu. Im Prestigewettstreit wurde es nun den europäischen Königen immer wichtiger, dass es einer ihrer eigenen Untertanen und eben kein angeheuerter „Ausländer“ war, der einen bestimmten Punkt als Erster erreichte, ihn erforschte oder ganz in Besitz nahm. Louis Antoine de Bougainville (1729–1811) etwa erhielt 1766 den Auftrag von König Ludwig XV., als erster Franzose die Welt zu umsegeln. Seine von 1767 bis 1769 dauernde Reise fiel aber genau in jene Zeit, da auch der Engländer James Cook aufbrach, um britische Ansprüche in fernen Gewässern anzumelden. Von dessen Südseereisen ließ sich nun wiederum der französische Seefahrer Jean-François de La Pérouse (1741–1788) inspirieren. Er stach in königlichem Auftrag 1785 in See und kam 1788 in diesen Gewässern wie einst Cook sogar um. Solche Beispiele von sich gegenseitig anstachelnder Konkurrenz zwischen den europäischen Seemächten und ihren Kriegsmarinen ließen sich reichlich finden. Doch spiegelte dieser Wettstreit im Grunde nur jenen Gegensatz, den es ohnehin zwischen den Handelsmarinen und vor allem zwischen den Handelsgesellschaften wie etwa den Ostindischen Kompagnien und deren Profitinteressen gab. Und da es dabei um sehr, sehr viel Geld ging, war man entsprechend radikal in den Maßnahmen der Gesetzgebung und Gewaltanwendung für den eigenen Vorteil. Die englischen Navigation Acts aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts etwa bestimmten in überaus restriktiver Weise, dass Waren nach England einzig auf englischen Schiffen transportiert oder Güter der eigenen Kolonien nur über das Mutterland exportiert werden durften. Da die holländischen Schiffe, die bis dahin als Fuhrleute Europas galten, sich nicht so leicht aus dem lukrativen Handelsgeschäft drängen lassen wollten, mussten die Kanonen sprechen. Und das taten sie auch reichlich in den 82

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drei kurz hintereinander folgenden Englisch-Niederländischen Seekriegen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Doch zunächst: Woher stammte das europäische Know-how von der See? Das europäische Wissen von der Seefahrt speiste sich aus vielen Quellen. Die wichtigste dürfte neben den Seetraditionen Skandinaviens und der Hanse das Mittelmeer darstellen, dessen Anrainer in den Jahrhunderten seit der Antike große Erfahrungen gesammelt hatten, sich in Schiffen zielsicher zu bewegen. Und obwohl das Mittelmeer seit der Entdeckung der Neuen Welt und des Seewegs nach Indien mehr und mehr zu einem Binnenmeer wurde, haben einige italienische Seestädte, allen voran Venedig, wie Arne Karsten in seinen Untersuchungen zur Seemetropole darlegt, sowohl weiter nautisches Wissen akkumuliert als auch Wirtschafts- oder Handelsmechanismen entwickelt, die dann von den transozeanischen Seefahrern erfolgreich genutzt werden konnten. Es mag Zufall sein, dass Kolumbus aus Genua stammte. Kein Zufall hingegen war es, dass Italiener aus den Seestädten des Mittelmeeres einen so großen Beitrag beim Ausgreifen der Europäer auf die Ozeane beizusteuern in der Lage waren. Der Aufbruch zu den Ozeanen brachte allerdings wie schon zuvor die osmanische Eroberung Konstantinopels eine sukzessive erfolgende Verlagerung der wichtigsten Handelswege mit sich und ließ dadurch alte See- und Wirtschaftsmächte wie eben Venedig oder Genua an Bedeutung verlieren. Im Gegenzug bildeten sich aber neue Kraftzentren des Welthandels wie etwa Portugal, Spanien, die Niederlande, England oder Frankreich, die nun selbst wiederum immenses Wissen über die Seefahrt akkumulierten und bedeutende Innovationen dafür generierten. Die Ersten, die von dem alten Wissen aus der Mittelmeerseefahrt profitierten, waren die Portugiesen. Sie erweiterten im 15. Jahrhundert mit den seinerzeit verbreiteten Schiffstypen der Karavelle und Karacke, auch Nao genannt, nicht nur den nautischen Horizont für Seeverbindungen nach Asien, sondern die „gekrönten Kapitalisten“, wie deren Monarchen später charakterisiert wurden, schufen zugleich auch ein System von Stützpunkten auf dem Seeweg nach Indien, um die gewaltigen Handelsprofite zu sichern und effektiv abschöpfen zu können. Die märchenhaften Reichtümer des Ostens reizten auch das durch die Vereinigung von Kastilien und Aragon noch junge Spanien, doch mussten der iberische Rivale Portugals – seit 1494 in Tordesillas vertraglich gere83

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gelt – eigene Anstrengungen nach Westen ausrichten. Die Inbesitznahme großer überseeischer Gebiete in der Neuen Welt und deren ökonomische Verwertung schufen somit Grundbedingungen, die die Zeitspanne zwischen 1550 und 1660 aus der Rückschau sogar zu einem spanischen Siglo de Oro werden ließen.

Risikoarmer Transport von Gewalt: die Schiffskanonen Am Ende des 16. Jahrhunderts setzten dann weitere grundlegende technische Veränderungen in der europäischen Seefahrt ein. Schon die spanische Große Armada hatte 1588 auf der Fahrt gegen England schmerzhaft spüren müssen, dass ihre Galeonen und Galeeren nun nicht mehr vornehmlich als Transportmittel für Soldaten dienen mochten, mit denen man sich gegenseitig entern konnte, sondern dass die Seefahrzeuge hauptsächlich selbst zu Waffen geworden waren. Das hatte mit der nun immer stärkeren Bestückung mit Kanonen zu tun. Die traditionelle Galeere der mediterranen Welt besaß schon allein wegen der Anordnung der Riemen an den Seiten der Schiffe nur beschränkte Aufstellungsmöglichkeiten von Kanonen, sodass die meisten „Stücke“ auf einer Art Vorderkastell standen. Die ausschließlich gesegelten Schiffe des Atlantiks und der nördlichen Binnenmeere konnten nun jedoch ein Vielfaches von diesen Geschosse speienden Ungetümen auf übereinanderliegenden Decks tragen. Weniger Soldaten, mehr Kanonen, so ließe sich der Entwicklungstrend vereinfacht zusammenfassen. Und neben der Möglichkeit, dass Kriegsschiffe nicht mehr nur im Enterkampf Bordwand an Bordwand liegen mussten, sondern sich auch in Artillerieduellen auf weitere Distanzen beschießen konnten, gab es einen weiteren Effekt: Mit den Kanonen ließ sich nun die Möglichkeit der Gewaltausübung bis in die entferntesten Regionen der Erde transportieren, ohne dass dafür noch große Soldatenmengen untergebracht und für diese enorme Wasser- und Nahrungsvorräte gebunkert werden mussten. Massenausfälle durch Mangelkrankheiten verloren ihren Schrecken, denn Kanonen bekommen keinen Skorbut. Somit ist klar, dass die vermehrte Verwendung von Kanonen auf Kriegs- und über einen langen Zeitraum auch auf Handelsschiffen – letztendlich eine Art von risikoarmem Transport von Gewalt – eine entscheidende Bedingung für die

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erfolgreiche Eroberung neuer und oft weit entfernter Gebiete durch europäische Mächte darstellte. Die Konstruktion von kanonenbestückten Segelschiffen dürfte jedoch eines der schwierigsten Probleme des vorindustriellen Europas gewesen sein, wie der Marinehistoriker Jan Glete herausfand und wie man es sich leicht ausrechnen kann: Die für weite Schussentfernungen notwendigen Langrohrkanonen mit größerem Kaliber besaßen ein beeindruckendes Gewicht. So brachte ein 24-Pfünder aus Gusseisen, der Eisenkugeln von zwölf Kilogramm verschießen konnte, etwa zweieinhalb bis drei Tonnen auf die Waage. Einhundert solcher Ungetüme wogen also allein schon 300 Tonnen, etwa das Doppelte, was frühere portugiesische und spanische Karavellen als Gesamtverdrängung besaßen. Sowohl das Eigen­ gewicht der Kanonen als auch die für diese notwendigen stabileren Konstruktionen der Kanonendecks machten die Schiffe immer schwerer, was gelegentlich zu Beeinträchtigungen bei der Manövrierfähigkeit führte. Und mitunter konnte das im wahrsten Sinn des Wortes auch schiefgehen: Die Galeone Vasa, eines der großen Kriegsschiffe, die König Gustav II. Adolf von Schweden (reg. 1611–1632) ab 1625 bauen ließ, besaß 64 Kanonen erstmals auf zwei Decks. Doch das Prestigeobjekt des Königs kenterte 1628 nach einer einfallenden Bö schon im Hafen von Stockholm und versank, ohne auch nur eine Seemeile auf offenem Meer zurückgelegt zu haben. Zu viele Kanonen und ein etwa 20 Meter über dem Wasserspiegel liegender Achteraufbau waren dem damit viel zu instabilen Schiff zum Verhängnis geworden.

Mehr Masten und Kanonendecks Um die immer größeren Schiffe in angemessener Geschwindigkeit bewegen zu können, wurde ab dem 15. Jahrhundert die Segelfläche beständig vermehrt. Aus den hochmittelalterlichen Einmastern wurden bald Schiffe mit zwei oder drei Masten, die speziell getakelt wurden: Fockund Hauptmast erhielten Rahsegel, während am Besanmast Lateinersegel für eine stabilere Fahrt sorgten. Durch immer weiter verbesserte Segeltypen und einen weiter optimierten Trimm ließen sich die Schiffe höher am Wind segeln, das heißt in spitzerem Winkel zur Windrichtung. Wurden auf großen Kriegsschiffen des 18. Jahrhunderts deren mitunter 36 Segel gesetzt, so liefen diese rumpfoptimierten Kolosse zwischen 85

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neun und zwölf Knoten, eine Geschwindigkeit, die auch kleinere Segeljachten heute nur gelegentlich erreichen. Im Durchschnitt fuhren diese nun mittlerweile um die 3000 Tonnen Wasser verdrängenden Schiffe aber eher fünf bis sechs Knoten. Eine weitere Innovation betraf die Art der Beplankung. Hochmittelalterliche Schiffe wie etwa die Boote der Skandinavier besaßen eine Klinkerbeplankung: Das bedeutet, dass die Planken sich gegenseitig überlappend befestigt wurden. Schon im Lauf des 15. Jahrhunderts setzte sich die sogenannte Kraweelbeplankung durch, bei der die einzelnen Planken Kante auf Kante an die Spanten gesetzt wurden und die den Rumpf glatter macht. Um immer mehr Kanonen mitnehmen zu können, besaßen die Schiffe bald zwei, später drei, am Ende des Segelzeitalters sogar vier Kanonendecks. Da diese wegen eines für die Stabilität notwendig tiefliegenden Schwerpunkts so nahe wie möglich an der Wasserlinie liegen mussten, kamen ab dem 16. Jahrhundert bei den Schiffen sogenannte Stückpforten auf, kleine Luken in der Bordwand vor den Mündungen der Kanonen, die beim Krängen oder bei schwerer See geschlossen und nur zum Abfeuern der „Stücke“ hochgezogen wurden. Im Lauf der Schiffsentwicklung verschwanden nun auch die ehemals hohen Aufbauten an Bug und Heck, denn sie waren für einen Nah- und Enterkampf zwar von Vorteil, aber natürlich für das Segeln eher hinderlich, weil sie den Lateraldruck des Windes enorm erhöhten. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Kriegsschiffe dann auch nicht mehr wie lange zuvor als Einzelobjekte gebaut, sondern in fabrikähnlichen Werften in Serie produziert. Die englische Royal Navy, die durch die siegreichen Schlachten mit den Niederländern im Kanal während des 17. Jahrhunderts enorme Entwicklungsimpulse erhalten hatte, konnte im 18. Jahrhundert mit solchen Schiffen sogar zur einzigen tatsächlich weltweit operationsfähigen Kriegsmarine aufsteigen. Und weil sich zwischen 1688 und 1815 das britische Bruttosozialprodukt verdreifachte und England allmählich zum sprichwörtlichen workshop of the world zu werden begann, konnten auch enorme finanzielle Ressourcen für den Flottenausbau genutzt werden. Das hatte Folgen: Die Marine Großbritanniens hatte bis weit in das 19. Jahrhundert hinein die unbestrittene Führungsposition bei der weiteren Erforschung der Welt und deren Eroberung inne. Neben den Neuerungen bei den Schiffsbautechnologien, also bei der Konstruktion und 86

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den Produktionsabläufen, kam es im Lauf des 18. Jahrhunderts auch zu revolutionären Veränderungen im Bereich der Navigation.

Die Stunde der Feinmechaniker In vielen Meeres- oder Schifffahrtsmuseen Europas blinkt den Besucher heute eine Vielzahl von in Messing gearbeiteten, hochkomplexen Instrumenten für die Navigation auf See an, die wahre Kunstwerke an Präzision und nebenbei auch an Schönheit darstellen. Doch jeder, der in seinem Leben nur einmal einen mechanischen Wecker auseinander- und dann vergeblich wieder zusammengebaut hat, ahnt etwas von der Komplexität und Präzision solcher Miniaturmaschinen. Im Zeitalter von elektronischen Zeitgebern sowie immer und überall abrufbaren GPS-Daten ist es ohnehin nur noch schwer vorstellbar, wie Seeleute einst überhaupt jenseits der Sichtbarkeit von Küsten navigierten oder auch nur Inseln in den Ozeanen wiederfanden. So darf die Navigation getrost als eine besondere Kunst gelten, die neben dem hohen handwerklichen Spezialwissen auch die Beherrschung einer Reihe anderer Künste wie etwa Mathematik und Astronomie, Kartografie und Geografie oder Meteorologie erfordert. Zunächst mag noch die Bestimmung einfach erscheinen, in welche Himmelsrichtung ein Schiff fuhr, wenn die Sonne sichtbar war. Weitaus genauer gelang eine Richtungsbestimmung mit dem Kompass – ursprünglich eine chinesische Erfindung –, den europäische Seefahrer in der Zeit der Kreuzzüge über die Araber kennengelernt hatten. Seinerzeit war ein Kompass nicht mehr als eine magnetisierte Eisennadel, die sich, auf einer Korkscheibe gelagert, in einem kleinen Wasserschälchen nach Norden ausrichtete – ein sogenannter nasser Kompass. Wahrscheinlich von der italienischen Seestadt Amalfi, deren Schiffsführer enge Beziehungen in den Nahen Osten unterhielten, hat sich dieses italienisch bussola genannte Instrument wohl schon im 12. Jahrhundert im Mittelmeerraum verbreitet. Bald darauf gehörte der immer weiter verbesserte Magnetkompass zur Grundausrüstung jedweder längeren Schiffspassage. Weitaus komplizierter als die Bestimmung der Himmelrichtung war aber die Ermittlung der eigenen Position auf einer die tatsächliche Wasserfläche der Erde teilabbildenden Karte. 87

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Ihre jeweilige Position auf den Breitengraden, also den parallel zum Äquator die Erde umlaufenden gedachten Linien, konnten Seeleute schon länger genauer bestimmen. Die vom lateinischen latitudo, englisch als latitude bezeichnete geografische Breite stellt das Winkelmaß einer Position auf der Erdoberfläche vom Äquator dar, wobei eben in eine nördliche oder südliche Entfernung unterschieden wird. Dieser Breitenwinkel φ lässt sich relativ problemlos entweder aus dem höchsten Sonnenstand, der sogenannten Mittagsbreite, oder aus der Höhe eines bekannten Sterns wie etwa des Polarsterns, der fast senkrecht über dem Nordpol steht, ermitteln. Ursprünglich dienten einfachere Instrumente wie etwa der Jakobsstab oder das Astrolabium für die Ermittlung der ungefähren Breitengrade. Doch erst durch die Konstruktion und Einführung von Präzisionswinkelmessern im 18. Jahrhundert ist eine für die exakte Navigation erforderliche Genauigkeit erzielt worden. Zu diesen neuen Instrumenten gehörte der anfangs noch aus Holz konstruierte Oktant, der schon bald durch den noch heute bei der nautischen Navigation benutzten Sextanten aus Messing abgelöst worden ist. Beide unterscheidet im Grunde nur der Umfang des angebrachten Ableseausschnitts, wobei der Sextant noch einige weitere Raffinessen wie etwa einen einblendbaren künstlichen Horizont oder verschiedene Lichtfilter für die dem Auge damit mögliche ungefährliche Sonnenanpeilung besitzt. Schon bald nach der Einführung auf Segelschiffen ließ sich bei ruhiger See mit einem Sextanten eine Genauigkeit bei der Positionsbestimmung von einer Bogenminute, also einer Seemeile, erzielen.

Der Greenwich-Meridian Eine viel verzwicktere Angelegenheit beim Zurechtfinden auf den Weiten der Ozeane stellte hingegen das Längengradproblem dar. Zur exakten Bestimmung des Längengrades, also der gedachten Linie von Pol zu Pol, muss der Navigator wegen der Erdrotation die genaue Zeit eines irgendwo festgelegten Nullmeridians kennen. Aber die Zeitbestimmung eines mitunter weit entfernten Ortes ist nur durch aufwendige, sehr komplizierte astronomische Beobachtungen möglich – an denen sich auch Galileo Galilei (1564–1642) schon vergeblich versucht hatte – oder eben durch eine mitgeführte sekundengenaue Uhr. Doch die schon etwas länger auf Schiffen verwendeten Sanduhren konnten diese Genauigkeit trotz peni88

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bel eingehaltener Wachwechsel nicht liefern. Und das war schon vielen Seefahrern zum Verhängnis geworden, die sich östlicher oder westlicher entgegen ihrer tatsächlichen Position wähnten und deshalb an felsigen Untiefen scheiterten. Das heißt: Ohne einen genau gehenden Chronografen an Bord und der damit ermittelbaren Vergleichszeit zu einem Ausgangshafen konnte der Längengrad unmöglich präzise bestimmt werden. Doch stellten der Seegang sowie die hohen Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen lange unüberwindbar scheinende Hindernisse für die mechanischen Konstruktionen von Schiffschronografen dar. Mit der durch König Karl II. 1675 initiierten Gründung eines Königlichen Observatoriums in Greenwich, das in deutlicher Konkurrenz zu dem schon acht Jahre zuvor von Ludwig XIV. gegründeten Observatorium von Paris stand, vollzog England einen wichtigen Schritt auf der Suche nach Möglichkeiten präziser Längenbestimmungen. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch hatte man hier ein hohes Preisgeld von 20 000 Pfund zur Lösung des Längengradproblems ausgesetzt, das eine sogenannte Längenkommission, Board of Longitude, verwaltete, der die damals bedeutendsten Astronomen und Mathematiker Englands angehörten. Der geradezu geniale englische Tischler John Harris (1693–1776) konstruierte mehrere Präzisionsuhren   –   eine davon tatsächlich aus Holz – und legte die Grundlage zur Lösung des Problems. Als James Cook 1775 von seiner zweiten Weltreise, auf der auch Georg Forster mit an Bord gewesen war, wieder in englische Gewässer einlief, konnten die Logbucheintragungen die Präzision einer jener Versuchsuhren belegen, die eine exakte Kopie von Harrisons Exemplar von 1759 darstellte. Erst jetzt war für die meisten Astronomen endlich das Längenproblem vom Kartentisch. Und erst ab jetzt wussten britische Kapitäne und später auch Seefahrer anderer Länder wirklich genau, wo sie sich in der Weite der Ozeane überhaupt befanden. Eine Reihe weiterer Instrumente traten Kompass und Winkelmessern zur Seite und versetzten die europäischen Seefahrer in die Lage, mathematisch präzise zu navigieren und damit auch jeden Punkt auf der Erde wiederzufinden. Natürlich war Navigationswissen immer auch Geheimwissen und nicht jedem Seefahrer zugänglich. Eifersüchtig hüteten nationale Seefahrtbehörden auch noch so kleine Wissensvorsprünge gegenüber fremden Interessenten. Und so, wie die Handelsgesellschaften und die nationalen Marinen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stan89

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den, so gab es ebenfalls einen Wettstreit der Astronomen und Kartografen. Schon allein die natürlich völlig willkürliche Festlegung, wo der Nullmeridian liegen solle, also von wo aus der Seefahrer östliche oder westliche Breitengrade berechnen kann, hat mit Deutungshoheiten zu tun, die nationale Konkurrenz als auch die Machtrelationen spiegeln. Seit der Antike bezogen sich viele Berechnungen und Karten auf den sogenannten Meridian von Ferro als Nulllinie, gelegen auf der Kanareninsel El Hierro als dem lange als westlichsten Ort der Welt angesehenen Punkt. Noch 1634 kam eine Gelehrtenversammlung der wichtigen seefahrenden Nationen zu der Empfehlung, den Ferro-Meridian der Insel als Nullmeridian weiterhin zu nutzen. Doch, weil Frankreich ab 1718 den Meridian vom Observatorium in Paris, England ab 1738 den Meridian vom Observatorium in Greenwich als Nulllinie anwandte, andere jedoch beim Ferro-Meridian blieben – wie etwa Österreich-Ungarn bis 1918 –, kam es zu einer buchstäblichen Konkurrenz der Längengrade und den damit verbundenen Verwirrungen beim Vergleich nautischer Angaben. Erst mit einer 1884 in Washington abgehaltenen „Meridian-Konferenz“ kam Ordnung in das Durcheinander der gedachten Nulllinien. Die britische Seehegemonie dieser Zeit zeigte sich nun auch auf diesem Gebiet, denn gegen französischen Widerstand wurde der Greenwich-Meridian als international verbindliche Nulllinie festgelegt.

Der Riese Dampf kommt ins Spiel Obwohl die europäischen Seefahrer schnell die Verlässlichkeit von Passat- und Monsunwinden auszunutzen lernten oder mit gut getrimmten Segeln selbst gegen ungünstigste Winde doch noch ihrem Ziel näherkamen, hielt im 19. Jahrhundert auch auf Schiffen die Dampfmaschine als Antrieb ihren Einzug, zunächst zögerlich, aber dennoch irreversibel. Äquatoriale Kalmenzonen oder besonders schlechte Wetterlagen ließen sich nun doch bezwingen. Doch hat die kohlebetriebene Dampfmaschine lange gebraucht, um sich in der Schifffahrt über die Weltmeere wirklich durchzusetzen, weil erst noch weitere technische Entwicklungen hinzutreten mussten. Obwohl Technologiepioniere wie Denis Papin (1647–1714), der ein funktionierendes Schaufelradschiff erfand, oder Robert Fulton (1765– 1815), der seinen Raddampfer auf dem Hudson fahren ließ, den Schiffen 90

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völlig neue Antriebe gaben, waren gerade diese für das Befahren der Ozeane noch nicht richtig geeignet. Die hohen Schiffsverluste in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der sogenannten Paddle Steamer belegen das sehr eindrücklich. Nur für den Postverkehr über See, bei dem es auf die Beförderung in besonders engen Zeitrahmen ankam, hielten sie sich länger. Die Einführung von Schiffsschrauben – oder richtiger Schiffspropeller – ab 1840 ließ dampfgetriebene Schiffe nun auch hochseetauglich werden. Und letztlich ließ überhaupt erst die weitere Effektivierung der Dampfnutzung durch ausgeklügelte Maschinen die Dampfer gegenüber den Segelschiffen, deren Antriebskraft ja nichts kostete, konkurrenzfähig werden. Da der teure Brennstoff Kohle, den ein Dampfschiff selbst mit sich führen musste, den Laderaum für Handelsgüter enorm verringerte und obendrein nicht überall auf der Welt problemlos zu bunkern war, lohnte sich der Dampfschiffbetrieb über einen langen Zeitraum nur auf kürzeren Routen. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fuhren deshalb auf langen Strecken noch schnelle Frachtensegler wie etwa die der französischen Reederei Antoine-Dominique Bordes & Fils oder die berühmten Flying P-Liner der Reederei F. Laeisz in Hamburg. Diese Segler transportierten Massenfracht für oder aus Südamerika sowie Australien immer noch bedeutend kostengünstiger als Dampfer. Und diese Schiffe stellten kein Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dar, denn die Segler waren nach modernsten Technologien des Maschinenzeitalters gefertigt und besaßen Rümpfe und Masten aus Stahl. So richtig setzte der Siegeszug der dampfgetriebenen Schiffe erst ab den 1870er-Jahren ein, als ganze Regionalmeere wie etwa die Ostsee in wenigen Jahren die bis dahin dominierenden Segler verlor oder die Eröffnung des Sueskanals, der für Segler ohne Motorkraft nicht passierbar ist, die traditionellen Schiffsrouten enorm veränderte. Am schnellsten sind, so lässt sich resümierend feststellen, die Kriegsmarinen und der rasant wachsende Personenverkehr über See auf Dampfschiffe umgerüstet worden.

Globalisierung Mit dieser, wenn man so will, Transportrevolution des 19. Jahrhunderts, die den schnelleren und kostengünstigeren Austausch von Waren, Tieren oder Menschen ermöglichte, trat der im Gefolge der europäischen Expan91

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sion ablaufende Columbian Exchange in eine weitere Stufe der Dynamik ein. Dieser von dem amerikanischen Historiker Alfred W. Crosby in den 1970er-Jahren geprägte Begriff beschreibt eine Art, wie er es nennt, „ökologischen Imperialismus“, einen Prozess, bei dem sich seit den Entdeckungsfahrten des Kolumbus bis dahin völlig getrennte Ökosysteme vermischt haben, sodass nun Pferde und Rinder, Äpfel und Tomaten oder Kartoffeln und Mais, aber auch Tuberkulose, Gelbfieber und Syphilis überall auf der Welt zu finden sind. Der Einfluss von zunächst jeweils für Eurasien und Amerika noch neuartigen Waren und Produkten, der Austausch auf dem Gebiet von Flora und Fauna bis hin zu Mikroben mit den daraus erwachsenden Konsequenzen, das alles waren Riesenschritte auf dem Weg zu einer globalen Welt. Da die Wechselwirkungen für den enormen interkontinentalen Austausch nach Cook und La Pérouse ebenso auf Australien und den pazifischen Raum wie überhaupt auf die ganze östliche und westliche Hemisphäre zutreffen, so könnte man in Analogie zu Crosby problemlos den zugegeben etwas schwer von der Zunge gehenden Begriff cook-pérousescher Austausch neben den des Columbian Exchange stellen. Denn diese Wechselwirkungen stellen Prozesse dar, deren Auswirkungen sich im Grunde keine Gesellschaft auf der Erde mehr zu entziehen vermag. Ihre Ursprünge jedoch liegen in den von den Europäern initiierten Ozeanfahrten, die erst durch ganz spezielle ökonomisch-technologische Rahmenbedingen ermöglicht wurden. Da, wie vielleicht deutlich wurde, die Weltdurchdringung europäisch geprägt worden ist, hat die Benennung der Welt mit europäischen Begriffen und Namen zu einem klaren Ergebnis geführt: Es ist eine Welt entstanden, die zumindest aus europäischen Augen in einem europäischen Deutungshorizont verortet ist. Technologisch war es die Verbindung von Navigations-Know-how und transportabler Gewalt, konkret von Navigationswissen, Feinmechanik und Schiffskanonen, die Europas Dominanz für einen langen Zeitraum über die Welt ermöglichte. Das alles hat sich gewandelt und wird sich weiter wandeln. Dass die Exploration der Welt hauptsächlich zur See geschah, darauf sind die maritim geprägten Europäer bis heute stolz, was sich auch an vielfältigsten Erinnerungstechniken wie etwa der Segelromantisierung und Seefaszination oder den Marinemoden und Windjammerparaden ablesen lässt. Aber die Geschichte hat ja mitunter auch Alternativen zu bieten: Die Seeaktivitäten am Beginn der Ming-Dynastie sind bereits kurz angerissen worden. 92

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Was wäre wohl passiert, wenn die schiffsbautechnisch und nautisch enorm hoch entwickelten Seetraditionen des Reichs der Mitte nicht einfach abgebrochen wären und China seine Seeaktivitäten kontinuierlich weiterausgebaut hätte? Sicherlich hätte das Reich der Mitte die Welt aus seiner Sicht „entdeckt“ und bezeichnet. Wie hieße wohl heute Amerika? Der Zhèng-Hé-Kontinent oder Nord- und Süd-Ming? Wer weiß?

Literatur Robert BOHN, Geschichte der Seefahrt, München 2011. Alfred W. CROSBY, The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492, Westport/London 2003 [1972]. Georg FORSTER, A Voyage round the World, bearb. von Robert L. Kahn, Berlin 1986 [1777] (ders.: Reise um die Welt, bearb. von Gerhard Steiner, 2 Bde., Berlin 1989 [deutsch 1784]; weitere Neuausgabe mit den eigenhändigen Illustrationen, Berlin 2007). Jan GLETE, Navies and Nations. Warship, Navies and State Building in Europe and America, 1500–1860, 2 Bde., Stockholm 1993. Arne KARSTEN, Geschichte Venedigs, München 2012. Brian LAVERY, The Ship of the Line, 2 Bde., London 1983/84. Ronald S. LOVE, Maritime Exploration in the Age of Discovery, 1415–1800, Westport/ London 2006. Michel MOLLAT DU JOURDIN, Europa und das Meer, München 1993. Michael NORTH, Zwischen Hafen und Horizont. Weltgeschichte der Meere, München 2016. Jürgen OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Wolfgang REINHARD, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion, 1415–2015, München 22016. Dava SOBEL, Längengrad. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste, Berlin 2005.

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Die Gespenster der Sklaverei Die Sklaverei und der Sklavenhandel über den Atlantik wurden lange totgeschwiegen. Inzwischen steht das Thema in Afrika, aber auch in den ehemaligen Sklavenhaltergesellschaften Europas und Amerikas auf der öffentlichen Tagesordnung. Dieses späte Erwachen verweist auf zweierlei, zum einen auf die Schwierigkeit, Verantwortung für den früheren Menschenhandel zu übernehmen, zum anderen aber auf die gesellschaftliche Marginalisierung, die das Schicksal zahlreicher Nachfahren von Sklaven blieb.

Porträt der in Antwerpen im Haus des portugiesischen Händlers João Brandão lebenden Sklavin Katherina. Silberstiftzeichnung auf Papier von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1521.

DIE GESPENSTER DER SKLAVEREI

Vom 16. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden ungefähr zehn Millionen Menschen von europäischen und amerikanischen Sklavenhändlern aus subsaharischen afrikanischen Ländern nach Amerika verbracht. Mehr als drei Jahrhunderte lang verband der Sklavenhandel drei Kontinente miteinander: Die meisten Staaten Westeuropas sowie die einzelnen Staaten West- und Zentralafrikas waren daran beteiligt. Die verschiedenen Regionen des amerikanischen Kontinents haben von diesen leibeigenen Arbeitskräften afrikanischer Herkunft profitiert. Seit einigen Jahrzehnten spielen die Geschichte dieses transatlantischen Handels und zugleich die Erinnerung an ihn eine immer größere Rolle im öffentlichen Diskurs nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika und Amerika. Nach ihrer Ankunft in Amerika arbeiteten die Afrikaner und ihre Nachkommen auf den Zuckerrohr-, Kaffee-, Baumwoll-, Indigo- und Tabakplantagen oder aber in den Gold-, Silber- und Diamantenminen. Auf dem Land arbeiteten die Sklaven auch in der Viehzucht und auf Höfen, die getrocknetes Fleisch erzeugten, in der Stadt als Träger, Barbier, Verkäufer oder Schuster. In den Städten wie auf den Plantagen nahmen die Frauen häusliche Aufgaben wahr, wurden aber auch sexuell von ihren Herren ausgebeutet. Die Abschaffung der Sklaverei zeichnete sich in den nordamerikanischen Kolonien ab dem Ende des 18. Jahrhunderts ab. Großbritannien untersagte 1807 den Sklavenhandel von Afrika in seine karibischen Kolonien. Im Jahr darauf erklärten die Vereinigten Staaten den Handel mit Sklaven aus Afrika für illegal. Der Binnenhandel auf dem amerikanischen Kontinent ging in den Folgejahren jedoch weiter. Mit Ausnahme von Haiti, das 1804 die Sklaverei abschaffte, blieben die meisten Länder Amerikas Sklavenhaltergesellschaften, auch nachdem sie die Unabhängigkeit erlangt hatten. Brasilien schaffte die Sklaverei erst 1888 als letztes Land des Kontinents ab. In Europa, Afrika und Amerika gibt es vielfältige Formen der Erinnerung an die Sklaverei und den transatlantischen Menschenhandel; jede von ihnen hat sich im Lauf der Zeit auf ihre Art entwickelt.

Die Erzählungen von Sklaven Die Träger der kollektiven Erinnerung an die Sklaverei und den Sklavenhandel sind Gesellschaften und gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Fast vier Jahrhunderte lang existierte 95

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diese kollektive Erinnerung ohne Unterbrechung. Seit 20 Jahren manifestiert sie sich in Europa, Afrika und Amerika jedoch nachdrücklicher als zuvor. Die Wiederkehr dieser traumatischen Vergangenheit, die lange ein Schattendasein führte beziehungsweise dem Vergessen anheimgefallen war, zeigt sich in Gestalt verschiedener kultureller Objekte sowie von Demonstrationen, Festivals, Gedenkveranstaltungen, Denk­ mälern und Museen. Dieser Prozess sorgt dafür, dass das kollektive zu einem öffentlichen und mitunter sogar offiziellen Gedächtnis wird. Das Vorhandensein einer individuellen wie einer kollektiven Erinnerung setzt voraus, dass das Erlebte tradiert wurde. Ein großer Teil der Sklaven, die auf den Plantagen in den britischen und französischen Kolonien in der Karibik sowie in Brasilien arbeiteten, hat aber nicht lange genug gelebt, um Nachkömmlinge zu hinterlassen, denen sie die traumatischen Erfahrungen ihrer Zeit als Gefangene hätten übermitteln können. Dadurch fehlen Glieder in der Kette der Übertragung individueller Erinnerung, doch haben einige ehemalige Sklaven, die in den USA beziehungsweise den britischen Kolonien in der Karibik gelebt haben, schriftliche Aufzeichnungen ihrer Erfahrungen hinterlassen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Erzählungen von Sklaven ein nachgerade populäres literarisches Genre in Europa und Amerika. Zu dieser Zeit brachte die Sklavenrevolte von Saint-Domingue das Sklavenhaltersystem in den französischen Kolonien in der Karibik ins Wanken. Die Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei entwickelte sich rasch in Großbritannien und griff dann auf Frankreich, Spanien und die Vereinigten Staaten über. Im Kontext der Abolitionistenbewegung veröffentlichte der Afrikaner Olaudah Equiano (um 1745–1797) alias Gustavus Vassa, ein ehemaliger Sklave, der sich freigekauft hatte, seine Autobiografie The Interesting Narrative of the Life of Olaudah Equiano, or Gustavus Vassa, the African. Written by Himself. Dort berichtet er von seiner Jugend im Land der Igbo in Südostnigeria, von seiner Entführung, die ihm zufolge 1753 stattgefunden hat, als er erst sieben oder acht Jahre alt war, bis zu seiner Ankunft in der britischen Kolonie Barbados in der Karibik und später in den Vereinigten Staaten. Ein anderer Afrikaner, Mahommah Gardo Baquaqua, durchlebte Ähnliches wie Equiano. Er kam in Djougou im heutigen Benin zur Welt. Er berichtet davon, wie es zu seiner Versklavung kam, von seiner Zeit als Sklave in Brasilien und von seiner Flucht im Jahr 1847 nach New York, wo die Sklaverei bereits abgeschafft war. 96

DIE GESPENSTER DER SKLAVEREI

Private Erinnerungen Mehrere Autoren haben in ähnlicher Weise die Erinnerungen an die Zeit ihrer Gefangenschaft festgehalten. Die ehemaligen Sklaven pflegten eine kollektive Erinnerung, die sich in mündlichen, musikalischen, religiösen und künstlerischen Überlieferungen ausdrückte. Aufgrund der Rassensegregation, die vor allem in den Vereinigten Staaten herrschte, blieb dies alles aber oft in der Privatsphäre, insbesondere im Rahmen der Familie oder von relativ geschlossenen Gemeinschaften. In Gruppen, in denen die Transmission nicht völlig unterbrochen wurde, sind derartige Erinnerungen sehr lebendig geblieben. Das gilt etwa für die von afroamerikanischen Sklaven gesungenen spirituals, in denen die mit der Sklaverei verbundenen schmerzlichen Erfahrungen thematisiert wurden. Derartige Erinnerungen hinterließen auch ihre Spur in den afrobrasilianischen und afrokubanischen Religionen wie Candomblé und Santería. Die Erinnerung an die Sklaverei lebt beispielsweise auch in der Capoeira fort, dieser Mischung aus Tanz und Kampfkunst, die sich in Brasilien in der Zeit der Sklaverei entwickelte, heute aber weltweit präsent ist. Allerdings erfahren nicht all diese Erinnerungen und die auf ihnen beruhenden Tradi­ tionen öffentliche Anerkennung. In einem Land wie Brasilien sind die afrobrasilianischen Religionen und Phänomene wie die Capoeira bis in die 1930er-Jahre sogar kriminalisiert worden.

Von der Opferrolle zur Emanzipation Im 18. und mehr noch im 19. Jahrhundert wurde die Darstellung von Sklaverei und Sklaven gern mit Unterwerfung beziehungsweise Unterwürfigkeit und der Einnahme von Opferrollen verbunden. In den USA stellen die Romane Uncle Tom’s Cabin (1852; „Onkel Toms Hütte“) von Harriet Beecher Stowe und Gone with the wind (1936; „Vom Winde verweht“) von Margaret Mitchell sowie ihre Kino-, Theater- und TV-Versionen die Sklaven als fröhliche, loyale und unterwürfige Männer und Frauen dar. Das Entstehen einer öffentlichen Erinnerung an die Sklaverei vollzieht sich auf den drei Kontinenten, die am transatlantischen Menschenhandel beteiligt waren, in Zusammenhang mit der neuen Phase, die mit Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzte. Die Beendigung dieses Konflikts änderte nichts am Los der Soldaten aus den afrikanischen Kolonien, die an der Seite von Franzosen und Briten gekämpft hatten, und die 97

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a­ froamerikanischen Veteranen sahen sich bei ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten mit dem alten Rassismus und der fortdauernden Vorenthaltung von Bürgerrechten konfrontiert. Doch hatte der Kampf gegen das NS-Regime in Europa die soziale und rassische Ungleichheit verdeutlicht, die mit dem Kolonialismus in Afrika und der Karibik sowie der Segregation in den USA einherging. Dieser Kontext gab den Bewegungen für Emanzipation und Bürgerrechte spürbaren Rückenwind. In der Nachkriegszeit hat aber auch die Erinnerung an die Schoah dazu beigetragen, dass man sich wieder mehr an die Sklaverei erinnerte. Zu dieser Zeit beschrieben die Unabhängigkeitskämpfer die Sklaverei als den Vorgang, der der Kolonisation Afrikas Tür und Tor öffnete. 1976 veröffentlichte der afroamerikanische Schriftsteller Alex Haley sein Buch Roots („Wurzeln“). Der Roman erzählt die Familiengeschichte eines Vorfahren des Autors namens Kunta Kinté. Dieser wurde im 18. Jahrhundert in Senegambia gefangen genommen und in die USA verbracht. Die 1977 ausgestrahlte TV-Serie, der dieser Roman zugrunde lag, war nicht nur in den USA höchst erfolgreich, sondern auch im übrigen Amerika, in Europa und Afrika. Mit seiner eindringlichen Darstellung der Leiden des jungen Afrikaners hat Roots die Menschen tief bewegt, insbesondere die afroamerikanische Bevölkerung, zumal deren Erfahrungen mit Rassismus und Segregation zu diesem Zeitpunkt noch durchaus präsent waren. Diese Serie hat bei den Afroamerikanern auch zu einem intensiven Interesse an ihrer Genealogie geführt; viele machten sich nun auf die Suche nach ihren Vorfahren in Afrika. Diese Welle des Interesses für die Geschichte der Sklaverei nahm in den 1990er-Jahren, also am Ende des Kalten Kriegs und zur Zeit des Zusammenbruchs der kommunistischen Regime in der Sowjetunion und in Osteuropa, noch zu. In der Vergangenheit unterdrückte Gruppen betonten nunmehr ihre nationale und kollektive Identität. Die Bevölkerung afrikanischer Herkunft begann, öffentlich die Anerkennung des Beitrags ihrer Vorfahren zum Aufbau der europäischen und amerikanischen Gesellschaften, die von Sklavenhandel und Sklaverei profitiert hatten, zu verlangen.

Kollektive und öffentliche Erinnerung Früher blieb die Erinnerung von Gemeinschaften, deren Vorfahren Sklaven gewesen waren, dem Familienkreis und der Privatsphäre ver98

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haftet. In den letzten beiden Jahrzehnten ist sie aber Bestandteil eines öffentlichen Diskurses geworden. Die kollektive ist dadurch zur öffentlichen Erinnerung geworden, die sich politisiert und es sich zum Ziel gesetzt hat, die Identität von Gruppen, deren Angehörige sich mehrheitlich als Abkömmlinge von Sklaven verstehen, zu entwickeln, zu behaupten und zu stärken. Eine solche Identität bildet sich auf der Grundlage mehrerer Elemente, die in Gesellschaften, die auf Sklavenhaltergesellschaften folgen, als rassische Elemente gelten: Herkunft, Hautfarbe, physische Charakteristika, soziale Stellung und Religion. Die gesellschaftlichen Gruppen, in denen mehrere Formen der Erinnerung aufeinandertreffen und mitunter in Konflikt geraten, bilden oft Vereine, um auf diese Weise die öffentliche Anerkennung der Erinnerung an die Sklaverei zu erreichen. Wenn dieses Ziel erreicht ist, wird diese Erinnerung zu einer öffentlichen. Auch in Westafrika ist diese Erinnerung wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Seit den 1960er-Jahren sind die Insel Gorée und das Haus der Sklaven im Senegal weithin bekannt geworden. Letzteres ist trotz dieser Berühmtheit ein umstrittener Ort geblieben. Sein ehemaliger Konservator, der verstorbene Boubacar Joseph N’Diaye, beschrieb dieses Gebäude als Lagerraum für Sklaven und erzählte den Besuchern detailreich die schrecklichen Erfahrungen der Sklaven, die ihm zufolge in diesem Gebäude zusammengepfercht wurden. Dank seiner Berichte ist das Haus der Sklaven heute weltweit einer der bekanntesten Orte der Erinnerung an die Sklaverei. Er sprach von zehn bis 15 Millionen afrikanischer Sklaven, die diese Station durchliefen, bevor sie nach Amerika transportiert wurden. Tatsächlich ist das aber die Gesamtzahl von Afrikanern, die während der gesamten Zeit des Sklavenhandels den Atlantik überqueren mussten. Auch öffnet sich die berühmte Porte du non-retour, das Tor ohne Wiederkehr, unmittelbar auf die Klippen, was es unwahrscheinlich macht, dass an dieser Stelle Sklaven eingeschifft wurden. Zudem gehörte dieses Haus nicht einem europäischen Händler, sondern einer gewissen Anna Colas, einer afroeuropäischen Sklavenhändlerin, einer Signare. Trotz dieser Ungereimtheiten wurde das Haus der Sklaven weiterhin von Staatsoberhäuptern wie Barack Obama und François Hollande besucht, was zur Fortdauer des Mythos dieses Gebäudes beiträgt.

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Vereinfachte Erzählungen Bereits in den 1970er-Jahren begann Ghana damit, sein nationales Erbe, soweit es mit dem transatlantischen Sklavenhandel in Verbindung steht, zu erschließen. Heute besichtigen dunkelhäutige Touristen vor allem vom amerikanischen Kontinent die Forts Elmina und Cape Coast, um ihren Vorfahren, die nach Amerika verschleppt wurden, die Ehre zu erweisen. Die ghanaischen Fremdenführer verbinden die öffentliche Erinnerung an die Sklaverei mit den Imperativen der Tourismusindustrie, wenn sie, um das internationale Publikum zufriedenzustellen, die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels so darstellen, dass dabei die Leiden der Afrikaner unter der Knute der Europäer betont werden, und sie es zugleich vermeiden, die afrikanische Beteiligung am Sklavenhandel zu erwähnen. Diese vereinfachten Versionen verhindern das Entstehen von Konflikten zwischen den verschiedenen lokalen Gruppierungen, zu denen sowohl Nachkommen aus der Region als auch solche zählen, die erst aus dem Norden des Landes an die Küste verbracht wurden. Das Beiseitelassen bestimmter Elemente hat auch mit den speziellen Anforderungen der Tourismusindustrie zu tun, die Besuche der Forts anbietet. Wie das Haus der Sklaven auf der Insel Gorée haben auch die Forts Elmina und Cape Coast seit 1990 hochrangigen Besuch bekommen, so etwa die ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush sowie Barack Obama mit Familie. 1992 haben die Veranstaltungen zum Gedenken der Landung Christoph Kolumbus‘ in Amerika die entscheidende Rolle der aus Afrika herbeigeschafften Sklaven beim Aufbau des amerikanischen Kontinents sichtbar gemacht. Auf Vorschlag Haitis startete die UNESCO 1994 in Ouidah (Benin) ein internationales Projekt namens „Sklavenstraße“. Seinerzeit war Benin, das ehemalige Dahomey, bemüht, seine Wirtschaft mithilfe der Tourismusindustrie zu entwickeln, und in diesem Rahmen ist der transatlantische Sklavenhandel zu einem zentralen Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung geworden. Im Land gab es noch Nachkommen der Königsfamilie, die seinerzeit Gefangene, die sie im Rahmen von Kriegszügen gemacht hatte, als Sklaven über den Atlantik verkaufte. In der Bevölkerung und auch unter führenden Lokal- und Regionalpolitikern fanden sich Abkömmlinge von Sklavenhändlern und verschie­ denen Mittlerpersonen. Dazu kamen Nachfahren von Sklaven, die aus 100

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Brasilien zurückgekehrt waren und sich im Lauf des 19. Jahrhunderts wieder in der Gegend niedergelassen hatten. Deshalb initiierte die Regierung von Benin auch gleich ein Festival für Voodookunst und -kultur, das den verschiedenen Gruppen die Möglichkeit gab, sich ohne politische Konflikte zusammenzufinden. Schließlich wurden das Festival und das Projekt der Sklavenstraße miteinander verknüpft. Die Organisatoren des Festivals errichteten als Sklavenstraße eine Wegstrecke aus gestampfter Erde, die von der Stadtmitte von Ouidah zum Strand führte. Etwa 100 Denkmäler, die an den transatlantischen Sklavenhandel erinnern, wurden entlang des Wegs aufgestellt. Zu diesen zählte auch das von der UNESCO finanzierte Tor ohne Wiederkehr. Ouidah ist zum Beispiel für die Bedeutung der UNESCO in der Region geworden, aber auch dafür, wie sehr das Gedächtnis und das kulturelle Erbe, die der Sklavenhandel hinterlassen hat, kommerzialisiert werden können.

Eine Welle der Erinnerung in Europa Das Vereinigte Königreich war das erste europäische Land, das öffentlich seine wesentliche Beteiligung am transatlantischen Sklavenhandel eingestand. Die ersten britischen Anläufe zur Pflege der Erinnerung an den Sklavenhandel gehen auf die Mitte der 1990er-Jahre zurück. 2007 aber kam es anlässlich der Erinnerung an den 200. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei durch Großbritannien auf Drängen mehr oder weniger gut organisierter dunkelhäutiger Aktivisten zu einer regelrechten Welle der Erinnerung. Mehrere der Beteiligten oder deren Eltern waren in den ehemaligen britischen Kolonien der Karibik auf die Welt gekommen. Aufgrund ihrer Herkunft aus Sklavenhaltergesellschaften waren diese Gruppen wirtschaftlich, sozial und rassisch aus der britischen Gesellschaft ausgeschlossen. Die ehemaligen Häfen des Sklavenhandels wie Bristol und Liverpool gestanden schrittweise ihre Rolle im transatlantischen Sklavenhandel ein und sorgten dafür, dass dieses umstrittene Kapitel ihrer Vergangenheit auch im Stadtbild sichtbar wurde. Die wichtigste Initiative in diesem Zusammenhang war die Gründung des Internationalen Sklavereimuseums, das 2007 in Liverpool eröffnet wurde. Auftrag dieses Museums ist es nicht nur, die Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels und der Sklaverei darzustellen, sondern auch, die Bevölkerung für die Probleme der Sklaverei und des Rassismus heute zu sensibilisieren. 101

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Die Vergangenheit Frankreichs als Land, das Sklavenhandel trieb, trat 1998 im Kontext der Feiern zum 150. Jahrestag der zweiten Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien stärker ins Bewusstsein der Bevölkerung (die erste wurde ja bereits 1794 während der Französischen Revolution verfügt, aber 1802 von Napoleon Bonaparte wieder zurückgenommen). Bis zu diesen Gedenkfeierlichkeiten war die Erinnerung an die Sklaverei vornehmlich mit Victor Schœlcher, dem „großen Emanzipator“, in Verbindung gebracht worden, während man darüber die Rolle vergaß, die die Sklaven selbst bei der gesetzlichen Abschaffung der Sklaverei gespielt hatten. Seinerzeit prangerten Gruppierungen von Farbigen afrikanischer wie karibischer Herkunft die geringe Präsenz des Themas Sklaverei im öffentlichen Raum ebenso an und wie den Rassismus und den Ausschluss aus der Gesellschaft, denen die Schwarzen in Kontinentalfrankreich weiterhin ausgesetzt waren. Der so entstandene Druck führte zu konkreten Ergebnissen, und zwar insbesondere dazu, dass Frankreich seiner Rolle im transatlantischen Sklavenhandel und in der Sklaverei anerkannte. Am 21. Mai 2001 verabschiedete das französische Parlament das Gesetz 2001-434, das sogenannte Taubira-Gesetz1, das die Sklaverei und den Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstufte. Die Verabschiedung dieses Gesetzes war mit wissenschaftlichen Kolloquien und Veröffentlichungen verbunden sowie mit öffentlichen Diskussionen über den Platz, der der Sklaverei und der kolonialen Vergangenheit in der Geschichte Frankreichs eingeräumt werden soll. 2005 führte der Tod von zwei Jugendlichen afrikanischer Herkunft bei einer Verfolgung durch die Polizei in einer Pariser Vorstadt zu Unruhen in mehreren Regionen des Landes. Im gleichen Jahr löste Artikel 4 des Gesetzes 2005-158 vom 23. Februar 2005 mit seinem Bezug auf die Anerkennung der „positiven“ Rolle der französischen Kolonisation heftige öffentliche Debatten aus, was dazu führte, dass Staatspräsident Jacques Chirac das Gesetz zurücknahm. Während diese Debatte noch andauerte, verlangten einige Verbände schwarzer Aktivisten, dass im öffentlichen Raum mehrerer französischer Städte wie zum Beispiel Nantes und Bordeaux auf deren frühere Rolle im Kontext der Sklaverei verwiesen werde. 1 Seinen Namen verdankt das Gesetz der damaligen Justizministerin Christiane Taubira, einer Politikerin aus Französisch-Guayana, die selbst vielfach Objekt rassistischer Anfeindungen war und ist (Anm. d. Übers.).

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Später haben dann auch Le Havre, Honfleur, Rouen und La Rochelle Initiativen entfaltet, um ihre Verbindung mit dem transatlantischen Sklavenhandel zu verdeutlichen. Aufgrund des Taubira-Gesetzes entstand auch ein „Komitee für die Erinnerung an die Sklaverei“. Aus der öffentlichen wurde so eine offizielle Erinnerung. Das Komitee schlug den 10. Mai als nationalen Tag des Gedenkens an die Abschaffung der Sklaverei im französischen Mutterland vor. Es gab auch noch etliche weitere Initiativen, die es unternahmen, die nationale Meistererzählung zum Thema Sklaverei und transatlantischer Sklavenhandel zu ändern und zu korrigieren. In diesem Rahmen wurden Änderungen der Lehrpläne ebenso vorgeschlagen wie die Einführung nationaler Gedenkfeiern, die Errichtung von Denkmälern und einschlägige Ausstellungen. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben weitere europäische Länder ihre Teilnahme am transatlantischen Sklavenhandel eingestanden. In den Niederlanden wurde der Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen im Jahr 2002 erreicht, in dem in Amsterdam ein großes Denkmal für Sklaven errichtet wurde. In jüngster Vergangenheit löste der 2013 begangene 150. Jahrestag der Abschaffung des Sklavenhandels in den holländischen Kolonien auf dem amerikanischen Kontinent wichtige öffentliche Diskussion aus, bei der oft auch der heutige Rassismus und der Ausschluss der dunkelhäutigen Bevölkerung aus der niederländischen Gesellschaft angeprangert wurden. Selbst in der Schweiz ist es wegen der Beteiligung Genfer Kaufleute am Sklavenhandel zu einer Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit gekommen. Obwohl diese Welle von Debatten europaweit so stark zunahm, haben Spanien und Portugal es bis in die jüngste Vergangenheit unterlassen, ihre Beteiligung an diesen Vorgängen offen einzugestehen. Doch ändert sich auch hier die Lage: 2009 hat ein Team von Archäologen im südportugiesischen Lagos einen ehemaligen Sklavenfriedhof entdeckt und 2016 wurde in derselben Stadt ein Sklavenmuseum, Núcleo Museológico Rota da Escravatura (Museum der Sklavenstraße), eingeweiht. Untergebracht ist diese Einrichtung in einem Gebäude, das gemeinhin den Namen Sklavenmarkt trägt. Damit verfolgt Portugal zum ersten Mal ein Projekt, das sich öffentlich mit seiner historischen Rolle im Sklavenhandel befasst. In Spanien stellt sich die Lage recht ähnlich dar. 2010 hat die Gleichheitskommission, die Comisión de Igualdad, zwei Gesetzesvorschlägen zugestimmt: dem Entwurf für ein Gesetz zur Anerkennung der schwarzen Bevölkerung Spaniens und einem Gesetz zur 103

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Erinnerung an die Sklaverei, für die Anerkennung und die Unterstützung der afrikanischen wie afrikanischstämmigen schwarzen Bevölkerung Spaniens. Beiden Gesetzen ist es gemeinsam, dass sie den Millionen Menschen Anerkennung zollen, die in der ganzen Welt für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft haben, dass sie die schwarze Bevölkerung Spaniens offiziell anerkennen, dass sie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bekämpfen und ein Denkmal zu Ehren der Opfer der Sklaverei errichten wollen. Zwar steht bis heute noch kein solches Mahnmal in Madrid, doch haben Barcelona und Lissabon mit der Ausarbeitung von Stadtrundgängen zu Stätten, die mit dem Sklavenhandel zu tun haben, begonnen.

Die Mittelpassage In den USA ist die Erinnerung an die Zeit der Sklaverei in den 1990er‑Jahren wieder ins öffentliche Bewusstsein getreten. Im Hafen von Charleston (South Carolina) kamen 1 500 000 Sklaven aus Afrika an, etwa 40 Prozent der Gesamtzahl von Sklaven, die in die USA verbracht wurden. Bis Ende der 1980er-Jahre blieb die öffentliche Anerkennung dieser Vergangenheit in dieser touristischen Stadt ausgesprochen problematisch. Der Old Slave Mart, der Alte Sklavenmarkt, war einer der wenigen Orte, an dem die Geschichte der Sklaverei und des Sklavenhandels in dieser Stadt angemessen gewürdigt wurde. Das hat sich aber geändert. Zum einen haben das Ende des Kalten Kriegs und entsprechende Aufforderungen der UNESCO die Entstehung einer Auseinandersetzung mit dem Sklavenhandel und der Sklaverei befördert. Zum anderen hat der Druck afroamerikanischer Aktivisten Charleston dazu gezwungen, sich mit seiner Vergangenheit zu befassen. Eine Reihe von Initiativen beschäftigte sich mit der Insel Sullivan, auf der die Sklaven und die Mannschaft nach ihrer Landung in South Carolina in Quarantäne geschickt wurden. 1999 wurde die erste offizielle Tafel enthüllt, die darauf verweist, dass die Insel der Ankunftsort für afrikanische Sklaven war. Sie betont die Widerstandskraft der Afrikaner und ihrer Nachkommen und erkennt den Beitrag der afrikanischen Kulturen zu derjenigen der USA an. 2008 weihte die Schriftstellerin Toni Morrison im Rahmen ihres Projekts Bench by the road eine Gedenkbank zu Ehren der nach Amerika verbrachten Sklaven und ihrer Nachkommen ein. Diese verfügten bislang über keinen derartigen Ort zu Ehren ihrer Vorfahren. 2009 wurde in 104

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Fort Moultrie die Ausstellung African Passages eröffnet. Sie zeigte vor allem Kunstwerke und Gegenstände, die mit der Mittelpassage – so nannte man die Überquerung des Atlantiks im Rahmen des Sklavenhandels – zu tun hatten, und erzählte zugleich die Geschichte von Afrikanern, für die die Insel Durchgangsstation, eben Passage, war. Heute ist die öffentliche Erinnerung an Charleston als Landungsort der afrikanischen Sklaven in den USA bereits fest etabliert und im Jahr 2014 wurde nach langen Erörterungen ein Denkmal für Denmark Vesey enthüllt, für den Mann, der die Sklavenrevolte von 1822 angeführt hatte. Außerdem ist ein großes internationales afroamerikanisches Museum im Gebiet des Gadsden-Kais in Planung. Auch in den Städten im Norden der USA ist die öffentliche Erinnerung an die Sklaverei erwacht. Bei der Errichtung eines neuen Gebäudes der US-Regierung in New York wurden die Reste von Hunderten Skeletten gefunden. Eine Untersuchung der Knochen kam zu dem Ergebnis, dass sich an diesem Ort früher ein Friedhof befand, auf dem die sterblichen Überreste von etwa 15 000 Afroamerikanern und Afrikanern liegen, von Sklaven ebenso wie von Freien, die dort im Lauf des 17. und 18. Jahrhunderts beigesetzt worden waren. Dieser Friedhof, der in einer Hafenstadt liegt, in der ungefähr 8500 Sklaven aus Afrika angekommen sind, ist der größte seiner Art in den Vereinigten Staaten. Die Frage, was mit diesem Ort geschehen solle, führte zu zahlreichen Kontroversen unter den Mitgliedern der Bundesregierung, Hochschullehrern und Aktivisten, die sich gewissermaßen als Nachfahren der dort beerdigten Personen betrachteten. Es ging dabei um die Art und Weise, wie die Geschichte der Sklaverei öffentlich sichtbar gemacht werden solle und wie man der afroamerikanischen Vorfahren öffentlich gedenken könne. So ist dieser Friedhof zu einem umstrittenen Ort der Erinnerung an die Sklaverei geworden. Seine Entdeckung und seine Präsentation sind untrennbar mit Rassen- und Identitätsfragen verbunden, die ihrerseits nicht in direktem Zusammenhang mit der historischen Vergangenheit dieses Ortes stehen, sehr wohl aber etwas mit der bisher fehlenden öffentlichen Darstellung der Sklavenhaltervergangenheit dieser Stadt und mit dem gesellschaftlichen Ausschluss der schwarzen Bevölkerung zu tun haben. 2007 wurde am Ort des alten Friedhofs eine Gedenkstätte eröffnet, die deutlich macht, dass es die Sklaverei nicht nur im Süden gab, sondern bis zu ihrer Abschaffung im Jahr 1827 auch in einer Stadt wie New York. 105

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Der Friedhof der Neuen Schwarzen Eine ähnliche Entdeckung wurde 1996 in Rio de Janeiro gemacht. Archäologische Grabungen auf einem Privatgrundstück im ehemaligen Hafengebiet führten zur Entdeckung eines Friedhofs, der die Überreste Dutzender Sklaven barg. Die Archäologen identifizierten den Ort als Cemitério dos Pretos Novos (Friedhof der Neuen Schwarzen), ein Massengrab, in dem mehr als 6000 Afrikaner beerdigt wurden, die noch vor ihrem geplanten Verkauf auf dem Valongo-Markt gestorben waren. Aber trotz dieser wichtigen Entdeckung vernachlässigten die örtlichen Behörden weiterhin den Friedhof und die Hafenzone. 15 Jahre später hat sich die Lage geändert. Im März 2011 wurden bei den Arbeiten zur Renovierung des alten Hafens von Rio de Janeiro im Rahmen der Vorbereitungen auf die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 die Ruinen des Valongo-Kais wiederentdeckt. Nach dieser zweiten Entdeckung kam es unter den Beteiligten, schwarzen Aktivisten, Hochschullehrern und Politikern, zu intensiven Auseinandersetzungen über die Gestaltung der künftigen Gedenkstätte. Mehrere Unternehmungen und Organisationen zeigten sich interessiert an der Idee, den Ort in die Weltkulturerbeliste der UNESCO aufnehmen zu lassen. Doch liegt der Kai unmittelbar neben dem Morro da Providencia, dem Hügel der Vorsehung, auf dem sich die größte brasilianische Favela ausgebreitet hat, deren Bewohner mehrheitlich Afroamerikaner sind. Die Verbände von Farbigen fürchteten, dass ein derartiger architektonischer Eingriff am Kai negative Folgen für die benachbarte Bevölkerung mit sich bringen würde. Trotz solcher Streitigkeiten wurden der Valongo-Kai und der Friedhof der Neuen Schwarzen nach und nach in die Stadtlandschaft Rios integriert. Heutzutage sind sie drauf und dran, ein Bestandteil der offiziellen nationalen Meistererzählung zu werden, denn auch Brasilien sieht sich zunehmend dazu gezwungen, öffentlich seine Rolle im trans­atlantischen Sklavenhandel zuzugeben. Die Welle der Erinnerung an die Sklaverei und den transatlantischen Sklavenhandel wird noch lange nicht abebben. Jahr für Jahr gibt es Dutzende von Gedenkveranstaltungen, neuen Denkmälern, Gedenkstätten und Ausstellungen. Auch Literatur und Film widmen sich in zunehmendem Maß diesem Thema. So hat im Jahr 2014 der Film 12 Years a Slave des amerikanischen Regisseurs Steve McQueen den Oscar für den besten 106

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Film erhalten und 2016 ist The Birth of A Nation des Amerikaners Nate Parker herausgekommen. Dieser Film erzählt die Geschichte von Nat Turner, des Anführers des Sklavenaufstands in Southampton (Virginia) im Jahr 1831. Im selben Jahr wurde in den USA anlässlich des 30. Jahrestags der ersten Ausstrahlung der TV-Serie Roots eine aktualisierte Fassung gesendet. Diese zunehmende öffentliche Sichtbarkeit dürfte ein Zeichen dafür sein, dass die ehemaligen Sklavenhaltergesellschaften endlich die Verantwortung für diese schmerzliche Erinnerung übernehmen. Sie mag aber durchaus auch darauf verweisen, dass die Bevöl­ kerung afrikanischer Herkunft weiterhin unter gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Ausschluss leidet.

Literatur Ana Lucia ARAUJO, Shadows of the Slave Past. Memory, Heritage, and Slavery, New York 2014. Ana Lucia ARAUJO, Public Memory of Slavery. Victims and Perpetrators in the South Atlantic, New York 2010. Christine CHIVALLON, L’Esclavage, du souvenir à la mémoire. Contribution à une anthropologie de la Caraïbe, Paris 2012. Olaudah EQUIANO, The Interesting Narrative of the Life of Olaudah Equiano, or Gustavus Vassa, the African. Written by Himself, London 1789 (deutsch: Merkwürdige Lebensgeschichte des Sklaven Olaudah Equiano. Von ihm selbst veröffentlicht im Jahre 1789, Göttingen 1792). Ron EYERMAN, Cultural Trauma. Slavery and the Formation of African American Identity, New York 2001. Alex HALEY, Roots. The Saga of an American Family, 1976 (deutsch: Wurzeln, Frankfurt a. M. 1977). Elizabeth KOWALESKI WALLACE, The British Slave Trade & Public Memory, New York 2006. Ana Maria LUGÃO RIOS und Hebe Maria MATTOS, Memórias do cativeiro: família, trabalho e cidadania no pós-abolicão, Rio de Janeiro 2005. Catherine REINHARDT, Claims to Memory. Beyond Slavery and Emancipation in the French Caribbean, New York 2006. Rosalind SHAW, Memories of the Slave Trade. Ritual and the Historical Imagination in Sierra Leone, Chicago 2002.

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VALÉRIE ROSOUX

Das Rote Kreuz oder: das Humanitäre auf dem Prüfstand Das Rote Kreuz, von der Gestalt des barmherzigen Samariters angeregt, wurde 1863 in Genf in dem Bestreben gegründet, den Kriegsverwundeten gleichgültig welchen Lagers beizustehen. Es ist heute auf der ganzen Welt präsent und steht vor einem Dilemma: Wie weit kann die Neutralität gehen?

Werbeplakat des Amerikanischen Roten Kreuzes während des Ersten Weltkrieges aus dem Jahr 1917.

DAS ROTE KREUZ ODER: DAS HUMANITÄRE AUF DEM PRÜFSTAND

„Die Leichen und die Verwundeten liegen ununterscheidbar auf dem Boden: die Hirne quellen hervor, die Glieder sind gebrochen und zermalmt. […] die Erde ist buchstäblich mit Blut getränkt.“ Mit diesen Worten beschrieb der Genfer Henry Dunant die Schrecken einer Schlacht, deren Zeuge er 1859 geworden war. Henry Dunant ist ein Europäer avant la lettre, Kaufmann, Christ, Humanist und Pazifist. Sein Werk Eine Erinnerung an Solferino schildert die 9000 Verwundeten beider Lager, die in einem Gewirr mit dem Tod ringen, sowie die Bauern, die beschließen, ihnen unabhängig von ihrer Uniform unter dem Banner tutti fratelli (allesamt Brüder) Beistand zu leisten. Das Buch löste Emotionen aus, eine Bewusstwerdung der Verheerungen, die mit dem Fortschritt der Rüstung zusammenhängen, und ermöglichte die Gründung eines internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege. Die internationale Organisation des Roten Kreuzes spiegelt den philanthropischen Diskurs des 19. Jahrhunderts wider und wurde seit ihrer Gründung von der Gestalt des barmherzigen Samariters inspiriert: Der verwundete Kämpfer gehört keinem Lager mehr an, sondern der Menschheit als solcher. Sie wird als eine Form eines alternativen Kreuzzugs ­etabliert und beruft sich auf dieselben Werte, das Christentum, und dasselbe Wahrzeichen, das Kreuz. Sie ist aus den Kriegen hervorgegangen, die den Kontinent zerfleischen, und wurde anfänglich als Ausdruck des Gewissens und sogar der moralischen Überlegenheit Europas hingestellt. Ihr Ziel ist es, den Opfern bewaffneter Konflikte beizustehen, ohne dabei zu versuchen, den Krieg, der als unvermeidlich angesehen wird, zu verhindern. Die Ambition ist zugleich edelmütig und paradox, geht es doch in gewisser Weise darum, den Krieg zu zivilisieren.

Das Kreuz und der Halbmond Die erste internationale Konferenz trat 1863 in Genf zusammen, einer Stadt, in der später der Völkerbund seinen Sitz haben wird und die sich als „Stadt des Friedens“ entwirft. Sie ist die Speerspitze einer Schweiz, die sich zugleich als Meisterin der Neutralität und als Pionierin auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts profilieren will. Ihre Konventionen zielten auf das Asylrecht ab sowie auf den Schutz der Verwundeten, Kranken und Kriegsgefangenen. Die Kodifizierung des Rechts ging mit der Einrichtung von Institutionen einher: auf der einen Seite ab 1863 das 109

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Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und auf der anderen die nationalen Gesellschaften, die auf örtlicher und nationaler Ebene oft ältere Initiativen der Zivilgesellschaft integrierten, um den Kriegsopfern beizustehen. Eine der ersten Herausforderungen für diese neue Galaxie von Institutionen war die Gründung des Roten Halbmondes im Jahr 1876 im Anschluss an ein Ansuchen der Hohen Pforte. Im Kontext der damaligen Konflikte auf dem Balkan wurde die Gründung eines muslimischen Vereins ursprünglich als häretisch, weil unvereinbar mit dem eigentlichen Begriff der christlichen Nächstenliebe, auf dem die Initiative von Dunant aufbaut, angesehen. Die Aktion der Bewegung nahm jedoch am Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Balkankriegen und vor allem mit dem Ersten Weltkrieg eine universellere Dimension an. Die Hilfe erstreckte sich nun mehr und mehr auch auf die Zivilbevölkerungen, die Opfer von internationalen Konflikten, Bürgerkriegen oder Naturkatastrophen sind. Die Aufgaben ergeben sich seither nicht mehr bloß aus dringlichen Situationen, sondern verweisen auch auf alltägliche Praktiken wie die Blutspenden oder die Bereitstellung von medizinischem Gerät. Die nationalen Gesellschaften vereinen nun 105 Millionen Freiwillige in 186 Ländern, was aus dieser Bewegung das größte humanitäre Netz auf der Welt macht. Kann man dann aber noch von einem europäischen Erinnerungsort sprechen? Das Emblem des Roten Kreuzes ist nunmehr universell. Die Gesichter seiner Angestellten von Nicaragua über Palästina oder Südafrika bis hin zu Japan zeugen von einer Ausstrahlung, die weit über die europäischen Länder hinausgeht. Dennoch spiegelt die Aktion des Roten Kreuzes auf dem Kontinent manche der heikelsten Fragen des 20. Jahrhunderts wider. Über die vom IKRK gesammelten Zeugenberichte und audiovisuellen Archive hinaus gibt es zahlreiche lebendige Spuren der Initiativen des Roten Kreuzes. Der Wechsel der Generationen beeinträchtigt nicht vollständig die Weitergabe von persönlichen Erinnerungen, die mit der Identifizierung eines in Gefangenschaft geratenen Angehörigen, mit der Postverbindung zwischen Gefangenen und Familien oder auch mit dem Schutz hungernder und/oder vertriebener Zivilisten während eines der Weltkriege zusammenhängen. Die Erinnerungen sind jedoch nicht immer von Dankbarkeit geprägt. Eine Form von Unverständnis oder Zorn bleibt angesichts der Ohnmacht der Bewegung gegenüber dem Naziregime 110

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spürbar. Die Tatenlosigkeit des IKRK angesichts der Massenverhaftungen der Juden, der Deportationen und der Barbarei in den Lagern ist gleichbedeutend mit einer Tragödie innerhalb der Institution und mehr noch in den Familien, die keine Hilfe erhalten haben.

Das Leiden anderer betrachten Die traumatische Erinnerung an diese Episode rührt an eines der wesentlichen Prinzipien des Roten Kreuzes: die Neutralität. Es geht von Anfang an darum, allen Opfern zu helfen, ohne zu urteilen oder anzuprangern. Dieser Ansatz ist auf diplomatischer Ebene klug. Das Argument ist bekannt: Niemand kann den Opfern bewaffneter Konflikte helfen, ohne von allen Beteiligten akzeptiert zu werden. Es muss allerdings hinterfragt werden: Ist es angesichts extremer Situationen wie der Folter angemessen, zu schweigen und neutral zu bleiben? Wird die Neutralität nicht zu einer passiven Komplizenschaft? Diese Frage stellt sich auch im Anschluss an Angriffe auf Betreuungszentren in Syrien, im Jemen oder im Gazastreifen. Es besteht tatsächlich die Gefahr, dass die öffentliche Anprangerung solcher Aktionen dazu führt, dass spätere Einsätze verhindert werden. Doch – und diese Frage übersteigt den Rahmen des Roten Kreuzes – ist das nicht der Preis, den es zu entrichten gilt, um der „Haltung des Zuschauers oder des Feiglings, der unfähig ist hinzuschauen“1, zu entkommen?

Literatur Guillaume d’ANDLAU, L’Action humanitaire, Paris 1998. Michael BARNETT und Thomas G. WEISS (Hg.), Humanitarism in Question. Politics, Power, Ethics, Ithaca 2008. François BUGNON, Le Comité international de la Croix-Rouge et la protection des victimes de la guerre, Genf 1994. David P. FORSYTHE und Barbara Ann RIEFFER-FLANAGAN, The International Committee of the Red Cross. A Neutral Humanitarian Actor, New York 2002. Véronique HAROUEL, Histoire de la Croix-Rouge, Paris 1999. Pierre de SENARCLENS, L’Humanitaire en catastrophe, Paris 1999.

1 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, übers. von Reinhard Kaiser, München 2003.

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2 BENENNEN

WOLFGANG REINHARD

Europa bezeichnet die Welt Zu kolonisieren bedeutet: zu benennen. Die Gründer Neuenglands, die Eroberer Indiens, Mittelamerikas, Asiens oder Afrikas vergaben Namen, die ihnen bekannt waren. Die ehemaligen Kolonien, die unabhängig geworden waren, übernahmen diese Namen von Herrschern und Heiligen – oder löschten sie. In diese Verflechtung ist somit auch eine gemeinsame Geschichte eingewoben.

20 Meter hohe Nachbildung des Eiffelturms mit Cowboyhut in Paris, Texas.

WOLFGANG REINHARD

Paris ist ein Städtchen mit 25 000 Einwohnern und Hauptort von Lamar County in der Nordostecke des Staates Texas, dessen Name sich angeblich von einem Indianerwort für „Freund“ herleitet. Der Farmer und Ladenbesitzer George Washington Wright, der aus Carthage, Tennessee, stammte, stellte 1840 ein Grundstück für die Stadtgründung zur Verfügung, das aus unbekannten Gründen den Namen Paris erhielt. Der antispanische Charakter der Namensnennung war jedoch unübersehbar: Die amerikanischen Siedler von Texas hatten 1836 ihre Unabhängigkeit von Mexiko erkämpft, bevor sie 1845 den USA beitraten. Paris bezeichnet sich heute als „the best small town in Texas“ und ist stolz auf seine 1993 errichtete, 20 Meter hohe Nachbildung des Eiffelturms mit einem roten Cowboyhut auf der Spitze, denn diejenige in Paris, Tennessee, einer weiteren der 24 Örtlichkeiten dieses Namens in den USA, ist nur 18 Meter hoch. Weltweit bekannt wurde Paris, Texas als Titel eines deutsch-französischen Films des Regisseurs Wim Wenders von 1984, einer europäischen poetischen Vergegenwärtigung von Teilen Amerikas, das als Neue Welt die wichtigste Kolonie der Alten gewesen ist. Das Städtchen Paris wird in dem Film von seinem in der Wüste am anderen Ende von Texas gestrandeten „Helden“ allerdings nur einmal kurz erwähnt, weil er eigentlich dort seiner Vergangenheit auf die Spur kommen wollte. Stattdessen begegnet er ihr in Los Angeles, California, das 1781 von Spaniern als „El Pueblo de la Reina de los Angeles“ (Das Dorf der Maria Königin der Engel) gegründet wurde, während der Fantasiename California schon im 16. Jahrhundert aus einem modischen Ritterroman auf die mexikanische Halbinsel übertragen worden war. Mit oder ohne poetischen und symbolischen Hintersinn – die sprachliche Hinterlassenschaft der europäischen Expansion in der zur unreflektierten Selbstverständlichkeit geronnenen Gestalt von Ortsnamen ermöglicht aufschlussreiche „Ausgrabungen“, wobei hier manchmal mehrere Schichten von Erinnerungen übereinanderliegen können. Sprachwissenschaft im Allgemeinen und Namensgeschichte im Besonderen werden so zur Archäologie des europäischen Kolonialismus und neuerdings manchmal auch der Dekolonisation. Die Befunde können sich allerdings beträchtlich nach betroffenen Erdteilen, nach der namengebenden Kolonialmacht und nach den historischen Epochen unterscheiden. Aber immer enthält die Namengebung einen Machtanspruch, in dem sich die kolonialistische Fremd­ bestimmung wie auch ihre demonstrative Überwindung niederschlägt. 116

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Namen geben Bereits in der Bibel wurde die Bestimmung des Menschen zur Herrschaft über die Erde (Genesis 1, 28) zuerst durch das Namengeben verwirklicht: „Da bildete der Herr Gott aus dem Erdboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte sie zum Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde, und ganz wie der Mensch als lebendes Wesen sie nennen würde, so sollten sie heißen. Und der Mensch gab allem Vieh und den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes Namen“ (Genesis 2, 19–20). Der ausschlaggebende christliche Ritus der Taufe ist ebenfalls mit einer Namengebung verbunden, die Zugehörigkeit begründet. Demgemäß haben sich auch christliche und alttestamentarische Personennamen mit der europäischen Expansion und Mission weltweit verbreitet. „Erst die Welt, die einen Namen hat, ist unsere Welt“,1 notabene einen Namen in unserer Sprache. Auch die „Tatorte“ der europäischen Expansion wurden in diesem Sinn unverzüglich „getauft“ oder „umgetauft“, oft mit einem elaborierten Ritual. Denn für Spanier, Franzosen und Niederländer wurde mit der Namengebung ein unmittelbarer rechtlicher Besitzanspruch begründet. Bereits Christoph Kolumbus soll auf seiner ersten Reise 600 neue Namen vergeben haben. Portugiesen konnten sich demgegenüber mit Hinweisen auf örtliche Handelsgüter begnügen, Brasilholz in Amerika, Elfenbein, Gold, Pfeffer, Sklaven an Küstenabschnitten Afrikas, während die Engländer und Nordamerikaner eher bereit waren, einheimische Bezeichnungen zu übernehmen, wenn auch in aller Regel nicht unverändert. Bei solchen Namen handelte es sich ja nicht um die objektive Wiedergabe der Natur, sondern um kulturelle Erfindungen. Es konnte sogar eine ironische Distanzierung vom Vorgefundenen geben, wenn etwa Entdecker ihren Widerwillen gegen die monotone Wildnis Australiens dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie trockene Rinnsale zu Flüssen und bloße Unebenheiten zu Bergen aufwerteten. Bei den Siedlern ging dann die Aneignung des Landes mit der symbolischen Domestizierung des Raumes durch den Aufbau eines eigenen Geschichtskosmos weiter. Im französischen Algerien erzwangen sie zwischen 1870 und 1914 über 200 1 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a. M. 2007, S. 225.

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einschlägige Umbenennungen von Ortschaften, während die französische Algerienarmee davor und danach mit ähnlichen Mitteln am symbolischen Aufbau ihres eigenen Mythos arbeitete. Nirgendwo konnten die Europäer Land und Leute in solchem Ausmaß „taufen“ wie in ihrer nach dem Florentiner Amerigo Vespucci „Amerika“ genannten Neuen Welt. Sie hatten aber die Landkarten bereits lange vorher dadurch geprägt, dass sie antike Bezeichnungen von Erdteilen übernahmen und ausgeweitet für immer festschrieben. Das gilt nicht nur für „Europa“ und die in „Australien“ weiterlebende, imaginäre „Terra australis incognita“ antiker Geografen, sondern auch für „Asia“ und „Africa“, für „India“ und wahrscheinlich auch für „China“ oder „Sina“, das seinerseits bis heute nicht diese wahrscheinlich von der Gründerdynastie der Qin abgeleitete Bezeichnung verwendet, sondern nach wie vor „Zhōngguó“ (Mitte Land). Nach dem bei der Namengebung häufig wirksamen Parspro-Toto-Verfahren wurden dabei Europas Gegenküsten „Asia“ und „Africa“ zu ganzen Kontinenten erweitert und das Indusgebiet zu einem Subkontinent. Weil Kolumbus irrtümlicherweise glaubte, Indien erreicht zu haben, hieß das spanische Amerika außerdem jahrhundertelang „Las Indias“ und die karibische Inselwelt „Westindien“. Vor allem wurde „Indianer“ zur Gesamtbezeichnung der Bewohner der Neuen Welt, eine europäische Begriffsbildung mit weitreichender Langzeitwirkung. Die verschiedenen Völker Amerikas, Afrikas und Indiens mussten nämlich erst von den Europäern lernen, dass sie eine Kollektividentität als Indianer oder Amerikaner, „Neger“ oder Afrikaner, Hindus oder Inder besaßen. Sogar die Sammelbezeichnung „Hinduismus“ für die indischen Religionen ist eine europäische Kreation des 19. Jahrhunderts. Bei der Namengebung zogen verschiedene Europäer zu verschiedenen Zeiten sehr verschiedene Register, angefangen mit der nüchternen oder auch einmal poetischen Ortsbeschreibung: zum Beispiel „Cape Cod“ nach dem Fischreichtum, „Salt Lake City“, „Camp des Oliviers“ oder auch „Teton Mountains“ angeblich, weil sie spitz wie weibliche Brustwarzen waren. Poesie konnte auf die Projektion des Imaginären der eigenen Gesellschaft hinauslaufen wie das erwähnte Fantasieland „California“ aus dem Ritterroman oder der Fluss „Amazonas“, an dem man meinte, die sagenumwobenen Amazonen angetroffen zu haben. Die Heterotopie konnte sogar einen utopischen Charakter tragen wie das an antike Vorläufer angelehnte, aufgeklärte „Philadelphia“, die Stadt der Bruderliebe. 118

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Oft genug verweisen Ortsnamen auf Kollektive oder auch Erinnerungen. Nannte Captain James Cook drei bestimmte Hügel „Three Brothers“, weil er einst auf einem Schiff dieses Namens gedient hatte?

Entdecker, Siedler, Eroberer Aber auch Erlebnisse der eigenen Entdeckungsreise konnten verewigt werden. Guam sollte nach Ferdinand Magellans Erfahrungen von 1521 eigentlich „Isla de Ladrones“ (Diebesinsel) heißen. Matthew Flinders verlor am „Cape Catastrophe“ sechs seiner Leute durch Ertrinken, mit deren Namen er anschließend verschiedene Inseln belegte. Andere wie die Portugiesen wollten die neu entdeckten Länder durch Hinweis auf Handelsgüter attraktiv machen – oder das eisige „Grönland“ als siedlungsfreundliches grünes Land, Zentralamerika als „Castilla del Oro“ (Goldkastilien), den Hauptstrom des späteren „Argentinien“ (Silberland) als „Rio de la Plata“ (Silberfluss), obwohl oder gerade weil es dort mit dem Silber nicht weit her war. Und vielleicht erwies sich „Buenos Aires“ (gute Luft) als erfreulicher Gegensatz zur „Malaria“, der tödlichen schlechten Luft, die in vielen Gegenden auf die Europäer lauerte. Nicht nur Siedler liebten es, die eigene Heimat oder auch andere Orte Europas zu reproduzieren wie bereits die Portugiesen ihr „Lagos“ an der Küste Afrikas. Der erwähnte Flinders verteilte planmäßig den Namen seines heimatlichen englischen Lincolnshire über das neu entdeckte Südaustralien. Die englischen Puritaner schufen im 17. Jahrhundert gezielt ein „Neu-England“ mit Boston, Dorchester, Watertown, Lynn und so weiter. Auch die neu geschaffenen Countys erhielten die Namen von englischen. Als John Harvard 1636 ein College gestiftet hatte, nannte man die Ortschaft „Cambridge“, denn erstens hatte Harvard dort studiert, zweitens stand die dortige Universität den Puritanern näher als Oxford, drittens kamen Letztere ohnehin großenteils aus dem östlichen England. Der Name „Winchester“ kommt in den heutigen USA 32-mal vor. Drei Orte im Osten leiten ihn unmittelbar von der englischen Stadt her, fünf im Mittleren Westen von derjenigen in Virginia. Aber acht führen ihn auf einen Personennamen zurück, zwei sogar auf das berühmte Gewehr dieses Namens. Bemerkenswerterweise übertrugen auch die 1838 aus dem Südosten der USA vertriebenen Indianervölker Namen der alten Heimat in die neue im Indianerterritorium, während 119

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die zahlreichen afrikanischen Sklaven anscheinend nirgends in der Neuen Welt Ortsnamen hinterlassen konnten. Selbst für ihr revolutionäres Gemeinwesen wählten sie 1804 den indianischen Namen „Haiti“. Im Zuge der Eroberung des Kontinents griffen die Nordamerikaner immer wieder gern auf die Namen wichtiger Städte Europas zurück, was anderswo eher die Ausnahme blieb. Um 1840 waren allein in Ohio fast alle europäischen Hauptstädte vorhanden. Neben den 24 „Paris“ gibt es in den USA angeblich 33 „Berlin“, immerhin fünf „London“ und sogar ein „Moscow“. Während Städte eher selten durch Zusatz als Neugründung ausgewiesen werden wie „Nieuw Amsterdam“, nach der englischen Eroberung „New York“ oder direkt neben der alten Stadt das britische „New Delhi“, brauchten Neuauflagen heimatlicher Ländernamen offenbar eine derartige Qualifikation, von „La Española“ (Klein-Spanien) für Haiti, „Nueva España“ für Mexiko, „Nueva Castilla“ für Peru und „Nueva Estremadura“ für Chile – der Eroberer Pedro de Valdivia stammte wie viele Konquistadoren aus diesem Teil Spaniens – bei den Spaniern über „New Hampshire“ und „New Jersey“ sowie „New South Wales“ in Australien bei den Briten bis zum fiktiven Neu-Schwabenland in der Antarktis. Dort, wo die ersten Herren ihren Platz an neue geben mussten, ergaben sich oft neue Bezeichnungen. Das niederländische „Hollandia Nova“ wurde von den Briten durch „Australia“ ersetzt, während sich „Zeelandia Nova“ als „New Zealand“ behauptete. Es gibt sogar Neunamen der zweiten Generation wie das 1545 von einem Afrikafahrer entdeckte „NeuGuinea“ oder „Neu-Mexico“, das durch eine Nordexpansion des alten im 17. Jahrhundert entstand.

Christentum und klassische Bildung Die Spanier hatten eine große Vorliebe für Heiligennamen. Schon der Chronist Gonzalo Fernández de Oviedo befand, eine spanische Landkarte nehme sich wie ein schlecht geordneter Heiligenkalender aus. Dieser konnte freilich auch korrekt angewandt werden, wenn zum Beispiel Sebastián de Vizcaíno 1602 an der kalifornischen Küste entlangsegelte und der Reihe nach die Namen der jeweiligen Tagesheiligen vergab – mit der Ausnahme von „Monterey“, wo er seinen Auftraggeber, den Vizekönig Conde de Monterrey, verewigte. Tagesheilige wurden gern bevorzugt, etwa von Magellan, der am 21. Oktober 1520 das „Cabo Virgines“ 120

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nach den legendären 11 000 Jungfrauen der heiligen Ursula benannte. Auch die berüchtigten „Virgin Islands“ der Karibik waren von Columbus nach der „Santa Ursula y las Once Mil Virgines“ geweiht worden. Verlegenheitslösung oder nicht – „Santiago“ und „Santa Maria“ waren Favoriten. In Spanisch-Amerika gibt es mindestens 15 Santiago, dazu drei auf den Philippinen. Neben den Heiligen wurden auch andere Glaubensgeheimnisse verewigt wie das Heilige Kreuz („Santa Cruz“ und „Veracruz“) oder das Altarsakrament (Sacramento). Aus dem katholischen „Le lac du SaintSacrement“ wurde später allerdings infolge Besitzerwechsel der nach dem König benannte „Lake George“. Protestanten hatten mangels Heiligen sowieso weniger Auswahl. Immerhin kam es zu „Providence“ (Vorsehung) des Roger Williams oder zu „Gnadenthal“ in Pennsylvania. Sie konnten auch auf die Bibel zurückgreifen und „Bethany“, „Bethesda“, „Bethlehem“, „Salem“ und „Zion“ gründen oder sich mit einfachem „Chapel Hill“ begnügen. Die Mormonen taten sich freilich mit Namen aus ihrer Heiligen Schrift schwer: Statt „Deseret“ wurde ihr Territorium indianisch „Utah“ getauft. Weniger christlich inspirierte Geografen, Politiker und andere Europäer verspürten dagegen nicht selten das Bedürfnis, bei der Namengebung klassische Bildung zu demonstrieren, nicht nur lateinische mit „Australia“, „Batavia“, „Indiana“, „Montana“, „Nigeria“, sondern auch griechische mit „Arctis“ und „Antarctis“, „Indianapolis“, „Indonesien“ und „Polynesien“. Einen weltweit einzigartigen Höhepunkt erreichte dieses Vorgehen in den USA nach der Revolution, als der puritanische Mythos durch den republikanischen ersetzt wurde. „Athens“ und „Rome“ traten nun an die Stelle von Zion und zwar jeweils über fünfzigmal. „Troy“ (Troja) gibt es fast einhundertmal, aber auch „Antioch“, „Palmyra“ sowie nach antiken Helden „Seneca“, „Hannibal“, „Cincinnati“ und viele andere. Insgesamt wurden 3095 derartige Ortsnamen gezählt – mit Schwerpunkt im Osten außerhalb Neu-Englands und im Mittleren Westen.

Im Dienst der Macht Die europäische Namengebung drückte nicht nur Machtwillen aus, oft genug huldigte sie der Macht durch Verewigung von Machthabern, zunächst von Monarchen: „Isabela“ nach der Königin des Kolumbus, 121

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„Philippinen“ nach Philipp II. von Spanien, „Louisiana“ nach Ludwig XIV. von Frankreich, „Victoria“ nach der britischen Königin, bis 1919 auch „Kaiser-Wilhelms-Land“ mit dem „Kaiserin-Augusta-Fluss“ in DeutschNeuguinea. Auch anderen Dynastien und ihre Mitglieder wurden bedacht mit „Austrialia“ in der Südsee das Haus Österreich, mit „Orleansville“ in Algerien die neue Königsfamilie, die auch mit „Philippville“, „Montpensier“, „Nemours“ und „Joinville“ vertreten war wie zuvor die Brüder Georgs III. mit ihren Titeln „Cumberland“ und „Northumberland“ in Australien. In diesem Raum leben auch besonders viele Minister weiter: „Auckland“, „Grafton“, „Melbourne“, „Rockingham“, „Shelbourne“, „Sydney“, auch Lords der Admiralität wie „Palmerstone“ und „Sandwich“. Der Mississippi ließ sich allerdings nicht in „Colbert“ umtaufen. In Amerika erinnert „Virginia“ an die „jungfräuliche“ Elisabeth  I., „Carolina“ an Karl II. und „Georgia“ an Georg II. Angeblich gegen seinen Willen erhielt William Penns Quäkerkolonie den Namen „Pennsylvania“. Später verherrlichte Amerika Revolutionshelden wie „Washington“, „Jefferson“, „Franklin“, auch ausländische wie „Lafayette“ oder „Steuben“. Weitere Präsidenten wie „Jackson“, „Lincoln“ und „McKinley“ kamen dazu, in Lateinamerika neben „Bolivar“ auch Kriegshelden wie „Sucre“. Nach der Unabhängigkeit wurde in beiden Amerika erstmals auch „Columbus“ immer wieder als Namenspatron entdeckt. Viele Forscher und Entdecker kamen ebenfalls zu Ehren. „Tasmania“ heißt heute nach seinem Entdecker Abel Tasman, der es nach seinem Generalgouverneur „Anthony-van-Diemen-Land“ genannt und außerdem die Namen des niederländischen Statthalters Frederik Hendrik und der Direktoren der Ostindischen Kompanie hinterlassen hatte. Die „Beringstraße“ erhielt den Namen ihres Entdeckers Vitus Bering erst durch James Cook, der seinerseits in der Südsee mehrfach verewigt ist. Der höchste Berg der Welt heißt bis heute „Mount Everest“ nach dem Leiter der britischen Vermessung Indiens George Everest. Ein Wechsel der Kolonialherrschaft brachte deshalb oft einen Namenswechsel mit sich. Hierfür steht beispielsweise die Ersetzung von „Fort Orange“ (nach der niederländischen Oranierdynastie) durch „Albany“, den schottischen Herzogtitels des neuen Landesherrn, des Herzogs von York, für den bereits „Nieuw Amsterdam“ in „New York“ umgewandelt worden war. Ähnliches gilt auch für „Nova Scotia“, das den französischen Namen „Acadie“ allerdings erst allmählich verdrän122

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gen konnte, nachdem das Land 1713 britisch geworden und die Acadiens 1755 vertrieben worden waren.

Toponymische Dekolonisation Trotz des Drangs zur Namensneubenennung setzte sich immer wieder auch die einheimische Bezeichnung durch wie „Lima“ statt „Ciudad de los Reyes“ (Stadt der Heiligen Drei Könige) oder „Macau“ statt „Povoação do nome de Deus de A-Ma-Cau da China“ (Siedlung zum göttlichen Namen), weil sie einfacher und gebräuchlicher war oder weil den neuen Herren kein neuer Name einfiel. Zahlreiche lateinamerikanische und afrikanische Länder sowie 24 US-Bundesstaaten tragen seit je einheimische Namen. Allerdings bezeichneten solche Namen von Haus aus oft nicht das betreffende Land, sondern höchstens einen Teil desselben oder hatten sogar eine ganz andere Bedeutung wie „Idaho“, auf Shoshonisch „Guten Tag“. Zudem fand regelmäßig eine kräftige Verballhornung der einheimischen Begriffe durch die Europäer statt. „Algier“ entstand etwa aus „al-Dschazair“. Aus „Quinetucquet“ (lange Mündung) wurde „Connecticut“ und aus „Hopoakan“ (Platz der Tabakpfeife) gut niederländisch „Hoboken“. 1778 wurden in Pennsylvania im Tal von „Wyoming“ (ursprünglich „M’chweaming“) 300 Siedler niedergemetzelt. Doch als es durch die sentimentale Dichtung Gertrude of Wyoming populär geworden war, wurde es zum geschätzten Ortsnamen, 1868 sogar zu dem eines Territoriums. Mancherorts fand mit der Unabhängigkeit eine topografische Dekolonisation statt. Zumeist wurden dabei alte Namen wiederbelebt, aus niederländisch „Batavia“ wurde wieder malaiisch „Djakarta“, aus französisch „Bône“ und „Orleansville“ wieder algerisch „Annaba“ und „Chlef“, für „Philippeville“ wurde beim Großreinmachen 1962 der Name „Skikda“ eingeführt, für „Nemours“ „Ghazaouet“. In Indien ersetzte „Mumbai“ das britische „Bombay“, während das ursprünglich indische, aber kolonial „belastete“ „Madras“ gegen „Chennai“ ausgetauscht wurde. Kongo, zeitweise „Zaïre“, kennt statt „Leopoldville“, „Stanleyville“ und „Elisabethville“ heute „Kinshasa“, „Kisangani“ und „Lubumbashi“. Auf dem anderen Kongoufer blieb es dagegen bei „Brazzaville“, denn Pierre Savorgnan de Brazza wird in der dortigen Republik als Staatsgründer verehrt. Sogar der 1917 nach dem ermordeten Präsidenten genannte „Mount McKinley“

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in Alaska heißt seit 2015 wieder „Denali“ (großer Berg) – ein eher seltener Fall einer sprachlichen Dekolonisation ohne politischen Wechsel. Identitätspolitisch besonders wichtig sind neue Ländernamen: singhalesisch „Sri Lanka“ statt des aus dem Pali abgeleiteten traditionellen „Ceylon“, puristisch „Myanmar“ für das umgangssprachliche „Burma“, „Zambia“ nach dem Fluss Sambesi statt „Nord-Rhodesien“, „Zimbabwe“ nach der berühmten Ruinenstadt anstelle von „Süd-Rhodesien“. Während „Burkina Faso“ (Land der Aufrichtigen) eine eindrucksvolle Neukreation anstelle des früheren „Obervolta“ darstellt, haben sich „Ghana“, früher „Goldküste“, und „Benin“, früher „Dahomey“, mit ihrem Namen Traditionen angeeignet, die außerhalb ihres Staatsgebietes beheimatet sind. Nicht nur „Zaïre“ statt „Kongo“ wurde rückgängig gemacht, auch „Lake Mobutu Sese Seko“ und „Lake Idi Amin Dada“ für den „Albert-“ und den „Eduard-See“ haben die beiden Diktatoren nicht überlebt; im Fall des „Victoria-Sees“ hingegen blieb das Haus Windsor ungestört. Besonders heftig verlief die topografische Dekolonisation dort, wo die Kolonialherrschaft nach einer begrenzten Dauer ein dramatisches Ende fand und wo die Siedlerkolonisation rückgängig gemacht wurde. Vergleichsweise stabil blieb die Namenslandschaft dagegen in den „erfolgreichen“ Siedlerkolonien Amerikas und Australiens. Indigene Namen konnten vor allem dann weiterleben, wenn sie einen Aneignungsprozess seitens der Kolonialmacht durchlaufen hatten. Aber auch andernorts eigneten sich die Einheimischen ganz selbstverständlich die von den europäischen Kolonialherren geschaffenen Namen an, sodass nicht überall in der postkolonialen Welt die europäischen Namen verschwunden sind. Die Prozesse der Namengebung verliefen insofern nie allein in eine Richtung, da an ihnen stets eine Vielzahl von Akteuren beteiligt war und auch unterschiedliche Bezeichnungen miteinander konkurrierten. Die Macht über Landkarten und Atlanten zementierte jedoch in gewisser Weise das Ergebnis beider Aneignungsprozesse, sodass die meisten Ortsnamen inzwischen eher unreflektiert gebraucht werden und ihr Bezug zur europäischen Kolonialgeschichte nahezu verschwunden scheint.

Literatur Urs BITTERLI, Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, München 1992.

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Paul CARTER, The Road to Botany Bay. An Essay in Spatial History, London/Boston 1987. J. B. HARLEY und David WOODWARD (Hg.), The History of Cartography, Bd. 6, Chicago 2015. Jan C. JANSEN, Erobern und Erinnern. Symbolpolitik, öffentlicher Raum und französischer Kolonialismus in Algerien, 1830–1950, München 2013. Édouard de MARTONNE, Les Noms de lieux d’origine française aux colonies, in: Revue d’histoire des colonies, Nr. 29 (1936), S. 5–50. Wolfgang REINHARD, Sprachbeherrschung und Weltherrschaft. Sprache und Sprachwissenschaft in der europäischen Expansion, in: ders. (Hg.), Humanismus und Neue Welt, Weinheim 1987, S. 1–36, und in: ders. (Hg.), Ausgewählte Abhandlungen, Berlin 1997, S. 401–433. Karl SCHLÖGEL, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a. M. 2007. Patricia SEED, Ceremonies of Possession in Europe’s Conquest of the New World, 1492– 1640, Cambridge 1995. George R. STEWART, Names on the Land. A Historical Account of Place-Naming in the United States, Boston/Cambridge 1958. Abel J. TASMAN, Die Entdeckung Neuseelands. Tasmaniens und der Tonga- und FidschiInseln, 1642–1644, Tübingen 1982. Gottlieb WEBERSIK, Geographisch-statistisches Welt-Lexikon, Wien 1908. Wilbur ZELINSKY, Classical Town Names in the United States. Historical Geography of an American Idea, in: Geographical Review 57, 4 (1967), S. 463–495.

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Amerika, gelobtes Land Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bot Amerika Millionen von europäischen Migranten große Hoffnungen und nährte die Träume derjenigen, die eine bessere Welt suchen  –  als ob dieses scheinbar unberührte Land eine neue Welt sein könnte, das gelobte Land.

Eine Gruppe europäischer Immigranten wartet auf die Fähre, die sie von Ellis Island nach New York transportieren soll. Anonyme Fotografie aus dem Jahr 1912.

AMERIKA, GELOBTES LAND

Fragt man, wo Amerika liegt, sucht man normalerweise keine geografische Angabe, sondern einen mythischen Ort. Denn in dem Namen liegt ein Versprechen, das fast jeder Europäer kennt: Neben Wohlstand, Gerechtigkeit und Sicherheit gibt es auch die Chance, reich und berühmt zu werden. Ob Amerika seine Versprechen einlösen kann, darüber mag jeder anders denken, aber jeder weiß vom Mythos Amerika und trägt ihn in sich. Europa besaß vor seiner Entdeckung Amerikas bereits einen ähnlichen Mythos: Es war ein Ort mit dem Namen Atlantis. Das erste Mal vom griechischen Philosophen Platon 360 v.  Chr. erwähnt, gleichen sich beide, weil sie ihren Bewohnern ein gutes, vielleicht sogar glückliches Leben versprechen. Auch wenn noch immer Archäologen und Hobbyhistoriker nach dem untergegangenen Atlantis suchen: Es existierte wohl nie wirklich. Das ist der Unterschied zum Mythos Amerika, der an einem realen Ort entstand. Bei Atlantis handelt sich um ein literarisches Konstrukt des Philosophen Platon, der eine idealere Welt denken wollte. In diesem Nachdenken hatte er viele Nachfolger: Neben römischen Philosophen und christlichen Theologen vor allem den Engländer Thomas Morus, der 1516 mit Utopia ein weiteres berühmtes Werk schuf, in dem eine ideale Gesellschaft beschrieben wird. Dieses Buch erschien 24 Jahre nach der Entdeckung der Neuen Welt durch Christoph Kolumbus. 1492 war das Geburtsjahr des Mythos Amerika. Darf man also sagen, dass Europa schon sehr lange – beginnend mit Platon im 4. Jahrhundert v.  Chr. – etwas Ähnliches wie Amerika gedacht und erhofft hatte? Dass also Amerika ein sehr alter europäischer Mythos ist, der schon viele Namen trug, aber unter dem Namen Amerika das erste Mal Wirklichkeit wurde?

Die Neue Welt Gesucht wurde allerdings zunächst kein neues Atlantis, sondern ein Handelsweg nach Indien. Gefunden hat der italienische Seefahrer Kolumbus 1492 die Bahamas in der heutigen Karibik. Den Kontinent Amerika entdeckte er für die portugiesische Krone auf seinen späteren Reisen. Sei es wegen der Dramaturgie, sei es aus Bequemlichkeit: Über Jahrhunderte wurde Kolumbus fälschlicherweise für seine Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 gefeiert. Auch der Name Amerika geht bekanntlich nicht auf 127

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Kolumbus, sondern auf den deutschen Kartografen Martin Waldsee­ müller zurück. Dieser fertigte 1507 die erste Karte von den neu entdecken Kontinenten im Atlantik an, die er nach dem italienischen Seefahrer Amerigo Vespucci benannte, um dessen einzigartige Leistungen zu ehren. Vespucci seinerseits gab den neu entdeckten Kontinenten eine weitere Bezeichnung: Neue Welt. Denn, so begründete er 1502 in einem Brief an seinen Gönner Lorenzo de’ Medici, es sei „die […] Existenz allen, die davon hören, völlig neu […]“. Der Brief wurde 1503 in zahlreichen europäischen Ländern veröffentlicht und so verbreitete sich der Begriff: Mundus Novus, Neue Welt, Nuevo Mundo, New World – eine Bezeichnung, die bis heute fest im europäischen Sprachgebrauch verankert ist und oft wie ein Synonym für Amerika verwendet wird. Das Heldenepos des Kolumbus fand in den USA 1992 zur 500-JahrFeier seiner Entdeckungen ein Ende. Seither gilt er zwar immer noch als europäischer Entdecker Amerikas, der die Besiedlung durch Europäer in Gang setzte; die Unterdrückung und die beinahe erfolgte Ausrottung zahlreicher Indianerstämme werden nun aber oft in einem Atemzug mit seinem Namen genannt. Einen Hinweis auf diese neue Interpretation der Geschichte sucht man allerdings noch im Jahr 2015 an dem Denkmal der Entdeckungen („Padrão dos Descobrimentos“) in Lissabon vergeblich. Für den homemaking myth (Heimatmythos) der USA spielt die May­ flower, das berühmte Segelschiff, das erste europäische Siedler 1620 ins heutige Plymouth brachte, inzwischen eine größere Rolle als Kolumbus. Die Entwicklung weg vom Heldenepos hin zur Ehrung der mutigen Siedler findet ihre Entsprechung auch darin, dass heute Thanksgiving einer der wichtigsten Feiertage der USA ist. An Thanksgiving dankt man Gott nicht nur für alles, was das fruchtbare Land in Amerika bietet, sondern gedenkt auch den Native Americans, die vielen Siedlern mit Lebensmitteln durch den ersten harten Winter halfen. Dieser Gründungs-und-Heimat-Mythos der USA spiegelt sich im europäischen Amerika-Mythos wider: Erst unter zahlreichen Entbehrungen schafft man es, in Amerika zu Wohlstand und Glück zu kommen.

Trunkenheit und Goldrausch Zunächst gewannen aber nicht hart arbeitende europäische Bauern, Handwerker und Tagelöhner durch die Entdeckungen der portugiesischen, 128

AMERIKA, GELOBTES LAND

italienischen, spanischen und englischen Seefahrer in Amerika. Erst einmal zahlte es sich für die Königshäuser und die katholische Kirche aus, dass Europa expandierte und in Übersee Kolonien gründete. Während die Kirche sehr erfolgreich begann, die Bewohner Süd- und Mittelamerikas zu missionieren und so zahlreiche neue Katholiken gewann, ging es den weltlichen Herrschern um Geld und Macht. Der immense Reichtum – die Goldschätze und Silberminen der Maya, Azteken und Inka – gehört zu den festen Bestandteilen des frühen Mythos Amerika. Während allerdings dieser erste „Goldrausch“ den Adel und das Militär infizierte, erlagen im 19. Jahrhundert abenteuerlustige Bürgersöhne, biedere Handwerker und Bauern dem „Goldfieber“ in Kalifornien und Alaska. In einem ähnelten sich alle diese „Glücksritter“: Ihren akuten Frauenmangel behoben die Konquistadoren und die Goldschürfer, indem sie einheimische oder aus Europa importierte Prostituierte mit sich schleppten. Wie freiwillig die Frauen und Mädchen ihre Dienste erbrachten, bleibt dahingestellt. Ab etwa 1525 importierte Spanien die Gold- und Silberschätze nach Europa und Hernán Cortés begann die Maya sowie Azteken und Francisco Pizarro die Inka zu unterwerfen. Die Reichtümer, die durch die Erz-, Silber- und Quecksilbergewinnung erworben wurden, gingen auf Kosten der Arbeiter: Je nach Region setzte man für die stark gesundheitsschädlichen Arbeiten afrikanische Sklaven, indigene Zwangs- oder Lohnarbeiter ein. Langfristig rentierte sich die Ausbeutung Mittel- und Südamerikas für die spanische Krone jedoch nicht: Durch die immensen Silberzufuhren verfiel der Wert der Silbermünzen in Spanien, es kam zu einer Inflation im Verlauf des 16. Jahrhunderts. In der Folge musste sich die spanische Krone stark bei den führenden Banken Europas verschulden. Zu diesen ersten sehr schmerzhaften Erfahrungen im globalen Kapitalismus kam dann auch noch der Verlust der Vormachtstellung in Europa hinzu. England stieg zur neuen Seemacht auf. Verlegte sich England zunächst darauf, spanische Schiffe, die voll beladen mit Gold- und Silberschätzen aus Südamerika kamen, in Piratenmanier zu kapern, fügte es 1588 der spanischen Armada die entscheidende Niederlage bei der Schlacht bei Gravelines im Ärmelkanal zu. In der Folge konnte sich England – unbehelligt von Spanien – sein Kolonialreich an der Ostküste Nordamerikas aufbauen. 129

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Landgewinnung Als der amerikanische Unabhängigkeitskrieg 1775 ausbrach, bestanden 13 britische Kolonien an der Ostküste Nordamerikas. Anders als die spanische verfolgte die britische Krone bei den Gründungen der Kolonien keine militärischen Ziele, sondern sie wollte Land zur Besiedlung gewinnen und den Handel fördern. Die erste königliche Kolonie mit Namen Virginia gründete Sir Walter Raleigh 1585 für die englische Königin Elisabeth I. Die Männer und Frauen, die man dort auf Roanoke Island ansiedelte, fielen aber vermutlich einem Indianerüberfall zum Opfer – man fand später keinerlei Spuren mehr von ihnen. Die erste permanente Siedlung wurde Jamestown, das 1607 in Virginia von der Handelsgesellschaft Virginia Company of London gegründet wurde. Schon zwölf Jahre später kam 1619 in der Stadt das erste Schiff an, auf dem sich afrikanische Sklaven befanden. So lebten schon nach wenigen Jahren die drei Bevölkerungsgruppen in Virginia zusammen, die die nächsten Jahrhunderte Nordamerikas prägen sollten: europäische Siedler, afrikanische Sklaven und Native Americans. In kürzester Zeit entstand das, was wir heute positiv eine multikulturelle Gesellschaft nennen würden. Im kolonialen Nordamerika jedoch gab es zu viele Verlierer: neben den afrikanischen Sklaven die Native Americans. Während die Spanier die Maya, Azteken und Inka unterwarfen und ausbeuteten, gingen die Briten im 17. und 18. Jahrhundert anders vor. Man respektierte einige Stämme als wichtige Handelspartner: Sie lieferten den britischen Händlern beispielsweise Biberfelle, die in Europa sehr begehrt waren. Andererseits besaßen sie das Land, das die Europäer für sich haben wollten.

„Vernichte die Wilden“ Um an dieses Land zu kommen, ließen die Briten die europäischen Siedler immer weiter auf indianisches Gebiet ziehen, um dann erst im Nachhinein über den Verkauf von Land zu verhandeln. Einige Stämme zogen weiter Richtung Westen, andere arrangierten sich mit weniger Land und überfielen manchmal europäische Siedler, um sich zu wehren. Aber diese Scharmützel verursachten nicht, dass sich die Anzahl der indigenen Bewohner Nordamerikas im 17. und 18. Jahrhundert so drastisch 130

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reduzierte: Die europäischen Grippeviren waren es, gegen die die Indianer keine Abwehrkräfte besaßen. Schätzungen gehen davon aus, dass im südlichen Neuengland zwischen 1570 und 1670 über 100 000 Indianer an Infektionen starben. Auch einem weiteren europäischen „Mitbringsel“ waren sie hilflos ausgeliefert: dem Alkohol, den sie nicht kannten und deshalb nicht einschätzen konnten. Einer der späteren Gründerväter der USA, Benjamin Franklin, schrieb nach Verhandlungen, die er mit den Irokesen 1754 führte: „[…] wenn es die Absicht der Vorhersehung ist, diese Wilden auszurotten, um für die Bebauung des Bodens Raum zu schaffen, so ist es mir nicht unwahrscheinlich, dass hierzu der Rum das geeignete und hierfür bestimmte Mittel sein mag.“ Die Brutalität dieser Worte zeigt eines deutlich: Den meisten Europäern war klar, dass hier ein erbarmungsloser Verdrängungswettkampf zwischen ihnen und den Indianern am Laufen war – auch wenn Franklin hier noch den lieben Gott als Täter vorschiebt. Niemals betrieben die englischen Kolonialherren oder die späteren USA eine systematische Ausrottung, vielmehr wurde lange versucht, zwischen Verdrängung der Indianer nach Westen und Verhandlungen um Landverkäufe zu lavieren. Das erwies sich allerdings im 19. Jahrhundert als nicht mehr ausreichend, wollte man den Landhunger der Millionen eingewanderten Europäer stillen. Man begann, ganze Stämme in Reservate abzuschieben. Gegenwehr wurde blutig niedergeschlagen: Nun starben mehr Indianer durch Gewalt als durch Grippeviren und Alkohol. Was dachten die europäischen Siedler, wie fühlt sich das an, wenn man weiß, dass der Traum von der eigenen Farm auf Kosten anderer geht? Gegen ein eventuelles Schuldbewusstsein half, dass die meisten erst auf das Land kamen, nachdem die Armee die Indianer vertrieben hatte. Man war also unter sich und so konnte man sich selbst sogar als pioneer feiern: In ihren Augen war das Land wüst und leer, erst durch sie entstand aus dem Nichts heraus die Zivilisation. Sie übersahen geflissentlich die andere Lebensart der Indianer, die neben etwas Ackerbau auf dem Großteil ihrer Ländereien Jagd betrieben. Die Natur blieb dafür unverändert. Das, was die Siedler meist nur noch vorfanden, waren alte Indianerpfade, die sie oft zu Straßen ausbauten. Und nachdem die Europäer das Land kultiviert, Häuser und Kirchen gebaut hatten, wurde es für sie erst wertvoll. Ihr Stolz auf diese Zivilisationsleistung stellt ein wesentliches 131

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Element im Mythos Amerika dar. Die darin liegende Ignoranz gegenüber fremden Kulturen sind Verhaltensweisen, die Amerikanern und Europäer bis heute vom Rest der Welt vorgeworfen werden. Fast nur Akademiker sprachen im 19. Jahrhundert von Humanismus, kannten so etwas wie „Respekt gegenüber Fremden“ – eine solche Art der Wertschätzung war nicht Teil der allgemeinen Erziehung. Prägend war noch immer die christliche Nächstenliebe. Sicher stellten für einige Europäer die Indianer „Wilde“ dar, die keinen Anspruch auf eben diese Nächstenliebe besaßen. Die meisten Siedler konnten jedoch mit Fug und Recht von sich sagen, dass sie persönlich keinem Indianer etwas zuleide getan hatten. Diesen Job hatte die Armee für sie erledigt. Vielleicht war es auch so: Wenn man unbedingt seinen Traum verwirklichen möchte, kann man auf den Albtraum des anderen keine Rücksicht nehmen. Sie waren auf der Suche nach freiem Land gewesen, das für sie und ihre Familie über Generationen Wohlstand versprach – ohne feudalistische Abhängigkeiten. Und genau das fanden Millionen von ihnen. Einige besaßen allerdings noch ein anderes Anliegen mit ihrer Auswanderung nach Amerika: Sie suchten einen Ort, an dem sie frei ihren Glauben ausüben konnten. Die Möglichkeit dazu legten Briten bereits in der Kolonialzeit.

Das Streben nach Freiheit Die 1682 von William Penn gegründete Kolonie Pennsylvania war die erste, die die Glaubensfreiheit in ihrer Verfassung verankerte. William Penn selbst war Quäker und hatte für seine von der anglikanischen Kirche abweichende Überzeugung in London im Kerker gesessen: Nur sein Reichtum und die Tatsache, dass der englische König bei ihm Schulden hatte, retteten ihn wohl vor längerer Verfolgung. Bereits 1677 hatte sich Penn auf einer Reise durch verschiedene deutsche Länder an dortige Pietisten und Mennoniten gewandt, um sie für die Auswanderung in seine geplante Kolonie zu begeistern. Die Pietisten und Mennoniten gehörten zu den Glaubensgemeinschaften, die nicht die Linie der offiziellen protestantischen Kirche vertraten. In den unsicheren Zeiten nach dem Dreißigjährigen Krieg waren protestantische Herrscher nicht bereit, ihre Macht und Autorität von diesen Minderheiten infrage stellen zu lassen. Deswegen ließen sie deren Glaubensanhänger verfolgen. 132

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33 deutsche Mennoniten und Pietisten entschlossen sich schließlich zur Auswanderung in Penns Kolonie und landeten am 6. Oktober 1683 in Philadelphia. 1688, nur fünf Jahre später, schrieben diese Menschen, die in einem feudalistisch-absolutistischen System sozialisiert waren, gemeinsam mit holländischen Quäkern ihr erstes politisches Manifest. Es richtete sich gegen den Sklavenhandel und zeigt, dass ihr Humanismus tief in ihrer religiösen Überzeugung wurzelte: „Gerade weil diese Menschenhändler sagen, sie seien Christen, ist es besonders schlimm, denn wir haben gehört, dass die Neger gegen ihren Willen hierhergebracht werden und das viele von ihnen geraubt wurden. Nur weil sie schwarz sind, besteht kein Recht, sie als Sklaven zu halten […]. Man sagt, dass alle Menschen gleich zu behandeln seien, keine Unterschiede bei Alter, Herkunft oder Farbe zu machen seien […].“ Es waren also bereits frühe Kolonisten in Amerika, die begannen, um eine humanere Gesellschaft zu ringen, eine freie Gesellschaft, die sich stark von der politischen Realität in Europa unterschied. Hochgebildet, wie viele von ihnen waren, hatten sie sicherlich von der einen oder anderen Utopie gelesen. Diese Suche nach Freiheit gehört zum Kern des Mythos Amerika, lange Zeit symbolisierte Amerika nichts mehr als die Freiheit. Diese Assoziation funktioniert heute für viele Europäer nicht mehr ohne Weiteres. Es fand ein Wandel statt, der Vorwurf des amerikanischen Imperialismus wurde lauter und lauter, vor allem während des Vietnamkrieges, der Debatten um die Stationierung der Pershing-Raketen in Deutschland und mit dem Foltergefängnis Guantanamo nach 9/11. Doch bis zu diesem Verfall des amerikanischen Freiheitsideals aus europäischer Sicht war es 1688 noch ein langer Weg. Zunächst warteten noch Millionen von Europäern darauf, ihren American Dream leben zu können.

Die Amerikaner Im 18. Jahrhundert standen zahlreiche Auswanderungswillige allerdings vor dem Problem, dass sie sich die sehr teure Überfahrt nach Amerika nicht leisten konnten. Schnell verbreitete sich das Redemptioner-System, bei dem die Auswanderer für ein Überfahrtticket ihre Arbeitskraft zumeist für drei Jahre an amerikanische Farmer, Plantagen- oder Ladenbesitzer verkauften. Das System war weit davon entfernt, gerecht zu sein: Oft betrogen Kapitäne gemeinsam mit Amerikanern die Redemptioner, indem sie sie 133

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während der Überfahrt zwangen, einen neuen Vertrag zu unterschreiben, der eine viel längere Abarbeitungszeit der Überfahrtsschulden vorsah. Weigerte man sich, wurde beispielsweise damit gedroht, man würde auf einem Zwischenstopp irgendwo auf einer Insel ausgesetzt werden. Die Ungerechtigkeiten hielten aber die wenigsten davon ab, es selbst als Redemptioner zu versuchen: Zu groß war inzwischen die Verlockung Amerikas. Sei es durch das Redemptioner-System, durch Zwangsmigration oder durch eine klassische Auswanderung: Die Anzahl der Einwohner in den Kolonien stieg stetig. Am Ende der Kolonialzeit lebten kurz vor Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges etwa 500 000 Sklaven und zwei Millionen europäischstämmige Menschen in den 13 Kolonien. Die Kolonisten nannten sich nun immer öfter Amerikaner und gerieten mehr und mehr in Steuer- und Rechtsstreitigkeiten mit dem englischen Mutterland: Das lag vor allem daran, dass den Amerikanern – immer noch Bürger Englands – Rechte abgesprochen wurden, die in Großbritannien für jeden Bürger galten. Der Riss zwischen Kolonien und Mutterland ließ sich nicht mehr kitten. Im Frühsommer 1775 kam es zu ersten bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen englischen und amerikanischen Soldaten: Der Unabhängigkeitskrieg hatte begonnen. Als am 4. Juli 1776 die 13 Kolonien ihre Unabhängigkeit und ihr Recht, einen Staatenbund zu bilden, erklärten, jubelten nicht nur die Amerikaner, sondern auch zahlreiche Europäer. Benjamin Franklin warb für den Krieg europäische Freiheitskämpfer an: So half der polnische Adlige Tadeusz Ko´sciuszko als Oberst und Chefingenieur der amerikanischen Kontinentalarmee ab 1776, durch seine Befestigungsanlagen den Krieg zu gewinnen. Die hohe Belohnung, die er für seine Verdienste erhielt, spendete er der Antisklavereibewegung. Da er später auch den polnischen Freiheitskampf unterstützte, steht nicht nur ein National Memorial in Philadelphia für ihn, sondern er wird auch in Polen als Nationalheld verehrt. Für viele Intellektuelle und Bürgerliche führten die Amerikaner einen Krieg gegen die Herrschenden und für das Volk, gegen die Unterdrückung und für die Freiheit. Es wurde zu einer Art Stellvertreterkrieg, den viele gern in Europa geführt hätten und bei dem sie nun mit den Amerikanern mitfieberten. Finanziell unterstützt wurden sie von den Franzosen, die damit vor allem ihrem alten Erzfeind Großbritannien schaden wollten. So besorgte Marie-Joseph Motier, Marquis de La Lafayette, 1779 in Paris 134

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problemlos frische Gelder für das amerikanische Militär, in dem er zuvor schon zwei Jahre erfolgreich gegen die Engländer gekämpft hatte.

Säkularisierung des Glücks In der Unabhängigkeitserklärung findet sich das neue Selbstverständnis des modernen Menschen: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit.“ Ergänzt wurden diese Rechte 1791 durch das Inkrafttreten der Bill of Rights, zu denen unter anderen die Rede-, Presse- und Religionsfreiheit gehörten. 1776 und 1791 waren also Jahre, in denen so etwas wie ein Wunder geschah. Der so lang gehegte europäische Traum einer nach Gerechtigkeit strebenden Gesellschaft war in die Tat umgesetzt worden. Und es war noch viel mehr geschehen, denn die Ideen, die die französischen Aufklärer erst wenige Jahrzehnte zuvor entwickelt hatten, fanden Eingang in die amerikanische Verfassung: die Gewaltenteilung eines Charles de Montesquieu und der Gesellschaftsvertrag eines Jean-Jacques Rousseau. Da stand etwas so Schönes und Wahres auf einmal nicht nur mehr in dem utopischen Roman eines Schriftstellers oder im Werk eines Philosophen, sondern in der Verfassung eines Staates. Noch 1827 seufzte Johann Wolfgang von Goethe in einem Gedicht: „Amerika, du hast es besser […].“ Für die meisten Europäer versprach all das vor allem eines: Das Glück auf Erden ist in Amerika zu finden. Das war die Botschaft, die sich in den nächsten Jahrzehnten wie ein Lauffeuer durch Europa verbreitete. Dieses Glück hing im 19. Jahrhundert für die meisten davon ab, ein Leben ohne wirtschaftliche Not zu führen. Der Zeitpunkt, an dem persönliches Glück hieß, sich selbst zu verwirklichen, ob als lonesome Cowboy, in einer Hippiekommune oder als berühmter Popstar, lag noch weit in der Zukunft, im 20. und 21. Jahrhundert.

Ganz im Westen Zum Glück für die Europäer des 19. Jahrhunderts besaßen die USA nicht nur eine vielversprechende Verfassung, sondern – je weiter sie nach Westen marschierten – auch Land, sehr viel Land. 135

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Nach der Unabhängigkeitserklärung 1776 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 entstand das Zeitfenster, in dem Millionen von Europäern ihren American Dream uneingeschränkt leben konnten. Es waren genau diese 140 Jahre, die den Mythos Amerika unsterblich machten. Weder davor noch danach besaß er jemals wieder diesen einzigartigen Zauber. Mangelte es zuvor an erschwinglichen Überfahrtstickets und Bürgerrechten, herrschten danach Einwanderungsquoten oder Wirtschaftskrisen. Und irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den meisten Ländern zumindest in Westeuropa politisch, sozial und wirtschaftlich so gut, dass nur noch wenige seiner Bürger auswandern wollten. Und die östlichen Länder lagen abgeschlossen hinter dem Eisernen Vorhang. 44 Millionen Europäer gingen im langen 19. Jahrhundert nach Übersee, die meisten von ihnen in die USA. Ursachen und Gründe für diese europäische Massenauswanderung waren zahlreich: die Kartoffelkrankheit in Irland, der Landmangel in England und Deutschland, das Latifundienwesen in Süditalien, die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung im russischen Zarenreich und eine fehlende Industrialisierung in weiten Teilen Österreich-Ungarns, um nur einige zu nennen. Mit 5,5 Millionen stellten die Deutschen die größte Einwanderergruppe in den USA im 19. Jahrhundert. Sie zogen mit ihren Familien ebenso wie die Schweden gern in den als sicher geltenden Mittleren Westen, Iren und Engländer folgten oft der frontier: dieser berühmten Grenze zwischen dem von den USA in Besitz genommenen Land und dem Land der Native Americans, die sich immer weiter nach Westen schob. Dort entstand der Mythos vom „Wilden Westen“, hier musste man sich seinen Platz erobern und erkämpfen – gegen Indianer, Luchse und Bären mit dem Gewehr, gegen eisige Winter, anhaltende Dürre und unendliche Einsamkeit mit Ausdauer. Ein ganz besonderes Lebensgefühl, für das für viele weiße Amerikaner bis heute das Recht auf das Tragen einer Waffe steht – oft belächelt gerade in Europa. Viele Einwanderer vermeldeten bald wirtschaftliche Erfolge in die Heimat: Eine nicht ungewöhnliche Geschichte lautete, dass jemandem, der in seiner deutschen Heimat 0,75 Hektar Land besessen hatte und dessen Familie nebenbei noch Geld durch Leinenweberei verdienen musste, in den USA innerhalb von knapp 15 Jahren 64 Hektar Land gehörten. 85-mal so viel Besitz wie zuvor – das ist eine unfassbare 136

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Erfolgsgeschichte. Millionen Briefe mit solchen oder ähnlichen Glücksbotschaften gingen über den Atlantik, setzten eine Kettenreaktion in Gang und Hunderttausende Familien zogen ebenfalls in die Neue Welt, um für immer zu bleiben. Neue Orte, Townships und Countys entstanden – Namensvettern europäischer Orte oder Persönlichkeiten wie New Ulm, Rome Township, Lafayette County.

Der Glaube an den Fortschritt Ende des 19. Jahrhunderts änderten sich die USA. Freies Land stand ab den 1870er-Jahren kaum noch zur Verfügung. Zum Glück für die Armen Europas schritten die Urbanisierung und Industrialisierung des Landes unaufhaltsam voran: Für junge Männer gab es Jobs auf den Megabaustellen der neuen boomenden Städte, bei den riesigen Kanalbau- und Eisenbahnbauprojekten und in der Industrie mit ihrem Turbowachstum. Obwohl sich auch Europa in dieser Zeit rasant veränderte, war in den USA alles noch mal viel größer, mächtiger und schneller. Entscheidende Erfindungen für den technischen Fortschritt wurden dort gemacht: So lässt der Chicagoer Fleischproduzent Gustavus Swift 1877 einen gekühlten Eisenbahnwagen entwickeln. Leicht verderbliche Ware wie Fleisch, Milch, Obst und Gemüse konnte nun über Tausende Kilometer über Land und bald auch in Kühlräumen auf Dampfschiffen verschickt werden. Ein weltweiter Handel mit frischen Lebensmitteln entstand, der bis heute dazu führt, dass wir uns an der Fleischtheke zwischen US-Beef und argentinischem Rinderfilet entscheiden können. 1879 erfand Thomas E. Edison die Glühbirne; tausendfach von 50 Millionen Menschen am Palace of Electricity auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 bewundert, ermöglichte sie bald in jedem Haushalt Licht, das unabhängig von der Tageszeit und brandgefährlichen Kerzen und Öllampen war. Und 1913 schließlich ging das erste Fließband beim Autobauer Ford in Detroit in Betrieb. Eine weitere Rationalisierung des Arbeitsprozesses setzte ein und verbilligte teure Produkte wie Autos so sehr, dass sie zu Massengütern werden konnten. Weltweiter Handel und Massengüter führten dazu, dass globale Markenprodukte entstanden, die überall bekannt waren. Auch hier setzten die USA vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg Maßstäbe: Marken wie Coca-Cola, Marlboro und McDonald’s stellten über Jahrzehnte die Symbole der westlichen Konsumgesellschaft dar. 137

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Der Mythos Amerika bekam einen neuen, modernen Antrieb: Nicht mehr das freie Land beflügelte die Fantasien, sondern Fortschritt und Technikgläubigkeit. Für viele standen die USA für eine Lebensweise, in der demokratisch alle am Wohlstand teilhaben konnten. Als dann noch durch Rock ‘n‘ Roll, die Hippiebewegung und Pop ein neues, von überkommenen Traditionen befreites Lebensgefühl einsetzte, schien der Amerikanisierung der westlichen Welt nichts mehr entgegenzustehen. Schon früh zeigte sich allerdings die Zweischneidigkeit des American way of life: Anders als in zahlreichen europäischen Ländern entwickelte sich kein System der sozialen Absicherung. Ein Beispiel für das brutale Vorgehen gegen die Arbeitnehmervertreter stellt die Haymarket Riot in Chicago im Mai 1886 dar, deren angebliche Anführer hingerichtet wurden. Der 1. Mai ist in Gedenken an dieses Geschehen bis heute „Internationaler Tag der Arbeit“. In den USA setzte man früh auf eine ganz andere Form der sozialen Absicherung: den sozialen Aufstieg für alle ermöglichen – etwas, was heute nicht mehr funktioniert. Junge Frauen, die um 1900 als Dienstmädchen arbeiteten, versuchten einen Job als Verkäuferin oder Sekretärin zu bekommen: Ein white-collar job, in dem man nicht mehr körperlich arbeiten musste – davon träumten viele junge Männer und Frauen. Mehr und mehr Eltern sahen die Chance ihrer Kinder mit einem Collegebesuch steigen: Farmer und Arbeiter begannen ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu finanzieren, als sie sie selbst gehabt hatten. Und so mancher junge Mann sehnte sich nach der einen großen Chance: Der gigantische Wirtschaftsboom der USA brachte die ersten Dollarmillionäre wie die Vanderbilts, die niederländische Wurzeln hatten, oder die Heinz-Ketchup-Dynastie, deren Begründer aus Deutschland stammte, hervor. Diese Familien ließen eine Karriere „vom Tellerwäscher zum Millionär“ möglich erscheinen. Ob nun der kleine Aufstieg zur Sekretärin oder zum Angestellten oder der große Sprung zum Millionär: Auch für die Chance, immer noch etwas Besseres erreichen zu können, stand der Mythos Amerika für viele Europäer.

Seine Chance ergreifen Die meisten, die in die USA einwanderten, zogen in Orte, in denen es Nachbarschaften ihrer Landsleute gab. Es erleichterte offenbar den Abschied von der Heimat. So sprach man in Little Italy in New York 138

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I­talienisch, kaufte in italienischen Geschäften und meist heiratete man Landsleute oder deren Kinder. Während die vielen Little Germanys, die es vor dem Ersten Weltkrieg in zahlreichen amerikanischen Städten gab, danach verschwanden, bestehen die Erinnerungsorte anderer europäischer Einwanderercommunitys bis heute fort wie etwa Little Italy in New York oder das Frenchquarter in New Orleans, auch wenn sie keine Communitys mehr beherbergen, sondern mehr folkloristischen Charakter besitzen und touristischen Zielen dienen. Das German heritage findet sich heute vor allem bei Festen wie dem Oktoberfest in Cincinnati und dem Wurstfest in New Braunfels, Texas, wieder. Europäer kommen dort aus dem Staunen darüber, was angeblich europäische Bräuche und Sitten sind, kaum heraus. Einige der jungen Europäer, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg in die USA einwanderten, zeigt Charlie Chaplin 1917 in seinem Film The Immigrant so wunderbar stereotyphaft auf einem Ozeandampfer kurz vor der Ankunft: die südeuropäischen Schlitzohren, die die beiden allein reisenden kopftuchtragenden Osteuropäerinnen berauben, den jungen britischen Gentleman mit Melone, der sein Glück nicht nur durch Geld, sondern auch durch Liebe finden möchte. Für andere war die Überfahrt noch immer unerschwinglich und sie mussten Mittel und Wege finden, um das Ticket zu bezahlen: In Kazans Film America, America überlegt der junge Grieche Stavros 1896, ob er heiratet, um das Geld der Aussteuer für die Überfahrt zu nutzen. Alles würde er tun, um nur endlich nach Amerika zu gelangen. Denn eines boten die USA zu dieser Zeit im Überfluss: Chancen und Jobs. Ob große oder kleine Chancen – sie alle symbolisierte seit 1886 die Freiheitsstatue, die Frankreich den USA schenkte und die das berühmte Gedicht von Emma Lazarus trägt: „Gebt mir eure Müden, eure Armen, / Eure bedrängten Massen, die frei zu atmen begehren.“ Nicht alle konnten ihre Chancen nutzen, nicht allen gelang es, ihren Traum zu leben: Wer es nicht schaffte, aus den ersten dürftigen Quartieren wie denen in Lower Manhattan rund um die Orchard Street rauszukommen, konnte im Elend versinken. So mancher kehrte frustriert und gedemütigt zurück nach Europa. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts stieg die Anzahl dieser Rückkehrer immer stärker an: Die Lebensbedingungen in den USA wurden härter und härter. 1929 riss der Schwarze Freitag viele in die Arbeitslosigkeit, 139

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es folgten die wirtschaftlich für die USA katastrophalen 1930er-Jahre und dann der Zweite Weltkrieg. Während des Krieges wurde das Land für europäische Juden zum Zufluchtsort, nach dem Krieg für knapp 200 000 Holocaustüberlebende zur neuen Heimat. Im kalifornischen Pacific Palisades ließen sich während des Krieges deutschsprachige Intellektuelle wie Thomas Mann und Bertolt Brecht nieder, die vor der nationalsozialistischen Diktatur geflohen waren. Nach dem Krieg gingen die europäischen Auswandererzahlen immer stärker zurück, statt der Europäer kamen nun Asiaten, Mexikaner und Kubaner als neue Einwanderergruppen ins Land.

Sehnsuchtsort versus Erinnerungsort Als die deutsche Massenauswanderung in die USA langsam abebbte, veröffentlichte der deutsche Schriftsteller Karl May 1893 den Roman Winnetou, der rote Gentleman. Hier zeichnet er das Bild von den guten Deutschen, die den braven Indianern gegen die schlechten, geldgierigen Angloamerikaner halfen. Es war ein Buch gegen die rauchenden Schlote der rasanten Industrialisierung, die zur Zeit seiner Veröffentlichung in Deutschland stattfand: gegen den Sieg der Technik und für die Natur und für die Freiheit. Das Buch ist kitschig bis ins Unerträgliche, aber Generationen von deutschen Kindern und Jugendlichen lasen es bis weit in die 1970er-Jahre und es entführte sie aus ihrem grauen Alltag an einen Sehnsuchtsort namens Amerika, der sehr wenig mit dem Mythos Amerika gemein hat, denn die Protagonisten finden ihr Glück in einer Traumwelt und nicht in der Realität. Anders dagegen ist die Auswanderergeschichte des schwedischen Schriftstellers Vilhelm Moberg: Seine berühmte fünfbändige Romanreihe aus den Jahren 1949 bis 1959 über eine schwedische Auswanderergruppe, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Minnesota auswandert, erzählt den entbehrungsreichen Weg der Emigration von der Abreise über die Überfahrt bis zur Ankunft und den weiteren, letztendlich erfolgreichen Weg der Familien in den USA. Hier wird ein literarisches Beispiel für eine Familie geschaffen, die den Mythos Amerika leben durfte. In seinem Prolog zum ersten Band schreibt Moberg über die schwedischen Auswanderer: „In der Heimat sind ihre Namen vergessen, und das Abenteuer ihrer Auswanderung wird bald der Sage und Legende 140

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angehören.“ Lange Zeit schien es so, als habe er recht behalten. Aber Ende der 1980er-Jahre begann man, sich wieder zu erinnern, und seitdem entstehen überall in Europa Museen: im schwedischen Växjö das Utvandrarnas Hus, im irischen Omagh das Ulster Museum, im italienischen Genua das Galata Museo del Mare, im deutschen Bremerhaven das Deutsche Auswandererhaus und im französischen Cherbourg die Cite de la Mer. Sie sind das Gegenstück zum größten Einwanderungsmuseum der Welt: Ellis Island. Die kleine Insel vor Manhattan war von 1892 bis 1954 Einreisekontrollstation für die europäischen Einwanderer. Zwölf Millionen reisten über Ellis Island ein. Für diejenigen, die die Kontrollen nicht bestanden, war es die „Insel der Tränen“, für alle anderen das Gateway to America.

Ein enttäuschter Mythos Mit der neuen Weltmachtstellung der USA nach dem Ersten Weltkrieg schieden sich die Geister beim Thema Amerika mehr und mehr. Empörten sich die europäischen Linken tagsüber über den Prozess gegen die beiden italienischen Einwanderer Ferdinando Sacco und Bartolomeo Vanzetti, tanzten sie abends zur neuen Musik des Jazz. Der oft dogmatisch anmutende Antiamerikanismus der europäischen Intellektuellen paart sich heute oft mit politischen Protesten einer breiten Öffentlichkeit: zu sehen in Protestmärschen und Demonstrationen gegen den Irakkrieg oder das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP). Die globale Verbreitung amerikanischer Lebensart führt in zahlreichen europäischen Ländern zu Gegenmaßnahmen: So werden in Frankreich Förderprogramme zur Stärkung der französischen Sprache und gegen die Einführung von Amerikanismen eingesetzt. In Deutschland hält sich das Bildungsbürgertum zugute, dass seine Kinder keine Coca-Cola trinken; gleichzeitig erträumt sich so mancher, dass der Nachwuchs einen Abschluss an einer US-amerikanischen Eliteuniversität wie Harvard oder Yale macht. Für Europa besitzt der Mythos Amerika keinen Zauber mehr: Freiheit, Wohlstand und Demokratie finden sich in Europa inzwischen auch – inklusive besserer Sozialsysteme. Vielmehr hadert der Kontinent heute damit, dass er selbst für zahlreiche Afrikaner und Menschen aus dem Mittleren Osten nicht nur ein Zufluchtsort, sondern offenbar auch zu 141

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einem mythischen Ort geworden ist, an dem man unbedingt leben muss. Denn um dorthin zu gelangen, nehmen sie sogar den Tod auf sich. Wovon träumt Europa jetzt: Was soll nach Atlantis und Amerika kommen?

Literatur Simone BLASCHKA-EICK, In die Neue Welt! Deutsche Auswanderer in drei Jahrhunderten, Reinbek 2015. Jim CULLEN, The American Dream. A Short History of an Idea that Shaped a Nation, Oxford 2004. Dirk HOERDER und Diethelm KNAUF, Fame, Fortune and Sweet Liberty. The Great European Emigration, Bremen 1999.

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Hollywood – die Erinnerungsfabrik Europas Hollywood ist ein großer Bilderlieferant, der die Bilderwelt und das Gedächtnis der Welt nährt. Doch diese amerikanische Manufaktur wurde zuerst von der europäischen Einwanderung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angetrieben.

Humphrey Bogart, Ingrid Bergman und Regisseur Michael Curtiz am Set des Kultfilms Casablanca im Jahr 1942.

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Man hat die Daguerreotypie mit ihrer silbernen und schwarzen Ober­fläche einmal als „Gedächtnisspiegel“ bezeichnet, als ob die Fotografie die Erinnerung an das aufbewahren könnte, was sich vor dem Objektiv befindet und was die empfindliche Platte aufzeichnet. In den derzeitigen digitalen Fotoapparaten werden die Bilder (und manchmal der Ton) auf einer „Speicherkarte“ aufgezeichnet. Das Gedächtnis ist ein integrierender Bestandteil des Konzepts Kino und der Film auf einer Spule, in einer Kamera oder einem Projektor ist die Grundlage des Kinos, selbst wenn heute neue Medien wie die digitale Videotechnik dessen ursprüngliche Funktionen übernehmen: die Aufzeichnung, Aufbewahrung und Projektion der Bilder.

Casablanca Eine Fotografie bewahrt ein Bild der Vergangenheit auf, während das, was sich vor der Kamera befindet, sowohl eine Fiktion als auch ein wirkliches Ereignis sein kann. Der Film Casablanca (1942, USA) ist ein Beispiel für die Fiktion; das Video vom Einsturz des World Trade Centers ein Beispiel für ein wirkliches Ereignis. Zahlreiche fotografierte Fiktionen enthalten jedoch reale Elemente. So sagt Humphrey Bogart, der die Rolle von Rick spielt, in Casablanca zu Ingrid Bergman, die Ilsa interpretiert: „Here’s looking at you, kid“. (er sagt es zweimal, in der Mitte des Films und am Ende). Das Bild des Gesichts von Ilsa (Fiktion) ist ein Bild von Ingrid Bergman (Realität), eine großartig beleuchtete Frau, eine Schauspielerin, die in einem amerikanischen Dekor posierte und 1942 fotografiert wurde. Sie war in dem Moment, in dem die Spule in der Kamera und das Magnetband im Tonbandgerät lief, am Leben. Heute ist sie tot, Bogart ebenfalls – wie fast alle Teilnehmer an diesem Film. Wenn wir uns diese Einstellung anschauen, sehen wir die lebendige Bergman. Wir stellen uns Ilsa anhand dieses Bildes der Frau vor, die ihre Rolle spielt, und anhand des Drehbuchs, das sie in diese imaginäre Situation bringt, der Beleuchtung, die ihre Gefühle vermittelt, der Führung der Schauspieler, die dazu beiträgt, ihrer Interpretation Gestalt zu verleihen, und des Schwarz-Weiß-Bildes, dessen Bildformat – der damalige Standard, nämlich 4:3 in Bezug zwischen Breite und Höhe – es erlaubte, die Verfilmung auf den Beginn des Tonfilms zu datieren (zwischen dem Ende der 1920erJahre und der Schwelle zu den 1950er-Jahren), bevor sich der Farbfilm und das „breite Format“ durchgesetzt haben. Der Dialog „Here’s looking 144

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at you, kid“ übersetzt in Sprache, was Rick innerhalb dieser Fiktion macht und was wir Zuschauer im Kino oder vor dem Fernseher machen: sie anschauen, die imaginäre Ilsa anschauen und die lebendige Ingrid Bergman, eine heute tote Frau, deren Erinnerung vom Kino, von der Kamera, vom Film verewigt wurde. Sie ist nicht mehr, aber der Film erlaubt es uns, sie zu sehen, wie sie war. Er bewahrt die Erinnerung an sie auf, wie dies ein Bewusstsein tun würde. Er bezeugt ihre Existenz, wie dies eine Urkunde tun würde. Er zeichnet die Schauspielerin auf und schafft die Illusion einer Figur. Solange die Emulsion auf dem Film ein Bild der Bergman aufbewahrt und es uns erlaubt, sie von Neuem am Leben zu sehen, fungiert sie auch als ein Erinnerungsort: ein Ort, um sich an sie zu erinnern, an Ingrid Bergman, an Ilsa und an den imaginierten Krieg inmitten eines wahren Kriegs.

Nacht und Nebel Uns an Casablanca zu erinnern, erlaubt es uns, die Vergangenheit mittels der Erinnerung an den Film zu sehen, und fordert uns gleichzeitig auf, die Vergangenheit so zu sehen, wie die Filmemacher sie geschaffen haben. Es gibt Leute – und zwar selbst unter denen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben –, die die Erinnerung an ihn aufbewahren, die für sie in Casablanca gestaltet worden war. Manche Spätgeborene, die von der Schoah gehört haben, schaffen sich ein Bild anhand von Filmen über die Schoah, ob es sich nun um Fiktionen handelt oder um Dokumentarfilme. Ein Film wie Schindlers Liste (1993, USA) kann ihnen helfen, das Leben der Insassen eines Konzentrationslagers besser zu verstehen und Emotionen und Bilder anhand von Schauspielern, Kulissen und einem Drehbuch entstehen lassen. Den meisten Menschen fällt es schwer, eine Situation zu erfassen, wenn man ihnen eine wahre oder imaginäre Geschichte erzählt. Ein Dokumentarfilm wie Nacht und Nebel (1955, Frankreich), der die Lager auf faktische Weise zeigt und sich mit dem Problem der Erinnerung an das, was geschehen ist, auseinandersetzt, ermöglicht es uns, die Vergangenheit anders zu entdecken. Jean Cayrol, der Autor des Textes von Nacht und Nebel, hatte in dem Zug, der ihn nach Mauthausen brachte, das Gedächtnis verloren, bevor es ihm gelang, es zu rekonstruieren. Er schrieb später für Alain Resnais den größten aller Spielfilme über das Thema der wahren und falschen Geschichte, 145

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über die Lüge und die Erinnerung: Muriel ou le temps d’un retour (1963, Frankreich; Muriel oder Die Zeit der Wiederkehr). In Nacht und Nebel erwähnt der Erzähler die Schwierigkeit, ein adäquates Bild zu finden und die damit zusammenhängende Schwierigkeit zu begreifen, was das Bild festhält und suggeriert: beispielsweise dasjenige eines Haufens von Frauenhaaren in Auschwitz, eines riesigen Haufens, den die Kamera in einem Schwenk nach oben zeigt, aber der Haufen reicht über den Bildausschnitt hinaus. Das ist das Bild eines Versuchs, ein Grauen zu erfassen, das unser Fassungsvermögen übersteigt. Dieser Berg Haare, dessen Erinnerung auf einem Film aufbewahrt wird, wird uns gezeigt, damit er in unserem Gedächtnis bleibt. Weil der Film eine Gedächtnismaschine ist … Der Film erlaubt es uns, uns an die Vergangenheit zu erinnern, indem wir uns eine Aufzeichnung dessen ansehen, was sich vor der Kamera befand: ein Schauspieler, ein Nichtschauspieler, eine Zeichnung, ein Modell in drei Dimensionen (im Fall eines Zeichentrickfilms), eine Kulisse, ein wirklicher Ort, ein Sprung, ein Tanz, eine gespielte Verfolgungsjagd oder Tötung, eine Umarmung. Man kann einen Film machen, um die Vergangenheit zu verewigen oder um etwas zu erfinden, was nie geschehen ist. Man kann einen Film machen, der von einer Erinnerung angeregt wurde, einen Film, der in einem Dekor eine wieder vergegenwärtigte Welt nachbaut – und was in diesem Dekor geschieht, kann genauso gut eine Fiktion sein wie ein ernsthafter Versuch, die Vergangenheit darzustellen. So kann im Kino etwas Imaginäres zu einem Ereignis werden und die Erinnerung an ein gefilmtes fiktives Ereignis kann als ein Typus der falschen Erinnerung angesehen werden.

Die Vergangenheit sehen Ein Film kann uns in eine falsche Erinnerung versetzen, in eine wahre Erinnerung oder in eine Mischung von Realität und Fiktion. Sauls Sohn (2015, Ungarn), um kurz noch einmal auf die Filme über die Schoah zurückzukommen, ist die fiktive Geschichte eines Aufstands, der in Auschwitz wirklich stattgefunden hatte. Dieser Film erinnert uns an diesen Aufstand, aber er macht die Figuren und stellt uns Schauspieler vor. Er lädt uns ein, zu glauben, dass die Ereignisse genau in dem Augenblick stattfinden, in dem wir sie betrachten. Eine Erinnerung kann uns den 146

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Eindruck vermitteln, dass sich die Vergangenheit wiederholt. Indem die Filmemacher ein historisches Ereignis in einem Film zeigen, können sie Tatsachen in Aktionen umwandeln und wir erinnern uns daran, sie gesehen zu haben. Sie verwandeln sie also in Erinnerungen, die beinahe die unsrigen sind. Oder die auf unser Geschichtsbewusstsein einwirken. Man denke an all das, was wir über die Vergangenheit wissen, weil wir es im Kino gesehen haben. Viele von uns stellen sich den seit Langem verschwundenen Hof von Frankreich so vor, wie Alexandre Dumas der Ältere und die Verfilmungen seiner Romane ihn gezeigt haben. Viele Leute denken die Weltwirtschaftskrise von 1929 wie in den Filmen. Wenn wir fast nichts über die afroamerikanischen Cowboys wissen, so nicht deshalb, weil es sie nicht gegeben hat, sondern wegen der Art und Weise, wie Hollywood die Westernfilme fabriziert hat. Fügen wir hinzu, dass Hollywood vielleicht deshalb so viele Western gedreht hat, um unabhängig von der europäischen Geschichte eine amerikanische Geschichte oder ein amerikanisches Nationalgedächtnis zu erfinden oder zu verschönern. Die Lust, einen Film zu sehen, hängt teilweise mit der zusammen, die Vergangenheit zu sehen. Die Filme über die Vergangenheit nehmen einen Platz im Gedächtnis ein, obwohl sie gewöhnlich als Fiktionen bezeichnet werden. Wenn ein Film ein Thema behandelt, das wir am eigenen Leib erlebt haben, können wir behaupten, etwas erlebt zu haben, was dem gleicht, was der Film gezeigt hat. Doch, was er gezeigt hat, wird deshalb nicht zu einer persönlichen Erinnerung. Wir bewahren höchstens die persönliche Erinnerung auf, den Film gesehen zu haben. Unser Bewusstsein der Vergangenheit besteht zum Teil aus dem, woran wir uns erinnern, und zum anderen Teil aus dem, was wir lernen, hören, glauben, zu glauben ablehnen, uns vorstellen, vergessen und so weiter. Es ist ein Mosaik, in dem manche Steinchen der Fiktion angehören. Allerdings ist ein so großer Teil der letzten 125 Jahre auf Film festgehalten, dass wir sagen können, dass sich das Kino für uns an diese Vergangenheit erinnert und die Arbeit unseres Gedächtnisses erleichtert.

Die Erinnerung einfangen Wenn ein auf einem Film aufgezeichnetes Ereignis eine Form der Erinnerung ist oder zumindest ein Erinnerungsmaterial, dann ist ein Film, 147

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dessen Geschichte, Figuren und Dialoge fabriziert sind, eine falsche Erinnerung. Eine Lüge kann immerhin einen Teil Wahrheit enthalten und ein Spielfilm kann auf wirklichen, persönlichen Erinnerungen beruhen. Das tritt ganz besonders deutlich bei den europäischen Regisseuren des 20. Jahrhunderts hervor, die in Hollywood Arbeit gefunden haben. Ihre amerikanischen Filme spiegeln oft ihre Erinnerungen an Europa und die Techniken des europäischen Films wider und wir erinnern uns an zahlreiche Elemente dieses Jahrhunderts, wenn wir uns an diese Filmemacher und ihr Werk erinnern. Kurz, wenn die Erinnerung und die Zeit integrierende Bestandteile der meisten Filme sind, dann besaß gerade bei diesen Regisseuren das Gedächtnis politisch, gesellschaftlich, persönlich und künstlerisch seine Dringlichkeit. So bieten uns diese Männer und ihre Filme eine ausgezeichnete Gelegenheit, uns mit dem Problem des Gedächtnisses im Kino auseinanderzusetzen, und zwar sowohl in der Beschaffenheit des Films wie in seiner Geschichte. Eine anonyme, aber wahrscheinlich wahrheitsgetreue Anekdote über die deutschsprachigen Filmemacher in Hollywood, die aus den Anfängen des Tonfilms datiert: Einer dieser eingewanderten Regisseure erklärte seinem Team, dass die Aufnahme, die sie vorbereiteten, „mit out sound“ (ohne Ton) gedreht werden sollte – die Deutschen und die Österreicher waren berühmt für ihre Verwendung der Kamerafahrten und andere rein visuelle Effekte in den Stummfilmen und am Beginn des Tonfilms tat man sich noch schwer damit, die Kamera zu bewegen und gleichzeitig den Ton aufzunehmen. Man konnte die Kamera vorteilhaft benutzen, indem man in der Stille filmte. Der Kameraassistent kürzte den vom Regisseur benutzten Ausdruck ab und kritzelte M. O. S. auf die Klappe. So bedeutet M. O. S. in Hollywood auch heute noch „still“ und bezeichnet eine stumme Einstellung oder Szene. Der in dieser Anekdote erwähnte Regisseur zog es nicht nur vor, tonlos zu filmen, er hat auch die Erinnerung daran aufbewahrt. Ab 1933, als Adolf Hitler der deutschen Filmindustrie verbot, Juden zu beschäftigen, flohen viele der Europäer, die nach Hollywood gingen, vor den Nazis. Die meisten unter denen, die früh eintrafen, wie Paul Fejos aus Ungarn und F. W. Murnau oder Paul Leni aus Deutschland waren wegen der Qualität ihrer Arbeit von den amerikanischen Studios und Produzenten rekrutiert worden. 148

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Das deutsche Studio Carl Laemmle, Produzent an der Spitze von Universal, war in Deutschland geboren und bewunderte die Arbeit der UFA (Universum-Film Aktiengesellschaft), des riesigen deutschen Studios, in dem die psychologische Beleuchtung, die Kamerafahrten und die vollständig kontrollierten Dekorationen in den 1920er-Jahren ihren Höhepunkt erreicht hatten, einer Periode, die oft als das Goldene Zeitalter des deutschen Films bezeichnet wird. Ab Mitte der 1920er-Jahre ließ Laemmle österreichische und deutsche Regisseure nach Hollywood kommen, damit sie dort für Universal ihre Arbeit fortsetzen konnten. Manche dieser Filme, so etwa der rührende und amüsante sentimentale Film von Paul Fejos mit dem Titel Lonesome (1928, USA; Zwei junge Herzen) wurden von dem Sohn von Laemmle, Carl Laemmle Jr., produziert, der dann auch Frankenstein (1931, USA) und Dracula (1931, USA) produzierte. Frankenstein und Frankensteins Braut (1935, USA) nehmen hier einen ganz besonders wichtigen Platz ein aufgrund der expressionistischen, stark von der Arbeit im deutschen Studio beeinflussten Beleuchtung und der Beteiligung von in England geborenen Filmemachern, die an diesen Filmen gearbeitet haben, wie vor allem der Regisseur James Whale, der Hauptdarsteller Boris Karloff und der künstlerische Direktor Charles D. Hall. Hall, der für das offene, mit Spinnennetzen bedeckte Treppenhaus in Draculas Schloss und das riesige Labor von Frankensteins Braut verantwortlich war, entwarf auch die Szenenaufbauten der meisten Spielfilme aus Hollywood, bei denen ein anderer Brite Regie führte, nämlich Charlie Chaplin. Dank Universal brachte Hall die deutsch-österreichische Konzeption der Dekorationen nach Hollywood: die Verwendung von Licht und Schatten wie in der UFA. Die Horrorfilme von Universal, die danach gedreht wurden, führten einen für Hollywood spezifischen Expressionismus ein. Unter den prägendsten Beispielen für diesen hollywoodschen Expressionismus kann man The Mummy (1932, USA; Die Mumie) bei Universal anführen und Mad Love (1935, USA; Wahnsinnige Liebe). Diese zwei Filme waren das Werk des großen deutschen Regisseurs Karl Freund, der die Kamerafahrten in Der Letzte Mann (1924, Deutschland) kontrolliert hatte und bildgestaltender Kameramann (director of photography) für Dracula bei Universal gewesen war. Freund schöpfte aus seinen Erinnerungen, 149

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griff auf die Geschichte des Pianisten Stephen Orlac (ursprünglich ein Roman von Maurice Renard, Les Mains d’Orlac) zurück, rückte aber den wahnsinnigen Chirurgen in den Vordergrund, der von Peter Lorre gespielt wurde, der hier zum ersten Mal in Hollywood arbeitete. Freund nutzte auch seine Erinnerungen an Frankenstein. Die Verknüpfung von deutschen und amerikanischen Einflüssen bei Freund liefert ein gutes Beispiel für die Integration europäischer und amerikanischer Stile im Hollywood der 1930er-Jahre, einer Periode, in der die Filmemacher einander gegenseitig anregten und lernten, gemeinsam zu arbeiten.

Die Einflüsse vermischen Doch kehren wir zu unserem Thema zurück: Mit seiner Brutalität, seinem Helldunkel, seiner Reflexivität und seinem Eintauchen in das Motiv des Wahnsinns war Mad Love ein großartiger Horrorfilm. Er handelte auch vom Wesen der Kunst und von der pathologischen Unfähigkeit, zwischen Realität und Illusion zu unterscheiden. Er veranschaulichte trefflich, wie kunstvoll ein europäischer Regisseur einen europäischen Film in Hollywood nachdrehen und verbessern konnte, indem er alle Ressourcen eines großen amerikanischen Studios nutzte. Dadurch bereitete er das Terrain für die düsteren, romantischen und bedrohenden Welten des amerikanischen Kriminalfilms (Film noir) vor sowie für die besten Horrorfilme wie diejenigen, die Val Lewton für RKO Pictures in den 1940erJahren produzierte. Mad Love spielt zwar in einem imaginären Frankreich, aber Freund verwendete seine Erinnerungen an den deutschen Horrorfilm und an seine eigenen Realisierungen innerhalb der UFA, womit er einen neuen Typus von Horrorfilm schuf, der eine große Ausstrahlung hatte und amerikanische und deutsche Einflüsse ineinanderfließen ließ. Während der Dreharbeiten von Mad Love brachte Freund eine große Anzahl seiner Techniken Gregg Toland bei, dem Kameramann (director of photography) dieses Films, der vor allem dafür bekannt war, dieselbe Funktion bei Citizen Kane (1941, USA) ausgeübt zu haben, einem Film, der stark die Verschmelzung einer europäischen und einer amerikanischen visuellen Ästhetik widerspiegelt. Obwohl die Filmhistoriker sich eher auf die gegenseitigen Einflüsse zwischen den Regisseuren konzentrieren, kann man eine viel deutlichere Einflusskette zwischen Kameraleuten feststellen, die einander gegenseitig ausbilden und die 150

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Regisseure beraten. Freund brachte Toland viele Dinge bei, der selbst wieder Orson Welles für Citizen Kane beriet, woraufhin Welles Stanley Cortez ausbildete, der Kameramann bei B-Movies gewesen war und dessen Bildgestaltung für The Magnificent Ambersons (1942, USA; Der Glanz des Hauses Amberson) an die Arbeit von Toland für Citizen Kane erinnerte. Es handelt sich um einen der wirksamsten Wege der Weitergabe europäischer Filmtechniken an die Praxis in Hollywood, die einen großen expressiven Reichtum für die Beleuchtung, die Szenenaufbauten und die Aufnahmetechnik des amerikanischen Films brachte. Laemmle war nicht der einzige Produzent, der Europäer nach Hollywood brachte. William Fox (dessen Gesellschaft vor der 20th Century Fox gegründet worden war) engagierte den Drehbuchautor Carl Mayer und den Regisseur F. W. Murnau aus der UFA, wo sie Filme wie Der letzte Mann gedreht hatten, und ließ sie an dem romantischen Melodrama Sunrise (Sonnenaufgang) arbeiten. Mayer hatte Sonnenaufgang geschrieben, bevor er Deutschland verlassen hatte, also ohne den Druck des amerikanischen Studios. Sein Drehbuch erforderte Kamerafahrten und Kamera­effekte, die die Amerikaner noch nicht beherrschten, beispielsweise die Einstellung, in der die mobile, oben auf einer Schiene laufende Kamera einem verheirateten Mann folgt, der nachts seine Geliebte aufsucht. Bevor er bei einem Autounfall in Kalifornien ums Leben kam, drehte Murnau für die Fox noch City Girl (1930, USA; Unser täglich Brot), einen Film, dem Terrence Malick mit Days of Heaven (1978, USA; In der Glut des Südens) eine Hommage gewidmet hat. Die visuelle und emotionelle Stärke von Sunrise, bei dem Charles Rosher und Karl Struss die Bildgestaltung übernommen hatten (was ihnen den ersten Oscar für die „Beste Kamera“ einbrachte), reproduzierte in Hollywood die fließenden und psychologisch reichhaltigen Kamerafahrten, die Murnau in Deutschland berühmt gemacht hatten.

Die Genealogie der deutschen Einwanderung: Guy, Capra, Chaplin Die Geschichte der Filmemacher in Hollywood, die aus Europa stammten, begann allerdings lange Zeit, bevor Laemmle und die Fox manche von ihnen engagierte, nämlich schon am Ende der Stummfilmära und damit vor Hitlers Machtantritt. 151

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Der erste anerkannte europäische Filmemacher, der nach Amerika auswanderte, war eine Frau, Alice Guy, die auch die erste Filmregisseurin war. Sie hatte für den Filmkonzern Gaumont in Paris gearbeitet, zunächst als Sekretärin und ab 1897 als Regisseurin. Sie drehte mehrere Kurzfilme, bevor sie einen Engländer namens Herbert Blaché heiratete, dem sie nach Amerika folgte. 1910 gründete sie in New Jersey ein Studio, Solax genannt, in dem sie über 90 Filme drehte. Nach ihrer Scheidung schloss sie ihr Studio und kehrte 1922 nach Frankreich zurück. Unter anderen frühen Einwanderern kann man Erich von Stroheim, Frank Capra und Charlie Chaplin nennen, die vor ihrer Ankunft in Amerika noch nie Regie geführt hatten. Chaplin, der 1910 als Mitglied einer Theatertruppe (in der Stan Laurel sein Kollege war) eintraf, ließ sich in einer großen Anzahl seiner Filme von seinen Erinnerungen an London anregen. Die Dekorationen und die Handlungen von Chaplin veranschaulichen sehr gut, wie das europäische Gedächtnis dazu beitrug, die filmischen Bilder Amerikas und seines urbanen Lebens zu gestalten. Er drehte in Hollywood zwischen 1914 und 1952, also bis zu dem Jahr, in dem er das Komitee für antiamerikanische Umtriebe am Hals hatte und beschloss, endgültig nach Europa zurückzukehren. Frank Capra, der in Sizilien geboren und dessen Familie nach New York ausgewandert war, als er sechs Jahre alt war, begann in den 1920er-Jahren zugleich kritische und idealistische narrative Filme über die amerikanische Politik und die amerikanische Gesellschaft wie beispielsweise Mr. Smith Goes to Washington (1939, USA; Mr. Smith geht nach Washington) zu drehen. Er machte auch eine Reihe von Dokumentarfilmen über den Zweiten Weltkrieg, etwa Why We Fight (1942/43, USA). Unter den Italienern, die sich im amerikanischen Film einen Namen machten, muss man Nicholas Musuraca nennen, den Kameramann der RKO, der die Bildgestaltung der größten Film-noir-Produktionen und Gruselfilme geleitet hatte, darunter die von Cat People (1942, USA; Katzenmenschen) und von Out of the Past (1947, USA; Goldenes Gift). Der Regisseur dieser beiden Produktionen war Jacques Tourneur, der 1913, als er noch ein Kind war, mit seinem Vater, dem Regisseur Maurice Tourneur, aus Frankreich gekommen war. Die berühmtesten Stummfilme von Maurice Tourneur waren The Blue Bird (1918, USA) und ­Treasure Island (1920, USA). 152

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Stroheim, Sternberg, Lubitsch, Curtiz Stroheim ist in Wien geboren, hatte sich das „von“ selbst zugelegt und hatte 1914 als Statist für D. W. Griffith in der Filmindustrie begonnen. Der erste Spielfilm, bei dem er selbst Regie führte, war ein starkes Melodrama, das in Europa spielte, Blind Husbands (1919, USA; Blinde Ehemänner). Danach drehte er zwei Meisterwerke, Foolish Wifes (1922, USA; Törichte Frauen), das ebenfalls in Europa spielt, und Greed (1924, USA; Gier), eine erstaunliche, aber sehr lange Verfilmung des naturalistischen amerikanischen Romans McTeague von Frank Norris, die die MGM dummerweise drastisch kürzte. Stroheim drehte dann einen Film in zwei ­Teilen über die europäische Dekadenz, The Wedding March (1928, USA; Der Hochzeitsmarsch), und The Honeymoon (1928, USA; Teil 2 von Der Hochzeitsmarsch). Mit der Hilfe von Josef von Sternberg, eines anderen in Wien geborenen Regisseurs, der sich ebenfalls ein „von“ zugelegt hatte, passte er die Länge dieser Filme besser an die kommerziellen Imperative an. Stroheim, ein angesehener Schauspieler, aber mittlerweile arbeitsloser Regisseur, gab sein Bestes in La Grande Illusion von Jean Renoir (1937, Frankreich; Die große Illusion) und in Sunset Boulevard von Billy Wilder (1950, USA; Boulevard der Dämmerung). Sternberg, der zugleich in Europa und in den Vereinigten Staaten aufgewachsen war, begann in Hollywood Filme zu machen. Er ist vor allem dafür bekannt, dass er den Blauen Engel (1930, Deutschland) gedreht und Marlene Dietrichs Ruhm gesichert hat, die er dann nach Amerika mitnahm, wo er ihr weitere Rollen gab. Davor hatte er mehrere größere Stummfilme gedreht, von denen in unserem Kontext hier der interessanteste The Last Command (1928, USA; Sein letzter Befehl) ist. In diesem Film spielt Emil Jannings, der in Der Letzte Mensch gespielt hatte und danach die Rolle des Professors in Der Blaue Engel übernahm, die Rolle eines ehemaligen zaristischen Generals, der in einem Hollywoodfilm, der in Russland spielt, inkognito als Schauspieler arbeitet. Im Gegensatz zu Stroheim präsentierte Ernst Lubitsch in Hollywood ein sexuell raffiniertes Europa, dem jedoch nichts Düsteres oder Störendes anhaftete – mit Ausnahme seines letzten Films, der dramatischen Komödie To Be or Not To Be (1942, USA; Sein oder Nichtsein). Mary Pickford hatte Lubitsch kommen lassen, damit er für sie in Rosita (1923, USA) Regie führt, und er blieb in den Vereinigten Staaten, wo er seine 153

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großen romantischen Komödien drehte, darunter Trouble in Paradise (1932, USA; Ärger im Paradies), The Merry Widow (1934, USA; Die lustige Witwe) und Ninotchka (1939, USA; Ninotschka). Er fantasierte oder erinnerte sich an ein Bild von Europa, wie Europa sich seiner Meinung nach selbst sehen wollte. Seine Popularität erklärt zum Teil, warum Hollywood bestrebt war, andere europäische Talente anzulocken. Was Lubitsch brachte, war nicht eine expressionistische Beleuchtung, Dekoration oder Psychologie, sondern ein anderer Blick, der als eine erwachsene europäische Einstellung insbesondere gegenüber der Sexualität galt, die auf elegante, suggestive und geistreiche Weise präsentiert wird. Michael Curtiz, der 1921 in Ungarn zu drehen begann und 1926 in die Vereinigten Staaten reiste, drehte Hollywoodklassiker wie The Adventures of Robin Hood (1938, USA; Robin Hood, König der Vagabunden). Er galt bereits als ein Meister des Abenteuerfilms, des Kriminalfilms, des Horrorfilms und des sentimentalen Films, als er Casablanca drehte. Mit William Dieterle, der in Deutschland gearbeitet hatte, bevor er bei The Hunchback of Notre Dame (1939, USA; Der Glöckner von Notre Dame) Regie führte, zählte er zu den in Europa geborenen Regisseuren, die im Hollywood der 1930er- und 1940er-Jahre die größten Erfolge hatten.

Lang, Hitchcock, Renoir 1935, als die Flüchtlinge die Reihen der Filmindustrie aufzufüllen begannen, der Krieg aber noch bevorstand, wurden in Hollywood vier wichtige Filme gedreht, von denen jeder ein aufschlussreiches Beispiel für die ästhetische Zusammenarbeit zwischen Europa und Hollywood und für die wachsende Komplementarität ihrer Stile aufgrund der Anwesenheit eingewanderter Filmemacher bietet. Es gab Frankensteins Braut und Mad Love, die wir bereits erwähnt haben, Fury (1936, USA; Blinde Wut) von Fritz Lang und „G“ Men (1935, USA; Der FBI-Agent) von William Keighley, die den Einfluss Langs und der österreichisch-deutschen Beleuchtung bestätigten. Alle glichen durch manche Merkmale den österreichischen und deutschen Filmen, waren aber gleichzeitig deutlich als Produktionen amerikanischer Studios erkennbar. Dr. Mabuse, der Spieler (1922, Deutschland), eine brillante, zweiteilige Studie über das Verbrechen und den Wahnsinn, übte auf den Kriminalfilm auf internationaler Ebene eine so starke Wirkung wie sein Metropo154

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lis (1927, Deutschland) auf die Science-Fiction aus. Langs Einfluss auf den Hollywoodfilm im Allgemeinen äußert sich deutlich in „G“ Men, dessen Nacht- und Gewaltszenen mit ihrem kontrastreichen SchwarzWeiß eindeutig an Dr. Mabuse anschließen –wie so viele andere Produktionen des Film noir. Der beste unter ihnen von Lang selbst war The Big Heat (1953, USA; Heißes Eisen). Alfred Hitchcock verließ Großbritannien 1940 mit einem Vertrag des amerikanischen Produzenten David O. Selznick. Vor diesem Datum hatte er Filme in England gedreht und bei der UFA studiert, wo er sehr viel von Murnau gelernt hatte. Sein erster amerikanischer Film war Rebecca (1940, USA) und er wurde schließlich zum weltweit größten Regisseur romantischer Kriminalfilme. Seine Werke fielen durch ihre Verbindung zwischen hollywoodscher Technik sowie deutschen Beleuchtungen und Aufnahmetechniken auf sowie aufgrund eines Montagestils, der an den des russischen Regisseurs Wsewolod I. Pudowkin. erinnert. Jean Renoir war 1941 aus Europa in die Vereinigten Staaten gereist, nach dem Einmarsch in Frankreich, zusammen mit Eugène Lourié, der die Dekorationen eines großen Teils seiner Filme entworfen hatte, und mit Marcel Dalio, der in La Grande Illusion und in La Règle du jeu (1939, Frankreich) gespielt hatte. Lourié war auch weiterhin der künstlerische Direktor Renoirs für dessen Hollywoodfilme, darunter The Southerner (1945, USA; Der Mann aus dem Süden), und für den großartigen Film The River (1951, Indien; Der Strom), den Renoir in Indien drehte, bevor er wieder nach Europa zurückkehrte. Dalio, dessen Eltern in Konzentrationslagern starben, als er in Hollywood war, spielte seine denkwürdigsten Rollen in Casablanca und in To Have and Have Not (1944, USA; Haben und Nichthaben), zwei Filme, in denen seine Figur das freie Frankreich unterstützte.

Der Film noir Während des ganzen Krieges wurden die wirkungsvollsten Antinazifilme von Europäern in Hollywood gedreht, von Man Hunt (1941, USA; Menschenjagd) und Ministry of Fear (1944, USA; Ministerium der Angst) von Lang bis zu Hitler’s Madman (1943, USA) von Douglas Sirk. Sirk hatte in der UFA Filme gedreht, bevor er Deutschland 1937 verließ, um seiner zweiten Ehefrau nachzureisen, einer nach Rom geflüchteten 155

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Jüdin, nachdem er von seiner ersten, in das Lager der Nazis übergewechselten Frau denunziert worden war. In den 1950er-Jahren drehte Sirk sehr populäre „Frauenmelodramen“ und insbesondere All That Heaven Allows (1955, USA; Was der Himmel erlaubt). Die deutsche Filmindustrie verdankte einen großen Teil ihres Rufs den Werken von Personen, die sich für das Exil entschieden, und Hollywood profitierte davon. Ein beredtes Beispiel dafür sind die Autoren von Menschen am Sonntag (1929, Deutschland). Das Drehbuch des Films hatten Kurt Siodmark, Robert Siodmark, Edgar G. Ulmer und Billy Wilder verfasst, die Bildgestaltung war von Eugen Schüfftan und Regie führten Rochus Gliese, die Brüder Siodmark, Ulmer und Fred Zinnemann. Gliese hielt sich nur kurz in Hollywood auf, aber alle anderen Mitautoren des Films blieben dort. Schüfftan, der einen Spezialeffekt erfunden hatte, der es ermöglichte, Schauspieler aus Fleisch und Blut zusammen mit Miniaturkulissen zu filmen, ein Verfahren, das in Metropolis angewendet worden war, flüchtete 1940 nach Hollywood. Er leitete die Bildgestaltung von Yeux sans visage (1960, Frankreich; Augen ohne Gesicht) und The Hustler (1961, USA; Haie der Großstadt). Kurt – nunmehr Curt – Siodmak schrieb das Drehbuch von The Wolf Man (1941, USA; Der Wolfsmensch), von Donovan’s Brain (1953, USA; Donovans Hirn) und von Earth vs. the Flying Saucers (1956, USA; Fliegende Untertassen greifen an). Robert Siodmak verband den deutschen Expressionismus mit einer strengen Hollywoodtechnik in düsteren Kriminalfilmen und insbesondere in Phantom Lady (1944, USA; Zeuge gesucht), dem ersten Film, der von den französischen Kritikern, den Erfindern dieses Ausdrucks, als Film noir bezeichnet wurde. Ulmer, der in der heutigen Republik Tschechien geboren wurde, und sich als „König der B-Movies“ durchsetzte, drehte einen expressionistischen Horrorfilm The Black Cat (1934, USA; Die schwarze Katze) und den pessimistischsten aller Film-noir-Produktionen, Detour (1945, USA; Umleitung). Die berühmtesten Filme von Zinnemann wurden in den 1950er-Jahren gedreht, insbesondere High Noon (1952, USA; Zwölf Uhr mittags) und From Here to Eternity (1953, USA; Verdammt in alle Ewigkeit). Wilder, vor seiner Abreise aus Deutschland ein anerkannter Drehbuchautor, verbrachte zwei Jahre damit, Englisch zu lernen, um direkt in dieser Sprache schreiben zu können, und schrieb dann mehrere Jahre lang gemeinsam mit Lubitsch Drehbücher, bevor er selbst Regie führte. 156

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Die meisten seiner Hollywoodfilme waren Komödien für Erwachsene. Wilder verband jedoch ebenfalls den straffen und schnörkellosen amerikanischen Thriller mit den Schatten, dem Pessimismus und den verwirrenden psychologischen Einblicken, die für den deutschen Film bezeichnend sind, in Double Identitiy (1944, USA; Frau ohne Gewissen), den viele für den Film noir par excellence halten. Nach dem Krieg wurde Wilder nach Deutschland geschickt, um Dokumentarfilme über die Lager zu drehen und der deutschen Filmindustrie zu helfen, aus der Asche wiederzuerstehen. Mehr als die Hälfte seiner Familie war in Auschwitz umgekommen. Wilder besaß den Grad eines Colonels der amerikanischen Armee: Dieser Jude, der Deutschland verlassen hatte, filmte die Beweise für das Schicksal, das diejenigen erlitten hatten, die nicht weggegangen waren.

Dietrich, Garbo, Preminger, Bergman Zwischen 1933 und 1940 fanden mehrere Hundert Europäer das nötige Geld, um nach Hollywood aufzubrechen, und die Beziehungen, die ihnen helfen konnten, in den Studios beschäftigt zu werden, oft dank Marlene Dietrich (sowie anderen bereits in Los Angeles wohnhaften Europäern) und dem Schauspielagenten Paul Kohner. Kohner war an der Schaffung des European Film Fund beteiligt, der vertriebene europäische Filmschaffende unterstützen sollte. Einer der ersten Flüchtlinge, der in Hollywood Erfolg hatte, war Henry Koster, der später Harvey (1950, USA; Mein Freund Harvey) drehte und The Robe (1953, USA; Das Gewand). Ein anderer war Rudolph Maté, im heutigen Polen geboren, der die Bildgestaltung bei La Passion de Jeanne d’Arc (1928, Frankreich; Die Passion der Jungfrau von Orléans) und Vampyr (1932, Deutschland) für Carl Dreyer geleitet hatte. In Hollywood drehte Maté den gnadenlosen Film noir mit dem Titel. D.O.A. (1950, USA; Opfer der Unterwelt). René Clair, der in Europa Komödien gedreht hatte, tat dies auch in Hollywood, insbesondere mit I Married a Witch (1942, USA; Meine Frau, die Hexe). Einer der politisch einflussreichsten Produzentenregisseure war Otto Preminger. Er wurde in der heutigen Ukraine geboren, trug zur Abschaffung des Hays Code bei, der eine Zensur eingeführt hatte, und zu der der schwarzen Liste. In Exodus (1960, USA) ließ er im Abspann den Drehbuchautor Dalton Trumbo nennen, der auf dieser Liste stand. 157

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Kirk Douglas erwähnte denselben Trumbo im Abspann von Spartacus (1960, USA), eine Doppelaktion, die dieser schwarzen Liste praktisch ein Ende bereitete. Zahlreiche Schauspieler kamen ebenfalls nach Amerika, um in Hollywood zu arbeiten, und zwar vor und nach der Machtübernahme Hitlers. Unter den wichtigsten muss man Ingrid Bergman und Greta Garbo aus Schweden nennen; Marlene Dietrich, Peter Lorre und Conrad Veidt aus Deutschland; Charles Laughton und Stan Laurel aus England; Hedy Lamarr, eine in Wien geborene Jüdin; und Paul Muni, einen in der heutigen Ukraine geborenen Juden. Veidt, der die Rolle des messerschwingenden Monsters in Das Cabinet des Dr. Caligari (1920, Deutschland) gespielt hatte, spielte nun einen neuen Typ von Monster: den Nazi, den man nur hassen konnte. In Casablanca verkörperte er den bösen Nazi, den Kommandanten Strasser. Im selben Jahr erhielt er eine Doppelrolle in Nazi Agent (1942, USA), in dem er Zwillinge spielt, von denen einer ein mächtiger Nazi ist. Der andere, ein eingewanderter amerikanischer Patriot, tötet ihn und nimmt seine Stelle ein. Der Film richtet sich zwar gegen die Nazis, was nicht überraschend ist, er war aber nicht deutschenfeindlich. Manche europäischen Filmemacher wie Jacques Tourneur sind in Hollywood aufgewachsen. Marcel Ophüls verbrachte mehrere Jahre in Kalifornien, während sein Vater Max Hollywoodfilme drehte wie das romantische Drama Caught (1949, USA; Gefangen). Später drehte Ophüls in Europa zwei wichtige Dokumentarfilme, Le Chagrin et la Pitié (1969, Frankreich/Schweiz/BRD; Das Haus nebenan) über das besetzte Frankreich und The Memory of Justice (1976, Frankreich/BRD/ USA/Großbritannien) über die Kriegsverbrechen und die Prozesse gegen Täter in Deutschland, Frankreich, den Vereinigten Staaten, Algerien und Vietnam.

Nachklänge des europäischen Gedächtnisses Die europäischen Filmemacher, die in Hollywood gearbeitet haben, haben dort einen entscheidenden Einfluss auf das Genre des Horrorfilms, das des sentimentalen Films, der Komödie, des Abenteuerfilms, des Melodrams, des Detektivfilms und des Film noir ausgeübt. Aber welche Spuren haben diese Regisseure, die so oft ihre Erinnerungen an die euro158

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päische Kultur und an die europäische Filmtechnik verwendet haben, in den Gedächtnissen hinterlassen? Die Antwort liegt zum Teil in den weltweiten Bemühungen, den Film noir wieder zum Leben zu erwecken, und zu einem anderen Teil in den Hommagen. Aber das ist nicht alles. Der Film noir war eine der schönsten Früchte, die die europäischen Filmemacher Hollywood vermacht haben. Sie haben tatsächlich die europäischen Techniken auf die amerikanische Filmpraxis aufgepfropft und die Hollywoodstile glanzvoll modifiziert, ohne sie infrage zu stellen: eine Verschmelzung, die ganz besonders in den Dekorationen und den Beleuchtungen von Hollywoodfilmen wie The Man Who Laughs (1928, USA; Der Mann, der lacht) bis hin zu Psycho (1960, USA) offenkundig ist. Was Hollywood als das new noir bezeichnete, hat mit Chinatown (1974, USA) begonnen. Der Regisseur Roman Polański hatte seine ersten Werke in Polen und in Großbritannien gedreht. Unter den späteren new noir kann man Body Feaver (1981, USA, Lawrence Kasdan; Heißblütig – Kaltblütig) und Sin City (2005, USA, Frank Miller und Robert Rodriguez) nennen. Die meisten europäischen Filmemacher, die in Hollywood gearbeitet haben, sind aufgrund ihrer künstlerischen Realisierungen, ihrer internationalen Karrieren, ihres Einflusses auf zahlreiche Genres und vor allem aufgrund ihrer Filme in den Gedächtnissen geblieben. Sie haben alles beeinflusst, was im Kino seit der Zeit von Chaplin bis heute in Europa oder anderswo gemacht wird, sei es bei kommerziellen Filmen oder Autorenfilmen. Die Nachklänge ihrer Filme sind in den aktuellen Horrorfilmen und Neo-noir-Filmen, die in ganz Europa und sogar in der ganzen Welt produziert werden, immer noch spürbar. Zahlreiche postmoderne Regisseure sind bestrebt, sich den Stil dieser Filme anzueignen, sei es nun, um ihnen zu gleichen oder um über sie hinauszugehen. Und natürlich hat niemand Hitchcock vergessen. Diese Europäer sind aufgrund der Reisen in unserem Gedächtnis geblieben, die sie in der Hoffnung unternommen haben, eine Industrie zu finden, in der sie die Wahrheit sagen – oder erfinden – könnten, selbst wenn sie dafür in einer fremden Sprache arbeiten mussten. Wenn sie nicht immer eine vollständige gesellschaftliche Freiheit gefunden haben – an manchen Orten wiesen Plakate darauf hin, dass auf dem Set nur englisch gesprochen werden durfte –, so haben sie einen Ort gefunden, an dem sie leben konnten, eine Industrie, in der sie eine Rolle spielen konnten, und einen Ort für ihre Erinnerungen: für diejenigen, von 159

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denen sie sich anregen lassen würden, und für diejenigen, die sie erfinden würden. Und wenn wir uns an diese Filmemacher und ihre Filme erinnern, dann deshalb, weil – wie uns das Chanson in Casablanca in Erinnerung ruft: „The fundamental things apply as time goes by“ – das Wesentliche bleibt, während die Zeit vergeht.

Literatur Paolo CHERCHI USAI und Lorenzo CODELLI (Hg.), Before Caligari. German Cinema, 1895–1920, Madison 1990. Lotte H. EISNER, L’Écran démoniaque. Influence de Max Reinhardt et de l’expressionnisme, Paris 1952. Bruce F. KAWIN, Faulkner and Film, New York 1977. Klaus KREIMEIER, Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns, München 1992. Gerald MAST und Bruce F. KAWIN, A Short History of the Movies, Boston 2011. Thomas J. SAUNDERS, Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany, Berkeley/Los Angeles 1994.

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WOLFGANG REINHARD

Die Uhr und der Kalender Um die Zeit zu beherrschen, hat Europa begonnen, sie zu messen, eine Frucht des Monotheismus wie der Mathematik. Der unumkehrbare lineare Lauf der Zeit hat den Planeten erobert. Die Zeitmessung, die ursprünglich dazu gedacht war, den Menschen einen religiösen Rahmen zu bieten, ermöglichte es ihnen dann, die eigenen Angelegenheiten zu organisieren.

Die Prager Rathausuhr aus dem Jahr 1410 zeigt nicht nur die mitteleuropäische Zeit (mit römischen Zahlen) an, sondern auch die temporalen Stunden (mit arabischen Zahlen) und die böhmischen Stunden (mit gotischen Zahlen). Des Weiteren bildet sie den Lauf von Sonne und Mond ab.

WOLFGANG REINHARD

In Michael Endes Roman Momo von 1973 geht es um den Kampf der kindlichen Heldin mit den Agenten der Zeitsparkasse. Das sind eiskalte graue Herren, die von der Zeit leben, die sie anderen wegnehmen, indem sie ihnen beibringen, dass sie Zeit sparen sollen. Das heißt „schneller arbeiten und alles Überflüssige weglassen“, ein freundliches Gespräch mit einem Kunden, einen Besuch bei der alten Mutter, eine nachdenkliche Pause oder das Spielen der Kinder. Denn „Zeit ist [wie] Geld“ und lässt sich deshalb mit Gewinn einsparen. Die Leute „verdienten mehr Geld und konnten auch mehr ausgeben“. Aber sie waren verdrossen, denn sie hatten jetzt keine Zeit mehr und sogar immer Angst, Zeit zu verlieren. „Selbst ihre freien Stunden mussten […] ausgenutzt werden und in aller Eile so viel Vergnügen […] liefern, wie nur möglich war. Träumen galt bei ihnen fast als ein Verbrechen. Am allerwenigsten aber konnten sie die Stille ertragen.“1 In der modernen Marktwirtschaft sind Zeit und Geld die wichtigsten knappen Güter. Endes Buch läuft also auf eine nostalgische Kulturkritik hinaus. Nostalgisch, weil rationales Nutzen der Zeit sinnvoll und deshalb Grundlage unseres Lebens ist. Es hatte ja schon in der Antike Ermahnungen zum rechten Gebrauch der Zeit gegeben und Benjamin Franklin, der 1748 den Slogan Time is Money erfand, war nicht nur Geschäftsmann, sondern auch Philanthrop. Außerdem müssen wir uns fragen, ob vormoderne Verhältnisse wirklich eine romantische Verklärung verdienen. Vormodern heißt aber auch außereuropäisch. Nicht zufällig wurden erstaunliche Parallelen zwischen den Zeitvorstellungen Endes und jenen des Zenmeisters Dōgen (1200–1253) festgestellt. Denn einerseits hat der Westen dem Rest der Welt sein Verhältnis zur Zeit aufgedrängt. Die Tätigkeit der grauen Herren könnte man durchaus als „Kolonisierung der Zeit“ bezeichnen, besteht sie doch darin, einer vormodernen Stadt die moderne zeitbewusste Lebensweise aufzuzwingen. Andererseits kann Ekel an der eigenen Lebensweise bei Vertretern der westlichen Kultur wie Ende zum Lernen von Außereuropa führen. Auch beim Zeitbewusstsein „schlägt das Empire zurück“. Doch was ist überhaupt Zeit? Immer noch müssen wir wie der heilige Augustinus feststellen, dass wir zwar alle wissen, was Zeit ist, es aber 1 Michael Ende, Momo, oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte, Stuttgart 1973, S. 69–73.

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nicht erklären können. Zeit ist ein schwarzes Loch, in dem unser Denken spurlos verschwindet. Weil sie kein empirisches Außen hat, existiert sie nicht. Was wir objektiv messen können, sind Abläufe, nicht die Zeit. Abermals müssen wir mit Augustinus feststellen: Ohne Ereignisse gäbe es keine Zeit. Nichtsdestoweniger machen wir subjektive Zeiterfahrungen – auch die Erfahrung des Todes – und haben im Lauf unserer Entwicklung ein ausgeprägtes Zeitbewusstsein erworben. Soweit wir Erfahrungen und Bewusstsein mit anderen teilen, gewinnen beide die relative Objektivität von Kulturphänomenen.

Zeitkulturen Verschiedene Kulturen schufen Gottheiten, die für die Zeit zuständig waren, sofern nicht Gott selbst mit der Zeit identifiziert oder in der zeitlosen Ewigkeit eines ständigen Jetzt gedacht wurde. Gesellschaften entwickeln unterschiedliche Zeitkulturen. Das Verhalten der DDR-Bürger zum Beispiel unterschied sich auch in dieser Hinsicht vom westdeutschen. Intern sind die Kulturen ebenfalls immer polychron; sie bieten simultan verschiedene Möglichkeiten, sich zur Zeit zu verhalten. Die Gegensätze von natürlicher und sozialer Zeit, von vormoderner, geruhsamer, aufgabenorientierter und moderner, hastiger, von der Uhr kontrollierter Arbeit, von zyklischem und linearem Geschichtsverlauf, von subjektiv wahrgenommener Lebenszeit und objektiv gemessener Weltzeit und sogar von vorkolonialer und kolonisierter Zeit sind eine Sammlung von Konstrukten westlicher Zeitkultur. Das indische Denken zum Beispiel war nicht einfach zyklisch, sondern kannte eine Fülle verschiedener Zeitkonzepte. Dabei gab es die allgemein akzeptierte Vorstellung von Zyklen wiederholter Schöpfung und Zerstörung, den Kalpas von 4 320 000 000 Jahren, aber ohne Wiederkehr des Gleichen, sondern mit Veränderung durch Wiedergeburt dank gutem oder schlechtem Karma oder der buddhistischen Erlösung im Nirwana. Eine „unvorstellbare Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit historischer Tatsachen“ ließ dabei die Zeit verschwimmen.2

2 Rudolf Wendorff, Tag und Woche, Monat und Jahr. Eine Kulturgeschichte des Kalenders, Opladen 1993, S. 315.

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Auch in China blieb der Kosmos geschichtslos, denn hier ging es um universale Harmonie, nicht um Entwicklung. In die lineare kosmische wie in die historische Zeit waren Zyklen eingebaut, die rituell manipuliert werden konnten. Die Zirkel der Trigramme und Hexagramme des Yijing (Kombinationen von je drei beziehungsweise sechs durchgezogenen oder unterbrochenen Linien) konnten Tag und Nacht repräsentieren, ein Jahr, ein Leben oder einen vollständigen Naturzyklus. In China wie in Indien waren Anfang und Ende der Zeit kein Thema. Insofern bringt die idealtypische Betonung zyklischer Zeitvorstellungen trotz Vereinfachung die kulturelle Verschiedenheit ans Licht.

Die universelle Zeit von Newton Die Vorstellung, die Möglichkeit der Zeiterfahrung werde bereits durch die Struktur der jeweiligen Sprache eingeschränkt, wenn diese wie das Chinesische keine verbalen Tempora kenne, ist inzwischen falsifiziert. Verschiedene Sprachen verfügen vielmehr über verschiedene Instrumente zum Ausdruck derselben zeitlichen Sachverhalte. Die basic mechanisms of dealing with time sind in allen Kulturen gleich, unter­liegen aber beträchtlicher zwischenkultureller Diversifizierung. So konnte das notorische Bedürfnis Europas, zu messen und zu quantifizieren, einen Zeitbegriff hervorbringen, der die Welt verändern sollte, die lineare mathematische Newtonian time, die leer und absolut ohne empirischen Bezug auf irgendetwas Äußeres gleichmäßig dahinfließt. Ihr Verlauf ist sogar umkehrbar. Das kommt für Lebewesen allerdings nicht infrage, denn sie entwickeln ihre Eigenzeit, die als Episode in die Weltzeit eingebettete Lebenszeit. Aber diese geriet im Zuge der europäischen Expansion weltweit unter den Druck der Weltzeit des Isaac Newton. Schon Martin Luther klagte 1538, der Kalender regiere inzwischen die Welt. Damit meinte er nicht den Fest- und Heiligenkalender des Kirchenjahres, die europäische Variante des Ritualkalenders, die er ja gerade drastisch reduziert hatte, sondern die Anfänge unseres Terminkalenders, der dank Zeitmessung heute mit seinen Daten und Fristen nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft erbarmungslos beherrscht. Zu Luthers Zeiten wurden bereits zahlreiche Kalender gedruckt. Heute produziert Deutschland 80 Millionen Terminkalender im Jahr, auch wenn sie als Werbegeschenke vielleicht nicht alle benutzt werden. Dazu 164

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­ ommen weltweit unzählige Wand- und Abreißkalender, die im 19. Jahrk hundert erfunden wurden. Denn die wichtigste Errungenschaft des neuen europäischen Zeitbegriffs war für Vergangenheit und Gegenwart die Ermöglichung von Kausalität, für Gegenwart und Zukunft die Ermöglichung von Vorhersagen und Planung. Zeitvorstellungen anderer Kulturen galten demgegenüber als irrational und minderwertig. Die Einführung des Begriffs dreamtime für diejenigen australischer Aborigines um 1890 sollte abwerten, denn man hielt damals nichts von Träumen. Politisch zweckmäßig war die behauptete Zeitlosigkeit sogenannter primitiver Völker, ergänzte sie doch die Raumvorstellung von der terra nullius als Grundlage kolonialer Besetzung. Aber die Zeitsparkasse ist dennoch nicht allmächtig, Europa und die Welt bleiben polychron. Auch in Europa gibt es noch das irische Sprichwort: „When God created time He made plenty of it.“ Und die weltweite Kolonisierung der Zeit ist keine reine Erfolgsgeschichte. Angehörige anderer Kulturen wussten sich zu verweigern oder brachten hybride Kompromisse zwischen der eigenen und der europäischen Zeitkultur zustande. Die europäische Hinterlassenschaft läuft damit auf Pluralität von Gleichzeitigem hinaus, aber nicht auf Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, das hieße nämlich, Nichtwestliches als minderwertiges Überbleibsel zu denunzieren.

Naturzeit und Kulturzeit Alle Kulturen organisieren ihre Zeiterfahrung. Dabei können sie von der Beobachtung astronomischer Rhythmen ausgehen: 1. dem Sonnentag, 2. dem Mondzyklus, 3. dem Jahr mit seinen Jahreszeiten. Das Ergebnis fällt unterschiedlich aus, sogar beim Tag konnte über seinen Beginn kulturell entschieden werden. Bei Hindus beginnt er bei Sonnenaufgang, bei Juden und Muslimen mit Sonnenuntergang, nach unserer inzwischen weltweit geltenden Universalzeit um Mitternacht. „Gott schuf Tag und Nacht, aber der Mensch den Kalender.“3 Selbst unser wissenschaftlicher Kalender hängt nur indirekt mit der Astronomie zusammen, denn er ist eine bloße mathematische Konvention zur Organisation des Jahres. 3 E. G. Richards, Mapping Time. The Calendar and Its History, Oxford 1998, S. 3.

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­ eitere Kalenderbausteine sind sowieso rein kulturellen Ursprungs: W 1. die Unterteilung des Tages in Stunden, Minuten und Sekunden, die sich bis heute an der altorientalischen Tradition des Zwölfer- und des Sechzigersystems orientiert, 2. die Siebentagewoche, die ebenfalls ihre eigene symbolische Geschichte hat, 3. die zwölf Tierkreiszeichen und 4. die Ära, das heißt die Regel für die Zählung der Jahre. Wie schon die Babylonier teilte das vormoderne Europa Tag und Nacht in je zwölf Stunden, deren Länge mit der Dauer des Sonnentags wechselte. Mit der mechanischen Uhr setzten sich zwölf gleich lange Stunden durch, endgültig aber erst um 1800, der weltweite 24-Stunden-Tag ab Mitternacht sogar erst im 20. Jahrhundert. Doch die meisten Uhren haben nach wie vor Zifferblätter mit zwölf Stunden und im angelsächsischen Bereich gibt es immer noch zweimal zwölf Stunden vor beziehungsweise nach 12 Uhr mittags (a. m. beziehungsweise p. m., das heißt ante beziehungsweise post meridiem). Die Siebentagewoche mit dem letzten Tag, dem Sabbat, als Ruhetag gemäß Genesis 1,1–2,4 und Exodus 20,8–11 gilt als jüdische Errungenschaft nach babylonischem Vorbild, erwies sich aber als praktisch und wurde deshalb von der antiken Welt übernommen. Hellenistische Astrologen verwandelten sie in die Planetenwoche mit Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus und Saturn. Die Christen machten den Sonntag als Tag der Auferstehung ihres Herrn zum ersten der Woche, was er nicht nur in den USA, sondern auch in arabischen Ländern, Indien und China geblieben ist, nachdem die westliche Woche dort übernommen wurde. In Deutschland und anderswo ist, wie 1978 von der UNO festgelegt, dagegen inzwischen der Montag der erste Tag der Woche. 1993 kam die jahresweise erfolgende Zählung der Kalenderwochen dazu. Die Arbeitsruhe des Sabbats wurde 386 von Kaiser Theodosius auf den Sonntag übertragen; die Heiligung dieses neuen „Sabbat“ sollte prägender Programmpunkt der weltweiten britischen evangelischen Mission des 19. Jahrhunderts werden. Die Araber hatten die Siebentagewoche schon vor Mohammed übernommen. Dieser bestimmte aber den Freitag zum Gebetstag, weil Gott an diesem sechsten Tag den Menschen erschaffen hatte. Später wurde er ebenfalls zum Ruhetag gemacht. Das Kalenderjahr mit seinen Monaten wirft rechnerische Probleme auf, die auf höchst unterschiedliche Weise angegangen wurden. Denn weder Sonnenjahr noch Mondmonat gehen glatt in Tagen auf. Das Jahr 166

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dauert 365,2422 Tage und umfasst 12,368 Monate, der Monat seinerseits 29,53 Tage. Angeblich haben die meisten Völker mit Mondkalendern begonnen. Der einzig überlebende ist der islamische mit zwölf Monaten von abwechselnd 29 und 30 Tagen (Sure 9, 37). Er wurde eingeführt, um vorislamische Sitten auszulöschen, insbesondere die Neigung zum Sonnenkult. Weil dieses Mondjahr aber kürzer als das Sonnenjahr ist, rücken seine Daten im Vergleich dazu ständig vor. Deshalb werden Muslime älter als andere Menschen – theoretisch, denn aus praktischen Gründen mussten auch sie sich nebenher des Sonnenjahres für wiederkehrende Wirtschafts- und Steuertermine bedienen.

Der Ausgangspunkt Die meisten Kulturen schufen eine Kombination aus dem Sonnen- und dem Mondjahr. Weltgeschichtlich epochemachend wurden die römischen Kalenderreformen 46 v. Chr. und 1582. Die Astronomen des Diktators Gaius Iulius Caesar übernahmen den ägyptischen Sonnenkalender und ergänzten ihn um das Schaltjahr. Das durchschnittliche Jahr dieses julianischen Kalenders war mit 365,2500 Tagen aber immer noch ein bisschen zu lang. Die Astronomen Papst Gregors XIII. reduzierten es deshalb auf 365,2425 Tage, das bis heute brauchbarste Ergebnis. Während der gregorianische Kalender ungeachtet seiner kulturellen Herkunft solide Sachargumente für sich hatte, war dies bei der christlichen Ära, der seit der Spätantike üblichen Zählung der Jahre nach der – wahrscheinlich falsch berechneten – Geburt Christi keineswegs der Fall. Das Bedürfnis, die Jahre von einem Anfangspunkt an zu zählen, gilt ohnehin als Besonderheit der monotheistischen Religionen mit ihrem betont linearen Zeitverständnis. 2019 befanden sich die Juden im Jahr 5779/80 seit der Erschaffung der Welt, die Muslime im Jahr 1440/41 seit der Hidschra, der Übersiedelung des Propheten nach Medina. Zwar hatte auch der Mayakalender ein Anfangsdatum, die Griechen zählten ihre Olympiaden, die Römer rechneten ab der Gründung ihrer Stadt und die Chinesen ab dem 61. Jahr eines Urkaisers 2637 v. Chr. Aber solche Daten erhoben keinen historischen Anspruch, sondern liefen auf fiktive und mythische Identitätsstiftung hinaus. Die Chinesen und Japaner kombinierten ihre fünf Elemente mit zwölf Tierkreiszeichen zu aufeinanderfolgenden Zyklen von 60 Tagen (eine Woche kannten sie nicht) und 60 Jahren (2019 167

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wäre das 36. Jahr des 78. Zyklus). In erster Linie datierten sie aber nach Regierungsjahren ihrer Herrscher. Eine „absolute“ geschichtswissenschaftliche Datierung ist jedoch nur mit einer Ära möglich. Das Datum ist deshalb wesentlicher Bestandteil eines Ereignisses geworden.

Das Ritualisieren und Dominieren der Zeit Der christliche Kalender enthielt viel „Sozialzeit“. Neben den Sonntagen gab es zahlreiche Feiertage, an denen nicht gearbeitet wurde. Aber auch anderswo war der Kalender nicht zuletzt ein Festkalender. Neujahr wurde überall gefeiert, aber in erster Linie handelte es sich um religiöse Feste oder um die religiöse Verklärung der eigenen (Heils-)Geschichte. Römische Kaiser feierten zwar bereits Regierungsjubiläen, aber eigentlich gehen die Jubiläen, wie der Name sagt, auf die jüdischen Sabbat-, vor allem aber Jobeljahre alle sieben beziehungsweise 50 Jahre zurück. Die heiligen Jahre der Römischen Kirche, ab 1300 zuerst alle 100, inzwischen alle 25 Jahre sowie zu weiteren Anlässen gefeiert, orientierten sich als zusätzliche Heilschance an diesem Vorbild. Eine weitere rituelle Funktion nahezu aller Kalender war die Bestimmung glücklicher und unglücklicher Tage, für Haareschneiden und Hausbau, für Geldgeschäfte und Geschlechtsverkehr und vieles andere mehr. Denn die Kalender waren nicht nur Produkt, sondern auch Instrument der ursprünglichen Sternkunde, der Astrologie. Das beginnt schon mit der Planetenwoche. Bei den Muslimen gelten Dienstag, Mittwoch und Samstag als Unglückstage, hingegen Montag, Donnerstag und Freitag als Glückstage. In Indien wurde die Tagesqualität von den Brahmanen ermittelt, in China hatte diese Prognostik sogar amtlichen Charakter. Der Kalender war Staatsmonopol. 1328 wurden angeblich drei Millionen Exemplare gedruckt, ein Instrument zur Kontrolle des Volkes. Die Fehlerhaftigkeit des chinesischen Kalenders Anfang des 17. Jahrhunderts lief deshalb geradezu auf eine Staatskrise hinaus, die Jesuitenastronomen als Retter in der Not konnten sich auf diese Weise beträchtlichen Einfluss sichern. Aber bis heute gehört der Glaube unserer Zeitgenossen an die Astrologie zum verbliebenen polychronen Charakter unserer Kultur. Denn eigentlich ist heute astrophysische Wissenschaft statt astrologischem Aberglauben angesagt, Quantifizierung statt qualitativer Intuition, empirisch nachprüfbares Messen und Rechnen, kurzum Mathematik als 168

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Inbegriff von Rationalität. Das war aber keineswegs die Folge der Entwicklung immer vollkommenerer Uhren einerseits, der Entdeckung der messbaren Newton-Zeit andererseits. Wahrscheinlich wurden umgekehrt beide Errungenschaften vom europäischen Bedürfnis nach Kontrolle über die Zeit hervorgebracht. Zwar gab es bereits in der Antike und in Japan Parolen zur sorgfältigen Nutzung der Zeit. Aber derartige Vorstellungen wurden in Europa seit dem Mittelalter in einzigartiger Weise forciert. Die disciplina des klösterlichen Stundengebets, der Regulierungsbedarf der neuen städtischen Gewerbezentren, puritanischer „Zeitgeiz“ und schließlich die ab dem 17. Jahrhundert aufkommende empirische Naturwissenschaft verlangten ständig genauere Zeitmessung. Hoch entwickelte Sonnen- und Wasseruhren sowie mechanische Nachbildungen der Bahnen von Himmelskörpern hatte es in der Antike, in der islamischen Welt, in Indien und in China gegeben. Aber offenbar gab es in keinem Fall eine Massennachfrage für immer exaktere Zeitmesser, wie sie sich im Abendland vom Uhrwerk mit Unruhe über die Pendeluhr, das Marinechronometer bis zur Quarz- und Atomuhr entwickeln sollten. Die europäischen Uhren, die von Jesuitenmissionaren als Geschenke nach China gebracht wurden, erregten großes Aufsehen, weil die Wunderwerke der Song-Zeit dort vergessen waren. Zu Unrecht wurde ein binärer Gegensatz konstruiert zwischen dem aufgabenorientierten „natürlichen“ Arbeitsrhythmus vormoderner Bauern und Handwerker, der sich nach Jahreszeit und Tageslicht, nach den Hühnern und Kühen richtete, und demjenigen des Industriearbeiters, der den künstlichen Rhythmen der Uhren und Maschinen unterworfen ist. Denn einerseits sind die Rhythmen von Erntearbeit und Marktbelieferung ähnlich zeitorientiert wie die industriellen, andererseits fehlt es auch in Fabriken nicht an Aufgabenorientierung. Japanische Bauern hatten einen moralisch begründeten Sinn für die Kostbarkeit der Zeit, der sich verhältnismäßig leicht in industrielle Arbeitsdisziplin überführen ließ. Auf der anderen Seite war bereits der durch sein Riesenarchiv berühmte Kaufmann Francesco Datini aus Prato im 14. Jahrhundert ein Zeitsparer, Kaiser Karl V. ein Uhrensammler und an deutschen Fürstenhöfen galt 1748 Pünktlichkeit als erstes Gebot. Bereits Dante Alighieri verglich das Weltall mit einem Uhrwerk wie nach ihm Nikolaus von Kues, Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff. Thomas Hobbes, Friedrich  II. von Preußen, Johann Wolfgang von Goethe und andere 169

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deutsche Klassiker gebrauchten diese Metapher für den werdenden modernen Staat.

Zeit gewinnen Dennoch dominiert die von Europa und Amerika ausgehende Lebensweise unter dem Diktat der Uhr, die sich immer weiter beschleunigt. Der Mensch spart sogar Zeit, wenn er nicht mehr die Taschenuhr ziehen muss, sondern mit einer kleinen Bewegung auf die Armbanduhr schauen kann und schließlich die Zeit ohne Zifferblatt digital auf Minute und Sekunde angezeigt bekommt. Weil Zeit knapp ist, gilt es, möglichst viele Chancen wahrzunehmen. Ein erfülltes Leben, das viele Optionen ausgekostet hat, braucht den Tod als Optionsvernichter angeblich nicht zu fürchten. Beschleunigung wird so „zu einem funktionalen Äquivalent religiöser Vorstellungen vom ewigen Leben und damit zur modernen Antwort auf den Tod“.4 Das führt zu weiterer Beschleunigung des Lebensrhythmus, deren Anfänge bereits von Luther und von Goethe wahrgenommen wurden. Selbst die Profiterwartung setzt heute nicht mehr auf langfristige Akkumulation, sondern auf das schnelle Geld kurzfristigster Spekulation. Die Dezentralisierung und Pseudoprivatisierung von Arbeitsverhältnissen führt in der Nonstop-Gesellschaft nur zur Internalisierung und damit zur Verschärfung der industriellen Zeitdisziplin. Auch die „Freizeit“ entsteht nur, weil sie von der gemessenen Arbeitszeit frei ist, wird also von dieser produziert und bleibt Bestandteil der Zeitdisziplin. Nicht nur Europas Unterschichten, sondern auch seine kolonialen Untertanen sollten dieser Zeitdisziplin unterworfen werden, der ersten unmittelbaren Form europäischer Herrschaft über die Zeit und damit über die Menschen. Dabei ging keineswegs nur um industrielle Arbeitsdisziplin, auch wenn diese sogar in der Modellkolonie Indien unter vormodernen Zeitvorstellungen der Arbeiter zu leiden hatte. Selbst wenig intensive Kolonialherrschaft war auf Dauer nur mit einem neuen Zeit­ regime im Alltag möglich, dessen Disziplin durch Schule, Kaserne, Fabrik und notfalls Gefängnis vermittelt wurde. Moderne bürokratische Herrschaft beruht auf objektiver, einheitlicher, linearer Zeit, die für alle 4 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, 10 Frankfurt a. M. 2014, S. 472.

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zum gleichen Ergebnis führen soll. Geburt und Geschlecht, Lebensalter und Tod werden durch bürokratische Temporalisierung zu herrschaftsunterworfenen sozialen Daten, die rites de passage werden entritualisiert und zu Volljährigkeit, Pensionsalter, Amtsperioden und anderem mehr bürokratisiert. „Time is boss“, schrieb ein bekannter Dichter Australiens,5 auch wenn Aborigines sich durch passiven Widerstand dem kolonialen Zeitregime zu entziehen wussten. Da Zeitreihen und Ziffernfolgen eng zusammenhängen, gehört auch die Verbreitung des Rechnens mit den indisch-arabischen Zahlen im Dezimalsystem zur europäischen Macht über die Zeit. Möglicherweise wurde selbst die außereuropäische Musik dem europäischen Zeitmaß von Takt, Rhythmus und Tempi unterworfen.

Kalender und Feste Zeitdisziplin besteht einerseits aus derartiger koordinierter Regelmäßigkeit, andererseits aus Standardisierung. Weltweite Standardisierung bedeutete Übernahme des gregorianischen Kalenders, die zweite Form europäischer Zeitherrschaft. Kolonien und Protektorate hatten dabei keine Wahl, obwohl sich in Indien einheimische Kalender daneben behaupteten, denn der religiöse Charakter des Kalenders machte ihn zu einem Symbol kultureller Identität. Bereits in Europa galt er trotz Johannes Keplers positiver Einschätzung bei Evangelischen als papistisches Machwerk und wurde von den deutschen Protestanten erst 1700, von England und Schweden sogar erst 1752 angenommen. In der bikonfessionellen Reichsstadt Augsburg mündete der Kalenderstreit 1584 fast in einen Bürgerkrieg. Da bei der Einführung Tage gestrichen wurden, kam es in England 1752 zu blutigen Unruhen, weil Arbeiter argwöhnten, das Parlament wolle sie um Lohn betrügen. Immerhin benutzte Japan 1872 tatsächlich den neuen Kalender zur Einsparung von zwei Monatsgehältern für Beamte. In der Regel ging die Kalenderreform auch mit politischer Modernisierung einher, in China 1912 und erneut 1949, im Osmanischen Reich 1917, in der Türkei 1926. Russland folgte 1918, als Sowjetunion 1922 mit dem Ergebnis, dass die Oktober5 Giordano Nanni, Time, Empire and Resistance in Settler-Colonial Victoria, in: Time and Society, 20, 1 (2011), S. 5–33, hier S. 10.

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revolution am 7. November gefeiert werden musste. Orthodoxe Länder gingen nach dem Ersten Weltkrieg zum neuen Kalender über, der inzwischen auch in den meisten islamischen Ländern gilt. Allerdings wird daneben für religiöse Zwecke der alte Mondkalender benutzt, ebenso im Staat Israel der traditionelle jüdische Kalender. Und die orthodoxen Kirchen berechnen ihre Festtage nach wie vor nach dem julianischen Kalender. Weltweit sind die Angehörigen der großen alten Kulturen häufig „Zweitzähler“, das heißt, sie bedienen sich neben dem amtlichen gregorianischen Kalender je nach den Erfordernissen ihrer Religion und ihres Brauchtums mehr oder weniger informell weiter des traditionellen. Es sei nur an das chinesische Neujahrsfest samt Jahreszählung nach dem Tierkreis erinnert. Der Versuch, den gregorianischen Kalender ohne die christliche Ära zu übernehmen, erwies sich als nicht praktikabel. Denn diese ist wie der Kalender inzwischen längst kein Symbol der christlichen Kultur mehr, sondern weltweit ein neutraler Gebrauchsgegenstand geworden. Die DDR hatte sie ohnehin zu „vor“ beziehungsweise „nach unserer Zeitrechnung“ säkularisiert und das amerikanische CE lässt sich statt als Christian Era auch als Common Era auflösen. Politische Korrektheit hat auch den dortigen Festkalender revidiert. Statt Merry Christmas sendet man sich Seasons Greetings und feiert paritätisch mit Weihnachten das jüdische Lichterfest Chanukka und das pseudoafrikanische Kwanzaa. Die weltweite Säkularisierung des amtlichen Kalenders nach europäischem Muster schlägt sich in der Ersetzung der religiösen Feste durch säkulare nieder, soweit sie sich nicht als volkstümliche Feiertage behauptet und verbreitet haben wie manche von den christlichen. Weihnachtsbaum und Weihnachtsmann sind inzwischen nicht nur in China und bei manchen Muslimen selbstverständliches Kulturgut geworden. Seit dem 17. Jahrhundert haben sich in Europa politische Feiertage durchgesetzt, beginnend mit Herrschergeburtstagen nach antikem Vorbild. Seit der Französischen Revolution und mit dem Nationalstaat wurden sie demokratisiert, zentralisiert und multipliziert. Weltweit war die Festkultur der Vormoderne nämlich überwiegend lokal gewesen, nun spielten nationale Siege und Helden eine große Rolle. Gedenktage für die eigene natio­nale Schande sind bisher eine deutsche Besonderheit. Allerdings will die Einführung neuer Nationalfeiertage heute nicht mehr richtig funktionieren. Stattdessen bevorzugt man national oder international verordnete 172

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Gedenktage nach dem Muster des seit 1890 begangenen „Tages der Arbeit“ am 1. Mai oder des 1908 erfundenen „Muttertags“ am zweiten Maisonntag. Aus wirtschaftlichen und politischen Gründen häufen sich solche Tage inzwischen inflationär. Der gregorianische Kalender ist aus rationaler Perspektive wegen der ungleichen Monate und dem jährlichen Wechsel der Wochentage, der Verteilung der Wochen auf die Monate und der Veränderung des Osterfests nach wie vor unzulänglich. Alle Reformversuche seit der radikalen Dezimalisierung des 1792–1805 geltenden französischen Revolutionskalenders sind freilich gescheitert. Ein geplanter Weltkalender fiel 1937 im Völkerbund und 1954 in der UNO durch. Auch alternative Ären konnten sich nicht behaupten, weder während der Französischen Revolution noch unter dem italienischen Faschismus. Nur Nordkorea rechnet nach wie vor ab 1912, als Kim Il-sung, der Begründer seiner „Dynastie“, geboren wurde.

Normalzeit Auch die Durchsetzung der dritten Seite europäischer Zeitherrschaft, der weltweiten Normalzeit nach Greenwich, war trotz Nützlichkeit langwierig und blieb unvollständig. Denn auch unter dem Diktat der Uhr hatte jedes Zentrum zunächst seine eigene Sonnenzeit. Das änderte sich erst mit der time-space-compression, das heißt einerseits der Notwendigkeit, weiträumig geltende Fahrpläne für die neuen Eisenbahnen zu erstellen, und andererseits den neuen Kommunikationsmöglichkeiten, insbesondere dem Funkverkehr mit seinen Zeitsignalen. 1875 gab es in den USA 75 verschiedene Zeiten von Bahnlinien. 1883 wurden dort vier – vom britischen Greenwich ausgehend – berechnete Eisenbahnzeitzonen eingeführt, 1884 beschloss eine internationale Konferenz die an der Greenwich Mean Time (GMT) orientierte, seither Universal Time Coordinated (UTC) genannte Weltstandardzeit mit Zeitzonen zu 15 Längengraden, die seit 1920 auch auf See gelten. Die Durchsetzung entsprechender nationaler Standardzeiten stieß freilich auf Schwierigkeiten, nicht zuletzt wegen ihrer politischen Symbolik. 1893 führte Deutschland, wo es bis dahin Berliner, Karlsruher, Ludwigshafener, Münchener und Stuttgarter Zeit gegeben hatte, die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) ein, der sich heute der größte Teil der 173

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Europäischen Union angeschlossen hat. Auf der anderen Seite hat China seine 1911 geschaffenen fünf Zeitzonen 1949 durch eine nationale Einheitszeit ersetzt. Und noch 2014 musste die russisch gewordene Krim umgehend die Moskauer Zeit übernehmen. Hingegen hatten die notorisch extensiven Kolonialverwaltungen lange Zeit Probleme mit der Durchsetzung von Standardzeiten. Es konnte dabei durchaus zu eigenwilligen Sonderlösungen kommen. Die 1905 eingeführte Indian Standard Time weicht zum Beispiel eine halbe Stunde von der Zonenzeit ab und wurde erst nach der Unabhängigkeit durchgesetzt, unter anderem gegen Widerstand Bombays, das seine Lokalzeit bis 1950 behauptete. In islamischen Ländern trug hingegen die Bewegung für kulturelle Selbstmodernisierung (nahda) zur Einführung von Normalzeiten bei. Abermals läuft europäische Herrschaft über die Zeit auf Kompromisse und Hybride hinaus. Die strenge Linearität der maschinell hergestellten Newton-Zeit hat nicht nur die Herrschaft über die Zeit ermöglicht, sondern zusätzlich neue Horizonte geöffnet. Durch die Vorstellung einer empirisch nachprüfbaren Evolution wurde Teleologie oder Finalität durch Kausalität ersetzt. Der klassische Kairos, der richtige oder begnadete Augenblick, mauserte sich zur kalkulierbaren und bewusst wahrnehmbaren Lebenschance; das Vertrauen auf gewohnte Abläufe ist zum Glauben an den Fortschritt geworden. Politik produzierte demgemäß Fünfjahrespläne. Utopie wie Dystopie oder Antiutopie waren nicht mehr im „Nirgendwo“ angesiedelt, sondern in einer durchaus möglichen Zukunft. Der Mensch hatte die Macht zur Gestaltung der Zukunft gewonnen – oder glaubte es wenigstens. Auf der anderen Seite konnte der Europäer jetzt nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit planen. Der neue, der wissenschaftliche Umgang mit dem Inhalt des kulturellen Gedächtnisses der eigenen Gesellschaft und nicht zuletzt auch mit demjenigen anderer, von ihm beherrschter Völker, die Entmythologisierung der Vergangenheit durch Temporalisierung der Mythen, stellte Massen von Wissen zu seiner Disposition. Sie lassen sich zur gezielten Musealisierung der Vergangenheit nutzen. Raumphänomene wie Kultstätten, Paläste oder Chinas Große Mauer wurden durch solche Verzeitlichung politisch neu verfügbar. Denn paradoxerweise hat die empirische wissenschaftliche Historie mehr Macht über die Vergangenheit als das naive Leben mit deren Mythen. Sie lehrt uns 174

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aber auch, dass es in der Geschichte kein Zurück gibt, sodass die Menschheit keine andere Wahl hat als sich auch beim Umgang mit der Zeit die europäische Hinterlassenschaft anzueignen und damit zu leben.

Literatur Alexander DEMANDT, Zeit. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2015. Michael ENDE, Momo, oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte, Stuttgart 1973. Friedrich Karl GINZEL, Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie. Das Zeitrechnungswesen der Völker, 3 Bde., Leipzig 1906–1914 (Nachdruck Zwickau 1958). Achim LANDWEHR, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014, S. 30–40. Vanessa OGLE, The Global Transformation of Time, 1870–1950, Cambridge 2015. Hartmut ROSA, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, 10 Frankfurt a. M. 2014. Rudolf WENDORFF, Tag und Woche, Monat und Jahr. Eine Kulturgeschichte des Kalenders, Opladen 1993. Gerald J. WHITROW, Die Erfindung der Zeit, Wiesbaden 1991.

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Leerstellen im postkolonialen Gedächtnis Die Kolonialzeit ist eine ebenso schmerzhafte wie umstrittene Periode des europäischen Gedächtnisses. Sie beeinflusst noch heute die Beziehungen zwischen einem Europa, das seine imperialistischen Reflexe noch nicht abgelegt hat, und seinen früheren Kolonien. Die Erinnerung an diese Zeit hat allzu oft die Verschiedenheiten zwischen den unterschiedlichen Kolonisationserfahrungen verwischt. Sie hat vor allem dazu geführt, dass man vergaß, dass die Kolonisierten nicht nur Opfer waren, sondern dass auch sie die Geschichte aktiv mitgestalteten.

Der Staatspräsident der Republik Namibia, Sam Nujoma, und Bremens Regierungschef Henning Scherf bei der Einweihung einer Gedenktafel für die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft vor dem ehemaligen Bremer Kolonialdenkmal im Juni 1996.

LEERSTELLEN IM POSTKOLONIALEN GEDÄCHTNIS

Die Kolonisationen des 19. und 20. Jahrhunderts verliefen in den verschiedenen Regionen der Welt sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch je nach nationalem Kontext in unterschiedlicher Weise. Gleichwohl verfügen die Europäer über einen gemeinsamen Korpus, in dem sich verschiedene Facetten überlagern. Bruchstücke von Vorstellungen der jüngeren Vergangenheit, wie sie von der Massenkultur verbreitet werden, verbinden sich mit materiellen Spuren der Kolonisation im Alltag und führen in Zusammenhang mit dem Rassismus und der Sklaverei, die die europäischen Gesellschaften geprägt haben, zu regelrechten Zyklen des Vergessens und der Erinnerungen. Dabei stehen sich oft das Verlangen nach Erlösung von der Last der verübten Gewalt, die Verweigerung jeglicher Reue, aber auch der Wunsch, die Kolonisation zu rehabilitieren, gegenüber. Im Gegensatz zur äußerst lebendigen, zu einem Teil des nationalen Erbes gewordenen Erinnerung an die Tragödien made in Europe (vor allem die zwei Weltkriege) ist die Erinnerung an die Kolonisierung im Alltag der Europäer nur wenig präsent. Und das, obwohl die Kolonisation neben Faschismus und Kommunismus nach Hannah Arendt die dritte Verkörperung des Totalitarismus darstellt und ganz maßgeblich die gegenwärtige Welt prägt. Früher war die Kolonie im Alltag der Europäer wie der Kolonisierten gegenwärtig, und zwar in mehrfacher Hinsicht: in Gestalt der Träger der Kolonisierung wie der Ereignisse, durch die ausgeübte und erlittene Gewalt, in Form von „Kolonialwaren“ und einer Bilderwelt, in der sich der Exotismus mit der Selbstzufriedenheit des weißen Mannes verband.

Rassismus und Kolonisation Im Westen bilden Sklaverei und Kolonisierung bis ins 19. Jahrhundert eine Einheit; ihre Verurteilung beruht auf der christlichen Moral und dem humanitären Denken. Mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, die nach der Unabhängigkeit die Sklaverei beibehielten, ja systematisch praktizierten, dient der Kampf gegen die Sklaverei in Afrika, Indien, Indonesien und anderswo im Industriezeitalter der Rechtfertigung der imperialistischen Kolonisation, die vorgibt, die „niedriger stehenden Völker“ von ihr zu befreien. Schrittweise wird die Erinnerung an die Kolonisierung autonom und der Zusammenstoß des Gedächtnisses von Kolonisierten und Kolonialisten unvermeidlich. Wie aber sieht der lange und schwierige 177

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Prozess aus, der aus der Kolonisation einen europäischen Gedächtnisort macht? Warum ist das europäische Gedächtnis so fragmentiert, sowohl unter den ehemaligen Kolonialmächten als auch unter denen ohne koloniale Vergangenheit? Wie hat sich der Antikolonialismus – der Begriff wurde während der Kolonialzeit als Gegenbegriff und Gegenmittel zum Kolonialismus erfunden, im 19. Jahrhundert war man Kolonialist oder Antikolonialist – herausgebildet? Warum wurde erst in postkolonialer Zeit die Fiktion von den „Urvölkern“ aufgegeben und weshalb ist die Erinnerung an die Kolonisation untrennbar mit dem Rassismus verbunden? Der Kampf gegen den Rassismus setzt heute voraus, dass man die Erinnerung an die Kolonisation, wie sie von den ehemals Kolonisierten erlebt und gedanklich erfasst wurde, als autonom anerkennt. Ein Ort wird zum kolonialen Erinnerungsort, wenn sich die dort wirkenden Erinnerungen auf die historischen Zusammenhänge beziehen, in denen bestimmte Staaten sich im Industriezeitalter Bevölkerungen, Gebiete und Ressourcen außerhalb ihres eigentlichen Herrschaftsgebiets angeeignet haben. Dieses System der Aufteilung der Welt datiert aus einer Zeit nach dem transatlantischen Sklavenhandel, aber vor der Globalisierung. Die Aufstellung von Rassenhierarchien, die sich angeblich an der Ungleichheit in der technischen Entwicklung ablesen lässt, fungierte dabei als Organisationsprinzip. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es keine unmittelbare gebietsmäßige Verbindung zwischen den Kolonien und den Mutterländern, vielmehr wurden die Erstgenannten – allesamt vorindustrielle Gesellschaften – von den zweiten „entdeckt“ und dann „zivilisiert“. Neben der Erinnerung an vielfältige Formen der Präsenz des Kolonialismus in Europa steht die an den Rassismus und Antirassismus, an die Sklaverei und ihre Abschaffung, an die Eroberung der Natur durch den Menschen, aber auch an den Erhalt von Ökosystemen, an die Menschenrechte und schließlich an den Humanismus. Die Erinnerung bezieht sich vornehmlich auf den jeweiligen nationalen Rahmen, doch ergibt sich aus den Überschneidungen und Begegnungen der einzelnen nationalen Meistererzählungen ein europäisches Gedächtnis.

Die Entstehung des Antikolonialismus Im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt die überseeische Kolonisation als Lösung für nationale wie internationale Probleme. Am 178

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Ende des Erstem Weltkriegs kam es dank Völkerbund zu einer Neu­ aufteilung der Kolonien und ein Austausch von kolonialen Besitzungen wird ins Auge gefasst. Zu dieser Zeit waren Europa, Japan und die zu Beginn der industriellen Revolution unabhängig gewordenen Staaten Amerikas die Träger der Kolonisation. Der Rest der Welt war dagegen auf die eine oder andere Weise Objekt kolonialer Herrschaft. Aber am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in einem Zeitraum von 15 Jahren der koloniale Status von der Regel zur Ausnahme und der Besitz von Kolonien eher zu einer Last als zu einem Zeichen von Macht. Die jungen Europäer tauschten den Tropenhelm gegen ein antikolonialistisches Engagement ein. Der Rassismus erschien mehr und mehr als verdammungswürdig und unterliegt heute in zunehmendem Maß rechtlichen Strafmaßnahmen. Bis in die 1950er-Jahre hatte der Widerstand gegen die Kolonisierung – unabhängig von seiner kommunistischen, sozialistischen oder humanistischen Ausrichtung – kaum Auswirkungen auf die öffentliche Meinung Europas. Die Dritte-Welt-Ideologie wurde nun aber zu deren allgemeinster Ausdrucksform und es entstand ein antikoloniales europäisches Gedächtnis. Während die positive Wahrnehmung der Kolonisation, begünstigt vom Mythos der „zivilisatorischen Mission“ des weißen Mannes, sich im Rahmen der Nation ausdrückte, war die kritische Wahrnehmung zuvörderst eine internationalistische und dann erst eine europäische Angelegenheit. Es fiel ihr allerdings schwer, sich von ihren antikapitalistischen beziehungsweise antiimperialistischen und antifaschistischen Ursprüngen sowie dem Eintreten für die Menschenrechte zu lösen. Die humanitäre Ausrichtung des 21. Jahrhunderts lässt weiterhin nur wenig Platz für die Entwicklung einer autonomen Erinnerung an die Kolonisation wie die Dekolonisation. Zwar wird ihrer in historisch-politischen Reden reichlich gedacht, aber es gibt keinerlei politischen oder ethischen Imperativ, der sie mit einer Gesamtheit von Vorstellungen und Affekten verbände, wie sie für einen lebendigen Erinnerungsort benötigt wird. Es ist nicht leicht, darzustellen, was Kolonisation im Kontext der Erinnerung eigentlich bedeutet. Immer häufiger wird jede Situation der Ausbeutung und Abhängigkeit sowie der Verweigerung von Anerkennung als kolonialistisch eingeordnet. Im Gegensatz zum historischen Diskurs, der jeglichen Anachronismus verabscheut, strebt die Erinnerungsarbeit nach unmittelbarer Relevanz für die Welt von heute und wendet den 179

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Begriff in weitem Sinn an. So stellt sich ihr die Frage, ob etwa auch die vorindustriellen europäischen Imperien oder aber das Osmanische Reich, Russland und Österreich-Ungarn Kolonialmächte waren. Im Lauf des 20. Jahrhunderts kann man wohl kaum von einem Einklang der Kolonisation mit der Bildung von Nationalstaaten sowie ihrer gebietsmäßigen Entwicklung und Eingliederung in andere Imperien (wenn man denn beispielsweise die UdSSR als solches bezeichnen kann) im gegenwärtigen europäischen Gedächtnis sprechen. Die offiziellen Formen der Erinnerung und Geschichtsschreibung der Ukraine etwa bezeichnen heute deren Eingliederung ins russische Imperium und dann in die UdSSR als „Kolonisierung“. Waren die Roma, die noch vor nicht allzu langer Zeit in einigen Balkanstaaten (die ihrerseits Teil des Osmanischen Reichs waren) einen Sklavenstatus hatten, Opfer einer inneren Kolonisation? Ist die fortdauernde Marginalisierung etwa der Schwarzen auf den Antillen eine Folge ihres Übergangs vom Sklavenstatus zu dem von Kolonisierten oder beruht sie vielmehr auf rassischen Vorurteilen? Wie soll man die Erinnerung an die Leibeigenschaft benennen, die in Mittel- und Osteuropa erst zu einer Zeit abgeschafft wurde, in der in Übersee die koloniale Eroberung auf ihrem Höhepunkt war, während Haiti bereits 1804 direkt von der kolonialen Sklaverei in die politische Unabhängigkeit überging? Und schließlich stellt sich die Frage, ob die enteigneten und als Bürger zweiter Klasse behandelten Angehörigen der autochthonen Bevölkerung des amerikanischen Kontinents und Australiens als ehemalige Kolonisierte zu betrachten sind.

Vielgestaltige und sich wandelnde Formen der Erinnerung Bild und Ton kommt bei der Entstehung der Erinnerung eine größere Rolle als der schriftlichen Erzählung der Geschichte zu: Die chronologische Reihenfolge wird durch Formen der Erinnerung, die sich an die Sinne wenden, überlagert und von Grund auf verändert. Was ein Gegenstand der Erinnerung bedeutet, versteht sich nie von selbst. Er ist das Ergebnis einer Zuschreibung. So beanspruchen im postkolonialen Raum die Nachfahren der Kolonisierten die Erinnerung an die Kolonisierung ebenso für sich wie diejenigen der ehemaligen Kolonialisten. Dass einzelne Arten dieser Erinnerung inaktuell werden, ist oft verbunden mit einem inneren Verlangen nach Autonomie und Souveräni180

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tät. So hat sich die Erinnerung an die Kolonisation und Dekolonisation in Großbritannien und Spanien aus unterschiedlichen Gründen von der Kolonisierung des 19. Jahrhunderts gelöst. Im Commonwealth überdeckt die Erinnerung an das British Empire mithilfe des Symbols der Krone diejenige an die Kolonisierung. Die Neuzusammensetzung der britischen Bevölkerung durch die Immigration im 21. Jahrhundert wird offen angesprochen und akzeptiert. In Spanien begünstigt die Tatsache, dass der größte Teil Lateinamerikas Sprache und Kultur mit dem Mutterland teilt, die Amnesie in Bezug auf die Kolonisierung und die Dekolonisation in Afrika erscheint als Nebensache. In Portugal fiel die vollständige Entkolonisierung mit dem Ende der Diktatur zusammen. Zu Zeiten António de Oliveira Salazars und des Estado Novo von 1933 bis 1974 legte sich die koloniale Herrschaft wie Mehltau über das ganze Land. Die kollektive Amnesie in Sachen Kolonialismus, die vom Regime organisiert wurde, gestattete es dem Kolonialherrn, sich als Gründer Angolas und Mosambiks zu betrachten. Hier findet sich der beste Beleg für die These von Frantz Fanon und Albert Memmi, der zufolge die zunehmende Unzertrennbarkeit des kolonialen Binoms dazu führt, dass am Ende der Kolonisierte zum Kolonisierten wird und umgekehrt. In Italien ist die Kolonisation eng verbunden mit dem Gespenst des Mezzogiorno-Problems, das in Italien seit der Vereinigung umgeht. Die Selbstwahrnehmung der Piemontesen, die sich den Menschen aus dem Süden überlegen fühlten, verweist auf die Idee der Kolonisation als Lösung für die Mezzogiorno-Frage. In anderen Ländern, sogar in Großbritannien, wurde die koloniale Idee gleichermaßen als Machtdemonstration wie als Lösung für innere Probleme dargestellt. So stellte sich in den 1860er-Jahren der „neue Imperialismus“ Benjamin Disraelis als Lösung für Schwierigkeiten im Inland dar. Die Schotten waren deshalb auch in Koloniallaufbahnen zahlenmäßig besser vertreten als die Engländer. Aus Belgien gingen gleichfalls mehr zumeist arme katholische Missionare aus Flandern als Wallonen in den Kongo. In Italien wie in Belgien hat es deutliche Auswirkungen auf die jeweilige Geografie der Erinnerung an die Kolonisation, dass deren normale Akteure eher aus dem Mezzogiorno beziehungsweise den Niederländisch sprechenden Landesteilen und aus eher unteren sozialen Schichten kamen. Ebenso wie die Süditaliener sind heutzutage auch die Flamen entschieden anti181

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kolonialistisch eingestellt. Zumindest lehnen sie es rundweg ab, Verantwortung für die Kolonialpolitik zu übernehmen. Die heutige Erinnerungskultur ist in Deutschland antikolonialistisch geprägt, zumindest in der ehemaligen Bundesrepublik, denn im Osten herrschte in dieser Frage ohnehin der „antiimperialistische“ Diskurs. Die deutsche Kolonisation wird zumindest von den Nachkriegsgenerationen als kollektive Verfehlung im Vorfeld von Kriegsverbrechen und Holocaust aufgefasst und verlangt ein Eingeständnis der Schuld. Das steht hinter der Hilfe Deutschlands für afrikanische Staaten, insbesondere für die ehemaligen Kolonien; zudem wird in Form von Ausstellungen und ähnlichen kulturellen Veranstaltungen auf die Verbrechen, die begangen wurden, verwiesen. In Form einer Erklärung vom 10. Juli 2015 erkannte Deutschland das Vorgehen gegen die Hereros in Nordnamibia in den Jahren 1904/05 als Völkermord an. Dieses Schuldbewusstsein leitet sich aber weniger von einer Erinnerungsübertragung von einer Generation auf die andere(n) her als von Artikel 1 des Grundgesetzes von 1949: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Wie lässt sich die Erinnerung an die Kolonisation erfassen? Abgesehen von wenigen Ausnahmen, die man nicht zuletzt in den französischen Überseedepartements findet, beschränkt sich vielerorts die Neubetrachtung der lange als nationales Erbe betrachteten Kolonisation auf die Beseitigung von beziehungsweise die Kritik an Ortsbezeichnungen und mitunter auch von Denkmälern zu Ehren des Kolonialismus und der Kolonialisten. In Europa kam es zu einigen vorsichtigen Versuchen, die Wunden des Kolonialismus zu heilen. Dazu zählen die Aufnahme von Henri Grégoire, Victor Schœlcher und Félix Éboué ins französische Pantheon und öffentliche Veranstaltungen vorwiegend kultureller Art, mit denen etwa in Deutschland die in Namibia begangenen Grausamkeiten eingeräumt wurden. All diese Gesten behandeln allerdings die Kolonisation als Teil eines Ganzen, in dem sie zu Unrecht mit den Begriffen Rassismus und Missachtung der Menschenrechte verschmilzt. Vor Kurzem haben einige Museen in Dänemark und den Niederlanden die Bildunterschriften oder Objektbezeichnungen, die das Wort „Neger“ enthielten, geändert. Für die in Frankreich sehr aktive Gruppe ACHAC, die die europäischen Dimensi182

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onen immer wieder betont, ist die Kolonisation Bestandteil eines größeren Ganzen, zu dem auch der Rassismus und die außereuropäischen Wanderungsbewegungen gehören. Sie vertritt die Anschauung, dass es unmöglich ist, das heutige Frankreich zu verstehen, ohne sein koloniales Erbe zu berücksichtigen. Ziel ist es, die historische Erinnerung an die Kolonisation für die Erschaffung einer gerechten europäischen Erinnerung oder gerechter nationaler Erinnerungen in den Ländern Europas nutzbar zu machen. Manchmal wird die Geschichte der Kolonisation ganz ausdrücklich in derartiger Weise herangezogen, so wie das beispielsweise 2007 im Brüsseler Europa-Museum bei der Ausstellung C’est notre histoire („Das ist unsere Geschichte“) der Fall war, die sich mit der europäischen Erinnerung auseinandersetzte. Zur Zeit der Eroberung und der Bildung der Kolonialreiche diente der schulische Unterricht der Kolonialpropaganda. Die Erforscher exotischer Länder wurden verherrlicht, desgleichen die (oft militärischen) Heldentaten und die „Opferbereitschaft“ der Kulturträger, die den „niedriger stehenden“ Völkern den Fortschritt brachten. Die Entkolonialisierung hat dafür gesorgt, dass dieser Chor nationaler Selbstbeweihräucherung nach und nach verstummte. Doch findet eine Geschichte der unterschiedlichen Formen kolonialer Herrschaft nur sehr langsam Eingang in die Lehrpläne. Wenn es schließlich so weit ist, kommt es – wie das französische Beispiel zeigt – auch gleich zu feindseligen Reak­tionen. Die Aktivisten im Mutterland, die für eine Rehabilitierung der Kolonisation eintreten, verfügen über mächtige Lobbyorganisationen. Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Februar 2005 ist ein gutes Beispiel dafür. Durch ihn sollten ja die Lehrkräfte in Frankreich dazu gezwungen werden, eine „positive“ Version der Kolonialgeschichte, insbesondere in Nordafrika, zu präsentieren. In einigen Ländern des ehemaligen Ostblocks, insbesondere in den baltischen Staaten und der Ukraine, wird die Kolonisation scharf kritisiert. Die Errichtung von Museen zur Erinnerung an die sowjetische beziehungsweise kommunistische Kolonisation ging dabei zumeist mit der Zerstörung von Denkmälern, einer „Säuberung“ der Ortsbezeichnungen und einer radikalen Revision der Geschichtsbetrachtung einher. Mehrere dieser Länder arbeiteten in Erwartung neu verfasster und amtlich zugelassener Lehrwerke allerdings noch mit solchen aus der Zeit vor der sowjetischen „Besatzung“, die also ein halbes Jahrhundert alt waren. In anderen Ländern Europas – allen voran Großbritannien und Frankreich, 183

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aber auch in den Niederlanden und Deutschland – ist die moralische Verantwortung für die begangenen Verbrechen Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Die Erinnerung an die Kolonisierung als zivilisatorischen Akt wird somit immer mehr dekonstruiert. Wenn man einmal von der Strömung der subaltern studies absieht, gibt es aber nur wenige Beispiele für den Aufbau einer Geschichte der Kolonisation und ihrer Erinnerung aus dem Blickwinkel der Kolonisierten. Dies gilt auch für die ehemaligen Kolonien. Südafrika bildet in diesem Punkt eine Ausnahme, hier war allerdings die Apartheid eine innere Angelegenheit des Landes. Diese Betrachtungsweise wurde mitunter von Aktivisten übernommen, die sich in Bewegungen für die Autonomie oder Unabhängigkeit einzelner Regionen ihres Herkunftsstaats engagieren. Ein Extrembeispiel dafür ist der Fall von Roger Casement, eines irischen Nationalisten, der einer der wichtigsten Kritiker der im Kongo begangenen Verbrechen war und der 1916 wegen Kollaboration mit den Deutschen hingerichtet wurde. Im belgischen Kongo haben sich flämische Missionare für die Anerkennung des Werts der lokalen Kulturen eingesetzt und in Frankreich hat der bretonische Forscher Yves Person Ähnliches getan. Stellvertretend haben sie sich für das Recht auf Wertschätzung ihrer Region beziehungsweise Kultur eingesetzt.

„Die heuchlerische Bezeichnung Zivilisation“ Die Grundlagen für den modernen Antikolonialismus wurden von den europäischen Sozialisten gelegt. Sie traten den Apologeten des Kolonialismus entgegen, die die drei „K“ wie ein Feldzeichen vor sich hertrugen: Kirche, Kultur (beziehungsweise Zivilisation) und Kommerz. Ihr bekanntester Vertreter war der schottische Arzt und protestantische Missionar David Livingstone, der sich mit der dreifachen Autorität des christlichen Glaubens, der Wissenschaft und des Kampfes gegen die „arabischen Sklavenhalter“ gürtete. Im Jahr des Abschlusses der internationalen Kongokonferenz (Berlin, 1894/95) antwortete Georges Clemenceau einem Jules Ferry, der behauptete, dass die Kolonisation, diese „hohe zivilisatorische Verpflichtung“, für Frankreich der einzige Weg sei, um den ihm gebührenden Platz unter den großen Nationen dieser Welt einzunehmen, wie folgt: „[…] seit ich gesehen habe, wie deutsche Wissenschaftler wissenschaftlich beweisen, dass Frankreich notwendigerweise im Deutsch-Französischen 184

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Krieg besiegt wurde, weil der Franzose eine im Vergleich zum Deutschen minderwertige Rasse darstellt. Seit dieser Zeit, das räume ich gern ein, überlege ich es mir zweimal, bevor ich über einen Menschen oder eine Zivilisation die Aussage mache: minderwertiger Mensch oder niedrigere Zivilisation.“ Er fuhr dann fort: „Unterlassen wir es lieber, die Gewalt mit der heuchlerischen Vokabel Zivilisation zu bemänteln. Sprechen wir nicht von Recht oder Pflicht. Die Eroberung, für die Sie eintreten, ist schlicht und einfach ein Missbrauch der Machtüberlegenheit der wissenschaftlichen Zivilisation gegenüber rudimentären Zivilisationsformen, die es ermöglicht, sich Menschen anzueignen, sie zu foltern, sie bis aufs Letzte zum Vorteil des angeblichen Zivilisationsbringers auszupressen.“1 Diese Rede prangerte gleich mehrere Haltungen auf einmal an: den Rassismus, die angebliche moralische Überlegenheit einer Zivilisation und die Anmaßungen der Wissenschaft. Ihre Wirkung war jedoch gering, die „Kolonisten“ waren stärker. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Fälle des Missbrauchs des kolonialen Systems bekämpft, nur selten aber das System selbst. Sobald es angegriffen wurde, wurde das Argument der rassischen oder zivilisatorischen Überlegenheit, die es zu schützen galt, zur Rechtfertigung herausgeholt. Die Kolonisation wurde als Mittel gegen die Sklaverei dargestellt, deren Beseitigung eines der Ziele des Völkerbunds war. Die Hartnäckigkeit des Mythos von der zivilisatorischen Mission erklärt, weshalb sich die Kolonisation so lange eines gewissen Wohlwollens erfreute. Heute dagegen wird das koloniale System von der öffentlichen Meinung missbilligt. Der Wunsch nach einem Zurück zum französischen Algerien, zum niederländischen Indonesien oder zum belgischen Kongo ist heute nur noch die Angelegenheit einer ganz kleinen Minderheit. Die Auffassung, dass die unabhängig gewordenen Staaten das „zivilisatorische Aufbauwerk zerstört“ haben, dass ihre Bevölkerung ihre kollektiven Leidenschaften nicht im Zaum halten kann und dass sie sich sehr schlecht regieren, ist dagegen weitverbreitet. Implizit bedeutet das: Menschen, die außerhalb der Zivilisation lebten, sind – im Guten wie im Schlechten – von den Europäern ihrem Naturzustand entrissen worden. Als dann die Europäer weggingen, erwiesen sich diese Menschen als unfähig, sich selbst zu regieren, weil sie über keinerlei kollektive Befähigung zu Demokratie, Unternehmertum und Ähnlichem verfügten. Die 1 Rede vor dem Abgeordnetenhaus in der Sitzung vom 31. Juli 1885.

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Rede von Staatspräsident Nicolas Sarkozy vom Juli 2007 in Dakar, in der er vor einer Versammlung von senegalesischen Hochschullehrern behauptete, dass „der afrikanische Mensch nicht hinreichend in die Geschichte eingetreten“ sei, verlieh diesem noch immer vorhandenen Grundton des europäischen Gedächtnisses lediglich hörbaren sprachlichen Ausdruck.

Von Tarzan bis Banania2 – die Kolonialpropaganda In den europäischen Kolonialländern des 20. Jahrhunderts hat sich der Kontext der Herstellung von zustimmender oder ablehnender Erinnerung an den Kolonialismus nicht grundlegend geändert. Diese Erinnerung im weiten Sinn des Wortes, die auch den Exotismus umfasst, wird von der illustrierten Presse, dem Fotojournalismus und Dokumentarfilmen erzeugt, die in dieser Rolle die Lehrbücher und den Roman ablösten. All diese europäischen Staaten, vor allem aber die totalitären Regime, haben ein Legitimitätsbedürfnis, das sie mit massiver Propaganda stillen. Das schulische Lehrwerk und die Fotografie sind dabei die wichtigsten Werkzeuge. Auf dem Gebiet der Kolonialpropaganda stellte die Fotografie den kolonialen Alltag dar. Das ist etwa der Fall bei der Banania-Werbung, die sich tief ins Gedächtnis der französischen Familien eingegraben hat. Auf ihr sah man zunächst den Kopf einer schönen Frau von den Antillen, der mit Bananen umgeben war. 1917 wurde dieses Bild durch einen lächelnden senegalesischen Soldaten ersetzt. Um die Eltern dazu zu bewegen, für das Missionswerk zu spenden, verteilten in ähnlicher Weise die Priester an die Kinder Bilder aus den exotischen Ländern von „Seelen, die gerettet werden sollen“. Auch Postkarten, Briefmarken, die Werbung für „Kolonialwaren“, Kolonialausstellungen, Diaporamen, Menschenschauen und Zoos trugen zum stereotypen Bild von den Kolonien bei. Der Kolonisierte wurde so zu einem Objekt der Naturbetrachtung wie Pflanzen und Tiere und lebte als solches in der Vorstellungswelt, die Gemeingut des kulturellen Gedächtnisses im gesamten modernen Europa ist. Das Streben der Kolonisation nach Anerkennung richtete sich ebenso sehr an die Gesellschaften der Kolonialländer wie an die in den Kolonien 2 „Banania“ ist ein in Frankreich seit mehr als 100 Jahren verbreitetes Getränk vor allem aus Bananenmehl und Kakao, dessen Werbung sich traditionell stark rassistischer Stereotype bediente (Anmerkung des Übersetzers).

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ausgebildeten Eliten. Koloniallandschaften wurden als aus dem Mutterland importierte Orte präsentiert und inmitten der Bewohner exotischer Länder mit ihrer Fauna und Flora dargestellt. Im Mutterland lud man zur Reise ein, der Kolonie verspricht man die Assimilation. Dies erklärt die allen Moden trotzende Dauerpopularität der Hollywood-Varianten des Dschungelbuchs, von Tarzan (die letzten Remakes stammen aus dem Jahr 2016) und von Joseph Conrads Roman Herz der Finsternis, verfilmt von Francis Ford Coppola (Apocalypse Now). Dort wird die angeborene Kraft des weißen Mannes in Szene gesetzt, aber auch das Risiko, das ein zivilisiertes Wesen eingeht, wenn es in die Natur eindringt – egal, ob es sich dabei um die Tierwelt oder um „Wilde“ handelt. Diese Vorstellungswelt versetzt den Bewohner „exotischer“ Länder in eine Zeit, die nicht die unsere ist, nicht die des weißen Mannes. Diverse gelehrte oder romanhafte Abhandlungen, die sich mit den Konsequenzen einer solchen Grenzüberschreitung befassen (angeblich verliert man darüber den Verstand), belegen, wie sehr der Kolonisierte in dieser Vorstellungswelt aus der Geschichte ausgeschlossen wird.

Fortdauer des Exotismus Auch wenn Jan Vansina3 es 1961 erreicht hat, dass die Universität einräumte, dass die Afrikaner schon seit langer Zeit über historisches Wissen verfügen, auch wenn sie sich nicht der Schrift bedienten, so spielen die Auffassungen Georg Wilhelm Friedrich Hegels doch weiterhin eine große Rolle in den Vorstellungen von Afrika, Ozeanien und den Urvölkern: Sie alle würden in anderen Zeiten leben und nur die unsere wäre universell und offen für die Zukunft. Auf akademischer Ebene ist es den eben vom westlichen Standpunkt aus konzipierten Disziplinen der Universalgeschichte und der Vergleichenden Geschichte nicht gelungen, dem globalen Beitrag aller zur Entstehung der heutigen Welt gerecht zu werden. Statt eine einzelne historische Erfahrung als universell auszugeben, wäre eine „Geschichte, zu der alle gleich viel beitragen“, zu favori-

3 Der Historiker untersuchte insbesondere die mündliche Geschichtsüberlieferung im subsaharischen Afrika und trug wesentlich zur Entwicklung der oral history bei (Anmerkung des Übersetzers).

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sieren. Anstelle von Versuchen, die Modernität zu erfassen, wären „alternative Modernitäten“ zu präsentieren. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist ein breites Publikum mit dem antikolonialistischen Diskurs vertraut. Dadurch hat aber die Erinnerung an die Kolonisation nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt. Diese wird weiterhin als eine Verpflichtung gegenüber Völkern, die auf dem Weg zum Fortschritt im Rückstand sind, betrachtet. In dieser Hinsicht ist die verbreitete Haltung zur außereuropäischen Immigration dadurch bedingt, dass man die ehemals Kolonisierten immer noch als niedriger stehend, als minderwertig betrachtet. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert trug der Konsum von Produkten aus den Kolonien (Zucker, Kaffee, Tee, Gewürze, aber auch Gebrauchsgegenstände aus Rohstoffen, die in den Kolonien gefördert oder angebaut werden) zur Steigerung des Lebensstandards bei. Die Bildwelt des kolonialen Exotismus, bestimmte Kunstrichtungen wie der Orientalismus und die Literatur sorgten dafür, dass die Kolonisation nicht nur in die Vorstellungswelten der Europäer einging, sondern auch in die Erinnerung an die Modernisierung, an deren Spitze Europa gestanden haben soll. Die antikolonialistischen Aktivisten mögen noch so sehr gegen die Ablagerungen dieser Erinnerung vorgehen, die zumindest visuelle Verbindung von Produkten, die vor Kurzem noch als exotisch galten, und einem lächelnden „Neger“ besteht ebenso fort wie die Fantasien, die sich um den Körper eines jungen „Eingeborenen“ ranken, der sich einem „überlegenen“, „höherwertigen“ Wesen anbietet. Die Erinnerung an die Eroberung von Völkern mit „minderwertiger Zivilisation“ und an ihre Bevormundung durch einen Westen, der Träger von Frieden, Zivilisation und Fortschritt ist, steckt wie bei einer Matrjoschka-Puppe in der romantischen Vorstellung von der Eroberung „jungfräulicher“ (da dem Westen unbekannter) Gegenden durch Individuen, die insofern den „Geist der weißen Rasse“ verkörpern, als sie in ihrer Person Mut, Unternehmungsgeist und wissenschaftliche Kenntnisse vereinen. Trotz aller Änderungen des historischen Diskurses bleiben Forschungsreisende wie Henry Morton Stanley oder Pierre Savorgnan de Brazza in dieser Erinnerung eher positive Gestalten. Die zweideutige Einstellung bestimmter Staaten, die aus der Kolonisation hervorgegangen sind, in Bezug auf diese Personen spielt auch ihre Rolle: So wurde Savorgnan de Brazza jüngst in der Republik Kongo als Gründervater gefeiert. Diese Art 188

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der Erinnerung, zusammengesetzt aus Restbeständen alter Vorstellungen, die durch die Literatur, Denkmäler oder geografische Bezeichnungen transportiert wurden, entzieht sich dem historischen Diskurs. Sie findet hingegen ihre Bestätigung in medial vermittelten Vorstellungen von den Konflikten, die die Gesellschaften der ehemaligen Kolonien spalten, über die Migrationswellen in Richtung Europa und in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen im Verlangen nach „Wiedergutmachung“ für die „Kolonialschuld“.

Die Kolonisation – nur eine Parenthese? Der Gedanke, dass die Kolonisation die kolonisierten Gesellschaften und die kolonisierenden gleichermaßen betrifft und dass man dem Schatten, den sie auf die Gegenwart wirft, nirgendwo entgeht, gewinnt allerdings in Europa an Boden. Einige ehemalige Kolonialmuseen haben ihren Namen geändert. In Frankreich wird die Bezeichnung „Naturgeschichte“, zu deren Unter­suchungsgebiet auch die „Wilden“ gehörten, zunehmend durch „Lebens- und Erdwissenschaften“ ersetzt. Die ehemaligen Akademien für Kolonialwissenschaften haben sich in Institutionen für „Übersee“ umgetauft. Das Amsterdamer Kolonialmuseum benannte sich schon 1949 in „Tropenmuseum“ um. In Frankreich wurde 2007 das ehemalige Kolonialmuseum, das später „Museum für die Kunst Afrikas und Ozeaniens“ hieß, zum „Museum der Immigration“, womit der Beitrag der Migranten zum nationalen Erbe Anerkennung erfuhr. Afrika wird im ersten Raum der neuen Dauerausstellung (seit 2014) thematisiert, nirgends aber werden die Kolonisation oder die Sklaverei als herausragende Fakten erwähnt. Mit der Verkündung des Endes der Kolonisation wird die Kolonisierung auf eine Parenthese in der Geschichte des Landes reduziert. Diese Art der Reduktion wird mitunter selbst von der Geschichtsschreibung Afrikas, die von den Afrikanern selbst verfasst wird, praktiziert. Nach und nach verschwindet auch das Wort „primitiv“ aus dem Vokabular der Autoren, die sich mit der künstlerischen Produktion und der Kultur der kolonisierten Völker befassen. In Frankreich wurde es von den Gegnern des Begriffs art premier für das Musée du quai Branly entschieden abgelehnt. Diese Institution hat einen Teil der Sammlungen des Musée de l’Homme übernommen, des Anthropologischen Museums, das seinerseits Teil des Nationalmuseums für Naturgeschichte ist. Das Ge-bäude ist 189

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umgeben von einem Garten, der an den Dschungel erinnert, sodass der Zuschauer unweigerlich an Tarzan, Mowgli und Conrads Herz der Finsternis erinnert wird, die unablässig von der Massenkultur neu belebt werden. Es ist jedoch festzuhalten, dass die einst kolonisierten Völker – diejenigen in Übersee sowie die im eigenen Land (die ursprüngliche Bevölkerung)  – in ganz Europa als vollwertige Angehörige der Menschheit und als den Europäern gleichrangig betrachtet werden, was inzwischen sowohl durch das Völkerrecht als auch durch das jeweilige Landesrecht garantiert wird.

„Den Kolonialisten entzivilisieren“ Seit den 1970er-Jahren macht man in Europa Jagd auf den Rassismus und die mit ihm verbundenen Formen der Erinnerung. Diese Jagd wird verstärkt durch das politische und mediale Echo des Kampfes der Afroamerikaner für ihre Bürgerrechte. In diesem Zusammenhang kommen einem Bilder in den Sinn wie das von Weißen und Schwarzen, die sich gemeinsam in New York und Washington angekettet haben, die Gestalt Martin Luther King und auch Muhammad Ali, wie er seine gerade in Rom gewonnene Goldmedaille in den Ohio wirft, nachdem ihm in einem Restaurant in Louisville der Zutritt verweigert worden ist. Danach gab es die Kampagnen gegen die Apartheid in Südafrika, die ebenfalls für die starke Verbreitung einprägsamer Bilder sorgten. Am Ende des 20. Jahrhunderts ist die öffentliche Meinung offenbar so weit, dass sie es für inakzeptabel hält, einzelne Individuen sowie die dunkelhäutigen und autochthonen Völker aus der Geschichte auszuschließen. Seit Ende der 1990er-Jahre erleben wir in Europa allerdings den Aufstieg von rechtsextremen Bewegungen, die den alten Rassismus mit der Islamophobie und der Feindlichkeit gegen Immigranten vermengen und die Kolonisation als zivilisatorische Tat rechtfertigen. Auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums findet man Hochschullehrer, die die dominierende Rolle der Europäer bei der „Erfindung“ der Minderwertigkeit der anderen betonen. In der Tat waren es europäische Texte, die ab dem 16. Jahrhundert Afrika gewissermaßen „fabriziert“ haben. Valentin-Yves Mudimbe hat die dabei angewandten Verfahrensweisen inventarisiert und dekonstruiert. Bereits zehn Jahre zuvor hat Edward Said in ähnlicher Weise das europäische Konstrukt des Orientalismus analysiert. Dabei durchdrangen die Afrika-, Orient- und auch Asienstereotype bereits 190

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lange vor der Kolonisation das soziale Gedächtnis der Europäer und trugen dazu bei, dass man sich an diese als zivilisatorische Tat erinnert. Afrika wurde dabei ganz besonders in eine Randexistenz abgedrängt, denn die Art, wie man diesen Kontinent betrachtet, bildete sich genau zu der Zeit heraus, in der sich auch der transatlantische Handel mit schwarzen Sklaven entwickelte. Für die damaligen Bürger westlicher Länder konnte ein Sklave nur schwarz sein. Das geht so weit, dass im 18. Jahrhundert das Wort „nègre“ zu einem Synonym für Sklave wurde. In der frankofonen Geschichtsschreibung stammt die schärfste Verdammung der Kolonisation und kolonialapologetischer Konstrukte aus der Feder von Marc Ferro. Der erste Schritt war ein Buch, in dem die heutige Globalisierung gewissermaßen als zeitgenössischer Wechselbalg des Kolonialismus erscheint, der zweite ein Sammelband von Beiträgen mehrerer Autoren unter dem Titel Le livre noir du colonialisme („Schwarzbuch Kolonialismus“) nach dem Vorbild des Livre noir du communisme. Ferro verweist dort auf die politische Verwandtschaft von Nationalsozialismus, Kommunismus und kolonialem Imperialismus, die bereits Hannah Arendt ein halbes Jahrhundert zuvor festgestellt hatte. Dass der Kolonialismus und die Erinnerung an ihn feste Bestandteile der europäischen Erfahrung sind, steht jedenfalls außer Frage. Seit Kurzem erscheinen die Erinnerung an die Sklaverei und die an die Kolonisation vor allem in den Medien als untrennbar miteinander verbunden. 1950 stellte Aimé Césaire bereits fest, dass „die Kolonisation daran arbeitet, den Kolonialisten zu entzivilisieren“, und sprach in diesem Zusammenhang von „einer universellen Regression“. Etwa zur gleichen Zeit betonten Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre und Albert Memmi, wie verdorben der Kolonialist sei, der andere unterdrückt. Und doch gelang es der antikolonialistischen Welle nicht, den Kolonisierten mit der gleichen Selbstverständlichkeit als Subjekt der Geschichte darzustellen, wie das beim Proletariat der Fall war. Der Antifaschismus, die Grundlage des antikolonialistischen Engagements vieler junger Europäer und dann der „Dritten-Welt-Bewegung“, gehörte zu den Voraussetzungen für das kommunistische Engagement und dann, nach 1956, für das Eintreten für die Menschenrechte. Die einhellige Ablehnung der Intellektuellen angesichts der Folterpraktiken der französischen Armee in Algerien ruhte weit mehr auf humanistischer als auf antikolonialistischer Grundlage. Auch die tiefer liegenden Motivationen der Gegner der Sklaverei und der Anti191

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kolonialisten in Europa waren eher durch die Verpflichtung des Einzelnen gegenüber seinem Nächsten, also die christliche Ethik, bedingt.

Die Entwicklung vom Sklaven als Opfer des Kolonisierten zum Subjekt der Geschichte Doch das kulturelle Gedächtnis der Hierarchisierung der Rassen hindert den Europäer daran, sich in einem Körper wiederzuerkennen, der physisch nicht der seine zu sein scheint. Im öffentlichen Bewusstsein wird der ­Kolonisierte vor allem als Mann wahrgenommen, während man sich in der europäischen Öffentlichkeit zunehmend der geschlechtsspezifischen Unterschiede bewusst wird. Die Kolonialgeschichtsschreibung täte gut daran, größere Sensibilität für solche Fragen zu entwickeln. Dies würde es den Frauen, aber auch Gruppen unterschiedlicher sexueller Orientierung gestatten, sich in ihr wiederzufinden. In Europa hat das Schuldgefühl (in Bezug auf den Antisemitismus und die Schoah, aber auch auf spätere Völkermorde) eine universelle, dabei aber vielgestaltige Figur des Opfers von Rassismus und Entmenschlichung hervorgebracht. So leidet die Figur des Kolonisierten unter dem „Chauvinismus des Universellen“ (Pierre Bourdieu), zuerst unter demjenigen des Kommunismus, dann dem des Antikolonialismus, die der Westen beide als universell betrachtet. Der Indigene, den Sartre 1961 in seinem Vorwort zu Fanons Werk Die Verdammten dieser Erde zum Synonym für den Kolonisierten gemacht hat, wurde deshalb dem Modell des Proletariers nachgebildet – „Eingeborene aller unterentwickelten Länder, vereinigt euch“4. Diese Figur verliert jedoch unaufhörlich an Repräsentativität, da diejenigen, die sich auf diese Weise selbst darstellen, immer seltener werden. Die Implosion und der Legitimitätsverlust des kommunistischen Systems und seiner Diskursformen tragen ihren Teil dazu bei. Die Figur des Unterdrückten bleibt zwar anziehend, aber es fehlt ihr an einem starken Bild, an einem Modell. Das verbreitete Gefühl, sich für das moralische Versagen des Holocaust loskaufen zu müssen, war das Hauptproblem für das europäische Bewusstsein im 20. Jahrhundert. Im weiteren Verlauf hat der Sklave – seit die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt 4 Jean-Paul Sartre, Vorwort, in: Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. 1966 [1961], S. 9.

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ist – seinerseits die Stelle des universellen Opfers übernommen. Diese Veränderung des Gedächtnisses wird durch die zunehmenden globalen Verflechtungen verstärkt. Gleichwohl teilen Afrikaner und Asiaten nicht dieses Schuldgefühl mit den Europäern, manche sehen darin sogar eine eurozentrische Fixierung. Die Sklaverei erscheint letztlich als die in der Menschheitsgeschichte von der größten Anzahl Menschen auf diesem Planeten geteilte Erfahrung der Entmenschlichung. Die geringe Sichtbarkeit der europäischen Kolonisationserinnerungen im öffentlichen Raum ist das Ergebnis der schwachen Repräsentation des Kolonisierten als Subjekt der Geschichte. Der theoretische Radikalismus Fanons und Sartres hat in Europa keine politische Entsprechung gefunden, da der Kolonisierte nicht als Akteur der europäischen Vergangenheit akzeptiert wurde. So drängt sich die Figur des Sklaven als universelle Repräsentation aller Verdammten dieser Erde auf. Die durch die Rassenhierarchie legitimierte Entmenschlichung und die Verwandlung des dadurch entstandenen Wesens in eine Ware – und das nicht nur in der Vorstellung, sondern auch rechtlich – sowie dessen Rollenzuweisung als Produktionsmittel („bewegliches Gut“) machen es heute möglich, dass die historische Figur des Sklaven alle Kämpfe gegen die Ungleichheit zu verkörpern scheint. Sklave gewesen zu sein, ist nicht mehr mit Schande verbunden, sondern etwas, was man stolz bezeugt, nicht nur aus einer Erinnerungsverpflichtung heraus, sondern auch, weil es mobilisierend auf alle wirkt, die sich von der Gesellschaft nicht anerkannt oder nicht integriert fühlen. In Frankreich verstärkt die in der Gegenwart bestätigte Erfahrung der Bürger von den Antillen und den Inseln im Indischen Ozean die Tendenz, die Gedächtnisfigur des Kolonisierten mit der des Sklaven in eins zu setzen. Diese Art, sich der Erinnerung an die Kolonisation dadurch zu entledigen, dass man die Abschaffung der Sklaverei feiert, bedeutet, dass man es ablehnt, sich mit dieser doppelten nationalen Hypothek auseinanderzusetzen. Man hat dadurch aber auch die Wiederentdeckung der verschiedenen Formen des Widerstands bewirkt, etwa die Figur des „marron“ (des „Braunen“), also des entlaufenen Sklaven, und die des „nègre résistant“, des Widerstand leistenden „Negers“. Dabei hat Aimé Césaire doch einen Discours sur le colonialisme (Über den Kolonialismus) und nicht etwa eine „Rede über die Sklaverei“ veröffentlicht. Nelson Mandela ist die große welthistorische Figur, die mit der Weigerung, den Kolonisierten als Subjekt der Geschichte zu akzeptieren, Schluss 193

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gemacht hat. Das europäische Gedächtnis erkennt dem Kolonisierten zumeist nur den Opferstatus zu. Für die einen ist er Opfer des amerikanischen Imperialismus, für die anderen des Kolonialismus. Selbst die Filme von Raoul Peck, der doch aus Haiti stammt, stellen ihn nicht als Akteur der Geschichte dar. Immerhin sind die tirailleurs sénégalais, diese berühmten Soldaten aus dem Senegal, im Begriff, diese Anerkennung zu erlangen. Dabei spielen die Medien eine entscheidende Rolle. Rachid Boucharebs Film Indigènes (2006; Tage des Ruhms) und die von den meisten Medien verbreitete Reaktion des französischen Präsidenten Jacques Chirac5 haben erreicht, dass diese Figuren nicht nur sichtbar wurden, sondern man mit ihnen mitfühlen kann. Die Erinnerung an die Sklaverei hat ein historisches Subjekt hervorgebracht, während die Dekolonisation nur Staaten ins Leben gerufen hat. In Ermangelung einer Figur wie die des Kolonisierten erleben die nationalen und europäischen Erinnerungen an Kolonisation und Dekolonisation ein ständiges Auf und Ab, sie werden von anderen, stärker präsenten Erinnerungen aufgesogen, tauchen wieder auf, gehen unter, um erneut wiedergefunden zu werden.

Antikoloniale Erinnerungen Man weiß nur wenig über die Beziehungen der Erinnerungen der zugewanderten Europäer zur Kolonisierung ihrer Herkunftsländer und zum Kolonialismus im Allgemeinen. Für viele, die aus den ehemaligen Kolonien gekommen sind, stellt sich die Einwanderung in ihr einstiges Mutterland als Selbstverständlichkeit dar, gewissermaßen als ein auf der „Kolonialschuld“ beruhendes Recht. Viele von ihnen haben als ehemalige Untertanen des europäischen Monarchen die Staatsangehörigkeit ihres ehemaligen Mutterlandes beantragt. Die Bürger aus den Gebieten, die in Form von „Überseeterritorien“ als Absplitterung aus den früheren Weltreichen hervorgegangen sind, sind Träger eines Gedächtnisses, das die auf Rassismus beruhende Ungleichheit besonders lebhaft empfindet; ihre Erinnerung ist antikolonial. Schließlich kommen neue Situationen auch dadurch zustande, dass sich die wirtschaftliche Lage ändert. Wie erinnern sich beispielsweise 5 Auf diesen Film hin wurden die Veteranenpensionen der tirailleurs an die der Franzosen aus dem Mutterland angepasst (Anmerkung des Übersetzers).

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arbeitslose Portugiesen, die sich im unabhängig gewordenen Angola niedergelassen haben, an die Kolonisierung, wie Spanier in Lateinamerika? Ihre Ankunft kann als neue Kolonisation empfunden werden, aber auch als Sieg über die ehemaligen Kolonisatoren, als Revanche. Was halten Europäer, die erst jüngst aus nicht kolonisierten Ländern nach Europa gekommen sind, von der Kolonisation? Sind etwa die Deutschen türkischer Herkunft Träger einer Erinnerung an das (Osmanische) Reich, zu dem einst ein gehöriger, nämlich der an Asien und ans Mittelmeer grenzende Teil Europas gehörte? Sehen sie sich als ehemalige Kolonialherren Europas? Halten sich die Kurden unter ihnen für deren Erben oder denken sie vielmehr, dass sie von der Türkei kolonisiert wurden?

Fortdauernde Tabus Wir Europäer denken oft, dass unsere Mitbürger, die aus anderen Ländern, insbesondere aus früheren Kolonien, stammen, von uns eine Art Fürsorge erwarten, deren Berechtigung sich aus der Erinnerung an die Kolonisation herleitet. Dabei sollte eigentlich allen klar sein, dass sie mehrheitlich autonom handelnde Menschen sind, Bürger mit vollen Rechten, und dass sie ihren Einfluss auf die Entwicklung Europas ausüben. Ihre Beziehung zur Kolonisierung ist ein wichtiges Element – und es macht sich auch bemerkbar. So wird beispielsweise die SindikaDokolo-Stiftung, die den Namen eines Geschäftsmanns kongolesischer Herkunft trägt, der eine große Sammlung zusammengetragen hat, in Portugal ein Museum für zeitgenössische afrikanische Kunst mit etwa 5000 Exponaten eröffnen. Dokolo ist überzeugt, dass die Kunst „eine entscheidende Rolle bei der Befreiung der Völker und der Köpfe“ spielt und dass die postkolonialen Werke aus Deutschland, Belgien, Frankreich und Großbritannien die Antworten auf die Fragen, die sich stellen, geben werden. Ende 2016 hat die von dem portugiesischen Künstler Vasco Araújo in London organisierte Ausstellung Decolonial Desire die Traumata erkundet, die auf die koloniale Begegnung zurückgehen und die heute noch die (schwarzen) Menschen auf der anderen Seite des Atlantiks umtreiben. Dort beruhte ja der „gerechte Staat“ beziehungsweise das „gerechte Gemeinwesen“, das die Puritaner – die doch vor der religiösen Intoleranz in Europa Zuflucht in Nordamerika gesucht hatten – errichten wollten, wirtschaftlich auf dem Rücken der Sklaven und Kolonisierten. 195

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Und schließlich wurde 2016, also ein Jahrhundert nach der Idee dafür, das National Museum of African American History and Culture eröffnet. Es erinnert daran, dass in Gebieten Europas und Amerikas, aus denen Nationalstaaten wurden, auf die Sklaverei vielfältige Formen innerer Kolonisierung folgten. Dieser große Marktplatz der Erinnerung und des kulturellen Erbes, den die National Mall in Washington für die Welt darstellt, gesteht endlich ein, dass von all den Traumata, aus denen die globalisierte Welt von heute hervorgegangen ist, die Sklaverei und die Kolonisation erst als letzte anerkannt wurden. In Europa tun sich die Historiker schwer damit, eine vergleichbare Arbeit über die menschlichen Kosten der kolonialen Ausdehnung anzu­gehen. Es hat ganz den Anschein, als seien es in Deutschland, Belgien, Großbritannien und Frankreich heutzutage eher die Künstler, die Orte schaffen, an denen „Tabufragen […] wie die koloniale Vergangenheit und ihre Verbindung mit den sozialen Brüchen der Gegenwart verhandelt werden“6.

Literatur Romain BERTRAND, L’Histoire à parts égales. Récits d’une rencontre Orient-Occident (XVIe–XVIIe siècles), Paris 2011. Aimé CÉSAIRE, Discours sur le colonialisme, Paris 1950. Frederick COOPER, Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History, Berkeley 2005. Catherine COQUERY-VIDROVITCH, Enjeux politiques de l’histoire coloniale, Marseille 2009. Frantz FANON, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.  M. 1966 [1961]. Marc FERRO (Hg.), Le Livre noir du colonialisme. XVIe–XXIe siècle: de l’extermination à la repentance, Paris 2003. Eduardo LOURENÇO, Do Colonialismo como Nosso Impensado, Lissabon 2014. Achille MBEMBE, Sortir de la grande nuit. Essai sur l’Afrique décolonisée, Paris 2010. Albert MEMMI, Portrait du colonisé, précédé de Portrait du colonisateur, Paris 1957. Dirk MOSES (Hg.), Empire, Colony, Genocide. Conquest, Occupation, and Subaltern Resistance in World History, New York 2008. V. Y. MUDIMBE, The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge, Bloomington 1988.

6 Kader Attia über die kulturelle Einrichtung La Colonie (Paris), deren Mitgründer er ist, www.africultures.com/php/index.php?nav=article&no=13837 (Aufruf: 29.7.2019).

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Der Kongo und Tintin Der belgische Kongo ist das emblematische Beispiel für die Verbrechen, die während der Kolonisation begangen wurden. Zugleich verdankt ihm die Literatur viele Anregungen – von Joseph Conrads Roman Herz der Finsternis bis zu Hergés Tintin au Congo (Tim im Kongo).

Ausbeutung der Bevölkerung und der Ressourcen des Kongos im Auftrag König Leopolds II. Belgische Kolonialherren posieren mit erbeutetem Elfenbein (um 1900).

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Der Kongo ist mit der Berliner Konferenz von 1884/85 (der Historiker oft fälschlicherweise die „Aufteilung Afrikas“ durch die europäischen Mächte zuschreiben) in die Geschichte eingetreten. Zwar sind im Anschluss an diese Konferenz, die vor allem die allgemeinen Regeln für den Erwerb von Kolonien durch die europäischen Staaten festlegte, mehrere Kolonien entstanden, doch hat insbesondere „der unabhängige Staat Kongo“, der Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. war, die europäische und internationale Erinnerung geprägt. Die Grausamkeiten, die unter Leopold begangen wurden, um die Zwangsarbeit bei der Kautschukgewinnung durchzusetzen, haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts den ersten großen internationalen Skandal im Zusammenhang mit der europäischen Kolonisation ausgelöst. Der britische Autor Arthur Conan Doyle sprach damals, im Jahr 1909, vom „größten Verbrechen aller Zeiten“. Auch die französische Kolonie auf der anderen Seite des Kongo-Flusses hat Kautschuk gewonnen. Die verheerenden Auswirkungen dieser Praxis hat der Schriftsteller André Gide nach seiner Reise im Jahr 1925 angeprangert und sein Sekretär Marc Allégret hat diese in einem Film und einer Fotodokumentation festgehalten.

Das blutige Gesicht des Imperialismus Zuvor hatte bereits Joseph Conrads Roman Herz der Finsternis (1899) in der Gestalt seiner Hauptfigur Kurtz seinen Lesern einen Eindruck von der Behandlung der kongolesischen Bevölkerung vermittelt. Dieser Elfenbeinhändler, der sich fern aller „Zivilisation“ im äquatorialafrikanischen Dschungel niedergelassen hat, schreit während seiner Agonie die Worte „Schrecken, Schrecken!“ heraus, um so die Welt, die er verlässt, zu charakterisieren. Conrad, der den Fluss auf einem Dampfer namens König der Belgier hochgefahren ist, kannte den Kongo und machte in seinem Werk aus ihm einen Schauplatz, in dem er die dunkelste Seite des Imperialismus zeigt, die „Bürde des weißen Mannes“, um es mit der berühmten Wendung Rudyard Kiplings zu sagen. Das Buch Conrads, das so sehr Kind seiner Zeit und ihrer Vorstellungswelt ist, hat insbesondere Hannah Arendt für ihre Analyse der Beziehungen von Kolonisation und Imperialismus herangezogen. Auch mehrere Romanciers ließen sich von ihm anregen: Die berühmteste der verschiedenen Kino-, Theater- und TV-Adaptationen ist Apocalypse Now (1979) von 198

DER KONGO UND TINTIN

Francis Ford Coppola, der allerdings die Szenerie von Afrika in den Vietnamkrieg verlegte. Die weltweite Verurteilung der unter Léopold begangenen Verbrechen stützte sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf die Berichte protestantischer Missionare aus Großbritannien und den USA. Die ungeschönten Bilder von abgeschnittenen Händen und verstümmelten Individuen schockierten und mobilisierten weltweit die öffentliche Meinung. Der amerikanische Schriftsteller und Journalist Mark Twain bezeichnete damals den Fotoapparat als den schlimmsten Gegner Leopolds  II. Der belgischen Kolonialpropaganda ist es nie gelungen, diese Bilder aus der Vorstellungswelt des Westens auszulöschen. Sie wurden auch nicht durch die neuen blutigen Gewaltausbrüche überdeckt, zu denen es 1960 nach der Unabhängigkeit im Kongo kam. Etliche Autoren und Regisseure haben sich dieser kolonialen Episode bemächtigt, um die Rolle der Europäer bei der Einrichtung eines extrem gewalttätigen Systems anzuprangern, das noch heute die Menschen im Kongo und in der ganzen Welt beschäftigt. Das folgenreichste einschlägige Buch ist wohl King Leopold’s Ghost: A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa1 (1998) des Amerikaners Adam Hochschild, das sich weltweit mehr als fünfhunderttausendmal verkaufte. Der Autor hat es verstanden, diesen Verbrechen eine neue Aktualität zu verleihen, die sie zugleich mit den Protestaktionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbindet und in den Kontext der weltweiten Menschenrechtsbewegung stellt.

Die „Tintin“-Propaganda Die europäische Erinnerung an den Kongo besteht aber nicht nur aus den Grausamkeiten zu Beginn der kolonialen Epoche und deren fotografische, filmische oder literarische Wiedergabe. Mit Tintin au Congo, von dem seit seinem Erscheinen 1931 mehr als zehn Millionen Exemplare verkauft wurden, hat der belgische Zeichner Hergé die Vorstellungswelt der Jugend des Westens mit ganz anderen Bildern versorgt: Sein Kongolese ist naiv und der Zauberer böse, doch schafft es Tintin (beziehungsweise Tim), die Wirkung des Zaubers zu entkräften, selbst Häuptling zu 1 New York 1998 (deutsch: Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen, Stuttgart 2000).

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werden und schließlich den afrikanischen Kindern in der Missionsschule Mathematikunterricht zu erteilen. Der Verlag Casterman legte das Album, das als Konzentrat der Kolonialpropaganda gilt, immer wieder neu auf, stellte die Veröffentlichung aber zu Beginn der 1960er-Jahre ein. 1970 kam es zu einer Neuauflage, gefolgt von erneuter Einstellung. Es gehört trotzdem zum literarischen Erbe des Kongo und der mit ihm verbundenen Vorstellungen. In einer Glückwunschbotschaft, die der kongolesische Präsident Mobutu Sese Seko 1969 nach der erfolgreichen ApolloMission an Richard Nixon schickte, erinnerte er daran, dass Tintin als Erster seinen Fuß auf den Mond setzte. Im gleichen Jahr verlangte der Kongo, dass Tintin au Congo neu gedruckt werden sollte. 2007 wurden allerdings als Antwort auf das Projekt, eine Filmserie auf der Grundlage der Abenteuer von Tintin zu drehen, in mehreren westlichen Ländern Klagen wegen Rassismus angestrengt und die Bibliotheken nahmen das Heft aus ihren Regalen. In der neuen englischen Ausgabe wird der Leser in einer Notiz darauf aufmerksam gemacht, dass das Werk kolonialistische Stereotype enthält. Ob er nun als Opfer oder als guter Wilder auftritt, der Kongolese ist im europäischen Gedächtnis jedenfalls nicht der Akteur seines eigenen Schicksals.

Literatur Séverine AUTESSERRE, Dangerous Tales. Dominant Narratives on the Congo and their Unintended Consequences, in: African Affairs, Nr. 443 (2012), S. 202–222. Kevin DUNN, Imagining the Congo. The International Relations of Identity, New York 2003. Patience KABAMBA, „Heart of Darkness“. Current Images of the DRC and their Theoretical Underpinning, in: Anthropological Theory 10, Nr. 3 (2010), S. 265–301. Isidore NDAYWEL È NZIEM, Histoire générale du Congo. De l’héritage ancien à la république démocratique, Brüssel 1998. David VAN REYBROUCK, Congo. Une histoire, Arles 2012. Jean-Luc VELLUT (Hg.), La Mémoire du Congo. Le temps colonial, Gent 2005.

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MAURICE SARTRE

Ist die Archäologie eine Kolonialwissenschaft? Die Archäologie wurde zwar in Europa erfunden, hat sich aber auf die ganze Welt ausgedehnt. Doch selbst, wenn die Menschen vor Ort sie zu ihrer Sache machen, wird sie oft weiterhin dem Dunstkreis fremder Mächte zugerechnet.

Der Tempel des Baal in Palmyra. Erstmals fotografiert von Louis Vignes im Jahr 1864.

MAURICE SARTRE

„Ich würde nur zu gerne wissen, was diese Ausgrabungen für diese Arbeiter bedeuten. Haben sie das Gefühl, dass man sie ihrer Geschichte beraubt, dass der Europäer ihnen einmal mehr etwas stiehlt? […] Europa hat den Syrern, Irakern und Ägyptern die Antike unter dem Hintern weggegraben; unsere glorreichen Nationen haben sich kraft ihres Monopols in Wissenschaft und Archäologie des Universellen bemächtigt und mit diesem Raub den kolonisierten Völkern eine Vergangenheit entwendet, die deshalb von ihnen leicht als ortsfremd erlebt wird. Die hirnlosen islamistischen Zerstörer steuern die Abrissbagger in den antiken Stätten umso leichter, als sich ihre abgrundtiefe, ahnungslose Dummheit mit dem mehr oder weniger diffusen Gefühl verbindet, es handele sich bei diesem Kulturerbe um eine seltsame rückwirkende Emanation der fremden Macht.“1 Das sind die Fragen, die sich die Protagonisten in Mathias Énards Roman Kompass bei ihrem Besuch in Palmyra stellen. Welchen Sinn haben diese Ruinen wohl für diejenigen, die dort leben und arbeiten? In einigen wenigen Worten liefert der Romancier eine Diagnose, um die sich die Archäologen in der Regel drücken. Und doch zeigen die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit, wie zutreffend diese ist.

In Europa entstanden, überall praktiziert Die Archäologie, diese europäische Erfindung, hat es nicht mehr nötig, nach Anerkennung für ihre Wissenschaftlichkeit und Nützlichkeit zu streben. Gestützt auf den ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelten Begriff des kulturellen Erbes, hat sie es den Europäern vor allem gestattet, ihrem eigenen Boden die Überreste dessen zu entreißen, was sie als die Wurzel ihrer Zivilisation betrachten, die griechisch-römische Kultur. Denn zunächst hat die Archäologie sich rund um das Mittelmeer entwickelt, bevor sie sich in ganz Europa ausbreitete. Die Gegenden, in die Rom nicht vorgedrungen war, verstanden es rasch, dieses Werkzeug zugunsten einer indigenen Vergangenheit einzusetzen, während die vorgeschichtliche Archäologie das Forschungsgebiet auf sehr lange Zeiträume ausdehnte. Die in Europa entstandene Archäologie ließ bald den Kontinent hinter sich. Die Suche nach griechischen und römischen Antiquitäten in Klein1 Mathias Énard, Kompass. Berlin 2016, S. 58 f.

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IST DIE ARCHÄOLOGIE EINE KOLONIALWISSENSCHAFT?

asien, der Levante und schließlich in Nordafrika, die Entdeckung des Ägypten der Pharaonen Ende des 18. Jahrhunderts und schließlich die Erforschung der Spuren der verschiedensten Zivilisationen von Angkor bis zu Machu Picchu, von den „biblischen“ Stätten Mesopotamiens zu den mexikanischen Pyramiden, all diese sichtbaren Hinterlassenschaften wurden zu Studienobjekten, bis es dann die Fortentwicklung der Methoden gestattete, sich selbst für das weniger Sichtbare, ja Unsichtbare zu interessieren. Heute wird die Archäologie überall eingesetzt, die Europäer sind bei Weitem nicht die Einzigen, die das tun. Alle Länder dieser Erde haben ihre Abteilung für „Altertümer“ und ihre Archäologen, die dafür sorgen, dass die Spuren der Vergangenheit entdeckt und aufbewahrt werden und auch eine angemessene Wertschätzung erfahren. Trotzdem ist die Archäologie noch immer ein Symbol für koloniale Herrschaft. Dabei unterscheidet sich die Lage je nach Ort und Kultur. Für die Europäer sind in Europa entdeckte Hinterlassenschaften Zeugnisse der Geschichte des Kontinents und unabhängig von ihrem Wohnort oder Herkunftsland betrachten alle diese Vergangenheit als eine Gesamtheit, der sie selbst entstammen. So kam es beispielsweise in Frankreich im 19. Jahrhundert zu heftigen ideologischen Auseinandersetzungen zwischen denen, für die die Franken die einzigen Vorfahren der Franzosen waren, und jenen, die bis auf die Gallier zurückgingen; zwischen den einen, für die die Eroberung durch Rom schuld daran war, dass der schöpferische Elan der Gallier versiegte, und den anderen, die es für einen Glücksfall hielten, dass diese „Barbaren“ an der griechisch-römischen Kultur teilhaben durften. Doch derartige Auseinandersetzungen sind Vergangenheit und wir haben mittlerweile ein weitaus mehr konsensuelles Bild von der Vergangenheit. Außerhalb Europas wurde die Archäologie von Einheimischen vorangetrieben und mit oder ohne europäische Hilfe dazu verwendet, Belege für eine prestigeträchtige Vergangenheit zu sammeln, die man sich dank der Entdeckung dieser Schätze zu eigen machen konnte. Man denke nur an die großen Königsstädte Thailands, an die grandiosen Überreste der Kunst der Khmer oder Balis, ganz zu schweigen von den Zivilisationen, die sich in Japan, China, Korea und Indien oder in den Andenländern und Mittelamerika entfaltet haben. Die lokale Bevölkerung identifiziert sich in der Regel gern mit diesen Monumenten, sofern diese nicht Ausdruck einer als kolonial erachteten Situation gelten (wie etwa im Fall der Khmer-Kunst in 203

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Vietnam oder Thailand). In Lateinamerika hat sich ein Teil des Nationalbewusstseins um die Überreste aus präkolumbischer Zeit kristallisiert, und das selbst in Fällen, in denen die indianische Bevölkerung in der Minderheit ist – ganz so, als ob sich die Kolonialisten das kulturelle Erbe der kolonisierten indigenen Bevölkerung angeeignet hätten. An anderen Orten stellt sich die Frage gar nicht. Allerdings wird Archäologie oft ausschließlich oder vorwiegend von Ausländern betrieben und in zahlreichen Regionen dieser Erde von Europäern oder Nordamerikanern dominiert.

Der Sonderfall Naher Osten Am vielschichtigsten ist diese Problematik im Nahen Osten und an den südlichen Ufern des Mittelmeers. Trotz einer gewissen, quantitativ eher unbedeutenden Zuwanderung (etwa der Griechen im Nahen Osten, der Römer und später der Vandalen in Nordafrika sowie mehr oder weniger überall derjenigen der Araber nach der Eroberung) blieb dort die Besiedlung insgesamt stabil. Gleichwohl kam es zu kulturellen und religiösen Umwälzungen solchen Ausmaßes, dass die derzeitige Bevölkerung, abgesehen von den gebildeten Eliten, sich schwer damit tut, sich mit den vorislamischen Bewohnern zu identifizieren. Die Eroberung durch den Islam hat eine späte Kolonialherrschaft zwar nicht verhindern können (erst die der Türken, dann diejenige der Franzosen, Italiener, Engländer und Spanier), jedoch die weitgehende Dominanz des Arabischen als Sprache und des Islam als Religion durchgesetzt. Kultur und Religion waren dabei untrennbar miteinander verbunden, genauer gesagt: Die Kultur war in religiöser Hinsicht zu keinem Zeitpunkt neutral. In diesem speziellen Kontext stellt sich seitens der Europäer wie der nunmehr emanzipierten Nationen ein doppeltes Problem. Die Europäer verfügten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts in diesen Regionen praktisch über eine archäologische Monopolstellung, und das unabhängig vom jeweiligen politischen Status, also im Osmanischen Reich ebenso wie in Kolonien, Mandatsgebieten und unabhängigen Staaten. Dort brachten sie insbesondere die Relikte der griechisch-römischen Zeit ans Licht, gewissermaßen mit der Bibel in der Hand, mitunter aber auch welche aus älteren Perioden, die auf die jüdisch-christliche Dimension der europäischen Kultur verwiesen. Jede Ausgrabung schuf so einen potenziellen europäischen Erinnerungsort außerhalb Europas. 204

IST DIE ARCHÄOLOGIE EINE KOLONIALWISSENSCHAFT?

Die einzige Ausnahme bildete das Osmanische Reich, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine eigene Abteilung für Antiquitäten und in Istanbul auch ein Nationalmuseum ins Leben rief sowie türkische Grabungsteams, die sich an verschiedenen Stätten des Reichs betätigten, zum Beispiel in der Hethiter-Hauptstadt Hattusa, am Nemrut Daǧı und in Sidon. Doch davon ließ sich die arabische Bevölkerung des Reichs nicht überzeugen, denn hauptsächlich waren dabei osmanische Griechen am Werk (wie Macridy Bey) oder aber Leute, die westlich ausgebildet waren (wie Osman Hamdi Bey, der Sohn eines Großwesirs griechischer Herkunft); es handelte sich bei ihnen jedenfalls um Osmanen, also Kolonialherren. Dass sie auf arabischem Boden aktiv waren, bedeutete keinen großen Unterschied zu den Europäern; auf türkischem Gebiet trug dies jedoch zur Entstehung oder Stärkung des Bewusstseins der abstammungsmäßigen Verbindung von zeitlich weit entfernten Zivilisationen bei, aus offensichtlichen Gründen vor allem zu solchen vor der griechischen Periode.

Ein Gedächtnis, das man akzeptieren kann In den unabhängig gewordenen Staaten wählte der arabische Nationalismus, dessen Virulenz mit dem autoritären Charakter des Regimes korrelierte, aus der Geschichte des jeweiligen Landes diejenigen Elemente der Erinnerung aus, die ihm akzeptabel erschienen. In der Regel gelang es ihm, den größten Teil der Bevölkerung davon zu überzeugen, dass alles, was vor dem Islam existierte, nicht Teil seiner Geschichte war. Wer vor Ort im Nahen Osten arbeitete, konnte oft vor einem byzantinischen Mosaik, einer griechischen Inschrift oder einem römischen Tempel aus dem Mund seiner Gesprächsteilnehmer, deren Vorfahren diese Werke geschaffen hatten, den Satz hören: „Das gehört nicht zu unserer Geschichte.“ Die eingangs zitierte Analyse von Mathias Énard mag unvollständig sein, sie trifft aber zu: Als Angelegenheit der Europäer stellt sich die Archäologie im Nahen Osten als rückwirkende Emanation der Kolonialherrschaft dar. Als Angehörige des Islamischen Staats sich an ihr zerstörerisches Werk im Museum von Mossul machten, bezeichneten sie es als das „Museum der Engländer“, weil es von diesen errichtet worden war und die Ergebnisse britischer und europäischer Ausgrabungen ausstellte. Die Einbindung örtlicher Archäologen in ausländische 205

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Explorationsvorhaben ist weitgehend fortgeschritten – in Syrien handelt es sich inzwischen fast ausschließlich um gemeinsame Unternehmungen – und die Einrichtungen des jeweiligen Landes sind für einen beträchtlichen Teil der Arbeiten allein zuständig, doch in den Augen der Fundamentalisten bedeutet das bestenfalls, dass die eigenen Archäologen die Handlanger des Auslands sind: Khaled Asaad hat das in Palmyra mit dem Leben bezahlt. Aber auch außerhalb der radikalen Milieus, die grundsätzlich jegliche Erinnerung an anderes als einen imaginären ursprünglichen Islam ablehnen und demzufolge für die Zerstörung aller götzendienerischen Relikte (einschließlich der ägyptischen Pyramiden) eintreten, ist der Umgang mit der Vergangenheit eine vielschichtige und widersprüchliche Angelegenheit. In Ägypten wird die reiche pharaonische Kultur gern als Vorfahrin akzeptiert, auch wenn sie mit Götzenverehrung verbunden ist, denn es ist ausgeschlossen, sie einem anderen Volk als den Ägyptern selbst zuzuschreiben. Auch der Libanon hat kein Problem damit, sein „Phöniziertum“ zu akzeptieren und damit seine Sonderstellung in der arabischen Welt zu unterstreichen. In anderen Ländern wie Algerien und Tunesien hat man sich zu Recht dafür entschieden, die Bedeutung der einheimischer Tradition entstammenden vorislamischen Monumente wie etwa die Grabmäler der numidischen Könige hervorzuheben. Ähnliches gilt in Syrien für die Periode der aramäischen Königreiche (vom 12. bis 6. vorchristlichen Jahrhundert), wobei man sich allerdings darum bemüht, eine möglichst frühe arabische Präsenz zu belegen. Im Irak hatte sich Saddam Hussein der Geschichte des alten Mesopotamien bemächtigt, um sich selbst als neuen Nebukadnezar darzustellen; dessen Palast in Babylon ließ er sogar vollständig rekonstruieren. Das mag Ausfluss des Größenwahns eines Tyrannen sein, es hätte aber durchaus dazu führen können, dass sich die Nation einen bis dahin als Fremdkörper empfundenen Gedächtnisort zu eigen macht.

Die Aneignung der Vergangenheit Die Aneignung von Gedächtnisorten wie Ebla, Ugarit oder Qatna, die eher als authentisch „syrisch“ empfunden werden, weil die Griechen und Römer nichts mit ihnen zu tun haben, wird in Syrien von keinerlei ­historischer Aufklärung begleitet, die auf die historische Kontinuität 206

IST DIE ARCHÄOLOGIE EINE KOLONIALWISSENSCHAFT?

hinwiese, die dank der Stabilität der Bevölkerung durchaus gegeben ist. Man benutzt allerdings den Begriff „arabisch“ missbräuchlich selbst für sehr frühe Perioden und letztlich glaubt jeder moslemische Syrer, dass zumindest er, wenn schon nicht die anderen, von den Eroberern der Jahre 634–638 abstammt, also keine Verbindung zur davor liegenden Geschichte hat. Die nationalistische Instrumentalisierung der Geschichte sorgt überdies für unauflösbare Widersprüche. So kann Rom als Kolonialmacht natürlich nur für Unheil und Rückschritt gesorgt haben – und doch ist Palmyra unter diesem „Joch“ erblüht und sein Glanz strahlt bis heute. Um aus Palmyra einen akzeptablen Gedächtnisort zu machen, musste die Originalität seiner Zivilisation gegenüber dem Römischen Reich betont werden, was zum Teil auch gerechtfertigt ist. Vor allem aber musste der Versuch Zenobias, römische Kaiserin zu werden, in eklatantem Widerspruch zur Dokumentenlage in einen Aufstand zur Befreiung Syriens beziehungsweise der arabischen Welt umgedeutet werden. In der Türkei etwa entstammt das reichhaltigste antike Erbe der griechischen Zivilisation. Trotzdem erschweren es die Allmacht der europäischen Archäologie und die Betonung der griechisch-römischen Zeit (oft die spektakulärste und deshalb touristisch ergiebigste Periode) den Völkern, die sich in Griechen und Römern nicht wiedererkennen, sich diese Vergangenheit anzueignen, deren Erben sie gleichwohl sind (wenn auch nicht immer deren Nachkömmlinge). Die Gedächtnisorte der Europäer reichen über Europa hinaus und es hat sich gezeigt, wie wichtig die Archäologie dafür ist, sie aufzuspüren und ihre Bedeutung aufzuzeigen. Aber zu jeder Art von Kolonialgeschichte gehören zumindest zwei Partner und es gilt, Bereitschaft dafür herzustellen, dass beide bereit sind, zunächst die Geschichte und dann auch die Geschichtserinnerung zu teilen.

Literatur Sabine CORNELIS, Archéologie: une discipline coloniale?, in: Les nouvelles de l’archéologie, 128 (2012), S. 40–41.

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ALAN FROST

Die Sträflinge in Australien Vom 18. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts haben zahlreiche europäische Länder Strafgefangene in ihre Kolonien geschickt. Die Strafanstalt ruft überall eine düstere Erinnerung hervor. In Australien hingegen wird sie als die Wiege des Landes angesehen.

Bronzeplastik in Katoomba (Australien) zum Gedenken an die Sträflinge, die zum Straßenbau in den Blue Mountains gezwungen wurden.

DIE STRÄFLINGE IN AUSTRALIEN

Die Strafkolonien, die an vergangene Unmenschlichkeit und eine verabscheute Kolonialmacht erinnern, existieren bis heute im kollektiven Gedächtnis, und zwar gleichzeitig in der Kultur des jeweiligen Mutterlandes wie auch in der Kultur vor Ort. Aber nicht alle haben die gleiche Erinnerung hinterlassen: Die Teufelsinsel vor der Küste von FranzösischGuayana, die für ihre Sterblichkeitsrate berühmt war, oder die trostlose Colónia do Sacramento Portugals haben nichts mit den britischen Strafkolonien in Australien gemein. Die meisten nach Australien deportierten Personen konnten nach der Wiedererlangung der Freiheit ein angenehmes Leben führen. Manche wurden Grundbesitzer, andere bereicherten sich. Ihre Kinder und die Kinder dieser Kinder lebten mit denen der freien Einwanderer und waren in eine blühende Gesellschaft integriert, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Achtstundentag, das allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer und die Schulpflicht einführte. Die britischen Strafkolonien waren beispielhaft für eine gelungene Resozialisierung. Um es einfach auszudrücken: Der moderne Australier ist die Frucht des erfolgreichsten Strafexperiments der Geschichte.

New South Wales Großbritannien, das 1718 für schwere Verbrechen die Verbannung eingeführt hatte, schickte im Lauf der nachfolgenden Jahrzehnte an die 50 000 Männer, Frauen und Kinder, die auf Lebenszeit oder zu Haftstrafen zwischen sieben und 14 Jahren verurteilt worden waren, in seine Kolonien in Nordamerika. Diese Arbeitskräfte wurden dort für den Rest ihrer Haft an Händler verkauft. Die Deportation ging mit dem Verlust der Staatsbürgerschaft einher. Nach der 1786 erlangten Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien, die sich weigerten, weitere Kontingente von Verurteilten aufzunehmen, beschloss die britische Regierung, in New South Wales (Australien) eine Strafkolonie einzurichten. Zwischen 1788 und 1868 verließen über 160 000 Frauen, Männer und Kinder „ihr Land zum Wohl ihres Landes“ und wurden nach New South Wales, nach Tasmanien und nach Westaustralien geschickt. Sie arbeiteten für die Regierung oder für private Arbeitgeber und, sobald sie ihre Strafe abgebüßt oder wegen guten Verhaltens eine „bedingte Befreiung“ erhalten hatten, konnten sie Arbeitnehmer, Landwirt oder Kaufmann werden. 209

ALAN FROST

In der Mitte der 1820er-Jahre, als die Bevölkerung in New South Wales und in Tasmanien aufgrund der Geburtenrate und der Einwanderung (nunmehr sowohl freie Männer als auch Sträflinge) wuchs, beschloss die britische Regierung, aus ihnen freie Kolonien zu machen und ihnen eine repräsentative Regierung und ein bürgerliches Gesetzbuch zu geben. Dieser Übergang war nicht problemlos. Die reichen freien Kolonisten (die Exclusives oder Exclusionists) weigerten sich, sich gesellschaftlich mit den Emancipists (den befreiten Verurteilten) zu vermischen, und wollten ihnen das Wahlrecht und das Geschworenenamt absprechen. Ehemalige Sträflinge, die „nach Hause“ zurückkehrten, wurden von der Gesellschaft verstoßen.

Die Strafanstalt im Herzen des nationalen Narrativs Schon im 19. Jahrhundert regte die Strafanstalt in Australien manche Formen des Gedenkens an: etwa Balladen wie Moreton Bay – „Ich war Häftling in Port Macquarie, auf der Insel Norfolk und in Emu Plains / In allen Kolonien habe die Ketten getragen […]“ – und Romane wie Ralph Rashleigh von James Tucker und Lebenslänglich (For the Term of His Natural Life) von Marcus Clarke. Mit dem wachsenden Wohlstand und der Aussicht auf den Status einer Nation missfiel es den Australiern zusehends, an eine Vergangenheit erinnert zu werden, die als ein „entehrender Fleck“ auf dem „Antlitz“ der Gesellschaft galt. Die Historiker verschwiegen nun die jahrzehntelange Existenz der Strafanstalten. Herausragende Familien löschten die Namen von Verwandten oder Großeltern in den Sträflingsregistern, während die Regierungen die Stätten der Strafanstalten verfallen ließen. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts entstand ein echtes Interesse der Australier an den Ursprüngen ihrer Nation. Manche Historiker waren nun bereit, sich mit der Vergangenheit der Strafanstalten auseinanderzusetzen. 1968 wurde die Fellowship of First Fleeters gegründet, die die Nachfahren von Siedlern versammelt, die mit der „First Fleet“, der ersten Flotte, am 26. Januar 1788 in der Bucht Sydney Cove gelandet waren. Thomas Keneally veröffentlichte seinen berühmten, in der Zeit der Strafanstalt spielenden Roman Bring Larks and Heroes im Jahr 1967. Old Sydney Town, der teilweise erfolgte Wiederaufbau der gleichnamigen Strafkolonie, die zwischen 1788 und 1810 existiert hatte, 210

DIE STRÄFLINGE IN AUSTRALIEN

wurde 1975 eröffnet. Bis zur Schließung im Jahr 2003 konnte man dort Statisten in historischen Kostümen – in der Rolle von Arbeitern in Ketten – und vorgetäuschte Peitschenhiebe sehen. Die Regierungen haben auf der Insel Norfolk und in Port Arthur (Tasmanien), beliebte Reiseziele für Touristen, mehrere Gebäude restauriert und den Verfall anderer aufgehalten. Dieses wiedererwachte Interesse gipfelte im Jahr 1988 mit dem nationalen Gedenken der Ankunft der First Fleet in Sydney zwei Jahrhunderte zuvor, wobei die Höhepunkte dieser Veranstaltung eine Rekonstruktion der Überfahrt und eine Parade von tall ships, von „großen Segelschiffen“, waren. Dass Australien seine Strafanstaltsvergangenheit in den Mittelpunkt dieser nationalen Feier gestellt hat, mag paradox erscheinen, erklärt sich aber daraus, dass die Arbeit der Sträflinge in bedeutendem Ausmaß zum Aufschwung der Nation beigetragen hat. Wenn wir durch die Ruinen der Strafanstalten spazieren, denken wir an diesen Beitrag. Die Grabsteine des Friedhofs auf der Insel Norfolk liegen verstreut im Sand, unter einem Kamm, gegen den ständig die Dünung des Pazifiks brandet. Dort befindet sich das Grab von Thomas Headington, der im Juli 1785 vom Schwurgericht in Abingdon wegen Raub verurteilt, mit der First Fleet deportiert wurde und im März 1790 auf der Insel Norfolk landete, wo er am 13. Januar 1798 als freier Mensch starb. Dort befindet sich ebenso das Grab von John Butler, „der am 22. September 1834 im Alter von 28 Jahren wegen Meuterei auf dieser Insel hingerichtet wurde“. Dort befinden sich auch die Gräber von Mitgliedern der Familien Adams, Christian, McCoy, Quintal und Young, Nachfahren der Meuterer der Bounty, die 1856 auf der Insel ankamen. Wie kann man das Gemurmel, das aus diesen geplagten Gräbern aufsteigt, nicht vernehmen, wenn man diesen Friedhof besucht?

Literatur Charles BATESON, The Convict Ships, Sydney 1959. Alan FROST, A Place of Exile. Norfolk Island, in: Graeme Davison (Hg.), Journeys into History, Sydney 1990, S. 75–85. Alan FROST, The First Fleet. The Real Story, Melbourne 2012. Eris O’BRIEN, The Foundation of Australia, Sydney 1950.

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ALAN FROST

Portia ROBINSON, The Hatch and Brood of Time. A Study of the First Generation of Native-Born White Australians, 1788–1828, Melbourne 1985. Lloyd ROBSON, The Convict Settlers of Australia, Melbourne 1965. A. G. L. SHAW, Convicts and the Colonies, London 1966.

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MAMADOU DIOUF

Dakar, ein Gedächtnispuzzle Dakar ist zum einen die Hauptstadt einer ehemaligen französischen Kolonie, es trägt aber auch deutlich die Spuren der präkolonialen Geschichte – und es ist ein Patchworkgebilde unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen.

Die Insel Gorée mit Fort vor dem Hafen von Dakar im Jahr 1885.

MAMADOU DIOUF

Die Beschäftigung mit dem kolonialen Gedächtnis Dakars erfordert einen Umweg über Saint-Louis-du-Sénégal. Mit der Gründung dieser Stadt (1659) am Senegal-Fluss, also südlich der Sahara und mehr als 200 Kilometer nördlich von Dakar, hat die territoriale Ausdehnung Frankreichs an der afrikanischen Atlantikküste begonnen. Die Stadt ist Trägerin einer dreifachen Erinnerung, die das Resultat seiner dreifachen Vernetzung ist, der Einbindung in einen islamisch-saharosahelischen, einen atlantischen und einen afrikanischen Kontext. Diese drei Arten von Verbindung sind in der Geografie wie in den politischen und identitären Traditionen ihres Umfelds präsent. Dakar bildet dagegen die Endstation des Wegs, auf dem sich 1895 das Kolonialreich Französisch-Westafrika herausbildet. Die Stadt liegt auf der Halbinsel des Cap Vert (Grünes Kap), die gewissermaßen das West-Finistère Afrikas ist, seine am weitesten in den Atlantik reichende Spitze. Seine Gründung durch Émile Pinet-Laprade, den Oberkommandierenden von Gorée (1859–1864) und dann Gouverneur des Senegal (von Mai bis Juli 1863 und dann von Mai 1865 bis August 1869), im Jahr 1857 bereitete die Konsolidierung des Kolonialgebiets vor. Als Kommandozentrale einer Region legte sich Dakar die Infrastruktur der Hauptstadt eines Reichs zu: Hafen, Eisenbahn, öffentliche Gebäude, politische und militärische Institutionen, kommerzielle Sammelstellen für koloniale Rohstoffe und solche für die Verteilung importierter Industrieprodukte bis hin zu Gesundheitsund Erziehungseinrichtungen für Einheimische wie Franzosen aus dem Mutterland. Die Stadt wurde 1902 zur Hauptstadt Französisch-Westafrikas. Wie Pinet-Laprade es bereits 1862 vorhersagte, war Dakar zu Beginn des 20. Jahrhunderts „das politische, kommerzielle und militärische Zentrum all unserer Niederlassungen der Westküste Afrikas“. Dank seines Tiefwasserhafens, der Europa, Indien, den amerikanischen Kontinent und Afrika miteinander verbindet, entwickelte die Stadt ein dichtes Netz von Beziehungen, das eine neue politische Ökonomie erfand und den drei Meistererzählungen, die sich gegenüberstanden, miteinander verbanden und wechselseitig beeinflussten, eine neue Gestalt gab.

Die Lébou-Republik Das erste Narrativ ist das von Lébou-Land im Wolof-Königreich Kajoor. Die Lébous sind Bauern und Fischer. Sie sind verwandt mit den Wolof, 214

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deren Sprache sie mit einer speziellen Intonation sprechen. Sie unterscheiden sich aber durch ihr Pantheon an Meergöttern und ihren Mangel an Ehrerbietung gegenüber den Alten und den Vorfahren. Kajoor erstreckte sich von der Mündung des Senegal-Flusses bis zur Halbinsel des Grünen Kaps. Es wurde im 16. Jahrhundert unabhängig vom Dyolof-Reich. Die Beziehungen zwischen den Lébous und den Damels, den Herrschern von Kajoor, waren immer sehr unregelmäßig. Es kam immer wieder zu Aufständen, an deren Ende die Unabhängigkeit von Lébou-Land und die Gründung der Lébou-Republik durch die Bevölkerung der Dörfer der Spitze des Grünen Kaps standen. Das Narrativ beinhaltet einen doppelten Bruch, der eine eigene Identität begründet. Dabei wird der republikanische Charakter der politischen Institutionen betont, der sich beispielsweise in der Wahl des Oberhäuptlings der Gemeinschaft, des Seri Dakar, ausdrückt. Dies unterstreicht den Gegensatz zur autoritären und repressiven KajoorMonarchie. Der Verweis auf die Republik hörte sich wie eine Antwort auf die „zivilisatorische Mission“ an, die von Gorée ausging, dieser Insel, die eine zentrale Rolle in der Frühphase des transatlantischen Sklavenhandels im 16. und 17. Jahrhundert spielte und der Reihe nach von den Portugiesen, Holländern und Franzosen besetzt wurde. Zugleich hält die Geschichtserzählung die entscheidende Bedeutung der Zusammenarbeit mit der Kolonialverwaltung von Gorée, ja deren Komplizität und Unterstützung bei den Unabhängigkeitskämpfen und der Herausbildung der Lébou„Kollektivität“ fest. Diese unterscheidet sich von den Ethnien (Stämmen) Senegambias gerade durch ihre Rolle im kolonialen Verwaltungsapparat. Die Bezeichnung als „Kollektivität“ verweist darauf, dass sich die LébouErzählung mit städtischen Narrativen verband – und das ebenso sehr seitens der Kolonialverwaltung wie der französischen und libanesischen Geschäftsmilieus sowie der Arbeitnehmer aus den anderen Kolonien Französisch-Westafrikas.

Verästelte Erinnerung Die zweite Erzählung ist das Ergebnis von drei Ereignissen: zum Ersten von der Politik der Aneignung von Grund und Boden, die von der Kolonialverwaltung in Gang gesetzt wurde, um die Lébous zu enteignen; zum Zweiten von deren Widerstand, der von 1862 bis 1906 dauerte, dem Jahr, in dem die Verwaltung das Recht erhielt, den Grundbesitz zu registrieren; zum 215

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Dritten von der Erhebung Dakars zur Gemeinde mit allen Rechten und zugleich dem Zugang zur französischen Staatsbürgerschaft unter Beibehaltung der muslimischen Religion und schließlich von der Entwicklung politischer Aktivitäten und der Herausbildung eines öffentlichen Raums, in dem sich unterschiedliche Erinnerungen miteinander verbanden. In den verschiedenen Kämpfen, die sie unternehmen – sei es in der Gebietsfrage, sei es hinsichtlich ihrer Teilnahme als Rekruten oder Freiwillige an den kolonialen Expeditionstruppen – empfanden sich die Lébous als das, was sie bereits ab 1859 zu sein verlangen, nämlich als „echte Franzosen“1. Ihre vielfältigen politischen Aktivitäten und ihre Anträge an die Verwaltung sind Ausdruck ihres aktiven Beitrags zum Entstehen eines kolonialen Gedächtnisses der Stadt Dakar. Es handelt sich hier um einen Beitrag zur „Indigenisierung“, der die Erinnerung an das Kolonialreich in eine lokale Erzählung verwandelt, und um ein Unterlaufen der verschiedenen Manöver der Assimilationspolitik in Sprache und Geschichte einer örtlichen Modernität, an der ursprüngliche Einwohner, Kolonisatoren und Mittelsleute in einer Art plastischer und akustischer Choreografie teilhatten. Die Lébous verliehen der physischen Gestalt der Stadt und der Erinnerung an sie dadurch eine neue Gestalt, dass sie sich aktiv an Diskursen und Praktiken der Assimilation beteiligten.

Die Aufteilung des öffentlichen Raums Das dritte und letzte Narrativ ist das der Hervorbringung des Stadtraums von Dakar. Ab 1858 wurden die Menschen unter dem Druck der Kolonialverwaltung oder aber der französischen und libanesischen Wirtschaftskreise aus den Lébou-Dörfern des Viertels, das später „le Plateau“2 heißen wird, vertrieben. Die Berichte der Kommandanten von Gorée enthalten die Chronik dieses städtischen Wachstums. Es geht dabei um das Eigentum an Grund und Boden, ein Problem, das auch heute noch im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen zwischen dem postkolonialen Staat und Teilen der Lébou-Bevölkerung steht. Es veranlasste zur Umschreibung der Geschichte und der spirituellen, ökonomischen und politischen Referen1 Armand-Pierre Angrand, Les Lébous de la presqu’île du cap Vert. Essai sur leur histoire et leurs coutumes, Dakar, E. Gensul, La Maison du Livre, 1951, S. 94. 2 Dakar Plateau ist heute einer der Stadtbezirke. In ihm liegen das Regierungsviertel und das Hafengebiet (Anm. des Übersetzers).

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zen. Diese Fragen beziehen sich auf folgende Problemkreise: das Eigentumsrecht der Lébous; die Rechte, die sich aus der kolonialen Eroberung des Cap Vert durch die Franzosen herleiten, und den Status dieses Gebiets unter der Kontrolle des Königreichs Kajoor und der Lébou-Republik; die unterschiedlichen Auffassungen vom System des Grundbesitzes innerhalb der Kolonialverwaltung. Je nach Umständen und Machtverhältnissen schwankte die Waagschale zugunsten der einen oder anderen Seite, sodass es nur zu labilen Formen des Gleichgewichts kam, zu oft paradoxen politischen Angeboten, die zudem jederzeit infrage gestellt werden konnten. Doch bedeutet das nicht auch, dass es Raum für Dialog und Verhandlung gab und für einen allen offenstehenden politischen Raum? Die Ungewissheiten in Sachen Grundbesitz hinderten die Stadt Dakar jedenfalls nicht an ihrem räumlichen und demografischen Wachstum. Sie erarbeitete mehrere Masterpläne und schuf politische und wirtschaftliche Institutionen. Das neue Registriersystem wurde im Juli 1906 eingeführt und im Juli 1932 geändert. Angefangen mit dem „neuen Straßenverlaufsprojekt“, das die Straßen und ihre Ausrichtung festlegte sowie die öffentlichen Plätze für Märkte, Kirchen und öffentliche Einrichtungen in den wichtigsten Stadtvierteln – auch für Kasernen und die in den höheren Lagen im Norden des Plateaus liegenden Krankenhäuser – bis hin zu den zwei Prinzipien, die der Stadtplanung Dakars zugrunde lagen, nämlich die Wohnhygiene und die kommerziellen Interessen, nahm die Stadt Form an. Die Lébou-Dörfer des Plateaus werden Schritt für Schritt ihrer Bevölkerung beraubt, zerstört und ihr Grund und Boden an Ausländer vermietet oder verkauft. Das Plateau nahm seinerseits ebenfalls Form an und spiegelte die räumliche Segregation wider, die mit der kolonialen Stadtentwicklung einherging. Einige isolierte Häusergruppen, die noch von Lébous bewohnt wurden, bestanden weiterhin fort. Einzelne Probleme und Epidemien dienten jedoch der Kolonialverwaltung als Vorwand, „um die Einheimischen aus Dakar in die Vorstädte zu vertreiben“3 und ihre Häuser zu zerstören. Noch drastischere Maßnahmen wurden nach der Pest des Jahres 1914 ergriffen. Sie führten zur Gründung des „Eingeborenen“-Viertels Medina, in das zahlreiche Einwohner der Dörfer des Plateaus umgesiedelt wurden. Dort entwickelten sich Formen der Erinnerung, die mit den beiden Temporalitäten, der kolonialen und derjenigen der Lébous, operieren 3 Claude Faure, Histoire de la presqu’île du cap Vert et des origines de Dakar, op. cit., S. 113.

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und die Geschichtserzählungen der einen umgestalten und in Anhängsel oder Kommentare der anderen verwandeln und umgekehrt.

Ein komplexes Puzzle Die Verschachtelung der Erzählungen unterschiedlicher Herkunft, die auf die entsprechenden politischen, religiösen, ethnischen und kulturellen Identitäten verweisen, ist auch in der Stadtlandschaft durchaus sichtbar. Diese lebendigen Spuren der Vergangenheit beinhalten Sprachen, in denen sich die Stadt zähmen und mit einem besonderen Sinn ausstatten lässt. Dieser beruht auf der Dialektik von Ein- und Ausschluss, von Aneignung und Enteignung der Geschichte der Stadt und ihres Gedächtnisses. Dort begegnet man dem Kolonialreich mit all seinen verschiedenen Bevölkerungsteilen und deren je spezifischem Engagement für die Kolonialstadt selbst. Die Straßen der Medina werden mithilfe von Zahlen benannt (Straße 1, 2, 11 …), was die historische Kontinuität zwischen den Indigenendörfern des Plateaus und den neuen Siedlungen aufhebt. Geschichte und Erinnerung sind damit vorläufig suspendiert beziehungsweise harren ihrer Fortsetzung, sind aber jedenfalls durch die Kolonisation bestimmt. Die Bezeichnungen für die Straßen und Plätze bilden ein koloniales Geschichtsbuch, ein Verzeichnis der militärischen Eroberungen und hygienischen Errungenschaften sowie der Verwandlung der physischen Landschaft durch die öffentlichen Bau- und Infrastrukturmaßnahmen. Die Namen der wichtigsten Straßen wurden entsprechend dem politischen System und dem Stand des antiklerikalen Kampfes im Mutterland verändert. Nur eine Straße trägt den Namen eines Missionars und späteren apostolischen Präfekten des Senegal von 1845 bis 1848. Die Nebenstraßen, die die Hauptachsen miteinander verbanden, lesen sich wie ein regelrechtes Verzeichnis der Heeres- oder Marineoffiziere der Kolonialkriege von 1857 bis 1900, der Angehörigen der Gesundheitsbehörden und der Verantwortlichen für öffentliche Bauten. Nur eine Straße, die Rue de Tann, erinnert an ein ehemaliges Lébou-Dorf. Die anderen Straßennamen wirken eher wie öffentlich ausgestellte Trophäen und wie ein Verzeichnis der siegreichen Kämpfe und der militärischen Außenposten, die auf Kosten der „Eingeborenen“ eingerichtet wurden: Kaolack (Saluum); Niomre (Njambuur); Caronne et Thiong (Untere Casamance); Dialmath (Mittlerer Senegal); Médine (Oberer Senegal). 218

DAKAR, EIN GEDÄCHTNISPUZZLE

Das europäische ist ebenso wie das afrikanische oder dakarische koloniale Gedächtnis ein aus vielen Bausteinen zusammengesetztes, wobei dessen wichtigste Bestandteile ständig neu angeordnet werden. Es führt zu vielfältigen Ausdrucksformen, die weiterhin die beteiligten Identitäten und Kulturen in ihrer Einzigartigkeit und ihren jeweiligen Bestandteilen umgestalten. Sie zeigen sich in der Kleidung, im christ­lichen Choralgesang wie in den religiösen Verbänden der Muslime, in den kurzatmigen Motoren der Schnellbusse, den Droschken und Kutschen, die allesamt teilhaben an der Erzeugung der buntscheckigen Erinnerungen an das Kolonialreich, an deren Herausbildung die Afrikaner mit vollen staatsbürgerlichen Rechten ebenso teilhatten wie diejenigen mit „Eingeborenenstatus“, für die vielfach das überkommene Gewohnheitsrecht galt. Die Filme von Ousmane Sembene (Borom Sarret, 1963) und Djibril Diop Mambety (Contras’ City, 1968, und Touki Bouki, 1973) sind der filmische Ausdruck der Anhäufung, Aneinanderreihung und vielfachen Neuanordnungen der Formen des kolonialen Gedächtnisses und der sie begleitenden Spuren historischer Ablagerungen und Narrative. Diese Erinnerungen umreißen die Konturen eines vielfach gebrochenen Raumes, der voller Geschichten steckt, die um jeden Preis einzigartig sein wollen, nicht zuletzt, weil sie in eine politische Architektur und eine politische Ökonomie der Transaktion und nicht der systemischen Konfrontation eingeschlossen sind. Zur Zeit der Entkolonialisierung zögerte Dakar, die Hauptstadt der Kolonie Senegal und zugleich von Französisch-Westafrika, ob es französisch bleiben sollte, wurde aber notgedrungen die Hauptstadt eines neuen unabhängigen Staates. Heute versucht Dakar zu seiner ursprünglichen Temporalität zurückzukehren, zur Weltzeit, um New York und Paris als Vorstädte zu betrachten4 und so die kosmopolitische und plurale Erinnerung an eine koloniale Handels­niederlassung zu reaktivieren.

Literatur Claude FAURE, Histoire de la presqu’île du cap Vert et des origines de Dakar. Avec une reproduction du plan directeur de la ville de 1862 et un plan de la ville actuelle, Paris 1914. Emil LENGYEL, Dakar. Outpost of Two Hemispheres, New York 1943.

4 Positive Black Soul, New York–Paris–Dakar, Rapalbum aus dem Jahr 2003.

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3 EXPORTIEREN

JÜRGEN KOCKA

Kapitalismus jenseits von Gut und Böse Europa, ein Kontinent, in dem der Kapitalismus geboren wurde und gedeiht, ist auch der Kontinent seiner radikalsten Kritik. Während er die wirtschaftliche und finanzielle Vorherrschaft Europas ermöglicht hat, ist der Kapitalismus hier auch in all seiner Ambivalenz in Erinnerung geblieben.

Der Kapitalismus als Vampir und der Arbeiter als sein Opfer. Farbholzstich nach einer Zeichnung von Otto Marcus aus dem Jahr 1893.

JÜRGEN KOCKA

Die europäische Vorstellung vom Kapitalismus entstand aus dem Geist der Kritik, bis heute bleibt sie davon geprägt. Soweit Kapitalismus einen europäischen Erinnerungsort darstellt, ist es einer, der von Erinnerungen an Amoralität und Schuld, Überwältigung, Krisen und Ungerechtigkeit mitgeprägt wird. Dies gilt über die Jahrhunderte, vom Hohen Mittelalter bis heute. Nur die Epoche der Aufklärung macht eine Ausnahme. Andererseits ist Kapitalismus – blickt man nicht auf die Geschichte der Erinnerungen und Vorstellungen, sondern auf die Geschichte der Strukturen, Prozesse und Handlungen – ein zentrales Moment der Kraft, der Größe und des Erfolgs Europas. Auch und gerade durch seinen Kapitalismus gewann der Kontinent globale Bedeutung. Und in den für den Kapitalismus typischen Temporalstrukturen haben nicht nur Imaginationen der Zukunft, sondern immer auch Erinnerungen an Vergangenes eine Rolle gespielt. Diesem spannungsreichen Zusammenspiel zwischen Erinnerungs- und Realgeschichte des europäischen Kapitalismus soll im Folgenden nachgegangen werden.

Definitionen des Kapitalismus Dazu ist es notwendig, sich über einige begriffliche Vorentscheidungen klar zu werden, die dem Folgenden zugrunde liegen. „Kapitalismus“ als Substantiv setzte sich in den europäischen Sprachen erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Aber für die sich dieses Begriffs seitdem bedienenden Sozial- und Kulturwissenschaftler bestand kein Zweifel, dass er auch auf Verhältnisse, Veränderungen und Verhaltensweisen in Zeitepochen angewandt werden kann, in denen der Begriff noch nicht existierte. Sie taten es und wir tun es auch. Als Kaufmannskapitalismus existierte Kapitalismus schon im 1. Jahrtausend unserer Zeitrechnung, unter anderem in Arabien, China und Europa, wenngleich oft nur in Form von Inseln im Meer vorwiegend nichtkapitalistischer Verhältnisse. Als Finanzkapitalismus findet sich Kapitalismus seit dem Hohen Mittelalter in großen Teilen Europas, zuerst im nördlichen Italien. In der Frühen Neuzeit haben der west- und osteuropäische Agrarkapitalismus und der primär von kolonialisierenden Europäern durchgesetzte Plantagenkapitalismus in Amerika, Asien und Afrika das Bild von Überwältigung und Ausbeutung geprägt, das dem Kapitalismus bis heute anhaftet. Das alles geschah, bevor ab dem 18. Jahrhundert der Industriekapitalismus – zuerst von 224

KAPITALISMUS JENSEITS VON GUT UND BÖSE

England, dann von Europa und Nordamerika ausgehend – zur entscheidenden Triebkraft der weltweiten Ausbreitung des Kapitalismus wurde. Bis ins gegenwärtige Zeitalter der Globalisierung wirken diese unterschiedlichen Typen des Kapitalismus zusammen. Diese Sichtweise setzt eine Definition von „Kapitalismus“ voraus, die zwar nicht so breit ist, dass sie jede Form von Marktwirtschaft umschlösse – das wäre kontraproduktiv, wie Fernand Braudel gezeigt hat. Sie muss aber umfassend genug sein, um nicht nur auf Industriekapitalismus mit massenhafter Lohnarbeit fixiert zu sein. Im Kapitalismus, so die das Folgende leitende Definition, verfügen (1) die wirtschaftlichen Akteure über Eigentumsrechte, um relativ autonom und dezentral die wichtigsten wirtschaftlichen Entscheidungen zu treffen. Märkte sind (2) als Mechanismen der Allokation und Koordination zentral, damit aber auch Wettbewerb und Preise. Warenförmigkeit ist für Kapitalismus typisch, einschließlich der Kommodifizierung der Arbeit und des damit verbundenen asymmetrischen Spannungsverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit. (3) Kapital ist zentral, das heißt die Verwendung von Ressourcen zur Investition in der Gegenwart in Erwartung größerer Vorteile in der Zukunft. Dazu gehören die Gewährung und Verwendung von Kredit, der Umgang mit Unsicherheit und Risiko, die Orientierung an Profit und Akkumulation. Wandel, Wachstum und Expansion sind teils Ziele, teils Folgen – wenngleich äußerst ungleichmäßig – im konjunkturellen Auf und Ab, immer wieder von Krisen erschüttert.

Kaufleute und Bankiers, das misstrauische Mittelalter „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“ (Markus 10,25). Die christliche Morallehre, über Predigten, Bilder und Schriften verbreitet, prägte die Vorstellungen der Gebildeten wie die Mentalitäten der breiten Bevölkerung im mittelalterlichen Europa zutiefst. Sie konnte zwar die nützliche Rolle von Kaufleuten und den sittlichen Wert von Arbeit und Eigentum konzedieren. Sie konnte auch sehr flexibel interpretiert werden. Doch war für sie die Überzeugung zentral, dass man nicht gleichzeitig Gott und Mammon anbeten kann, dass die Liebe zum Geld die Wurzel allen Übels sei und dass der Gewinn des einen immer den Verlust eines anderen oder mehrerer anderer bedeute. Sie schürte Skepsis gegenüber ausgeprägtem 225

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Reichtum und der Existenzform des Kaufmanns, denn zu dieser gehörten Gewinnstreben und Wettbewerb. Im Namen brüderlicher Nächstenliebe und tugendhafter Selbstlosigkeit brachte die christliche Morallehre der dezidierten Wahrnehmung von Eigeninteresse Misstrauen entgegen und sie stellte sich gegen gewisse kapitalistische Praktiken, so insbesondere gegen den zinstragenden Geldverleih, der als „Wucher“ diskriminiert war, jedenfalls gegenüber „Stammesbrüdern“, so im Deuteronomium 23,20–21, nicht notwendig gegenüber Fremden. In Reaktion auf die faktische Zunahme kaufmanns- und finanzkapitalistischer Praktiken wurde das Verbot der zinstragenden Kreditvergabe von Christen an Christen ab dem 12. Jahrhundert zusätzlich verschärft und kodifiziert. So erklärt sich, warum in Europa Juden seit dieser Zeit in diesen Geschäften so stark vertreten waren, denn sie waren von dem christlich-kirchlichen Zinsverbot nicht direkt betroffen. Die christlichen Vorbehalte gegenüber Kernbestandteilen des Kapitalismus wurden in der Vorstellungswelt der Gebildeten seit dem Humanismus und der Renaissance mit Anleihen bei antiken Philosophen, besonders Aristoteles, zusätzlich verstärkt. Im Namen gemeinwohlbezogener bürgerschaftlich-republikanischer Tugenden wandten sich Autoren wie der englische Philosoph James Harrington noch im 17. Jahrhundert gegen den Eigennutz, den privaten Reichtum und die „Kultur des Verkaufens“ in der sich im westlichen Europa durchsetzenden Kommerzialisierung.

Der Aufstieg des Marktkapitalismus Das verbreitete Misstrauen, die moralische Ablehnung und die intellektuelle Kritik haben jedoch den Aufstieg des Kapitalismus im mittelalterlichen Europa weder verhindert noch wirklich erschwert. Wie in anderen Teilen der Welt (Arabien, China, Südasien), nur etwas später, setzte sich auch in Europa der Kapitalismus vor allem als Kaufmannskapitalismus durch. Dabei war der Fernhandel führend: einerseits über die Meere, zum Beispiel von oberitalienischen, südfranzösischen und katalanischen Städten nach Ägypten, Byzanz und weiter nach Süd- und Ostasien, durch die Meerenge von Gibraltar ins nordwestliche Europa oder durch die Meere im Norden nach Russland, Polen und Skandinavien; andererseits über die Alpen nach Oberdeutschland, dann von dort in das west­liche und nordöstliche Europa und auf dem Landweg nach Asien. So sehr dies zur 226

KAPITALISMUS JENSEITS VON GUT UND BÖSE

Entwicklung grenzüberschreitender Netzwerke beitrug, so gern schlossen sich Kaufleute zu Gruppen, Karawanen, Flotten und bisweilen zu längerfristigen genossenschaftlichen, herrschaftlich abgestützten Bünden zusammen, so in der „Deutschen Hanse“ vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Dabei benutzten sie verwandtschaftliche, herkunftsmäßige, ethnische und kulturelle Gemeinsamkeiten, um Vertrauen zu bilden, sich gemeinsam gegen Raub und Angriffe zu schützen und ökonomische Probleme mit nichtökonomischen Mitteln zu lösen. Auch waren die meisten von ihnen treue Christen. Sie trugen den religiös fundierten Vorbehalten gegenüber demonstrativem Gewinnstreben und Reichtum teilweise Rechnung: durch religionskompatible Lebensführung und Symbolik, durch ausgeprägte Spenden- und Wohltätigkeit, durch Philanthropie, oft auch durch die „letzte Buße“ im hohen Alter in Form großer Vermögensübertragungen an Klöster und Kirchen. Doch vor allem verhielten sie sich kapitalistisch: bereit zu sehr hohen Risiken und durchsetzungsfähig im harten Wettbewerb, auf der Jagd nach hohen Gewinnen und großen Vermögen, bereit zur Aufnahme und Gewährung von Krediten, für die gezahlt und mit denen verdient wurde, in unterschiedlichen rechtlichen Formen. Stille Geldgeber waren häufig, man betrieb Geschäfte in verschiedenen Sparten zugleich, oft nur kurzfristig auf mehrere Jahre, seltener – aber zunehmend – im Hinblick auf Unternehmungen und Vermögen, die über das Leben der einzelnen Akteure hinausreichten. Große, ja riesige Reichtümer wurden akkumuliert, zunächst nur im Rahmen einzelner Lebensläufe, später im Generationenwechsel der Familie vererbt und noch später mit dem Ziel einer generationenübergreifenden Firma zusammengehalten. Das Vermögen der Medici in Florenz bewegte sich zwar in extremen Sprüngen mit den Zeitläuften auf und nieder, wurde aber von Generation zu Generation weitergegeben. Die Fugger in Augsburg bemühten sich erfolgreich um die Gründung eines „Hauses“, das familienbezogen die Generationen überdauern würde. Doch ging ein großer Teil der Gewinne in den Konsum, auch und gerade in Luxuskonsum und in den Erwerb von Landsitzen (auch als stabile Vermögensanlage), herrschaftlichen Häusern und adligen Privilegien. Akkumulation war noch nicht das zentrale Maß des Erfolgs. Ab dem Mittelalter treten Kapitalisten als Stifter, Kunstförderer und großzügige Mäzene auf, häufig auch, um die gesellschaftliche Wahrnehmung der kapitalistischen Verhaltensweisen positiv zu beeinflussen. 227

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Technische Verbesserungen Dieser handelskapitalistische Ausbau im Hohen und Späten Mittelalter wäre ohne die Erfindung neuer Methoden und ohne die Bereitstellung neuer Rechtsformen nicht möglich gewesen. Die doppelte Buchführung, die Soll und Haben genau und jederzeit abrufbar gegeneinanderstellte, war in norditalienischen Handelsstädten spätestens im 14. Jahrhundert in Gebrauch und galt im Norden lange als Methode „alla Veneziana“. Bis heute lässt der Wortschatz des Bankwesens – mit Begriffen wie Bank, Skonto, Diskont oder Lombardierung – seine italienischen Ursprünge erkennen: Das Lexikon speichert Erinnerung transnational. In der Praxis setzten sich neue Instrumente der bargeldlosen Kreditvergabe, des Wechselgeschäfts und des Terminhandels durch. Damit erweiterte man die räumliche und die zeitliche Dimension der Geschäfte – nicht ohne Anregungen und Übernahmen aus dem schon weiter entwickelten arabischen Bereich, mit dem zahlreiche Kontakte bestanden. Neue Rechtsformen wurden für Teilhaberschaft, Partnerschaft und Kapitalvereinigung entwickelt – mit Ansätzen zur Ermöglichung von Kapitalanteilen mit beschränkter Haftung, aber wohl noch ohne die Möglichkeit, Anteile zu handeln. Die wiedererweckte Tradition des römischen Rechts mit seiner formalen Rationalität und vertragsfreundlichen Ausgestaltung half dabei mit, ohne entscheidend zu sein. Die Herausbildung der Unternehmung als eigener Rechtsperson, unterscheidbar vom Haushalt ihre Eigner und Betreiber, oft mit einer Vielfalt von überdies wechselnden Eigentümern, stellt eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Weiterentwicklung des mittelalterlichen Kaufmannskapitalismus vor allem im 14. und 15. Jahrhundert dar, die im älteren Kaufmanns­ kapitalismus Chinas und Arabiens offenbar fehlte. Zum Beispiel: Die Große Ravensburger Handelsgesellschaft betrieb europaweite Geschäfte vor allem im Textilbereich. Sie wurde von mehr als 100 Familien betrieben und existierte von 1380 bis 1530.

Entwicklung des Finanzkapitalismus Zwei Eigenarten des europäischen Kaufmannskapitalismus belegen seine besondere Dynamik in zumindest graduellem Unterschied zu anderen Teilen der Welt. Zum einen drängte Kaufmannskapital ab und 228

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an in die Sphäre der Produktion hinein, zum Beispiel in den kapital­ bedürftigen Montanbereich wie auch in das hausindustrielle Textil- und Metallgewerbe, in die Kaufleute nicht nur investierten, sondern die sie auch als protoindustrielle Verleger zu koordinieren und zu steuern begannen. Zum anderen war da der Übergang in den Finanzkapitalismus: Bankgeschäfte – Geldwechsel, Wechsel- und Girogeschäfte, Kredite – enthielten spekulative Momente von Anfang an und wurden von den Kaufleuten meist miterledigt. Als sie im späten Mittelalter zunahmen, spezialisierten sich Kaufleute darauf und wurden zu Bankiers, aber durchweg, ohne den Handel mit Waren ganz abzustoßen. Banken entstanden in Genua ab dem 12., in Venedig ab dem 13., in der Toskana ab Anfang des 14. Jahrhunderts. Die florentinischen Banken – schon 80 um 1350 – wurden europaweit führend und blieben es bis zum Ende des Mittelalters. Die drittgrößte Bank in Florenz, die Acciaiuoli-Bank, zählte 1341 16 Filialen in verschiedenen Ländern, elf Partner, 32 Manager und viele Angestellte. Auch die Bardi, Peruzzi und im 15. Jahrhundert die Strozzi und Medici erreichten dieses Format von transnationalen Großunternehmen. Sie verwandten ihr Kapital, die bei ihnen deponierten Einlagen und ihre Erträge auch für Beteiligungen und Kredite, die sie nicht nur an Handels- und Gewerbeunternehmen, sondern auch an Regierungen, Städte, Landes- und Grundherrschaften wie bald auch an die höchsten geistlichen und weltlichen Machthaber Europas vergaben. Diese befanden sich angesichts noch fehlender regelmäßiger Steuereinnahmen in ständiger Geldnot und fanden es schwierig, ihre Kriege zu führen, ihre Repräsentationsbedürfnisse zu erfüllen und den Ausbau ihrer Territorien zu fördern. Staatsbildung und der Aufstieg des Finanzkapitalismus hingen eng zusammen. Auf diese Weise begründeten kleine Eliten wohlhabender, der Hochfinanz zuzurechnender Bürger ihren Einfluss auf die Politik, doch machten sie ihre unternehmerische Existenz zugleich von den politischen Mächten und ihren wechselnden Geschicken abhängig. Die besondere Dynamik des europäischen Kapitalismus hing schon vor 1500 mit der besonderen Dynamik der europäischen Staatenwelt zusammen. Diese war anders als beispielsweise in China durch eine Vielzahl von konkurrierenden Herrschaftsgebieten definiert. Dieser europäische Pluralismus, dieses „Geschiebe und Gedränge“ (Otto Hintze) miteinander konkurrierender Staaten bot den Kapitalisten besondere Spielräume und 229

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Einflussmöglichkeiten. Er beflügelte die Dynamik der kapitalistischen Akkumulation und ihrer Akteure.

Eine Symbiose aus Kapitalismus und Gewalt Die europäische Expansion in die Welt ab dem Beginn der Neuzeit hatte viele Antriebe, doch die Ressourcen und Ambitionen, die Gier und die Unternehmungslust westeuropäischer Handels- und Finanzkapitalisten gehörten dazu. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert gewann der Kapitalismus eine neue Gestalt: im Überseehandel, in den Kolonien und – damit verbunden – im Wirtschaftsleben Europas. Eine neue Symbiose von Geschäft und Gewalt charakterisierte den Kapitalismus jener Jahrhunderte vor allem außerhalb Europas, wie sich in vielfältigen Kriegen, Raubzügen, aber auch im Plantagensystem zeigte. Die Sklaverei war zwar keine kapitalistische Erfindung, aber die kapitalistische Plantagenwirtschaft in Brasilien, der Karibik und dem südlichen Nordamerika löste eine immense Ausweitung des Sklavenhandels und der Sklaverei aus. Nach Karl Marx ist der moderne Kapitalismus blut- und schmutztriefend zur Welt gekommen, verbunden mit Gewalt und Unterdrückung. Der Zusammenhang zwischen Kolonialisierung und Kapitalismus ist dafür der klarste Beleg. Gegenwärtig beschäftigt sich die Forschung intensiv mit diesem Phänomen. Es trübt den Kapitalismus als europäischen Erinnerungsort erheblich ein. Innerhalb Europas drang der Kapitalismus lange vor der Industrialisierung in die Welt der Produktion ein und formte sie um: als Agrar­ kapitalismus im Westen und Osten, im Montanbereich und als proto­ industrielle Organisation der Heimarbeit und Hausindustrie in den meisten Gewerbegebieten Europas. Dies führte zu erheblichen Produktivitätsfortschritten in der europäischen Wirtschaft und zur Ausweitung der Überlebenschancen einer rasch wachsenden Bevölkerung. Es führte aber auch zu neuen Formen der Ungleichheit, Abhängigkeit und Ausbeutung, die nicht ohne Gewalt und soziale Konflikte durchgesetzt wurden. Die Verquickung von Kaufmannskapitalismus und Kolonialisierung gab Anlass zu Innovationen. Einerseits gewann das Unternehmen als institutioneller Kernbestandteil des sich konsolidierenden Kapitalismus klareres Profil. Die niederländische Vereenigde Oostindische Companie (VOC) von 1602 war die wichtigste einer Reihe von Aktiengesellschaften, 230

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die zum Zweck des Kolonialhandels in mehreren Ländern entstanden, vor allem in den Niederlanden, England und Frankreich. Ihr stattliches Kapital von 6,45 Millionen Gulden wurde von 219 Teilhabern jeweils mit beschränkter Haftung aufgebracht. Diese erhielten regelmäßig Dividenden, besaßen aber wenig Einfluss auf die Leitung der Gesellschaft. Diese lag in der Hand von Direktoren, die die ausgedehnte und viele Außenstellen vor allem in Asien betreibende Organisation mithilfe eines ausgeklügelten Systems von Ausschüssen und eines systematischen Berichtwesens von Amsterdam aus leiteten – aus einem Zentralbüro heraus, das bald 350 Angestellte beschäftigte. Die Gesellschaft betrieb den Ankauf, den Transport und den Verkauf einer Vielzahl von Waren und sie gliederte sich punktuell Produktionsunternehmen an, beispielsweise Salpeterfabriken und Seidenspinnereien in Indien. Es sagt viel über die enge Zusammenarbeit von Politik und Kapitalismus, von Staaten und Märkten aus, dass die Regierung der niederländischen Generalstaaten der VOC nicht nur ein regionales Monopol, sondern auch die Befugnis verlieh, „Krieg zu führen, Verträge zu schließen, Land in Besitz zu nehmen und Festungen zu bauen“. Diese Rechte nahm die VOC wahr, oft in bewaffnetem Kampf mit Konkurrenten aus anderen Ländern. Der Übergang zwischen kapitalistischem Geschäft und Kriegführung war fließend. Es gab Jahre, in denen das Unternehmen offenbar den größten Teil seiner Einnahmen aus dem Kapern konkurrierender beziehungsweise feindlicher Schiffe bezog.

Ertrags- und risikoorientiert Die VOC blieb bis 1799 zusammen, während ihre Teilhaber wechselten. Dazu waren sie in der Lage, weil sie ihre Anteile an den neu entstehenden Börsen handeln konnten. Mit Effekten handelnde Börsen gab es in Antwerpen seit 1460, in Amsterdam seit 1612 und in London seit 1698 (mit der Royal Exchange als Vorläuferinstitution seit 1571). Die Aktien der im Kolonialgeschäft engagierten Monopolkompanien stellten einen erheblichen Anteil der an den Börsen gehandelten Papiere. Das Kapital wurde damit verstärkt zur Ware und die spekulativen Elemente im Umgang mit ihm nahmen zu. Damit wuchs nicht nur die Aussicht auf spektakuläre Gewinne, sondern auch die Gefahr großer Verluste. Beides betraf bald nicht nur eine kleine Anzahl von professionellen Handelskapitalisten, 231

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sondern auch viele kleinere und größere Investoren aus breiten Bevölkerungskreisen, die im Lauf des 17. Jahrhunderts in den westeuropäischen Metropolen lernten, ihr Glück an der Börse zu versuchen, zu wetten, zu investieren und zu spekulieren. Zum Beispiel ging dem Niedergang der englischen South Sea Company im Jahr 1720 eine richtiggehende Spekulationsmanie voraus. Die britische Regierung hatte der Gesellschaft das Monopol für den Handel mit Südamerika eingeräumt. Die Öffentlichkeit erwartete riesige Gewinne. Ein Run auf die Anteile setzte ein. Der Aktienkurs stieg in einem Monat von 120 auf 950 Pfund. Viele vertrauten ihr Geld der Company an und verloren es, als im Sommer die Blase platzte und der Kurs in den freien Fall überging. Sir Isaac Newton gehörte zu den Geschädigten. Er soll gesagt haben: „I can calculate the notions of the erratic stars, but not the madness of the multitude.“1 Andere Beispiele wären zu nennen, etwa die Tulpenmanie, die in den 1630er-Jahren in den Niederlanden zu extrem hohen Preisen der als begehrte Luxusgüter gehandelten Tulpen führte, zu exzessiver Spekulation und zu einer Blase, die 1637 zerplatzte und viele Beteiligte ruinierte. Jan Brueghel der Jüngere persiflierte später diese frühe kapitalistische Krise, indem er Tulpenmakler und Tulpenkäufer als Affen in Menschenkleidern malte, um den Irrwitz des Geschehens zu veranschaulichen. Bis heute wird jene handelskapitalistische Krise literarisch behandelt, sie lebt in der Erinnerung fort. Die gesellschaftlichen Folgen solcher Krisen blieben zwar noch sehr begrenzt, doch über Börse und Spekulation wurden erstmals größere Bevölkerungsschichten ganz praktisch mit den Hoffnungen und Enttäuschungen bekannt, die der Kapitalismus so reichhaltig bereithält. Der Aufstieg der Banken und Börsen stand im Mittelpunkt des sich nun machtvoll entfaltenden Finanzkapitalismus, der nicht nur den wachsenden Kreditbedarf des sich ausdehnenden Handels und der kapitalistisch werdenden Produktionsunternehmen bediente, sondern auch die Finanzierung der Herrschenden, der Stadt- und Länderregierungen, vor allem der konkurrierenden Territorialstaaten mit ihren Kriegen und Bedürfnissen innerer Staatbildung. Zunehmend verlagerte sich das Zentrum des international dicht vernetzten Finanzkapitalismus nach Westeuropa, 1 Nach Patrick Brantlinger, Fictions of State. Culture and Credit in Britain, 1694–1994, Ithaca 1996, S. 44.

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zunächst nach Antwerpen und Amsterdam, dann nach London. In den Niederlanden und England wirkten kapitalistische Prinzipien über die Wirtschaft hinaus in die Gesellschaft hinein, ins gesellige Leben, in den Konsum, ins Freizeitverhalten – Wetten, Wettbewerbsspiele –, ins Verhältnis zwischen den Geschlechtern und in die Verteilung der politischen Macht. Die Niederlande und England waren im 17. und 18. Jahrhundert die kapitalistischsten und wohlhabendsten Länder der Welt. Zugleich waren sie an politischer Freiheit, Verfassungsstaatlichkeit und zivilgesellschaftlicher Dynamik den anderen Ländern voraus.

Das Lob der Aufklärung Nicht die Reformation hat zu einer Revision der kapitalismusskeptischen bis kapitalismusfeindlichen Grundstimmung geführt, die die Theologien, Philosophien und Staatstheorien Europas über die Jahrhunderte prägten. Dies geschah erst aus dem Geist der Aufklärung. Unter dem Eindruck der zerstörerischen Kriege ihrer Zeit arbeiteten Autoren wie Hugo Grotius, Thomas Hobbes, John Locke und Baruch de Spinoza an der Neubestimmung zivilgesellschaftlicher Tugenden im Zeichen von Menschenrechten, Freiheit, Frieden und Wohlstand. In dezidierter Abwendung vom alteuropäischen mainstream lobte Charles de Montesquieu zur Mitte des 18. Jahrhunderts den Handel als zivilisierende Kraft, die zur Überwindung von Barbarei, zur Besänftigung von Aggressionen und zur Verfeinerung der Sitten beitrage. Andere Autoren stießen in dasselbe Horn, etwa Bernard Mandeville und David Hume, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet und Adam Smith, also vor allem Engländer, Franzosen und Niederländer. Das allgemeine Wohl, so die Stoßrichtung der Argumente, werde gerade durch die vernünftige Verfolgung von Eigeninteressen gefördert. Der Vorteil des einen müsse nicht der Nachteil des anderen sein. Geschäft und Moral stünden nicht in notwendigem Gegensatz zueinander. Der Markt helfe mit, den Krieg der Leidenschaften durch den Kompromiss der Interessen zu ersetzen. Er fördere Tugenden wie Fleiß und Beharrlichkeit, Rechtschaffenheit und Disziplin – und damit die zivile, die bürgerliche Gesellschaft. Man erwartete nicht nur, dass der Kapitalismus den Wohlstand vermehren, sondern auch, dass er dazu beitragen würde, eine bessere Ordnung des menschlichen Zusammenlebens hervorzubringen – mit 233

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Respekt für Freiheit und Verantwortung der Einzelnen, ohne obrigkeitsstaatliche Gängelung und mit der Aussicht auf Kompromiss und Frieden statt auf Konflikt und Krieg. Der Begriff „Kapitalismus“ wurde zwar noch nicht verwendet. Adam Smith sprach von „commercial society“. Doch dies war im Kern eine Vorstellung von Kapitalismus als zivilisatorischer Verheißung im Geist der Aufklärung, wobei es den Autoren selbstverständlich war, dass die Märkte dies nicht allein richten würden, sie vielmehr institutionelle, moralische und politische Rahmenbedingungen brauchten, die sie selbst nicht hervorbrachten. Was die öffentliche Wertschätzung durch Intellektuelle und öffentliche Meinung angeht, hatte der Kapitalismus seine beste Zeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Aber wiederum klaffte ein tiefer Spalt zwischen Realität und Diskurs, jetzt zwischen den tatsächlichen Widersprüchen der kapitalistischen Wirklichkeit und ihrer utopischen Idealisierung als „sanfter Handel“ und „commercial society“.

Kritik am industriellen Kapitalismus 100 Jahre später hatte sich der Wind gedreht. In Werner Sombarts und Max Webers Analysen fand sich um 1900 viel Zuversicht in Bezug auf die ökonomische Überlegenheit des Kapitalismus. Aber diese Autoren beschrieben ihn kaum noch als Träger des menschlichen Fortschritts, der moralischen Besserung und der zivilisatorischen Vervollkommnung. Im Gegenteil, Liberale wie Weber fürchteten die zunehmende Rigidität des kapitalistischen Systems, das für menschliche Freiheit und Spontaneität bedrohlich werden könne, indem es die wirtschaftlich Handelnden dazu zwinge, sich den harten Regeln der kapitalistischen Dynamik zu unterwerfen – oder ganz auszuscheiden. Konservative wie Linke fürchteten den Kapitalismus als unwiderstehliche Kraft der Erosion: Verträge ersetzten Treu und Glauben, Gesellschaft verdränge Gemeinschaft, traditionelle Bindungen lösten sich in den Mühlen der Märkte auf, Profitgier bedrohe gewachsene Loyalitäten. Auf der politischen Rechten konnte sich Kapitalismuskritik mit vehementem Illiberalismus und Antisemitismus verbinden. Links wurde die sozialistische Kritik zur großen, die Massen bewegenden Kraft. Einerseits attackierte sie die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital, die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit, die fehlende Inklusion der arbeitenden Massen wie auch Entfremdung 234

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und Abhängigkeit der Arbeit. Andererseits sagte sie den Niedergang des Kapitalismus aufgrund seiner inneren Widersprüche voraus und seine Verdrängung durch etwas Neues, den Sozialismus. Der früher dominierende Aufstiegsdiskurs wurde von einem jetzt dominant werdenden Abstiegsdiskurs in den Hintergrund gedrängt. Dies hing letztlich damit zusammen, dass die Autoren des 18. Jahrhunderts Varianten des Kapitalismus vor der Industrialisierung erlebt hatten, während sich inzwischen der Kapitalismus als Industriekapitalismus fest etabliert hatte und den Beobachtern an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Erfahrungshintergrund diente: Erst damit war Lohnarbeit zum verstörenden Massenphänomen geworden, sie hatte zu neuen, viel kritisierten Abhängigkeiten geführt und die Gesellschaften zu Klassengesellschaften umgeformt. Die Industrialisierung hatte überdies die Geschwindigkeit technologischer und organisatorischer Innovationen immens gesteigert und im Kapitalismus jenes Moments stark hervortreten lassen, was Joseph Schumpeter später als „schöpferische Zerstörung“ analysierte, nämlich die permanente Hervorbringung von Neuem und die ständige Entwertung und Verdrängung von Altem; das brachte neue Chancen, Gewinner und Aufsteiger hervor, aber auch die massenhafte Erfahrung des Verlusts und viele Verlierer. So entstanden dem Kapitalismus viele Feinde. Auch seine konjunkturellen Krisen trugen zu seiner Delegitimierung bei. Tiefer als je zuvor prägte der Kapitalismus das Leben, das Fühlen und Denken der vielen, er verletzte das Herkommen und auch Grundsätze der Volkskultur. Er stellte den raschen Wandel auf Dauer zum Unwillen vieler. Er verstörte.

Im Mittelpunkt der Debatte Der Begriff des „Kapitalismus“ war selbst ein Produkt – dann ein Instrument – dieser kritischen Umwertung. Während die Begriffe „Kapital“ und „Kapitalist“ schon länger in Gebrauch waren, setzte sich das Substantiv „Kapitalismus“ im Französischen, Deutschen und Englischen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch, und zwar mit sozialkritischer Stoßrichtung. Louis Blanc kritisierte 1850 den Kapitalismus als „Aneignung des Kapitals durch die einen unter Ausschaltung der anderen“. Pierre-Joseph Proudhon geißelte 1851 den Grund und Boden auf dem Pariser Wohnungsmarkt als „Festung des Kapitalismus“. 235

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Der deutsche Sozialist Wilhelm Liebknecht wetterte 1872 auf den „Moloch des Kapitalismus“, der auf den „Schlachtfeldern der Industrie“ sein Unwesen treibe. Der Engländer John Atkinson Hobson betonte und kritisierte ab den 1890er-Jahren den Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Imperialismus und Kriegsgefahr.2 Der Begriff „Kapitalismus“ entstand aus dem Geist der Kritik. Und er entstand als Begriff der Differenz. Er wurde benutzt, um bestimmte Elemente der damaligen Gegenwart zu betonen und kritisch zu beleuchten, und zwar in Kontrast zu früheren, vorkapitalistischen Verhältnissen (die oft nostalgisch erinnert wurden) wie auch im Unterschied zu einer erhofften besseren Zukunft, der Zukunft des Sozialismus. Der Kontrast mit einer selektiv erinnerten Vergangenheit und mit einer imaginierten Zukunft war konstitutiv für die Entstehung und Durchsetzung des Begriffs „Kapitalismus“, der jedoch bald über seinen kritischen Gebrauch in der öffentlichen Diskussion hinausreichte und auch zu einem analytischen Begriff in den Sozialwissenschaften wurde. Seitdem ist ein weiteres Jahrhundert vergangen, das für die Geschichte des Kapitalismus mehr und anderes gebracht hat, als Marx, Weber und ihre Zeitgenossen antizipieren konnten: umstürzende Innovationen bis hinein in die digitale Revolution; eine historisch präzedenzlose Ausweitung des Konsums; neue Ungleichheiten; die Globalisierung des Kapitalismus; tiefe Krisen mit erschütternden Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik, vor allem in den 1930er-Jahren mit Einmündung in Faschismus und Weltkrieg; den Aufstieg einer mächtigen, antikapitalistischen Alternative in Form des Staatssozialismus sowjetischer Prägung, der die Kritik am Kapitalismus grenzüberschreitend, massenwirksam und praktisch auf die Spitze trieb, bevor er im Konflikt mit diesem den Kürzeren zog und zusammenbrach. Der Kapitalismus ging nicht zugrunde, aber er änderte sich. Er war nie auf einzelne Länder, Regionen oder Kontinente beschränkt gewesen, doch vor allem in der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist er mit der beschleunigten Globalisierung zu einem weltweiten Phänomen geworden – mit der Folge, dass sich Kapitalismuskritik und Globalisierungskritik aufs Engste vermischen. 2 Belege in Jürgen Kocka, Capitalism. The History of the Concept, in: James D. Wright (Hg.), International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences, Bd. 3, Amsterdam 22015, S. 105–106.

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Mit der sich abzeichnenden globalen Umwelt- und Klimakatastrophe ist eine Problematik auf die Tagesordnung gerückt, die früheren Jahrhunderten noch weitgehend fremd war und die Zukunftsfähigkeit des Kapitalismus mit der für ihn kennzeichnenden Fixierung auf Wachstum infrage stellt.

Ein Begriff, gebrandmarkt mit einem roten Eisen Jedenfalls in den westlichen Sprachen ist „Kapitalismus“ seit der Zwischenkriegszeit zu einem vieldeutigen household word geworden, das seit dem Ende des Kalten Kriegs zwar auch außerhalb des marxistischen Sprachgebrauchs wieder häufiger unpolemisch oder gar mit positiven Assoziationen gebraucht werden kann. Aber der Begriff ist besonders in den kontinentaleuropäischen Sprachen weiterhin vom Geist der Kritik geprägt, aus dem er entstand. Es gibt Kontinuitäten der Kapitalismuskritik, beispielsweise in der katholischen Soziallehre, die mit ihrer grundsätzlichen Kritik an der „Vergötzung der Märkte“ und ihrer Zurückweisung „radikaler kapitalistischer Ideologie“ bemerkenswert langlebig ist. Papst Franziskus hat diese Kritik auf der Grundlage seiner lateinamerikanischen Erfahrungen erneut zugespitzt. Andererseits findet sich weiterhin eine fundamentalistische Totalkritik am Kapitalismus, die ihn für alle Übel der Welt oder doch der westlichen Moderne verantwortlich macht, ohne ihn in der Regel genau zu definieren. Weiterhin gilt, dass Kapitalismus sowohl aus politisch linker Perspektive – etwa als Zurückweisung der mit ihm verbundenen Ungleichheiten und Abhängigkeiten – wie auch aus politisch rechter Perspektive – mit illiberaler, antikosmopolitischer Stoßrichtung und oft in Verbindung mit Antisemitismus – formuliert werden kann. Kapitalismuskritik war und ist politisch sehr polyvalent. Zurückgetreten ist in Europa die klassische sozialistische Kritik am Kapitalismus als Ort der Entfremdung der Arbeit und als Ursache der Verelendung der Arbeiterklasse. Die „Arbeiterfrage“ hat hier die Brisanz verloren, die sie im 19. und 20. Jahrhundert besaß. Allerdings tritt sie gegenwärtig als Kritik an der „Prekarisierung“ und der damit verbundenen Unsicherheit neu in Erscheinung. Weltweit wird sie – im Hinblick auf die massenhafte Verbreitung kapitalistisch ausgebeuteter „informeller Arbeit“ im globalen Süden – wiederentdeckt. 237

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Anderes ist in den Vordergrund getreten: die nur allzu berechtigte Kritik an der „strukturierten Verantwortungslosigkeit“ im deregulierten, überdehnten, sich bedrohlich verselbstständigenden Finanzkapitalismus; an der nach Jahrzehnten der Mäßigung wieder neu wachsenden sozialökonomischen Ungleichheit innerhalb unserer Gesellschaften; am Beschleunigungsdruck des Kapitalismus; am offenbar unaufhaltsamen Eindringen kapitalistischer Prinzipien in soziale, kulturelle und andere menschliche Gebiete, in denen sie, kurz gesagt, nichts zu suchen haben; und an der mangelnden Nachhaltigkeit des Kapitalismus in Bezug auf natürliche und kulturelle Ressourcen, die er voraussetzt und braucht, aber zugleich ausschöpft oder zerstört.

Kapitalismus zwischen Triumph und Kritik Zwar fehlt es in ernsthaften Debatten nicht an der Anerkennung der Leistungen des Kapitalismus, gerade auch nach dem Zusammenbruch der staatsozialistischen Alternative im späten 20. Jahrhundert. Wer seriös bilanziert, wird die epochale Bedeutung des Kapitalismus für die langfristige Verbesserung der Lebenserwartung, des Lebensstandards und der Lebensqualität auch der breiten Bevölkerung nicht verkennen und nicht leugnen, dass der Kapitalismus über die Jahrhunderte auch eine Quelle des Wohlstands und der Freiheit gewesen ist, so sehr er andererseits als Kraft der Ausbeutung und Zerstörung wirkte und moralischen Prinzipien häufig entgegenstand. Kapitalismus ist nicht nur mit der Geschichte der Katastrophen, sondern auch mit der Geschichte des Fortschritts innig verbunden. Aber das Bild des Kapitalismus in der Gegenwart und die Erinnerung an seine Geschichte sind vor allem düster, pessimistisch und kritisch eingefärbt, in Europa mehr als in manchem anderen Teil der Welt, insbesondere in Nordamerika. Europa ist nicht nur der klassische Kontinent des Kapitalismus, sondern auch der Kapitalismuskritik. Natürlich gab und gibt es außerordentlich unterschiedliche, ja gegensätzliche Einschätzungen des Kapitalismus und Erfahrungen mit ihm. Trotzdem lässt sich für Europa zusammenfassen, dass hier der tatsächliche Siegeszug des Kapitalismus über die Jahrhunderte vor allem in einem intellektuellen und mentalen Klima der Kapitalismuskritik stattgefunden hat. Es ist weiterer Überlegungen wert, warum die so verbreitete 238

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Kapitalismuskritik der Europäer sie an der tatkräftigen Durchsetzung und globalen Verbreitung des Kapitalismus nicht effektiver gehindert hat, als sie es tat. Möglicherweise hat die europäische Kapitalismuskritik dazu beigetragen, dass immer wieder tiefgreifende Reformen des Kapitalismus durch Ideen vorbereitet und politisch durchgesetzt worden sind, die ihn nicht nur zivilisierter und mit menschlichen Bedürfnissen kompatibler machten, sondern dadurch auch seine gesellschaftliche Akzeptanz und damit letztlich sein Überleben gewährleisteten. In dieser Hinsicht bleibt allerdings noch sehr viel zu tun, in Europa und erst recht im Verhältnis zu anderen Teilen der Welt. Wie immer man im Einzelnen definiert, der Begriff „Kapitalismus“ umfasst eine große Anzahl sehr unterschiedlicher konkreter Phänomene. Er ist insofern ein sehr abstraktes Konstrukt, das mit Bezug auf grundsätzliche Wertungen zustande gekommen ist – als Versuch, Gegenwärtiges in Unterscheidung von Vergangenem und Zukünftigem zu begreifen und als veränderbar und veränderungsbedürftig zu präsentieren: Analyse und Kritik in enger Verbindung. Er speichert viele historische Bezüge und Erinnerungen, die sich unterscheiden und auch widersprechen. Er dient nicht nur als Gefäß zur Vergegenwärtigung von Vergangenem und als Werkzeug zur intellektuellen Durchdringung der Gegenwart, sondern auch als Folie, auf die sehr unterschiedliche Befürchtungen und Ängste, Erwartungen und manchmal auch Hoffnungen projiziert werden, um artikuliert, präsentiert und im Konflikt durchgesetzt zu werden. Er ist nicht in der Gefahr, vergessen zu werden.

Literatur Robert Z. ALIBER und Charles P. KINDLEBERGER, Manias, Panics and Crashes. A History of Financial Crises, Hoboken 2005. Sven BECKERT, Empire of Cotton. A Global History, New York 2014. Fernand BRAUDEL, Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe–XVIIIe siècle, 3 Bde., Paris 1979. Jürgen KOCKA, Capitalism. A Short History, Princeton 2016. Jürgen KOCKA und Marcel van der LINDEN (Hg.), Capitalism. The Reemergence of a Historical Concept, London 2016. Jerry Z. MULLER, The Mind and the Market. Capitalism in Modern European Thought, New York 2002.

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Thomas PIKETTY, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014. Joseph A. SCHUMPETER, Capitalism, Socialism, and Democracy, New York 21947. Henri SÉE, Les Origines du capitalisme moderne, Paris 1926. Werner SOMBART, Der moderne Kapitalismus, 2 Bde., Leipzig 1902 (3 Bde., München/ Leipzig 21924–1927). Max WEBER, Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschafts­ geschichte, Tübingen 62011 [1923].

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Das wechselnde Schicksal der Revolution Das Wort „Revolution“, das heute seiner subversiven Kraft beraubt ist und völlig beliebig verwendet wird, hat dennoch eine präzise Bedeutung in der Geschichte Europas. Seit der Französischen Revolution verkörpert es einen politischen Bruch, der den Lauf der Geschichte ändert. 200 Jahre später hat das Ende des Kommunismus seine utopische Kraft und sein Gedächtnis entschieden geschwächt.

Bildersturm des Jahres 1566 im Rahmen des Freiheitskampfes der Niederlande gegen das katholische Spanien. Gemälde von Dirck van Delen aus dem Jahr 1630.

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Die großen Revolutionen haben das Antlitz der Geschichte verändert und einen weltweiten Einfluss ausgeübt, aber selten haben sie Erinnerungsorte geschaffen, die auf übernationaler Ebene geteilt wurden. Der „Völkerfrühling“ von 1848 überzieht fast gleichzeitig Europa von Palermo bis Paris und Frankfurt, aber seine Spuren sind im Wesentlichen national begrenzt geblieben. In den 1960er-Jahren gab es auf mehreren Kontinenten Straßenschlachten, aber es genügt, „Mai 68“ zu sagen, um das Ereignis innerhalb der nationalen Grenzen zu halten. Dies scheint die Beobachtung Pierre Noras zu bestätigen, der zufolge die auf europäischer Ebene geteilten Erinnerungen im Wesentlichen negative Erinnerungen wie etwa Verdun oder Auschwitz sind. Die Revolutionen, zugleich allgegenwärtiges Erbe und nicht fassbarer Gegenstand des Gedenkens, sind heute – nach der von Karl Marx und Friedrich Engels aufgenommenen berühmten Formel Edmund Burkes – wieder „Gespenster, die in Europa umgehen“, geworden. Wir wissen nicht, ob sie die Zukunft ankündigen, aber sie erzählen uns auf jeden Fall von der Vergangenheit. Das Wort „Revolution“ ist zwar nicht aus unserem alltäglichen Wortschatz verschwunden, aber es hat eine semantische Veränderung durchgemacht, die darauf abzielt, es zu neutralisieren, es seiner subversiven Kraft zu entledigen: Seine Farbe ist nicht mehr rot, sondern eher „orange“, seine Vorgangsweise friedlich und seine Konsistenz „samten“. Die Revolutionen recken keine Waffen mehr in die Höhe, sondern Blumen, jüngst Jasmin. Derartig domestiziert, entkam das Wort nicht seiner Verdinglichung als Ware, wie sie durch die neuen Tablets und Telefone illustriert wird, die Apple jedes Jahr zum Verkauf anbietet und die jeweils „revolutionärer“ als die vorigen sind. Dieser Wandel ist nicht unumkehrbar, aber er ist bezeichnend für unser „Regime der Historizität“ (François Hartog), das heißt für den Umgang der Gesellschaft mit der Zeit am Beginn dieses 21. Jahrhunderts.

Konzepte Dieser Wandel ist umso bezeichnender, als das wesentliche europäische (und universelle) Erbe der Revolutionen ein Konzept ist. Wenn das Wort „Revolution“ auch alt ist, so bekam es in allen Sprachen erst ab der Französischen Revolution von 1789 seine moderne Bedeutung. Der Astronomie entlehnt, bezeichnete es früher eine Kreisbewegung, das heißt die 242

DAS WECHSELNDE SCHICKSAL DER REVOLUTION

Wiederherstellung stabiler Institutionen nach einer Periode der Unruhen. So nannten die Briten die friedliche Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie 1688 ihre „Glorreiche Revolution“, während die Umwälzungen unter Oliver Cromwell in den 1640er- und 1650-Jahren nur als „Bürgerkrieg“ bezeichnet wurden. Auf dieselbe Weise wurde auch der amerikanische Unabhängigkeitskrieg von 1776 empfunden: Nachdem sie sich einer ebenso ungerechten wie willkürlichen Herrschaft entledigt hatten, bekamen die Kolonisten wieder ihre legitimen Rechte zurück. Es war ein „Unabhängigkeitskrieg“ und erst ein Jahrzehnt später wurde er zur „Amerikanischen Revolution“. 1789 hingegen blickte die Geschichte nicht zurück, sondern machte einen gigantischen Sprung nach vorn: Die Revolution war ein politischer Einschnitt geworden, der neue Institutionen erfand – die Volkssouveränität – und die Welt in die Zukunft projizierte. Auf einem von der Aufklärung vorbereiteten Terrain verkörperte sich die Idee des Fortschritts in den sozialen Kräften, die sie sowohl in materieller als auch in moralischer Hinsicht verwirklichten. Die Geschichte hatte ein telos – ein Ziel – und die Revolutionen waren die Lokomotiven – wie wiederum Marx schrieb –, die es den Menschen erlaubten, es zu erreichen. Sie zerstörten die lineare Geschichte, indem sie sie gewaltig beschleunigten, wodurch die Welt in eine neue, zukünftige Zeitlichkeit geworfen wurde, in der nichts mehr wie zuvor war, in der dank einer geheimen Sehnsucht nach Emanzipation alles auf einen utopischen Horizont hin ausgerichtet scheint.

Brüche Alle – ihre Verteidiger und ihre Gegner – sehen die Revolution, selbst wenn sie sie radikal unterschiedlich beurteilen, als sozialen und politischen Bruch und in dieser Bedeutung hat sie sich im europäischen historischen Bewusstsein festgesetzt. Von Anfang an sind Revolution und Konterrevolution durch ein symbiotisches Band vereint, das ausdrückt, was auf dem Spiel steht. Während des ganzen 19. Jahrhunderts ist die Revolution für ihre Zeitgenossen eine sonderbare Mischung aus Erneuerung und Chaos, dem Anfang einer neuen Macht und dem anarchischen und gewaltsamen Untergang der bestehenden Gesellschaft. Diese doppelte Wahrnehmung errichtet eine Barriere, die die politische Landschaft der Moderne dauerhaft strukturiert. Die 1789 festgelegte sowohl 243

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topologische wie ontologische Unterscheidung zwischen links und rechts überschreitet die französischen Grenzen und verändert die politische Karte Europas im Lauf des 19. Jahrhunderts. Ab den 1790er-Jahren wird der Jakobinismus eine europäische Bewegung, die die Kräfte des Ancien Régime bekämpft. Die Französische Revolution, die im Innern durch den Aufstand der Vendée und von außen durch eine Adelskoalition bedroht ist, wird exportiert oder, in den Worten von Arno J. Mayer, sie exter­ nalisiert sich, indem sie ihre Werte und sozialen Errungenschaften (den Code civil) verbreitet und zuerst ein Modell wird (die jakobinischen Bewegungen in Deutschland, Italien, Belgien, Polen und so weiter), dann ein neuer Despotismus, den man stürzen musste (das Erwachen des Nationalbewusstseins in verschiedenen Ländern gegen die napoleonische Herrschaft). Erneuerung und Chaos, Versprechen für die Zukunft und Barbarei sind also die beiden Pole, zwischen denen die Interpretationen der Französischen Revolution ein Jahrhundert lang hin und her schwankten. Johann Gottfried Herder glaubte, in ihr die Bewegung der Geschichte zu erkennen, während Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel darin eine große historische Wende sahen. Für Kant war sie das signum prognosticum einer von der Vernunft geleiteten emanzipierten Welt, die Prämisse des kosmopolitischen Rechts einer mündig gewordenen Menschheit. Sie blieb für ihn trotz ihrer Gewaltakte eine entscheidende Etappe des moralischen Fortschritts. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1822–1830) definierte Hegel die Französische Revolution als einen „herrlichen Sonnenaufgang“, der die Hoffnung auf einen auf Vernunft aufgebauten Staat geweckt hatte. Zur selben Zeit war 1789 für die konterrevolutionären Denker nur eine historische Verirrung, der Ausbruch dunkler, fanatischer und zerstörerischer Kräfte, die den natürlichen Lauf der Dinge umstürzen wollten. Bereits 1790 verteidigte Edmund Burke die „historischen Rechte“ der Völker – die in der britischen Adelsordnung ihre Erfüllung fanden – gegen die „Menschen- und Bürgerrechte“ der Französischen Revolution, ein in seinen Augen abstrakter und künstlicher Vernunftbegriff. Für Joseph de Maistre waren die Abschaffung des Absolutismus und die Hinrichtung von Ludwig  XVI. ebenso grotesk wie die Befruchtung eines Baums im Winter. Seine providenzielle Sicht der Geschichte führte ihn sogar so weit, die Schreckensherrschaft als gött244

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liche Strafe der sündigen Menschheit und Ankündigung einer apokalyptischen Rache gutzuheißen. Denselben Antagonismus finden wir 1848, in dem Jahr des „Völkerfrühlings“, wieder, als das emanzipatorische Versprechen der Revolution demokratisch, national und für manche Revolutionäre wie Marx oder Louis-Auguste Blanqui bereits sozialistisch ist. Ausgehend von der Analyse der Niederlage der europäischen Revolutionen entwickelte Marx die Theorie der „Diktatur des Proletariats“, die institutionelle Verkörperung des revolutionären Volkes, die eine neue Herrschaftsgewalt schaffen und diese gegen Restaurationsversuche der alten herrschenden Klassen verteidigen kann (was Carl Schmitt eine „souveräne Diktatur“ nannte, eine verfassunggebende Macht, die er den klassischen „kommissarischen Diktaturen“ gegenüberstellte). Von einem gegensätzlichen Standpunkt aus forderte auch Juan Donoso Cortés eine Diktatur, der bedeutendste reaktionäre Denker des 19. Jahrhunderts, der sich als spanischer Diplomat während der revolutionären Ereignisse von 1848 in Berlin und zu Beginn des Zweiten Kaiserreichs in Paris aufhielt. Seine Diktatur – ein Blutbad, das die Gesellschaft reinigen sollte, indem es den Virus des sozialistischen und anarchistischen Atheismus ausrottet – kündigte die um vieles blutigeren Diktaturen der Faschismen des nächsten Jahrhunderts an. Carl Schmitt, der in ihm einen Vorläufer sah, hatte sich nicht getäuscht. Dieser durch die traumatische Erfahrung der Pariser Kommune verschärfte und ausweglose Antagonismus dauerte bis zum Ersten Weltkrieg. Er manifestierte sich in aller Öffentlichkeit anlässlich der Hundertjahrfeier der Französischen Revolution in dem Jahr, als Paris die Weltausstellung organisierte. Während die Dritte Republik der Revolution als dem Beginn einer neuen Ära gedachte und sie als das Fundament der Prinzipien, auf denen ihre eigenen Institutionen beruhten, betrachtete – eine Revolution, die auf die Erklärung der Menschenrechte begrenzt war und die Schreckensherrschaft ausblendete –, wurde die Geschichtsschreibung von einer der großen Figuren des konterrevolutionären Denkens beherrscht. In Die Entstehung des modernen Frankreich (1876–1893) analysierte Hippolyte Taine die Französische Revolution mithilfe der damals aktuellen Wissenschaften, der Zoologie („der tierische Instinkt der Revolte“), der Rassentheorie (Vergleich der revolutionären Massen mit „entfesselten Negern“) und der Vererbungslehre (die Revolution als atavistische Regression der zivilisierten Gesellschaft zu einer urgeschichtlichen Barbarei). 245

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Die Jakobiner waren Verrückte, desgleichen die Kommunarden. Auf ähnliche Weise unterschied Cesare Lombroso, der berühmte italienische Kriminologe, zwischen „Revolution“ und „Revolte“, zwei gänzlich verschiedenen sozialen Phänomenen, wobei das eine „physiologisch“, das andere „pathologisch“ sei. Trotz ihres Namens gehörte die Französische Revolution zur zweiten Kategorie und lieferte der Kriminalwissenschaft ein unerschöpfliches Reservoir an Studiengegenständen.

Metamorphosen 1917 beginnt eine neue Etappe in der Geschichte der Revolutionen – und eine Verwandlung ihres Gedächtnisses. Für viele kündigte die Oktoberrevolution, wie die von 1789, die emanzipierte Menschheit der Zukunft an. Die Bolschewiki sahen in den Jakobinern ihre Vorgänger im Rahmen einer historischen Kontinuität, die Albert Mathiez ab 1920 systematisch entwickelte. Anders jedoch als ihrer französischen Vorgängerin war es der Russischen Revolution nicht gelungen, sich auf den ganzen Kontinent auszudehnen. Die Versuche, dem russischen Beispiel zu folgen, scheiterten überall, von Berlin bis München, von Budapest bis Wien und Mailand, wo auf das biennio rosso, die zwei roten Jahre 1919/20, die Machtergreifung durch Benito Mussolini folgte. Statt sich zu externalisieren – eine Aufgabe, für die die Bolschewiki 1919 die Kommunistische Internationale geschaffen hatten –, musste sich die Russische Revolution auf sich selbst zurückziehen und sich in einem blutigen Bürgerkrieg mit Zähnen und Klauen gegen eine internationale Koalition verteidigen, die der von 1792 durchaus vergleichbar war; aus diesem Rückzug entwickelte sich der Stalinismus, dessen Ausstrahlung dennoch stark war und dessen Einfluss sich über das ganze 20. Jahrhundert erstreckte, eine Epoche, als trotz aller Konflikte und Brüche die Worte „Revolution“ und „Kommunismus“ fast identisch waren. 1920 definierte Bertrand Russell den Bolschewismus als eine Synthese zwischen der Französischen Revolution und dem Islam der Anfänge: Er wurde von sozialen Kräften getragen, die denen, die sich 1789 in Bewegung setzten, vergleichbar waren, und die Anziehungskraft seines Messianismus schien ebenso unwiderstehlich wie die Mohammeds im 7. Jahrhundert. Nach 1917 änderte sich auch das Profil der Gegenrevolution. Durch den Zusammenbruch der europäischen dynastischen Ordnung, wie sie 246

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der Wiener Kongress etabliert hatte, ist die Philosophie, die seit einem Jahrhundert den Legitimismus rechtfertigte und sich auf den christlichen Glauben, den Antirepublikanismus und den Konservatismus berief, obsolet geworden. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war die Rechte zusehends „revolutionär“ und volksnah geworden. Bis zum Ersten Weltkrieg machte die „Nationalisierung der Massen“ (George L. Mosse) einen großen Schritt nach vorn. Der Nationalismus übernahm damals von dem vorher verabscheuten jakobinischen Modell – das Volk in Waffen – Symbole und Rituale. Seine Führer, die häufig plebejischer Herkunft waren, hatten die Politik in den Straßenkämpfen kennengelernt und der revolutionäre Wortschatz entsprach ihnen besser als die parlamentarische Rhetorik. Auf ideologischer Ebene entstand in Deutschland nach dem Krieg eine diffuse Bewegung, die „konservative Revolution“, deren bekanntester Vertreter neben angesehenen Wissenschaftlern wie Oswald Spengler, Arthur Moeller van den Bruck und Werner Sombart der Schriftsteller Ernst Jünger war. Sie wünschten sich nicht das Ancien Régime zurück und wetterten nicht mehr im Namen des Kulturpessimismus gegen die Moderne. Sie strebten eine Synthese zwischen den vom Legitimismus geerbten gegenaufklärerischen Werten und der technischen Moderne, die sie faszinierte, an. Im Lauf der 1920er-Jahre näherten sich die „konservativen Revolutionäre“ zusehends dem Faschismus an. Dieser wollte eine neue Ordnung, ja eine neue „totalitäre“ Zivilisation errichten, die sich sowohl gegen den als Erbe des 19. Jahrhunderts betrachteten Liberalismus wie gegen den Kommunismus richtete. Diese neue Ordnung war entschieden modern, denn der Faschismus wollte einen „neuen Menschen“ schaffen, der eine neue, in den Schützengräben geschmiedete Herrenrasse repräsentierte. 1932 feierte Mussolini in Rom den zehnten Jahrestag der „faschistischen Revolution“, die, die Französische Revolution nachahmend, ihre eigene säkulare Liturgie mit Symbolen, Riten, Bildern und Losungen erfand – bis hin zum eigenen Kult des höchsten Wesens, das in diesem Fall durch einen quicklebendigen charismatischen „Führer“ verkörpert wurde. Im Nationalsozialismus war die revolutionäre Rhetorik abgeschwächt und im Franquismus überhaupt nicht vorhanden (sie prägte hingegen die Falange in ihren Anfängen, die dann im Nationalkatholizismus aufging). Aber keine faschistische Bewegung und kein faschistisches Regime bezogen sich mehr allein auf den Legitimismus. 247

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Globalisierung Die Nachkriegsjahre wurden vom Aufschwung der Kolonialrevolutionen geprägt. Von China bis Vietnam, von Kuba bis Algerien blieb die Revolution eine Lokomotive der Geschichte, aber nach 1945 war sie in der kollektiven Vorstellung kein europäisches Markenzeichen mehr. Auch wenn ihre gewaltsame und mörderische Dimension weiterbestand, wurde diese nun durch eine emanzipatorische Erzählung überstrahlt, die sie positiv konnotierte. In einem der einflussreichsten Essays des Jahrzehnts, Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde (1961), bekannte sich der Autor zum emanzipatorischen Charakter der Gewalt. Der Essay erschien kurz vor der algerischen Unabhängigkeit mit einem noch explosiveren Vorwort von Jean-Paul Sartre. Zur selben Zeit erweiterte die Revolution auch ihre semantischen Konnotationen und wurde abwechselnd eine industrielle, technologische, militärische, ästhetische, kulturelle, sexuelle Revolution. Diese Begriffe waren manchmal alt – man sprach seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von der „industriellen Revolution“ und Die sexuelle Revolution war der Titel eines 1936 von Wilhelm Reich publizierten Werks –, aber erst in den 1960er- und 1970er-Jahren wurden sie Bestandteil der Umgangssprache und Gegenstand wichtiger intellektueller Auseinandersetzungen. Ab dem 18. Jahrhundert hat sich die Revolution als globales historisches Faktum herausgebildet: 1789 war der Höhepunkt eines atlantischen revolutionären Zyklus, bei dem Erfahrungen, Ideen und Menschen ausgetauscht wurden; er begann 1776 in Amerika und fand auf dem Umweg über Frankreich 1804 in Haiti sein Ende. Die Idee der Revolution wurde jedoch in Europa entwickelt und in der Alten Welt wurde auch ihr „Kanon“ festgelegt: Emanzipationsgeschichte, Projekt sozialer Transformation, Doppelherrschaft, Aufstand, neue konstituierende Macht oder Diktatur des Proletariats. Die Pariser Kommune, um nur das signifikanteste Beispiel anzuführen, prägte die internationale Vorstellung der Revolution, wie ihre Epigonen es zeigen, von der Kommune von Morelos im zapatistischen Mexiko bis zu der von Kanton 1926. Ab 1917 exportierte der Bolschewismus außerdem ein militärisches Modell der bewaffneten Revolution, das richtungweisend wurde. Sehr viele Führer und Denker der Kolonialrevolutionen – von Hồ Chí Minh bis Zhou Enlai, von C. L. R. James bis Camilo Torres, von José Rizal bis Manabendra Nath Roy, von Amílcar Cabral bis 248

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Henri Curiel und Frantz Fanon – waren in Europa ausgebildet worden und waren dank der Auseinandersetzung mit dem europäischen revolutionären Modell, das sie übernahmen oder infrage stellten, fähig, ihren eigenen Weg zu definieren. Der von den „Rändern“ her erneuerte und neu interpretierte Marxismus war der ideologische Schirm, unter den sich die meisten der revolutionären Bewegungen der Dritten Welt, die man heute den Süden nennt, begaben. Dieser Befund impliziert nicht eine eurozentrische Sicht der Kolonialrevolutionen, die man nicht als nur von außen bestimmte oder abgeleitete Phänomene interpretieren kann; er unterstreicht einfach die Rolle Europas als ideologischem Schmelztiegel und Schnittpunkt individueller wie kollektiver Schicksale. Fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch trafen sich die Revolutionäre Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in Paris und London, diskutierten und tauschten Ideen und Erfahrungen aus.

1989: Der Vorhang fällt Diese Epoche endet 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und den „samtenen Revolutionen“ in den Ostblockländern: Historisch absolut neu ist, dass sie keine Utopie schufen, sondern sich eher in eine wilde Rückeroberung der Vergangenheit stürzten. Ihr Horizont war national und ihr Projekt beschränkte sich darauf, zur repräsentativen Demokratie und zur Marktwirtschaft zurückzukehren. Sie wollten keinen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ mehr erfinden wie 1968; sie wollten sich einfach nicht mehr als ein „gekidnappter Westen“ fühlen. Sie zogen sozusagen den Vorhang über ein Jahrhundert der Revolutionen. Und in Paris fand fast genau zur gleichen Zeit das Begräbnis in feierlichster Form statt. Nach François Furet, dem großen Zeremonienmeister, beendete der 200. Jahrestag von 1789 zwei Jahrhunderte verderblicher „revolutionärer Leidenschaften“, Quelle der Schreckensherrschaft und des Gulags. Im Lauf der folgenden drei Jahrzehnte, das heißt einer Generation, hat die Revolution aufgehört, ein „Erwartungshorizont“ zu sein. Heute bleibt sie eine Analysekategorie, aber sie ist keine regulierende Idee mehr und ist – wirklichkeitsfern und in Ermangelung eines Milieus, das sie als lebendige Idee anerkennt – tatsächlich ein „Erinnerungsort“ geworden, das Bild einer Vergangenheit, die in der Gegenwart nicht mehr weiterlebt. Diese Diagnose ist nicht endgültig, aber sie beschreibt den gegenwärtigen Stand der Dinge. 249

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Ikonoklasmus Die Revolutionen wollen eine neue Ordnung aufbauen und schaffen ihr eigenes Wertesystem, aber sie beginnen immer damit, die Symbole der alten Herrschaft zu zerstören. Der Ikonoklasmus ist ihnen inhärent und begründet in mehrfacher Hinsicht ihre widersprüchliche Beziehung mit der Materialität der Erinnerungsorte. Um zu triumphieren, müssen sie die Institutionen mit ihren Symbolen, ihren Gebäuden und ihren Standorten zerstören. In den meisten Fällen überwältigt sie ihr pars construens, entgleitet ihnen und gehört ihnen nicht mehr. Wir können noch so sehr behaupten, dass die Französische Revolution unumkehrbare Veränderungen in den europäischen Gesellschaften bewirkt hat, doch hat nicht sie das Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt und den Feudalismus in Zentraleuropa beseitigt; das war das Verdienst Napoleon Bonapartes. Die napoleonischen Kriege sind natürlich Teil eines 1789 einsetzenden Wandels, aber der 9. Thermidor hatte einen Einschnitt markiert und das Kaiserreich hatte mit der Ersten Republik Schluss gemacht. Der Triumph­ bogen gehört zur Geschichte der Französischen Revolution wie die stalinsche Verfassung von 1936 zu der der Russischen Revolution: Beide schreiben sich in die lange Dauer des revolutionären Prozesses ein, aber sie sind nicht mehr Teil des eruptiven Verlaufs der Revolution als Ereignis, Bruch des historischen continuums, gewaltsame Wende von einer sozialen und politischen Ordnung zur anderen, ja sie widerlegen diese Phase der Revolution. Das Carnavalet-Museum in Paris ist ein Erinnerungsort der Französischen Revolution in dem Sinn, dass es sie in einen Gegenstand der Geschichte verwandelt und ihr einen Platz im nationalen Erbe zuweist, aber nicht in dem Sinn, dass es sie in ein kollektives Gedächtnis integriert. In einem anderen Stil illustrieren die Bilder mit den aneinandergereihten Profilen von Marx, Engels, Wladimir I. Lenin und Josef Stalin mehr die Geschichte der UdSSR, als dass sie das Gedächtnis der Revolution übermitteln. Es wäre sicher leichter, konterrevolutionäre Erinnerungsorte zu finden wie den Saint-Michel-Brunnen in Paris, wo der Erzengel, der die Schlange tötet, die Repression vom Juni 1848 symbolisiert, oder auch die Basilika Sacré-Cœur auf dem Montmartre, die errichtet wurde, um die Niederschlagung der Pariser Kommune zu heiligen. Im Unterschied zu diesen Denkmälern sind die revolutionären Erinnerungsorte vor allem symbolisch und immateriell; sie sind an die 250

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zutiefst mit Sinn beladene Leere gebunden, die ihre Zerstörungswut zurückgelassen hat.

„Vandalismus“: die Vergangenheit vernichten Viele Beispiele illustrieren diesen Befund. Als 1889 die Dritte Republik den 14. Juli als Nationalfeiertag einführte – heute ein Anlass für Militärparaden –, wurde das Wesen der Revolution selbst ausgeblendet. Der Sturm auf die Bastille war für die Aufständischen von Faubourg SaintAntoine am Anfang nur eine praktische Notwendigkeit – Pulver für ihre Waffen zu besorgen –, aber er verwandelte sich rasch in ein symbolisch zerstörerisches Unterfangen. In der Festung waren nur sieben Gefangene, die sofort befreit wurden, aber sie stand für die Adelsherrschaft seit dem Mittelalter. Die am nächsten Tag begonnene Zerstörung fand erst 1806 ein Ende. Der Sturm auf die Bastille wurde im ganzen Land in großem Umfang nachgeahmt, wobei unzählige Kirchen und Schlösser verwüstet wurden. Wie es Hans-Jürgen Lüsebrink und Rolf Reichardt gezeigt haben, ist der Einfluss dieses Ereignisses auf seinen kollektiven und anonymen Charakter zurückzuführen, auf die Aktion der Massen und nicht die eines charismatischen Revolutionsführers. Es setzte sich von Anfang an aufgrund seiner Ikonizität (seiner symbolischen Kraft), seiner Theatralität (der Inszenierung eines öffentlichen Schauspiels) und seiner Emotivität (einer Tat, die die Fantasie anregt und eine spontane Identifikation hervorruft) durch und wurde so zu einem nachahmenswerten Beispiel. Der Bildersturm der Französischen Revolution – paradigmatisch für alle modernen Revolutionen – ist seit den 1790er-Jahren Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen, wobei ihn die republikanische Tradition als Ventil für einen ebenso legitimen wie unbezähmbaren Volkszorn ansieht, während ihn die Konservativen als Vandalismus stigmatisieren (dieser Begriff entstand genau zur Zeit der systematischen Zerstörung von Gebäuden des Ancien Régime). Die Zerstörung kirchlicher oder aristokratischer Besitztümer nahm oft einen spielerischen Charakter an und lief wie ein Volksfest ab, in dem die sozialen Hierarchien verspottet und umgestürzt wurden. Um den Volkszorn zu kanalisieren und einzudämmen, erließ die Nationalversammlung am 14. August 1792 ein Dekret, das die systematische Zerstörung aller Denkmäler anordnete, die zu „Vorurteilen“, „Tyrannei“ und „Feudalismus“ errichtet worden waren. 251

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Dieselbe Polarisierung wiederholte sich zwangsläufig während der Pariser Kommune, die per Verordnung vom 12. April 1871 die Zerstörung der Vendôme-Säule beschloss, die als abscheuliches „Denkmal der Barbarei“ bezeichnet wurde – und als ein Symbol der Gewalt –, die seit je die Unterdrückten und Besiegten zermalmte. Der Maler Gustave Courbet, vom Rat der Kommune mit den Kunstagenden betraut, wurde für diesen Akt des „Vandalismus“ verantwortlich gemacht und mehrere Monate in SaintePélagie inhaftiert. Diese Säule, die 1810 errichtet worden war, um der „Großen Armee“ Napoleons auf einem Platz zu gedenken, auf dem das 1792 zerstörte Reiterdenkmal Ludwig XIV. stand, wurde unter der Restauration, der Julimonarchie und dem Zweiten Kaiserreich mehrfach verändert. Zuerst trug sie ein Reiterstandbild von Heinrich IV., dann eine neue Statue von Napoleon I. als römischem Kaiser, bevor sie unter der Kommune zerstört und zu Beginn der Dritten Republik, zwischen 1873 und 1875, wiedererrichtet wurde. Einmal mehr ist ein Denkmal das Ziel einer bilderstürmerischen Welle geworden, die von einer Revolution ausgelöst wurde, die den Lauf der Zeit durchbrechen und einen Bruch mit der Geschichte der Herrschenden markieren wollte.

Die Revolution im Museum Die Russische Revolution, während der orthodoxe Kirchen und zaristische Paläste genauso systematisch wie im Frankreich der 1790er-Jahre zerstört wurden, entwickelte eine interessante Theorie über ihren eigenen Ikonoklasmus. Die Gelegenheit dazu ergab sich 1924, als das sowjetische Regime beschloss, die Peter-und-Paul-Festung in Leningrad – das frühere Sankt Petersburg, das auf den Namen des Führers der Oktoberrevolution umgetauft worden war – in ein Revolutionsmuseum umzuwandeln. Dieses Gebäude war die Grabstätte der Kaiserfamilie gewesen, bevor es ein zaristisches Gefängnis wurde. Nach 1917 war es nacheinander ein Gefängnis für gegenrevolutionäre Offiziere, ein Lokal der bolschewistischen Partei und zuletzt der Sitz einer Garnison. Die Umwandlung eines so geschichtsträchtigen Ortes warf zwangsläufig die Frage nach dem Verhältnis der Revolution zur russischen Vergangenheit auf – zu einem Zeitpunkt, als die alte Hauptstadt in Leningrad umbenannt wurde, als die Leiche des soeben nach einer langen Krankheit verstorbenen charismatischen Führers von Oktober 1917 in einem Mausoleum in Moskau einbalsamiert wurde und 252

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als Leo Trotzki, der Oberkommandant der Roten Armee, von der Macht verdrängt wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurde die eruptive Temporalität der revolutionären Ereignisse (der Einschnitt des Oktobers und der Bürgerkrieg) durch die stabilisierende des Regimes (des Stalinismus) abgelöst. Man könnte darin mit Trotzki die Züge eines sowjetischen Thermidors sehen. Aber bei dieser Übergangsphase ging es nicht nur um eine Frage der Politik, sondern auch um eine des Gedächtnisses. Für viele war der Übergang von einer Temporalität zur anderen nicht selbstverständlich und implizierte eine veränderte Einstellung der Revolution zur Vergangenheit. Für die russischen Avantgarden, besonders die Futuristen und Suprematisten, widersprach das Wesen des revolutionären Geistes den Museen. Die Revolution sollte keine Museen gründen, sondern sie eher zerstören. Die Museen bewahren, was tot ist, während die Revolution mit der Vergangenheit brechen und die Menschen in die Zukunft projizieren wollte; man musste die Dynamik weiterführen und nicht den Rückzug antreten. Es gab leidenschaftliche Diskussionen und der Übergang verlief nicht ohne Spannungen. Einerseits waren die Grundlagen des sowjetischen Regimes durch die Revolution selbst gelegt worden – das Einparteiensystem war unter Lenin und Trotzki eingeführt worden – und andererseits hielt ihr Geist bis ans Ende der 1920er-Jahre an. Petr Stolpianski, der erste Kommissar des Museums, wollte keine lineare Geschichte der Revolution erzählen, sondern eher ihre Botschaft übermitteln, indem er den Besucher mit einer Folge von „dialektischen“ Bildern konfrontierte, die nach der Sergei Eisenstein entlehnten Montagetechnik arrangiert wurden. Auch wenn der Bau des Lenin-Mausoleums auf dem Roten Platz zweifellos den Beginn einer für die Totalitarismen typischen Sakralisierung der Macht bedeutete, sollte man nicht das Ausmaß der Debatte unterschätzen, die der Mumifizierung des bolschewistischen Führers vorausging. Trotzki und Nikolai Bucharin missbilligten diese Entscheidung, die ihn in eine „Reliquie“ und einen religiösen Kultgegenstand verwandelte. Leonid Krassin hingegen sah im Sozialismus die Verwirklichung eines prometheischen Traums der Unsterblichkeit. Von der Lehre des russischen Philosophen Nikolai Fjodorow geprägt, hatte er sich zum Ziel gesetzt, den Tod zu besiegen und die Auferstehung der Toten zu gewährleisten: Dem Sozialismus sei dies dank der Wissenschaft gelungen. Der Ikonenkult – Anatoli Lunatscharski, Pjotr Bogdanow und Krassin betrachteten den Kommunismus als eine neue Religion – verband sich mit dem durch den utopischen Elan der 253

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Revolution inspirierten Futurismus. 1927, anlässlich des zehnten Jahrestags der Sowjetmacht, übernahm es Eisenstein, eine Synthese zwischen dem Ikonoklasmus und dem Gedächtnis der Revolution, zwischen ihrer Bedeutung als historischer Zäsur und ihrer Erfindung einer neuen Tradition herzustellen. Der Oktober begann mit der Demolierung der Statue des Zaren im Februar 1917 und endete mit dem Sturm auf den Winterpalast im Oktober. In beiden Sequenzen war der Akteur die aufständische Masse. Indem sie sich im kollektiven Unterbewusstsein von mindestens zwei Generationen ablagert hatten, haben gerade diese Bilder aus der Revolution einen Erinnerungsort gemacht. In anderen Revolutionen begegnen wir der gleichen Zerstörungswut. Als er im Dezember 1936 in Barcelona ankam, beobachtete George Orwell in mehreren Vierteln Arbeitergruppen, die systematisch die Kirchen demolierten. Im Oktober 1956 haben die ungarischen Aufständischen die Stalin-Statue im Budapester Park zerstört. 43 Jahre später wurde die Berliner Mauer niedergerissen. Aber die Revolutionen von 1989 wollten nicht, wie wir gesehen haben, eine neue Ordnung errichten. In Berlin wurde der einhellig als scheußlich kritisierte Palast der Republik demoliert, um das alte Hohenzollernschloss wiederherzustellen. Nicht weit davon, nahe dem Nikolaiviertel, überlebte eine Statue von Marx und Engels, auf deren Sockel jemand ein Graffiti angebracht hatte: „Wir sind unschuldig.“

Symbole Die Umwandlung eines Ereignisses in ein Symbol vollzieht sich in mehreren Etappen, die seinen Sinn abändern und dann festlegen können. Trotz ihres proklamierten Universalismus und ihrer globalen Dimension werden die Revolutionen Bestandteil des nationalen Erbes. Wenn der 14. Juli mit Sicherheit ein revolutionäres Ereignis war, so ist er in den Augen der Welt zuallererst ein französischer Nationalfeiertag geworden. Eine ähnliche Verwandlung hat die Pariser Kommune nicht erfahren, die weiterhin in der kollektiven Imagination weit über die französischen Grenzen hinaus die Revolution symbolisiert. Ihr Gedächtnis widersteht in bemerkenswerter Weise jeder Form von Institutionalisierung oder semantischer Neuinterpretation: Niemand könnte sich eine Militärparade zum Gedenken an die Pariser Kommune vorstellen. Gewisse, wenn auch kurzlebige und vergängliche Praktiken und Gegenstände, die der Revolution 254

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als einer transhistorischen und transnationalen Erfahrung gedenken, werden manchmal Rituale. Europa ist deren Wiege gewesen und bewahrt heute ihr Gedächtnis. Einige Symbole – die Barrikade, die rote Fahne, die Lieder – sind in dieser Hinsicht besonders signifikant. Die Anfänge der Barrikade sind nicht genau bekannt, aber das kollektive Gedächtnis verbindet sie besonders mit den Revolutionen von 1830 und 1848 und mit der Pariser Kommune. Im Lauf des 20. Jahrhunderts taucht sie nur mehr sporadisch auf – in Berlin im Januar 1919, in Barcelona zwischen 1936 und 1937, schließlich in Paris im Mai 1968 – und ihr Charakter hat sich verändert, da sie nunmehr nur noch eine symbolische Funktion hat. Die Barrikade hat wegen ihres anonymen und spektakulären Charakters die Menschen beeindruckt und sich dauerhaft im Kollektivgedächtnis festgesetzt. Sie hat keine Initiatoren. Es handelt sich um eine spontane Erfindung der Massen, die im Ernstfall eine Fähigkeit zur Selbstorganisation beweisen, die Beobachter wie Alexis de Tocqueville, die sie als naturgegeben fügsam ansahen, sehr überraschte. Die Barrikade erregt Aufsehen, weil sie die Stadt lahmlegt und die Stadtlandschaft neu modelliert. Es sind die unteren Klassen, die durch einen plötzlichen Umsturz der sozialen Hierarchie den städtischen Raum reorganisieren. Aber die Barrikade ist nicht auf die strikt soziologischen Antagonismen beschränkt und nimmt einen authentischen Volkscharakter an. Neben den Arbeitern findet man auf ihr Frauen und Kinder sowie andere soziale Gruppen, von den Studenten bis zu den Künstlern. Sie hat eine doppelte, sowohl praktische als auch symbolische Funktion. Sie verleiht der Revolte eine Form, indem sie die Aufständischen schützt, die Viertel blockiert, den Einsatz der repressiven Kräfte neutralisiert, Kräfteverhältnisse durchsetzt, und sie formt die revolutionäre Masse, indem sie sie zusammenschweißt. Als Ort der Aktion schafft sie eine gefühlsmäßig starke Verbundenheit, die ihr eigen ist und die sehr schnell vom Fest – die umgestülpte Welt – zum Opfer während des Kampfes übergehen kann: Der Tod auf der Barrikade wird sakral aufgeladen, vergleichbar dem Tod auf dem Feld der Ehre in der patriotischen Erzählung. Deshalb hat sie trotz oder vielleicht wegen ihres ephemeren Charakters eine dauerhafte Bildtradition hervorgebracht, von der Malerei zur Fotografie und zum Film. Anders als die Barrikade, deren Anfänge sie teilt, war die rote Fahne im 20. Jahrhundert weiterhin aktuell. Zwischen 1848 und dem Kalten Krieg erfüllt sie radikal entgegengesetzte symbolische Funktionen: Für die Konservativen ist sie gleichbedeutend 255

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mit dem Blut und dem Hass, die die Bolschewiki mit ihrem Messer zwischen den Zähnen verbreiten; für die linken Bewegungen gleichbedeutend mit dem Kampf um eine egalitäre Gesellschaft.

Tongedächtnisse Das revolutionäre Gedächtnis besitzt auch eine musikalische Dimension. Es wird durch Lieder überliefert, die entstanden sind, um zum Kampf aufzurufen, und dann zu Identitätsmerkmalen werden, selbst wenn sie ihre Bedeutung verändern. Das weltweit bekannteste Beispiel ist die Marseillaise. Diese zugleich revolutionäre und patriotische Hymne, die von Claude Joseph Rouget de Lisle in der Nacht vom 25. auf 26. April 1792, am Tag nach der Kriegserklärung, zuerst unter dem Titel Kriegs­ gesang für die Rheinarmee vertont wurde, erfreute sich sofort einer großen Beliebtheit. Nachdem sie unter der Restauration verboten worden war, erlebte sie 1848, dann unter der Pariser Kommune ihr großes Comeback. Sie begleitete noch die Russische Revolution von 1917, aber in der sozialistischen Version von Pjotr Lawrow – einem russischen anarchistischen Philosophen, der an der Pariser Kommune teilgenommen hatte –, in der das Vaterland zugunsten des „arbeitenden Volks“ und des „hungernden Volks“ eliminiert wurde. Als Lenin im April 1917 aus seinem Schweizer Exil nach Russland zurückkam, wurde er von einem Orchester empfangen, das zuerst die Marseillaise und dann die Internationale spielte. Die beiden Hymnen koexistierten während der Revolution und den ersten Jahren der Sowjetmacht, die sich schließlich zu Beginn der 1920er-Jahre für die zweite entschied. Der Dichter Eugène Pottier schrieb in seinem Pariser Versteck im Juni 1871, kurz nach der Blutwoche, während der er mit der Kommune gekämpft hatte, den Text der Internationale. Aber sie fand erst rund 20 Jahre später eine größere Verbreitung, als ihr der flämische Komponist Pierre Degeyter eine neue musikalische Form und ein Pathos gab, das der Text allein nicht erreichen konnte. Sie wurde daraufhin auf den Kongressen der Sozialistischen Internationale und auf anarchistischen Demonstrationen gesungen, bevor sie die offizielle Hymne der Kommunistischen Internationale wurde. Dieses Lied, das sehr stark messianisch konnotiert ist – „Auf zum letzten Gefecht!“, „Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein, 256

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tragt es nicht länger, Alles zu werden, strömt zuhauf!“, „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!“ –, feiert den Kampf als Akt der Emanzipation, ja der Erlösung, in einem beinahe religiösen Sinn und gibt der Utopie, von der die sozialistische Kultur im 19. und 20. Jahrhundert durchdrungen war, eine lyrische Form. Seine Ritualisierung bei den Demonstrationen der Arbeiterbewegung – das Absingen der Inter­ nationale bleibt vom Demonstrationszug bis zum Parteikongress ein wesentlicher Bestandteil der kommunistischen Liturgie – macht aus ihm einen Erinnerungsort, der im Gegensatz zu anderen Symbolen der Enttäuschung über die Institutionalisierung und die Bürokratisierung nicht zum Opfer fiel. Während der 1960er- und 1970er-Jahre ertönte die Internationale im strengen Dekor der kommunistischen Regime, aber auch bei den Demonstrationen der revoltierenden Jugend der westlichen Welt.

Sublimierte Erinnerungen Die Erinnerung an die Revolution wird auch durch Bilder und Texte wachgehalten. Einige Bilder, Fotos oder Filme haben eine metaphorische Dimension erreicht, die sie zu zeitlosen Darstellungen macht, die ihren Entstehungskontext transzendieren, ohne ihn unbedingt auszublenden. Dies trifft auf ein Gemälde wie Die Freiheit führt das Volk von Eugène Delacroix oder auf eine Lithografie wie Schlagt die Weißen mit dem roten Keil (1919) des sowjetischen Suprematisten El Lissitzky zu. Das Gemälde von Delacroix hat eine starke nationale Konnotation, da die Barrikade in ihrem Zentrum eine blau-weiß-rote Fahne ausbreitet und die majestätische Frau, die die Freiheit verkörpert, eine Jakobinermütze trägt. Es komprimiert bereits die ganze Ambivalenz des französischen Republikanismus, der zugleich universalistisch und chauvinistisch ist. Das Plakat von El Lissitzky besteht aus symbolischen Abstraktionen, wobei die Konfrontation der Formen (Dreieck und Kreis) und der Farben (Weiß und Rot) über die russischen Grenzen hinaus den gewaltsamen Antagonismus zwischen Revolution und Konterrevolution sublimiert. Dies gilt auch für die Filme Eisensteins – vom Panzerkreuzer Potemkin (1925) bis Oktober (1927) –, die auf die Ereignisse von 1905 und 1917 zurückkommen und das Wesen der Revolution selbst herausarbeiten: der höchst dramatische Augenblick, während dessen sich die unteren Klassen als historisches Subjekt konstituieren und ihr Schicksal in die Hand 257

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nehmen. Man könnte dieser Galerie ein Gemälde wie Konstantin Juons Der neue Planet (1921) hinzufügen, in dem die Revolution wie eine Art neuer Big Bang dargestellt ist, oder Wladimir Tatlins Entwurf eines Monuments für die Dritte Internationale (1920). Mit seiner sich um sich selbst drehenden Spirale – wie ein moderner Turm von Babel – und seinem funktionalen Konzept  –  es sollte eine Zeitung, ein Radio, einen Telegrafen und einen Konferenzraum beherbergen – bildete es konkret die Synthese zwischen Ästhetik und Politik ab, wobei es zugleich die Revolution als Eroberung des Himmels symbolisch darstellte. Das Gedächtnis der Revolution ist schließlich auch in autobiografischen oder romanhaften Erzählungen aufbewahrt, die in der Hitze des Gefechts oder in der retrospektiven Reflexion verfasst worden sind. Sie sind zwangsläufig von den oben erwähnten Konzeptualisierungen verschieden, auch wenn sie zu diesen beitragen können. Dazu gehören die Zeugnisse des Pariser Aufstands vom Juni 1848, von beiden Seiten der Barrikaden aus kommentiert von de Tocqueville und François Pardigon, später erzählt von Gustave Flaubert in der Erziehung des Herzens. Dazu gehören auch die vielen literarischen Berichte über die Pariser Kommune, deren bekanntester wohl bis heute Die Revolte von Jules Vallès ist. Dazu gehört schließlich John Reeds Reportage Zehn Tage, die die Welt erschütterten über die Russische Revolution, aber auch Mein Katalonien von George Orwell. Auf den ersten Seiten dieses Buchs entwirft er ein außerordentliches Bild von Barcelona im Jahr 1936, einer Stadt, in der die sozialen Hierarchien durch einen allgemeinen Egalitarismus ersetzt und die alten Herrschaftsformen abgeschafft worden sind – von der Art, sich zu kleiden, bis zum Wortschatz des Alltagslebens. Alle diese Veränderungen, schreibt Orwell, vollziehen sich in einem überreizten Klima, das das Stadtbild verklärt und ihm einen „seltsamen und ergreifenden“ Charakter verleiht.

Niederlagen und Trauer Wie immer man sie betrachtet – plötzlicher Bruch oder über einen Zeitraum sich erstreckender Prozess –, sind die Revolutionen nicht nur intensive und begeisternde Momente; in den meisten Fällen enden sie mit einer Niederlage. Ihr Gedächtnis ist von Trauer umflort. Wie im Fall der Kriege ist es das Gedenken an die gefallenen Kämpfer und die Sakralisierung der Märtyrer, die die Erinnerung am Leben erhalten. Im Unterschied 258

DAS WECHSELNDE SCHICKSAL DER REVOLUTION

zu den Kriegen handelt es sich bei den Revolutionen jedoch nicht immer um ein offizielles Gedenken, das in den Marmor der Denkmäler eingeschrieben ist. Viel öfter hat es die Form eines versteckten oder verbotenen marranischen Gedenkens, das als Gegengedächtnis zu den Erzählungen der Macht mobilisiert wird. Die Mausoleen von Lenin und Mao Zedong sind in dieser Hinsicht ebenso imposante wie täuschende Ausnahmen. Seit der Blutwoche vom Mai 1871 wurden jedes Jahr heimlich und anonym Blumen an der Mauer der Föderierten im Père-LachaiseFriedhof in Paris niedergelegt. Das erste öffentliche Gedenken fand 1878 in Form eines von L’Égalité, der Zeitung von Jules Guesde, organisierten brüderlichen Banketts statt, bevor es nach der Amnestie der Kommunarden im Jahr 1880 zu einer Tradition wurde. Mächtige Demonstrationen fanden 1936 während der Volksfront statt, dann 1971 anlässlich des 100. Jahrestags der Kommune. Diese revolutionäre Liturgie hat in einer säkularen Form dieselbe Funktion wie die von Ernst Kantorowicz hinsichtlich der mittelalterlichen Begräbnisrituale analysierten „zwei Körper des Königs“: Das Gedenken an die im Kampf gefallenen Genossen dient dazu, die Unsterblichkeit ihres Ideals zu bekräftigen, das durch die roten Fahnen derer, die ihnen huldigen, symbolisiert wird. Das Gedenken an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Friedhof Friedrichsfelde in Berlin zeigt jedoch, dass der politische Sinn des Rituals variieren kann: oppositionelle kommunistische Kundgebung in der Republik von Weimar, verboten im „Dritten Reich“, offiziell zur Zeit der DDR und von Neuem „widerständig“ nach der deutschen Wiedervereinigung. Die revolutionäre Trauer wurde von den Künstlern auf klassische Weise dargestellt wie im Gedenkblatt für Karl Liebknecht (1920), einem Holzschnitt von Käthe Kollwitz. Man sieht die Trauer einer kleinen Schar Proletarier, die um die Leiche des Führers des Spartakusaufstands versammelt ist, der nach dem Modell von Andrea Mantegnas Beweinung des toten Christus (um 1480) auf einem Tisch ausgestreckt liegt. Letztlich hat das Kino die Trauer besiegter Revolutionen in Bildern ausgedrückt. In Der Blick des Odysseus (1995) hat Theo Angelopoulos eine großartige Sequenz der Fahrt eines Schiffs auf der Donau gewidmet, das verschiedene Trümmer einer in Brüche gegangenen Lenin-Statue transportiert, die am Ufer von einer trauernden Menschenmenge gewürdigt wird. Sie ist stumm und ohne rote Fahne, Zeichen eines Bruchs im Ablauf der revolutionären Liturgie, die nunmehr ihres utopischen Elans beraubt ist. Die elegische 259

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und traurige Musik von Eleni Karaindrou verleiht dieser Sequenz eine Grabesstimmung. Die rote Farbe kommt hingegen in Land and Freedom (1995) von Ken Loach in Form eines roten Halstuchs zurück, das – wie eine Reliquie – eine Handvoll spanischer Erde enthält, die neben alten Zeitungen von einem ehemaligen Kämpfer der Internationalen Brigaden aufbewahrt wird. Ein gefühlvolles, privates, intimes Archiv, das der Film von Ken Loach in einen Erinnerungsort der Revolutionen des 20. Jahrhunderts umgewandelt hat.

Literatur Daniel BENSAÏD, Moi, la Révolution. Remembrances d’un bicentenaire indigne, Paris 1989. François FURET, 1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, aus dem Französischen von Tamara Schoenbaum-Holtermann, Frankfurt a. M. u. a. 1980. Alain GUERY, Révolution: Un concept et son destin, in: Le Débat, Nr. 57 (1989), S. 106–128. Georges HAUPT, La Commune comme symbole et comme exemple, in: L’Historien et le mouvement social, Paris 1980, S. 45–76. Steven KAPLAN, Adieu 89, Paris 1993. Reinhard KOSELLEK, Critères historiques du concept de „révolution“ des temps modernes, in: Le Futur passé. Contribution à la sémantique des temps historiques, Paris 1990, S. 63–80. Arno MAYER, The Furies. Violence and Terror in the French and Russian Revolutions, Princeton 2002. George L. MOSSE, The Fascist Revolution. Toward a General Theory of Fascism, New York 1999. George ORWELL, Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg, aus dem Englischen von Wolfgang Rieger, Zürich 2003 [1938]. John REED, Zehn Tage, die die Welt erschütterten, aus dem Englischen von Willi Schulz, Essen 2011 [1919]. Kristin ROSS, Communal Luxury. The Political Imaginery of the Paris Commune, London 2015. Leo TROTZKI, Geschichte der russischen Revolution, aus dem Russischen von Alexandra Ramm, 2 Bde., Essen 2012 [1932].

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Die Kalaschnikow, eine Kriegsikone Die Kalaschnikow, die von einem Russen entwickelt wurde und ab 1947 in der sowjetischen Armee zum Einsatz kam, wurde rasch zur Ikone der Weltrevolution, bevor sie zur Ikone des heu­ tigen Terrorismus wurde.

Skulptur Ernesto „Che“ Guevaras mit der „AK“ in Santa Clara, Kuba.

CHRISTIAN TH. MÜLLER

Weltweit hat wohl kaum eine Infanteriewaffe einen derart legendären Ruf wie „die Kalaschnikow“. Der nach seinem Konstrukteur Michail Timofejewitsch Kalaschnikow (1919–2013) benannte Maschinenkarabiner AK-47 (Автомат Калашникова образца 47) bildete den Ausgangspunkt für eine ganze Familie automatischer Infanteriewaffen, die umgangssprachlich als „Kalaschnikow“ bezeichnet werden – seien es sowjetische Originale aus Ischewsk im Ural, Lizenzproduktionen aus den Staaten des Warschauer Paktes oder illegale Nachbauten aus pakistanischen Dorfschmieden. Die Kalaschnikow ist auch gut 70 Jahre nach ihrer Einführung bei den sowjetischen Streitkräften aus dem weltweiten Gewaltgeschehen nicht wegzudenken. Mit bis zu über 100 Millionen Exemplaren, verwendet in über 60 Armeen der Welt, ist sie längst zum Synonym für Kleinwaffen geworden, mit denen Jahr für Jahr Hunderttausende Menschen getötet werden. In den seit 1945 geführten „kleinen“ Kriegen ist die Kalaschnikow somit gleichsam zu einer kumulativen Massenvernichtungswaffe geworden. Wie eine Legende mutet bereits ihre Entstehungsgeschichte an. Nach einer Verwundung im Herbst 1941 beschloss Kalaschnikow, eine automatische Infanteriewaffe für die Rote Armee zu entwickeln. Als talentierter Autodidakt schuf er in jahrelanger Arbeit einen Prototyp. Diesen stellte er 1946 unter der Chiffre „Michtim“ – als Abkürzung seiner Vornamen – bei einem Waffenwettbewerb vor. Nach eingehender Überprüfung, bei der die Gewehre unter anderem in Schlamm versenkt, durch Sand gezogen oder aus mehreren Metern Höhe auf Beton fallen gelassen wurden, erwies sich „Michtim“ immer noch als voll funktionsfähig. Entscheidend für diese hohe Zuverlässigkeit ist jedoch nicht die eigentliche Funktionsweise des Gasdruckladers, sondern die übersichtlich gehaltene Konstruktion und ein Montageprinzip, bei dem die Verschlussteile nur punktuell am Gehäuse anliegen.

Erfolgreiches Exportprodukt 1947 als AK-47 in der Sowjetarmee eingeführt, entwickelten sich die Kalaschnikows ab Ende der 1950er-Jahre zum militärischen Exportschlager der Sowjetunion. Fortan prägten sie das Erscheinungsbild der Armeen des Warschauer Vertrages entscheidend mit und wurden in fast allen Staaten des sozialistischen Lagers in Lizenz produziert. Obschon 262

DIE KALASCHNIKOW, EINE KRIEGSIKONE

das AK-47 bereits 1956 bei der Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn seinen ersten Einsatz erlebt hatte, fand seine eigentliche Bewährungsprobe erst beinahe zehn Jahre später in Vietnam statt. Hier begründete die Kalaschnikow ihren Ruf als unverwüstliche, einfach zu handhabende und stets zuverlässige Infanteriewaffe mit hoher Feuerkraft. Mit dem Vietnamkrieg begann auch die symbolische Aufladung der Kalaschnikow, die nun – mit ihrem charakteristisch bananenförmig gebogenen Magazin – neben Ernesto „Che“ Guevara oder der Keffiah, dem „Palästinensertuch“, zu einer weiteren Ikone von Weltrevolution und nationalem Befreiungskampf aufstieg. So wurde „Kalaschnikow“ zum weltweiten Synonym für Kleinwaffen und gehört – ähnlich wie Coca-Cola – zu den wenigen Worten, die in allen Sprachen verstanden werden.

Von Che Guevara zur Hisbollah Ihre symbolische Bedeutung stellt sich allerdings weniger eindeutig dar und hat sich mehrfach gewandelt. Von ihrem Konstrukteur zur Verteidigung der Sowjetunion entwickelt, feierte man seine Waffe in der offiziellen Propaganda mit Gedichten, während im Witz „Mütterchen und die Kalaschnikow“ die realsozialistische Mangelwirtschaft aufs Korn genommen wurde: Am Ende gibt es statt des gewünschten Staubsaugers immer nur eine Kalaschnikow. Seit den 1960er-Jahren wurde das Gewehr dann weltweit zum Symbol für die von der Sowjetunion unterstützten nationalen Befreiungsbewegungen und Revolutionäre: Es findet sich in der Fahne von Mosambik ebenso wieder wie beim Denkmal für die sandinistische Revolution in Managua. Aus westlicher, vor allem amerikanischer Perspektive wurde sie deshalb oft als die Waffe der bad guys angesehen. Tatsächlich ist sie bis heute als Gewehr die erste Wahl des internationalen Terrorismus. So wurde die Kalaschnikow zu einem festen Bestandteil der Selbstinszenierung islamistischer Terrorgruppen. Die Hisbollah nahm eine stilisierte Kalaschnikow 1982 sogar in ihre Flagge auf. Vor allem in Afrika und im Nahen Osten spielte die Kalaschnikow jedoch mehr als eine nur symbolische Rolle, da in den zahlreichen Konflikten gern die preiswerten und leicht bedienbaren Gewehre eingesetzt werden. Zugleich bilden die Waffen die Basis von Bürgerkriegsökonomien, in denen sie nicht nur das wesentliche „Arbeitsmittel“ für die 263

CHRISTIAN TH. MÜLLER

„Erwerbszweige“ Krieg und Kriminalität, sondern auch einen wichtigen Handelsgegenstand darstellen. Bildhaften Ausdruck findet diese „Kalaschnikow-Kultur“ in jenen afghanischen Teppichen, in denen sich die jahrzehntelangen Erfahrungen von Krieg und Bürgerkrieg widerspiegeln. Gut 70 Jahre nach ihrer Einführung ist die Kalaschnikow immer noch die bekannteste und meistproduzierte Handfeuerwaffe der Welt. Von einer Ikone für soziale Revolution und nationale Befreiung ist sie längst zum weltweiten Erinnerungsort für Terror, willkürliche Gewalt und gesellschaftliche Desintegration geworden.

Literatur Larry KAHANER, AK-47. The Weapon That Changed the Face of War, Hoboken 2007. Mikhaïl KALACHNIKOV mit Elena JOLY, Ma vie en rafales, Paris 2003. Christian Th. MÜLLER, Die Kalaschnikow – Geschichte und Symbolik, in: Zeithistorische Forschungen, 5 (2008), Nr. 1, S. 151–159.

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PAP NDIAYE

Drei Afrikaner und Europa Der Senegalese Léopold Sédar Senghor, Mitglied der Académie française, der Kongolese und Revolutionär Patrice Lumumba sowie der Unabhängigkeitskämpfer Amílcar Cabral aus Guinea-Bissau haben sich intensiv mit Europa und seinem intellektuellen wie politischen Leben befasst, sich dabei aber stets energisch der Kolonialherrschaft widersetzt. Ihre höchst unterschiedlichen Schicksale inspirieren gegensätzliche Erinnerungen an die afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen.

Der senegalesische Dichter, Politiker und Staatspräsident Léopold Sédar Senghor um das Jahr 1958.

PAP NDIAYE

Zeitgenössische Historiker betrachten die Nationalgeschichten der Länder Europas nicht mehr losgelöst vom Rest der Welt. In Frankreich hat die klassische Unterscheidung in „Nationalgeschichte“ und „Kolonialgeschichte“ ihre Trennschärfe verloren, so untrennbar sind beide miteinander verwoben. Zahlreiche Untersuchungen sind zur Einteilung der Welt nach Rassekategorien durch die Europäer seit Ende des 17. Jahrhunderts erschienen, auch zur europäischen Präsenz in Afrika, zu den Prozessen von Widerstand und Anpassung zwischen Kolonialisten und Kolonisierten sowie zum Blick der Europäer auf Afrika. Weniger Studien gibt es allerdings zur Geschichte der afrikanischen Präsenz in Europa. Dabei hat sich diese im 20. Jahrhundert seit dem Ende des Ersten Weltkriegs verstärkt. Dieser hatte ja dazu geführt, dass Hunderttausende Soldaten und Arbeiter aus Afrika (einschließlich Nordafrika) sich in Frankreich aufhielten. Ein geringer Teil von ihnen blieb nach dem Waffenstillstand im Land. Neben der Arbeitsmigration, die nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich anstieg, kamen Tausende Afrikaner zum Studium und aus politischen Gründen nach Europa. Stipendien ermöglichten sorgsam ausgewählten afrikanischen Studierenden eine Ausbildung in europäischen Schulen und Hochschulen. Dies gilt auch für zwei der großen politischen Persönlichkeiten, deren europäischen Lebensweg wir hier nachzeichnen wollen, nämlich für den Senegalesen Léopold Sédar Senghor und Amílcar Cabral von den Kapverdischen Inseln. Die dritte Persönlichkeit, der Kongolese Patrice Lumumba, kam erst später in Kontakt mit Europa, entwickelte aber auch bedeutsame Verbindungen. Wer den politischen Weg dieser drei Afrikaner verstehen will, muss sich mit dem europäischen Aspekt ihres Lebens befassen und den Spuren nachgehen, die sie in Europa hinterlassen haben und mit denen sie zur Afrikanisierung des europäischen Kontinents beigetragen haben.

Die intellektuellen Biografien von Senghor und Cabral Senghor kam 1906 in der senegalesischen Ortschaft Joal zur Welt. Seine Familie gehörte der Volksgruppe der Serer an und war christlich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Franzosen in Zentral- und Westafrika fest etabliert. Ab 1895 bestimmte die Schaffung von Französisch-Westafrika, bestehend aus den Kolonien Senegal, Französi266

DREI AFRIKANER UND EUROPA

scher Sudan, Guinea und Elfenbeinküste (zu denen bald der Niger, Mauretanien, Dahomey, dann auch Obervolta und Togo hinzukamen), die regionale Struktur des französischen Kolonialreichs. Dieses besaß ab 1902 auch eine neue Hauptstadt, nämlich Dakar: Dort, etwa 100 Kilometer nördlich von Joal, befand sich die Residenz des Generalgouverneurs. Senghor absolvierte die klassische Laufbahn der guten Schüler der Region: Grundschule am Ort, dann die Sekundarstufe I bei den Spiritanern in Dakar (in der Seminarschule François Libermann). Nach dem Abitur erhielt der junge Mann auf Empfehlung seiner Lehrer ein Stipendium, mit dem er in Paris studieren konnte. Dort ließ er sich 1928 nieder, um sich bis 1945 fast ständig dort aufzuhalten. Der junge Senegalese besuchte vorübergehend Vorlesungen an der Sorbonne, trat dann aber in die Vorbereitungsklassen („hypokhâgne“ und „khâgne“) am Louis-le-Grand-Gymnasium über. 1935 schloss er sein Studium im zweiten Versuch erfolgreich mit der Agrégation in Grammatik ab. Er war damit der erste Afrikaner, der diesen Grad erreichte. Amílcar Cabral wurde 1924 in Guinea-Bissau geboren, einer portugiesischen Kolonie südlich des Senegals. Seine Eltern kamen von den Kapverdischen Inseln. Kap Verde beziehungsweise Cabo Verde und Guinea-Bissau bildeten mit Angola und Mosambik den afrikanischen Teil des portugiesischen Kolonialreichs. Dieses war bereits im Niedergang begriffen und verfügte nicht über die gleichen Ressourcen wie Franzosen und Briten. Wie Senghor, so absolvierte auch Cabral seine Sekundarstufenausbildung vor Ort, genauer gesagt in Kap Verde, wohin seine Eltern zurückgekehrt waren. 1945 begann er sein Studium der Landwirtschaft in Lissabon, wo er bis 1952 blieb. Die Dürrekatastrophe auf den Kapverdischen Inseln in den 1940er-Jahren forderte Zehntausende Tote und brachte ihn zum Entschluss, Agronom zu werden. Die Kolonialherren waren ebenfalls eher dafür, dass die Studierenden aus den Kolonien sich praktisch anwendbaren Fächern wie Agronomie, Medizin, Veterinärmedizin und Ingenieurwissenschaften widmeten. Dahinter stand die Absicht, die betreffenden Regionen zu entwickeln und zugleich die politischen Einflüsse von potenziell eher aufrührerischen Fächern zu vermeiden. Trotzdem war in den 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahren das Milieu der jungen afrikanischen Intellektuellen in Lissabon ebenso wie in Paris, London und Brüssel hochpolitisiert. 267

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„Dazu stehen, was wir sind“ Diese neue Generation von in Frankreich, Großbritannien, Belgien und Portugal lebenden Afrikanern stand in Verbindung mit dem politischen, gewerkschaftlichen und vereinsmäßigen Leben der jeweiligen Mutterländer. Senghor stand der sozialistischen Partei nahe, der SFIO (Section française de l’Internationale ouvrière) und teilte die Ängste der Linken hinsichtlich des Aufstiegs faschistischer Regime in Europa. Der Einfall der Truppen Benito Mussolinis in Äthiopien sowie koloniale Fragen generell trugen im Rahmen panafrikanischer Solidarität – und darüber hinaus in solidarischer Verbindung mit den kolonialisierten Völkern ­Asiens und verfolgten Minderheiten wie den Juden – zu seiner Politisierung bei. In seinen Chants d’ombre („Schattengesänge“) finden sich zahlreiche Verweise auf die Politik. Sie stehen in aller Regel in Verbindung mit den afrikanischen Wurzeln und gestatten es, die Situation des Beherrschtwerdens besser zu verstehen, unabhängig davon, ob es um das französische, ein anderes Kolonialreich oder aber die Vereinigten Staaten mit dem Aufruhr in Harlem (1935) ging. Zugleich setzte bei Senghor die Reflexion über den „Farbigen“ ein, über die Négritude – nach dem Neologismus, den Aimé Césaire, sein Schulfreund aus dem Louis-le-Grand-Gymnasium, geprägt hatte. Dieser bezeichnete zunächst eine Bewegung, die sich für die Wertschätzung einer gemeinhin verachteten oder vernachlässigten Identität einsetzte. Damit war diejenige der afrikanisch-frankokaribischen Kulturen gemeint, deren Authentizität und essenzielle Attraktivität wiederhergestellt werden sollten. Diese jungen Afrikaner studierten an den angesehensten Pariser Bildungseinrichtungen (wie die Vorbereitungsklassen auf die Grandes Écoles, die École normale supérieure, die Sorbonne, das Ethnologische Institut) und erwarben dort als geistiges Rüstzeug eine klassisch französische Bildung, sie verbrachten aber auch viel Zeit miteinander, hörten Vorträge über schwarze Kultur und die Geschichte des vorkolonialen Afrika. Sie sangen das Lob der Welt der Schwarzen mit ihren spezifischen Vorzügen und widersetzten sich damit den Assimilationstheorien, die die „höher entwickelten“ Schwarzen zum Vergessen ihrer Herkunftskulturen zu bringen suchten, als ob diese ein Hindernis für die Zivilisation darstellten. Für Césaire war die Négritude Widerstand gegen Assimilation und Entfremdung. Sie war eine Art, seine schwarze 268

DREI AFRIKANER UND EUROPA

Identität mit Stolz zu denken, sie von den biologisch und kulturell rassistischen Urteilen loszulösen. Eine Quelle der Inspiration waren dabei die panafrikanischen Aufsätze von Jane Nardal und Paulette Nardal in der Dépêche africaine und mehr noch in der allerdings kurzlebigen Revue du monde noir. Sie betonten die kulturelle Spezifizität und Schönheit der afrikanischen Zivilisationen. Es ging weniger darum, zu den früheren Kulturen zurückzukehren, als darum, das kulturelle Afrikanertum in die Moderne und in einen universalistischen Humanismus einzubringen. Bei Senghor liest sich das so: „Wie einige andere afrikanische Studierende auch waren wir damals [zwischen 1932 und 1935] von einer Art panischer Angst ergriffen. Unser Horizont war versperrt. Es gab keine Aussicht auf Reform und die Kolonialherren rechtfertigten unsere politische und wirtschaftliche Abhängigkeit mit der Tabula-rasaTheorie … Um eine wirksame Revolution durchzuführen, mussten wir erst unsere geliehene Kleidung, die der Assimilation, ablegen und selbstbewusst zu dem stehen, was wir waren, unser eigenes Sein bekräftigen, nämlich unsere Négritude.“

Das Zentrum für Afrikastudien Wie Senghor zehn Jahre vor ihm erweiterte auch Cabral seinen geistigen und politischen Horizont dadurch, dass er sich in Europa niederließ und dort die Personen traf, die später zu den Vorkämpfern der Entkolonialisierung im Portugiesisch sprechenden Afrika werden sollten. Zu ihnen zählte der Angolaner Mário Pinto de Andrade, der künftige Vorsitzende der MPLA, der Angolesischen Volksbefreiungsbewegung, aber auch Vasco Cabral aus Guinea-Bissau, der spätere Minister und Vizepräsident seines Landes, sowie António Agostinho Neto, der der erste Präsident der Republik Angola werden sollte. Diese afrikanischen Studierenden trafen sich zunächst in der Casa dos Estudantes do Império, eine Art Heim für Studierende aus den Kolonien, doch wurde der Ort gern auch von den Kindern der Kolonialherren besucht und war in den Augen der Freunde nicht afrikanisch genug. Sie gründeten deshalb 1951 das „Zentrum für Afrika-Studien“, eine Art formloses Seminar, in dem man über afrikanische Politik und Geschichte sprechen konnte. Cabral und seine Freunde verschlangen geradezu die Zeitschrift Présence ­africaine, die sie von deren Gründer, Alioune Diop, aus Paris zugesandt 269

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bekamen und an der sie gelegentlich mitarbeiteten (wie etwa bei der Nummer Les étudiants noirs parlent / „Die schwarzen Studierenden ergreifen das Wort“). Sie übersetzten die Dichter der Négritude, unter anderem Senghors Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache (mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre). „In Sachen Négritude waren wir etwas im Rückstand, aber wir waren ja 1936 auch noch nicht erwachsen“, bemerkt Pinto de Andrade und fügt hinzu, dass Cabral ein eifriger Leser der Gedichte von Senghor und David Diop1 war. 1954 floh Pinto de Andrade vor dem Zugriff der portugiesischen Polizei, die sich zunehmend für ihn interessierte, nach Paris und wurde dort Redaktionssekretär von Présence africaine: „Paris war für uns eine echte afrikanische Hauptstadt“2, erläutert er.

Paris als Hauptstadt In der Tat war Paris nicht Lissabon. Das beruhte zum einen darauf, dass es in Paris eine weitaus größere und mehr kosmopolitische afrikanische Gemeinschaft als an den Ufern des Tajo gab; dazu kamen dann auch noch schwarze amerikanische Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle wie Richard Wright und James Baldwin. Der 1950 gegründete Verband der schwarzafrikanischen Studenten in Frankreich, die Fédération des étudiants d’Afrique noire en France (FEANF), die sich für die Unabhängigkeit der afrikanischen Länder einsetzte, spielte eine wichtige Rolle bei der politischen Bildung der afrikanischen Studierenden. „Das Problem der schwarzen Studenten in Frankreich geht seit Langem über die Probleme von studentischen Sozialwerken hinaus und bezieht sich nunmehr auf die Forderung, als Nation(en) anerkannt zu werden“, schrieb 1958 beunruhigt die Tageszeitung Le Monde3. Zum anderen gab es in Paris viel mehr Möglichkeiten, sich politisch zu äußern, als in Lissabon, wo die Salazar-Diktatur die Gesellschaft streng kontrollierte. Die PIDE, die politische Polizei des Regimes, überwachte das Land mithilfe seines Netzwerks von Informanten, Oppositionelle wurden verhaftet oder gingen ins Exil. Für António de Oliveira Salazar, der sich gern als Erben Vasco da 1 Présence africaine, 1953/1, 14, Situation des étudiants noirs dans le monde, S. 221–240. 2 Mário de Andrade, entretiens avec Christine Messiant, 1948–1960, la première génération du MPLA, Lusotopie 1999, S. 199. 3 Ibid., S. 205.

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Gamas betrachtete, war das Kolonialreich eine unerlässliche Voraussetzung für die Größe seines Landes. In der Tat wird die Nelkenrevolution 1974 mit dem Ende des Salazar-Regimes auch das des Kolonialreichs herbeiführen. Zuvor aber zogen sich die afrikanischen Studierenden halb in den Untergrund zurück, um politische Gespräche zu führen. Sie fürchteten sich vor Spitzeln und hatten auch kaum Zugang zur Oppositionspresse (etwa Avante!, eine kommunistische Untergrundzeitschrift). Eine Hilfe für sie war es aber, dass es in Lissabon afrikanische Seeleute gab, denen sie im Clubo Maritimo begegneten. Dort holten sie sich heimlich Zeitungen und Bücher aus Brasilien ab. Gewiss wurden die kolonialismuskritischen afrikanischen Aktivisten auch in Frankreich polizeilich beobachtet, einschließlich Senghor, dessen Post von der Kolonialverwaltung geöffnet wurde, aber ihre Möglichkeiten, sich zu äußern, waren unvergleichlich besser als die ihrer Genossen in Portugal. In Brüssel, das Lumumba einige Jahre später aufsuchen sollte, waren die politischen Bedingungen ähnlich wie in Paris, auch wenn der afrikanische Kosmopolitismus dort weniger als in Paris ausgeprägt war und es überhaupt bis Ende der 1960er-Jahre dort weniger Afrikaner gab. Erst um diese Zeit ließen sich Migranten und Studierende aus dem Kongo in größerer Anzahl im Stadtteil Matongé nieder. Deshalb ist es nicht wirklich erstaunlich, dass sich Lumumba nicht dauerhaft in Belgien niederließ. Die materielle und psychologische Lage dieser jungen afrikanischen Intellektuellen in Europa war schwierig. Sie lebten äußerst bescheiden (Senghor musste immer wieder um die Überweisung seines Stipendiums bitten) und waren aufgrund ihrer Hautfarbe vielfältigen Kränkungen ausgesetzt. Bemerkenswerterweise gelang ihnen aber der subversive Coup, in den Hauptstädten der Kolonialreiche eine intellektuelle und kulturelle Soziabilität auf die Beine zu stellen und sich so wechselseitig zu unterstützen, sich aus ihren depressiven Zuständen zu befreien und ihrer besonderen Lage als Schwarze in Europa – als rassische Minderheit – einen Sinn zu verleihen. Das Nachdenken über ihre Lage als Schwarze war insofern entschieden emanzipatorisch, als es sie von ihren unerträglichen inneren Widersprüchen befreite, die mit der Doppelidentität verbunden sind, wie sie 30 Jahre zuvor W. E. B. Du Bois in The Souls of Black Folk („Die Seelen des schwarzen Volkes“) dargestellt hatte. In Frankreich gab es für gebildete Schwarze keinen Raum außerhalb der Assimilation, aber selbst die Assimilation würde es ihnen nie 271

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ermöglichen, ganz und gar zu Franzosen zu werden. Wenn sie aus der Tatsache, Schwarzer zu sein, einen Grund machten, stolz zu sein, dann hatte das unermessliche intellektuelle Folgen, die ihnen damals selbst nicht völlig klar waren und die das beeindruckende Konstrukt der Rechtfertigung der Kolonisierung infrage stellten.

Senghors französisches Leben Im Grunde gab es nie ein Ende des „französischen Lebens“ von Senghor. 1945 wurde er in einem der zwei senegalesischen Wahlkreise zum Abgeordneten gewählt4 (der zweite Abgeordnete war Lamine Guèye, der Vorsitzende der sozialistischen Partei des Senegal). Senghor, der alle Regionen des Senegal durchstreifte und sich auf die Vorkämpfer des Wandels stützte, ging zunehmend auf Distanz zu Guèye. Seine politische Philosophie, die etwas Patchworkartiges an sich hatte, verband die Négritude, die den Wert des Beitrags der Schwarzen zur universellen Zivilisation betont, mit einem „afrikanischen Sozialismus“, der seinerseits die beste westliche Technologie mit den afrikanischen Gemeinschaftsstrukturen zusammenführte. Sein rhetorisches Talent und seine Gabe, mit Symbolen umzugehen, fand nachhaltigen Widerhall bei den afrikanischen Eliten und beeindruckte die Bevölkerung des Senegal. Im Oktober 1948 trat Senghor aus der SFIO aus und gründete seine eigene Partei, den Bloc démocratique sénégalais, der bei den Parlamentswahlen 1951 die von den französischen Behörden unterstützte SFIO weit hinter sich ließ. Senghor war nunmehr der starke Mann der senegalesischen Politik. Er war zugleich ein vielfach umworbener Abgeordneter, den man brauchte, um die vielen rasch wechselnden Parlamentsmehrheiten zusammenzubringen. 1955 wurde er sogar Staatssekretär in der zweiten Regierung von Edgar Faure. Senghor war ein französischer Politiker, der in Frankreich wie im Senegal lebte, was ab 1952 dank regelmäßiger und schnellerer Flugverbindungen in praktischer Hinsicht viel leichter möglich war. Er war insofern eine ange­ sehene Persönlichkeit, die eine zentrale politische Stellung einnahm, die 4 Dies erfolgte im Rahmen des Systems einer geteilten Wählerschaft, mit dessen Hilfe die Anzahl der Vertreter Afrikas in der Nationalversammlung begrenzt wurde. So wurden die 18 Millionen Afrikaner aus Französisch-Westafrika von lediglich sechs Abgeordneten repräsentiert.

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sich nicht mit der Cabrals, dessen Handlungsmöglichkeiten viel eingeengter waren, vergleichen lässt.

Lumumba, die Laufbahn eines Kämpfers für die Unabhängigkeit Der Weg von Patrice Lumumba unterscheidet sich schon auf den ersten Blick von dem Senghors und Cabrals. Zwar zeigte auch er sich in den Missionsschulen des belgischen Kongo, in dem er 1925 zur Welt kam, als hervorragender Schüler, doch ging er nie zum Studium nach Belgien, sondern blieb Autodidakt: Seine Beziehung zu Europa war die eines jungen Afrikaners, der sich durch die Lektüre der Schriften der Aufklärung selbst seine Bildung erwarb und der wie die anderen Kongolesen auch die Knute einer Kolonialmacht zu spüren bekam, die jegliche Entwicklungsperspektive ausschloss. Lumumba hielt sich nie länger in Europa auf, unternahm aber im Rahmen seiner politischen Aktivitäten mehrere Reisen dorthin. 1955 wurde er, der als Postangestellter in der Scheckabteilung in Stanleyville arbeitete und sich zugleich politisch und gewerkschaftlich für den Parti libéral, eine reformistische belgische Partei, engagierte, mit anderen „höher entwickelten“ Kongolesen erstmals zu einer Reise nach Belgien eingeladen. Zu dieser Zeit galt er eher als reformistischer Befürworter der belgischen Präsenz im Kongo. Dies war schon ganz anders bei seiner zweiten Europareise, die er anlässlich der 1958 von König Baudouin eröffneten Brüsseler Weltausstellung unternahm. Er kam in der Hauptstadt Belgiens in Kontakt mit antikolonialistischen Gruppierungen und verschärfte seine Haltung. Brüssel mochte weniger afrikanisch sein als Paris, verfügte jedoch über eine sehr aktive afrikanische politische Gemeinschaft, deren Kritik sich vor allem auf die belgische Kolonisierung Zentralafrikas richtete. Auch förderte der internationale Kontext eine Radikalisierung: Der Guineer Ahmed Sékou Touré proklamierte in diesem Jahr – und damit ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung von Kwame Nkrumahs Ghana – die Unabhängigkeit seines Landes, nachdem dieses zuvor bei dem von Ge­neral Charles de Gaulle durchgeführten Referendum über die neue Staatengemeinschaft der Communauté (française) mit einem Nein gestimmt hatte. Es war nicht mehr die Zeit der Reformen, sondern die des offenen Bruchs mit dem Kolonialherrn. Die in diesem Kontext erfolgte Gründung des Mouvement national congolais (MNC) durch Lumumba 273

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bedeutete, dass sich nun – zusammen mit anderen politischen Parteien – die Vorkämpfer für die Unabhängigkeit organisierten. Nach seiner Verhaftung im Januar 1960 und seinem anschließenden Gefängnisaufenthalt wurde Lumumba rasch entlassen, um an dem berühmten Runden Tisch in Brüssel teilzunehmen, der dazu führte, dass die belgische Regierung die Waffen streckte, der Unabhängigkeit zustimmte und als Datum dafür den 30. Juni 1960 festsetzte. Die Band Le Grand Kallé et l’African Jazz hat dieser Konferenz mit ihrem Independance Cha Cha ein Denkmal gesetzt. Lumumbas dritte (und letzte) Belgien-Reise fand deshalb anlässlich der Unabhängigkeit statt. Seine Rede, nunmehr als Premierminister, fiel entschieden radikaler als erwartet aus. In Anwesenheit von König Baudouin, der seinerseits eine positive Bilanz der belgischen Kolonisation gezogen hatte, geißelte Lumumba die Segregation, den Land- und sonstigen Raub, die Gewaltakte und die Demütigungen, die die Kongolesen zu erleiden hatten. Ab diesem Zeitpunkt arbeitete die belgische Regierung unablässig am Sturz Lumumbas, sie unterstützte die Sezession von Katanga und unterstützte den Staatsstreich Mobutu Sese Sekos im September. Dies führte schließlich zu Lumumbas Verhaftung und Ermordung am 17. Januar 1961.

Erinnerungen zwischen Glorienschein und Schwefelgeruch Senghor sprach seinerseits bis Ende der 1950er-Jahre nie von Unabhängigkeit, sondern rief zu echter „Autonomie“ auf, um sich nicht länger den „Ideen aus Paris“ unterzuordnen. Der Unabhängigkeit zog er eine „Konföderation“, bestehend aus Frankreich und den westafrikanischen Staaten, vor. In diesem Sinn wurde er im Senegal selbst dadurch aktiv, dass er die politischen Kräfte vor Ort unter Führung des Bloc populaire sénégalais, aus dem mithilfe des Beitritts von Guèyes Parti socialiste die Union progressiste sénégalaise wurde, vereinte. Persönlich war Senghor nahe daran, beim Referendum von 1958 mit einem Nein zu stimmen, hielt aber das Ja, für das sich die Mehrheit im Senegal entschieden hatte, am Ende für weniger riskant. Durchdrungen von seinem Projekt einer afrikanischen Föderation, berief er im Januar 1959 in Dakar den Conseil fédéral des ehemaligen Französisch-Westafrika ein, aus dem inzwischen die Verfassunggebende Versammlung 274

DREI AFRIKANER UND EUROPA

geworden war, und kündigte die Schaffung der „Mali-Föderation“ an. Dieser Begriff nahm Bezug auf das glorreiche Mali-Reich des 13. und 14. Jahrhunderts. Doch bereits im März traten Dahomey und Obervolta aus der Föderation aus. Damit blieben Senegalesen und Sudanesen mit ihren heftigen Auseinandersetzungen unter sich. Senghor entschied sich deshalb am 20. August ebenfalls für den Austritt und verkündete die Unabhängigkeit seines Landes. Der Französische Sudan, der sich inzwischen Republik Mali nannte, folgte ihm am 22. September. Am 5. September 1960 wurde Senghor zum Präsidenten des Senegal gewählt. Die Institutionen der neuen senegalesischen Republik lehnten sich eng an die der Fünften Republik in Frankreich an: Einem starken Präsidenten stand ein Regierungschef zur Seite. Das war damals Mamadou Dia, der als Arbeitstier bekannt war und es Senghor erlaubte, sich auf die Vorgabe der großen Richtlinien, die Außenpolitik und sein dichterisches Werk zu konzentrieren. Während der Ausübung seines Mandats als Präsident der Republik Senegal verbrachte Senghor den Sommer jeweils in Verson, einer Kleinstadt in der Nähe von Caen, wo er sich dann auch endgültig niederließ und seine letzten Lebensjahre verbrachte. Diese Bindung an die Normandie ging auf seine zweite Frau zurück, Colette Hubert, die er 1957 geheiratet hatte und die dort über einen ansehnlichen Besitz verfügte. Er liebte besonders das durchsichtige spätsommerliche Licht der Normandie, das er mit dem des Senegal am Ende der Winterregenzeit verglich. Die Anwesenheit des weisen Afrikaners in Verson blieb nicht unbemerkt: Viele französische Politiker sowie größere und kleinere Notabeln machten ihm dort ihre Aufwartung. Von Senghor erfahren wir, dass er in Verson nicht wirklich an seinem dichterischen Werk arbeiten konnte, weil er dort zu sehr mit Begegnungen, Verabredungen und seinem Briefwechsel beschäftigt war. Verson war der Ort der „diskursiven Vernunft“, sagte er – im Unterschied zu seinem Haus in Dakar, in dem der langsame Rhythmus der Poesie herrschte. Bereits überhäuft mit Ehrungen, die er freilich nicht verabscheute, wurde Senghor drei Jahre nach seinem Rücktritt als senegalesischer Präsident am 2. Juni 1983 als erster Afrikaner in die Académie française aufgenommen. Der politische Weg Cabrals unterschied sich sehr von dem Senghors, denn der Mann von den Kapverden übte nie staatliche Macht aus, weder legislative noch exekutive. Er ging 1952 nach Abschluss seiner beruf­ 275

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lichen, intellektuellen und politischen Bildung in Lissabon zurück nach Guinea-Bissau und arbeitete als Agronomie-Ingenieur am Zentrum für Landwirtschaft von Bissau, betätigte sich aber gleichzeitig politisch. 1956 gründete er mit fünf politischen Weggefährten die Afrikanische Partei für die Unabhängigkeit Guineas und Kap Verdes (Parti africain pour l’indépendance de la Guinée et du Cap-Vert, PAIGC). Wie in den anderen portugiesischen Kolonien, in denen es zur Gründung von Unabhängigkeitsparteien gekommen war (der MPLA in Angola, der Frelimo in Mosambik), mit denen der PAIGC verbündet war, ging der politische Kampf aufgrund der gewaltsamen Repression durch das Salazar-Regime und der Unmöglichkeit, mit diesem zu verhandeln, in militärische Auseinandersetzungen über. Mit Unterstützung von Nachbarländern wie Sékou Tourés Guinea sowie der Militärhilfe aus Kuba und der UdSSR führte der PAIGC einen hartnäckigen Guerillakrieg, während Cabral als diplomatischer Repräsentant fungierte. Er reiste nach Paris, London, Mailand und an viele andere Orte, um den portugiesischen Kolonialismus anzuprangern und die Unabhängigkeit vorzubereiten. Am 20. Januar 1973 wurde er in Conakry unter bis heute rätselhaften Umständen ermordet. Möglicherweise waren daran portugiesische Agenten beteiligt. Ihm war es nicht vergönnt, die Unabhängigkeit von Guinea-Bissau mitzuerleben, zu der es bereits im September dieses Jahres kam, während das bei Kap Verde zwei Jahre später der Fall war. In Verson wird die Erinnerung an „Präsident Senghor“ sorgsam gepflegt. Das Senghor-Kulturhaus am gleichnamigen Platz, das 1995 von ihm selbst eingeweiht wurde, organisiert Veranstaltungen zu den Themen Frankofonie und Négritude, die dort eine Rolle spielen und die man in einer solchen Ortschaft normalerweise nicht erwarten würde. Die nur wenige Kilometer entfernte Stadt Caen ist die Partnerstadt von Thiès, der zweitgrößten Stadt des Senegal, deren Bürgermeister Senghor war. Auch außerhalb des Raums von Caen tragen zahlreiche Bibliotheken und Schulen (zwei Oberstufengymnasien und zwei Gesamtschulen) sowie ein Dutzend Straßen den Namen Senghor, der damit in Frankreich gut repräsentiert ist. In Paris verlängert die Léopold-Sédar-Senghor-Brücke die Rue de Solférino, in der bis vor Kurzem die sozialistische Partei ihren Sitz hatte, über die Seine hinweg und auch das Musée d’Orsay ist nicht weit entfernt. Als letztlich weithin konsensfähige Persönlichkeit der Welt des Geistes und der Politik verkörpert Senghor wohl eine respektvolle, aber 276

DREI AFRIKANER UND EUROPA

auch etwas steife Art der Nähe Frankreichs und Afrikas, eine frankoafrikanische Synthese, wie sie in Verson die Skulptur Le Baobab et le Pommier („Affenbrot- und Apfelbaum“) repräsentiert, Symbol einer Menschheit, die zugleich ihren Universalismus und ihre Besonderheiten vorzeigt. Amílcar Cabrals institutionelle Präsenz in Europa ist viel unauffälliger, auch weniger konsensuell als die Senghors. Er blieb bis ans Ende seiner Tage ein Rebell, der die Kolonialmacht militärisch bekämpfte. In einem Portugal, das gleichzeitig sein Kolonialreich und die Diktatur beseitigte, tragen Straßen in Lissabon und seinen Vororten (Bobadela, Amadora und Agualva) seinen Namen. Im Juli 2008 wurde eine Straße im Pariser Vorort Saint-Denis, in dem eine starke Bevölkerungsgruppe aus Kap Verde wohnt, anlässlich des 33. Jahrestags der Unabhängigkeit des Landes auf den Namen Amílcar-Cabral getauft. Dabei waren afrikanische Diplomaten sowie Ana Maria und Iva Cabral, die Witwe und die Tochter des Unabhängigkeitskämpfers, anwesend. Gleichnamige Straßen gibt es auch in Niort, Le Port (auf La Réunion), Fort-de-France (Martinique) und einen Platz gleichen Namens in Fameck (Département Moselle).

Institutionelles Gedächtnis, Erinnerung des Volkes Lumumbas Namen tragen Straßen in Montpellier, Niort, Guyancourt und Basse-Terre (Guadeloupe), während in Belgien nichts dergleichen vorgesehen ist. Vom Gemeinderat in Ixelles, einem Brüsseler Stadtteil, wurde das 2013 zwar erwogen, aber letztlich verworfen, weil der Name Lumumba nicht hinreichend konsensfähig sei, ja „die Gemeinschaft zu spalten“ drohe. Dabei fehlte es nicht an Petitionen zu seinen Gunsten und in Matonge, dem Brüsseler Stadtteil mit dem höchsten kongolesischen Bevölkerungsanteil, ist ein Name für einen Platz zu vergeben. 60 Jahre nach Lumumbas erster Belgien-Reise hat sein Name in diesem Land noch einen diabolischen, schwefligen Beigeschmack. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, „Lumumba“ sei ein Synonym für die Niederlage des Landes und eine Beleidigung für seinen König.5 Es steht so gut wie fest, dass die belgischen Geheimdienste an der Ermordung Lumumbas beteiligt waren, was amtlich aber nie bestätigt wurde. 5 Thandiwe Cattier, La place Patrice-Lumumba de Bruxelles existe … sur Google Earth, in: Jeune Afrique, 25. September 2015.

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Jedenfalls versammelte sich am 30. Juni 2015 eine bunte Menge von 300 Personen auf dem erwähnten namenlosen Platz, um des 50. Jahrestags der Unabhängigkeit des Kongo zu gedenken und an der Verlesung einer Rede teilzunehmen, in der Lumumba seine Landsleute dazu aufrief, „diesen 30. Juni 1960 zu einem herausragenden Datum zu machen, das ihr unauslöschlich in eurem Herzen bewahrt, dessen Bedeutung ihr stolz euren Kindern erklären werdet, damit diese ihrerseits ihren Kindern und Enkeln die glorreiche Geschichte unseres Kampfes für die Freiheit erzählen“. Im kulturellen Gedächtnis des Volkes sind Cabral und Lumumba weitaus mehr präsent als das Académie-Mitglied Senghor, dessen Dichtung eigentlich zur Schaffung musikalischer Werke hätte anregen können, der aber wohl zu sehr als Etablierter dasteht, als dass er die Aufmerksamkeit junger Europäer auf sich ziehen könnte. Dagegen hat die Gruppe MC Malcriado, die aus französischen Musikern kapverdischer Herkunft aus Pariser Vorstädten (unter ihnen nicht zuletzt Stomy Bugsy) besteht, ein Lied mit dem Titel Viva Amílcar Cabral komponiert. Sie folgte damit dem Beispiel vieler Morna-Musiker6 aus Guinea und von den Kapverden wie etwa Neta Robalo. Auch an Lumumba erinnern viele Musiker: so zum Beispiel Joseph Kabasele (genannt Grand Kallé) mit seinem berühmten (und bereits erwähnten) Independance Cha Cha und in jüngerer Vergangenheit Musiker wie der Rapper Lalcko (Lumumba). Cabral und Lumumba sind unbeschädigte populäre Persönlichkeiten, die ein früher Tod vor der desillusionierenden, mit Abweichungen vom Pfad der Tugend verbundenen Ausübung der Macht bewahrt hat. So sind sie romantische Helden geblieben wie ein Ernesto „Che“ Guevara und haben Teil an einer globalisierten Kultur, die sie nach und nach aus ihrer Bindung an eine Region gelöst hat. Ein Teil der europäischen Jugend kennt ihren Namen, ohne sie in der afrikanisch-europäischen Geschichte der in Auflösung begriffenen Kolonialreiche verankern zu können. Es könnte eine wichtige historische Aufgabe sein, die Erinnerung an diese Persönlichkeiten der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen wieder in eine Geschichte einzuschreiben, die auch eine europäische ist. 6 Die Morna ist eine für die Kapverden typische Musikgattung. Charakteristisch für sie sind ihre sich in Molltönen ausdrückende Melancholie und Langsamkeit (Anmerkung des Übersetzers).

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DREI AFRIKANER UND EUROPA

Literatur Gilles MANCERON, Pascal BLANCHARD und Éric DEROO, Le Paris noir, Paris 2001. Jean OMASOMBO und Benoît VERHAEGEN, Patrice Lumumba, acteur politique. De la prison aux portes du pouvoir, juillet 1956–février 1960, Paris 2005. Oscar ORAMAS OLIVA, Amílcar Cabral. Un précurseur de l’indépendance africaine, Paris 2008. Janet G. VAILLANT, Vie de Léopold Sédar Senghor. Noir, Français et Africain, Paris 2006.

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SURESH SHARMA

Indien: Traum und Wirklichkeit Im Dschungelbuch hat der britische Schriftsteller Rudyard Kipling zugleich die Unermesslichkeit der Natur und die Überlegenheit der europäischen Kultur gefeiert. Zwei große indische Intellektuelle, Mahatma Gandhi und Rabindranath Tagore, weisen jedoch den Anspruch Europas, im Herzen der Geschichte angesiedelt zu sein, zurück.

Mahatma Gandhi und Rabindranath Tagore bei einem Treffen in Shantiniketan, Westbengalen, am 18. Februar 1940.

INDIEN: TRAUM UND WIRKLICHKEIT

Im Gegensatz zu Begriffen wie Asien oder Orient besitzen die Termini „Europa“ oder „Abendland“ beziehungsweise „Westen“ angeblich eine besondere historische Kohärenz. Diese Kohärenz, behauptete Georg Wilhelm Friedrich Hegel, siedelt Europa „am Ende der Geschichte“ an. Am Ende des langen 19. Jahrhunderts (1789–1914) hatte der Rest der Welt kaum eine andere Wahl, als sich damit abzufinden, im Schatten Europas, des Maßes aller Dinge und jeglichen Werts, fortzubestehen. Das moderne Europa postulierte unter seinen Kategorien eine souveräne Universalität, die den Anspruch erhob, die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft der ganzen Menschheit zu definieren. Keine Spezifizität konnte auf Dauer überleben angesichts dieser Universalität, es sei denn, sie wurde als kaum lebendiges archaisches Überbleibsel toleriert. Ram Mohan Roy (1772–1833), ein Sozialreformer, der die phänomenale Macht der Moderne, die Dinge und das Leben umzugestalten, aufmerksam verfolgte, hat als Erster erfahren und zugegeben, dass Indien „asiatisch“ ist. Es war eine Anerkennung, die zugleich von Demut und tiefer Ironie geprägt war, eine Erinnerung daran, wie gering das Gedächtnis Europas gegenüber seinen Ursprüngen und seiner Vergangenheit war. Der „verweiblichte asiatische Charakter“, fügsam und ohnmächtig, war vielleicht eine Realität, gab Roy zu, aber was wäre Europa ohne Jesus, einen Asiaten? Schon der Name Europa, hätte er hinzufügen können, evoziert Asien.

Freiheit Vor dem 19. Jahrhundert hätte in Indien oder auch anderswo außerhalb von Europa niemand verstanden, was das Wort „Freiheit“ bedeutete. Mahatma Gandhi und Rabindranath Tagore waren empfänglich für die brennende Ironie des leidenschaftlichen Strebens nach Freiheit, das schließlich das Leben und Denken derjenigen dominiert, die von Europa kolonisiert wurden. Die bewaffnete Eroberung und die zwingende Macht der Technologie waren die Vektoren der Verwandlung der Freiheit in einen universellen Wert. Sie wussten jedoch, dass die europäische Vormachtstellung in einem Substrat wurzelte, das viel dauerhafter und subtiler als der bloße Einsatz des Zwanges war. Die eigentliche Mehrdeutigkeit und die Komplexität dieses Substrats bleiben sehr lebendig in der Projektion der Eroberung der Freiheit als eines universellen Strebens und 281

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auch in den Ursprüngen dieser Idee, die in der Sklaverei und in der feudalen Knechtschaft liegen. Für Tagore wie für Gandhi ist die Freiheit an sich wertvoll. Ihr tiefes Unbehagen galt der Tatsache, dass sie vom Westen formuliert wurde. Das entscheidende Element ist hier eine offenkundige Verschiebung des Wertmaßstabs. Die moderne Veränderung und der moderne Fortschritt haben ihren Ausgangspunkt in der Welt der Materie wie der der Dinge und führen zu einer neuen Art von Streben. Die allgemeine Überzeugung dieses Ansatzes lautet, dass die Dynamik des Fortschritts die wachsende Entfaltung und Erfüllung der gesamten Menschheit bringen wird. Der unaussprechliche Reiz dieses Versprechens nimmt einen wichtigen Platz im Diskurs und in der Geschichte des Widerstands gegen die westliche Vormachtstellung ein. Indem sie diesem Versprechen implizit Glauben schenken, sprechen Mao Zedong, Chiang Kai-shek, Jawaharlal Nehru und Muhammad Ali Jinnah, Bhimrao Ramji Ambedkar und Vinayak Damodar Savarkar ein und dieselbe Sprache. Was könnte man auch gegen die Fülle und die Entfaltung aller einwenden? Der wichtigste Vorwurf Tagores ist dieser: Aus den Dingen das Kriterium jeglichen Werts zu machen, läuft darauf hinaus, die menschliche Autonomie zu leugnen. Fehlt dieser innere, autonome und unauflösbare Raum, der jedem Menschen zugestanden wird, dann kann keinerlei Freiheit existieren. In der Interpretation von Gandhi macht dieser Wechsel des Maßstabs aus den Dingen das Maß jeglichen Werts und verlässt damit die sittliche Welt, ohne die das Streben nach Freiheit als dem höchsten Wert des Seins und des Werdens keinen Sinn hat.

Swaraj Das Wort swaraj, wörtlich „Selbstregierung“ oder „Selbstbestimmung“, markiert die philosophische Schwelle der Formulierung der Freiheit bei Tagore und Gandhi. Seine Verwendung im volkstümlichen Diskurs verweist auf das Auftreten einer Massenpolitik und die Behauptung des Ideals einer souveränen Nation. Eben dieser Sinn für die Freiheit hat die Bewegung gegen die fremde Herrschaft in Indien und in der kolonisierten Welt geprägt. Was für ein verblüffendes Paradox. Aus heuristischer Bequemlichkeit könnte man sagen, die wundersame, von der Christenheit nach Europa führende Reise war das Zusammenspiel zweier großer Prinzipien heidnischen Ursprungs: Da ist das Individuum als autonomer 282

INDIEN: TRAUM UND WIRKLICHKEIT

Besitzer der Vernunft angesichts des beinahe sakralen Privilegs des territorialen Referenten (des Nationalstaats). Europa erscheint im Gedächtnis der Welt außerhalb seiner Grenzen hauptsächlich als eine enorme kohärente Struktur, die von einer wirksamen Technologie und einer rationalen, in der Nation verankerten Organisation bewegt wird. Ein Individuum kann, mag seine Individuation auch noch so unbefleckt sein, niemals völlig frei von Filiationen oder von einem kulturellen Gedächtnis sein. Gandhi hielt seinen kleinen, auf Gujarati verfassten Text Hind Swaraj (1909) für seinen „grundlegenden Text“. Hind Swaraj betont die Tatsache, dass die Freiheit nicht in der bloßen Abwesenheit äußerer Zwänge liegt. Sie liegt viel eher im autonomen Willen und in der Fähigkeit, sich seine Grenzen selbst zu setzen. Indem sie postuliert, dass die Dinge das Maß des Wertes sind, unterwirft die moderne Zivilisation die menschliche Präsenz der letztlich dementen Logik der Maschine. Tagore bemerkte eine blinde Negation in den „souveränen Nationalstaaten“, ein organisatorisches Äquivalent zur Technologie des Krieges. Der aggressive Nationalismus Japans überzeugte ihn, dass dieses neue Übel in Asien Wurzeln gefasst und ein Asyl gefunden hatte. Satyagraha oder die Kraft der Wahrheit, die von Gandhi gewählte Waffe der Gewaltlosigkeit, weckte bei Tagore eine tiefe Besorgnis. Wie alle Formen der Macht konnte auch Satyagraha missbraucht werden. Tagore formulierte seine dunklen Befürchtungen über die Verwendung und den Missbrauch von Satyagraha zum ersten Mal in einem Brief an Gandhi, den er am Vorabend des Massakers von Hunderten unbewaffneter Demonstranten geschrieben hatte (13. April 1919). Die Wahrheit Indiens, sagte Tagore, verzichtet auf das Gefühl, „verschieden“ von den „anderen“ zu sein. Der Aufruf zum „Opfer“ der Nichtkooperation umfasst „die politische Askese“ der sinn­ losen „Negation“, die gedankenlose „Freude an der Vernichtung“. Das „Opfer“ ohne „Affirmation“ ist das Feuer, das unweigerlich unseren „Herd und unser Haus“ zerstören wird. Indem Satyagraha das Swaraj nur für Indien sucht, verleiht es „Organisationen des nationalen Egoismus“ eine unverdiente Legitimität. Der nationale Egoismus in Indien und im Westen weist unterschiedliche Mängel auf. In Indien bedeutet die „Spezialisierung“ – der Mensch wird beinahe auf den Rang einer Maschine reduziert –, dass „die Herrschaft der Dinge“ starr und unwandelbar ist. Im Westen bedeutet die Spezialisierung – der Mensch wird beinahe ersetzt durch die Maschine –, dass „die Herrschaft der Dinge“ ständig in 283

SURESH SHARMA

Bewegung ist. Im Westen erzeugt das eine unersättliche „Gier und Eroberung“, in Indien eine schändliche „Resignation“. Gandhi erkannte in der poetischen Klarheit die Distanz und die Nähe am Ursprung dieser ernsten Debatte. Die „großartige Welt“ der Berufung des Dichters wird nicht behindert von dem, was vorgegeben, aufgezwungen wird. Sie enthält Vorgefühle der Wahrheit, die der Prüfstein des ­Wertes sind, wie er sein könnte und sein sollte. Doch kann die Wahrheit jemals durch die bloße Anrufung erreicht werden? Ihr perfekter und fleckenloser Ausdruck ist gewiss lebenswichtig. Wie der „in seinen ganzen Ruhm gehüllte Salomon“ hat sie die Macht, zu blenden und zu wecken. Doch dieser Ruhm verwelkt ohne die „Feldlilien“, die ständig mit der Jäthacke wie die „Aussaat“ gepflegt werden müssen. Die Nichtkooperation glich der „Jäthacke“. Sie bedeutete den „Rückzug“ Indiens auf sich selbst gegen die „bewaffnete Einrichtung“ einer „obligaten Kooperation“, die von „modernen Ausbeutungsmethoden“ aufgezwungen wird. Die Arbeit und der Kampf sind die unvollkommenen Gegebenheiten, die dem menschlichen Leben Sinn verleihen. Die unvollkommene Gegebenheit namens Indien, gab Gandhi zu, war alles, worüber er für seine Arbeit verfügte. Doch das Leben selbst beginnt und überlebt in und auf Bruchstücken. Seine Anregungen existieren weiterhin und behalten ihren Glanz selbst dann, wenn alle Tatsachen gegen sie sprechen, aber in Gestalt eines fernen Versprechens. Der größte Mangel der modernen Zivilisation liegt in ihrer Weigerung, die „Maschine“ als Verkörperung einer bestimmten Konfiguration von Erkenntnis und Macht zu denken. Die „Maschinen“, die wirksam das liefern, was die Menschen benötigen und schätzen, werden als gut angesehen. Es könnte durchaus sein, spekulierte Gandhi, dass man einen einzigen „Pflug“ erfinden könne, der „säen und anbauen“ und dadurch allen Menschen den Wohlstand bringen könne. Eine solche Maschine würde eine ständige Abhängigkeit für den Großteil der Menschheit bringen. Noch schlimmer: Indem er über die „Arbeit“ triumphiert als Art und Weise, sich mit den Gegebenheiten des Lebens und dem, was sein könnte, zu konfrontieren, würde dieser Pflug das Ende eines sinnvollen menschlichen Lebens vorhersagen. Die Anschauungen Gandhis und Tagores haben das Gedächtnis der Begegnung zwischen Europa und Indien zutiefst geprägt, und das nicht nur auf indischer Seite, aber der britische Romanautor Rudyard Kipling (1865–1936) hat sicherlich einen viel größeren Einfluss auf die populäre 284

INDIEN: TRAUM UND WIRKLICHKEIT

Sicht der kulturellen Unterschiede zwischen Europa und dem indischen Subkontinent ausgeübt – durch seine Bücher sowie deren zahlreiche Bearbeitungen und insbesondere durch Das Dschungelbuch und dessen Verfilmung durch Walt Disney im Jahr 1967.

Kipling: die europäische Vormachtstellung Kipling hat ein quasi absolutes Vertrauen in die Rolle Europas als Agens der Zivilisation. Seine Vormachtstellung und deren stärkster Ausdruck, das British Empire, repräsentierten in seinen Augen das Bestmögliche für die Menschheit. Die Schaffung der modernen Universalität beruht auf der Negation, auf dem Verschwinden dieses tiefen existenziellen Drangs, das Unbekannte und das Universelle zu suchen. Doch Kipling scheint sich nicht um tiefere historische Strömungen zu kümmern, die definieren, was für das Leben und das Denken möglich und des Interesses würdig ist. Seine große Gewissheit war, dass die Bruchlinie, die die Zivilisation zwischen einem sinnerfüllten Leben und dessen Negation oder Abwesenheit ermöglicht, auf einer West-Ost-Achse verläuft. Sein Traum und seine Hoffnung waren, dass diese Linie nie andauert. Im Orient ist die menschliche Anwesenheit tatsächlich nur ein verstreutes und verlorenes Fragment inmitten des repetitiven Gebiets der „Palme und der Pinie“. Der Orient ist ein Universum unüberwindlicher und starrer Entfernungen, beinahe ohne dieses wesentliche Leben, das eine Distanz schafft zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte oder sollte. Das britische Imperium war die vereinzelte Stimme, die den „Orient“ zur Macht und zur Verheißung dieser Distanz lockte. Kipling hörte die „Tempelglöckchen“ ihre Zustimmung murmeln: „Komm zurück, britischer Soldat.“ George Orwell hatte zu Recht vorausgesagt, dass die dauerhafte intellektuelle und literarische Präsenz Kiplings auf „zugleich vulgären und permanenten Gedanken“ beruhen würde. Man denke nur an das geheimnisvolle Raunen mancher seiner berühmten Formulierungen: „Der Osten ist der Osten, der Westen ist der Westen“ und „Die Bürde des weißen Mannes“. In seinen Dschungelbüchern (in zwei Bänden erschienen, 1894/95) vernimmt man ein andersgeartetes intellektuelles und literarisches Raunen. Hier geht es vor allem um die tiefe Anerkennung einer sehr unterschiedlichen Ordnung, ein Streben nach einem Leben in der Wildnis und einer Ordnung, die für Europa, die Zivilisation und die 285

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menschliche Intervention weitgehend unerreichbar ist. Die Universalität, diese plumpe alte Leier der modernen europäischen Zivilisation, steht nicht in den Dschungelbüchern als das Geschenk oder die Verwirklichung der Zivilisation, sondern als etwas, was ganz einfach ist: angeboren und elementar. Die Macht und die Wahrheit dieser primitiven Präsenz spielen eine offenkundige Rolle in der immensen Anziehungskraft des Dschungelbuchs für alle Kinder der Welt. Dieses wichtige literarische und ästhetische Detail ruft eine ebenso aufschlussreiche wie geheimnisvolle Ironie auf den Plan. Manche namhaften englischen Verleger lehnten die zutiefst philosophische Fabel Animal Farm (Farm der Tiere) von George Orwell ab, weil sie meinten, es sei ein Kinderbuch.

Das Gesetz des Dschungels Die Zivilisation und die menschliche Präsenz in Kiplings Dschungelbuch sind ein gelegentliches und fernes Ereignis, das ganz wie der Blitz dazu bestimmt ist, zu verschwinden. Was den Sieg davonträgt und alle Gegebenheiten der wilden Natur verankert, das ist das „Gesetz“, das über allen denen steht, die die Menschen erfunden haben und niemals klar aussprechen werden können. Das Gesetz der Natur liegt im Gegensatz zu den menschlichen Gesetzen in einer perfekten Zweckmäßigkeit in Zeiten extremer Schwierigkeiten und eines bevorstehenden Zusammenbruchs: Wenn es zum Beispiel regnet, dann trinken der Tiger Shere Kan, das Raubtier, und der Hirsch, die Beute, aus dem Bach und können einander aus der Entfernung wittern. Mowgli, die einzige menschliche Präsenz, aufgezogen von der Wölfin Raksha und dem weisen Bären Baloo, die ihm die Sitten des Dschungels beibringen, wird mit dem nahenden Erwachsenenalter von einer Ungeduld befallen, deren Sinn er nicht erfassen kann: Ihm ist nicht kalt, ihm ist nicht heiß, er hat keinen Hunger und dennoch ist er „ungehalten über das, was er nicht sehen kann“. Ihm geht der fortwährende „doppelte Schritt“ nicht aus dem Sinn, den er ständig hinter sich vernimmt und der, wenn er sich umdreht und genau hinblickt, „nicht existiert“, und er fühlt sich von einem Feuer verzehrt, das dem gleicht, das er im Dorf gesehen hat – am Rand der ihm bekannten Welt. Doch dieses Feuer wütet nicht draußen, es ist völlig im Inneren: ein „Ich-weiß-nicht-was“. Das ist die Art von Drang, sagt Bagheera, der schwarze Panther, der einem Mann die Lust gibt, sich zu ertränken, um 286

INDIEN: TRAUM UND WIRKLICHKEIT

in das Mondlicht auf dem Wasser zu beißen. Mit dem mit funkelnden Edelsteinen besetzten Ankus – dem Haken, mit dem die Elefanten kontrolliert werden –, den die weiße Kobra mit dem langen und großen Gedächtnis aufbewahrt hat, ist Mowgli mit dem störenden und ausbildenden Element konfrontiert, das den Menschen vorbehalten ist. Auf die Frage nach dem Kriterium der Aktion und des Urteils – der Ankus, „der das Blut trinkt“, oder der „Mensch“ – antwortet er: „Das ist dasselbe.“ Man spürt hier – und sei es auch noch so leise – das grundlegende Element der Diskussion zwischen Tagore und Gandhi anklingen über die Perspektive der menschlichen Präsenz im Schatten der Dinge, die als Maß des Menschen gedacht werden.

Literatur Raghavan IYER, Moral and Political Writings of Mahatma Gandhi, Bd. 1 und 2, Oxford 1986. Rudyard KIPLING, Das Dschungelbuch 1 & 2, hg. und neu übersetzt von Andreas Nohl, Steidl 2016. Rudyard KIPLING, Erinnerungen. Etwas von mir, für meine bekannten und unbekannten Freunde. Zürich 1938. Orlando PATTERSON, Freedom. Freedom in the Making of Western Culture, Bd. 1, New York 1991. R. K. PRABHU und Ravindra KELEKAR (Hg.), Truth Called Them Differently, Ahmedabad 1961. Rabindranath TAGORE, Nationalismus, übersetzt von Helene Meyer-Franck, Leipzig 1918. Rabindranath TAGORE, Die Religion des Menschen, übersetzt von Emil Engelhardt, Freiburg 1962.

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AKIYOSHI NISHIYAMA

Meiji – Japan unter Einfluss Die Meiji-Ära an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird in Japan je nach Geschichtsauffassung sehr unterschiedlich interpretiert. Die japanische „Aufklärung“ arbeitet weiterhin am Geschichtsbewusstsein des Landes, von dem einige bedauern, dass es sich bereits damals mehr auf den Westen als auf seine asiatischen Nachbarn ausgerichtet hat.

Die chinesischen Streitkräfte kapitulieren vor einem europäisierten japanischen Heer am Ende des Ersten Japanisch-Chinesischen Krieges (17.4.1895). Holzschnitt von Mizuno Toshikata ebenfalls aus dem Jahr 1895.

MEIJI – JAPAN UNTER EINFLUSS

Im Gegensatz zum Euro, dessen Scheine keine Porträts von Persönlichkeiten zieren, sind auf der Vorderseite der Geldscheine des japanischen Yen wie auf den meisten Banknoten weltweit historische Persönlich­ keiten abgebildet. Alle Persönlichkeiten auf diesem Erinnerungsort des banal nationalism stammen dabei aus einer Ära, der Meiji-Epoche (1868– 1912). Die drei aktuellen Persönlichkeiten und ihre beiden Vorgänger auf den Serien der Jahre von 1984 bis 2004 sind Intellektuelle, Schriftsteller oder Wissenschaftler aus dieser Zeit. Die einzige Ausnahme, das Tor des Schlosses Shuri in Okinawa (shurei-mon), stammt zwar aus dem 15. Jahrhundert, erinnert aber daran, dass das Königreich Ryukyu erst am Anfang der Meiji-Zeit (1872–1879) von Japan als Departement Okinawa annektiert wurde. Somit könnte man sagen, dass die Symbolik der aktuellen japanischen Geldscheine ganz mit dieser historischen Epoche verbunden ist. Auch die frühere Serie der Geldscheine der Nachkriegszeit wurde mehrheitlich von den Meiji-Politikern besetzt. In der Tat sind die Meiji-Zeit und die Sengoku-Zeit (16. Jahrhundert) die zwei populärsten historischen Perioden für epische Filme oder Fernsehdramen. Ihr gemeinsames Merkmal liegt darin, dass Japan hier Europa beziehungsweise dem „Westen“ begegnete und der historische Kurs des Landes davon stark beeinflusst wurde. Für die Sengoku-Zeit symbolisiert sich dies in der Arkebuse, die die Portugiesen Mitte des 16. Jahrhunderts neben dem Christentum mitbrachten und dessen massiver Einsatz den Einigungsprozess beschleunigte. Bei der zweiten Begegnung repräsentieren dies die „Schwarzen Schiffe“ der Vereinigten Staaten von Amerika unter dem „Commodore“ Matthew Calbraith Perry, die 1853/54 die „Öffnung“ des Landes erzwang. Während die Sengoku-Zeit schließlich zur strengen Kontrolle des Kontakts mit Europa (nur über Holland) sowie zur Verbannung der Christen führte, wurde Japan durch die „Öffnung“ in die von Europa dominierte moderne Welt hineingezogen. Dabei bedeutete der „Westen“ stets nicht nur Europa, sondern auch die USA.

„Bunmei-kaika“: Öffnung nach Westen Das Meiji-Japan, das durch die Ishin (Erneuerung beziehungsweise Restauration) mit einem Bürgerkrieg von 1868 das Tokugawa-Shogunat ablöste, war mit dem „Erbe“ der Öffnung konfrontiert, nämlich den „ungleichen Verträgen“, der extraterritorialen Konsulargerichtsbarkeit 289

AKIYOSHI NISHIYAMA

und dem Verlust der Zollautonomie. Das primäre Ziel der Meiji-Regierung war es, dies zu revidieren und mit den westlichen Staaten „auf Augenhöhe“ zu verkehren. Vertragsrechtlich dauerte dies die ganze Meiji-Ära: Die vollständige Zollautonomie wurde erst 1911 gewonnen – und damit nach der Annexion von Korea 1910 und vor dem Ende der Meiji-Ära 1912. Diese Koinzidenz erweckte den Eindruck, als ob Meiji – sogar stärker als der Viktorianismus für Großbritannien – mit dem eigenen offiziellen, nach dem Kaisernamen periodisierenden Kalender eine geschlossene nationale Zeit auf dem Weg zum gleichberechtigten Nationalstaat war. Die Anfänge der Meiji-Zeit sind durch massives Einströmen von westlichem Wissen und Kultur gekennzeichnet. Japan hatte sich nicht nur politisch – etwa mit der administrativen Zentralisierung von 1871 oder mit der Steuerreform von 1873 – verändert, sondern die Veränderungen drangen auch in den Alltag ein. Die Lokomotiven, die Frisur ohne Haarknoten oder das bisher tabuisierte Rindfleischessen wurden zu alltäglichen Ikonen der „Bunmei-kaika“ (Aufklärung zur Zivilisation). Andererseits wurden diese Veränderungen schon zeitgenössisch satirisch bemerkt, etwa in den viel verkauften Werken von Kanagaki Robun (1829–1894), zum Beispiel Seyō dōchū hizakurige (Mit dem Schiff um die Welt: Auf Schusters Rappen in den Westen, 1872/73), eine Parodie des Bestsellers der Edo-Zeit, Tōkai dōchū hizakurige (1802–1814). Statt auf eine Wallfahrt zum shintoistischen Ise-Schrein im Original begab man sich nun auf eine moderne Wallfahrt nach London zur Weltausstellung, also zeitgleich und auf umgekehrten Weg zu Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt. Auf der Weltausstellung von 1873 wurde auf dem Gelände vom Wiener Prater dagegen der Ise-Schrein nachgebaut, was die westlichen Besucher, darunter auch das österreichische Kaiserpaar Franz Joseph I. und Elisabeth, aufgrund seiner Exotik beeindruckte. Japaner, darunter Mitglieder der Iwakura-Mission, betrachteten dies nicht immer positiv, weil diese exotische Kuriosität ein Beweis für die mangelnde Modernität Japans sei. Der Hauptvertreter der japanischen Aufklärung jener Jahre ist eine der Persönlichkeiten auf den heutigen Geldscheinen, Fukuzawa Yukichi. In vielen Schriften plädierte er für die Aneignung der europäischen Moderne. Er bezeichnete das damalige Japan als „Halbbarbar“ im universalen historischen Prozess zwischen Barbarei und Zivilisation und 290

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betonte die individuelle Unabhängigkeit durch Bildung als unerlässliche Grundlage der nationalen Entwicklung. Er behauptete, junge Japaner sollten nicht mehr in der traditionellen chinesischen Kultur, sondern in der europäischen gebildet werden. Diese Forderung entsprach dem Aufruf eines der berühmtesten Oyatoi-gaikokujin (Kontraktausländers), des amerikanischen Naturwissenschaftlers William Clark, der 1876 seine Schüler der Sapporo Agricultural School aufrief: „Boys, be ambitious!“ Dieser Aufruf und die Statuen von „Dr. Clark“, der in seinem Heimatland vergessen ist, haben bis heute das Bild von Hokkaido, der Nordinsel, geprägt. Sie galt dem Meiji-Japan als Wild North mit der einheimischen Ethnie Ainu, die gerade zur Zeit des Aufenthalts von Clark einer strengen Assimilationspolitik unterzogen wurde. Mit dem progressiven Denken bediente man auch die europäischen Zwillingsbegriffe „Orient“ und „Okzident“, um Japan zeitlich und räumlich – also zivilisatorisch – zu verorten. Im voluminösen Reisebericht der „Iwakura-Mission“ (nach ihrem Leiter Iwakura Tomomi benannt) von 1871–1873, eines großen Unternehmens der Regierung zu einem politisch instabilen Zeitpunkt, das insgesamt zwölf westliche Länder besuchte, wurde eingeräumt, dass sich der Orient zwar wenig um die theoretischen Anstrengungen bemühte, die im Westen die Entwicklung der modernen Wissenschaft und Technik ermöglicht hätten. Andererseits hätte Japan den Vorteil, eine fremde Kultur gründlich nachzuahmen und sie sich anzueignen, wie es bereits seit der Antike mit der chinesischen und der koreanischen Kultur der Fall gewesen sei.

Bushido, die Erfindung einer Tradition In den ersten zwei Dekaden der Meiji-Zeit erschien die europäische Kultur so übermächtig, dass man sogar die japanische Sprache durch die englische ersetzen wollte oder von nationaler Konversion zum Christentum sprach. Die führenden Politiker und Diplomaten veranstalteten ab 1883 in der vom britischen Architekten Josiah Conder entworfenen Gästehaus Rokumei-kan Ballabende. Über das peinliche Verhalten japanischer Gäste, die nicht an europäischen Umgangsformen gewöhnt waren, machten sich nicht nur die Europäer lustig, sondern auch die japanischen Nationalisten empörten sich darüber. Gegen diese „Verwestlichung“ wandte sich die Suche nach dem nationalen Kern Japans; in diesem 291

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Kontext wurde Bushido als „Tradition“ erfunden. Der Samurai, der als herrschender Kriegerstand gerade durch die Meiji-Reform abgelöst worden war, wurde damit in ein Vorbild einer nationalen Moralphilosophie umgewandelt. Dabei wurde Bushido als das japanische Pendant zum englischen gentlemanship präsentiert. Nitobe Inazo (1862–1933), der nach seinem Studium an der Sapporo-Schule, wo William S. Clark lehrte, zum Christentum übertrat, erklärte in seinem Werk Bushido. The Soul of Japan (1900), dass Bushido einerseits als eine spezifisch japanische Mischung von Buddhismus, Shintoismus und Konfuzianismus verstanden werden sollte, aber andererseits die daraus extrahierten Tugenden – Kaisertreue, Vaterlandsliebe und andere Verhaltenskodizes – in den Episoden der Bibel wiederzufinden seien, sodass Bushido – mit Harakiri – als eine zivilisierte Moral verstanden werden sollte. Im Lauf der totalen Mobilisierung der Gesellschaft der 1930er-Jahre hatte Bushido eine neue militaristische Konjunktur und ermöglichte in der Endphase des Krieges die verzweifelte Taktik der Kamikazeflieger. Auf dem berühmten Symposium „Überwindung der Moderne“ 1942 in Kyoto bezeichnete ein Teilnehmer die Modernisierung der Meiji-Zeit als „Irrweg“, der Japan durch die westliche Zivilisation mit ihrem Materialismus und ihrer Dekadenz krank gemacht hätte. Draußen wurde in der Euphorie über die erste Phase des Krieges „Nieder mit dem Teufel Amerika und England“ geschrien, wohingegen die USA Japan als barbarisches Volk betrachteten. Der einstige „beste Schüler Europas“ war nun zum schlimmsten Feind der Zivilisation geworden.

Japan, ein Modell? Während die frühe Showa-Zeit (1926–1945) in der katastrophalen Niederlage mündete, konnte die Meiji-Zeit zwei Siege vorweisen, die ihren zurückgelegten Weg in die Moderne ins positive Licht rückten: den Chinesisch-Japanischen Krieg (1894/95) und den Russisch-Japanischen Krieg (1904/05). Die nationale beziehungsweise nationalistische Geschichtserzählung betonte, dass Japan der erste konstitutionelle Staat in Asien gewesen sei und der Sieg im Russisch-Japanischen Krieg vielen kolonisierten Völkern in Asien und Afrika Mut gegeben hätte. Dies wiederholte im Übrigen auch das Kommuniqué des japanischen Premierministers zum 70. Jubiläum des Kriegsendes von 2015. 292

MEIJI – JAPAN UNTER EINFLUSS

Sicherlich sorgten Japans Siege am Anfang des 20. Jahrhunderts für großes Aufsehen in der Welt. In Europa riefen sie das Gerede über die „gelbe Gefahr“ hervor. Dieses hatte zwar nicht Japan, sondern China zum Hauptgegenstand, aber geläufig wurde es durch das berühmte Gemälde Völker Europas, Wahrt Eure heiligste Güter (1895) von Hermann Knackfuß, das Kaiser Wilhelm II. aus Anlass der triple intervention, die Japans Rückgabe der Halbinsel Liandong an China erzwang, in Auftrag gab. Diese Episode erregte wiederum eine gewisse Abneigung von Japanern gegen Deutschland, auch wenn ihnen dieses politisch, kulturell und wissenschaftlich als Vorbild galt: Japan wurde oft als das asiatische Preußen bezeichnet. Obwohl der Sieg Japans von 1905 diese Tendenz verstärkt haben mag, gab es auch andere Stimmen. So bezeichnete in Großbritannien, mit dem Japan 1902 ein Bündnis geschlossen hatte, H. G. Wells einmal den Samurai als „voluntary nobility“. Vor diesem Hintergrund bemerkte Okakura Tenshin, der mit Ernest Fenollosa maßgeblich zur Neubewertung der alten japanischen Kunst beitrug, am Anfang seines Werkes The Book of Tea (1906) kritisch, dass neben dem indischen Spiritualismus und der chinesischen Enthaltsamkeit auch der japanische Patriotismus in westlichen Augen als unzivilisiert missverstanden worden wäre. Japan als der aufsteigende Staat in Asien fand aber auch die Aufmerksamkeit reformorientierter Intellektueller in Ostasien. Es zogen Zehntausende junge Studenten aus China, Korea oder Indien nach Japan. Für sie war das Land der Ort, an dem sie sich mit der Moderne auseinandersetzen konnten, ohne dabei in den Westen zu gehen. Viele moderne Begriffe – Verfassung, Gleichheit, Nation oder Philosophie –, die mit chinesischen Zeichen ins Japanische übersetzt wurden, wurden wiederum in andere ostasiatische Sprachen übertragen. Man hoffte, dass mit der „Nachahmung“ Japans, das ihnen kulturell viel näher als Europa stand, die Modernisierung im eigenen Land noch rascher erfolgte. Ferner fand Japan Beachtung auch am anderen Ende Asiens, bei Türken und Ägyptern. Auch für sie stellte Japan eine andere, nichteuropäische Moderne dar. Japans Modernisierung ging gleichzeitig aber auch mit territorialer Expansion einher. Die beiden Kriege wurden nicht auf dem eigenen Boden, sondern in und um Korea und die Mandschurei geführt, obwohl sie als Verteidigungskriege deklariert wurden. Dahinter steckte der 293

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imperialistische Gedanke, der Expansion der anderen (vor allem Russlands) mit der eigenen Expansion zuvorzukommen. Außerdem wuchsen mit den Kriegen das Überlegenheitsgefühl und der Orientalismus innerhalb Asiens beziehungsweise der eroberten Gebiete Japans. Schon 1886 plädierte Fukuzawa in einer später heiß umstrittenen Schrift für die Zugehörigkeit zu Europa, ohne sich mit den „reformunfähigen“ Nachbarländern wie China oder Korea zu solidarisieren. Einzelne Panasianisten nahmen zwar exilierte Revolutionäre aus Asien wie Sun Yat-sen in Schutz, aber die Machtpolitik und der aufsteigende Nationalismus kühlten die Begeisterung für Japan unter asiatischen Intellektuellen ab. Ein Beispiel dafür ist unter anderen der indische Schriftsteller Rabindranath Tagore, ein panasiatischer weltoffener Schriftsteller, der bei seinem ersten Japan-Besuch 1916 provokativ proklamierte: „Das neue Japan ist nur eine Nachahmung des Westens.“

Japan unter dem Einfluss der Meiji-Zeit Nach 1945 wurde die Meiji-Zeit zum Fluchtpunkt kritischer Auseinandersetzung mit der Geschichte Japans. Die nun einflussreiche marxistische Geschichtsschreibung betrachtete sie als Übergang vom Feudalismus zum (Halb-)Absolutismus. Im Kreis der liberalen Sozialwissenschaften wurde ihrerseits auf eine fehlende bürgerliche Revolution oder das System der Verantwortungslosigkeit hingewiesen, das auf die japanische Kultur beziehungsweise Tradition zurückgeführt werden sollte. Es ging also um „Defizite“ oder „Abweichungen“ vom normativen „Westen“, kurzum: um einen weltgeschichtlichen Sonderweg Japans. Andererseits wurde in den 1950er-Jahren ein Gegenargument laut, nämlich dass die Meiji-Restauration doch eine Erfolgsgeschichte sei. Mit dem raschen wirtschaftlichen Wiederaufbau und dem militärischen Bündnis mit den USA wurde diese Tendenz verstärkt, wobei der Westen weniger durch das geografische Europa als durch die USA repräsentiert wurde. Auch in den populären Erinnerungskulturen hatte die Meiji-Zeit eine starke Präsenz. In den 1950er-Jahren war diese nostalgisch konnotiert und man versuchte, die dunkle Vergangenheit, deren Spuren noch allgegenwärtig waren, mit Erinnerungen an die „gute alte“ Meiji-Zeit auszugleichen, wenn nicht sogar auszuklammern. Andererseits gewannen Japaner im Lauf der 1950er- und 1960er-Jahre nationales Selbstbe294

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wusstsein zurück – mit dem Ende der Besatzungszeit (1952), dem Beitritt in die Vereinten Nationen (1956) und dem Wirtschaftswunder. Nun wurde die Meiji-Zeit nicht nur nostalgisch, sondern auch als historischer Erfolg wahrgenommen, den man nun wirtschaftlich und pazifistisch (unter militärischer Obhut der USA) wiederholen wollte. Obwohl die offizielle Veranstaltung zum 100. Jubiläum der Meiji-Restauration von 1968, im Jahr der Studentenrevolution, politisch umstritten war und als reaktionäre Instrumentalisierung von den linksorientierten Historikern boykottiert wurde, erfreuten sich die Romane des Schriftstellers Shiba Ryotaro, die die Meiji-Zeit bis zum Russisch-Japanischen Krieg als aufstrebende Jugendzeit der Nation darstellten und dadurch das „helle“ Meiji dem „dunklen“ Showa gegenüberstellten, einer großen Popularität. Sie waren und sind als Narrative der Nationalgeschichte wohl wirkungsmächtiger als akademisches Wissen. In dieser Perspektive geriet Asien aus den Augen, was man auch daran ablesen kann, dass die kommerziell erfolgreichen Kriegsfilme von und in Japan – ob über Port Arthur, Pearl Harbor, Iwojima oder Hiroshima – meistens die Kriege mit Russland oder den USA thematisieren, nicht die mit China. Unter wachsendem politischen und wirtschaftlichen Druck ist die aktuelle Stimmung in Japan nicht mehr optimistisch. Gerade in dieser Situation wäre es nicht verwunderlich, wenn die Meiji-Zeit wiederum Aufmerksamkeit findet. Man redet oft von einer neuen Ishin. In den letzten Jahren wurden die industriellen Stätten aus der Meiji-Zeit – die 1872 erbaute Seidenspinnerei von Tomioka und eine Gruppe von Stätten der „industriellen Revolution der Meiji-Zeit“ von 1850–1910 – in die UNESCO-Weltkulturerbeliste aufgenommen. Letztere sorgten jedoch bei der Nominierung für Aufsehen, weil einige davon während des Zweiten Weltkrieges „Zwangsarbeiter“ vor allem aus Korea beschäftigten. Hier zeigt sich die Verflechtung der ostasiatischen Erinnerungen, die über die nationale Periodisierung hinausgeht. Andererseits zeigt dies aber auch, wie zählebig das Konstrukt der Meiji-Zeit als Erfolgsgeschichte der Moderne ist, in die Japan im 19. Jahrhundert hineinzogen wurde, die es aber dann mitgestaltete. Doch ob zu- oder abgeneigt, Europa beziehungsweise der Westen diente und dient immer noch als Modell, Folie, Katalysator oder Kriterium in den japanischen Erinnerungskulturen. 295

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Literatur Oleg BENESCH, Inventing the Way of the Samurai. Nationalism, Internationalism, and Bushido in Modern Japan, Oxford 2014. Carol GLUCK, Thinking with the Past. Japan and Modern History, Berkeley 2008. Pankaj MISHRA, From the Ruins of Empire. The Revolt Against the West and the Remaking of Asia, London 2013. Ian NISH (Hg.), The Iwakura Mission in America & Europe. A New Assessment, Richmond/UK 1998. Pierre-François SOUYRI, Moderne sans être occidental. Aux origines du Japon d’aujourd’hui, Paris 2016. Andreas WEISS, Asiaten in Europa. Begegnungen zwischen Asiaten und Europäern, 1880–1914, Paderborn 2016. Renée WORRINGER, Ottomans Imagining Japan. East, Middle East, and Non-Western Modernity at the Turn of the Twentieth Century, Basingstoke 2014.

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PHILIPP THER

Die Sprache der Oper Die Oper, in Europa entstanden, galt lange als nationale Kunstform und Spielwiese für chauvinistische Auseinandersetzungen. Man hörte Verdi in Frankreich auf Französisch und Wagner auf Italienisch, wenn man in Rom oder Mailand lebte. Erst als sich die New Yorker Metropolitan Opera entschloss, dass jedes Werk in der Originalsprache aufgeführt werden sollte, konnte diese europäische Kunst universell werden.

Der Export der europäischen Oper nach Übersee: Das 1896 eingeweihte Teatro Amazonas in Manaus befindet sich im Herzen des brasilianischen Amazonas.

PHILIPP THER

Als der damalige Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, 2013 bei einem Vortrag in Wien deklamierte: „Nichts ist europäischer als die Oper!“, erkor er das Musiktheater zu einem europäischen Erinnerungsort.1 Um diese affirmative Aussage einzuordnen, sei an den zeithistorischen Kontext erinnert: Es war die Zeit der Eurokrise, als die gemeinsame Währung und mit ihr die Europäische Union kurz vor dem Zusammenbruch standen. Die Kultur bot sich als Kitt an, und so beschwor der Kommissionspräsident die Oper als gemeinsames Identifikationsobjekt. Doch wie europäisch ist die Oper eigentlich? Wer einen Opernführer aufschlägt, findet die Welt des Musiktheaters in nationale Traditionen unterteilt. Diese Entwicklung begann im 18. Jahrhundert, als sich neben der italienischen Oper das französische Musiktheater, die spanische Zarzuela, zumindest zeitweise die englische Beggar’s Opera und das deutsche Singspiel etablierten.

Der Opernkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts bekam die Nationalisierung der Oper eine andere, politischere Dimension. Aus der Koexistenz verschiedener, sich im Sinn der Romantik befruchtender Traditionen wurden kulturelle Konflikte. Für die „Opernkriege“ jener Zeit stehen die geplatzte TannhäuserAufführung in Paris von 1861, Richard Wagners peinliche Ergüsse nach dem Sieg über Frankreich 1870/71, der darauf folgende, zwei Jahrzehnte anhaltende Boykott seiner Werke in Paris und Mailand, die Rache des Berliner Publikums an Camille Saint-Saëns während dessen Mitteleuropatournee von 1885, die Erwiderung dieser Rache durch das frankophile Publikum am Prager Nationaltheater, das Saint-Saëns ostentativ umjubelte. Opernkriege gab es auch im Osten Europas. So fand das Moskauer Publikum den Anblick des polnischen Königs und Hofstaates im Polenakt von Michail Glinkas Ein Leben für den Zaren (später in der Sowjetunion in Iwan Sussanin umbenannt) offenbar so provokant, dass es „nieder, nieder mit den Polen“ rief und fast die Bühne stürmte.2 Auch 1 Zit. nach Wiener Zeitung vom 4.4.2013, http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/ mehr_kultur/536879_Opernfan-Barroso-warnt-vor-Kulturkuerzungen.html (Aufruf: 20.6.2019). 2 Diese Episode wurde von einem Bruder von Pjotr Tschaikowski überliefert, der dem Komponisten davon in einem Brief berichtete. Zit. nach Sigrid Neef, Handbuch der russischen und sowjetischen Oper, Berlin 1895, S. 193.

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DIE SPRACHE DER OPER

dieser Zwischenfall hing weniger mit Glinkas Gegenüberstellung polnischer und russischer Musikstile zusammen, sondern verdankt sich dem politischen Kontext, konkret dem gescheiterten Novemberaufstand von 1863 im russischen Teilungsgebiet Polens. Erst zum Ausgang des 19. Jahrhunderts wurde diese nationalistische und bald chauvinistische Phase in der Geschichte der Oper durch eine Europäisierung abgelöst, die man auf verschiedenen Ebenen nachweisen kann: bei den Bühnenbildern, der stark von der Musik und den Dirigenten geprägten Aufführungspraxis, einem zunehmenden Austausch der Repertoires und den Anfängen des Operntourismus. An dieser Stelle sei angemerkt, dass sämtliche nationale Operntraditionen im Sinn von Eric Hobsbawm als „Erfindungen“ zu betrachten sind, bei deren Konstruktion Musikpublizisten und Musikwissenschaftler eine tragende Rolle spielten. Außerdem diversifizierten sich in den 1890er-Jahren die Spielpläne, es entstand ein europäisches Standardrepertoire. Eine nationale Tradition hielt sich aber bis weit ins 20. Jahrhundert: Die Opern wurden in Italien, Frankreich und Deutschland fast immer in der jeweiligen Landessprache gesungen, Übersetzungen waren die Regel.

Amerikanische Mediation Hier kommt nun die Metropolitan Opera („Met“) in New York ins Spiel. Das 1883 eröffnete Haus, von reichen Mäzenen wie den Familien Vanderbilt, Roosevelt und Astor errichtet, beschäftigte im ersten Jahr ein italienisches Ensemble. Doch schon 1884 wurde es durch ein deutsches Ensemble ersetzt, ab 1891 folgte wieder ein italienisches Ensemble. 1895 hatte das New Yorker Publikum genug von Wagner in italienischer und Giuseppe Verdi in deutscher Sprache; deshalb engagierte die Met zwei volle Ensembles und nach der Jahrhundertwende zusätzlich einen französischen Chor. Damit konnten die zwei Stardirigenten Arturo Toscanini und Gustav Mahler, vom Ruf der Met und ihren ungeheuer hohen Gagen angezogen, die Stücke in der jeweiligen Nationalsprache inszenieren. Man könnte dies auf den ersten Blick als weitere Nationalisierung der Oper deuten, aber nur in New York konnte sich die Oper in dieser europäischen Vielfalt entfalten. Ab 1897 wurde diese mehrsprachige Praxis vom jüdischen Impresario Maurice Grau, der die Met und das Royal Opera House in Covent Garden betrieb, auf London 299

PHILIPP THER

übertragen, bevor sie sich in der Nachkriegszeit auf dem „alten Kontinent“ durchsetzte. Wenn man die Oper also heute mit Europa gleichsetzen will wie Barroso, sollte diese kulturstiftende Rolle der Metropolitan Opera nicht vergessen werden, die ihren Namen nicht zu Unrecht trägt. Aber auch in Südamerika, in der Levante und in den europäischen Kolonien erlebte die Oper ab dem 19. Jahrhundert einen lang anhaltenden Boom. Ebenso wie in China oder Australien wurde sie dabei fast immer als europäisches Musikgenre wahrgenommen. Erst in dieser erweiterten, globalen Sichtweise erweisen sich somit die europäischen Bezüge der Operngeschichte.

Literatur Peter STACHEL und Philipp THER (Hg.), Wie europäisch ist die Oper? Die Geschichte des Musiktheaters als Zugang zu einer kulturellen Topographie Europas, Wien 2009.

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WILLEM FRIJHOFF

Das Wissen außerhalb von Kirche und Staat Europa hat die Universität als Ort der Lehre und Forschung nicht erfunden. Aber es hat eine autonome Institution geschaffen, die bestrebt war, die Kirchen und den Staat, aus denen sie hervorgegangen ist, zu transzendieren und sich zu einer Stätte zu machen, in der die geistige Kultur weitergegeben wird.

Der Notar und Jurist Pietro d’Anzola (1258–1312 n. Chr.) bei einer Rechtsvorlesung an der Universität zu Bologna. Die Abbildung stammt aus der Handschrift Liber iurium et privilegiorum notariorum Bononiae. Italien, 15. Jahrhundert.

WILLEM FRIJHOFF

Die Sorbonne von Abu Dhabi: Das offenkundige Paradox in diesem Namen einer durchaus realen Institution fasst perfekt das Potenzial der Universität als eines universellen Erinnerungsorts zusammen. Ein dreifaches Potenzial: zunächst die Fähigkeit zur Streuung, denn die Sorbonne von Abu Dhabi ist die Extension der Pariser Universität, die dabei ihr Prestige einsetzt; dann die Anziehungs- und Überredungskraft eines historischen Modells der Hochschullehre und Forschung; und schließlich die Fähigkeit zur Schaffung transnationaler Strukturen der Lehre und der Gestaltung auf geistigem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet. Diese Verbindung zwischen der Sorbonne und Abu Dhabi ruft diskret auch in Erinnerung, dass am Ursprung der Universität als Institution die arabische Welt stand, in der sie sich zuerst manifestierte, bevor sie im christlichen Europa neu erfunden wurde.

An den Anfängen der Universität Eine höhere Bildung, deren Niveau von den religiösen oder weltlichen Autoritäten reguliert und überwacht wurde, existierte noch vor ihrer Genese in der mittelalterlichen Christenheit in zahlreichen Gesellschaften außerhalb des griechisch-römischen Raums. Die theologische und juristische Lehre war auch von ebensolcher vitaler Bedeutung für die alten Zivilisationen in China, Indien und Persien wie für Israel und die muslimische Welt. Die Tempelschule in Jerusalem (Beth Midrasch) und ähnliche Einrichtungen in Ägypten, Mesopotamien und anderswo zeugen von dem Bedürfnis, für die Arbeit in der öffentlichen Verwaltung in Verbindung mit den religiösen Institutionen Schreiber auszubilden. Der Unterschied zu den Universitäten im christlichen Europa liegt weniger auf dem wissenschaftlichen Niveau oder dem pädagogischen Ziel als in der Art und Weise, die Kenntnisse anzuerkennen. Die mittelalterliche christliche Universität ist ein studium generale, dessen Diplome in der ganzen Christenheit einen universellen Wert besitzen und dessen Lehrer das Recht haben, überall zu lehren (die licentia ubique docendi). In der Wirklichkeit konnte dieses Prinzip jedoch behindert werden, etwa durch die spezifischen Verfassungen jeder Institution, die punktuellen Privilegien der Lehrer, die Debatten über die Lehre sowie die Einflussnahme oder den Ruf eines bestimmten Lehrers oder einer bestimmten Univer­ sität. Dazu kam auch noch die Konkurrenz der studia particularia auf 302

DAS WISSEN AUSSERHALB VON KIRCHE UND STAAT

regionaler, ja sogar örtlicher Ebene oder die von den religiösen Orden zum internen Gebrauch geschaffenen Studien. Die Madrasas, die höheren Schulen für Theologie und Recht, die in den muslimischen Städten gegründet wurden, lassen sich mit den ersten christlichen Universitäten vergleichen. Die Universität von Fez (al-Qarawiyin) wurde 859 gegründet und kann für sich beanspruchen, die älteste Universität der Welt zu sein. Ähnliche Einrichtungen entstanden in Kairo (al-Azhar, 975), in Tlemcen, in Kairouan, in Damaskus, in Aleppo und in Bagdad (al-Nizamiya, um 1065) parallel zur Schaffung der ersten christlichen Universitäten. Und nur geringe Unterschiede bestanden wohl im Unterricht zwischen den Talmudschulen (Jeschiwa) in Cordoba, Lucena, Rouen, Narbonne oder Mainz, einer islamischen madrasa, einer kaiser­ lichen Akademie für die Ausbildung der chinesischen Mandarine und der Artistenfakultät oder der Theologischen Fakultät einer im Entstehen begriffenen europäischen Universität. Die islamischen höheren Schulen wie auch die hebräischen Gründungen haben die Invasion durch das christlichen Regime nicht überlebt, so etwa die Schulen von Córdoba, Sevilla, Toledo, Granada und Valencia im arabischen Spanien.

Das Streben nach Autonomie Als Ausbildungsstätte ist die Universität also keine europäische Erfindung. Sie ist durch ihre institutionelle Form – die immer auf eine Beziehung der Autonomie und der Transzendenz gegenüber dem Staat und den Kirchen, die sie gegründet haben, aus war – zum Markenzeichen, zum Symbol und zum Zentrum der Weitergabe ihrer geistigen Kultur geworden. Die europäische Universität entwickelte sich von Anfang an nach zwei Modellen: Bologna (fest um 1090) und Paris (1198). Die Schulen von Bologna beruhten auf Studentenvereinen (den „Nationen“) und privilegierten das Zivilrecht und das kanonische Recht. Gleichzeitig entwickelte sich die Medizin in Montpellier. In Paris gliederten die Lehrervereine die Universität in Fakultäten, in denen die Künste und die Theologie dominieren. Der Bischof erteilte die licentia docendi und übte dadurch eine religiöse Kontrolle über die Lehrer aus. Die Geschichte der Universitäten erweist sich als ein langer Kampf gegen die Einflussnahme der Kirche und dann des Staats. Zunächst ergriffen die weltlichen Mächte 303

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(Kaiser, Könige und Zivilbehörden) die Initiative, neue Universitäten zu gründen, und ab der Renaissance übernahmen sie auch mehr und mehr die Kontrolle über sie. Die Strukturen waren nun fixiert und das Wissen kanonisiert. Die Entklerikalisierung öffnete die Universität für eine neue, säkulare und bürgerliche Kundschaft, ermöglichte die Anpassung des Wissens an die gesellschaftlichen Nachfragen und eine reibungslosere Vermittlung, die den Auftakt zum Aufschwung und zur Emanzipation der exakten Wissenschaften bildete. Im Anschluss an die Reformen und Revolutionen des 18. Jahrhunderts eignet sich der Staat das Monopol der Verwaltung des Erziehungssystems und damit auch der Universitäten an, delegierte dieses Monopol aber da und dort an subalterne Autoritäten oder erlaubte die Gründung freier, aber immer überwachter Universitäten. Im Lauf des 19. Jahrhunderts nahm die europäische Universität eine universelle Dimension an. Mit der Emanzipierung der Mittelschichten, der Verstädterung und der kulturellen Demokratisierung zeichneten sich auf der ganzen Welt die Massenuniversitäten ab. Zu diesem Basismodell tritt noch das angelsächsische Collegemodell hinzu, das in Oxford entstand und auf den Humanwissenschaften (Geisteswissenschaften) beruhte. Es setzte sich mit der Gründung von Harvard im Jahr 1636 vor allem jenseits des Atlantiks als neuer Weg durch. Überall dort, wo der Staat mit Unterstützung der Kirche eine Kolonisierung betrieb, die sich auf eine zivilisatorische Mission berief – ab dem 16. Jahrhundert im spanischen Amerika, ab dem 17. Jahrhundert im englischen Amerika, im 19. und im 20. Jahrhundert in Australien, Asien und Afrika  –, wurden Universitäten europäischen Typs eingeführt. Als Erinnerungsorte der europäischen Wurzeln der gelehrten Kultur sind diese Universitäten mittels ihrer Architektur, ihrer Bibliotheken, ihrer Lehrpraktiken bis hin zu ihren Ritualen oft auch aktive Erhaltungsstätten der europäischen kulturellen Errungenschaften. Das Gedächtnis der Universität ist vielschichtiger, als dies der Begriff „Universität“ mit seiner globalen Dimension andeutet. Platons athenische akademeia, die 387 vor unserer Zeitrechnung gegründet worden war, hat in der Zeit des Humanismus die Universitäten in Nordeuropa angeregt. Im südlichen Europa war eine Akademie eine freie Körperschaft, die Gelehrte und aufgeklärte Amateure versammelte, um die Künste und die Wissenschaften zu pflegen. Die Akademien bestanden neben der Universität, die dem mittelalterlichen Modell treu blieb und 304

DAS WISSEN AUSSERHALB VON KIRCHE UND STAAT

auf der Vormachtstellung der Theologie und des Rechts gründete. In Nordeuropa hingegen innovierte die Universität, indem sie das antike Modell übernahm. Die Universität von Wittenberg, aus der dann die luthersche Reformation hervorging, war 1502 die erste im Heiligen Römischen Reich, die sich academia nannte. Sie manifestierte damit ihren Anspruch, zu einem geistigen Ideal und zu einem Ausbildungsmodell zurückzukehren, die am Beginn der europäischen Zivilisation standen. Die academia führte die klassische, auf dem Primat des Wortes beruhende Überlieferung wieder in die Universität ein, also den philologischen Ansatz in den Künsten, der Philosophie und der Theologie, und nährte dann auch die Ablehnung der politisch-religiösen Ordnung in der christlichen Welt. Erst nach dieser ideologischen Veränderung konnten das Recht und die Medizin und anschließend die exakten und die Sozialwissenschaften ihren triumphalen Einzug in die europäische Universität beginnen, noch vor der Geschichtswissenschaft selbst, die erst spät in das europäische Universitätssystem Eingang fand.

Ein Fels in einer turbulenten Geschichte Über ihre pädagogischen Leistungen und die wissenschaftlichen Produktionen ihrer Mitglieder hinaus wird das Ansehen der Universität sehr stark von ihrem hohen Alter, ihrer geistigen Aufgeschlossenheit und ihrem transnationalen Charakter bestimmt. Diese Kennzeichen gewährleisten und bewahren die Qualität ihrer Lehre und ihrer Forschung – aber sie rechtfertigen im gleichen Maß die Trägheit, den Widerstand gegen Veränderungen, die mangelnde Anpassungsfähigkeit und sogar den Immobilismus. Die Kraft der Universität kann sich leicht in eine Fragilität verwandeln, wenn sie sozialen und kulturellen Bewegungen ausgesetzt ist. Deshalb hat sie wiederholt „Krisen“ durchgemacht: in der Renaissance, in der Zeit der Aufklärung und im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, um nur einige davon zu nennen. Die Französische Revolution und das napoleonische Kaiserreich haben den Immobilismus und die Abnutzung der Universitäten genutzt, um mit den Universitäten des Ancien Regimes gründlich aufzuräumen und das ganze Gebäude neu zu errichten. Die Restauration hat implizit die Berechtigung dieser großen Säuberungsaktion auf institutioneller, kultureller und wissenschaftlicher Ebene anerkannt und durch die Beibehaltung der Namen und 305

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Strukturen die Kontinuität dieser neuen Universität mit den älteren universitären Regimes, die in einem weiten Teil Europas fortbestanden, behauptet.

Eine Stätte des Engagements Die Universitätslehrer selbst haben als engagierte Intellektuelle oder als Tatmenschen eine wichtige Rolle in fast allen großen Revolten, Revolutionen und Unabhängigkeitsbewegungen in Europa gespielt. Allein im Bereich der Humanwissenschaften kann man hier den dauerhaften und europäischen Einfluss der „Scholastik“ (der Schulphilosophie) in Erinnerung rufen, die von Petrus Abaelardus (1079–1142) eingeleitet und von Thomas von Aquin (1224–1274), beide Professoren in Paris, bis zu ihrer Perfektion geführt worden war. Gegenüber Erasmus von Rotterdam, der geistigen Ikone des damaligen Europas, stützten sich Martin Luther, Huldrych Zwingli und Johannes Calvin fest auf ihre Stellungen als Universitätsprofessoren, um ihre neuen Kirchen verwirklichen und durchsetzen zu können. Die großen Intellektuellen und Auslöser der wissenschaftlichen Revolution wie Michel de Montaigne, Francis Bacon, René Descartes, Blaise Pascal, Baruch de Spinoza, Thomas Hobbes und David Hume hatten mit dem verknöcherten universitären Denken gebrochen und pochten auf ihre Unabhängigkeit oder wurden des Atheismus verdächtigt und deshalb von der Universität ferngehalten. Doch angefangen mit Immanuel Kant, Professor in Königsberg, und Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Berlin, verdanken praktisch alle modernen Denker der Moderne einen Teil ihrer europäischen Ausstrahlung ihrer Stellung an der Universität. Ihre Karriere wurde oft durch den Konformismus der Universität oder die wachsende Einflussnahme des Staates behindert. Dennoch bildete die Interaktion zwischen der Universität als einem europäischen Modell und dem europäischen Einfluss seiner herausragenden Mitglieder immer schon einen der dominierenden Faktoren für die Fortdauer eines europäischen Bewusstseins und seines Gedächtnisses. Als nach dem Zweiten Weltkrieg zentrifugale Bewegungen drohten, das europäische Universitätsgebäude zu zerstören, waren die Reaktionen zahlreich. Eine erste Konferenz der Universitätspräsidenten aus 15 Ländern trat 1955 in Cambridge zusammen und 1959 folgte in Dijon die Standing Conference of Rectors and Vice-Chancellors of the European 306

DAS WISSEN AUSSERHALB VON KIRCHE UND STAAT

Universities (CRE). 2001 wurde diese von der European University Association absorbiert, die 45 Länder Europas und seiner Ränder vereinigt, darunter auch Russland und die Türkei. 1976 wurde in Florenz das Europäische Hochschulinstitut eröffnet, das die Elite der jungen Wissenschaftler aller Mitgliedstaaten versammelt. Um das Gedächtnis der europäischen Universitäten abzusichern, hat die CRE in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine große Geschichte der Universitäten aus europäischer Sicht, A History of the University in Europe (1992–2004), in Auftrag gegeben, die in mehrere Sprachen übersetzt wurde.

Eine Erhaltungsstätte des europäischen Gedächtnisses Die Universität ist stolz auf ihre ununterbrochene Tätigkeit seit ihren Anfängen im Mittelalter und betrachtet sich als die Erhaltungsstätte des europäischen Gedächtnisses. Es gibt wahrscheinlich keine europäische Institution, die so konstant, so selbstbewusst und so prunkvoll ihre Fortdauer und die Erinnerung an ihre Geschichte feiert. Seit unvordenklichen Zeiten ist der Jahrestag ihrer tatsächlichen, legendären oder mythischen Gründung, der dies natalis, der Anlass für eine alljährliche Auffrischung der Erinnerung und einen feierlichen Festakt zu ihren Ehren. Schon in der Renaissance zeichnete sich der Brauch ab, prunkvoll den 25., 50. oder 100. Geburtstag zu feiern, wobei man übrigens diesen Rhythmus an den der Jubiläen des römischen Papsttums anglich. Die Universität bekräftigt bei diesem Anlass unter reichlicher Zuhilfenahme von akademischen Ritualen und symbolträchtigen historischen Umzügen ihren herausragenden und spezifischen Platz in der Gesellschaft wie in der Kultur und pflegt gleichzeitig ihr internationales Netz, indem sie Kollegen aus anderen Universitäten einlädt und ausländischen Wissenschaftlern Ehrendoktorate verleiht. Wenige kulturelle und soziale Institutionen schreiben und dokumentieren ihre Geschichte mit so großer Präzision in den Archiven, in historischen Untersuchungen oder Gedenkschriften, ganz zu schweigen von den Bildern, Medaillen und symbolischen Objekten. Da die Professoren hauptberuflich Schreiber sind, wird ihr universitäres Leben oft in ihren Erinnerungen geschildert, wenn nicht gar in Fiktionen oder kaum verschleierten halben Fiktionen, in Schlüsselromanen oder in der angelsächsischen campus novel, gefolgt von äußerst erfolgreichen Fernseh­serien, von Dorothy L. Sayers (Gaudy Night, 1935) über C. P. Snow (The Masters, 307

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1951) und Mary McCarthy (The Groves of Academe, 1952) bis zur Trilogie von David Lodge (Changing Places, 1975; Small World, 1984; Nice Work, 1988), zur Satire The History Man (1975) von Malcolm Bradbury und zu den studentischen Intrigen, die Donna Tartt in ihrem Bestseller A Secret History (1992) schildert. Die europäische Berufung der Universität wurde anlässlich der Jahrestage der zwei ursprünglichen Modelle Bologna und Paris eindringlich in Erinnerung gerufen. In Bologna wurden die 900 Jahre inmitten eines internationalen Areopags von Wissenschaftlern und Universitätspräsidenten prunkvoll gefeiert und waren auch Anlass zur Verfassung einer magna charta universitatum (18. September 1988), die die vier grund­ legenden Prinzipien der europäischen Universität in Erinnerung ruft: die Autonomie, den Vorrang der didaktischen Aktivität, die Freiheit der Forschung, der Lehre und Ausbildung (die alte libertas philosophandi, garantiert durch das forum privilegiatum, die bis zum Recht auf Asyl gehen konnte) und die Bewahrung der Tradition des europäischen Humanismus, als dessen Statthalter sich die Universitäten sehen, aber mit dem konstanten Bestreben nach einem universellen Wissen. In einer Erklärung vom 25. Mai 1998 leitete die Sorbonne an ihrem 800-jährigen Geburtstag die Schaffung des europäischen Hochschulraums ein, der 2010 umgesetzt wurde und die Architektur des Systems harmonisieren soll.

Von der universitas zur university Das Gedächtnis der Universität ist eng an ihren Namen geknüpft. Nach einer Periode mit Alternativen (Akademie, grande école, Institut und so weiter) oder Schwankungen kehrt der Name „Universität“ überall wieder, vielleicht unter dem Einfluss der Vereinigten Staaten, wo university ein Oberbegriff ist, der an jede Schule oder Ausbildung angehängt wird, die auf eine höhere Bildung Anspruch erhebt. Das reicht bis zu virtuellen Institutionen wie der Open University, den „Sommeruniversitäten“ der politischen Parteien und zu Kuriositäten wie der von McDonald’s 1961 gegründeten Hamburger University. Historisch gesehen, verweist die universitas ganz einfach auf die Vereinigung einer Gruppe von Personen in einer Gemeinschaft oder einer allgemeinen Körperschaft von Interessen wie etwa die universitas civium oder burgensium, das Bürgertum einer Stadt, oder die universitas mercatorum, die Hanse der Kaufleute. 308

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Universitas bezeichnete ursprünglich nicht die Lehre und die Forschung, sondern die Körperschaft derjenigen, die in die Verwaltung eingebunden waren, und das Unterrichten in einem studium. Doch ab dem 13. Jahrhundert tauchte der Begriff überall gleichzeitig auf und bezeichnete Gruppen, die die gleichen pädagogischen Interessen teilten: universitas scholarium in Vicenza im Jahr 1206, universitas magistrorum in Paris im Jahr 1208, universitas professorum in Bologna im Jahr 1215, universitas medicorum in Montpellier im Jahr 1220. Ab 1215 sprach man in Paris von der universitas magistrorum et scholarium und betonte somit die Interessengemeinschaft zwischen Lehrern und Studenten, die nun die ursprüngliche Bedeutung von universitas ersetzt. Die Universität strukturiert sich, indem sie dieses spezifische Wort übernimmt, das die zahlreichen Bezeichnungen wie Schulen, Kollegien, Kurse oder Professoren überlagert. Sie alle werden eingegliedert in diesen einen Begriff, der die Institution kennzeichnet und bald ihrer Erinnerung als Rahmen dienen wird: Eine Universität ist jede Institution, die nach einem der zwei Basismodelle Paris und Bologna gebildet wurde. Jede Universität richtet sich nach diesen Modellen, vereint Professoren und Studenten, Fakultäten und Kollegien, eine Verfassung mit detaillierten Regeln für die Funktionsweise, die Verwaltung und die Disziplin und einen Führungsrat, der entweder aus Professoren besteht oder aus anderen „suppôts de l’université“, das heißt aus denen, die den Regeln entsprechend eingeschrieben wurden, ob nun als Studenten, Doktoranden, Professoren oder als einfache Beamte. Da diese Strukturen nunmehr integrierende Bestandteile des universitären Gedächtnisses sind, weckt die derzeitige massive Einstellung von Verwaltern oder Geschäftsführern der Universität, die in der politischen Praxis, in der öffentlichen Verwaltung oder im privaten Sektor ausgebildet wurden und keine organische Verbindung zur universitären Einrichtung besitzen, so ziemlich überall heftige Kritik, verbunden mit Studentenstreiks und gelegentlichen Ausschreitungen wie bereits im Mittelalter. Der staatliche Eingriff war bereits im 18. Jahrhundert spürbar, als die Regierungen im Bestreben, ihre Verwaltungen auszubauen und ihre nationalen Grenzen zu schließen, einen Markt von Professorenposten schufen – von Habilitationsprüfungen für Notare und Beamte (Preußen) bis zu Aufnahmeprüfungen in den öffentlichen Dienst (Dänemark 1736, Schweden 1759) – und ein nationales System der Zertifizierung gründeten (wie 309

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die Agrégation in Frankreich 1766). Sie gingen mitunter bis zur Einführung neuer Fächer (etwa der Kameralwissenschaften in Halle und Frankfurt an der Oder 1727) oder einer landesspezifischen Didaktik. Ausnahmslos alle Kirchen haben überdies immer der universitären Autonomie misstraut. Sie waren bestrebt, ihre eigene Kontrolle über die Lehre oder den Eintritt in die Seelsorgeämter aufzuzwingen. Die Verstaatlichung der Geschäftsführung, der Finanzierung und der Kontrolle der Universitäten wird jetzt von allen europäischen Ländern übernommen, und zwar sowohl aus negativen Gründen (Reduktion der Defizite einer Hochschulausbildung, die von öffentlichen Geldern finanziert wird) als auch aus positiven (Förderung der Exzellenz, der Mobilität oder einer gezielten internationalen Kooperation).

Die Erzählung fabrizieren Als europäischer Erinnerungsort hat die Universität im 16. Jahrhundert Gestalt angenommen. Die Geschichte der Universitäten wurde seit der Neuzeit praktiziert, verbunden mit einer grundlegenden Reflexion über ihr Wesen. Sie war sogar eine der ersten Formen der Geschichte schlechthin in ihrer modernen Auffassung, dabei nicht unfrei von kollektiven Vorurteilen oder propagandistischen Anwandlungen, mitunter Opfer einer nationalistischen Instrumentalisierung, aber immerhin schon durchdrungen von der Notwendigkeit eines Rückgriffs auf die Quellen und einer möglichst präzisen und neutralen Behandlung ihres historischen Werdegangs. Die ersten Universitätshistoriker waren sich des relativen Stellenwerts der europäischen Universität in einer globalen kulturellen Überlieferung, die die menschliche Zivilisation insgesamt umfasst, durchaus bewusst. In dem Bestreben, die enge Verbindung zwischen der Antike und der Aktualität ihrer Zeit zu betonen, konstruierten die Humanisten eine regelrechte Gedenkerzählung. Jacob Middendorp, der Rektor der Universität Köln, veröffentlichte 1567 seinen berühmten weltumspannend angelegten Katalog De celebrioribus universi terrarum orbis academiis, ein Standardwerk, wenn es darum ging, die authentische Liste der Universitäten zu erstellen. Er zeigte, dass im Lauf der klassischen Antike rund um das Mittelmeer mehrere Einrichtungen universitären Typs dem europäischen System vorangegangen waren. In Beirut, Memphis, Heliopolis, Babylon, Jerusalem, Alexandrien, Athen, Korinth, 310

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Rom, Konstantinopel und anderswo hatten lange vor dem Christentum Zentren der höheren Bildung unter der Autorität lokaler Regierungen existiert. Manche scheuten nicht davor zurück, die Universität in die vorsintflutliche Zeit Noahs zurückzudatieren. Henricus Flockenius ließ in seiner Antrittsvorlesung De Providentia Dei singulari circa Academiarum incrementum (1650) das universitäre System sogar in der „häuslichen Akademie“ beginnen, die Adam, der erste Mensch, in seinem Heim unterhielt. Die Lehre, die es daraus zu ziehen galt, war klar: Die Universität ist die Basisinstitution jeglicher Menschheit, gleichgültig welcher Nation, welcher Religion, welcher Sprache oder Rasse, und die Ausbreitung des Systems fügt sich in die menschliche Evolution und in eine kontinuierliche Gedenktradition ein.

Jenseits der Risse im Christentum Die Erinnerung an ein Universitätsnetz, das sich auf das christliche Europa erstreckt, ist über die Geschichte selbst hinaus eine Kreation der Renaissance. Indem sie die Originalität und die Kontinuität ihres kulturellen Gedächtnisses betonte, beschwor sie die Risse innerhalb der Christenheit im Anschluss an die Invasion des christlichen Orients durch die Muslime im 15. Jahrhundert und dann die konfessionellen Spaltungen aufgrund der lutherschen, anglikanischen und calvinistischen Reformen. Letztere haben die universitäre Welt umso tiefer gespalten, als die neuen Kirchen Religionen des Worts waren, die von Universitätsprofessoren gegründet worden waren, die das Bibelstudium und die theologische Reflexion förderten. Gegen diese institutionellen Spaltungen musste man neue Kriterien für die Einheit des Universitätssystems finden. Wolfgang Justus, Professor der Medizin an der Universität Frankfurt an der Oder, ein Augenzeuge dieser Zerrissenheit, rückte 1554 gegen das institutionelle Kriterium das Niveau der Lehre in den Vordergrund und weigerte sich, zwischen den Universitäten im strengen Wortsinn (academiae) und anderen „illustren Schulen“ zu unterscheiden. Er ließ das europäische Universitätssystem in Rom beginnen, wo die Schule „auf den Ruinen derjenigen von Athen“ entstanden sei, und suchte die Kontinuität des Systems in der permanenten Verwendung der klassischen Schriften und der Verbreitung der alten Modelle in der ganzen Christenheit. Ihm zufolge hatte Theodosius der Große die Universität von Bologna 432 311

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gegründet; in Salisbury (Old Sarum) in England sei eine Universität um 470 entstanden, in der Zeit von König Arthur; danach sei die von Cambridge im Jahr 630 von König Sigebert von East Anglia gegründet worden; und schließlich sei das moderne System eingeführt worden, als Karl der Große 792 die Schule von Rom nach Paris verlegte. Das Prinzip dieser translatio studii wurde dann zu einem Leitmotiv und zu einem in der Geschichte der Universitäten häufig wiederkehrenden Gedenktopos. In der Neuzeit rechtfertigte es die Ansprüche auf die Vorherrschaft der protestantischen Universitäten Nordeuropas über die viel zahlreicheren des Südens, die katholisch geblieben waren und folglich als rückständig und vom Papsttum gedungen angesehen wurden. Im 21. Jahrhundert verweist dieses Prinzip auf die Verlegung des wissenschaftlichen Schwerpunkts von Europa nach Nordamerika und indirekt auf die derzeitige Rückkehr des amerikanisierten Modells auf den europäischen Kontinent.

Eine Reformwelle Ab dem 18. Jahrhundert wollten die Herrscher der Aufklärung der Trägheit abhelfen oder den Traditionalismus der Universität kompensieren oder sie ganz einfach durch neue Fächer oder Ansätze bereichern. Nun erlebten die Universitäten in Süd- und Osteuropa erstaunliche Neuerungen. Nach der Eroberung Kataloniens schaffte die spanische Macht dort im Jahr 1714 alle Universitäten ab und ersetzte sie durch eine neue, regimehörige Institution in der Kleinstadt Cervera. 1724 schuf Peter der Große in Sankt Petersburg eine ganz neue Kombination einer gelehrten Akademie mit einer Universität. 1729 reformiert Viktor Amadeus II. von Savoyen das ganze Bildungssystem im Piemont, indem er die Anzahl der Diplome an die Nachfrage vonseiten der Verwaltung anpasste und neue Fächer für die Ingenieure, die Chirurgen und die Beamten schuf. 1737 eröffnete der Kurfürst von Hannover und König von Großbritannien Georg I. in Göttingen eine wegbereitende Universität, deren Erfolg das Bestreben widerspiegelt, der gesellschaftlichen Nachfrage nach Wissen nachzukommen. Portugal (1759), Spanien (1769), Polen (1773), Österreich (1774–1777), Neapel (1777), Preußen (1779) und Russland (1782) schlossen sich dieser Reformwelle an, die zum Begriff einer rein professionellen Universität führte, die 1781 in Stuttgart in der „Hohen Karlsschule“ Gestalt annahm, die nicht einmal mehr die Bezeichnung Universität wollte. Die 312

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radikale Umwälzung des Bildungssystems durch die Mitglieder des französischen Nationalkonvents, die in den Jahren 1793–1794 alle Universitäten durch einige nach Fächern organisierte grandes écoles ersetzten, war also nur die Krönung einer langen kritischen Periode, in deren Verlauf der Begriff Universität in den Hintergrund trat und die Erinnerung an sie viel von ihrer europäischen Relevanz eingebüßt hatte. Im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts lebte die Universität wieder auf. Ein doppeltes Universitätsnetz entstand in Europa und erstreckte sich auch über Europa hinaus: zunächst ein staatliches (laizistisches) und konfessionelles, dann ein staatliches und privates Netz. Die wiedererstarkte Universität unterstützte die Explosion der sogenannten harten Wissenschaften, die den modernen Gesellschaften ihre Gestalt verliehen, und erhob gleichzeitig Anspruch auf ihren historischen Beitrag zur Genese der modernen wissenschaftlichen Ära. Die Neuheit lag in der Autonomie der Forschung. Die zwei ursprünglichen Modelle, Bologna und Paris, beruhten auf dem Vorrang der Lehre. Die Forschung, die im Mittelalter als eine reine Funktion des Bildungssystems eingeführt und später in die private Lebenszeit des Forschers eingegliedert wurde, wurde ab dem 16. Jahrhundert zu einem autonomen Imperativ, der sich langsam in das System einfügte. Die Entwicklung betraf das biomedizinische Gebiet (Botanik, Chirurgie, Anatomie, Zoologie, Pharmazie, Odontologie, Tiermedizin und so weiter), die harten Wissenschaften, die sich von der Fakultät der Künste emanzipierten (Physik, Chemie, Astronomie), die Techniken, die auf das Niveau der Technologie gelangten (Ingenieurswesen, Bergbau, Hydraulik, Architektur), und erreichte schließlich die Wissenschaften der öffentlichen Verwaltung und der privaten Geschäftsführung (management), die sich ab dem 18. Jahrhundert in den sich bürokratisierenden Staaten abzeichneten, zumindest dort, wo die Universitäten nicht völlig vom römischen Recht vereinnahmt waren wie in Spanien und in Italien. Um 1800 kristallisierten sich zwei neue Modelle heraus. Die „kaiserliche“, bonapartistische Universität im Dienst des Staates (1808) zeichnete sich als ein vollständiges Verwaltungsgebäude von Strukturen der Allgemeinbildung von der Basis bis zur Spitze ab und war flankiert von grandes écoles, die auf die Technischen Universitäten vorauswiesen. Auf die Initiative von Wilhelm von Humboldt hin, der selbst wieder von den Theorien Friedrich Schleiermachers angeregt war, aber auch von den Erfahrungen 313

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der Erziehungspolitik der Aufklärung profitierte, gründete der König von Preußen 1810 in Berlin eine neue autonome Universität im Dienst der Wissenschaft und der Forschung, aber auch einer allgemeinen und vollständigen kulturellen Bildung. Im Lauf des 19. Jahrhunderts eroberte das humboldtsche Modell mit seinen Forschungsseminaren das universitäre Feld in Europa. Trotz seiner unvermeidlichen Mängel bewies sein Erfolg, wie groß das Bedürfnis nach einem neuen europäischen universitären Maßstab war, der über die rein nationalen Funktionen, die sich in den Universitäten breitgemacht hatten, hinausging. Im 20. Jahrhundert mündetet seine Entwicklung – in Europa, aber noch deutlicher in den Vereinigten Staaten – in eine grundlegende Unterscheidung zwischen Universitäten, die sich der Lehre widmen, und Forschungsinstituten, die eine Finanzierung benötigen, die über die üblichen Ressourcen der Universität hinausgehen. Der außerordentliche Aufschwung der harten und medizinischen Wissenschaften im 20. Jahrhundert und die großartige Auffächerung der Institute, Fächer, Studiengänge, Ansätze und Stoffe erfolgten auf allen Kontinenten in den institutionellen Rahmen und innerhalb der Gedenktradition der europäischen Universität, und das selbst in den großen Ländern, die wie China oder Japan eine eigene mehrhundertjährige wissenschaftliche Traditionen besitzen.

Eine männliche Tradition Die Universität hält sich eine globalisierende Berufung in einer Welt des Wissens zugute, die sogar in ihrem Namen zum Ausdruck kommt. Doch ihr Aktionsradius und ihr Gedächtnis haben immer Grenzen gekannt. Die ursprüngliche Universität der unverheirateten Gelehrten (man denke an das Drama von Heloisa und Abaelard) ist sehr lange ein geschlossenes maskulines Universum von Wissensprofis gewesen, das bewusst die Amateure, die Dilettanten, die Autodidakten und die Frauen beiseiteließ. Die Amateure versammelten sich in gelehrten Gesellschaften und Akademien, die privat von Mäzenen oder später von Körperschaften oder Interessengruppen gegründet wurden. Ihre Verbindung zur Universität war eine rein gesellige, die gelehrten Gesellschaften versammelten Amateure und Fachmänner in der gemeinsamen Ausübung der Künste und der Wissenschaften und in der konkreten Anwendung der Forschung. In der Frühen Neuzeit nahm dieses breite und aufgefächerte Gebiet parallel 314

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zur Universität und sie teilweise einbeziehend den Namen Res publica literaria (Gelehrtenrepublik) an. In den Grenzen dessen, was in der damaligen Gesellschaft zulässig und schicklich war, ermöglichte sie, in die Welt des Wissens diejenigen aufzunehmen, die aus religiösen, politischen und sogar wissenschaftlichen Gründen von der Universität ausgeschlossen oder freiwillig oder unfreiwillig am Rand geblieben waren. Zu den Vergessenen, den Ausgeschlossenen und den Unterrepräsentierten tritt noch die Welt der Frauen hinzu. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts konnten die Universitäten, die Intellektuellen und die Regierenden ihre politischen oder pseudowissenschaftlichen Vorurteile über die geistige Unterlegenheit der Frauen oder die Ungleichheit der Geschlechter überwinden. Die Frauen wurden zunächst als freie Hörerinnen oder Studentinnen zugelassen und schafften es im Lauf des 20. Jahrhunderts, spärlich und langsam Zugang zu Lehraufträgen zu erhalten. Die durch ihre hochgradig maskuline Tradition schwer belastete Universität denkt ihre Geschichte, ihre Werte und die Großtaten ihrer Wissenschaft als ein tapferes Männerabenteuer, und das trotz des Beitrags von Frauen wie Marie Curie, die 1906 als erste Frau eine Professur an der Sorbonne erhielt. Diese Abwesenheit ist umso singulärer, als seit der Lobeshymne von Giovanni Boccaccios De claris mulieribus (um 1360) die Exzellenz der tugendhaften Frau und dann das Ideal der gelehrten Frau nach dem Vorbild von Christine de Pizan zu einem kulturellen Topos in Europa geworden war. Das 1672 in einer berühmten Komödie von Molière verspottete Modell der gelehrten Frau wurde gleichzeitig von François Poullain de La Barre in seinem Werk L’Education des dames (1674) gepriesen, das an seine Rede De l’égalité des deux sexes (1673) anschloss. Ab dem 17. Jahrhundert gab es dennoch einige Vorläuferinnen wie die fromme und polyglotte Anna Maria van Schürmann, Hörerin der Theologie in Utrecht, die Venezianerin Elena Lucrezia Cornaro Piscopia, die erste Frau mit einem Diplom in Philosophie (Padua 1678), oder Laura Bassi, die 1732 in Bologna ein Diplom in Physik erhielt und dann an dieser Universität lehrte.

Routen der Erinnerung: das Europa der Studenten Der intellektuelle Austausch hat im Lauf der Jahrhunderte wechselnde Formen angenommen, die jedoch alle zur Schaffung eines gemeinsamen 315

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europäischen Erinnerungsraums beigetragen haben. Seit der Entstehung der Universitäten unternahmen die clerici vagantes, wandernde Lehrer und Studenten mit dürftigen Mitteln wie etwa Stipendien ausgestattet und von Carl Orff in den Carmina Burana verewigt, Wanderungen auf vorgeschriebenen Routen, die im gemeinsamen Gedächtnis wurzelten und Merkmale einer transnationalen Gemeinschaft von Schreibern, Lehrern, Juristen und Ärzten besitzen. Mit wachsendem Wohlstand setzten sich formalisierte Reiserouten im Gedächtnis fest. Ab der Renaissance nahm die peregrinatio academica die Gestalt einer Grand Tour durch die Universitäten mehrerer Länder an, um bei einem berühmtem Lehrer zu studieren, ein Diplom in einer angesehenen Universität zu erhalten oder die Ausbildung des Studenten zu vervollkommnen – „die Sprache, das Land, die Religion, die Geschichte, die Sitten und die großen Männer entdecken“ (Thomas Erpenius, 1621). Nun wurde die Grand Tour zum entscheidenden Element der Ausbildung der politischen und gelehrten Eliten in der nördlichen Hälfte Europas. Eine richtiggehende ars apodemica (Wissenschaft vom Reisen) entwickelte sich und zahlreiche Reise­ erzählungen oder Lehrbücher wurden publiziert, die Führer für die Entdeckungsreise durch das geistige und historische Europa wurden, angefangen bei dem obligaten Besuch der Erinnerungsorte der Antike: dem Pont du Gard (dem berühmten Aquädukt in Südfrankreich), dem Theater in Orange und den Altertümern Roms. Die Grand Tour trat zu anderen Formen der Mobilität hinzu, die den universitären Raum in Europa strukturierten. Dieser Raum wurde geprägt vom Markt der Professuren und von den internationalen Karrieren, von den Netzen der großen religiösen Orden (den Jesuiten), dem Buchhandel auf den großen Messen (Lyon, Frankfurt, Leipzig) und den Hauptstädten des Verlagswesens (Paris, Venedig, Genf und dann Amsterdam, das die Buchhändler des 17. Jahrhunderts als das „Lagerhaus des Universums“ bezeichneten), von den brieflichen Kontakten in der Gelehrtenrepublik und dem geselligen Leben in den Akademien. Die studentische Mobilität zeichnete sich jedoch durch ihre Bedeutung für die Herausbildung der Universität als einer wirklich europäischen Institution aus, durch ihre Fortdauer bis in unsere Tage und durch ihren stark gedächtnisbildenden Charakter: Die Studenten gingen dorthin, wo die Universität als exzellent galt, das Leben angenehm und nicht zu teuer war, die Nebenseiten des Studentenlebens verlockend und die Vergnügungen erschwinglich 316

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waren. Die dadurch entstandenen Reputationen haben weitgehend dazu beigetragen, das universitäre Europa zu strukturieren. Insgesamt hat die studentische Mobilität immer eine doppelte Bewegung ausgeführt: entweder vom Norden nach Süden, aus der angelsächsischen, germanischen, skandinavischen und baltischen Welt in die Mittelmeerländer, die Wiege der antiken Zivilisation und des Humanismus; oder von Osten nach Westen, von Mittel- und Osteuropa in die atlantischen Länder, die als Zentren der literarischen, medizinischen und wissenschaftlichen Innovation anerkannt waren. Die Studenten aus dem Süden überquerten sowohl aus kulturellen wie konfessionellen Gründen nur selten die Alpen oder die Pyrenäen. Im 19. und 20. Jahrhundert bestätigten sich diese großen Bewegungen und betonten noch den Strom von Osten nach Westen. Mit der Schaffung des Erasmusprogramms (European Region Action Scheme for the Mobility of University Students, 1987) und dessen Stipendiensystem wollte die Europäische Kommission die studentische Mobilität parallel zur Konstruktion des europäischen Hochschulraums innerhalb von Europa vereinheitlichen. Das Akronym ergibt den Namen des humanistischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam (um 1469–1536), einer Ikone des Kosmopolitismus und der gelehrten Wanderung, der mit seiner geistigen Karriere, seinen Reisen, seinen Publikationen und seinem Briefwechsel die Hochburgen des Wissens seiner Zeit abdeckt.

Steht eine Kommodifizierung des Wissens bevor? Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war von dem plötzlichen Eindringen des amerikanischen Modells in die europäische Universität gekennzeichnet. Mit ihrer Bereitschaft, das weltweite universitäre Feld des 21. Jahrhunderts zu dominieren, hebt sich die amerikanische Universität grundlegend von ihrer großen europäischen Schwester ab, und das trotz ihres Namens, ihrer Ursprünge und des Stellenwerts, den sie den Humanwissenschaften zugesteht. Die europäische Universitätslandschaft ist laut dem Historiker Christophe Charle von der Kommodifizierung gekennzeichnet, der „Managerisierung“, der Vermassung, dem Rückgang der akademischen Autonomie, vom Aufruf zum Wettbewerb und von der Explosion der Prekarität. Dieses Bündel von Phänomenen bringt das mehrhundertjährige europäische Modell aufgrund der konzertierten 317

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Aktion der nationalen Verwaltungen, der Finanzoligarchie und von selbstverkündeten Experten ins Brennfeuer der Kritik. Nicht an allem ist die amerikanische kulturelle Domination schuld, aber der Vorrang der ökonomischen Sicht, die aus dem Wissen eine Ware macht, aus der Forschung eine Produktivkraft, aus den Studenten Kunden und aus der Universität ein Unternehmen, ist eindeutig der Vormachtstellung der Neuen Welt zuzuschreiben. Fügen wir noch den intellektuellen Konformismus und Anglisierung der Kultur hinzu, die die kosmopolitische Öffnung der europäischen Universität gefährden. Hoffen wir, dass das Gedächtnis der Universität in Verbindung mit ihrem chronischen Geldmangel, der die Forderungen verschärft, eine Gegenreaktion und eine Rückkehr zum ursprünglichen Modell auslösen werden, das so oft die Stärke Europas ausgemacht hat, aber ohne in die dreifache Diskriminierung zurückzufallen, die sie genauso stark geprägt hat: die der Intelligenzen, der sozialen Herkunft und die der Geschlechter.

Literatur Rainer BABEL und Werner PARAVICINI (Hg.), Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Ostfildern 2005. Yamina BETTAHAR und Marie-Jeanne CHOFFEL-MAILFERT (Hg.), Les Universités au risque de l’histoire: principes, configurations, modèles, Nancy 2014. Christophe CHARLE und Jacques VERGER, Histoire des universités, XIIe–XXIe siècle, Paris 2012. Lubor JÍLEK (Hg.), Historical Compendium of European Universities / Répertoire historique des universités européennes, Genf 1984. Walter RÜEGG (Hg.), A History of the University in Europe, 3 Bde., Cambridge 1992–2004. Wolfgang E. J. WEBER, Geschichte der europäischen Universität, Stuttgart 2002.

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Als Amerika die europäische Wissenschaft erfand Während die Macht Europas im 20. Jahrhundert schwand, wurde die Geschichte der Wissenschaften zum Gegenstand eines Diskurses, der die europäische Intelligenz feiert. Amerikaner und Briten bedienten sich dieses Hebels und verankerten in den Gedächtnissen die Überlegenheit Europas.

Die Bedeutung Europas für die Wissenschaft wird nicht nur in der Wissenschaftsgeschichte betont, sondern auch in der europäischen Kunst. Newton von William Blake. Farbdruckmonotypie aus dem Jahr 1795.

KAPIL RAJ

Die wesentliche Rolle, die Europa durch die wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts für die Entstehung der modernen Wissenschaft gespielt hat, erscheint uns heute so selbstverständlich, dass manche ziemlich erstaunt sein werden, zu erfahren, dass die Konstruktion dieses historischen Narrativs nicht weiter als 70 Jahre zurückreicht. Wir haben es der Wissenschaftsgeschichte zu verdanken, einem Fach, das sich erst seit einem Jahrhundert institutionalisiert hat. Das bedeutet nicht, dass die Europäer und insbesondre die Westeuropäer nicht bereits ein Gefühl der wissenschaftlichen Überlegenheit empfanden, das im europäischen Denken ab dem 18. Jahrhundert bereits gang und gäbe war. Die Vorstellung einer kulturellen und moralischen Überlegenheit spielte eine dominierende Rolle im europäischen Kolonialismus und bildete insbesondere bei den Franzosen die ideologische Basis für die Politik einer religiösen und politischen Assimilierung und damit der Okzidentalisierung der kolonisierten Völker. Der Legitimierungsdiskurs für diese „zivilisatorische Mission“ bezog sich jedoch kaum auf die Wissenschaft, und das trotz eines massiven Einsatzes von wissenschaftlichen Kompetenzen, materiellen Technologien und vermeintlich „wissenschaftlichen“ Rassentheorien. Man muss zudem betonen, dass dieses Bild der besonderen europäischen Kompetenzen in den Wissenschaften nicht unangefochten war und auch nicht als gottgegeben angesehen wurde. Ein einflussreicher Autor des 19. Jahrhunderts, der Geograf und Reisende Winwood Reade (1838–1875) – dessen Schriften zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Zweiten Weltkrieg einen großen Einfluss auf die hervorragendsten Intellektuellen, Schriftsteller und Politiker des Planeten ausübte, darunter Cecil Rhodes, Winston Churchill, H. G. Wells und George Orwell –, siedelte die Ursprünge des wissenschaftlichen Denkens in Ägypten, Babylon, Indien und im antiken Griechenland an und wies dem Islam eine zentrale Rolle in der Weitergabe dieses Wissens an Europa zu. Seiner Ansicht nach hatte das Christentum im Gegensatz zum Islam den wissenschaftlichen Fortschritt sogar behindert. Die Europäer begangen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, ihre Gelehrten und ihre Philosophen zu heroisieren, also lange vor der Institutionalisierung der Wissenschaftsgeschichte. In Frankreich lieferten das Unterrichtsministerium und die Akademie der Wissenschaften einen grundlegenden Beitrag zu dieser Bewegung, indem sie René Descartes, Pierre de Fermat, 320

ALS AMERIKA DIE EUROPÄISCHE WISSENSCHAFT ERFAND

Antoine Lavoisier und Augustin-Louis Cauchy mittels der Publikation monumentaler Werkausgaben in den Rang von Nationalhelden erhoben. Die Koninklijke Hollandsche Maatschappij der Wetenschappen (Königliche Holländische Gesellschaft der Wissenschaften) stand nicht zurück und veröffentlichte das Gesamtwerk von Christiaan Huygens. Die Deutschen entwickelten ihrerseits eine richtiggehende Leidenschaft für Paracelsus, die in den 1930er- und 1940er-Jahren gipfelte. Diese Tendenz zur Hagiografie entsprang jedoch mehr dem nationalistischen und imperialistischen Denken als irgendeinem integrierten europäischen Konzept. Obwohl also die Vorstellung einer wissenschaftlichen Überlegenheit Europas seit nahezu zwei Jahrhunderten existierte und verschiedene europäische Länder ihre Kompetenzen und ihre wissenschaftlichen Technologien in ihren imperialen Eroberungen eingesetzt haben, wurden erst mit dem Entstehen des Fachs der Wissenschaftsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg die Verbindung der Wissenschaften mit der europäischen Geschichte und ihre zentrale Verankerung im Gedächtnisdiskurs auf völlig neue Art und Weise thematisiert. Die Repräsentanten des Fachs waren systematisch bestrebt, dem neuen Gedächtnis der Wissenschaft auf Kosten der anderen Regionen der Welt ein eurozentrisches Antlitz zu verleihen. Sie setzten das Bild eines Europas durch, dessen wissenschaftlicher Erfindungsreichtum den anderen Teilen der Welt nichts zu verdanken hatte, und das in einem Moment, in dem Europas Rolle in der neuen, postkolonialen Welt – einer bipolaren, von der Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion geprägten Welt – geringer wurde.

Die Wissenschaftsgeschichte – Ursprünge und Ausrichtungen Beginnen wir mit einer Klarstellung. Die Wissenschaftsgeschichte existiert zwar seit Jahrhunderten – man denke hier nur an die Schriften von Männern wie Jean-Étienne Montucla (1725–1799), Joseph Priestley (1733–1804), Jean-Sylvain Bailly (1736–1793), Jean-Baptiste Delambre (1749–1822), Willam Whewell (1794–1866), August Comte (1798–1857), Paul Tannery (1843–1904) und Pierre Duhem (1861–1916) –, doch handelte es sich bei ihren Arbeiten zumeist um Werke, die jeweils von Einzelpersonen unter besonderen Blickwinkeln verfasst wurden und hauptsächlich ihre eigenen bevorzugten Themen betrafen. Sie waren nicht die 321

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Emanation eines institutionalisierten Fachs, das imstande ist, seine eigenen Werkzeuge, Techniken und Methoden, seine geistigen Ausrichtungen und seine gemeinsamen Programme zu entwickeln, Wissenschaftler auszubilden und einen größeren Einfluss auf die Öffentlichkeit auszuüben. Anhand der Entwicklung des Inhalts von Isis, der ersten Fachzeitschrift in der Wissenschaftsgeschichte, die das wichtigste Standardwerk auf diesem Gebiet ist, lassen sich die Ursprünge des Fachs rekonstruieren. Isis wurde in Belgien gegründet, erschien dort von 1913 bis 1924 und folgte dann ihrem Gründer, dem Chemiker George Sarton (1884– 1956), der während des Ersten Weltkriegs in die Vereinigten Staaten auswandern musste und schließlich in Harvard unterkam. Sein Ziel war es, angesichts der ständigen Fragmentierung und wachsenden Spezialisierung eine synthetische Sicht der Wissenschaften zu bieten. Die auf den Seiten von Isis präsentierte Wissenschaftsgeschichte wandte sich in erster Linie an die Wissenschaftler und beruhte auf der Überzeugung des erzieherischen, heuristischen oder polemischen Werts der Geschichtswissenschaft. Sie war als metawissenschaftliches Projekt angelegt, an dem die Wissenschaften selbst teilnahmen. Der Wissenschaftshistoriker Peter Dear schrieb: „Für die meisten damaligen Wissenschaftler war die Vergangenheit ihres Fachs ein integrierender Bestandteil der Wissenschaft als solcher.“1 Die in Isis publizierten Texte sollten nach Sartons Auffassung die Summe des menschlichen Wissens vermitteln, wobei „menschlich“ und „Wissen“ jeweils ein harmonisches Ganzes bildeten, eine Einheit, in der „der Fortschritt jedes Zweigs der Wissenschaft eine Funktion des Fortschritts der anderen Zweige ist“.2

Das humanistische Projekt von George Sarton In den ersten Jahrzehnten der Existenz von Isis umfasste die in dieser Zeitschrift präsentierte Wissenschaftsgeschichte neben der Mathematik, der Physik, der Chemie, der Biologie, der Mechanik und ähnlichen Fächern auch die Geschichte der Archäologie, der Ethnologie, der Geografie, der 1 Peter Dear, The History of Science and the History of the Sciences. George Sarton, Isis, and the Two Cultures, in: Isis, 100, 1 (2009), S. 89–93. 2 George Sarton, The New Humanism, in: Isis, 6, 1 (1924), S. 9–42, hier S. 10. Vgl. jedoch Paul Tannery, Mémoires scientifiques, Bd. X, Toulouse 1930, S. 106.

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Medizin, der okkulten Wissenschaften, des Buddhismus, des Tantrismus, der auf die Schifffahrt angewandten Astronomie, der kommerziellen Buchhaltung, der Kochkunst und so weiter. Die Zeitschrift enthielt auch Beiträge über Indien, Japan, die arabische Welt, China, das alte Ägypten. Die Mehrheit der Artikel betraf allerdings die Geschichte der modernen Wissenschaft, zum Teil deshalb, weil, wie Sarton am Ende seines Lebens erklärte, ihre „Entwicklung so wichtig ist und so überschwänglich alle Richtungen einschlägt, dass die kürzeste Zusammenfassung einen beträchtlichen Platz erfordert. Die Autoren von Artikeln über die orientalische Wissenschaft veröffentlichen sie überdies lieber in Fachzeitschriften, in denen die philologische Basis ihrer Arbeit von den kompetenten Spezialisten geschätzt werden kann. […] Ich habe versucht, dieser Situation abzuhelfen […] damit unseren Lesern bewusst wird, dass eine Darstellung der Wissenschaft und der Kultur im 4. Jahrhundert vor Christi Geburt wie auch im 5. oder im 9. Jahrhundert nach Christi Geburt grundlegend unvollständig ist, wenn man die chinesischen, arabischen, hinduistischen und japanischen Elemente beiseitelässt.“3 Trotz des positivistischen Ansatzes der Ideengeschichte, der weit von heutigen Problematiken entfernt ist, war die Philosophie, die hinter dieser Zeitschrift und den ersten Jahrzehnten der in ihr veröffentlichten Arbeiten stand, eindeutig die der Einheit der Menschheit. „Die Fortschritte der Wissenschaft“, schrieb Sarton, „sind nicht durch die vereinzelten Anstrengungen eines einzigen Volkes bedingt, sondern durch die gemeinsamen Anstrengungen aller Völker.“4 Das Ziel des Fachs und seiner wegweisenden Zeitschrift bestand darin, zu zeigen, wie die Völker der ganzen Welt an einem großen Projekt mitgearbeitet hatten, das imstande war, sie aus ihren kleinlichen nationalistischen und religiösen Unterschieden herauszuführen. Die eigentliche Ambition von Sarton lag darin, eine Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, die die kulturellen und wissenschaftlichen Beiträge aller Zivilisationen von der Antike bis zur Gegenwart untersuchen würde. Er sprach bereits fließend Französisch, Englisch, Flämisch, Niederländisch, Schwedisch, Dänisch und Spanisch und hatte Kenntnisse des Türkischen, Hebräischen und Chinesischen. Dennoch begann er das klassische und moderne Arabisch zu lernen, um 3 George Sarton, Why Isis?, in: Isis, 44, 3 (1953), S. 232–242, hier S. 241–242. 4 George Sarton, The New Humanism, op. cit., S. 11.

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Zugang zu den Primärquellen zu haben, die für seine Arbeit von Nutzen waren. Die Introduction to the History of Science in drei Bänden und auf 4236 Seiten, an der er fast dreißig Jahre lang schrieb, endete schließlich im 14. Jahrhundert. Europa hatte zwar vielleicht in den vorangegangenen vier Jahrhunderten eine führende Rolle gespielt, erschien aber in der allgemeinen Geschichte der Wissenschaften nur ein Akteur unter anderen, deren Anwesenheit erforderlich war, um ein ausgeglichenes Bild zu zeichnen. Sartons Zielvorstellungen lagen deshalb eher in der Gestaltung dieser Wissenschaft und in der Schaffung einer internationalen Gemeinschaft von Hochschullehrern, die auf die Wissenschaftsgeschichte spezialisiert waren und weitgehend die Prinzipien des Begründers des Fachs teilten. Natürlich respektierten nicht alle diese Wünsche, manche in Isis publizierten Beiträge waren ausdrücklich chauvinistisch. Einer von ihnen bestand beispielsweise auf dem äußerst wichtigen Beitrag Großbritanniens zu den Kenntnissen der modernen Welt. Betonen wir jedoch, dass die Ansichten von Sarton nicht idiosynkratisch waren und von den Intellektuellen seiner Zeit weitgehend geteilt wurden. Der englische Philosoph Alfred North Whitehead (1861–1947) siedelte die Geburtsstätte der modernen Wissenschaft in Europa an, fügte jedoch in seinen 1925 an der Universität Harvard gehaltenen Lowell-Vorlesungen hinzu: „Ihre Heimat ist die ganze Welt … Sie lässt sich überall dort, wo eine rationale Gesellschaft existiert, von Land zu Land und von Rasse zu Rasse übertragen.“ Auch hier galt es, der Rationalität verpflichtet, auf die Universalität der abendländischen Wissenschaft zu insistieren, „die man vom Okzident in den Orient überwechseln lassen kann, ohne übereilt dessen eigenes Erbe zu zerstören, auf das er zu Recht großen Wert legt“.5

Russische Revolutionäre und die Neudefinition der Wissenschaft Diese von Isis vertretene universalistische und kumulative Sicht der Wissenschaften wurden in der Zwischenkriegszeit durch zwei Interventionen radikal infrage gestellt und durch eine Wissenschafts­geschichte ersetzt, 5 Alfred North Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, übers. von Hans Günter Holl, Frankfurt a. M. 1988.

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die ganz auf Nordwesteuropa eingegrenzt war. Die erste war der Beitrag des sowjetischen Physikers Boris Hessen (1893–1936), Mitglied der von Nikolai Bucharin angeführten Delegation der Sowjetunion auf dem Zweiten Internationalen Kongress der Wissenschaftsgeschichte, der in den Monaten Juni und Juli 1931 in London stattfand. Hessens Artikel Die sozioökonomischen Wurzeln der „Principia“ von Newton verankerte die intellektuelle Suche des berühmten Befürworters der Naturphilosophie im entstehenden kapitalistischen und industriellen System, das für die damalige „englische“ Produktionsweise typisch war. Gleichzeitig machte er auch die sozialen Umwälzungen zur Zeit der Veröffentlichung der Principia im Jahr 1687 und insbesondere die Glorreiche Revolution von 1688 für sie verantwortlich. Sein spektakulärer Beitrag bestand darin, die entstehende Gemeinschaft von Wissenschaftshistorikern, die es sich bis dahin in einem stark von der Ideengeschichte geprägten Ansatz bequem gemacht hatten, mit einer Version der marxistischen Geschichtsschreibung zu konfrontieren. Sie verknüpfte die wissenschaftliche Tätigkeit Newtons eng mit der im protestantischen Europa und ganz besonders in England entstandenen kapitalistischen Revolution. Hessens dialektisch-materialistische Interpretation übte einen tiefen Einfluss auf eine große Anzahl von hervorragenden Historikern, Soziologen und Philosophen der Wissenschaft des letzten Jahrhunderts aus. Hierzu gehörten, um nur einige zu nennen, unter anderen J. D. Bernal, Joseph Needham, Robert Merton und Stephen Toulmin. Auch mehr als 80 Jahre nach ihrer Veröffentlichung werden diese Vorschläge immer noch diskutiert. Allerdings betrifft und betraf diese Diskussion hauptsächlich den möglichen Einfluss äußerer und vor allem sozialer, politischer und ökonomischer Faktoren bei der Herausbildung der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die stillschweigende Akzentverschiebung vom Universalismus der ersten Jahrzehnte der Wissenschaftsgeschichte hin auf die Verortung ihrer modernen Geschichte in Nordwesteuropa, die in Hessens Beitrag praktiziert wurde, ist jedoch kaum bemerkt und jedenfalls nicht infrage gestellt worden. In Wirklichkeit verstärkte sich im Lauf der nächsten Jahrzehnte der Eurozentrismus, der in der marxistischen Interpretation Hessens bereits hervortrat – eine Entwicklung, die sich in den Schriften Alexandre Koyrés, eines anderen Intellektuellen russischer Herkunft, fortsetzte. 325

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Alexandre Koyré und die „wissenschaftliche Revolution“ Der in Russland geborene Alexander Wladimirowitsch Kojra, Alexandre Koyré genannt (1892–1964), war aufgrund seiner sozialistischen, revolutionären Sympathien schon mit 16 Jahren ins Exil gegangen. Er studierte zunächst in Göttingen, bevor er in Paris Religionsgeschichte belegte und dann dieses Fach in der Institution unterrichtete, die er selbst besucht hatte, der École pratique des hautes études. Sein ganzes Leben lang hindurch lehrte er daneben immer wieder auch an amerikanischen Universitäten. Sein erstes einflussreiches Werk über die Wissenschaftsgeschichte waren die Études galiléennes (1939), in denen er den Gedanken der „wissenschaftlichen Revolution“ einführte, einen Begriff, den er in seiner Lehre und seinen späteren Schriften weiterentwickelte. Koyré bezog den Begriff dabei nicht nur auf die Entwicklung oder den Zuwachs der Kenntnisse, sondern eher auf eine Umwandlung der Reflexion über das Universum, „eine richtiggehende Mutation des menschlichen Intellekts“6 (im Sinn von Gaston Bachelard, wie er selbst ausdrücklich zugab). „Eine solche Mutation, eine der wichtigsten, wenn nicht überhaupt die wichtigste seit der Erfindung des Kosmos durch das griechische Denken, war sicherlich die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts, eine tiefe geistige Umwandlung, deren Ausdruck und zugleich dessen Frucht die moderne Physik war.“7 Anders als Boris Hessen verwarf Koyré kategorisch die Idee, dass diese Verwandlung auf einer gesellschaftlichen Veränderung oder auf technologischen Ambitionen beruhte, die dem Begriff des Menschen als „Herr und Besitzer der Natur“ inhärent sein sollten. Er behauptete vielmehr, sie beruhe ganz im Gegenteil auf einem „Wechsel der metaphysischen Einstellung“, der sich beispielsweise in der Geometrie, der Sprache der neuen Physik, widerspiegelte. Mit anderen Worten: Die „wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts“ bildete eine neue begriffliche Grundlage heraus, in der sich die neuen Theorien verankerten. Die Veränderungen dieser neuen Weltanschauung „scheinen sich auf zwei übrigens miteinander verbundene Elemente zurückführen zu lassen, nämlich auf die Zerstörung des Kosmos

6 Alexandre Koyré, Études galiléennes, Paris 1939, S. 11. 7 Ibd., S. 12.

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und die Geometrisierung des Raums“.8 Die neue Physik dieser Zeit bestand folglich in der „Mathematisierung der Natur und ihrer Aufwertung der Erfahrung und des Experimentierens“.9 Diese Idee Koyrés brach eindeutig mit dem allgemeinen Konsens der zeitgenössischen Wissenschaftshistoriker, die das Wort „Revolution“ nicht in ihrem Wortschatz aufnahmen, wenn es um Erneuerung oder Veränderung ging. Die koyrésche „Revolution“ beruhte nicht nur auf einer begrifflichen Veränderung. Mindestens ebenso wichtig war, dass sie sich auf die mathematische und experimentelle Physik konzentrierte – unter Ausschluss anderer Wissensbereiche, die in Wirklichkeit den größeren und sogar dominierenden Teil der zeitgenössischen wissenschaftlichen Aktivitäten ausmachten. Dies betraf vor allem die Botanik, die Medizin, die Geografie, die praktische Arithmetik, die astronomische Navigation, die Ethnografie und andere Felder der zeitgenössischen Wissenschaften. Diese Fokussierung hatte auch noch eine andere Konsequenz: Indem Koyré die Bedeutung dieser Fächer minimisierte, ging er noch einen Schritt weiter als Hessen: Wenn auch nur implizit, trug er dazu bei, den Platz Europas auf dem Gebiet der Wissenschaften auf Kosten anderer Weltregionen noch weiter hervorzuheben. Denn die Mathematisierung des Wissens war dort sicherlich weit weniger in Mode als in Europa, während umgekehrt die meisten oder sogar alle der genannten anderen Fächer dort mindestens genauso entwickelt waren. So florierten zu Beginn der Frühen Neuzeit etwa die Geografie, die Kartografie, die Botanik, die Medizin, die praktische Mathematik und die Ethnografie in weiten Teilen Südasiens, Chinas, Japans, Ozeaniens Nord- und Südamerikas sowie Afrikas.

Die Neudefinition Europas als Kontinent der Wissenschaft Die These von Koyré wurde schnell ein Opfer des Zweiten Weltkriegs und hatte erst einmal keine unmittelbare Wirkung. Ihre universitäre Existenz begann erst am Ende der 1940er-Jahre und in den 1950er-Jahren im Anschluss an den Pyrrhussieg Westeuropas im Zweiten Weltkrieg und an 8 Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt a. M. 1969. 9 Ibd.

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den Beginn jenes postimperialen Zeitalters, das durch den stets schwindenden Einfluss des Alten Kontinents auf der internationalen Bühne gekennzeichnet war. In diesem Kontext setzte sich die „revolutionäre“ Sicht Koyrés nach und nach durch, während das Fach der Wissenschaftsgeschichte eine spektakuläre Wandlung durchlief. Die Popularisierung des Werks von Koyré hat viel Herbert Butterfield (1900–1979) zu verdanken, dessen Werk The Origins of Modern Science 1949 veröffentlicht wurde. Der herausragende englische Historiker verkündete darin, dass die wissenschaftliche Revolution „alles in den Schatten stellt seit dem Aufschwung des Christentums und die Renaissance und die Reformation auf den Rang bloßer Episoden, bloßer interner Verlagerungen innerhalb des Systems der mittel­ alterlichen Christenheit, reduziert“.10 Die eventuellen Zweifel hinsichtlich des geografischen Orts dieses radikalen Wandels wurden rasch beseitigt, als er in einem Kapitel über dessen Platz in der Geschichte schrieb: „Wir müssen also die wissenschaftliche Revolution als ein Produkt der Kreativität des Abendlands ansehen – abhängig von einer komplexen Reihe von Bedingungen, die nur in Westeuropa existierten […]. Und wenn wir von einer westlichen Zivilisation sprechen, die im Laufe jüngerer Generationen in ein orientalisches Land wie Japan transportiert wurde, dann sprechen wir weder von der griechisch-römischen Philosophie noch von den humanistischen Idealen, dann sprechen wir nicht von der Christianisierung, dann sprechen wir von der Wissenschaft, von den Denkweisen und dem ganzen Zivilisationsapparat, der in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts begonnen hat, das Antlitz des Abendlandes zu verändern.“11 Doch das Standardwerk für die nachfolgenden Generationen von Studenten war weder das von Koyré noch das von Butterfield, sondern das eines anderen britischen Wissenschaftshistorikers, Alfred Rupert Hall. Sein 1954 veröffentlichtes Buch The Scientific Revolution 1500– 1800 wurde gewissermaßen zum Fluchtpunkt der Wissenschaftsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Dieses Werk verlieh Koyrés Idealkonstruktion der wissenschaftlichen Revolution eine konkrete Gestalt und war dabei noch viel eurozentrischer als das von Butterfield. Er erklärte von Anfang an die Überlegenheit Europas über den Rest der Welt: „Die europäische Zivilisation am Beginn des 16. Jahrhunderts war 10 Herbert Butterfield, The Origins of Modern Science, 1300–1800, London 1949, S. Viii. 11 Ibd., S. 163.

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isoliert […, doch] im Lauf der nachfolgenden Jahrhunderte kehrte sich die Tendenz des Mittelalters um; die Europäer lehrten den Orient viel mehr, als sie von ihm gelernt hatten.“12 So gesehen, entfernten sich die Thesen von Butterfield und Hall von denen von Hessen, der die radikale Transformation des 17. Jahrhunderts in einem sozioökonomischen System angesiedelt hatte, und von denen von Koyré, für den sie einem geistigen Klima entsprungen waren. Weder der eine noch der andere hatten die Überlegenheit Europas besonders hervorgehoben. Das bedeutet nicht, dass nicht andere vor ihnen im 16. und 17. Jahrhundert einen entscheidenden Wendepunkt der Wissenschaftsgeschichte gesehen hatten. Es ist, gelinde ausgedrückt, ironisch, dass eine explizit eurozentrische Wissenschaftsgeschichte genau in dem Moment entstanden ist, in dem der größte Teil der Welt mehrere Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus abschüttelte und den Alten Kontinent auf einen Winkel des Planeten verwies, dessen Zentrum von der Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im Kalten Krieg besetzt war. Durch ein seltsames Zusammenspiel fiel die systematische Ausarbeitung einer eurozentrischen Wissenschaftsgeschichte auf diese Weise mit den Versuchen zusammen, die arroganten klassischen europäischen Geschichten und Geschichtsschreibungen infrage zu stellen, was schließlich in die postkoloniale Theorie mündete. Der Eurozentrismus in der Wissenschaftsgeschichte und die postkolonialen Versuche, sich von ihm zu befreien, fanden damit absolut zum gleichen Zeitpunkt statt.

Ein von den Amerikanern fabrizierter Eurozentrismus Eine weitere Ironie: Diese „neue“ Geschichte, die stark zur Schaffung einer neuen europäischen Geografie und Identität beigetragen hat, ist hauptsächlich außerhalb von Europa entstanden – sie war das Werk nordamerikanischer Historiker, die bemüht waren, einerseits ihren Platz in dem langen strahlenden und dominierenden europäischen Erbe einzunehmen und andererseits das eben erst gegen die Sowjetunion und generell gegen den Kommunismus geschaffene transatlantische oder west­ liche Bündnis zu festigen. Das Vorwort des ersten, 1957 veröffentlichten Werks The Copernican Revolution des Wissenschaftshistorikers Thomas 12 Alfred Rupert Hall, The Scientific Revolution, 1500–1800, London 1954.

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Kuhn schrieb James Bryant Conant (1893–1978), der ehemalige Präsident der Harvard-Universität, Leiter des Nationalen Komitees für Verteidigungsforschung während des Zweiten Weltkriegs und Verwalter des Manhattan-Projekts. Conant war später der erste Botschafter der Vereinigten Staaten in Westdeutschland (1953–1957) und hatte den Auftrag, die Schaffung von alliierten Militärkräften vor Ort und den Eintritt der Bundesrepublik in die NATO zu überwachen. In seinem Text unterstrich er ausdrücklich diese Verbindungen: „Im Europa westlich des Eisernen Vorhangs dominiert die literarische Überlieferung noch immer die Erziehung. Eine [gebildete Person ist jemand], der eine gute Kenntnis der europäischen Kunst und Wissenschaft bewahrt hat. […] Doch die Versuche, die Erziehungsmethoden weiterzuentwickeln, damit auch der Nichtwissenschaftler bessere Kenntnisse der Wissenschaft erwirbt, scheinen schwach oder sogar abwesend zu sein. […] Das Verständnis der wissenschaftlichen Theorien reicht nicht aus, damit die gebildeten Menschen bereit sind, die wissenschaftliche Tradition gleichzeitig mit der literarischen Tradition zu akzeptieren. […] Das ist durch das Anwachsen der Anpassungsschwierigkeiten der Wissenschaft in der westlichen Kultur im Lauf der Jahrhunderte bedingt.“ Und Conant fügt hinzu: „Verschiedene Vorschläge wurden gemacht […], insbesondere hat man empfohlen, mehr auf der Wissenschaftsgeschichte zu insistieren, und ich habe dieser Empfehlung wärmstens zugestimmt.“ Schon 1936, nur einige Jahre nach seinem Amtsantritt als Präsident von Harvard, hatte Conant bereits ein „Komitee zur Geschichte der Wissenschaft und der Erziehung“ eingerichtet. Als Direktor war niemand anderes als George Sarton bestellt worden. Conant gab ein Handbuch mit Primärquellen heraus, das Texte von Robert Boyle, Joseph Black, Antoine Lavoisier und Louis Pasteur enthielt. Während des Krieges bestellte er bei den Professoren von Harvard einen Bericht über den Unterricht in Wissenschaftsgeschichte in den höheren Schulen und den Universitäten. Hierauf aufbauend, wurde in den Nachkriegsjahren eine ganze Anzahl von Studiengängen in Wissenschaftsgeschichte eingerichtet, die ausschließlich auf die europäische Wissenschaft zentriert waren. Heute gibt es in den Vereinigten Staaten mehr als 50 wissenschaftshistorische Studiengänge, mehr als in jedem anderen Land, aber auch mehr Studiengänge als in Europa insgesamt: Ungefähr zwei Dutzend existieren auf dem Kontinent und ein Dutzend in Großbritannien. 330

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Die Achse Europa – USA Das Narrativ von der „wissenschaftlichen Revolution“ wurde dabei zum Eckstein des Fachs und die Anzahl der Artikel über dieses Thema in Isis ist im Lauf der Jahre exponentiell angestiegen. Man muss hinzufügen, dass dies auf Kosten der Beiträge über die außereuropäischen Räume geschah, die die Sarton-Jahre dominiert hatten. In diesem Kontext ist das Loblied des amerikanischen Wissenschaftshistorikers und NewtonSpezialisten Richard S. Westfall (1924–1996) zu verstehen, der die wissenschaftliche Revolution als das „wichtigste ‚Ereignis‘ in der west­lichen Geschichte“� beschrieb, das die Wissenschaftsgeschichte zur Kenntnis nehmen müsse, wenn sie nicht fehlgehen wolle. Über die engen Grenzen der Wissenschaftsgeschichte hinaus erwies sich die „wissenschaftliche Revolution“ in einem Westeuropa, das immer häufiger „der Westen“ genannt wurde, um den nordatlantischen Raum einzubinden, auch als die zentrale Idee für die Schaffung eines kohärenten historischen Diskurses, der dazu beitrug, die Achse Europa–USA als die größte existierende Zivilisation zu identifizieren. Sie partizipierte somit an der Herausbildung einer nordatlantischen Identität im Kontext der Rivalität des Kalten Kriegs mit der Sowjetunion und an der Legitimierung der technisch-politischen Zusammenarbeit zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Dabei hat sie nicht unwesentlich dazu beigetragen, die Umrisse dieses neuen europäischen Raums „westlich des Eisernen Vorhangs“ zu definieren, um die prägnante Formulierung Conants aufzugreifen. Dieser neue Raum gruppierte sich um einen Kern, der von Westdeutschland, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und vielleicht auch Schweden gebildet wurde und marginalisierte damit einen großen Teil des übrigen Europa und insbesondere die Mittelmeerregionen.

Die bright zone Das Narrativ der „wissenschaftlichen Revolution“ besaß dabei eine performative Rolle, indem es den Rest der Welt zum potenziellen Nutznießer einer wissenschaftlichen Entwicklungshilfe nach einem diffusionistischen Modell machte. Seinen positiven Einfluss sollte es zunächst innerhalb der neu konfigurierten Weltordnung der Vereinten Nationen und der ihnen angeschlossenen Organisationen entwickeln, als Speerspitze 331

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der internationalen Politik der Vereinigten Staaten mit dem Ziel eines Gegengewichts und einer Eindämmung des sowjetischen Einflusses während des Kalten Kriegs. Hatte der Krieg die Verbreitung der revolutionären Idee des wissenschaftlichen Wandels von Koyré behindert, so konnte sich doch die These von Hessen bezüglich der determinierenden Rolle der sozioökonomischen Faktoren bei der Entstehung einer radikal neuen Dynamik des wissenschaftlichen Fortschritts bei einer Gruppe von britischen Hochschullehrern durchsetzen, die einen festen Glauben an die Universalität der Wissenschaft und an die Einheit der Menschheit bewahrt hatten. Diese Männer übten in der Nachkriegszeit einen großen Einfluss aus. Der Biochemiker Joseph Needham (1900–1995) etwa fügte der neuen Organisation der Vereinten Nationen eine wissenschaftliche Dimension hinzu und setzte das „S“ bei der UNESCO durch. Als erster Verantwortlicher der Abteilung für Naturwissenschaften (1946–1948) war er der Architekt der Wissenschaftspolitik und der aktiven internationalen Kooperation in der Nachkriegszeit. Ausgehend von der Ansicht, dass die Wissenschaft eine universelles Gemeingut sei, aber aus historischen Gründen und aufgrund der Entwicklung der modernen Wissenschaft in Westeuropa eine Art bright zone existiere, die sich über Nordamerika sowie über den größten Teil Europas erstrecken würde, führte Needham eine langfristige Politik ein, mit der er internationale Fonds über Organe der UNESCO für die Kommunikation und die internationale Kooperation an die „an der Peripherie isolierten Gelehrten“ leitete. Hierzu zählte er beispielsweise Rumänien, Peru, Java, Thailand, China, Indien und Südeuropa. Demgegenüber sprach er von „großen Sektionen der bright zone wie Italien, Österreich und Deutschland, deren wissenschaftliche Aktivität beinahe zum Erliegen gekommen“ sei, und Südosteuropa, das nie ein Niveau erreicht hätte, das seine Einbindung in die bright zone rechtfertigen würde.13

… und der Rest der Welt Das Projekt von Needham wurde bei der ersten Generalkonferenz einstimmig angenommen und definierte den Rahmen des Konzepts der 13 Rochard S. Westfall, The Scientific Revolution, in: History of Science Society Newsletter, 15, 3 (1986), S. 1.

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­ issenschaftlichen Beziehungen der UNESCO, wurde aber de facto durch w die Vereinigten Staaten verhindert, die sich aus Angst, kommunistischen oder linken Staaten Gelder zukommen zu lassen, weigerten, es zu finanzieren. Im Rahmen einer wachsenden Rivalität mit den Sowjets um die Weltherrschaft definierten die Amerikaner stattdessen ihre eigene Politik, die sogenannte modernistische Theorie, die ausschließlich auf einer diffusionistischen Akkulturationspolitik der wissenschaftlichen und westlichen Werte beruhte. Der Artikel The Spread of the Western Science14 (Die Ausbreitung der westlichen Wissenschaft) von George Basalla präsentierte 1967 auf zwölf Seiten der Zeitschrift Science kurz diese Theorie. Den Artikel begann der Autor mit der kühnen Behauptung: „Ein kleiner Kreis von westeuropäischen Nationen war der Geburtsort der modernen Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert: Italien, Frankreich, England, die Niederlande, Deutschland, Österreich und die skandinavischen Länder (mit anderen Worten: die europäischen Mitgliedsstaaten der NATO). Der relativ beschränkte geografische Raum, den diese Nationen einnahmen, war der Schauplatz der wissenschaftlichen Revolution, die solide den philosophischen Standpunkt, die experimentelle Tätigkeit und die gesellschaftlichen Einrichtungen eingeführt hat, die wir heute mit der modernen Wissenschaft gleichsetzen.“ Aber wie, fragt er sich, „hat sich die moderne Wissenschaft von Europa aus verbreitet und im Rest der Welt durchgesetzt?“ Dieser „Rest“ schloss natürlich Asien, Afrika, Nord- und Südamerika, aber auch Osteuropa ein. Basallas Dreistufenmodell postuliert, dass fast alle Teile der Welt erst am Ende der dritten Phase Zugang zu einer unabhängigen wissenschaftlichen Überlieferung haben werden. Das heißt, Nordamerika, also die künftigen Vereinigten Staaten, erreicht nach mehreren Jahrhunderten der Akkulturation dank der europäischen kolonialen Präsenz die Reife schon am Beginn des 16. Jahrhunderts und ist somit Teil der westlichen Welt. Dieses Modell, das weitgehend von den Stufen des Wirtschaftswachstums im Anschluss an die Theorie der Modernisierung von Walt Whitman Rostow inspiriert ist, umfasst sieben „Aufgaben“, darunter: die traditionellen „philosophischen und religiösen Glaubensvorstellungen 14 Joseph Needham, L’Unesco et la science. Coopération scientifique internationale. Tâches et fonctions de la section des Sciences naturelles du Secrétariat, Archive der Unesco, Paris, Generalkonferenz, 1. Sitzung, 1946, Publikationen (französisch), Bd. 3, S. 8–9.

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„beseitigen“, „indigene“ wissenschaftliche Organisationen nach dem westlichen Modell einrichten, und die westlichen Technologien importieren. Das Modell von Basalla wurde zwar von den Forschern der ganzen Welt kritisiert, aber der Platz, den er Europa im Zentrum der wissenschaftlichen Revolution zuschreibt, ist problemlos akzeptiert worden. Verantwortlich ist dafür vielleicht gerade die Attraktivität der Modernisierungstheorie für jene Linken und Liberalen, die unter den Intellektuellen weltweit die Mehrheit bildeten. Selbst die Ränder des europäischen Kontinents haben diese Aufteilung Europas akzeptiert, wie etwa die von einer Reihe von herausragenden Wissenschafts- und Technologiehistorikern gegründete Gruppe namens STEP (Science and Technology in the European Periphery) zeigt.

Dem nationalistischen Narrativ entkommen Einer der Widersprüche dieser „revolutionären“ Erzählung, und zwar nicht der geringste, liegt darin, dass dieses zutiefst eurozentrierte Wissenschaftsgedächtnis eine aggressiv nationalistische Erzählung verbirgt, die in den Ländern im Herzen der „wissenschaftlichen Revolution“ ganz besonders evident ist: Die Geschichte der modernen Wissenschaften aus innereuropäischer Sicht bleibt zum Großteil eine Feier von Nationalhelden. Sie wird oft in nationalen Begriffen erzählt – wie auch das Fach Geschichte ganz allgemein. Viele europäische Spezialisten der Wissenschaftsgeschichte sind anscheinend unfähig, sich der mächtigen Einflussnahme der Nation zu entziehen, denn sie alle bemühen sich, das Verdienst, dieses oder jenes Gesetz oder diesen oder jenen Gegenstand entdeckt oder erfunden zu haben, ihrem Land zuzuschanzen. Die populären Radio- und Fernsehsendungen wie auch die Ausstellungen liefern ein gutes Beispiel dafür. Am überraschendsten ist, dass die Wissenschaftsgeschichte der Motor und das Legitimierungsorgan eines systematisierten und institutionalisierten Eurozentrismus geworden ist, der in der postkolonialen Welt des Kalten Kriegs – mit einem Europa, das zwischen seiner Eitelkeit und seiner unheilbaren nationalen Querelen gespalten war – hauptsächlich von den amerikanischen Hochschulmilieus genährt wurde. Eine umfassendere Diskussion dieser Frage ist sicherlich mehr als notwendig, vor allem in unserer postpostkolonialen Welt nach dem Ende des Kalten Kriegs. Sie 334

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würde es erlauben, reifere Erinnerungen wiederzubeleben und die historischen Erzählungen über die Schaffung von Wissen weniger durch kurzsichtige kulturpolitische Ideologien und mehr durch die Realitäten weltweiter interkultureller Begegnungen zwischen Gemeinschaften von Spezialisten zu prägen, die die moderne Wissenschaft erst ermöglicht haben, wie ein wachsendes Korpus von jüngeren, auf Archivstudium beruhenden Arbeiten gezeigt hat. Dieser Ansatz beruht nicht auf der naiven Sicht einer „universellen“ Wissenschaft, sondern auf einer Herangehensweise, die ehrlich ihre vielschichtige und verhandelte, von asymmetrischen Machtbeziehungen gespaltene Geschichte zugibt, aber dennoch in Prozessen der Kokonstruktion und der Zirkulation eine Handlungsfähigkeit verleiht. „Wenn die Geschichte Komplexitäten schafft, dann sollen wir versuchen, sie nicht zu vereinfachen“15, schrieb Salman Rushdie.

Literatur George BASALLA, The Spread of Western Science, in: Science, NS, 156, Nr. 3775 (1967), S. 611–622. James B. CONANT, On Understanding Science. An Historical Approach, New Haven 1947. Robert FOX, Fashioning the Discipline. History of Science in the European Intellectual Tradition, in: Minerva, 44 (2006), S. 410–432. Nils GILMAN, Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America, Baltimore 2003. Alexandre KOYRÉ, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, aus dem Amerikanischen von Rolf Dornbacher, Frankfurt a. M. 1969. Joseph NEEDHAM, The Place of Science and International Scientific Co-operation in Post-War World Organization, in: Nature, 156, Nr. 3967 (1945), S. 558–561. Kapil RAJ, Beyond Postcolonialism … and Postpositivism. Circulation and the Global History of Science, in: Isis, 104, 2 (2013), S. 337–347. George SARTON, The New Humanism, in: Isis, 6, 1 (1924), S. 9–42.

15 George Basalla, The Spread of the Western Science, in: Science, NS, 156, Nr. 3775 (1967), S. 611–622.

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Die Erfindung der Kochkunst Die Zubereitung der Speisen bewahrt seit jeher die Erinnerung an unterschiedliche Geschmäcker, Produkte und Herstellungsweisen auf. Die Gastronomie als solche ist zur Zeit der Aufklärung in Frankreich entstanden. Mit dem Aufkommen von Restaurants hat sie den öffentlichen Raum erobert und sich zu einem zentralen Bestandteil der europäischen Kultur entwickelt.

Der französische Koch Paul Bocuse, 15. November 1973.

DIE ERFINDUNG DER KOCHKUNST

Jede Form von Ernährung ist von vornherein ein Erinnerungsort: Das gilt zunächst einmal für jedes Individuum, das, ausgehend von seinen Geschmackserfahrungen, zuvörderst denjenigen der Kindheit, seine höchstpersönliche Gaumenerinnerung mit speziellen Vorlieben und Abneigungen entwickelt; vor allem aber gilt es für unterschiedliche Gemeinschaften, die für die Weitergabe von Herstellungsweisen („Rezepten“) sorgen. Dabei herrscht in der Folge der Generationen dessen, was wir hier „private Küche“ nennen wollen, das weibliche Element vor. Gerichte, Getränke und Tischsitten sind das Ergebnis von geografischen und historischen Prägungen, die in ihrer Kombination der jeweiligen Gesellschaft eine Auswahl an Pflanzen und Tieren anbieten, die ihrem natürlichen und symbolischen Umfeld entspricht. In neuerer Zeit hat sich dieses Zusammenwirken im Zug der Globalisierung intensiviert. Wie wir heute wissen, sind die jeweiligen Nahrungsbestandteile nur in geringem Maß einheimischer Art. Wenn es einen Bereich gibt, in dem die Akkulturation voll zum Tragen kommt, dann ist es das Gebiet des Kochens. Rezepte  –  wie die der Polenta oder der Paella  –, die man etwa mit bestimmten Regionen Italiens oder Spaniens verbindet, verwenden mit dem Mais beziehungsweise dem Reis Produkte amerikanischen beziehungsweise asiatischen Ursprungs. Im Fall Frankreichs kann man beispielsweise an das Rezept der „Tomate auf provenzalische Art“ denken, deren Grundbestandteil, die Tomate, zu Beginn des 16. Jahrhunderts aus Amerika nach Europa kam. Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig verlängern. Diese Zirkulation ist das Ergebnis mehrerer Faktoren: solchen ökonomischer (Klima, Bodenbeschaffenheit, Transportwege und -mittel, technische Fähigkeiten und so weiter), politischer (Grad der Autonomie der jeweiligen Gemeinschaften, politische Organisationsform, gegebenenfalls koloniale Abhängigkeit oder Protektoratsstatus und so weiter) wie kultureller Art (religiöse Traditionen und Dogmen, Status der Eliten, Transmissionsweisen und so weiter). Zur räumlichen Akkulturation kommt die zeitliche, die jegliche Art von Tier- oder Pflanzenzucht, von Fischfang und Jagd in eine Kette von äußerst dynamischen Vermittlungen einreiht, denn jede Wiederholung von Verfahren bedeutet zu jeder Zeit auch die Möglichkeit einer Perfektion der verschiedenen Techniken, zumal die Transmission bis Ende des 19. Jahrhunderts vorwiegend in mündlicher Form erfolgt.

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Das religiöse Element Unter diesen Umständen ist es klar, dass in einer Gruppe von Gesellschaften, die wir als „europäische“ betrachten, die Verschiedenheit vor der Einheit rangiert. Im Mittelalter gibt es allerdings bereits ein Konzept – aus dem sich in späteren Zeiten der Begriff Europa herausschälen wird –, das einer wachsenden Anzahl von Bevölkerungen als identitäres Bindemittel dient, nämlich das der christianitas. Und wenn sich am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung das „gastronomische“ Postulat herausbildet, dann geschieht dies auf einem Feld, das zuvor in der Tiefe beackert wurde, nämlich von einem Christentum, das – wie alle religiösen Phänomene – unvermeidlicherweise die Ernährungspraktiken seiner Gläubigen bestimmte. Die Ernährung, die Alimentation (deren etymologische Nähe zum Wort „Element“ nur selten beachtet wird), ist in flüssiger wie in fester Form Bestandteil der Symbolsysteme, die die Beziehungen der Menschen zum Universum bestimmen, wie es der Raum bezeugt, den sie in den religiösen Codes und Riten einnehmen. Diese Codes sollte man nicht vorschnell auf „Ernährungstabus“ reduzieren. Auch ist festzuhalten, dass zu den Riten nicht zuletzt das Opfer zählt, das in den polytheistischen Religionen einen herausragenden Platz einnimmt und im Christentum in Form der Eucharistie im Mittelpunkt der Liturgie steht. Bekanntlich gründet dieses Sakrament auf der feierlichen Aufforderung Christi, seiner zu gedenken: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird, das tut zu meinem Gedächtnis“ (Lukas 22,19). Diese extreme Symbolisierung wird für immer dafür sorgen, dass der dem Christentum  –  wie allen Heilsreligionen  –  eigenen puritanischen Tendenz, alles mit der Nahrung Verbundene dem Bereich des vulgär Physischen beziehungsweise des Sündenfalls zuzurechnen, Grenzen gezogen werden. Wenn die europäische Literatur und Kunst von François Rabelais bis Marco Ferreri und von Paolo Veronese bis Georg Philipp Telemann in unterschiedlicher Absicht das darstellt, was wir hier als „Prandialität“ bezeichnen möchten, dann verdanken wir das unter anderem dem christlichen Einfluss. Angesichts der Eucharistie kann die Beziehung des Christen zu Brot und Wein auch im Alltag nicht die gleiche wie die zu anderen Dingen sein. Was den Wein angeht, so hat das Christentum ein bedeutendes griechisch-römisches Erbe weiter ausdifferenziert und verfeinert. Im Mittelalter liefern der liturgische Gebrauch des Weins und seine gewisserma338

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ßen soziale Anerkennung durch die Regula Benedicti, die Benediktsregel, die Rechtfertigung für das Interesse am Wein und erklären die enge Verbindung von Weingegenden und Mönchsorden. Wie dies bereits für eine ganze antike Denktradition gilt, betrachtet auch Benedikt den Wein als Stärkungsmittel. Dies lässt auch eine Reihe von Mythen wie den des Benediktiners Dom Pérignon entstehen, der in Wirklichkeit keineswegs die Champagnerherstellung erfunden hat. Er hat allerdings als Verwalter einer Klostergemeinschaft zur technischen Perfektionierung der Herstellung dieses Schaumweins beigetragen, der dadurch zum bevorzugten Festgetränk der Eliten in aller Welt werden konnte.

Das politische Element Unabhängig von allen religiösen Erwägungen stellte in den christlichen Ländern die Ordensgeistlichkeit als soziale Elite mit starker Gruppenidentität ein Jahrtausend lang die Experten auf den Gebieten Fischzucht, Milchprodukte und Süßwaren. Diese modernisierte sie in ökonomischer Hinsicht und verhalf ihnen zugleich zu kultureller Geltung. Die Vorgeschichte der Gastronomie, die wir hier als Ess- und Trinkkultur in klassifikatorischer („nomologischer“) Absicht verstehen wollen, ist in der Tat eine Angelegenheit dieser Art Elite, der allerdings immer mehr Laien angehören, die am Ende sogar dominieren. Es ist kein Zufall, dass das älteste in französischer Sprache verfasste Rezeptbuch, der Viandier (von „viande“ – Fleisch) dem Truchsess zweier französischer Könige, Karls V. und Karls VI., zugeschrieben wird, einem gewissen Guillaume Tirel, genannt Taillevent. Gleiches gilt für die Tatsache, dass die Qualität und der Ruf von hervorragenden Weinen wie des trockenen gelben Weins von Château-Chalon in der Franche-Comté und des likörartigen ungarischen Tokajers mit der Tafel der Habsburger und verschiedenen aristokratischen Einflüssen in Verbindung gebracht werden. Nicht nur in mehr oder weniger realitätsnahen Anekdoten stehen die Herkunft und die Verbreitung verschiedener Produkte und Rezepte in Verbindung mit den Großen dieser Welt, mit bestimmten adligen und großbürgerlichen Familien und Zirkeln. Auch geopolitische Herrschaftsbeziehungen liefern Erklärungen für bestimmte Geschmacksorientierungen. So ist etwa der internationale Erfolg des Madeira und des Portweins eine Folge des Methuenvertrags von 1703, der den portugiesischen Weinen im Austausch für britische Indust339

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rieprodukte einen Absatzmarkt in einem England sichert, das sich anschickt, zum wirtschaftlichen Zentrum der modernen Welt aufzusteigen. Die maghrebinische und die indische Küche verdanken ihrerseits der Kolonisation ihren Erfolg in den Gesellschaften der jeweiligen Mutterländer und im Weiteren ihre weltweite Verbreitung. Es gibt gute Argumente für die in zeitgenössischen Texten anzutreffende These, dass die Spaltung zwischen der Verfeinerung, die man der französischen, und der Einfachheit, die man der britischen Küche zuschreibt, zutiefst politisch-religiös begründet ist. Beides, die Verfeinerung wie die Einfachheit, stieß ebenso sehr auf Zustimmung wie auf Ablehnung. Die Strenge der Reformation im Gegensatz zur größeren Sinnenfreude im Anschluss an das Konzil von Trient, wie sie Karen Blixen in ihrem Roman Babettes Fest beschrieben hat, fänden demnach ihre Verlängerung in der Glory Revolution (1688) und im Sieg des protestantischen gentleman farmer über den katholischen Monarchen französischer Prägung. Die englische patriotische Karikatur des 18. Jahrhunderts macht aus dem rustikalen beefsteak eines der wichtigsten Symbole der Nation und bildet damit einen Gegensatz zur dekadenten Raffinesse der französischen Eliten. Von einer bedeutenden Hofkultur geprägte Länder haben stets verfeinerte kulinarische Systeme gezeitigt, wie sich das auch an der Gastronomiegeschichte Chinas und Japans ablesen lässt. In Frankreich bildet diese höfische Tradition in Verbindung mit den Optionen des Konzils von Trient die Grundlage für die „gastronomische“ Revolution, die sich zeitlich genau am Ende des Ancien Régime verorten lässt. Diese betrifft zwar nicht die private Küche, aber das, was wir als öffentliche Küche bezeichnen wollen. Damit ist die Küche der herrschenden Klassen und Institutionen gemeint. Sie wird von Männern bestimmt, denen ja ursprünglich der öffentliche Raum vorbehalten ist. Mit der Erfindung der Nation im heutigen Wortsinn auf der Grundlage der Volkssouveränität weist die politische Modernität der Aufklärung der Kulinarik ebenso wie der Poesie, dem Tanz, der Mode und der Architektur eine identitätsstiftende Funktion zu. Die romantische Moderne mit ihrer Betonung des „Volksgeistes“ setzt ihrerseits diese Tendenz fort. Die Volkskundler, die sich im Lauf der Zeit zu Anthropologen entwickelten, begannen mit dem Sammeln von für die einzelnen Völker typischen Legenden und Epen, Melodien und Spielen. Ab dem 19. Jahrhundert tragen sie auch zur schriftlichen Fixierung von Rezepten bei, die bis dahin vor allem 340

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mündlich weitergegeben wurden. So sind beispielsweise die „dreizehn provenzalischen Desserts“ eine freie Erfindung der großen regionalistischen Bewegung Félibrige. Diese Art Traditionsbildung führt zur Abgrenzung von nationalen, regionalen und lokalen Küchen. In Zusammenhang mit dem Tourismus, der lokale ökonomische Interessen mit kulturellen Orientierungen verbindet, dehnt sich der Begriff „Spezialität“ nach und nach auf den Bereich der Nahrung aus und erfasst auch die halbindustrielle Süßwarenproduktion. So kommt es von Schottland bis Russland zu einem regelrechten gastronomischen Nationalismus, der beispielsweise einzelne Forscher veranlasste, einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem zunächst (erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts) nationalen und dann (Ende des Jahrhunderts) internationalen Erfolg der Paella, dieses aus Valencia stammenden Gerichts, und der Absicht des franquistischen Regimes, national einheitliche Gerichte zu entwickeln, was eine zusätzliche Möglichkeit bot, für Spanien zu werben. Die Beschleunigung von Landflucht und Migration macht aus einer wachsenden Anzahl von Europäern die Träger einer kulinarischen Familientradition, die oft mit einer größeren Gemeinschaft in Verbindung gebracht wurde. Oft bewahrt man nach der Aufgabe von Sprache und Religion der Vorfahren noch ein paar Rezepte und gewisse Zubereitungstechniken. In Abwandlung der berühmten Definition des Begriffs Kultur durch Édouard Herriot könnte man sagen: Die Küche ist das, was bleibt, wenn man alles vergessen hat.

Die Erfindung der Gastronomie: eine französische Revolution Die Erfindung der „Gastronomie“ – des Worts wie des von ihm Bezeichneten – erfolgte am Anfang der nationalen Epoche. Nach einer falschen Neuerweckung einer griechisch-römischen Antike, in der sich der Begriff nicht dauerhaft durchsetzen konnte, wurde dieser 1801 auf ein populäres Gedicht von Joseph Berchoux, eines zweitrangigen Autors, angewandt. Ein Sinn wurde ihm aber erst dadurch verliehen, dass sich eine hedonistische Gesellschaft seiner bediente und dabei Wörter wie „Gastronom“ (1803), „gastronomisch“ (1807) und weitere erfand. Damit wurde in wenigen Jahren der Argumentationswortschatz dieser neuen Kultur entwickelt, die sich ihrerseits auf ein weitere Struktur stützte, nämlich die ihrer spezifischen medialen Ausdrucksformen, vom Buch bis zur 341

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Zeitschrift und zur Karte der lokalen Spezialitäten, deren erste bereits aus dem Jahr 1809 stammt. Die Gastronomie ist also sichtlich eine diskursive Angelegenheit. Sie führt zwar zu bestimmten Praktiken, doch sind diese nicht an und für sich kulinarischer Natur. Das erste Bild, das einen Gastronomen in Aktion abbildet, stammt aus dem Jahr 1804 und zeigt Grimod de la Reynière nicht etwa bei Tisch, sondern an seinem Schreibtisch mit dem Gänsekiel in der Hand. Er nimmt so die Huldigung seiner Köche entgegen, die ihm ihre Werke zur Begutachtung vorlegen, in der Art von Künstlern, die sich einem Kunstkritiker stellen. Die Betrachtung dieser Abbildung erlaubt ein besseres Verständnis der Bemühungen um eine Erfassung des Geschmacks, den man zunächst und für lange Zeit auf die Gaumenpapillen reduzierte, mithilfe des neuen Systems der Ästhetik. Dieser Begriff wurde 1750 von dem deutschen Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten in Umlauf gebracht und gleichzeitig von der Kunstgeschichte in der Tradition Johann Joachim Winckelmanns mit einem hohen theoretischen Anspruch versehen. Die Figur des Kritikers ist eines der zahlreichen Elemente dieses Systems und die Pariser Institution des Salons der Kunstakademie, des Salon de l’Académie des beaux-arts, erlaubt die Entfaltung der mit ihm verbundenen literarischen Form, nämlich des salon im diderotschen Verständnis. Das schriftstellerische Werk des Alexandre Grimod de la Reynière, der übrigens als Theaterkritiker debütierte, und das seiner Rivalen sind dieser Bewegung zuzurechnen. In formaler Hinsicht stellt Grimods Schreibweise eine Synthese der drei literarischen Formen, die bereits in der Antike existierten, dar: die diätetische der medizinischen Tradition seit Hippokrates, die dichterische des Banketts seit Anakreon und die technische der Küche und ihrer schriftstellerischen Gehilfen seit dem Pseudo-Apicius. Dass diese erste Generation von gastronomischen Autoren ein Publikum und zunächst einmal einen darzustellenden Gegenstand fand, hat sie der Tatsache zu verdanken, dass sich mittlerweile ein öffentlicher Raum, eine „Öffentlichkeit“ im habermasschen Sinn entwickelt hat.

Die Entstehung des Restaurants Dieser Raum wird durch das Restaurant zur Verfügung gestellt, die große kommerzielle Neuerung des 18. Jahrhunderts. Ob dessen Erfinder (um 342

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1766) nun ein gewisser Boulanger oder Mathurin Roze, genannt de Chantoiseau, war, der Sieg der „restaurateurs“ über die mit königlichen Privilegien ausgestatteten „traiteurs“ ist jedenfalls ein Anzeichen für den Niedergang des ökonomischen Ancien Régime. Erstere bieten einem ausgewählten Publikum einen neuartigen Raum, der sich vom Esstisch einer Herberge ebenso unterscheidet wie vom buffet in einem Stadtpalais, an dem man „nach französischer Art“ aß, also im Unterschied zu einem heutigen Buffet sitzend, während alle Speisen zusammen aufgetragen wurden. Das Neue war, dass die Raumausstattung, der Service, die Küche und der Weinkeller eines großen Hauses hier nicht aufgrund einer förmlichen Einladung, sondern einfach für Geld erhältlich waren. Das bezeichnet die moderne Welt. Damit wird jedoch eine Bewertungsinstanz erforderlich, die es gestattet, all diese Angebote, die die Revolution mit ihrer Abschaffung der Berufsstände freisetzt, zu unterscheiden. Das ist die Aufgabe der Gastronomie. Dazu kommt, dass die politischen Änderungen dafür sorgen, dass etliche Küchenmeister (officiers de bouche) von emigrierten oder verarmten Aristokraten sich selbstständig machen wie etwa bereits 1782 Antoine de Beauvilliers, der bis dahin in den Diensten eines Bruders des Königs stand. Diese ganze Geschichte spielt sich in Frankreich ab, genauer gesagt in Paris, und zwar im Viertel des Palais-Royal, das damals „in“ war und von dem im Juli 1789 der Aufstand ausging, der zum Zusammenbruch der absoluten Monarchie führen sollte. Es ist bezeichnend für die Modernität des Restaurants, dass das alles in Paris geschieht und nicht in Versailles, dem offiziellen Sitz der königlichen Macht bis zum Oktober 1789. Die Gastronomie wird noch ihre Rolle bei der Übernahme der Macht durch neue herrschende Klassen in Frankreich und dann auf dem ganzen Kontinent spielen.

Von der raffinierten zur volkstümlichen Küche Die Figur des modernen Gastronomen lässt sich in drei Untertypen einteilen, denen je nach Land und Epoche eine unterschiedliche Bedeutung zukommt: die des Kritikers, des Theoretikers und des Mitglieds von gastronomischen Vereinigungen. Grimod veröffentlicht 1803 seinen ersten Feinschmeckeralmanach, seinen Almanach des gourmands. Es dauert dann allerdings noch zwei Jahrzehnte, bis die Eliten mit Jean Anthelme Brillat343

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Savarins Physiologie du goût („Physiologie des Geschmacks“) eine echte gastronomische Abhandlung, die der Autor selbst als eine Reihe von „Meditationen“ in der Art René Descartes’ betrachtet, in den Händen halten können. Ein Vergleich von Brillat und Grimod macht deutlich, dass eine gemeinsame Vorliebe für gutes Essen und die Art, es zu zelebrieren, mit zwei unterschiedlichen, ja gegensätzlichen kulturellen Universen einhergehen kann. Der abenteuerlustige Grimod entstammt einer der reichsten Familien des Ancien Régime. Sein Almanach hat bereits die Form eines regelmäßig erscheinenden Gastronomieführers. Er präsentiert seinen Lesern, die das schätzen und es sich leisten können, eine Auswahl von Lieferanten und Restaurants. Sein Handbuch für Köche, sein Manuel des amphitryons (1808; Handbuch für Gastgeber), skizziert bereits eine Theorie der Esskultur, der Brillat eine elaboriertere Form geben wird. Diese wird etliche Generationen überdauern, während Grimod, der weniger ambitionierte Gründer, zusammen mit seinem Werk vergessen wird. Brillat ist eben seinerseits ein perfektes Produkt der neuen Eliten, die die Revolution hervorgebracht hat. Dies gilt auch für seine provinzielle Seite, die damals selten anzutreffen ist und nichts mit der prononciert pariserischen Akzentuierung Grimods, dem „Parisianismus“, gemein hat. Als Jurist und Abgeordneter des dritten Stands in den Generalständen steht Brillat der materialistischen Schule der sogenannten Idéologues nahe. Diese politischen Überzeugungen wird er, der gemäßigte Republikaner, in der Folge allerdings eher diskret behandeln. Mit dieser Taktik gelingt es ihm, mit den verschiedenen Regimen gut zurechtzukommen. Seine schwungvoll geschriebene Abhandlung wird in der Mitte des 20.  Jahrhunderts von Mary Frances K. Fisher, die auch die bis heute beste wissenschaftliche Ausgabe besorgt hat, ins Englische übertragen werden. Die deutschen Feinschmecker wissen, dass Brillat bereits 1822 mit Karl Friedrich von Rumohr einen deutschen Vorgänger hatte, dessen unter Pseudonym erschienener Geist der Kochkunst sich nicht nur als Rezeptsammlung versteht, sondern auch als Vademecum für das Haushaltswesen, das geschrieben wurde, um die kulinarische Identität der Deutschen zu unterstreichen. Dieses Werk wird allerdings kaum die deutschen Grenzen überschreiten. So wurde es beispielsweise erst 2016 ins Französische übersetzt. Das ist teilweise seinem im Vergleich zu Brillat niedrigeren theoretischen Anspruch geschuldet, vor allem aber dem geringen internationalen Ansehen der deutschen Küche, deren maßgebende 344

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Chefs im 19.  Jahrhundert großteils Franzosen sind. Auch auf d ­iesem Gebiet geht es eben um Hegemonie. 1924 erscheint der bekannteste der französischen Gastronomie­romane, der bis heute – so wie die Physiologie du goût – immer wieder neu herausgegeben und 1972 sogar für das Fernsehen verfilmt wird: La Vie et la passion de Dodin-Bouffin, gourmet („Leben und Leidenschaft des Feinschmeckers Dodin-Bouffant“). Es hat seine Bedeutung, dass er teils vor, teils nach dem Ersten Weltkrieg geschrieben wurde, dass er eine Konfrontation der französischen mit der deutschen Küche in Szene setzt – der Sieger ist unschwer zu erraten – und dass sein Autor, Marcel Rouff, ein Schweizer jüdischer Abstammung war, ein Pionier der Wirtschaftsgeschichte, Freund von Jean Jaurès und zugleich einer der bedeutendsten Gastronomiekritiker im Frankreich der Zwischenkriegszeit. Er war französischer als die Franzosen, so wie in der gleichen Generation auch der Belgier Maurices des Ombiaux oder die Kinder polnischer Immigranten Ali-Bab (Henri Babinski) und Édouard de Pomiane. Das langsame Herabsinken des Kulturguts „elitäres Gastronomiesystem“ bis in die untersten Gesellschaftsschichten erfolgt entsprechend der allmählichen Demokratisierung des öffentlichen Lebens. Die kulinarische Soziabilität reicht von den hedonistischen Gesangsvereinen der Epoche Grimods bis zu den gastronomischen Vereinen der Dritten Republik und folgt einer Logik der „feinen Unterschiede“1. Bestseller und auflagenstarke Periodika sorgen für die massenhafte Verbreitung einer Kultur, der ein Legitimitätsdefizit im Vergleich zur etablierten Kultur anhaftet. Dazu zählen im autoritären Zweiten Kaiserreich die gastronomischen Rubriken in den Groschenblättern ebenso wie in der Zwischenkriegszeit die Entwicklung des roten Guide Michelin, der zunächst ein Werkstättenführer für Autofahrer war, in Richtung Gastronomie. Ein ähnliches Phänomen ist in den 1980er-Jahren in Italien mit dem bekanntesten Führer, dem Gambero Rosso, erneut zu beobachten.

1 Der Autor spielt hier auf Pierre Bourdieus vielleicht berühmtestes Werk, La distinction, an, dessen Titel mit „Die feinen Unterschiede“ übersetzt wurde (Anmerkung des Übersetzers).

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Küchenchefs, Künstler und Manager Lassen wir die Mittlerfiguren einmal beiseite, die sich ab den 1950er-Jahren auch im Fernsehen breitmachen, und wenden wir uns den Köchen selbst zu. Überraschenderweise ist bereits in der ersten gastronomischen Generation Frankreichs der Gedanke, dass es sich beim Kochen um eine „Kunst“ im ästhetischen Sinn und nicht nur um eine Herstellungstechnik handelt, fest verankert. Man findet ihn bei Grimod ebenso wie bei Brillat, aber auch bei ihrem Zeitgenossen Marie-Antoine Carême. Für diesen von seinen Eltern verlassenen Sprössling einer kinderreichen Familie, wird das Kochen, das er – zunächst in Form der Konditorei – autodidaktisch betreibt, zum Vehikel seines sozialen Aufstiegs. Er bemüht sich aber auch sein Leben lang darum, den hohen kulturellen Rang dieser Kunst zu belegen, eine Haltung, die – ungeachtet ständiger Missverständnisse – die Position des Gastronomen stärkt. Im Bewusstsein der Verbindung von dekorativer Konditorei und Architektur schreckt er nicht davor zurück, Pläne für eine Verschönerung der Städte zu veröffentlichen. Dieser officier de bouche im Dienst Charles-Maurice de Talleyrand-Périgords und dann von Zar Alexander sowie des englischen Erbprinzen und von Baron James de Rothschild ist auf seinem Gebiet ein trefflicher Spiegel der Geschichte seiner Zeit. Er ist auch der Erfinder der Kochmütze, die ihren Träger mit höheren Weihen versehen sollte. Zu Ende dieses Jahrhunderts ist Georges Auguste Escoffier, der zwischen den 1870er- und den 1920er-Jahren aktiv war, aufs Engste mit der Welt des Restaurants verbunden, allerdings in Form einer neuen Art von Hotel, die in gewisser Weise die Restaurantrevolution des 18. Jahrhunderts auf die Beherbergung überträgt. Wir sprechen von der Hotelform des „Palace“, wie sie der Schweizer César Ritz entwickelte. Escoffier lässt sich in London nieder und übernimmt etliche PalaceHotels in den Vereinigten Staaten. Er gründet eine kulinarische Schule, die in zahlreichen Veröffentlichungen ihren Niederschlag findet, die zum Teil noch ein Jahrhundert später als Standardwerke gelten. Er bildet zudem mehrere Generationen von Küchenchefs aus, die als Manager von regelrechten „Kochbrigaden“ fungieren und als Missionare der französischen Zubereitungs- und Kochverfahren agieren. Escoffier, ein Liebhaber des Theaters, sorgt dafür, dass sich das Bild des dominanten öffentlichen Küchenchefs in den Köpfen festsetzt. Mithilfe seiner Palace-Hotels ver346

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leiht er einer internationalen Küche eine deutlich französische Akzentuierung, wie bereits das Fachvokabular mit seinen zahlreichen französischen Begriffen zeigt. Als Gegenbewegung dazu bilden sich neue nationale und regionale Küchen heraus, die in allen europäischen Ländern von der Gastronomiekritik des demokratischen Zeitalters positiv herausgestellt werden, wie etwa im Frankreich der Dritten Republik die Schule von Curnonsky (Maurice-Edmond Sailland), eines Mitarbeiters von Marcel Rouff, der das Lob der heimischen Scholle anstimmt.

Neue Küche, neue Kritik Der Scheitelpunkt dieses dualen Systems wird in der Mitte der 30 Jahre ökonomischen Wachstums und gesellschaftlicher Entwicklung erreicht, die man im Französischen mit dem von Jean Fourastié geschaffenen Begriff „die Dreißig Ruhmreichen“ bezeichnet (les Trente Glorieuses). In dieser Zeit ergänzen sich Koch und Kritiker perfekt. So wird ab Mitte der 1960er-Jahre die Theorie der „neuen Küche“ von zwei Journalisten entwickelt, Henri Gault und Christian Millau, die für eine neue Generation von Kritikern stehen, die literarischer und individualistischer als der anonyme, allwissende und unbestechliche Klerus des höchst katholischen Hauses Michelin orientiert sind. Sie brechen dementsprechend mit einigen der kulinarischen Grundsätze der Generation Curnonsky. Gault und Millau stehen der literarischen Schule der „Hussards“ („Husaren“) nahe, die dem Hedonismus, der Leichtigkeit und Impertinenz das Wort redet und damit einen Gegenpol zur Ernsthaftigkeit der „engagierten“ Literatur bildet. Dementsprechend verurteilen sie zu ausgiebiges Kochen, zu schwere Saucen und einen übertrieben pompösen Service. Die gastronomischen Werte, für die sie eintreten, entsprechen durchaus dem Zeitgeist und den neuen Mittelschichten, die auf Erneuerung aus sind („neue Küche“), auf Klarheit („Kochen mit den Produkten vom Markt“) und auf Gesundheit („schlanke Küche“). Doch auch die Stärke der Gault-et-Millau-Generation besteht darin, dass sie die Erneuerung der kulinarischen Techniken im Auge hat, die sie zum einen genau beobachtet, zum anderen selbst anregt. Dies alles verbindet sich ein letztes Mal mit den Namen von französischen oder als französisch geltenden Köchen, allen voran Paul Bocuse aus Lyon. Das Bild wird vollständig, wenn man dem wie bei Grimod eine ökonomische 347

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Lesart hinzufügt. Mit seinem Slogan „Die Küche den Köchen“ unterstreicht Bocuse einen bestimmten Status. Dieser ist nicht neu, denn es war bereits der von Beauvilliers, nicht aber der eines Carême oder eines Escoffier: der Koch als Chef nicht nur seiner Küche, sondern eines ganzen Unternehmens. 15 Jahre nach dem Nouveau Roman, zehn Jahre nach der Nouvelle Vague und zeitgleich mit den Nouveaux Philosophes spielt die Neue Küche, abgesehen von der Machergreifung einer neuen Generation von Küchenchefs, zwei weitere strategische Rollen: Sie bedeutet zum einen den endgültigen Eintritt der Gastronomie in den engen Zirkel der legitimen kulturellen Praktiken; zum anderen bezeugt sie in Verbindung mit wachsendem Wohlstand vor allem in katholisch geprägten Ländern den offenkundigen Rückgang puritanischer Einstellungen. Bezeichnenderweise ging die nachhaltigste gastronomische Entwicklung am Ende des 20. Jahrhunderts von Italien aus. Slow Food bedeutet, wie es der Name besagt, eine Kampfansage an die Industrialisierung von Nahrungsmitteln und einer Küche, die dem Verbraucher die Ursprünglichkeit, Verschiedenartigkeit und Qualität der Erzeugnisse der Erde vorenthält. Carlo Petrini, der 1986 diese Bewegung gegründet hat, ist ein Linkintellektueller aus der piemontesischen Provinz Cuneo, dem es auf nachhaltige Entwicklung und den Schutz der „Kleinen“ vor den „Großen“ ankommt. Seine Bewegung findet Ableger in den meisten Ländern des Westens, am erfolgreichsten ist sie allerdings in Italien und sie bildet ein Gegengewicht, auf das Wirtschaft und die Ernährungspolitik Rücksicht nehmen müssen. 2004 wird in der Ursprungsregion dieser Bewegung zum einen die Universität für Gastronomiewissenschaften gegründet, zum anderen die Kette von Lebensmittelgeschäften Eatitaly, die sich anschickt, Italien im 21. Jahrhundert weltweit zur führenden Gastronomienation zu machen.

Eine postmoderne Gastronomie Die Ablösung Frankreichs durch Europa und dann bald die Welt ist das Charakteristikum der gewissermaßen postmodernen Phase der Gastronomie. Ein alter angloungarischer und ein junger französischer Forscher, Nicholas Kurti und Hervé This, haben in den 1990er-Jahren die Grund­ lagen für die „molekulare Küche“ gelegt. Diese beruht auf der physikali348

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schen und chemischen Analyse der Zubereitungs- und Kochverfahren und führt, davon ausgehend, zu etlichen technischen Neuerungen. Diese Verbindung von wissenschaftlicher Theorie und kulinarischer Praxis erklärt das Echo, auf das die Arbeiten von This rasch bei den Köchen stößt, nicht zuletzt in seiner Herkunftsregion, dem Elsass. Dank des systematischen Ansatzes des Küchenchefs Ferran Adrià gelangen seine Ansichten aber vor allem in Spanien, genauer gesagt in Katalonien, zu internationalem Ansehen. Mit der Gastronomika von San Sebastian und Lo mejor de la gastronomía finden auch die ersten internationalen Gastronomietagungen in Spanien und nicht etwa in Frankreich statt. Diese internationale kulinarische Avantgarde macht Restaurantbetreiber, die sich in England (Heston Blumenthal) und in Dänemark (René Redzepi) niedergelassen haben, zu internationalen Stars und diese Tafeln sind es, die ab 2003 durch The World’s 50 Best Restaurants, eine jährliche, von einem Mineralwasserproduzenten gesponserte Bestenliste, ausgezeichnet werden. Dieses Ranking von hoher medialer Präsenz setzt der französischen Vorherrschaft ein Ende: 2003 finden sich noch acht französische Tafeln in dieser Liste, 2016 sind es nur noch drei, dafür aber beispielsweise sieben spanische. 2011 erscheint das große Werk Modernist Cuisine. The Art and Science of Cooking, das als „das Kochbuch, das das Ende von Kochbüchern bedeutet“, angepriesen wird. Sein Urheber ist der Amerikaner Nathan Myhrvold, ein hochrangiger Amateurkoch und ehemaliger chief technology officer bei Microsoft und dann Gründer eines florierenden Unternehmens, das Patente aufkauft. Der Mitherausgeber dieses Werks, Chris Young, der im Unterschied zum Mathematiker und Physiker Myhrvold seines Zeichens Mathematiker und Biochemiker ist, war seinerzeit einer der Mitarbeiter von Heston Blumenthal. Auch wenn die molekulare Küche in kulinarischer Hinsicht schnell an ihre Grenzen gestoßen ist, hat sich der Abstieg Frankreichs fortgesetzt. Wie so vieles lösen sich auch die neuen Ansätze der europäischen Gastronomie nach und nach im Globalen auf. Die kulinarische Folge ist nicht so sehr das allgemeine Aufgehen in einer Art fusion cuisine, die bei jedem einzelnen Gericht Beiträge aus aller Welt herbeizitiert, sondern in der Entwicklung des westlichen Essers zu einem eklektischen Liebhaber, der pausenlos von einem durchaus territorial verankerten Gericht oder Menü zum nächsten übergeht.

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Aufgrund des Erstarkens des vegetarischen Diskurses wohnen wir auch der Rückkehr eines starken protestantischen Puritanismus bei, der im 21. Jahrhundert eine herausragende Rolle spielen dürfte. Der Erfolg dieser Tendenz im Westen vor allem bei der jungen Generation ist Ausdruck des Niedergangs der ländlichen Gesellschaft, in der das Töten von Tieren eine tägliche Naherfahrung darstellte, während aufgrund von Verstädterung und Industrialisierung die Bevölkerung inzwischen keine Verbindung zu dieser Art der Nutzung von Tieren hat. Ein Teil der Elite der öffentlichen Küche Frankreichs hat sich zwar nicht ganz dieser Tendenz angeschlossen, räumt aber – etwa mit Michel Bras und Alain Passard – dem pflanzlichen Element einen erheblichen Platz ein.

Eine legitime Kultur Unabhängig von der Form der wirtschaftlichen und geschmacksmäßigen Zukunft der Menschheit lässt sich zweierlei feststellen: In formaler Hinsicht hängt die Zukunft des gastronomischen Erbes heute von den Formen der Kulturpolitik ab, die es selbst initiiert hat; in inhaltlicher Hinsicht haben die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts den Fragen von Essen und Trinken einen beispiellosen Raum gewährt, sodass man von einer regelrechten Eroberung der Legitimität sprechen kann. Das erstreckt sich von hochwissenschaftlichen bis zu äußerst künstlerischen Dimensionen, von den volkstümlichsten bis zu den modernistischsten kulturellen Ausdrucksformen. Ein literarisches Genre wie der Kriminalroman kann paradoxerweise seinen kulturellen Anspruch dadurch geltend machen, dass er wiederholt diskrete Signale in Richtung gastronomische Kultur sendet. So präsentiert etwa der Katalane Manuel Vázquez Montalbán einen Detektiv mit gastronomischer Expertise und Erfahrung als Koch, eine Figurenkonzeption, derer sich in Gestalt seines Kommissars Montalbano teilweise auch der Sizilianer Andrea Camilleri bedient. Aber auch die Hochliteratur verwendet gern das Essen und Trinken als Charakterisierungsmittel und als Metapher, so etwa im Fall von Günter Grass, der aus der Frage der Ernährung eine regelrechte „Welt­legende“, eine Geschichte der Menschheit in Romanform, macht. Im Theater, im Film und in der bildenden Kunst ist die Enttrivialisierung des Essens mit Avantgardeautoren wie dem Engländer Peter Green­away, dem Schweizer Daniel Spoerri oder dem Österreicher Peter 350

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Kubelka auf einem guten Weg. Letzterer unterrichtet an der Frankfurter Städelschule zugleich die Disziplinen Kino und Küche. 2008 wurde mit Emmanuel Giraud zum ersten Mal ein Kochkünstler in die Villa Medici, das Vorbild der deutschen Villa Massimo, aufgenommen. Die Gelehrtenkultur steht dem in nichts nach. Nach dem Vorbild der „molekularen Küche“ haben auch die Human- und die Sozialwissenschaft begonnen, sich nicht nur peripher mit derartigen Fragestellungen zu befassen. Dies gilt etwa für die Anthropologie, angefangen mit der Pionierarbeit von Claude Lévi-Strauss zum Thema Das Rohe und das Gekochte (1964), bis zur Psychoanalyse, etwa in der Nachfolge lacanscher Fragestellungen. Auch die Philosophie fühlte sich zu einem Beitrag aufgerufen und das ebenso populäre wie umstrittene Werk eines materialistischen Denkers wie Michel Onfray hat sich mehrfach mit dieser Thematik befasst, insbesondere in seinem ersten Buch Le Ventre des philosophes („Der Bauch der Philosophen“), in dem der Autor zu einer Neulektüre mehrerer Vordenker unter dem Aspekt ihrer Beziehung zur Ernährung einlädt. Deshalb kann es nicht verwundern, dass professionelle Köche auf ihre Weise auf diese Wertschätzung regieren, die seit Beginn des gastronomischen Projekts eingefordert, bislang aber erfolgreich abgewehrt wurde. So nimmt heutzutage die gastronomische Literatur einen bislang beispiellosen Platz ein. Die Neuausgabe von Klassikern tritt an die Stelle der bisher ausschließlichen Gegenwartsorientierung von Rezeptbüchern. Küchenchefs der Gegenwart sehen sich dadurch herausgefordert, ihre Verfahren ohne jegliche zeitliche oder räumliche Einschränkung mit denen ihrer Altvorderen zu vergleichen. Die Bezugnahme auf die Vergangenheit wird dabei zum Element einer Strategie zum Beweis der eigenen Überlegenheit. Als sich der junge Alain Senderens 1968 selbstständig macht, gibt er seinem Restaurant in der Rue de Varenne den denkbar altehrwürdigsten Namen, den von Archestratos. Sechs Jahre später wird in Paris ein neues Restaurant eröffnet, das sich mit dem Namen des ältesten Meisters der Restauration schmückt: Beauvilliers.

Die Kochkünste Auch wenn Senderens’ Kampagne für die Anerkennung des kulinarischen Schöpfers als Autor mit den damit verbundenen Rechten wie im Fall von Künstlern und Schriftstellern scheitert und die Bewertung der „Artifizie351

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rung“ des Kulinarischen in der Forschung sehr gegensätzlich ausfällt, gestattet zumindest in Frankreich die Definition der Kochkunst eben als Kunst dem Kulturminister Jack Lang, seinem Ministerium in gewissem Umfang eine Zuständigkeit für die „Kochkünste“ einzuräumen, der sich im Folgenden das Landwirtschafts-, das Umwelt-, das Tourismus- und ab 2014 auch das Außenministerium anschließen. Dabei war sicher die Doppeldeutigkeit des französischen Wortes für art hilfreich. Wie das ­ lateinische ars meint es die Kunst im engeren Sinn, aber auch technische Fertigkeiten beziehungsweise die Technik im Allgemeinen oder etwa Kampfsportarten, die arts martiaux. Die 2012 fertiggestellte Veröffent­ lichung des Inventaire du patrimoine culinaire de la France („Inventar des kulinarischen Erbes Frankreichs“) wurde dadurch ermöglicht, dass das „gastronomische Essen der Franzosen“ 2010 von der UNESCO in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Diese Klassifizierung ist ein bis heute einmaliges Faktum in Europa, denn das nordkroatische Früchtebrot, das ebenfalls auf dieser Liste steht, ist nicht zum Verzehr bestimmt. Während das gastronomische Erbe paradoxerweise zeitgleich mit der kulturellen Modernität des Jahrhunderts der Aufklärung und der Romantik entstanden ist, hat die Postmoderne ihrerseits diese Tradition geadelt. Zwei Jahrhunderte lang war die spezifisch europäische Dimension des Phänomens eine Folge der fortschreitenden Emanzipation der Nationalkulturen, die ursprünglich vom französischen Modell beherrscht wurden. Diese Emanzipation erfolgte jeweils durch Übernahme der drei Hauptartikel des ursprünglichen gastronomischen Credos: die Legitimität des Gegenstands, die kollektive Identität, die dieser ausdrückt, und die individuelle Handschrift. In dieser Hinsicht ist auch das noch relativ neue 21.  Jahrhundert dem Erbe der Gründerväter verpflichtet.

Literatur Jean-Claude BONNET, La Gourmandise et la Faim. Histoire et symbolique de l’aliment, 1730–1830, Paris 2015. Alberto CAPATTI, Le Goût du nouveau. Origine de la modernité alimentaire, Paris 1989. Pascal ORY, Le Discours gastronomique français, des origines à nos jours, Paris 1998. Pascal ORY, L’identité passe à table, Paris 2013.

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4 AUSTAUSCH

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Die Liebe zum Luxus Geld, Gewürze und Seide, Musselin, Zimt, Sandelholz, Weihrauch und Edelsteine haben eine rege Anziehungskraft auf die Europäer ausgeübt. Mit der Seidenstraße entdeckten sie am Ausgang des Mittelalters mehr und mehr die Wunder des Fernen Ostens.

Kaufmannsfrau beim Tee. Öl auf Leinwand gemalt von Boris Michailowitsch Kustodijew im Jahr 1918.

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Wir sprechen hier von einem „Mehr“, das weder nützlich noch notwendig ist. Vom Überflüssigen. Wir sprechen von dem, worauf viele Männer und Frauen eben deshalb nicht verzichten können, weil sie es im Grunde mühelos könnten. „Gebt das Überflüssige den Armen“, schreibt Jesus vor und fügt übrigens hinzu. „Das Überflüssige kommt vom Teufel.“ Er fordert aber auch auf, sich das Überflüssige zu gönnen, wenn man auf das Unentbehrliche verzichtet hat: „Wenn ihr fastet, salbt euch das Haupt mit kostbaren Salben“; oder wenn er Judas antwortet, der ihm vorwirft, gestattet zu haben, dass man eine kostspielige Salbe vergeudet, mit deren Verkauf man die Not einer großen Anzahl von Armen hätte lindern können: „Die Armen habt ihr immer bei euch, mich aber habt ihr nicht immer bei euch.“ Ist die Schmucklosigkeit immer eine gute Eigenschaft? Und der Luxus wirklich immer eine Sünde? Eine Reflexion über den Luxus und dessen Ästhetik kann man nicht anders beginnen als mit dem Lichtmetall, dem verfestigten Licht: dem Gold. „Licht zu machen, arme Leute, ist schwerer als Gold zu machen“, betont der Lehrling in L’Annonce faite à Marie von Paul Claudel, als er den aussätzigen Architekten und Glasermeister Pierre de Craon in Schutz nimmt, den Experten in der Kunst, das natürliche Licht durch die Glas­ fenster der Kathedralen zu filtern, damit sie wie mit Edelsteinen verzierte Reliquienschreine glänzen. Das antwortet Suger, der Abbé von Saint-Denis, dem Zisterzienser Bernhard von Clairvaux, als er die Sonnenstrahlen verherrlicht, die die jungfräulichen und durchscheinenden Kirchenfenster durchqueren und den Innenraum der Kirchen mit einem farblosen und somit reinen Licht erhellen. Das sehen wir auch in der Sainte-Chapelle des Justizpalastes in Paris, dem Reliquienschein von Glasfenstern aus Licht, dem Traum von Ludwig dem Heiligen und Eugène Viollet-le-Duc.

Das faszinierende Gold Das Gold ist Licht. Ist es ein Zufall, dass das hebräische Wort für Gold dasselbe bedeutet wie lux für die Lateiner? Übrigens ist das Gold bekanntermaßen weder bei den Soziologen noch bei den Philosophen, die über die Wirtschaft arbeiten, noch bei den reinen Wirtschaftswissenschaftlern beliebt. Die Verdammung der auri sacra fames (des verfluchten Hungers nach Gold) durch Karl Marx und John Maynard Keynes ist berühmt. Und man weiß, dass die Neigung, Gold zu horten, ganz allgemein als 356

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ökonomischer Atavismus, als Irrationalismus und als regressive fetischistische Tendenz abgestempelt wird, und zwar nicht nur von den Neomarxisten und den Neokeynesianern. Die Psychoanalytiker haben ebenfalls das Ihre dazu beigetragen: die Freudianer mit ihrer berühmten Gleichsetzung von Gold und menschlichen Exkrementen und somit analen Trieben (doch ein Traumdeuter der Antike wie Artemidor von Daldis und ein Heiliger wie Franz von Assisi hatten dies bereits entdeckt), andere wieder, indem sie eine Verbindung zwischen dem Hunger nach Gold und dem Gefühl der Unsicherheit hergestellt haben. Bei den meisten modernen Historikern und insbesondere bei den Spezialisten der Wirtschaft stand das Gold übrigens bereits in Verruf, weil es in der Mitte des 16. Jahrhunderts durch seinen massiven Zustrom aus der Neuen Welt die „Revolution der Preise“ ausgelöst hatte, die in mehrfacher Hinsicht verhängnisvolle Folgen nach sich zog. Es wäre natürlich angebracht gewesen, zu differenzieren, da auch eine positive Deutung des Phänomens möglich ist und der wahre Verantwortliche eher das Silbermetall war. Doch als die spanischen Galeonen ihre kostbaren Ladungen aus der Neuen Welt in Sevilla ausluden, existierte die Voreingenommenheit gegen das Edelmetall bereits. Seit beinahe drei Jahrhunderten – nach dem, was der Historiker Roberto Sabatino Lopez als die „Rückkehr des Westens zum Gold“ bezeichnet hatte, das heißt, als man wieder Goldmünzen schlug – war der Florin (die in Florenz geprägte Goldmünze, die „verfluchte Blume“ von Dante Alighieri, „Herr Florin“ in den Pamphleten gegen den Wucher) der konstante Gegenstand der Habgier der Mächtigen und die Zielscheibe der Moralisten. Die aus der Überlieferung der evangelischen Armut gespeiste asketische christliche Chrysophobie gesellte sich zu den Topoi der Antike gegen den Reichtum (vor allem stoischer Herkunft), um den Feinden des gelben Metalls Argumente zu liefern.

Das anrüchige Gold Das Gold wurde endgültig mit der Zivilisation der Finanzen verknüpft und folglich in ein Symbol des Bürgertums verwandelt und es war nur natürlich, dass seine Verurteilung wieder in den Vordergrund rückte. Die härteste, zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kam nicht von der Seite der Linken. Die Schimpfreden Ezra Pounds gegen die ­„Zivilisation des Wuchers“ und das für ihn stellvertretende Metall sind 357

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berühmt. Die Tendenz der Deutschen des „Dritten Reichs“, ihr Vermögen in Barren aus Spezialstahl anzulegen, die wie übliche Goldbarren in den Banken gelagert wurden, entsprach in Wirklichkeit einer umfassenden und vielschichtigen industriellen Produktion, spiegelt aber dennoch eine geistige Einstellung wider, die das Metall der „Krämer“, der „Kapitalisten“, der „Juden“ ablehnt und dafür das Metall der Krieger aufwertet. Diese Neigung der Faschismen, das Metall der Krämer dem Metall der Krieger gegenüberzustellen, tritt zwar metahistorisch auf, entkommt aber der Geschichte nicht und offenbart im Gegenteil ihre historische Verankerung. Das Gold hat seine Rolle als wirtschaftlicher Absicherungsfaktor nur ab dem Moment und in dem Maß gespielt, in dem die modernen Währungssysteme die Währung mit realem Kurswert aufgegeben und die durch Goldreserven gedeckte Währung mit gesetzlichem Kurswert übernommen haben, eine Konvention, die grosso modo mindestens bis zum Ende des 20. Jahrhunderts respektiert wurde. Ein Florentiner der 1340er-Jahre, in der Zeit der großen Konkurse der Familien Bardi und Peruzzi, hätte keineswegs behauptet – wie nach dem Zusammenbruch der Wall Street 1929 verkündet wurde –, dass das Gold ein sicherer Wert sei, ganz im Gegenteil. Er hätte uns gesagt, dass das Gold nicht zuverlässig ist, dass seine Gesetze unbegreiflich sind und nur der Grundbesitz einen nie im Stich lässt. Wenn man die Gründe für die Faszination, die das Gold anscheinend immer für die Menschheit besaß, nicht in der Wirtschaftsgeschichte suchen soll, dann müssen sie woanders liegen. Aber wo? Die Antwort führt uns weit aus dem wirtschaftlichen und selbst aus dem historischen Gebiet hinaus: das Gold der skythischen und germanischen Gräber, das Gold der heiligen Schätze der Mayas und der Azteken, das geschmolzene und ebenso sorgfältig wie geschickt geschmiedete Gold der Grabbeigaben, das Gold, das die Atriden in ihre letzte Stätte in Mykene begleitet hat, das Gold, das die spanischen Eroberer, die dabei die Sagen um Eldorado und die Sieben Städte schufen, fieberhaft suchten. Dieses vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gewiss wertvolle Gold hatte jedoch nichts mit der Wirtschaft im heutigen Sinn zu tun – mit Ausnahme der Tat­ sache, dass sich die Opferung von Gold in das einschrieb, was die Anthropologen später als die „Potlatch-Kultur“ definierten, die symbolische Verschwendung, die wirtschaftliche Logik, die als Brandopfer einem höheren Prinzip dargebracht wird. 358

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Ein Symbol der Sicherheit Das Gold ist eine Invariante – eine der wenigen – in einer menschlichen Überlieferung, die je nach den Orten und den Epochen wechselnde Formen annimmt. Alle Kulturen, denen es bekannt ist, weisen ihm eine Rolle zu, die nicht oder nicht nur seinem Marktwert entspricht. Übrigens lässt sich der Begriff „Marktwert“ schwer aus der westlichen Kultur exportieren. Das Gold ist ein Symbol: Seine Farbe ist die des Sonnenlichts seit den Ägyptern, es ist die unter der Erde begrabene Sonne, die Sonne, die im Reich der Toten weiterhin ihre Bahn zieht. Alle astrologischen und alchemistischen Überlieferungen – von Alexandrien über China bis nach Indien – kennen die Äquivalenz zwischen den Gestirnen und den Metallen, zwischen dem Oben und dem Unten, zwischen dem, was über und unter der Erde ist. In der Alchemie ist die Umwandlung der Metalle nichts anderes als die Wiederherstellung ihrer archetypischen Natur, die Restauration ihrer ursprünglichen Reinheit. Die Bedeutung des Goldes der byzantinischen Mosaike und Emailkunst geht weit über eine bloße dekorative Funktion hinaus. Bei den Zeitgenossen hat der Carl Gustav Jung von Psychologie und Alchemie Recht gehabt, im großen Werk das Symbol des „Prozesses der Individuation“ zu sehen, die Wiederentdeckung des verborgenen Ich und somit die Wiederherstellung des wahren Menschen im Individuum: seelische Fabrikation des geistigen Goldes, sonnenhaftes Zentrum der Psyche. Wenn wir nun eine nicht so weit zurückliegende Epoche betrachten, war das Goldfieber, das mit der Dollarkrise am Ende der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts verbunden war, die uns alle ein wenig berührt hatte, nicht „ökonomisch regressiv“, weil es sich nicht auf die Sphäre der wirtschaftlichen Probleme, auf die sie antwortete, beschränkte, sondern viel weiter reichte und an unser Bedürfnis nach individueller und kollektiver Sicherheit in einer chaotischen Zeit rührte. Wir reagieren auf die Krise der Werte, auf die dunkle Gewalt, die im Räderwerk der Ökonomie zum Ausdruck kommt, auf die Angst vor einer Katastrophe, die bevorsteht (sei sie nun nuklear oder ökologisch), indem wir auf natürliche Weise dieses Licht des Geistes suchen, das der Glanz des Goldes versinnbildlicht: eine archaische Antwort im zutiefst religiösen Sinn des Wortes. Das Gold wurde in Klumpen in den Minen oder in Pailletten nach einer geduldigen Arbeit des Siebens des Flusssandes gewonnen. Es war 359

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in Europa selten und existierte in Fülle in machen Flüssen Innerasiens und Afrikas und gelangte aus Nubien, Äthiopien und Mali auf die Märkte Nordwestafrikas.

Grenzen und Austausch Die lange Phase der klimatischen Abkühlung der nördlichen Hemisphäre, die zwischen dem 6. und 7. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, veranlasste die Hirtennomadenvölker, das Zentrum des eurasiatischen Makrokontinents zu verlassen und sich an den Rändern niederzulassen, die durch ein milderes Klima gekennzeichnet waren und von sesshaften Bevölkerungen von Ackerbauern bewohnt wurden. Die zwei Grenzreiche des Makrokontinents, das Römische Reich und das Chinesische Reich, reagierten auf ähnliche Weise, um die für sie unbegreiflichen und gefährlichen Einwanderungsströme zu kanalisieren oder zumindest im Zaum zu halten: die Chinesen mit der 6700 Kilometer langen Großen Mauer, die schon von Kaiser Qin Shihuangdi im 3. Jahrhundert v. Chr. gebaut wurde, um die Steppenvölker fernzuhalten; die Römer mit den verschiedenen valla (oft mehrere Dutzend Kilometer lange Wälle), mit denen sich manche Abschnitte des Limes (der Straße, die die von der Autorität des Reichs betroffene Grenze markierte) verstärkten, die als besonders exponiert angesehen wurden. Natürlich schlossen diese Verteidigungssysteme die Kommunikation mit den Völkern, die sich auf der anderen Seite befanden, nicht aus, ganz im Gegenteil. Diese Kontakte verliefen hauptsächlich über die sogenannte Seidenstraße. Nach den vorliegenden Informationen brachten Händler die chinesische Seide ab dem 2.  Jahrhundert v.  Chr. in den Westen. Vor diesem Datum war dieser wertvolle Stoff außerhalb der Grenzen dieses riesigen Reichs unbekannt. Aber danach stand er beinahe überall sehr rasch in hoher Gunst. Am Ende des ersten Jahrtausends v.  Chr. war das Reich unter den Dynastien Qin und Han geeint worden. Doch es konnte sich weitgehend selbst versorgen und blieb durch die Gebirgs­ ketten des Himalajas und des Karakorum sowie durch die Weite der Wüste Gobi lange Zeit isoliert. Ab dem 2.  Jahrhundert v.  Chr. begann man Pässe und Straßen durch diese ungastlichen Räume anzulegen. Die ersten Strecken wurden von den Beziehungen diktiert, die die Chinesen mit ihrer tausendjährigen Ackerbauzivilisation mit den nomadisierenden Hirten und Pferdezüchtern an den Grenzen verbanden. Im Norden befand 360

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sich eine Konföderation von turksprachigen Stämmen, die in den chinesischen Quellen Xiongnu genannt wurden und den „Hunnen“ der westlichen Quellen entsprachen. Sie bewohnten das, was für uns das Mongolische Plateau ist und nach dem (übrigens der türkischen Herkunft nahen) Volk benannt ist, das es später bewohnte. In den derzeitigen chinesischen Provinzen Xinjiang und Gansu lebten die ebenfalls in einer Konföderation zusammengeschlossenen Yuezhi, die jedoch indoeuropäischer Herkunft sind: In den klassischen Quellen wurden sie Tocharer genannt und wie die meisten Völker Zentralasiens waren die Xiongnu und die Yuezhi ausgezeichnete Reiter. Das Befestigungssystem, die spätere Große Mauer, wurde errichtet, um die Überfälle zu Pferd zu verhindern. Um diese Angriffe auf militärischer Ebene besser abzuwehren, schufen die chinesischen Kaiser berittene Schwadronen, deren traditionelle Uniformen – Jacken und Röcke, die bis zu den Knöcheln reichten und für das Reiten nicht praktisch waren – gegen neue eingetauscht wurden, die man den Steppenvölkern entlehnte. Da gab es jedoch noch das Problem der Reitpferde: Die chinesischen Böden waren fruchtbar und wurden bestellt und es war nicht leicht, Ackerbauern zu Viehzüchtern zu machen, und noch schwieriger, die Bestimmung eines Bodens zu ändern, der denen, die ihn bestellten, gute Erträge brachte. Also knüpften die Chinesen Kontakte zu den Xiongnu und vor allem zu den Yuezhi, damit sie ihnen Pferde lieferten. Die Erfordernisse des Krieges diktieren folglich die ersten Handelsverbindungen und machten Verbindungsstraßen notwendig. In diesem Kontext entstand die Seidenstraße beziehungsweise entstanden, genauer gesagt, die Seidenstraßen. So verbreiteten sich der Buddhismus, dann der Zoroastrismus und das vor allem nestorianische Christentum über ihr ursprüngliches Gebiet hinaus. Die Vielzahl der Glaubensvorstellungen und Kulte in diesem riesigen Handelsnetz blieb eine Konstante, die die europäischen Reisenden des 13. Jahrhunderts, unter ihnen Marco Polo, verwunderte, die an eine solche Vielfalt nicht gewöhnt waren und sie deshalb ausführlich schilderten.

Seidenstraße, Weihrauchstraße Die Seide war nur die kostbarste und geheimnisvollste unter den Waren, die aus dem Fernen Osten in den Westen gekommen waren. Aus China, 361

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dem „Land Seres“, das heißt dem Land derjenigen, die die Seide produzierten und ihm seinen Namen gaben, aber auch aus Indien und Persien gelangten geschmiedete Bronzen und bunte Teppiche bis zum Mittelmeer. Und die „Seidenstraße“ war nicht die einzige Strecke, die die Völker verband. Die Römer kannten auch die „Weihrauchstraße“, die Straße „der Gewürze“ oder „der aromatischen Pflanzen“, auf denen die kostbaren Gewürze, die auf dem Seeweg aus Indien und dem Fernen Osten kamen, aus der Tiefe der Arabischen Halbinsel bis zum Mittelmeer transportiert wurden. Die Römer unterhielten über Zwischenhändler auch Handelsbeziehungen mit dem Fernen Osten und dem Land Seres. Alexander der Große war bis nach Indien gekommen und sein Abenteuer hatte in der westlichen Kultur Spuren hinterlassen. Die Seide wie auch andere wertvolle Waren erreichten das Mittelmeer auf der Handelsroute, die, von den Monsunen begünstigt, den Indischen Ozean überquerte, und wurden durch die Arabische Halbinsel oder auf dem Nil (das ist die Straße der Gewürze) transportiert. Doch die Chinesen, die auf ihren Expeditionen bis zum Persischen Golf gekommen waren, zeigten für den Westen niemals eine Begeisterung oder eine Wissbegier, die mit denen vergleichbar wären, die die Bewohner des Westens ihnen gegenüber empfanden. Übrigens hatten wir eine große Nachfrage (die „Gewürze“ waren unentbehrlich für die Medizin, die Gastronomie und das Färben der Stoffe), aber wenig anzubieten. Andererseits hat der moderne Europäer vielleicht vergessen, obwohl es sich dabei um eine grundlegende Gegebenheit handelt, dass Europa nichts anderes als ein kleiner, unterentwickelter Anhang des großen Asien war. Das Römische Reich selbst, das wir irrtümlich oft als „europäisch“ ansehen, hatte in Wirklichkeit sein Zentrum im Mittelmeer und enge Beziehungen zum asiatischen Kontinent, ganz zu schweigen davon, dass es sich ständig mit Persien, dem großen asiatischen Reich, messen musste. Und das sogenannte Byzantinische Reich gehörte dann zum Großteil Asien an, war es doch nichts anderes als die pars Orientalis des Römischen Reichs, ein orientalischer Teil, der aus der Teilung des Erbes von Kaiser Theodosius am Ende des 4.  Jahrhunderts hervorgegangen war und dann trotz des von den westlichen Kreuzfahrern zwischen 1203 und 1261 verursachten Bruchs bis 1453 andauerte.

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Die Zirkulation der Waren und der Ideen Die Europäer kannten Asien schlecht, die Araber hingegen waren mit ihm vertrauter und waren daran gewohnt, es zu bereisen und dort Handel zu treiben. Ab dem 9.  Jahrhundert verkehrten die Händler des Persischen Golfs mit China, während die javanischen Schiffe dank der als „Monsun“ bezeichneten Winde bis zur Arabischen Halbinsel gelangten. Der Handel auf dem Landweg florierte ebenfalls. Die alte Seidenstraße verband, wie bereits erwähnt, die von der Großen Mauer geschützten fruchtbaren Ebenen des Jangtsekiang und des Huang He mit den arabisch-iranischen Metropolen (Schiras, Isfahan und Bagdad), indem sie die Wüste Gobi durchquerte und am Himalaja vorbei die Oasen von Turkestan. Zwischen China und Persien waren kleine Königreiche entstanden, die bald dem einen, bald dem anderen der beiden Großreiche unterstanden, und die Waren wechselten von einer Karawane zur anderen über. Die kommerzielle Organisation sah vor, dass die Kolonnen nur kurze Strecken zwischen zwei Oasen zurücklegten, um ihre Ladung dann ähnlichen Karawanen anzuvertrauen. Kurz, die Männer reisten relativ wenig, aber die Waren und mit ihnen die Ideen und die Kulte legten in relativ kurzer Zeit große Strecken zurück. Ab dem 6. Jahrhundert hatte sich die Seidenproduktion in Byzanz niedergelassen, blühte aber erst ab dem 7. Jahrhundert und der ersten arabischen Vermittlung auf. Neben der Seide verbreitete sich in dieser Zeit dank den Arabern auch das Papier und ersetzte das Pergament. Die Seide war zwar kein chinesisches Monopol mehr, aber zahlreiche andere Waren reisten auf den eurasiatischen Handelsrouten. Die kostbarsten und beliebtesten waren das Gold und das Silber aus Sumatra, aus Malaysia und aus Korea; Sandelholz, Bambus und der Kampferbaum, aus dem man eine sehr beliebte Essenz extrahierte; Aromen wie Weihrauch und Moschus; Edelsteine wie der Rubin und der Saphir aus Ceylon oder Indien. Die Liste der Gewürze im eigentlichen Sinn war ebenfalls sehr reichhaltig: Pfeffer unterschiedlicher Qualität (oft auch als Tauschgeld verwendet), Muskatnuss, Gewürznelken und Zimt (Cinnamomum zeylanicum). Diese Produkte wurden für die Präparation von Medikamenten, für das Färben von Stoffen und für die Ernährung verwendet. Die kostbarsten reisten auf dem Landweg, während die billigeren Nahrungsmittel, die allerdings in größeren Mengen transportiert wurden (Rohrzucker, Reis, 363

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Getreide) gewöhnlich auf dem Seeweg reisten: Es wäre nicht rentabel gewesen, sie auf Kamel- oder Eselsrücken zu transportieren.

Marco Polos Stoffe Diese großen Zivilisationen waren den Europäern unseres Mittelalters (zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert) unbekannt. Ihre direkte Kenntnis Asiens beschränkte sich auf die Anatolische Halbinsel und auf die Zonen unmittelbar hinter der libanesisch-palästinensischen Küste. Sie waren gewiss neugierig auf diese Gegenden, aus denen diese in ihrem Leben so wichtigen Gewürze kamen sowie diese Juwelen und wertvollen Stoffe, von denen die weltlichen und die klerikalen Eliten weitgehenden Gebrauch machten. Doch die Berichte der antiken Autoren über diese Länder, aus denen die Produkte kamen, waren zum Großteil unrealistisch. Allerdings darf man die Informationen nicht unterschätzen, die von den arabischen Händlern stammten, denn sie waren vor Ort gewesen. Im Buch der Wunder der Welt von Marco Polo findet man einen interessanten Bericht über Asbest, ein schon in der Antike bekanntes Mineral, von dem eine sagenhafte Überlieferung behauptete, es sei ein Derivat der Haut des Salamanders, eines Tiers, das feuerfest wie Asbest ist. Plinius erwähnte ihn bereits und beschrieb den Salamander als eine Art Eidechse und Augustinus hatte ihn als Metapher für die Seelen verwendet: Wenn der Salamander im Feuer lebt, wie von den Naturforschern bezeugt, dann bedeutet das, dass nicht alles, was brennt, sich auch verzehrt – ganz wie die Seelen in der Hölle. Marco Polo erwähnt ihn, weil Kublai Khan anscheinend dem Papst ein Asbesttuch als Geschenk gesandt hat: „Ich sage euch auch, dass sich in Rom einer dieser Stoffe befindet, die der Große Khan als feierliches Geschenk sandte, um das Grabtuch Unseres Herrn einzuhüllen.“ Unter den verschiedenen Arten von Waren interessierte sich Marco Polo am meisten für die Stoffe. Die karmesinroten turkmenischen Seidenstoffe wurden besonders geschätzt. Der Name für diesen Farbton kommt von dem persischen qirmizı¯, das „von Insekten erzeugt“ bedeutet. Der Farbstoff wird tatsächlich aus dem Kermes vermilio, dem „Eichenwurm“ extrahiert. Er interessierte sich auch sehr für die nach der Stadt Buchara benannten „Bougrans“, durchsichtige dünne Stoffe, die man überall findet. Die Bezeichnung scheint sich eher auf die Webtechnik als 364

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auf die verwendete Materie zu beziehen und die besten, fügte Marco Polo hinzu, kommen aus Indien. Es gab andere Stoffe pflanzlicher Herkunft wie die Watte oder die Baumwolle sowie das Leinen und den Hanf, von denen die Stadt Kaxgar im Westen des damaligen Chinas ein großes Kontor besaß. Aus China kamen auch die „Kamelotten“, Stoffe aus Kamelhaar aus Hi-Hsia und aus Tenduc, die vielleicht im weiteren Sinn wertvolle dünne Wollstoffe, ähnlich wie Pashmina oder Mohair, waren. Und natürlich Seide, mit den Gold- und Seidenstoffen, die in den ­Wundern der Welt oft vorkommen, sowie die zendadi, diese Schleier aus dünner Seide. Manche komplexen und wertvollen Verfahren der Seiden­ fabrikation waren nach den Städten benannt, in denen sie verwendet wurden, wie damas (aus Damaskus) und baldacchino (aus Bagdad). Die anderen beliebten und kostspieligen importierten Stoffe waren Brokat, Musselin und Samt. Es handelte sich um Produkte, die den italienischen Manufakturen zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert bekannt waren, von ihnen imitiert wurden und in den Lehrbüchern des Handels erklärt und vertieft wurden wie in dem eines Beamten der florentinischen Bank der Familie Bardi, Francesco di Balduccio Pegolotti, der, ohne selbst in den Fernen Osten gereist zu sein, um 1340 eine Prattica della mercatura (Von der Praxis des Handels) verfasste, ein Werk, das als ein praktischer Führer für diejenigen angelegt war, die Handelsaktivitäten zwischen dem Schwarzen Meer und China zu entwickeln wünschten.

Perlen und Edelsteine Die Perlen spielen ebenfalls eine große Rolle – Die Wunder der Welt geben eine sehr lebendige Beschreibung der Perlenfischerei – sowie die Edelsteine. In Bagdad lochte man die Perlen aus Indien, um Schmuck­ stücke herzustellen. Kerman lieferte Türkis. Eine Art kostbarer Rubin (Spinell) und diese blauen, goldgesprenkelten Halbedelsteine, die Lapislazuli genannt wurden – nach dem lateinisch-russischen Namen lapis „Stein“ und solat „Gold“) –, kamen aus Badachschan und aus Tenduc, Jaspis und Chalcedon aus Kaxgar und so weiter: Die gesamte Liste wäre sehr lang. In Indien fand Marco Polo die Quelle zahlreicher Edelsteine, die den eurasiatischen Handel bereicherten. Neben den Perlen widmet er auch den Diamanten ein ausführliches Referat, das eines Märchens würdig 365

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wäre und dem sehr verwandt ist, was in der Erzählung von Sindbad im Märchen aus Tausendundeiner Nacht steht. Die Gewürze haben ebenfalls ihren Platz und Marco Polo nennt im Verlauf seiner Reise oft Safran, Zimt, Rhabarber oder Galgant und na­türlich auch einfachere Waren: Viehfutter und allerlei Obstsorten. Der Reichtum des durchquerten Kontinents bemisst sich auch an dieser Art von Waren, die oft nicht Gegenstand eines Handels mit fernen Ländern sind, aber von dem Venezianer dennoch genannt werden. Zum Abschluss erwähnen wir gesondert den Moschus, eine Drüse im Bauch eines kleinen Nagetiers (eine Art Gazelle), aus der man eine für die Herstellung von Parfums sehr nützliche Substanz gewinnt, die Marco Polo mehrmals erwähnt. Neben den Wüsten und den Gebirgen Asiens war die Region, die die Waren durchquerten, um in den Westen zu gelangen, eine unermessliche und stürmische flüssige Wüste, in der immer wieder der Monsun wütete: der Indische Ozean.

Die vergessene Geschichte des Indischen Ozeans Dämonen und Wunder, Zauber und Gezeiten. Fast 75 Millionen Quadratkilometer Wasser, bald seicht und mit Inseln übersät, die in Wirklichkeit die höchsten Gipfel großer unterseeischer Gebirgsketten sind, bald 7000 Meter tief wie im Wharton-Becken zwischen Java und Australien. Geheimnisvolle Gewässer, die vom tiefen Blau bis zum Eisengrau reichen, die nicht nur ständig von Monsunen aufgewühlt werden, sondern auch durch das Aufeinandertreffen von warmen, lauen, kalten und – im fernen Süden – sehr kalten Strömungen widerspenstig und erschreckend werden. Ein unermessliches Becken, das mit seiner nördlichen Spitze an den 30. Breitengrad Nord heranreicht, dort, wo der Schatt ­al-Arab in die Straße von Hormus mündet, und sich mit seiner südlichsten, vom ewigen Eis bedeckt, über den antarktischen Polarkreis hinweg bis zum siebzigsten Breitengrad Süd bohrt. In der Länge erstreckt er sich von den ostafrikanischen Küsten im Westen bis zu den westaustralischen Küsten im Osten. Unter den drei großen Ozeanen des Globus ist er gewiss der kleinste, aber in mancher Hinsicht auch der unwirtlichste und der am wenigsten bewohnte. Er ist derjenige, der zuletzt erforscht wurde, da sich die West366

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europäer erst am Ende des 15. Jahrhunderts mit Vasco da Gama dorthin gewagt hatten, während die Erforschung seiner östlichen und südlichen Teile nicht vor dem 17. und 18. Jahrhundert erfolgte. Heute ein Traummeer, wenn man der Touristenwerbung Glauben schenkt: Jeder kennt zumindest über Filme und Fotos die prachtvollen Archipele, insbesondere die Korallenarchipele zwischen der Küste von Mosambik, Madagaskar, Südindien und Ceylon: die Komoren, die Seychellen, die Insel Mauritius, die Insel Réunion, die Malediven und östlich von Indien und den Golf von Bengalen eingrenzend die Andamanen und die Nikobaren im Nordwesten von Sumatra. Fabelhafte Inseln und geheimnisvolle Meere, die in der hellenistischen und griechisch-römischen Antike nur über Nachklänge sagenhafter Reisen bekannt waren: die „Goldene Chersonese“, die Insel Taprobana, ferne Landstriche, aus denen die Gewürze kamen, nicht nur schwer zu verorten, sondern auch schwer vorzustellen.

Sindbad der Seefahrer Eine Geschichte des Indischen Ozeans könnte sehr wohl mit ihm beginnen, warum auch nicht, mit diesem orientalischen Odysseus, den wir gewöhnlich Sindbad nennen – seit dem Erfolg der zwischen 1912 und 1917 von dem ungarischen Schriftsteller Gyula Krúdy verfassten Tetralogie, der in einer Art „indirekten Autobiografie“ die Heldentaten eines imaginären Helden schilderte, eines fahrenden Ritters und eines Feindes des Konformismus, einer Figur, die zugleich mit Odysseus, Don Quijote und Don Juan verwandt ist. Doch sein Name, der eindeutig indischen Ursprungs ist, wurde dem Kitab Sindibad entlehnt, dem Buch von Sindbad, einem arabischen Text, dessen indische und persische Originale verloren gegangen sind und der in den ältesten erhaltenen Fassungen bis ins 9./10. Jahrhundert zurückreicht. Es gibt byzantinische, kastilische, katalanische und italienische Vulgarisierungen. Es handelt sich um eine Sammlung von Novellen über die Gefahren der Unvorsichtigkeit bei den Jungen und die Betrügereien der Frauen. Aber wir sind noch nicht bei „unserem“ Sindibad, mit dem der indisch-arabische Abenteurer aus ­Tausendundeine Nacht, von dem sich der ungarische Romanschriftsteller anregen ließ, gewöhnlich verwechselt wird. Der „unsrige“ ist der Held der Reisen von Sindibad, den Asfàr Sindibad, einem kleinen arabischen 367

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Buch selbst wieder vielleicht indisch-iranischer Herkunft, das im Bagdad des Kalifen Harun ar-Raschid (8./9. Jahrhundert) spielt und in die spätere, bunt zusammengewürfelte Sammlung von Tausendundeine Nacht aufgenommen wurde. In diesem Reise- und Abenteuerroman empfängt ein reicher Händler aus Bagdad namens Sindibad in seinem luxuriösen Palast allerlei Gäste, die an sieben aufeinanderfolgenden Tagen ihre fabelhaften Abenteuer auf See erzählen: Schiffbrüche, menschenleere Inseln, einäugige Ungeheuer, die natürlich an Polyphem bei Homer erinnern, der Riesenvogel Rock und seine enormen Eier, das Tal der Diamanten, die Insel, auf der man in ein Tier verwandelt wird, die Insel der Pfeffersammler und der Magnetberg. Über den fabelhaften Charakter dieser Erzählung und die Tatsache hinaus, dass sie sich an Kurzfassungen der Odyssee anlehnt, die in der arabischen Welt zirkulierten, tendiert man heute dazu, unter den von dem unbekannten Autor verwendeten Quellen mindestens ein Reisetagebuch des Kommandanten eines persischen Schiffs des 10. Jahrhunderts zu erkennen. Und die Informationen, die man in diesem Büchlein über die Winde, die Strömungen und die Waren auflesen kann, veranlassen uns, zu denken, dass es sich um eine – unter dem verlockenden sagenhaften Firnis – eher wahrheitsgetreue Schilderung der Fahrten im Indischen Ozean handelt. Indem sie die Periodizität der Monsunwinde nutzten, die das Horn von Afrika und somit das Rote Meer sowie die Küsten Arabiens mit Indien und Ceylon verbanden und die im Sommer feucht und regnerisch vom Südwesten des Arabischen Meers in den Nordosten Indiens und im Winter trocken in die entgegengesetzte Richtung wehten, konnten die ägyptischen, phönizischen und chinesischen Schiffe seit der Antike unter großen Risiken – denn die Schiffbrüche waren zahlreich in diesen ständig aufgewühlten Gewässern – trotz der Entfernungen mit einer gewissen Geschwindigkeit die afrikanischen und arabischen Häfen im Westen und die indischen im Osten erreichen. Die orientalischen Waren nicht nur aus Indien, sondern auch aus Java, Sumatra, Borneo und dem ganzen asiatischen Südosten trafen folglich dank der Handelsschiffe, die zwischen der Antike und dem Mittelalter vor allem chinesische (und später arabische) waren, in den Häfen Arabiens, des westlichen Persiens und des Roten Meers ein, beladen mit diesen aromatischen und wertvollen Nahrungsmitteln, die man bei uns dann „Gewürze“ nannte. Dieselben 368

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Schiffe brachen dann, beladen mit dem Gold, dem Elfenbein und den Edelhölzern des afrikanischen Kontinents, wieder in den Orient auf. Die Gewürzstraße führte vom Golf von Aden über das Nildelta und die syrischen und libanesischen Häfen weiter, um das Mittelmeer und von dort aus Rom zu erreichen. Im Mittelalter verband sich dann diese Seehandelsstrecke mit dem komplementären Landweg durch Asien: der Seidenstraße. Doch die westlichen Händler kontrollierten weder die eine noch die andere.

Im 15. Jahrhundert zieht Europa seine eigenen Straßen Die Dinge änderten sich radikal zwischen dem 14. und dem 15. Jahrhundert. Das Osmanische Reich wurde immer mächtiger und das Mamlukensultanat kontrollierte weiterhin den Zugang der Gewürze und allgemein der Nahrungsmittel aus Ostasien zum mediterranen Markt über das Rote Meer und den Nil. Die einzige Art und Weise für die Europäer, mit dem asiatischen Großkontinent zu kommunizieren, verlief über die nicht sehr zuverlässige und kostspielige türkische Vermittlung. Die zahlreichen Kreuzzugsprojekte des 15. Jahrhunderts integrierten alle dieses Bedürfnis, die beiden von den Reichen der Osmanen und der Mamluken kontrollierten Landmassen über den Ozean zu umgehen. Gestützt auf diplomatische Kontakte mit dem christlichen Negus von Äthiopien, der bereits den Besuch von Missionaren und Diplomaten der lateinischen Kirche wie etwa den des Franziskaners Alberto da Sarteano erhalten hatte, unternahmen die Portugiesen der Marineakademie von Algarve, die von dem genialen Infanten Don Enrico mit dem Spitznamen „der Seefahrer“ gegründet worden war, kühne Versuche, den afrikanischen Kontinent zu umschiffen, um dergestalt auf dem als „orientalisch“ bezeichneten Seeweg den Fernen Osten zu erreichen, während bekanntlich Christoph Kolumbus das entgegengesetzte Ziel verfolgte, nämlich den Fernen Osten zu erreichen, indem er gen Westen segelte und folglich den Atlantik überquerte. Mit der von Vasco da Gama geführten Expedition von 1497/98, die Calicut (Kozhikode) an der Malabarküste erreichte, erfuhr die Geschichte des Indischen Ozeans eine Wende, während im fernen Westen der Erde ein neuer Kontinent entdeckt wurde. Doch das ist, wie der alte Rudyard Kipling sagen würde, eine andere Geschichte. 369

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Luxus und Alltag Wir haben grob die Grundlagen dessen beschrieben, was wir als die „institutionelle Geschichte“ der Wurzeln des modernen Luxus definieren könnten. Halten wir eines fest: Der Luxus ist keineswegs mit der wirtschaftlichen Blüte verbunden. In Zeiten des Elends, die oft auch Zeiten einer außerordentlichen Konzentration angehäufter und gehorteter Reichtümer entsprechen, zirkulierten die Luxuswaren weiterhin. In den „dunkelsten“ Jahrhunderten unseres Mittelalters – zwischen dem 5. und dem 10. Jahrhundert – erhielt Europa neben „armen“, aber unentbehr­ lichen Waren wie Salz und Eisen, die Tauschmittel blieben, aus dem ­Orient weiterhin Gold, Edelsteine, kostbare Stoffe aus Seide oder Wolle, Gewürze wie den Zucker (zur medikamentösen Verwendung, man zuckerte gewöhnlich mit Honig) und Weihrauch. Die Kirche benötigte Stoffe und Weihrauch für die liturgischen Feiern und die Mächtigen mussten ihren Prunk entfalten, um ihren gesellschaftlichen Status zur Schau zu stellen. Vor allem ab dem 11. Jahrhundert waren die europäischen Adligen bestrebt, als Söldner in Spanien, Sizilien und im byzantinischen und muslimischen Orient angeheuert zu werden, um ihr wachsendes Bedürfnis nach Bargeld, das damals selten war, zu befriedigen. Doch auch in dieser Hinsicht änderten sich die Dinge rasch: Zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert ging das europäische Währungssystem von der reinen Silberwährung zum Schlagen von Goldmünzen über. Der römische solidus aureus (4,55 Gramm) verschwand am Ende des 5. Jahrhunderts, wurde aber durch ähnliche Münzen ersetzt, etwa im Oströmischen Reich (Besant oder Hyperperion) oder in muslimischen Potentaten (Dinar oder Mancus). Die Ungleichheit war groß in der europäischen Gesellschaft des Mittelalters und die sozioökonomische Stratifizierung manifestierte sich auch in Schranken symbolischen Typs, unter denen der Schnitt und die Farben der Kleider ein häufiger Ausdruck waren. Die Herrscher und der Adel hatten ein Recht auf reiche Kleider aus Wolle oder später aus Seide in feierlicheren Farben als Purpur, Zinnoberrot und Scharlachrot sowie auf Kleidung, die (gewöhnlich innen, seltener außen) mit beliebten Pelzen wie Hermelin oder Zobel gefüttert war, die über Konstantinopel und Venedig und später über die Häfen der Ostsee aus den russischen Wäldern kamen. Im Mittelalter hatten nur die Ritter ein Recht auf ein Schwert 370

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mit goldtauschiertem Korb, das auch ihre Insigne war, sowie auf reiche, mit sibirischem Eichhornpelz gefütterte Mäntel. Die Toiletten der Damen war noch komplexer mit ihren aus Gold- oder Silberfäden gewebten durchsichtigen Schleiern und anderen Kopfbedeckungen, ihren bunten und bestickten Kleidern, ihren edlen und wertvollen Gürteln und ihren langen Schleppen, die durchaus maliziös mit den kühnen Dekolletés kontrastierten: Die Prediger des 13. und 14. Jahrhunderts, von denen uns zahlreiche theoretische Traktate und Predigtsammlungen erhalten sind, sparten nicht an heftigen Schimpfreden gegen diesen Brauch, der den Sinn für Maß und Mäßigung erschütterte – im mittelalterlichen Latein modus genannt, ein Begriff, der verdreht und ironischerweise verweiblicht wurde und so das Wort „Mode“ ergab. Alle städtischen Autoritäten im Mittelalter und in der Renaissance erließen mehr oder weniger strenge Gesetze gegen den Luxus, die die Verwendung von Gold- und Silber­ verzierungen (wie Gürtelschnallen und Knöpfe) regelten, die Länge der Schleppen, die Pelzfütterungen und so weiter, indem sie sie eingrenzten und gewissen gesellschaftlichen Schichten bescheidenen Ranges, die reich wurden, verboten, damit das Vermögen eher ein Symbol der zivilen oder religiösen Autorität als ein Zeichen des Wohlstands blieb. Doch diese Gesetze wurden mehr und mehr umgangen oder verletzt, während der Luxus sich bei Tisch einlud, nicht nur im Geschirr und im Besteck aus dünnem Glas oder Edelmetall, sondern auch in den Wein­ sorten und den raffinierten Gerichten, wobei beiden oft seltene Gewürze hinzugefügt wurden. Man griff auch einen Brauch aus der griechischrömischen Antike auf und ging so weit, in den Getränken Perlen aufzulösen oder die Speisen mit Goldpailletten zu verzieren. Im Licht von unter anderem alchimistischen Theorien wie dem aurum potabile glaubte man, dass Gold, Silber und Perlen die Macht besitzen, die Nahrungsmittel zu reinigen und manche Gifte unwirksam zu machen. Auch heute noch gibt es berühmte Alkoholmarken wie Smirnoff, die einen speziellen Wodka anbieten, der mit Zimt aromatisiert und mit Goldpailletten von 23–24 Karat angereichert ist, die in der durchsichtigen Flüssigkeit schweben und glänzen. Zwischen dem Mittelalter und der Renaissance bedeckte man bei höfischen Festmählern gewisse Speisen mit einem dünnen Goldblatt: Es kam rasch die Mode auf, diesen kostspieligen Brauch zu imitieren, indem man einen Ersatz verwendete wie das leuchtende Gelb der Krokusstempel (Safran) oder später das intensive Rot der Tomaten, Früchte einer Pflanze 371

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aus der Neuen Welt, die man lange für eine reine Zierpflanze hielt, bis es dann zu dieser ersten Verwendung zu ästhetischen Zwecken kam. Doch es brauchte seine Zeit, bis die Tomate sich als ein wirkliches Nahrungsmittel durchsetzte. Die Beziehung zwischen dem Lebensstil, der Verwendung von Kleidern und Nahrungsmitteln und gesellschaftlichen Hierarchien überlebte lange und man kann sogar sagen in mancher Hinsicht bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts, war aber natürlich sehr variabel in ihrer Intensität und Strenge. Die Verarmung des Adels ab dem 11. Jahrhundert, mit der auf unterschiedliche und diskontinuierliche Weise der entgegengesetzte Prozess einherging, nämlich die Bereicherung der „mittleren“ und „bürgerlichen“ Schichten, die zu komplexen Phänomenen der Anziehung, der Mimesis, des Widerstands und der Verschmelzung führte, schwächte jedoch nicht die deutliche Unterscheidung, die seit langer Zeit die Aristokratie und das Bürgertum auf dem Gebiet des Urbanismus, der Architektur und der Kleidung trennte. Die Adligen wurden rasch von den italienischen, okzitanisch-provenzalischen und katalanischen Städten angezogen, in die sie ihre architektonischen Formen und ihre klassen­ bedingten Gewohnheiten importierten, wie man in Genua und Venedig deutlich sehen kann, während in Mittel- und Nordeuropa der Adel „der Erde treu blieb“ und es vermied, sich in der Stadt niederzulassen. Die flämischen und hanseatischen Städte wurden somit durch einen Urbanismus und eine Architektur hohen, aber immer streng bürgerlichen Stils geprägt: Die Produzenten, die Unternehmer, die Händler und sogar die Handwerker vertrauten die repräsentative Funktion vor allem ihrem Firmensitz an, der italienischen loggia, der kalatanischen lonja oder der germanischen Halle.

Eine Geschichte von Eitelkeiten Und die Geschichte geht weiter … Die ewige, endlose Geschichte der Eitelkeit, des Luxus, des Vergnügens, immer schon geschmäht von den Religiösen und den Moralisten und immer schon hofiert von den Medien und denen, die auf Reichtum und Erfolg aus sind. Ihre Mode berührt auch und vor allem in zahlreicher Hinsicht den Geschmack und die Völlerei. Denken wir nur daran, was es für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit bedeutete, von den vergorenen alkoholischen Getränken zu den 372

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destillierten überzugehen. Oder an diese wahren Revolutionen, die Europa durch die Einführung des Tabaks und des Kaffees erlebt hat, dieses antiken afroasiatischen Kleinods, das dann in Südamerika so „heimisch“ geworden ist, dass viele Leute heute im Brustton der Überzeugung behaupten würden, dass die geröstete Bohne Coffea arabica nicht aus Äthiopien stammt, sondern aus Brasilien. Immer wieder sind es die Verrücktheiten der Mode – über die sich schon ein Dante Alighieri entrüstete, der die „schamlosen Florentinerinnen“ geißelte, immer bereit, „Busen und Brust zu zeigen“ –, die angeblich Provokationen und Unruhen auslösen. So ist es seit den Galois und Galoises, einem merkwürdigen asketisch-erotischen Orden, der in Frankreich am Beginn des 15. Jahrhunderts den jungen Damen und den Edelmännern vorschrieb, im Sommer dicke Pelze zu tragen und große Feuer anzuzünden, um sich zu erwärmen, und mitten im Winter den Kamin nur mit grünem Laub und ihr Bett mit einer leichten Decke zu versehen – bis hin zu den von Molière karikierten Preziösen, dem Dandytum, das nicht ohne Mehrdeutigkeit in den englischen Kolonien, die sich gegen ihre britische Majestät auflehnten, im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entstand und in zahllosen Revivals und Abwandlungen immer noch lebendig ist. Das ist auch – näher bei uns – bei den Experimenten auf halbem Weg zwischen Mode, Kunst, Handwerk und Protodesign der Fall wie bei dem Arts and Crafts Movement von William Morris oder der Explosion des Jugendstils, die am Anfang des letzten Jahrhunderts den Horizont von New York mit einem Schmuckstück dieser Art bereicherte, dem authentischen Zeugen einer Zivilisation, die einige Jahre lang wirklich geglaubt hat, dass die Begegnung von Freiheit, Vergänglichkeit und Überfluss die richtige Formel für ein dauerhaftes Glück sei. Von der Sainte-Chapelle bis zum Chrysler Building in New York wird vielleicht derselbe kostbare tolle Traum verfolgt: das Licht in den Werken des Menschen einfangen, den Reichtum in ein Kunstwerk verwandeln.

Literatur Sulla via della seta. Antichi sentieri tra Oriente e Occidente (Kollektiv), Rom 2012. Gabriella AIRALDI (Hg.), Gli orizzonti aperti. Profili del mercante medievale, Turin 1997. Bruno DINI, Saggi su una economia-mondo. Firenze e l’Italia fra Mediterraneo ed Europa (secc. XIII–XVI), Pisa 1995.

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Paul FREEDMAN, Out of the East. Spices and the Medieval Imagination, New Haven/ London 2008. Wilhelm HEYD, Geschichte des Levantehandels im Mittelalter, 2 Bde., Tübingen 1877– 1879. Massimo MONTANARI, Alimentazione e cultura nel medioevo, Rom/Bari 1988. Maria Giuseppina MUZZARELLI, Guardaroba medievale. Vesti e società dal XIII al XVI secolo, Bologna 2008. M. M. POSTAN und H. J. HABAKKUK (Hg.), The Cambridge Economic History of Europe, 3 Bde., Cambridge 1966. Giacomo TODESCHINI, I mercanti e il Tempio. La società cristiana e il circolo virtuoso della ricchezza fra Medioevo ed età moderna, Bologna 2002. Alessandro VANOLI, Storie di parole arabe. Il racconto di un mondo mediterraneo, Mailand 2016.

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Das Museum – Spielball der Erinnerung Ab dem 18. Jahrhundert hat sich in Europa das Museum als der Ort schlechthin für die Inszenierung des nationalen Gedächtnisses durchgesetzt. Die im 20. Jahrhundert erfolgte Infragestellung der Idee eines einzigen großen Narrativs erschütterte seine Grundlagen und rückte es ins Zentrum der öffentlichen Debatte.

Grande Galerie du Louvre. Ein Gemälde von Hubert Robert aus dem Jahr 1796.

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Das Museum ist eine europäische Erfindung, die in den jeweiligen Ländern zu verschiedenen Zeitpunkten aufgetaucht ist, die aber immer mit dem Geist der Aufklärung und den Ideen des Fortschritts sowie der V­ ermittlung und schließlich mit der Konsolidierung der nationalen ­Gem­einschaften im Lauf des 19. Jahrhunderts verknüpft ist. Als Auf­ bewahrungsort und Ausstellungsort ist das Museum der europäische Erinnerungsort par excellence. Zahlreiche Besucher insbesondere aus anderen Kontinenten haben dort die europäische Kunst und Kultur entdeckt, angefangen bei Henry James und seinen nordamerikanischen Romanhelden bis hin zu den Touristen des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts mit ihren Selfies. Der russische Filmemacher Alexander Sokurow hat unlängst in dem Film Francofonia (2015) aus den Verhandlungen von Jacques Jaujard mit den nationalsozialistischen Besatzern eine beeindruckende Allegorie des Kampfs des Museums gegen die Zerstörung der Zivilisation gemacht. Der Film Russian Ark (2002) desselben Regisseurs beruhte bereits auf der Hypothese, dass ein Museum – in diesem Fall die Eremitage – die Geschichte einer Nation lesbar machen, wenn nicht gar vollständig für sie stehen kann. Eine Generation zuvor begann Peter Weiss seinen großen Roman Die Ästhetik des Widerstands (1975) mit einem Besuch des Pergamonmuseums im Jahr 1937: Der Erzähler und ein kommunistischer Arbeiter hören ihrem Genossen zu, der vor den antiken Flachreliefs seine proletarische Version des heldenhaften Kampfs des Herkules erzählt, der den Widerstand gegen das Naziregime verkörpern soll.1 Die Begegnungen mit den Objekten der Museen lehren in einer brutalen Welt ebenso sehr den Mut wie die Kultur. Die europäische Geschichte der Museen begann mit dem Pariser Aufmarsch des Festes der Freiheit und der Künste im Jahr 1798, der die Früchte des Raubes in den eroberten Ländern in die neuen Museen brachte – antike Statuen, wertvolle Gemälde, seltene Tiere, Bücher und Handschriften. Die Feier, die den Transfer der universellen Meisterwerke von Griechenland nach Rom und von Rom nach Paris veranschaulichte, schrieb die Geschichte aus der Sicht der Sieger und gemahnt an diese Verschmelzung von Barbarei und Zivilisation, die Walter Benjamin später in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte beschrieb. 1 Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Bd. 1, Berlin 1975.

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Die europäischen Museen zeugen in der außerordentlichen Vielfalt ihrer Bestände und in ihren oft chaotischen Entwicklungen von der kulturellen Mannigfaltigkeit des Kontinents, indem sie die Besonderheiten der nationalen Identifikationen veranschaulichen, aber auch die ständige Zirkulation der Objekte, der Konservatoren, der Sammler und der Experten.

Eine Repräsentation der Macht Das gelehrte Studium der Sammlungen hebt gern die Hinterlassenschaft der Renaissance hervor. Julius von Schlosser, Konservator im Kunsthistorischen Museum in Wien, beschließt 1908, ein Buch über Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance zu schreiben. Er beschreibt darin eine Trennung zwischen Nord- und Südeuropa, zwischen der Faszination für die geheimnisvollen Kuriositäten mit magischen Eigenschaften und dem ausschließlichen Interesse für die antiken Objekte und die klassische Gelehrsamkeit. Sein Ansatz ist ziemlich exzentrisch zu einem Zeitpunkt, als die Mehrheit der Spezialisten wie etwa David Murray in seiner in eben diesen Jahren (1904) publizierten Enzyklopädie der Museen eher ein Bild der Fortschritte der damaligen Museen entwerfen und die Inkohärenz der früheren Sammlungen anprangern. Doch die Neuaufstellungen von Wunderkammern wie etwa derjenigen von Ferdinand II. im Schloss Ambras unweit von Innsbruck zeugen von der heutigen Faszination für diese Genealogie der Museen. Die Arbeiten zahlreicher Künstler und Kuratoren haben deren Aktualität noch gesteigert, indem sie viele (künstliche) Nachstellungen gemacht haben wie etwa in Oiron, das in den 1990er-Jahren zum Ort einer zeitgenössischen, von dem Konservator Jean-Hubert Martin zusammengestellten Wunderkammer geworden ist. Das Gedächtnis der Kuriositätensammlungen lehrt uns den Nomadismus der wertvollen Objekte in Europa wie auch den wechselnden Charakter der Grenze zwischen dem Vertrautem und dem Fremden. Es ruft auch in Erinnerung, dass die Sammlungen immer eine Form der Repräsentation der magischen oder symbolischen Macht ihrer Besitzer über die Welt sind. Die europäische Literatur zur Kunst bezieht die in den Museen versammelten Werke auf das Renommee eines Territoriums oder eines Fürsten und trägt im Lauf der Zeit zur Steigerung 377

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des Ruhms bei. Rom mit den Beständen des Kapitols ist vielleicht das beste Beispiel dafür oder die Antikensammlung, die Kardinal Domenico Grimani 1523 der Serenissima schenkte. Verschiedene europäische Staaten und an erster Stelle die italienischen gingen deshalb im 17. Jahrhundert daran, diese „öffentlichen“ Objekte wie etwa die Hinterlassenschaft ihrer wichtigsten Künstler durch diverse Gesetzgebungen über die Unteilbarkeit der Erbschaften oder durch die Einflussnahme auf den internationalen Markt der Meisterwerke zu schützen. Das 18. Jahrhundert fügte diesen ersten Patrimonialgerichtsbarkeiten die Vorstellung hinzu, dass diese Sammlungen nun auch effizient sein müssen, sollen sie doch die Ignoranz verbannen, die Künste vervollkommnen und den öffentlichen Geist wecken. Caspar Friedrich Neickel unternahm es in seiner 1727 erschienenen Museographia, die Sammlungen in ganz Europa und darüber hinaus in der ganzen damals bekannten Welt zu katalogisieren. Die Publikation führte ein Wort ein, Museografie, das praktisch und theoretisch ein großer Erfolg wurde. 1753 gründete das britische Parlament das British Museum anhand der Sammlungen des Arztes Hans Sloane. Sechs Jahre später wurde es öffentlich zugänglich. Das hartnäckig verfolgte Ziel, an einem zentralen Ort die Bibliotheken, die Sammlungen und die Akademien eines Landes zu versammeln, geht auf das Ideal des Museums von Alexandrien zurück, ein Ideal, das allen Eliten der europäischen Kollegien teuer war, waren sie doch alle in den Sprachen und Kulturen der Antike unterrichtet worden. Die berühmte Bibliothek des Claudius Ptolemäus verkörperte die Enzyklopädie der antiken Welt, eine Werkstatt des menschlichen Geistes der damaligen Zeit. Die Bezeichnung Musentempel mit der „britischen“ politischen Identität zu verbinden, war anfangs keineswegs selbstverständlich. Die Entwicklung des British Museums verläuft eigentlich parallel zu der des berühmten Rule, Britannia!: Das Lied aus der Mitte des 18. Jahrhunderts rief das Volk dazu auf, seine Freiheiten gegen die Tyrannen zu verteidigen, während es im Jahrhundert danach zur Hymne des triumphierenden Imperialismus wurde. So hat auch das aktuelle British Museum, ein Gebäude im neogriechischen Stil, entworfen von dem Architekten Robert Smirke, mit seiner 2004 eingerichteten „Erleuchtungsgalerie“ nichts mit dem sehr bescheidenen ursprünglichen Gebäude zu tun. 378

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Der Louvre unter den Auspizien der Aufklärung Auf dem Kontinent profitierte der Louvre von der Begeisterung der Encyclopédie von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert für ein Modell der Archivierung von Kunst und Wissenschaft sowie von den aufgeklärten Plänen der Verwaltung in den 1780er-Jahren. Bereits 1791 ordnet ein revolutionäres Dekret an, dort die Denkmale, das heißt die „Wohltaten der Zivilisation“, zu lagern. Die Eröffnung 1793 manifestierte den Willen, zu „demokratisieren“ – denn so lautete der anprangernde, von seinen ideologischen Gegnern erfundene Neologismus. Das „Zentralmuseum“ verkörperte tatsächlich den Bruch mit dem Geheimnis der Sammlungen des Ancien Régime und die Eroberung eines neuen Rechts in der Utopie einer freien Erziehung, die das soziale Gesamtwesen durchströmen sollte. Der Besuch ist jedoch – und das ist der Preis für dieses politische Weltbild – dem Bestreben unterworfen, den öffentlichen Geist zu überwachen. Durch seinen universellen Anspruch unterschied sich der Louvre von den anderen damaligen Gründungen, die im engen Sinn national und spezialisierter waren wie das kurzlebige spezielle Museum der École française (1797–1802) im Schloss von Versailles oder, geografisch näher, auf dem gegenüberliegenden Ufer der Seine das 1795 eröffnete Musée des Monuments français. Alexandre Lenoir erfand dort das Genre des historischen, didaktischen und malerischen Museums, das im Europa der Nationen sehr erfolgreich sein wird. Eine derartiges Gegenüber eines Museums des Universellen und nationaler Sammlungen, das Jules Michelet in seiner Histoire de la révolution française beispielhaft analysiert, ist dann in dieser Ausprägung eine Seltenheit. Es erhellt die Unterschiedlichkeit der Definitionen eines „Nationalmuseums“ in den verschiedenen Ländern Europas, deren Sammlungen mitunter mit den Produktionen eines politischen und kulturellen Territoriums gleichgesetzt und mitunter in einem enzyklopädischen, wenn nicht gar universellen Sinn verstanden werden.

1815: eine erste europäische Museomanie Der kurze Zyklus der französischen Hegemonie in der Epoche der Revolution und Napoleon Bonapartes hat eine Umgestaltung der Gesamtheit der Sammlungen der Fürsten, der Kirche und manchmal der Privatpersonen 379

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von Spanien bis Schweden und von Deutschland bis Italien ausgelöst – ausgenommen in Großbritannien. Auf seinem Höhepunkt hat das napoleonische Frankreich die Landschaft des Kulturerbes im Namen einer zentralisierenden und auf das Schwert gestützten Vernunft umgemodelt – so eröffnet 1809 das „Regno d’Italia“ in Mailand die Pinacoteca di Brera, die Frucht einer nie da gewesenen Zentralisierung der konfiszierten Güter. 1815 wird mit dem Ende des Ersten Kaiserreichs laut einer Formulierung von Athanase Lavallée, dem Sekretär eines zerstückelten Napoleon-Museums, ganz Europa von einer „Museomanie“ erfasst. Denn die Rückkehr der Werke in ihre Herkunftsländer bedeutete nicht das Ende der Museen in Europa: Sie ließ sie triumphieren. Der germanische Raum ist diesbezüglich beispielhaft: In Berlin entstand ein Museum (1823– 1830), das die Anregung eines auf dem Krieg beruhenden Louvre ablehnte und sich ganz im Gegenteil zu den Werten des Friedens bekannte. Der Architekt Karl Friedrich Schinkel übernahm die Rotunde des 1771 von Papst Clemens XIV. gegründeten und von Papst Pius VI. weitergeführten Museums des Vatikans, das als die Quintessenz des Erbes der Gelehrtenrepublik und der europäischen Akademie der Künste vor der Revolution angesehen wurde. Schinkel manifestierte dort eine ganze neue gesellschaftliche Sendung des Museums: Es sollte der Bildung dienen, die von der neuen Generation der preußischen Intellektuellen im Umkreis von Wilhelm von Humboldt propagiert wurde. Dieses Alte Museum, Angelpunkt einer Neugestaltung der preußischen Hauptstadt, die schließlich zur Museumsinsel führte, bahnte den Weg für zahlreiche stadtplanerische Operationen dieser Art. Die letzte Operation dieses Jahrhunderts ist dann in den Jahrzehnten 1870–1890 der Bau von zwei Museen am Ring in Wien, die nach langem Auf und Ab als Manifeste einer Kulturpolitik in Verbindung mit der Liberalisierung einer monarchischen Regierung konzipiert wurden. In ganz Europa bildeten neue, symmetrisch zusammengestellte oder benachbarte Gebäude in den Zentren der Hauptstädte ganze Viertel für Kunst und Wissenschaft. Ein anderes europäisches Museumsmodell verwendete jedoch weiterhin bereits bestehende Gebäude, wie dies auch in Frankreich der Fall war: so etwa die Konversion des Bargello in Florenz im Jahr 1865, kurz nach der italienischen Einigung, die mit der patriotischen Mobilisierung des Werks von Dante Alighieri einherging. 380

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Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts unterschied man die Museen der archäologischen Kuriosität von den Museen, in denen die Meisterwerke ausgestellt wurden. Die Kammern von Wien oder Neapel oder das Ägyptische Museum in Turin zum einen und die Vatikanischen Museen, der Louvre, das British Museum sowie die neuen deutschen Museen zum anderen teilen sich den europäischen Raum. Der Frühling der Völker und das wachsende Nationalgefühl tragen entscheidend zu dem Interesse für die Museen in ganz Europa bei. Das gerade erst vollendete ungarische Nationalmuseum fungierte als Zentrum der Revolution von 1848. In Paris schuf der Maler Philippe-Auguste Jeanron, der Direktor des kurzlebigen Louvre der Republik von 1848, in wenigen Monaten die Grundlagen einer beispielhaften Organisation, die für das halbe Jahrhundert danach bestimmend blieb. Doch die bemerkenswerteste Neuerung der zweiten Jahrhunderthälfte lag in der Abfolge der Weltausstellungen und deren Hinterlassenschaften. Die Londoner Ausstellung von 1851 im Crystal Palace führte zur Entstehung des späteren Victoria and Albert Museum (1852), das sich als beispielhaft langlebig erwies. Sein Direktor von 1853 bis 1873, Henry Cole, war überzeugt, dass der Anblick von beispielhaften Werken das Publikum und die Schüler der angegliederten Kunstschulen erziehen solle. Doch diese Einrichtung war nach und nach mehr auf die eigentliche künstlerische Qualität bedacht, was auf Kosten der Vollständigkeit eines Bestands an Reproduktionen ging. In ganz Europa erlebten die ursprünglich enzyklopädisch konzipierten Museen für Kunst und Gewerbe ein ähnliches Schicksal.

Die Rolle der Sammler Das Ideal einer ästhetischen Erziehung war wesentlich für die Entwicklung von nationalen Galerien, genauso wie die Reflexionen der Sozialpädagogen und Sozialreformer für die lokalen, mehr oder weniger mit volkserzieherischen Zielen verbundenen Einrichtungen. Dieses Ideal wurde insbesondere in Großbritannien von den philanthropischen und oft moralisierenden Anliegen gefördert, die zu didaktischen Museen mit Reproduktionen von verschiedenen Stichen, Fotografien, Abgüssen oder Faksimiles führten, die vorzüglich in den benachteiligten Vierteln eingerichtet wurden. Die Whitechapel Art Gallery in London wurde 1901 eröffnet. Die Rolle der Philanthropen im Leben der europäischen 381

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Museen im 19. Jahrhundert wie etwa in den bürgerlichen Museen der Städte Italiens oder in den aus städtischen Oligarchien hervorgegangenen Museen der Schweiz war deshalb beträchtlich, weil die Staaten nur gering investierten. In Frankreich wäre die Bilanz des Second Empire im Bereich des Ausbaus der öffentlichen Sammlungen ziemlich jämmerlich ohne die Beiträge der privaten Sammeltätigkeit und ihrer Hinterlassenschaften für die großen Pariser Museen. Unter der Dritten Republik erschien das Mäzenatentum der Rothschilds sogar als eine wesentliche Unterstützung der Politik der Verwaltung der bildenden Kunst, die es ermöglichte, die Anzahl der Erwerbungen in der staatlichen Kunstaustellung zu erhöhen und diese Bilder dann aufgrund lokaler politischer Klientelen oder unterschiedlicher Opportunitäten auf die Provinzmuseen zu verteilen. Die Rückschauen oder die umfassenden Überblicke über das Kulturerbe der verschiedenen europäischen Staaten bei den internationalen Ausstellungen beruhten übrigens zum Großteil auf der Mobilisierung von privaten Sammlern. Gelegentlich waren sie auch Träger bemerkenswerter Innovationen wie etwa der Pariser Dirigent Isaac Strauss, der in der Ausstellung von 1878 die erste Sammlung hebräischer religiöser Kunstgegenstände zeigte. Der Anklang war so groß, dass er zur Schaffung spezialisierter Abteilungen führte wie im Musée Cluny und langfristig eine neue Tradition jüdischer Museen erfand. Dieser Typus von Sammlermuseen verbreitete sich damals über den ganzen Kontinent – er florierte zwischen dem letzten Viertel des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts besonders in Nordamerika in den Tycoon-Museen. Ein Sonderfall war schließlich der des sammelnden Monarchen. Das Museum von BelgischKongo, das zum Musée royal de l’Afrique centrale (Afrikamuseum) von Tervuren geworden ist, wurde nach der Weltausstellung 1897 in Brüssel gegründet und 1910 von König Leopold II., damals der persönliche Besitzer der Kolonie Kongo, in einem vom Pariser Petit Palais inspirierten Gebäude untergebracht. Es ist der Archetyp der Sammlung, die auf der kolonialen Ausbeutung beruht, innerhalb eines „kleinen Versailles“. Seine unlängst erfolgte Schließung nach Jahren des Zögerns und des Unbehagens steht vermutlich für die letzte Episode des europäischen Kolonialmuseums, als die Eroberung, aber auch die gelehrten Missionen zahlreiche als legitim erachtete Mittel zur Verfügung stellten, um die Bevölkerungen zu plündern. 382

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Die Mobilisierung der Museen in den Kulturkriegen In der Geschichte der Museen sind Bedrohungen keine Seltenheit: Die Rettung der Moskauer Sammlungen vor den anrückenden napoleonischen Truppen ist der Beginn einer langen Reihe von Räumungen. Doch der Erste Weltkrieg bedeutet für die europäischen Museen eine nie da gewesene Prekarität. „Wir anderen Zivilisationen, wir wissen nun, dass wir sterblich sind“, schrieb Paul Valéry 1919 in La Crise de l’esprit. Die Sammlungen des Louvre wurden also südlich der Loire nach Toulouse ausgelagert und aufgrund der Dringlichkeit ihres Schutzes sortiert. Die deutschen Kunsthistoriker inventarisierten ihrerseits die Werke des Feindes im besetzten Belgien und in Nordfrankreich. Die Kriegsführer mobilisieren ständig die Museumskultur und organisieren Ausstellungen, die den Blick auf den anderen schärfen wollen und in Wirklichkeit die Fremdenfeindlichkeit schüren. Die bolschewistische Revolution und die Faschismen in den Jahren danach machten aus den Museen Werkzeuge für ihre Propaganda, wobei sie völlig neue Modalitäten einsetzten. Im nationalsozialistischen Deutschland und im faschistischen Italien wurden alle Medien von der Ausstellung bis zum Film, von den Vorträgen bis zum Rundfunk mobilisiert, um aus den gesäuberten, manipulierten und neu zusammengestellten Museen wirksame Werkzeuge der staatlichen Ideologie zu machen. In München stellte die Ausstellung „entartete Kunst“ 1937 einen Teil der zeitgenössischen Kunst an den Pranger, während sich gleich in der Nähe das Haus der deutschen Kunst dem nationalen Genie im Sinn des Regimes widmete. Die internationalen und nationalen italienischen Ausstellungen widmeten sich zur Unterstützung des Regimes ebenso so sehr der Renaissance wie dem römischen Imperium und konzipierten ab 1936 ein Programm neoklassischer Museen in der Nähe von Rom, das durch den Krieg unterbrochen wurde. Die Russische Revolution, die der Französischen Revolution die Idee einer Eingliederung der Werke des niedergeschlagenen Regimes in das Kulturerbe entlehnte, dachte an eine pädagogische und wissenschaftliche Verwendung der Museen, die sie übernahm oder eröffnete. Doch nach einer ersten Phase einer museologischen Avantgarde wurden die sowjetischen Einrichtungen alle nach einem Modell organisiert, waren von normalisierten Entsendungen abhängig und spielten die Rolle von ideologischen Staatsapparaten, während die Sammlungen gesäubert und gegebenenfalls verkauft wurden. Die ausgestellten Kunstwerke, denen 383

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andere, für die Produktionsweise ihrer Zeit signifikante Artefakte zur Seite gestellt wurden, sollten die aufeinanderfolgenden Phasen des Klassenkampfes veranschaulichen. Die Museen der liberalen Demokratien begriffen nur schwer, was dabei auf dem Spiel stand, und waren manchmal fasziniert von der Mobilisierung moderner Werkzeuge bei ihren Nachbarn. Sie erlebten ihrerseits je nach den Ländern unterschiedliche und widersprüchliche Reform- oder Protestbewegungen, die den traditionellen Formen galten, litten aber vor allem unter der Anhäufung finanzieller und sogar institutioneller Probleme. Der Generaldirektor der schönen Künste, Georges Huisman, meinte, „nachdem man im 18. Jahrhundert Museen für die Elite geschaffen hat und im 19. für die Bourgeoisie, muss man nun Museen für das Volk, das Letztere nicht kennt, in Angriff nehmen“. Die Formulierung zeugt vom Auftauchen neuer Überlegungen in den Gemeinschaften der Konservatoren, die sich professionalisieren und – das gilt zumindest für manche unter ihnen – das Modell des Elfenbeinturms ablehnen.

Plünderungen Dennoch idealisiert das europäische Museum in seinem Zugriff auf die Objekte überall die mehr oder weniger einbekannte Plünderung, die durch Formen des Imperialismus und Kolonialismus ermöglicht wurde. Denn gerade in dem Prinzip seines unbegrenzten Wachstums – eine Idee, die Le Corbusier in seinem Projekt der Cahiers d’art von 1931 am anschaulichsten und klarsten formuliert hat – bestätigte es fortwährend seine Legitimität auf dem Gebiet des Kulturerbes und der Wissenschaft. Das ethnografische Museum des Trocadéro, das künftige Musée de l’Homme, das Symbol des fortschrittlichen Universalismus der französischen Wissenschaft, Ort des politischen und moralischen Engagements und bald auch des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, profitierte dergestalt von der Sammlung, die von 1931–1933 von der Mission Dakar–Dschibuti unter der Leitung von Marcel Griaule durchgeführt wurde, mag auch deren Mangel an Skrupeln von Michel Leiris, dem Tagebuchschreiber des Teams, in seinem L’Afrique fantôme (1934; Phantom Afrika) kritisiert worden sein. Man kann das Auftauchen neuer Typen von Ausstellungen und Deutungen geltend machen, so etwa 1937 unter der Volksfront die Verbindung 384

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von Freizeit, Volkserziehung und Museen für Volkskunst und Brauchtum, ja sogar gänzlich neue Einrichtungen; Jean Perrin gründete mit dem Palais de la Découverte eine neue Institution, die sich von den Sammlungen wissenschaftlicher Instrumente oder den Dioramen von Gelehrten unterscheiden will, um „eine lebendige Ausstellung anzubieten, in der auf spektakuläre Weise die grundlegenden Entdeckungen wiederholt würden“. Die transnationale Zirkulation der Modelle und Bezugnahmen profitierte von der Kooperation des Office International des Musées, das 1926 auf Anregung von Henri Focillon unter Ägide des Völkerbundes gegründet worden war und die Zeitschrift Mouseion publizierte. Diese erste internationale museologische Zeitschrift berichtete über die großen Konferenzen in den 1930er-Jahren, in Rom über die Restauration, in Athen über das Kulturerbe und 1934 trotz der angespannten Lage in Spanien in Madrid über die Museologie. Schließlich war auch jenseits des Atlantiks die Ausarbeitung einer Museografie, die die Interessen des Publikums berücksichtigte, ein nicht unwesentlicher Faktor der Veränderung, der sich über verschiedene Kanäle auch in Europa verbreitete. Bis zu diesem Zeitpunkt lehnten sich die nordamerikanischen Museen an europäische Modelle an, die Experten zirkulierten nur in eine Richtung. Nunmehr kommt es zu einem gegenseitigen Austausch. Nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten im Jahr 1922 definierte der belgische Konservator die doppelte Funktion der Museologie: Sie ist zum einen wissenschaftlich, zum anderen erzieherisch und auf die Kommunikation ausgerichtet. Ab 1936 dachten sich europäische und amerikanische Konservatoren jedoch angesichts des drohenden Krieges Notlösungen aus wie im Februar 1939 die Auslagerung der Sammlungen des Prado nach Genf, die auf die Initiative des Malers Josep Maria Sert hin von einem Internationalen Komitee für den Schutz des spanischen Schatzes durchgeführt wurde. Die Erfahrung diente später bei den Evakuierungen im Zweiten Weltkrieg und kündigte die Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten an, die 1954 von der UNESCO beschlossen wurde.

Museum, Erinnerung Die katastrophalen Schäden, die das Kulturerbe im Lauf der militärischen Operationen im Zweiten Weltkrieg erlitten hat, die nationalsozialistische Plünderung der hauptsächlich jüdischen und mitunter in Museen unter385

DOMINIQUE POULOT

gebrachten Privatsammlungen und schließlich die von der Roten Armee in den deutschen Museen gemachte Beute bedeuteten das weitgehende Scheitern des Konservierungsauftrags der europäischen Museen. Künftig die Sicherheit zu gewährleisten, war eine Aufgabe, die umso unabdinglicher war, als die Gefahren, denen sie ausgesetzt waren, vor dem apokalyptischen Horizont des nuklearen Feuers, das in der damaligen Fach­ literatur regelmäßig angesprochen wurde, noch zahlreicher zu sein schienen. Die Erneuerung der Hoffnungen, die man in diese Institutionen gesetzt hat, erforderte eine historische und soziologische Reflexion. Alma Wittlin (1899–1990), eine in der Wiener Schule ausgebildete Spezialistin für spanische Architektur, die nach ihrer Flucht nach England Museumswissenschaftlerin geworden war, lieferte 1949 ein inzwischen klassisch gewordenes Manifest über die Verwendung der Museen für ein neues Europa, zugleich Geschichte der Sammlungen, soziologische Reflexion und humanistisches Manifest. Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno hingegen prangerte 1953 in seinem Valéry Proust Museum die Gewalt an, die der Kultur durch das Museum angetan wird – er setzt das Museale mit dem Sepulkralen gleich –, gibt aber zu, dass man auf das Museum nicht verzichten kann, da sonst die Barbarei droht. Eine Generation danach dachte sich Siegfried Lenz in seinem Roman Heimatmuseum die Geschichte einer solchen Institution aus, deren schädliche Auswirkungen so groß sind, dass deren freiwillige Zerstörung sich als die einzige vernünftige Lösung erweist, um der Gemeinschaft eine Zukunft zu sichern2. Die Handlung hat einen eigenartigen Beiklang, wenn man bedenkt, dass in der Nachkriegszeit die Museen, die geraubte, konfiszierte oder geplünderte Güter in ihren Beständen hatten, immer mehr mit Nachforschungen über die Herkunft und mit Verdächtigungen konfrontiert wurden. Was Frankreich betrifft, wurden von 100 000 zwischen 1940 und 1945 verschwundenen Werken 60 000 wiedergefunden, restituiert oder von der staatlichen Vermögensverwaltung verkauft und 2000 wurden für die Museen ausgewählt. Die Museen mussten internationale Anfragen über diese Werke beantworten, und zwar zunächst einmal über die 1997 eingesetzte Mission, die die Beraubung der französischen Juden während der deutschen Besatzung untersuchen sollte (Mission d’étude sur la spoliation des Juifs de France). 2 Siegfried Lenz, Heimatmuseum, Hamburg 1978.

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Das europäische Museum, neu zusammengesetzte Gedächtnisse Eines der ständigen Anliegen der Museen besteht heute darin, die Geschichte ihrer Sammlungen zu zeigen und zu problematisieren. Restaurierungen und Wiedereröffnungen „historischer“ Museen liefern regelmäßig auf mehr oder weniger spektakuläre Weise die Gelegenheit dazu. In den Jahren 1980–1990 wurden in ganz Europa zahlreiche Jubiläen von Museen gefeiert, die im Jahrzehnt der Revolution oder in der napoleonischen Ära gegründet worden waren. Der französische Kontext der Gedenkfeier fiel mit der Umsetzung des von dem Präsidenten François Mitterrand beschlossenen Programms des Grand Louvre zusammen, der symbolisch am 10. August 1993 eröffnet wurde. Die Rückkehr der nationalen Sammlungen nach dem Untergang des französischen Kaiserreichs wurde in den jeweiligen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten gefeiert, in Rom beispielsweise im Jahr 2016. Der Fall der Berliner Mauer, der eine Umstrukturierung der Museen in einem Teil des europäischen Kontinents zur Folge hatte und insbesondere die sehr emblematische der Museumsinsel, war der Anlass für eine weitere Gedächtnisarbeit über das europäische Museum des vergangenen Jahrhunderts, über seine Sammlungen und über die materiellen Überreste seiner ursprünglichen Dispositive. Die Entscheidung des englischen Architekten David Chipperfield, im Neuen Museum von 2009 das vom Krieg hinterlassene und dann von der DDR belassene Palimpsest aufzubewahren, ist diesbezüglich aufschlussreich für eine vielschichtige Einstellung, die schließlich in der europäischen Vorstellungswelt das Museum mit dessen Ruine vereint und damit in Erinnerung ruft, dass es ganz oder teilweise daran gescheitert ist, der Gewalt zu widerstehen und die Zukunft seiner Objekte zu gewährleisten. Das vollständige Verschwinden mancher Institutionen oder dasjenige spezifischer Typen – beispielsweise der Atheismusmuseen – im ehemaligen kommunistischen Europa vor der Ausarbeitung neuer Museen, in denen sich die Öffnung oder die Fortsetzung von Erinnerungskriegen manifestiert, ist ein letztes Zeugnis dafür. Die Ungewissheit, die heute auf dem europäischen Museum lastet, ist anderer Natur. Die Globalisierung seines Dispositivs und die – abgesehen von vereinzelten Ausnahmen auf anderen Kontinenten – einhellige 387

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Anerkennung seiner Legitimität erhöhen de facto die Anzahl der Rückforderungen eines Teils seiner Bestände. Europa selbst hat in seiner Geschichte den Weg gezeigt. Das ist der Fall in der Entwicklung des Streits über die Elgin Marbles, die sich seit 1816 im British Museum befinden. Er war zunächst auf England eingeschränkt, als Lord Byron in den ersten zwei Canti von Childe Harold’s Pilgrimage (1812) die Verstümmelung von Athen anprangerte. Die Anhänger einer Rückkehr der Marmorskulpturen und -fragmente insistierten auf deren Zugehörigkeit zu einem Denkmal, während die Befürworter ihres Verbleibs sie als unabhängige Kunstwerke sahen. Die Aufstellung der Skulpturen in der Duveen-Galerie, die in den 1930er-Jahren begonnen, durch den Krieg gestoppt – die Skulpturen entkamen nur knapp den Bombenangriffen – und 1962 beendet wurde, war der letzte Akt ihrer Eingliederung in den white cube, der sie endgültig vom Parthenon entfernen sollte. Die griechische Rückforderung ist von Anfang an auf die Überzeugung gegründet, dass sich eine derartige Enteignung aus einer kolonialen Situation ergab, während das British Museum meint, sie seien durch den Einfluss, den sie auf die britische und darüber hinaus europäische Kunst und Gelehrsamkeit ausgeübt haben, „naturalisiert“ geworden. Juristische und diplomatische Gefechte haben unlängst manche europäische Länder dem Rest der Welt gegenübergestellt. Die Verteidiger des nationalen archäologischen Kulturerbes Italiens oder Griechenlands haben die nordamerikanischen Museen wie etwa das Getty in Los Angeles angegriffen, weil sie ihren nationalen oder lokalen Museen illegal wichtige Stücke geraubt haben. Doch Europa erscheint eher als Täter denn als Opfer, wenn man die Rückforderungen weltweit betrachtet. Die Geltendmachung einer Universalität der großen europäischen Museen in Gestalt einer „Erklärung“, die 2002 von einer Handvoll Direktoren europäischer und nordamerikanischer Institutionen rund um das British Museum verfasst worden war, versteht sich als Antwort darauf und beruft sich auf eine höhere Legitimität. Die Idee eines „universellen“ europäischen Museums ist, so gesehen, weitaus eher eine Erfindung jüngeren Datums als ein im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts verwendeter Ausdruck. Sie schreibt sich in einen Komplex von Reflexionen ein, die sich gegen den Begriff der kulturellen Identität richten, insbesondere in den nordamerikanischen Kulturkriegen seit den 1960er-Jahren. Es geht darum, im Namen des Interesses der Präsenz ausländischer Kulturgüter 388

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in anderen Ländern, vor allem von außereuropäischen Objekten in Europa, für den Status quo der Sammlungen zu plädieren, und zwar sowohl für den Kosmopolitismus der Zivilisation als auch im Namen der künstlerischen und wissenschaftlichen Befruchtungen, die sie in ihrem Aufnahmeland ermöglicht haben. Gleichzeitig soll sich die bewusste Abwandlung des universellen Museums auf anderen Kontinenten, wie sie der Louvre Abu Dhabi ankündigt, in den Kampf gegen den Eurozentrismus einschreiben. Der Beitrag des Museums zur Herausbildung einer europäischen Identität ist hingegen sehr beschränkt geblieben. Viele diesbezügliche Initiativen sind von der Zivilgesellschaft ausgegangen, abseits von den Institutionen oder den Akteuren der politischen Konstruktion der Europäischen Union. Das ist der Fall bei den Projekten des Europamuseums in Brüssel, die mit einer Gruppe von Intellektuellen zusammenhängen, sowie bei seinen binationalen Ausstellungen Regards croisés oder bei den Ausstellungen des Europarats über internationale Stile oder Elemente einer künstlerischen Geografie.

Die Entwicklung der europäischen Museografie Die 40 000 Museen, die heute in Europa für Besucher geöffnet sind, stammen zum Großteil aus den letzten 50 Jahren, in denen neue Sammlungen zusammengestellt oder alte Sammlungen besser zur Geltung gebracht wurden. Über die intellektuelle und moralische Autorität sowie die Legitimität dieser Einrichtungen herrscht, wenn man den Umfragen Glauben schenkt, Einigkeit bei den Europäern, die Museumsbesucher sind, und bei denen – ungefähr ein Drittel der Bevölkerung –, die sie nie betreten. Heute, da neue territoriale und politische Einheiten entstehen und die Bezugnahmen auf das Kulturerbe sich globalisieren, bleiben die europäischen Museen die wichtigsten Akteure für die Bewahrung des kulturellen Erbes und der kollektiven Identität und profitieren von einer verstärkten Legitimität. Das Bild des monumentalen, von der Geschichte geerbten Museums bleibt somit ein europäisches Stereotyp, insbesondere für die Besucher aus anderen Kontinenten. Neue „nationale“ Museen zeugen sowohl davon, dass die traditionellen Themen des Staates umgeschrieben werden, wenn der Staat wiederhergestellt wird wie im wiedervereinten Deutschland, in Ungarn oder in 389

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den baltischen Ländern, als auch davon, dass neue Identitäten entstehen oder ältere neu besetzt werden wie in Schottland oder Katalonien. Sie setzen dabei die weltweit innovativsten, immersiven und spektakulären Museografien ein, aber auch traditionellere Dispositive des vergangenen Jahrhunderts. Das Haus der Geschichte in Bonn verwendet Inszenierungen, die der relativ klassischen analogen Museografie angehören, und das Deutsche Historische Museum in Berlin ist noch traditioneller in seiner Präsentation, die an die Form eines an den Wänden ausgestellten Lehrbuchs erinnern. Die Gestaltung des Hauses des Terrors in Budapest ist in mancher Hinsicht ein Meilenstein, denn es mobilisiert alle Möglichkeiten der immersiven Museografie und verwendet die in situ verbliebenen Reste der sukzessiven Repressionsorganismen, um den Besuchern im Dienst einer Instrumentalisierung einen Nachvollzug zu ermöglichen. In einem anderen Kontext ist die Eröffnung des El-BornMuseums in Barcelona ebenfalls charakteristisch für die Zurschaustellung der europäischen Vergangenheit zu nationalistischen Propagandazwecken und die Beherrschung der neuesten Medien. Das estnische Nationalmuseum in Tartu (2016), das auf einer ehemaligen sowjetischen Militärbasis erbaut wurde, liefert einen mit internationalen Preisen ausgezeichneten architektonischen Rahmen für das Gedächtnis eines Landes, das 1991 in das europäische Konzert zurückgekehrt ist, nachdem es nur von 1920 bis 1939 unabhängig war. Die Monumentalität des Museums drückt durchaus die Wichtigkeit dieses Unterfangens aus, aber die Museografie der finnougrischen Trachten gemahnt an die klassischen Volkskundemuseen. Nach dem Ende des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien gab es museologische Versöhnungsversuche, angeregt von Beispielen auf anderen Kontinenten, während das historische Nationalmuseum von Jugoslawien in Belgrad de facto zu einem Tito-Museum von „Jugostalgikern“ wurde, wenn es nicht der Ort für parteiische Manipulationen war. Der Einsatz von extremen und manchmal psychologisch schwierigen Besuchserfahrungen ist in den Museen und Gedenkstätten für Kriege und Genozide üblich geworden. Die Architektur und die Museografie der drei Museen von Daniel Libeskind, des Jüdischen Museums in Berlin (2001), des Imperial War Museum North in Manchester (2002) und des dänischen Jüdischen Museums in Kopenhagen (2003) sind diesbezüglich bezeichnend, da sie ihre Besucher oft zum Nachteil der ausgestellten Objekte in eine totale 390

DAS MUSEUM – SPIELBALL DER ERINNERUNG

Erfahrung eintauchen. In allen Varianten dieser Museen erscheint Europa als ein Kontinent des Erinnerns, durchzogen von leeren Gräbern und Kenotaphen im Dienst eines moralischen Diskurses – dank eines Mitgefühls, das unter reichlicher Zuhilfenahme von Kommunikationsmaßnahmen erzeugt wird. Europa besaß gleichsam das Monopol der Exzellenz der Sammlungen und der Museografie, hat es aber nun eingebüßt, und zwar in erster Linie auf dem Gebiet der modernen Kunst. Eine mehr oder weniger ausgewogene Zusammenarbeit zwischen den großen Kunstmuseen der westlichen Welt ist entstanden, um mittels einer Zusammenführung ihrer Bestände Wechselausstellungen zu organisieren. Vor allem die internationalen Kollaborationen innerhalb des ICOM, der Organisation für Museen der UNESCO, die 1946 zur Förderung des kulturellen Fortschritts gegründet wurde, wie auch innerhalb von thematischen oder regionalen Fachvereinen haben die europäischen Modelle mit anderen Bezugnahmen, wenn nicht gar anderen Werten vermischt und dadurch manchmal stereotype Bilder geschaffen. So hat das Museum in Ellis Island in New York ein museografisches Stereotyp für die meisten europäischen Migrationsmuseen geliefert, die in jüngerer Zeit aufgrund neuer sozialer und kultureller Prioritäten entstanden sind. Das gilt auch für die vom Museum in Washington beeinflussten Holocaust-Museen. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben die europäischen Museen nach Investitionen, die im Verhältnis zur Finanzierung der Kultur beträchtlich waren und je nach den Ländern aus unterschiedlichen, öffentlichen oder privaten Kanälen flossen, die gleiche kommerzielle, durch Reform der öffentlichen Politiken bedingte Wende erlebt wie in den meisten Ländern der Welt. Das führte manchmal zur Bestellung von Managern, um die Museen zu leiten, und prosaischer zu vielgestaltigen kommerziellen Aktivitäten auf dem Gebiet der Objekte und der Räumlichkeiten. Giles Waterfield, der Konservator der Dulwich Picture Gallery unweit von London, hat eine grausame und köstliche Satire der neuen britischen Museumskultur in der Zeit der Reformen der LabourRegierung unter Tony Blair verfasst, The Hound in the Left-Hand Corner (2002). Darin sieht man, wie das Baufieber, die Sammlergier und die Ausblendung von Wissenschaft und Ethik am Werk sind, und zwar mit der Zügelfreiheit, die man pekuniären und symbolischen Ambitionen gewährt. 391

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Ein erneuerter Einfluss Eine gewisse Originalität der europäischen Kultur hat sich im Lauf dieses Wucherns der Museen erhalten, sei es auch nur in der longue durée der Gebäude und ihren museografischen Anpassungen – wobei diejenigen von Carlo Scarpa und des Studios BBPR Mitte der 1950er-Jahre in verschiedenen italienischen Denkmälern eine lange Zeit beispielgebend waren. Reiner Tisch wurde hingegen bei Beaubourg gemacht, das in Übereinstimmung mit der Kulturpolitik, die es verkörpern sollte, den Museen in Frankreich und über die Landesgrenzen hinaus ein neues Antlitz gegeben und eine Handvoll internationaler Akteure versammelt hat. Als der britische Architekt Richard Rogers dafür 2007 mit dem Pritzker Price ausgezeichnet wurde, meinte die Jury, dieses Ereignis habe „das Museum revolutioniert, dieses Denkmal der Eliten, das zu einem populären Ort für den soziokulturellen Austausch geworden ist, der sich in das Zentrum der Stadt einschreibt“. Die Multidisziplinarität der Sammlungen und der Ausstellungen, die bereits im Moderna Museet in Stockholm getestet worden war, hat nach dem Eintreffen von Pontus Hulten dazu beigetragen und ist zur Signatur des Centre Pompidou geworden. Die jüngsten einflussreichen Museen wie das Guggenheim Bilbao oder die Tate Modern besitzen alle die gleichen, zugleich architektonischen, museografischen und soziokulturellen Merkmale. Sie wollen über branding die Werte ihrer Organisationen, die Qualität ihrer Dienstleistungen und selbst die Wahrheit ihrer Prinzipien kommunizieren. Sie nähren die im Gang befindliche Metropolisierung auf Kosten der verarmenden ländlichen Territorien. Die Lage und das Gedächtnis der europäischen Museen hängen von der urbanen Engmaschigkeit der verschiedenen Regionen und von den Zentralitätseffekten ab. Die großen Museen des Kontinents profitieren vom ständig wachsenden Zustrom des Kulturtourismus, während die anderen in unterschiedlichem Ausmaß an Desinteresse oder Besucherrückgang leiden. Dabei haben sich in den 1970er-Jahren die kulturellen Hierarchien und die mit ihnen verbundenen sozialen Distinktionen aufgelöst. André Malraux hatte als Kulturminister das Musée des Arts et Traditions populaires (Volkskundemuseum) als „Schubkarrenmuseum“ bezeichnet, in den 1990er-Jahren ist eine solche Stigmatisierung durch die europäischen Behörden undenkbar. In Frankreich wurde damals der Begriff 392

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„musées de société“ (Gesellschaftsmuseen) eingeführt, um Sammlungen zu bezeichnen, die a priori bunt zusammengewürfelt sind, aber in dem Bestreben zusammengestellt wurden, sie gesellschaftlich zu interpretieren, ist doch die Gesellschaft nach der Formulierung von Fernand Braudel „l’ensemble des ensembles“. Diese Einrichtungen entwickeln für ihre Objekte kritische Präsentationsmodi, die in enger Beziehung zur politischen Reflexion, zu den sozialen Theorien, zu den Geistes- und Sozialwissenschaften und darunter in erster Linie zur Anthropologie stehen. Zum selben Zeitpunkt hob eine damals entstandene Soziologie des Publikums hervor, dass der Besuch der europäischen Museen von den Eliten der Kultur beansprucht wird. Pierre Bourdieu zeigte dies kurz vor 1968 in einer Studie für das Kulturministerium mit dem provokanten Titel L’Amour de l’art (Die Liebe zur Kunst). Das Ökomuseum wurde 1973 von Georges Henri Rivière erdacht, dem Gründer des Musée des Arts et des Traditions populaires (Volkskundemuseum), der auch eine einflussreiche Persönlichkeit im ICOM war. Es sollte ein „Spiegel“ sein, in dem „eine Bevölkerung sich erblickt“ und den sie gleichzeitig „ihren Gästen hinhält, um von ihnen besser verstanden zu werden“. Das anfänglich rein experimentelle Modell hat zu einem neuen Typus von Museum geführt, der sich in Europa und schließlich weltweit verbreitet hat und unterschiedlich adaptiert, aber auch „verraten“ wurde. Es hat sich mit einer Tradition des Freiluftmuseums verbunden, die 1891 in Skansen unweit von Stockholm begann, und hat sich mitunter auf nostalgische Weise entfaltet wie etwa in England in Beamish seit 1970. Das Gefühl, „Lebenswelten verloren zu haben“, um hier an den Titel des erfolgreichen Buchs des britischen Historikers Peter Laslett aus dem Jahr 1965 anzuspielen, hat schließlich Sammlungen gerechtfertigt, die weit von der fortschrittlichen Gesinnung der ökomusealen Gründung entfernt sind. Da es keine europäische Politik gibt, die einen bestimmten Typus von Museografie fördern will, hat Kenneth Hudson (1916–1999), ein britischer Spezialist des industriellen Kulturerbes, 1977 den europäischen Preis für das Museum des Jahres gegründet. Dahinter steht der Wille, ein Exzellenzmodell herauszuheben, indem man sich auf geteilte Expertisen stützt. Die ausgezeichneten Museen waren didaktisch, üblicherweise bescheiden, innovativ in den eventuellen Beziehungen zu ihren Gemeinschaften und somit ganz anders als die großen staatlichen 393

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Museen. Andere Veranstaltungen sind entstanden, etwa die Tagung The Best in Heritage in Zagreb mit Unterstützung von Europa Nostra und dem ICOM. Sie sind verstreut, beziehen sich auf eine Vielfalt von Registern und Modellen und zeugen damit von der offenkundigen Schwierigkeit, den Charakter des zeitgenössischen europäischen Museums genau zu bestimmen.

Der Mythos von Alexandrien Manche Formen der museografischen Kunst ermöglichen es jedoch, da und dort die Singularität von einflussreichen Einrichtungen zu erkennen. Die Erfahrung von drei Ausstellungen mit dem Titel La Différence, die von 1995 bis 1997 von dem Musée dauphinois in Grenoble, dem ethnografischen Museum in Neuchâtel und dem Musée de la Civilisation de Québec mit identischen Vorgaben organisiert wurden, übersteigt die bloße Stilübung, um mit museografischen und ethnologischen Vorurteilen über sich und den anderen zu experimentieren. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer Signatur des Museums. Es wäre jedoch übertrieben, das europäische Museum mit diesem Ideenmuseum oder Autorenmuseum gleichzusetzen, denn viele Einrichtungen sind, wie Kenneth Hudson schrieb, „museal bemerkenswert und intellektuell schwach“. Kann eine solche Herausforderung angenommen werden? Das Programm Europeana, eine digitale Bibliothek, die 2008 gestartet wurde und fast 2000 Institutionen einbezieht, skizziert eine Version des europäischen Gedächtnisses der Museen, das an die Utopie eines Dokumentarmuseums gemahnt, die in der Zwischenkriegszeit vor allem im Umkreis des Belgiers Paul Otlet und der Entstehung der Bibliothekswissenschaft entstanden ist und heute eine eventuelle Zusammenführung von Museen, Bibliotheken und Archiven zum Ergebnis hat. Zumindest in dieser Form scheint die Inspiration des Museion von Alexandria in Europa von Neuem aktuell zu sein.

Literatur Peter ARONSSON und Gabriella ELGENIUS (Hg.), National Museums and Nation-Building in Europe, 1750–2010. Mobilization and Legitimacy, Continuity and Change, London 2014.

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Catherine BALLÉ und Dominique POULOT, Musées en Europe. Une mutation inachevée, Paris 2004. Kenneth HUDSON, Museums of Influence. Pioneers of the Last 200 Years, Cambridge 1987. Camille MAZÉ, La Fabrique de l’identité européenne. Dans les coulisses des musées de l’Europe, Paris 2014. Andrew MCCLELLAN, The Art Museum from Boullée to Bilbao, Los Angeles 2008. Matthew RAMPLEY, Thierry LENAIN und Hubert LOCHER (Hg.), Art History and Visual Studies in Europe. Transnational Discourses and National Frameworks, Leiden 2012. Bénédicte SAVOY und Felwine SARR, Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019. Daniel J. SHERMAN und Irit ROGOFF (Hg.), Museum Culture. Histories, Discourses, Spectacles, Minneapolis 1994. Alma S. WITTLIN, The Museum. Its History and its Tasks in Education, London 1949. Gwendolyn WRIGHT (Hg.), The Formation of National Collections of Art and Archaeology, Washington (D. C.) 1996.

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Das Kulturerbe, die Welt in Griffweite Das Kulturerbe in Architektur oder Natur war anfangs immer grundlegend im geografischen Raum Europas verortet. Mit dem Aufschwung des internationalen Tourismus steht es nunmehr in Konkurrenz zu anderen Orten.

1911 wurde in Rom das noch unfertige Monumento a Vittorio Emanuele II. anlässlich des 50. Jahrestages der Einigung Italiens eingeweiht.

DAS KULTURERBE, DIE WELT IN GRIFFWEITE

„Denkmäler“ und „Kulturerbe“ sind Begriffe, die manchmal verwechselt werden. Das ab den 1830er-Jahren sehr präsente Wort „Monument“ beziehungsweise „Denkmal“ weicht in den 1960er-Jahren dem des Kulturerbes. Sie stellen tatsächlich zwei Gedächtnisse dar oder, genauer gesagt, zwei unterschiedliche Arten des Erinnerns, zu denen nun eine dritte hinzutritt, die überall auf der Welt auftaucht. Es hat den Anschein, dass die Begriffe Denkmäler und Kulturerbe nicht mehr genügen, um der Gesamtheit der zeitgenössischen Gedenkproduktionen gerecht zu werden.

Die Denkmäler, ein von den Gelehrten entworfenes Gedächtnis Der Begriff Denkmal erschien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und verbreitete sich auf alle Länder Europas mit stets länderspezifischen Formen. Frankreich spielt dabei eine Sonderrolle. Die Tötung der herrschenden Dynastie machte es notwendig, die Einheit des Landes neu zu begründen. Das Gedächtnis und die Modalitäten seiner Produktion wurden während der ganzen Revolution diskutiert. Die Denkmäler wurden „historisch“, aber auch zu „Naturdenkmälern“, wie Alexander von Humboldt sie am Beginn des 19. Jahrhunderts auf Deutsch und François-René de Chateaubriand auf Französisch bezeichnete. Seither wurden sie von vielen erwähnt. Von Schriftstellern – Victor Hugo ist nicht der geringste unter ihnen –, von Malern wie John Crome, einem englischen Aquarellmaler, der als einer der Ersten eine monumental gesehene Natur abbildete. Andere behaupteten sich als Historiker, erfanden sich als Archäologen und sogar als Fotografen wie Édouard Baldus und seine anderen Kollegen auf einer heliografischen Mission, die um die 1850erJahre beauftragt wurden, die historischen Denkmäler Frankreichs zu fotografieren. Inspiriert von ihrer Liebe zu Ruinen, steht die Romantik im Mittelpunkt der Bewegung. Von dieser Sensibilität getragen, konnte Charles Nodier damals in der Mitte des zweiten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts in über 20 Bänden das Inventar der Orte erstellen, die das „malerische und romantische“ Frankreich ausmachen. Letztlich wurden diese Gebäude, die nach der Formulierung von François Guizot (1830) „die Bewunderung und den Neid des gelehrten Europas“ wecken, von allen erwähnt, gezeichnet oder gezeigt. Die Sache der Denkmäler fand schließlich an der Spitze des Staates Gehör. Louis-Philippe war von ihr überzeugt und förderte sie, indem er den Posten des 397

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Generalinspektors der historischen Denkmäler schuf. Prosper Mérimée wurde 1834 auf diesen Posten ernannt und blieb einer seiner berühmtesten Inhaber. Er reiste mit den damaligen Mitteln unermüdlich durch das ganze Land, er beschrieb, inventarisierte und klassifizierte die „monumentalen“ Gebäude. Er alarmierte die einen und die anderen und ordnete gelegentlich „Restaurierungen“ an. Frankreich war also auf diesem Gebiet eine innovative Kraft. Doch die Debatten setzten ein und die „Spezialisten“ waren geteilter Meinung: Soll man restaurieren – aber wie? – oder soll die Zeit ihre Spuren hinterlassen dürfen? Der Begriff „Denkmal“ wurde nationalisiert und überstieg damit die bloße Frage der Architektur oder der „natürlichen“ Räume. Politisch partizipierte er an der Gründung des „Bodens“ mit seinem Modell der Bewohner, den Bauernsoldaten. Verkörpert wurden sie in der Gestalt von Nicolas Chauvin, des heroischen, aber imaginären Soldaten der Grande Armée. Der Begriff war untrennbar mit der Bestätigung der europäischen Nationalstaaten verknüpft und wurde durch das französische Gesetz von Dezember 1913 zu einem juristischen Begriff. Als Prozesse des Erinnerns, als Einschreibung in die Orte einer nunmehr offiziell gewordenen und gelegentlich selektiven Geschichte können die Denkmäler also als ein Gedächtnis definiert werden, das von den Diskursen einer gelehrten nationalen Elite produziert wurde.

Das Kulturerbe, ein von den anderen bestimmtes Gedächtnis Die 1960er-Jahre führten ein neues Gedenkregime ein, insbesondere in der Dynamik des „Weltkulturerbes“. Und die Umwandlung ist keine bloß lexikalische. Die sich mehr und mehr verstärkende Verschmelzung des „Kulturellen“ mit dem „Natürlichen“ stellt einen ersten Unterschied dar. Sie geht mit einer Änderung des Maßstabs einher, nämlich in diesem Fall mit der „Internationalisierung“ der Gedächtnisse, die keineswegs von selbst erfolgt ist. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die keine alten Gebäude besitzen, aber reich an grandiosen Landschaften sind, spielten dabei in einer ersten Phase eine ausschlaggebende Rolle, denn die symbolische Macht der Vergangenheit ist ihnen keineswegs entgangen. Erklärt sich das eine aus dem anderen? Vermutlich, weil die europäischen Länder erkannten, dass sie im Begriff standen, auf diesem Gebiet ihren Einfluss zu verlieren, zögerten sie ein wenig, die Konvention von 1972 zu unterzeichnen, 398

DAS KULTURERBE, DIE WELT IN GRIFFWEITE

die den Begriff des „Weltkulturerbes“ einführte. Sie taten es schließlich und eröffneten sich dadurch den reichhaltigen Weg der Einschreibung ihrer „Denkmäler“. Sie schlossen sich der Konvention an, gaben aber dennoch nicht die Idee auf, ihre Singularitäten zu produzieren. Zur Unter­ stützung der Bemühungen um die kontinentale Konstruktion wurde der Begriff Kulturerbe in seinem europäischen Maßstab abgewandelt: Die europäische Denkmalschutz-Charta wurde 1975 verkündet. Diese Abwandlung des Maßstabs des Begriffs kennzeichnet seine Flexibilität. Die Verantwortlichen der UNESCO waren sich dessen bewusst, dass ein zu architektonischer Ansatz einen Teil der Gesellschaften ausschließt, deren Bauten weniger „dauerhaft“ als im Abendland sind, und das Weltkulturerbe kein solches sein könnte, und nahmen eine anthropologische Wende vor. Die 1994 für rechtsgültig erklärte „globale Strategie“ ermöglichte andere Einschreibungen und insbesondere die eines immateriellen Kulturerbes, vom argentinischen Tango bis hin zur chinesischen Akupunktur und zu anderem. In der Bewegung wechselten die Bewertungskriterien. 2002 gab das Komitee des Weltkulturerbes die Unterscheidung zwischen natürlich und kulturell zugunsten von zehn Kriterien auf, die weitgehend auf den Begriffen „Authentizität“ und „Integrität“ beruhen und für die Gesamtheit der Stätten gelten. Der Begriff Kulturerbe ist jedoch über die Schwankungen hinweg ein politischer Begriff. Die Einschätzungen der Gelehrten haben darin weiterhin ihren Platz, doch das „Authentizitätsregime“, wie die Formulierung von Lucie Morisset lautet, oder, genauer gesagt, das der Authentifizierung wird durch Wahl vergeben, und zwar unabhängig vom Maßstab der Legitimität, vom Lokalen zum Weltweiten. So kann man das Kulturerbe als ein Gedächtnis bezeichnen, das von den anderen bestimmt wurde. Die Touristen spielen durch ihre Präsenz an den Orten eine wichtige Rolle. Die Liste der Länder mit den meisten Stätten deckt sich tatsächlich weitgehend mit derjenigen der Länder mit großem Touristenandrang. Das gilt beispielsweise für Spanien, Italien und Frankreich und zeigt damit, dass der Tourismus tatsächlich deckungsgleich ist mit dem Kulturerbe.

Weltgedächtnisse jenseits von Denkmal und Kulturerbe Eine der Besonderheiten der zeitgenössischen Situation liegt darin, dass Gedenkstätten auftauchen, die weder Denkmäler noch Kulturerbe sind. 399

OLIVIER LAZZAROTTI

Das gilt für Val d’Europe, den Teil einer neuen Stadt im Osten von Paris (Marne-la-Vallée), das in den 1990er-Jahren in einem architektonischen Stil erbaut wurde, der sich an das Paris des haussmannschen 19. Jahrhunderts anlehnt. Das Viertel South Bank in London, das restaurierte ältere Gebäude und neue Gebäude in alten Stilrichtungen integriert, folgt einer ähnlichen Logik – eine Logik, die man auch anderswo antrifft: in Quebec entlang der Rue Champlain, in Schanghai im Viertel Xintiandi. Und alle diese Orte, die so tief in ihrem lokalen Kontext verankert zu sein scheinen, weisen dennoch dieselben strukturellen Merkmale auf. Es sind die eines Alltagsgedächtnisses: Mit den Shikumen von Schanghai oder den Hutong von Peking – den traditionellen Häusern – werden architektonische Elemente des gängigen Lebens ihrer Bewohner in den Vordergrund gerückt. In diesem Fall nichts „Außergewöhnliches“, nichts „Authentisches“, nichts „Unversehrtes“, um die üblichen Charakteristiken des Weltkulturerbes zu nennen. In South Bank stehen die Epochen einander gegenüber. Sie verschränken sich genau so sehr wie in einem der ursprünglichen Modelle, nämlich in Portmeirion. An diesem Ort in Wales verband Sir Bertram Clough Williams-Ellis ab den 1920er-Jahren nachgebaute Elemente der italienischen Renaissance mit verlagerten Teilen Englands des 19. Jahrhunderts und umgab das Ganze mit einem tropischen Garten. Das zweite Merkmal liegt in der Bedeutung der Geschäfte. Die Logik der Rentabilität ist der wichtigste Antrieb dieser Unternehmungen. Die Läden florieren dort. Ihre Ausrichtung ist oft die des Handwerks, selbst wenn ihre Waren weitgehend aus einer industriellen und standardisierten Fabrikation stammen. Die Kunden, lokale Bewohner oder Touristen vom anderen Ende der Welt, spazieren darin umher und teilen ein Getränk oder eine Mahlzeit in einem der zahlreichen Restaurants. Das ist nicht alles. Diese Gedenkviertel mit ihrem hohen symbolischen Wert sind das sichtbare Antlitz, manchmal bis zur Grenze der Bürgschaft, von oft noch umfangreicheren Immobilienprojekten. In Wirklichkeit geht es darum, das Image eines ganzen städtischen Raums zu fördern und dadurch auch den Wert der dort gebauten Güter. Solche Orte sind somit eines der Labore eines zeitgenössischen Urbanismus. Beim Val d’Europe beruht er auf den Prinzipien des New Urbanism. Er macht aus der urbanen „Stimmung“ einen Grundton für den Bau der Städte. In dieser Perspektive deckt sich dann das Gedenk400

DAS KULTURERBE, DIE WELT IN GRIFFWEITE

vokabular, die Erinnerung an „die gute alte Zeit“, mit dem allgemeineren Vokabular des kulturellen Urbanismus. Dieses neue, von den finanziellen und ökonomischen Dynamiken getragene Gedenkregime vermischt eng das Lokale und das Globale. Das ist einer der Gründe, aus denen man von „Weltgedächtnissen“ sprechen kann. Dieses Regime vermischt ebenfalls die Epochen, und zwar ohne jede Berücksichtigung der linearen, von der ersten industriellen Revolution erzwungenen Logiken: Die Unterscheidung zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft wird den Temporalitäten dieser Orte nicht mehr gerecht. Auf diese Weise entsteht eine „globale Gegenwart“, gleichsam eine Gegenwart, die selbst alle Epochen enthält, die ein zeitlicher Aspekt der zeitgenössischen Globalisierung wäre. Epochen entstehen, indem sie die Gedächtnisse der vorangegangenen Epochen auftrennen, ohne sie übrigens vollständig zu zerstören. Die Vergangenheit neu zu definieren, ihre Maßstäbe, ihre Modi der Temporalisierung und ihre Inhalte neu zusammenzusetzen, all das sind lauter Modi der Aktualisierung der Gesellschaften. Der Übergang zu den Gesellschaften mit mobilen Bewohnern ist kennzeichnend für die zeitgenössische Welt und für ihre neue geografische, originelle und einmalige Dimension. Dieser Übergang stellt die Gesamtheit der Beziehungen zu den Räumen, zu den Zeiten und zu den anderen infrage. Und deshalb sind in Europa wie überall auf der Welt die Weltgedächtnisse nicht nur die Erscheinungen einer neuen Tendenz. Sie sind auch das, was auf dem Spiel steht.

Literatur François GUIZOT, Rapport présenté au Roi […], pour faire instituer un inspecteur général des monuments historiques, in: Le Moniteur vom 18.10.1830. Olivier LAZZAROTTI, Des lieux pour mémoires, Paris 2012. Michel LUSSAULT, L’Avènement du Monde. Essai sur l’habitation humaine de la Terre, Paris 2013. Lucie K. MORISSET, Des régimes d’authenticité. Essai sur la mémoire patrimoniale, Rennes 2009.

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PIERRE-OLIVIER FRANÇOIS

Drei Mythen, die für Amerika stehen Die Jeans, die Cola und die Pizza sind Wahrzeichen der amerikanischen Kultur. Sie sind auf der ganzen Welt verbreitet und verkörpern eine standardisierte Globalisierung. Doch die Amerikaner haben vergessen, dass sie in Europa geboren wurden und das Merkmal der Kultur des alten Kontinents tragen.

Die Freiheitsstatue mit einer Levi’s-Jeans auf einer Plakatwerbung des Jeansherstellers um das Jahr 1980.

DREI MYTHEN, DIE FÜR AMERIKA STEHEN

Die im 17. Jahrhundert in Neapel entstandene Pizza ist eine Armenmahlzeit – die Reste des Vortags auf einer dünnen Schicht Teig und Tomatensauce. Bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts bleib sie ein rein lokales Gericht, das auf römischen oder venezianischen Tellern undenkbar war. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatten jedoch italienische Migranten dieses zentrale Element ihres Familiengedächtnisses an die Ostküste der Vereinigten Staaten mitgenommen. Ihre Verbreitung folgte dann getreu der Geografie der italienischen Einwanderung. Mit der gelungenen Integration der Italoamerikaner wurde sie schließlich zu einem der Arche­ typen der amerikanischen Popkultur – und begann dadurch ihren Sieges­ zug um die Welt. Die Besitzer von Lombardi’s, der allerersten italienischen Pizzeria in Little Italy, erwähnen noch die Pizzaverkäufe vor den katholischen Schulen an den Freitagen, den Fasttagen. Doch das Lombardi’s ist heute eher ein Wallfahrtsort denn ein Restaurant. Ab den 1970er-Jahren transformierten die Industriegiganten Pizza Hut und Domino’s die handwerkliche Tradition della mama oder della nonna in eine Nahrungsmittelkriegsmaschine made in USA. Diese von dieser Aura umgebene und oft tiefgekühlte new pizza überschwemmte die Alte Welt und prägte nun ebenfalls die Gedächtnisse der europäischen Bevölkerungen, die sich kulinarisch äußerst aufgeschlossen zeigten. Norwegen ist heute der größte Pizzakonsument pro Einwohner der Welt. Das außerordentliche Verfahren der Standardisierung, Industrialisierung und Exportierung, das die Stärke des amerikanischen Modells ausmacht, hat (beinahe) ausgereicht, die europäischen Ursprünge dieses Vorzeigeprodukts zu löschen.

Die Jeans aus Genua oder Denim Die Jeans reicht angeblich bis ins 17. Jahrhundert zurück. Sie war anfänglich entweder ein Stoff aus Genua (das Wort Jeans verweist auf die französische Schreibung Gênes) oder ein Stoff aus der Region um Nîmes (daher das Denim-Blau), aber wer erinnert sich noch daran? Und wer weiß noch – mit Ausnahme eines kleinen Museums zu ihren Ehren in Buttenheim –, dass die Familie Strauss bis zum Aufbruch von Levi Strauss in die Vereinigten Staaten im Jahr 1853 eine ehrenwerte jüdische Familie in Franken waren? Noch ein Beispiel: Der korsische Apotheker Angelo Mariani, der 1863 das universelle Sodawasser erfand und dann 403

PIERRE-OLIVIER FRANÇOIS

in die Vereinigten Staaten aufbrach, um dort reich zu werden, ist sogar auf seiner Heimatinsel in Vergessenheit geraten. Dabei war er zu Lebzeiten einer der Pioniere des Marketings, der Jules Verne, Sarah Bernhardt und sogar Papst Pius IX. eingeladen hatte, seine French Wine Coca, eine Mischung aus Alkohol und Kokainextrakten, zu loben. Diese Amerikanisierung europäischer Produkte erzeugte dann im Gegenzug neue Gedächtnisse. Nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg ließ die Firma Coca-Cola 64 Abfüllbetriebe entlang des Vormarsches der US-Army in Nordafrika und dann in Europa bauen. Die Coca-Cola war ab 1943 ein strategisches Produkt, ein integrierender Bestandteil des Gepäcks jedes GIs, und schmeckte somit bei seiner Landung nach Sieg, Freiheit und Neuer Welt. Doch in den 1950er-Jahren begehrte die französische Kommunistische Partei gegen das amerikanische Sodawasser auf und vertrieb kleine Propagandafilme, in denen ehrliche Bistrobesitzer einen Coca-Cola-Vertreter hinauswerfen, um den billigen nationalen Rotwein zu verteidigen. Der Film Eins, Zwei, Drei von Billy Wilder baut vollständig auf diesem Kalten Krieg der Brausegetränke auf, zumal in Moskau der Westen den Geschmack von Pepsi hatte. Nikita Chruschtschow trank sein erstes Brausegetränk 1959, ein Geschenk von Vizepräsident Richard Nixon anlässlich der allerersten amerikanischen Ausstellung in Moskau. Nixon, übrigens der Rechtsanwalt von Pepsi, ermöglichte so dieser Firma, den Markt in Osteuropa zu erobern. Wie auch die Jeans verkörperte Pepsi auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs die imperialistische soft power. Das Brausegetränk und die Jeans wurden zu unverzichtbaren identitären Elementen für den Rebellen, der gegen das System protestierte. Cola oder Jeans zu erhalten, war ein Abenteuer an sich und, damit zu handeln, eine Angelegenheit des Staates. Heute sind die Jeans zur Uniform eines großen Teils der Welt geworden und die Pizza hat selbst China erobert. Doch in Neapel verteidigt der Verein Vera pizza napoletana das ursprüngliche Rezept des Familiengerichts gegen die Häresien vom Typ „Pizza Hawaii“. Die Pizzeria Brandi stellt stolz eine Tafel zur Schau, die daran erinnert, dass die Pizza Margherita im Jahr 1889 hier das Licht der Welt erblickt haben soll. Die rote Tomate, der weiße Mozzarella, das grüne Basilikum – der damalige pizzaïolo hat sie angeblich als eine Hommage an die Königin Italiens, Margarete von Savoyen, erfunden. Der derzeitige Restaurantbesitzer zweifelt selbst an dieser Legende. Doch wie die Italiener so schön sagen: Se non è vero, è ben trovato. 404

DREI MYTHEN, DIE FÜR AMERIKA STEHEN

Literatur Sylvie SANCHEZ, Pizza Connection, une séduction transculturelle, Paris 2007. James SULLIVAN, Jeans – A Cultural History of an American Icon, New York 2007. Angelo MARIANI, Blog über den korsischen Erfinder: https://angelomariani.wordpress. com (Aufruf: 18.8.2019).

Film Pierre-Olivier FRANÇOIS, Pizza Nostra, Dokumentarfilm, France 5, Artline Films, Stefilm & YLE, 2003. Pierre-Olivier FRANÇOIS, Pschiiiittt! la pétillante histoire des sodas, Dokumentarfilm, France 5, Artline Films, Planète, RTBF, YLE, Stefilm, 2010.

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Swinging London Als Gegenentwurf zu Hollywood wurde London ab den 1960er-Jahren zum mythischen Ort der europäischen Popkultur – ein Mythos, der allerdings sowohl vom Punk wie auch von antirassistischen Bewegungen infrage gestellt wurde. Tony Blairs „New Labour“ war bestrebt, diese Begeisterung wiederzubeleben und aus ihr eine nationale Marke zu kreieren.

Jimi Hendrix flaniert 1967 durch die Carnaby Street im Herzen Swinging Londons.

SWINGING LONDON

Das Votum für den Brexit im Sommer 2016 spaltete Europa. Auf dem Gebiet des Pop hingegen führte es zu einer ungewöhnlichen Einigung. Kaum war der Sieg der EU-Austrittsbefürworter am Abend des 23. Juni verkündet worden, da meldeten sich die Frontmänner zweier Jahrzehnte verfeindeter Britpopbands in seltener Übereinstimmung zu Wort. Von einem „black day“ für Großbritannien sprach Noel Gallagher von Oasis; Daman Albarn von der Band Blur bekannte sich im Angesicht des EUAusstiegs zu einem „heavy heart“.1 Nicht nur in Großbritannien, auch auf dem Kontinent wurde in den Tagen nach dem Votum mit Besorgnis über dessen Folgen für die europäische Popkultur diskutiert. Der britische Einfluss auf die globalisierte Musik-, Film- und Entertainmentindustrie ist immens, der Anteil an EUSubventionen und Kooperationsprojekten ebenfalls. Ein Branchenmagazin befürchtete deshalb einschneidende Folgen für die internationalen Tourneen britischer Musiker.2 Die „chauvinistische Kleingeistigkeit des Brexit-Votums“ habe „den Pop-Appeal des Union-Jack“ stark beschädigt, stimmte eine deutsche Zeitung zu.3 Und das italienische T-Mag sah gar das Ende von „Swinging London“ gekommen.4 Mit diesem Terminus war ein Topos aufgerufen, der aus einem längeren Gedächtnis schöpft und weit zurück ins 20. Jahrhundert reicht. Swinging London war die Chiffre für eine durch Popkultur bewegte, im Wortsinn: vibrierende Stadt. In einem international verflochtenen Diskurs avancierte der Begriff der Swinging City nach 1966 zum Idealtypus einer neuen Urbanität. Pop avancierte darin zu einem zentralen Feld, auf dem über die Europäisierung und Globalisierung, aber auch über die Renationalisierung und Musealisierung urbaner Kultur gestritten wurde.

1 Glastonbury Festival, 2016, What bands are saying about Brexit, in: The Independent, 25. Juni 2016. 2 Vgl. „5 ways Brexit will change british pop culture forever“, in: DigitalSpy vom 24. Juni 2016, www.digitalspy.com. 3 Robert Rotifer, Was bedeutet der Brexit für die Zukunft der britischen Popmusik?, in: Berliner Zeitung vom 29. Juni 2016. 4 Umberto Schiavella, Brexit: La fine della Swinging London?, in: T-Mag. Il magazine di tecné, www.t-mag.it (undatiert).

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Ein neuer Schwung Seine Ursprünge hat der Ausdruck Swinging London im Jahr 1966. Im April erschien das amerikanische Nachrichtenmagazin Time in ungewöhnlicher Aufmachung.5 Auf dem Cover, wo sonst die Konterfeis von Politikern in körnigem Schwarz-Weiß ernst und entschlossen dreinblickten oder Krisenschauplätze aus aller Welt dramatisch inszeniert wurden, herrschte ein fröhlicher Eklektizismus. Eine Collage des Künstlers Geoffrey Dickinson montierte in naivem Pop-Art-Stil allerlei bunte Objekte zusammen: Doppeldeckerbus und Diskothek, Smoking und Schlaghosen, Big Ben und Bingo, Union Jack und Paisley-Stoff, Mini Cooper und Minirock. In der Titelstory erklärte die Journalistin Piri Halasz unter dem Schlagwort Swinging London diese Gegensatzpaare zu Symptomen eines kulturellen Wandels. Zwei grundlegende Veränderungen machte sie aus: einerseits eine Verjüngung der Gesellschaft und andererseits eine neue Durchlässigkeit der einst so starren Klassengegensätze. Beide Entwicklungen hätten sich in der Londoner Topografie niedergeschlagen. Neben traditionelle Landmarken des alten Empire seien nun gleichrangig Galerien und Diskotheken, Friseursalons und Modeboutiquen getreten. Die Protagonisten dieser Szene entstammten nicht mehr der alten upper class, sondern den „Reihen der britischen Unter- und Arbeiterklasse“. Die meisten von ihnen waren jünger als 35 und spiegelten damit die demografische Entwicklung der Stadt wider, deren Bevölkerung Mitte der 1960er-Jahre zu 30 Prozent zwischen 15 und 34 Jahre alt war. Als Kronzeugen dieser Entwicklung rief Halasz in ihrem Artikel den Literaturwissenschaftler Richard Hoggart auf. „Eine neue Gruppe von Menschen taucht in die Gesellschaft ein und schafft eine Art Klassenlosigkeit und eine Begeisterung, die es bisher noch nicht gegeben hat“, diktierte der spätere Begründer der cultural studies Birminghamer Prägung der Magazinjournalistin in den Notizblock.

5 Piri Halasz, Great Britain. You Can Walk Across It On The Grass, in: Time vom 15. April 1966, S. 32–42.

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Swinging Europe? Die Ausweitung der Popzone Dieser Wandel war keineswegs auf Großbritannien beschränkt. In den USA hatte der Journalist Tom Wolfe in seinen Reportagen über neue Tänze und Moden bereits den Begriff pop society geprägt – von einer „bunten und lebensfrohen Popkultur“ sprach nun auch Halasz. Dasselbe Schlagwort hatte es wenige Monate vor dem Time-Magazin bereits auf das Cover des amerikanischen Konkurrenzmediums Newsweek gebracht. „Pop – es ist das, was in den Bereichen Kunst, Mode, Unterhaltung, Business und Unterhaltung passiert“, lautete dort die Headline auf der Zeichnung einer Explosion im Comicstil des Künstlers Roy Lichtenstein. Halasz‘ berühmt gewordener Artikel wenige Wochen später reagierte auf diese Ausgabe von Newsweek. Die von ihr vorgeschlagene Lokalisierung dieser Veränderungen in der britischen Hauptstadt erregte denn auch international einigen Widerspruch. So monierte die französische Illustrierte Paris Match säuerlich, das laut Halasz modisch überholte Paris sei ein ebenbürtiger Ort der Popkultur.6 Das französische Nachrichtenmagazin L’Express hatte schon im Februar 1966 ein „l’Europe des stars“ entstehen sehen: „Dieses Europa der Jugend und Schönheit wird von der Achse Rom–Paris–London regiert“, wurde dort klargestellt.7 Das bundesdeutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel verwendete im April 1966 erstmals den Begriff Popkultur – begrenzte ihn aber keineswegs auf London.8 In diesen journalistischen Trenddiagnosen wurde um den topografischen Ort eines Kulturbruchs gestritten, in dem eine bemerkenswerte Verschiebung zum Ausdruck kam. Noch in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren galten Großstädte als kriminogene Zentren eines kulturellen Verfalls, der in der Anonymität und den Zerstreuungen urbanen Lebens wurzele. In der Konstruktion der Swinging City lebte die Erinnerung an diese Debatten fort, nun allerdings ins Positive gewendet. Swinging City war in diesem Diskurs die Chiffre für eine neue Kreativindustrie, die auch frühere „Problemviertel“ wie Soho zu Zonen 6 „La jeunesse anglaise ne s’intéresse plus au passé. Elle voit plus que l’avenir“; „Un revenant a Londres: Peter Townsend“, in: Paris Match Nr. 891 vom 7. Mai 1966, S. 62–67. 7 Patrick Theyen, L’Europe des stars, in: L’Express Nr. 765 (14.–20. Februar 1966), S. 48–53. 8 Richard R. Lingeman, Mit Euch Tigern möchte ich ein Wörtchen reden. Sex-Symbole der Sechziger Jahre, in: Der Spiegel 18 (25. April 1966), S. 156–157.

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eines forcierten Konsums aufwertete – ein Prozess, der später als gentrification kritisiert wurde. Dieser Diskurs strahlte nicht nur auf Europa aus, sondern auch weit über die Grenzen des British Empire hinaus. Tausende Songs beschworen London als Sehnsuchtsort, darunter Stücke des jamaikanischen Dubpioniers Lee „Scratch“ Perry oder des brasilianischen Songwriters Caetano Veloso. Plattencover in Pakistan, Indien und der Türkei zitierten auch in den 1970er-Jahren Londoner Motive, die sich aufgrund ihrer Ikonografie als Projektionsflächen einer „westlichen Stadt“ lesen ließen. Popkulturelle London-Bilder entstanden aber nicht nur in der Musik. Die Modemesse des afroamerikanischen Magazins Ebony stand mit englischen Stoffen und Miniröcken schon 1965 ganz im Zeichen der Londoner Mode und die Zeitschrift Design formulierte ein Jahr später, selbst die Produktgestaltung von Tafelbesteck würde bereits „swingen“ wie die Supremes. Bollywoodfilme wie Gumnaam mischten beatleseske Einflüsse mit traditionell indischen Motiven.

Beschlagnahmte Aufnahmen Allerdings ließ sich das Image einer weltlichen Metropole nicht grenzenlos globalisieren, zumal kurze Röcke und lange Männerhaare als Zeichen einer Angleichung der Geschlechterrollen sowie einer zunehmenden sexuellen Freizügigkeit galten. Autoritative und staatsreligiöse Staaten reagierten auf diese Entwicklungen mit scharfen Restriktionen. Osteuropäische Regierungen gingen dabei unterschiedlich rigide mit der Musik der Swinging Sixties um: Während etwa Beatles-Aufnahmen schon in den 1960er-Jahren in der Tschechoslowakei erscheinen durften und in Ungarn gar ein Beat-Movie staatlich gefördert wurde, wurden in der DDR und der Sowjetunion Schallplatten konfisziert und Bands mit Auftrittsverboten kriminalisiert. Die DDR-Propaganda bekämpfte auch allzu positive London-Bilder. Amateurbands mit englischen Namen wurden zwangsweise eingedeutscht, die Leipziger Band The Butlers aufgelöst und die englische Sprache im Jugendradio lächerlich gemacht. Auch im globalen Süden durften längst nicht alle Städte „swingen“, wie Nachrichten aus stärker religiös orientierten Staaten immer wieder belegten: In Bangkok wurden Rock ’n’ Roll und Twist verboten, in Taiwan und Indonesien unterlag „westliche“ Popmusik der Rundfunkzensur und in 410

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Kambodscha zerschlugen die Roten Khmer die auch dort nach britischem Vorbild entstandene Beatszene mit brutalem Terror. Swinging London hatte sich unterdessen längst zu einem globalen Image internationalisiert, in dem auch afrokaribische Migranten eine wesentliche Rolle spielten. Der Schriftsteller Colin McInnes hatte Ende der 1950er-Jahre in seiner London-Trilogie die Calypsoszene der jamaikanischen Migration beschrieben, wo der in Trinidad geborene Musiker Lord Kitchener noch mit Inbrunst „London is the place for me“ gesungen hatte. Diese frühe Euphorie hatte in den pogromartigen rassistischen Notting Hill Riots gegen afrokaribische Migranten 1958 einen empfindlichen Dämpfer erhalten, der auch in der afrikanischen Welt ein politisches Nachbeben auslöste. Der Notting Hill Carnival, dessen Gründung indirekt auf diese Erschütterung reagierte, galt seit den 1970er-Jahren als Vorbild einer multikulturellen Demonstration auch für andere Städte.

„London calling again“: vom Punk bis zum Britpop Seinem lebensfrohen, multikulturellen Image zum Trotz war der Carnival immer wieder Schauplatz von internen Konflikten und Spannungen mit der London Metropolitan Police – während der Stadtteil selbst rasant gentrifiziert wurde und kaum mehr Raum für jene Migranten bot, die ihm sein multikulturelles Image erst verschafft hatten. Auch in Brixton brachen nach Polizeischüssen auf junge Schwarze 1981 und 1985 Riots aus – kurz nachdem die Punkband The Clash den Südlondoner Stadtteil als Ort der Repression thematisiert hatte. Dieser Imagewandel Londons zum brutalisierten Moloch mit rassistischen Konflikten hallte noch in Songs wie dem weltweit erfolgreichen Electric Avenue (1982) des aus Guyana stammenden Musikers Eddy Grant nach. Schon die Punkszene, deren Schockwellen bis Japan spürbar waren, hatte seit 1977 etwa in den Boutiquen von Malcolm McLaren auf der King’s Road sowie in etlichen emblematischen Songs London neben New York als eines ihrer Zentren etabliert. In den Subkulturen der 1980erJahre galt London deshalb abermals als Sehnsuchtsort. In den osteuropäischen Umbrüchen um 1989 diente London als Prototyp einer westlichen Metropole: etwa 1989 in dem gleichnamigen Song der Warschauer Rockband Kult. Auch die israelische Sängerin Hava Alberstein widmete im selben Jahr der britischen Hauptstadt eine illusionslose Hommage, 411

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die dennoch die Londoner Poplandschaft als einen Ort größerer kultureller Freiheit pries. In den 1990er-Jahren wurde vor allem in der Britpopwelle der alte Topos aus den Sixties wiederbelebt, was zeitweise Züge einer erinnerungspolitischen Imagekampagne annahm. Die inszenierte Konkurrenz zwischen den Bands Oasis und Blur war ein Zitat der historischen Rivalität zwischen den Beatles und den Stones und in Songs wie Bar Italia besang die Band Pulp einen emblematischen Szenetreff des Soho der 60er-Jahre. Der Begriff Cool Britannia, ursprünglich für ein Speiseeis kreiert, politisierte in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre das Remake unter einem übergreifenden Label: „London Swings Again“ titelte die Vanity Fair 1997. Premierminister Tony Blair suchte im Schulterschluss mit Britpopmusikern und „jungen britischen Künstlern“ das Image von „New Labour“ zu verjüngen. Die kurze Allianz zwischen Pop und Politik bröckelte schon ein Jahr später, als der Sänger der Punkband Chumbawamba Blairs Stellvertreter aus Protest gegen die neoliberalen Reformen mit einem Kübel Wasser überschüttete.

Renationalisierung und Musealisierung: Swinging Olympia Ein erneutes Revival des Topos Swinging London brachten die Olympischen Sommerspiele, die 2012 in London eröffnet wurden. Das Premierenspektakel entfaltete vor der globalen Fernsehöffentlichkeit einen Reigen, der die Ur- und Frühgeschichte britischer Popmusik als bunte Tanzrevue in Szene setzte. Neben James Bond und Mr. Bean gesellten sich David Bowie und Harry Potter, für die 90er-Jahre standen Trip Hop und Trainspotting. Mit Popsplittern des jamaikanischen Kinderstars Millie Small (My Boy Lollipop) und dem Ska der Eighties-Band Madness harmonisierte sie die (post)koloniale Migration zu einer fröhlichen Integrationsgeschichte mit Mut zur Lücke: die Riots von Notting Hill und die Guns of Brixton wurden darin ebenso ausgelassen wie die Verdrängung jugendlicher und migrantischer Szenen aus ihren angestammten Vierteln. Die Show verschmolz stattdessen höchst heterogene Elemente zu einer nationalen Leistungsschau, deren einziges Aufnahmekriterium die Britishness der präsentierten Popprodukte war. Gleichwohl strahlten solche global rezipierten integrativen Geschichtskonzepte auch auf das kulturelle Gedächtnis aus, in denen das Swingen 412

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zum wesentlichen Bestandteil der Stadtgeschichte normalisiert wurde. In Liverpool (und zeitweise auch in Hamburg) eröffneten Beatles-Museen und auch die offiziellen Institutionen zogen nach. Die französische Yéyé-Szene ist Bestandteil der Ausstellung im militärgeschichtlichen Pariser Hôtel des Invalides; das Londoner Victoria & Albert Museum stellt die zerrissenen Jeans der Punkbewegung gleichberechtigt neben viktorianischen Kostümen aus und die Stasi-Gedenkstätte in Berlin thematisiert die Verfolgung jugendlicher Subkulturen in der nur im Verborgenen swingenden Hauptstadt der DDR.

Swinging Berlin Auch in der institutionalisierten Erinnerung behauptet sich die Pop­ geschichte damit zunehmend gleichberechtigt neben traditionellen Landmarken. Den Wohnort von Bob Marley an den Londoner Ridgmount Gardens markiert eine bürgermeisterliche Plakette („Singer, Lyricist and Rastafarian Icon“), während sein ehemaliges Wohnhaus in Kingston, Jamaika, umgekehrt an Marleys Londoner Jahre erinnert. Die Stadt Berlin ließ im Sommer 2016 eine von der Königlich Preußischen Porzellanmanufaktur gefertigte Gedenktafel an dem Schöneberger Mietshaus anbringen, in dem der drogensüchtige Sänger David Bowie Ende der 70er-Jahre knappe zwei Jahre verbracht hatte. Eine schier ausufernde Publizistik zu dieser Episode lässt auch das eingemauerte Westberlin am Mythos einer internationalisierten Swinging City teilhaben, während das gegenwärtige Berlin als Ziel eines Easyjetset genannten Billigtourismus zu einem internationalen Vergnügungsort für Clubber mutiert – mit ähnlichen Teuerungseffekten wie einstmals für Swinging London. Um den Erinnerungsort der Swinging City verdichteten sich insofern Diskurse nicht nur über Kulturindustrialisierung und Szenebildung, sondern auch über die Internationalisierung der Popbewegung. Sie waren dabei stets auch politisch-moralische Wertedebatten. Ende des 20. Jahrhunderts kam es vor allem in Großbritannien immer wieder zu Versuchen einer Renationalisierung des Pop und seiner Erinnerung, besonders unter dem politischen Slogan Cool Britannia in den 90er-Jahren. Swinging London wurde dabei als nostalgische Erinnerung an eine „bunte“ Stadt romantisiert, die kulturindustrielle Exportschlager auf dem Weltmarkt als Beleg für die wirtschaftliche Überlegenheit Großbritanniens in 413

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Szene setzte. Gleichzeitig kristallisierte sich um den Topos London seit den 1980er-Jahren auch zunehmend die Kritik an Rassismus, Ghettobildung, sozialer Ausgrenzung und unsozialer Wohnungsmarktpolitik. Einst gefeierte Stadtviertel der Pop- und Subkultur „swingen“ infolge einer radikalen Neoliberalisierung der Stadt- und Wohnraumpolitik mittlerweile nur noch auf dem Immobilienmarkt. Auch dafür dient London im 21. Jahrhundert anderen Städten weltweit als Vorbild.

Literatur John Clement BALL, Imagining London. Postcolonial Fiction and the Transnational Metropolis, Toronto 2004. Anna BRAUN, Where was Pop? Die Robert Fraser Gallery zwischen Popmusik und bildender Kunst in „Swinging London“, in: Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel und Jürgen Danyel (Hg.), Popgeschichte, Bd. 2: Zeithistorische Fallstudien, 1958–1988, Bielefeld 2014, S. 65–88. John DAVIS, „Die Briten kommen!“ British Beat and the Conquest of Europe in the 1960s, in: Ulrike von Hirschhausen und Kiran Klaus Patel (Hg.), Europeanization in the Twentieth Century. Historical Approaches, New York 2010. Dave LAING, London, in: David Horn, Dave Laing und John Sheperd (Hg.), Bloomsbury Encyclopedia of Popular Music of the World (EPMOW), Bd. 7: Locations – Europe, New York 2016. Mark MATERA, Black London. The Imperial Metropolis and Decolonization in the Twentieth Century, Berkeley 2015.

Musik Verschiedene Interpreten, London Is The Place For Me, Vol. 1–6, Honest Jons (Indigo), 2013 [Vinyl]. Verschiedene Interpreten, England’s Dreaming, zusammengestellt von Jon Savage, Trikont, 2004 [CD]. Verschiedene Interpreten, Common People. Brit-Pop. The Story, Universal Music, 2009 [CD-Boxset].

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Ein toller Käfer Der Käfer, ein Produkt des „Dritten Reichs“, hat in Europa wie auf der ganzen Welt ein unerwartetes Schicksal erlebt und sowohl die Entfaltung der Konsumgesellschaft wie die Gegenkultur genährt. Er ist zum Gegenstand aller Nostalgien geworden.

August 1955: Feierstunde im Volkswagenwerk Wolfsburg anlässlich der Fertigstellung des millionsten Käfers.

BERNHARD RIEGER

Der von Adolf Hitler angeordnete und von Ferdinand Porsche entworfene KdF-Wagen („Kraft durch Freude“) wurde von den Nationalsozialisten mit großem Pomp auf der Internationalen Automobilausstellung in Berlin 1938 vorgestellt. Das rundförmige Fahrzeug mit Heckantrieb, einem luftgekühlten Heckmotor und Torsionsstabfederung war tatsächlich dazu bestimmt, zu einem Volkswagen zu werden und damit den Traum von Millionen Autofahrern zu verwirklichen, doch geschah dies unter Umständen, die der „Führer“ nicht vorhergesehen hatte. 1939 legte das Naziregime seine Projekte der Massenmotorisierung Deutschlands beiseite (und stellte den Bau der Autobahnen ein). Die neue Riesenfabrik, die die Nazis gebaut hatten, um das kleine Auto von Porsche zu bauen, wurde für die Kriegsanstrengungen mobilisiert. Während des Konflikts fertigten dort Tausende Zwangsarbeiter aus ganz Europa eine militärische Version des „Kraft durch Freude“-Modells sowie andere Ausrüstung für die Wehrmacht. Nach dem Fall des Nationalsozialismus waren die Briten, in deren Besatzungszone das Werk stand, die Ersten, die die Serienproduktion des Wagens von Porsche begannen, um dem schwerwiegenden Mangel an Fahrzeugen, unter dem ihre Verwaltung litt, abzuhelfen. 1948, als das Werk wieder unter deutsche Kontrolle kam, setzte sich das Fahrzeug, das nun „Volkswagen“ getauft wurde, rasch als unbestrittenes Symbol des „Wirtschaftswunders“ durch, auf das die Deutschen so stolz waren. Der Anstieg der Einkommen in den 1950er- und 1960er-Jahren erlaubte es Westdeutschland, sich in eine Automobilgesellschaft zu verwandeln. Der Volkswagen (VW) stand bald im Ruf, bemerkenswert solide zu sein und nur geringe Wartungskosten zu erfordern. Mit einem Marktanteil von 40 Prozent verkörperte der VW wie kein anderes Produkt den attraktiven Wohlstand der Bundesrepublik. Die nationalsozialistische Herkunft des Fahrzeugs förderte vermutlich seinen Aufstieg zur neuen nationalen Ikone in der jungen Bundesrepublik. Die Allgegenwart des VW betonte in den Augen der Zeitgenossen die Überlegenheit Westdeutschlands über die Diktatur, die seiner Bevölkerung dieses Auto versprochen, aber das Land in Ruinen zurückgelassen hatte. Am Steuer des Volkswagens entdeckte eine Masse von Deutschen die Freiheit auf der Autobahn und wurde allmählich von den Vorteilen der Demokratie überzeugt.

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Der Volkswagen Zur großen Überraschung von VW erwiesen sich in den 1950er- und 1960er-Jahren die USA als der blühendste Exportmarkt. Die Entwicklung der Vorstädte in der Nachkriegszeit ging mit der Banalisierung der Familie mit zwei Autos einher und eine große Anzahl von weißen Vorstadtbewohnern übernahm den Volkswagen als sparsames und zuverlässiges Transportmittel. In Amerika wurde er zum „Käfer“. Gegenüber den extravaganten barocken Kreationen von Detroit mit ihren zweifarbigen Pastelltönen und ihren Heckflossen war dieses kleine und runde importierte Fahrzeug ausgesprochen süß und antikonformistisch. Ab dem Ende der 1950er-Jahre konnte es durch die respektlosen und humorvollen Werbekampagnen von Doyle Dane Bernbach die Aura der „Ente, die in einem Tigerkäfig durchgehalten hat“, bewahren, um hier die Formulierung eines Karikaturisten aus dem Underground zu übernehmen. Der mit Margeriten oder psychedelischen Spiralen geschmückte Käfer, der in dem Film The Love Bug (Ein toller Käfer) von Walt Disney die Hauptrolle spielte, verankerte sich in der amerikanischen Populärkultur als das Symbol eines unverfrorenen Individualismus. Während in den 1980er-Jahren ein Rückgang der Gewinne dieses Auto auf den Märkten Westeuropas und der Vereinigten Staaten verschwinden ließ, setzte es seinen Siegeszug durch Lateinamerika fort. Es ist in ganz Mexiko unter dem Namen „Vochito“ bekannt, wo es ab 1967 in Puebla gefertigt wurde. Dank seiner Robustheit hat es sich für die schwierigen Straßenbedingungen in diesem Land als besonders geeignet erwiesen. Mehrere Jahrzehnte lang hat der Käfer das Alltagsleben in Mexiko wie sonst kein anderes Fahrzeug strukturiert – und nicht nur deshalb, weil sein relativ vernünftiger Preis es für den Durchschnittsmenschen erschwinglich machte. Zahllose Mexikaner, die nie Besitzer eines „Vochito“ waren, haben höchstwahrscheinlich irgendwann einmal eines der grünweißen Käfertaxis benutzt, die bis vor Kurzem überall zu sehen waren. Die VW-Arbeiter liebten dieses Auto, und zwar trotz der angespannten sozialen Beziehungen im Werk von Puebla, die ihr Ventil in heftigen Streiks finden konnten. Es war das einzige Auto, das sie sich mit ihrem Lohn leisten konnten. Als das Unternehmen 2003 die Fertigung in Mexiko einstellte, flutete eine Welle der Nostalgie über das Land und die Arbeitskräfte. Nachdem der letzte „Vochito“ zur melancholischen Begleitmusik eines Mariachi-Orchesters 417

BERNHARD RIEGER

vom Fließband gerollt war, tauften die Arbeiter die letzte Fertigungsstätte „Saal der Tränen“.

Die Rückkehr des Retro Fast 80 Jahre, nachdem die ersten Prototypen im „Dritten Reich“ die Straßen befuhren, hat die Originalversion des Volkswagens nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Hunderttausende Liebhaber aus ganz Europa und aus den Vereinigten Staaten versammeln sich alljährlich, um liebevoll restaurierte oder spektakulär persönlich gestylte Volkswagen zur Schau zu stellen, zu bewundern und zu fahren. Im kollektiven Gedächtnis rufen die alten Käfer den wirtschaftlichen und sozialen Optimismus der 1950erund 1960er-Jahre wach – und gleichzeitig persönliche Jugenderinnerungen, die mit populären Bildern der Flower-Power und der Hippies verbunden sind. Viele historische Schichten haben den ersten Volkswagen schließlich eingehüllt, haben allmählich den Schandfleck seiner Nazigeburt überdeckt und aus dem Käfer eine nicht nur europäische, sondern weltweite Ikone gemacht. Nichts veranschaulicht dieses Phänomen besser als der New Beetle, den VW 1997 herausgebracht hatte. In Deutschland entworfen, in Mexiko produziert und in erster Linie für den amerikanischen Markt bestimmt, war er der erste einer wachsenden Anzahl europäischer Retroautos, unter ihnen der Fiat Cinquecento und der Mini, die alle von der gleichen Melancholie inspiriert wurden.

Literatur Hans MOMMSEN mit Manfred GRIEGER, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996. Bernhard RIEGER, The People’s Car. A Global History of the Volkswagen Beetle, Cambridge 2013.

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OTTMAR ETTE

Schreiben zwischen den Welten Die europäische Literatur wurde unglaublich durch Migration und Globalisierung bereichert, die zu einer beispiellosen Mobilität zwischen den Sprachen, Kulturen und Erfahrungen geführt haben. Dank dieser Fluidität ist das Schreiben zu einem Medium geworden, um über das andere und das Fremde nachzudenken.

Der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie im Jahr 1986.

OTTMAR ETTE

Wie lässt sich eine Welt denken und schreiben, in der Europa schon immer (im Sinn eines Bewegungsortes) ein vektorieller Ort der Erinnerung eines Mythos war, der seit der jungen, schönen Europa am Strand des Mittelmeeres im Zeichen von Verzückung und Verlockung, von Verpflanzung und Vergewaltigung, von Raub, Deportation und Migration stand? In seiner im Frühjahr 2009 erschienenen Analyse einer weltweit aus den Fugen geratenen Zeit hat der 1949 in Beirut geborene und in Frankreich zwischen Paris und der Ile d’Yeu pendelnde Romancier, Essayist und das Mitglied der Académie française Amin Maalouf unter dem Titel Le dérèglement du monde (Die Störung der Welt) schonungslos all jene Gefahren aufgezeigt, die die Menschheit zu Beginn des 21. Jahrhunderts an den Rand eines Abgrunds geführt haben – eine Situation, die (wie wir heute wissen) weiter an Dramatik zugenommen und uns an das Ende der aktuellen Phase beschleunigter Globalisierung geführt hat. Die weltumspannenden Dimensionen der maaloufschen Reflexionen sind unmittelbar erkennbar: „Wir sind ohne Kompass in das neue Jahrhundert eingetreten. Von den ersten Monaten an treten besorgniserregende Ereignisse auf, die darauf hindeuten, dass die Welt eine große Störung erfährt, und zwar in mehreren Bereichen gleichzeitig – intellektuelle Störung, finanzielle Störung, Klimastörung, geopolitische Störung, ethische Störung.“1

Kompass Überflüssig, dieser fundamentalen Weltentregelung aus heutiger Sicht eine Migrationsstörung oder die Entregulierung des politischen Diskurses hinzuzufügen. Unruhiger denn je fahnden wir nach jener Boussole (Kompass), die auch ein Mathias Énard 2015 als Titelmetapher seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman voranstellte. Doch derjenige, der nach diesem sorgfältig konzipierten Auftakt von Amin Maaloufs Essay nun eine zutiefst pessimistische Sichtweise eines Planeten und einer Weltgesellschaft erwartet hätte, sieht sich rasch im positiven Sinn enttäuscht: Der Band dieses im Libanon geborenen Vertreters mittelmeerischen ZwischenWeltenSchreibens ist weit von jeglichem Pessimismus, von jeglicher Nostalgie und ganz gewiss von jedwedem 1 Amin Maalouf, Le Dérèglement du monde, Paris 2009, S. 11.

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SCHREIBEN ZWISCHEN DEN WELTEN

handlungslähmenden Weltschmerz entfernt. Denn wie in einer impliziten Replik auf Samuel P. Huntingtons Rede vom Clash of Civilizations aus dem Jahr 1996 geht es dem Autor darum, jene Orientierungspunkte für ein Zusammenleben aufzuzeigen, an dem sich das planetarische Narrenschiff neu ausrichten könnte. Der Essay des vor allem in französischer Sprache (und folglich jenseits seiner Muttersprachen) schreibenden Schriftstellers kreist um ein differenziertes Verständnis des lang anhaltenden Prozesses einer Globalisierung, deren kulturelle Aspekte lange Zeit unterschätzt wurden und in der noch kaum überwundenen Finanzkrise durch die wirtschaftspolitischen Debatten um Milliardenbeträge, die aktuellen innereuropäischen Spannungen um die sogenannte Flüchtlingskrise oder den Brexit in den Hintergrund gedrängt wurden. Die weitgehende Nichtbeachtung oder gar vollständige Ausklammerung der kulturellen, interkulturellen und transkulturellen Implikationen von Globalisierung aber war und ist ein entscheidender Fehler, der – wie die letzten Jahre zeigten – katastrophale Folgen nach sich zieht. Und so lässt auch Amin Maalouf keinen Zweifel daran: Es sind gerade diese kulturellen Dimensionen, die entscheidend die Zukunft der Menschheit bestimmen werden.

„Die Intimität eines Volkes ist seine Literatur“ Wir brauchen Antworten, die nicht monologisch, sondern in einem grundlegenden Sinn polylogisch und auf ein Zusammenleben in Frieden und Differenz gerichtet sind. Denn die Konvivenz stellt ohne jeden Zweifel die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts im planetarischen Maßstab dar: Zusammenleben ist Herausforderung und Losung unserer Zeit. Dem Band ist ein klug gewähltes Motto von William Carlos Williams vorangestellt, in dem es um das Überlebenswissen der Menschheit geht: „Der Mensch hat bisher überlebt / weil er zu unwissend war, um zu wissen / wie er seine Wünsche verwirklichen konnte. / Jetzt, da er sie erkennen kann, / muss er sie entweder ändern / oder untergehen.“2 Es geht ums Überleben.

2 Im Original: „Man has survived hitherto because he was too ignorant to know how to realize his wishes. / Now that he can realize them, he must either change them or perish.“

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OTTMAR ETTE

Folgen wir Amin Maaloufs Überlegungen, so ist es entscheidend, die jeweils „anderen“ nicht länger aus der Perspektive von Heterostereotypen zu sehen, wie sie uns ideologische, religiöse oder massenkulturelle Konstrukte vorgaukeln. Dabei sollten wir möglichst auf unilaterale Konstruktionen des anderen verzichten, in die gerade auch der sogenannte interkulturelle Dialog so oft zurückgefallen ist. Ja mehr noch: Ein Denken jenseits der Alterität ist überlebenswichtig geworden. Es gilt, die unendlichen kulturellen Differenzen und Differenzierungen gleichsam mit anderen Augen – mit den Augen vieler anderer (und nicht des anderen) – aus verschiedenen Blickrichtungen zugleich und damit polyperspektivisch wahrzunehmen. Nichts kann dabei, so betont der Autor von Leo Africanus, die Literatur ersetzen: „Die Intimität eines Volkes ist seine Literatur. In ihr enthüllt es seine Leidenschaften, seine Bestrebungen, seine Träume, seine Frustrationen, seine Glaubensvorstellungen, seine Sicht der umgebenden Welt, seine Wahrnehmungen von sich selbst wie von den anderen, uns selbst mit einbegriffen. Denn wenn man von den ‚anderen‘ spricht, darf man nie aus den Augen verlieren, dass auch wir selbst, wer auch immer wir sein und wo auch immer wir uns befinden mögen, für alle anderen ‚die anderen‘ sind.“3 Die Literatur ist das beste Gegengift gegen jegliche massenkulturelle oder propagandistische Vereinfachung und Schematisierung. Denn sie kommt zu uns aus unterschiedlichsten Sprachen, Kulturen und Gemeinschaften. Es sind die Literaturen der Welt, die – jenseits einer vereinheitlichenden und längst überkommenen Konzeption der „Weltliteratur“ – uns den Zugang zu den unterschiedlichsten kulturellen wie transkulturellen Konfigurationen öffnen, die uns ein Denken und Handeln in viellogischen Lebenszusammenhängen erlauben oder zumindest erleichtern. Die Literaturen der Welt sind nicht nur viellogische Erinnerungsorte, sondern Seismografen des Künftigen: Dies wussten bereits die sich verschiedener Sprachen bedienenden Georg Forster, Alexander von Humboldt oder Adelbert von Chamisso. Gerade in unserer Zeit sind die Literaturen der Welt – nicht zuletzt dank jener Phasen beschleunigter Globalisierung vom Ende des 15. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, von der Mitte des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, vom letzten Drittel des 19. bis zum Beginn des 3 Amin Maalouf, Le Dérèglement du monde, op. cit., S. 206 (übers. vom Autor).

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SCHREIBEN ZWISCHEN DEN WELTEN

20. Jahrhunderts und schließlich von den 1980er-Jahren bis in unsere Tage im 21. Jahrhundert – zum privilegierten Labor der Erfahrung und mehr noch des Erlebens kultureller Komplexität geworden. Mithin bilden die Literaturen der Welt potenzielle Denkschulen des Komplexen wie des radikal Viellogischen und Ergebnisoffenen. Für eine Literatur, die sich verschiedener Sprachen bedient und weniger an den roots als an den routes ausgerichtet ist, mögen seit Beginn der ersten der genannten Globalisierungsphasen ebenso große wie großartige Schriftsteller wie Leo Africanus oder El Inca Garcilaso de la Vega, im 18. Jahrhundert aber auch ein Anton Wilhelm Amo (der, als Sklave nach Deutschland verschleppt, zu einem auch international viel beachteten „schwarzen Philosophen“ wurde) stehen. Diese literarischen Ausdrucks- und Erlebensformen interessiert in der Geschichte nicht das Sedimentierte, das Geschichtete, sondern das Vektorielle, das Gerichtete: Jedwede Statik ist ihnen fremd.

Literaturen ohne festen Wohnsitz Die Frage nach dem spezifischen Wissen der Literatur ist längst in den Brennpunkt aktueller Debatten gerückt. Diese Tatsache ließe sich leicht mit der sich immer deutlicher abzeichnenden Tendenz in den Geistesund Kulturwissenschaften in Verbindung bringen, dass an die Stelle einer bislang dominanten Memoriathematik die Wissensproblematik getreten ist. Die Frage nach dem Wissen der Literatur ist nicht zuletzt die Frage nach der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Relevanz dieses Wissens innerhalb der unterschiedlich ausgeprägten aktuellen Informations- und Wissensgesellschaften des 21. Jahrhunderts. Die stärker auf die Vergangenheit bezogene Sichtweise von Literatur hat im zurückliegenden Vierteljahrhundert zweifellos auf produktive Weise dazu beigetragen, jene prospektiven Dimensionen auszublenden, die sich ebenso im Gilgamesch-Epos wie im Shi Jing oder in den Erzählungen von Tausendundeiner Nacht finden. Die Literaturen der Welt erfüllen aber keineswegs allein die unbestritten wichtige Memoriafunktion mit Blick auf eine zu vergegenwärtigende Vergangenheit, sondern entfalten ihre prospektive, auf mögliche Zukünfte gerichtete Relevanz dank eines Lebenswissens, das sich ebenso mit Vergangenheit und Gegenwart wie mit den künftigen Lebensformen und Lebensnormen auseinan423

OTTMAR ETTE

dersetzt. Was also will, was also kann und vermag die Literatur? Und wie können wir ihre vektorielle Eigenlogik als Erinnerungsorte aus einer Poetik der Bewegung heraus neu verstehen? Es ist heute an der Zeit, im Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaften gerade von Europa, jenem Kreuzungspunkt der Migrationen, aus eine Poetik der Bewegung voranzutreiben, die Literatur in Bewegung und als Bewegung begreift und dabei ein Hauptaugenmerk auf ein ZwischenWeltenSchreiben richtet, das – wenn auch in einer langen Tradition verankert – im Verlauf des gegenwärtigen Jahrhunderts weiter enorm an Fahrt gewinnen wird. Die Namen vieler noch zu erwähnender Literaturnobelpreisträger, aber auch von Salman Rushdie, Jorge Semprún, Norman Manea, Elias Khoury, Emine Sevgi Özdamar, José F. A. Oliver oder Yoko Tawada mögen hierfür exemplarisch einstehen. Die Literaturen der Welt werden in zunehmendem Maß Literaturen ohne festen Wohnsitz sein. Es genügt, die aktuellen Flüchtlingsströme zu betrachten, um leicht einsehen zu können, dass diese Entwicklungen auch mit Blick auf die europäischen Literaturen der Zukunft grundlegende Veränderungen im Sinn eines ganz selbstverständlichen translingualen Schreibens herbeiführen. Nicht eine sich immer stärker vereinheitlichende Weltliteratur, sondern eine polylogisch sich fortschreibende Entfaltung der Literaturen der Welt ist für unsere Gegenwart wie für unsere Zukunft jenseits der fortbestehenden Nationalliteraturen maßgebend. Die Epoche der Weltliteratur ist in ihrem historischen Gewordensein längst historisch geworden: Sie liegt als europazentrische Erfindung hinter uns. Aus heutiger Perspektive ließe sich mit guten Gründen behaupten, dass in der Postmoderne die zeitlichen, in der europäischen Moderne so dominanten historisch-chronologischen Fundamente unseres Denkens und unserer Wirklichkeitsverarbeitung schwächer geworden sind, ohne freilich gänzlich zu verblassen. Zugleich haben räumlich bezogene Konzepte und Denkweisen, aber auch Wahrnehmungsmuster, Erfahrungsund Erlebensmodi unverkennbar an Bedeutung gewonnen. Spätestens seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wurden neue Raumkonzepte entwickelt, die im Zeichen nicht des Territorialen, sondern des Mobilen stehen. Die Literaturen ohne festen Wohnsitz mit Literaturnobelpreisträgern wie Mario Vargas Llosa, Herta Müller, Gao Xingjian oder V. S. Naipaul waren hieran grundlegend beteiligt. Die Diskussionen der 80erund 90er-Jahre wurden – und dies bis in die Gegenwart hinein – ganz 424

SCHREIBEN ZWISCHEN DEN WELTEN

wesentlich von geokulturellen und geopolitischen Fragestellungen bestimmt, die keineswegs auf den cyberspace beschränkt blieben, sondern Verräumlichungen, mappings und remappings im Zeichen des Postkolonialen wie des Zusammenstoßes der Kulturen hervorbrachten. Selbst Samuel P. Huntingtons Ideologem vom Clash of Civilizations oder Niall Fergusons Civilization. The West and the Rest ließen sich noch einem – geokulturell und geostrategisch gewendeten – spatial turn zuordnen. Die Literaturen ohne festen Wohnsitz zeigen Wege aus den Landkarten des (bedrohlichen) anderen auf.

Jenseits der Alterität Wir müssen heraustreten aus, ja vielleicht sogar uns verabschieden von einem Denken der Alterität, das – wie Vincent Descombes zu Recht betonte – ganze Philosophietraditionen des 20. Jahrhunderts wie etwa die französische Philosophie in Epistemologie und Methodologie grundlegend geprägt hat. Die heute mehr denn je voranzubringende Poetik der Bewegung enthält eine Kosmopolitik, die an fundamental-komplexen Zusammenhängen ausgerichtet ist und – unter Rückgriff auf die Literaturen der Welt – polylogische Denkformen zu entwickeln vermag, die nicht länger wie hypnotisiert am Gegensatz von Eigenem und Fremden, vom selben und dem anderen fixiert sind: gleichsam jene Versuche radikalisierend, die (wie schon im Denken von Julia Kristeva oder Tzvetan Todorov) das Eigene und das Fremde in uns selbst ausmachen. An die Stelle einer noch immer dominanten, ja selbstverständlichen Raumgeschichte wird eine Bewegungsgeschichte treten, in der die vorhandenen mappings vektorisiert und in dynamische, mobile Raum-ZeitKonzeptionen übersetzt werden. Saint-John Perse, Samuel Beckett, Albert Cohen oder Elias Canetti haben diese vielsprachigen, polylogischen Bewegungskarten für ein künftiges Europa früh entworfen. Die Literaturen der Welt leisten hier eine entscheidende Vorstellungshilfe, präsentieren und repräsentieren sie doch vektoriell angelegte Darstellungs- und Denkmuster, wie sie in höchster Intensität in den Literaturen ohne festen Wohnsitz zum sinnlichen, ästhetischen Ausdruck kommen. Die Erinnerungsorte der Literaturen der Welt sind auf Bewegungskarten eingezeichnet. Europa lässt sich – wie schon sein Entstehungsmythos zeigt – ohne Außereuropa und die ständigen Migrationen nicht denken. 425

OTTMAR ETTE

Das Europa der Vergangenheit, der Gegenwart wie der Zukunft – in Bewegung und als Bewegung – bildet ein ausgezeichnetes Beispiel für die Notwendigkeiten eines vielsprachigen und polylogischen Denkens – aber auch für die Gefahren beständiger Rückfälle in eine Memoria fernab der Zukunft. Gerade unter den gegenwärtigen Bewegungen – und hierauf zielt der Begriff der Vektorisierung – werden die alten Bewegungen wieder erkennbar und wahrnehmbar: Sie sind als Bewegungen in der festen Struktur wie in der mobilen Strukturierung von Räumen gegenwärtig und abrufbar – und auch in den Migrationswegen unserer Zeit als Bahnungen deutlich auszumachen. Im ZwischenWeltenSchreiben werden diese Bahnungen herauspräpariert. Die seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verstärkt zu beobachtende Entfaltung von Literaturen ohne festen Wohnsitz im Sinn zumeist migratorisch ausgelöster translingualer und transkultureller Schreibformen hat dazu geführt, dass alle Elemente und Aspekte literarischer Produktion weit radikaler und dauerhafter als jemals zuvor in Bewegung geraten sind. Dies ist eine exzellente Denkschule. Wir wohnen einer allgemeinen Vektorisierung aller (Raum-)Bezüge bei. Das ZwischenWeltenSchreiben bildet neue Begriffe für ein neues Begreifen: auch und gerade der Erinnerungsorte. Denn die Literaturen der Welt haben als Laboratorien des Viellogischen quer zu den Jahrhunderten, quer zu den Kulturen, quer zu den Sprachen ein Wissen vom Leben im Leben und für das Leben angehäuft, das dazu beitragen kann, eine immer bedrohlicher werdende Kluft zu überbrücken, auf die nicht von ungefähr ein Vertreter der Literaturen ohne festen Wohnsitz mit großer Weitsicht aufmerksam machte. So heißt es in Amin Maaloufs Essay mahnend und programmatisch zugleich: „Es geht um den Graben, der sich zwischen unserer raschen materiellen Evolution, die uns Tag für Tag mehr Fesseln abstreifen lässt, und unserer allzu langsamen moralischen Evolution vertieft, die es uns nicht erlaubt, den tragischen Konsequenzen dieser Entfesselung entgegenzutreten. Wohlverstanden: Die materielle Evolution kann und darf nicht verlangsamt werden. Vielmehr muss unsere moralische Evolution beträchtlich beschleunigt, muss dringlichst auf das Niveau unserer technologischen Evolution gehoben werden, was eine wahrhaftige Revolution der Verhaltensweisen erforderlich macht.“4 4 Amin Maalouf, Le Dérèglement du monde, op. cit., S. 81 (übers. vom Autor).

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SCHREIBEN ZWISCHEN DEN WELTEN

Im ZwischenWeltenSchreiben der Gegenwart finden sich die Wege zu einer erfolgreichen Konvivenz, in der die unterschiedlichen Herkünfte entgegen so vieler Zeichen unserer Zeit neue Zukünfte zeigen und zeugen.

Literatur Mathias ENARD, Kompass, München 2016. Ottmar ETTE, Writing-Between-Worlds. TransArea Studies and the Literatures-withouta-fixed-Abode. Translated by Vera M. Kutzinski. Berlin/Boston 2016. Ottmar ETTE, ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab, Berlin 2010.

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ILSEN ABOUT

Der unverzichtbare Reisepass Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts verkörpert der Reisepass das Band zwischen einem Individuum und einer Nation und bewahrt mit den verschiedenen Visa die Erinnerung an die transnationalen Reisen auf. Trotz der Schengener Abkommen von 1995, die die Passpflicht innerhalb der Europäischen Union aufgehoben haben, war der Traum eines Europas ohne Grenzen immer nur für einige Privilegierte eine Realität.

Dieser Reisepass illustriert die Geschichte einer modernen Odyssee: Der deutsche Jude Walter Otto Israel Loebinger verlässt laut Pass 1939 das nationalsozialistische Deutschland und gelangt auf dem Seeweg über Ceylon (heute Sri Lanka) und Hongkong nach Schanghai. 1950 reist er schlussendlich in den neu gegründeten Staat Israel ein.

DER UNVERZICHTBARE REISEPASS

„Ich ergötze mich immer wieder neu an dem Staunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzähle, daß ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Paß zu besitzen oder überhaupt je einen gesehen zu haben. Man stieg ein und stieg aus, ohne zu fragen und gefragt zu werden, man hatte nicht ein einziges von den hundert Papieren auszufüllen, die heute abgefordert werden. […] Es hat mir nicht geholfen, daß ich fast durch ein halbes Jahrhundert mein Herz erzogen, weltbürgerlich als das eines ‚citoyen du monde‘ zu schlagen. Nein, am Tage, da ich meinen Paß verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, daß man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde1.“ Mit diesen Worten gedachte der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig der guten alten Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Die Welt von gestern war für die „Weltbürger“, zu denen er gehörte, eine Zeit ohne Reisepässe. Doch dieses Gedächtnis ist trügerisch. Das Goldene Zeitalter einer Welt ohne Reisepässe hat nur für eine bestimmte gesellschaftliche Klasse und in sehr verschiedenen historischen Kontexten existiert. Der Reisepass war um die Wende zum 20. Jahrhundert aufgetaucht, ersetzte die früheren „Binnenreisepässe“ oder andere Unterlagen, die den Geburts- und Wohnort nachwiesen, und hat sich als Symbol der nationalen Identität in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg allgemein verbreitet.

Nation und Nationalität Der Reisepass, ein zugleich einmaliges und universelles Objekt, ist das Resultat einer langen Kombination früherer Weisen der Erfassung der persönlichen Identität und der Konzeption der Modalitäten der Zirkulation der Personen. Er nimmt auch das persönliche Gedächtnis auf und ist die Spur einer Existenz, die von der Einflussnahme des Staates und der Nation geprägt ist. So, wie sich der Reisepass heute am Beginn des 21. Jahrhunderts präsentiert, hinter seinem dunklen Einband und seinem konventionellen Format, wirkt er neutral und einvernehmlich. Seine erste Seite mit dem Namen des Landes und dem nationalen Wahrzeichen verleiht ihm jedoch eine eindeutige Funktion: Er steckt die nationale Zugehörigkeit ab, ermöglicht die Identifizierung jeder Person, aber auch die Identifizierung mit seinem Land, indem er mittels des 1 Stefan Zweig, Die Welt von gestern, Stockholm 1942, Kapitel 18.

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ILSEN ABOUT

Papiers die Nation mit der Nationalität verbindet. Mit der Volljährigkeit einen gültigen Pass zu erhalten, markiert den Eintritt in ein berufstä­ tiges Leben, die Möglichkeit außerhalb seines Landes zu reisen und als „Staatsangehöriger“ anerkannt zu werden. Der Antragsteller muss zunächst die Echtheit seiner zivilen Identität nachweisen und dann Beweise seiner körperlichen Existenz liefern: Das eigene Bild mittels der Fotografie steht nur aus Tradition auf den Dokumenten. Die Verwechslungen aufgrund von Verkleidungen, Ähnlichkeit oder Fehlinterpretationen lassen sich trotz der strengen Protokolle hinsichtlich des Porträtfotos nicht völlig vermeiden. Der Beamte des Reisepassbüros überprüft dennoch bei der Abgabe dieses Dokuments die sichtbare Realität des Antragstellers, der auch mit eigener Hand unterschreibt. Früher konnten dank der Personenwaagen, der Messlatten und der Farbmusterpaletten für die Augenfarben Informationen über den Körper der Personen eingetragen werden, die so zu Subjekten der Medizin oder der Polizei wurden. Die biometrischen Reisepässe erfordern nunmehr eine Erfassung der Iris oder der Fingerabdrücke. Das sind sicherlich kurze und schmerzlose Verfahren, die allerdings eine Tragweite besitzen, die ihren Sinn verändert: Die Identität des Antragstellers wandert mittels digitaler Technologien durch Datenbanken, die Milliarden Informationen speichern. Die Ablehnung, der Widerruf oder die Suspendierung des Reisepasses können sich aus diesen Überprüfungen ableiten und stellen eine der schwersten Sanktionen dar, die ein Staat über seine Staatsbürger verhängen kann. Die Verwaltungen garantieren folglich denjenigen, die dieses wertvolle Dokument erhalten, ihren Status als Staatsangehörige, die Echtheit ihrer Identität und vor allem ihre Rechtschaffenheit, die es ihnen gestatten, sich außerhalb der Grenzen zu bewegen. Die Anwendung der Schengener Abkommen ab 1995 stellte eine historische Wende dar, indem sie die Reisepasspflicht innerhalb Europas abschaffte. Die Erinnerung an die Visastempel und die gewellten Seiten des Reisepasses verflüchtigt sich für diejenigen, die innerhalb der Grenzen der Europäischen Union bleiben. Für zahlreiche Touristen, Reisende und für die mehr oder weniger freiwillig Exilierten nehmen diese Abnutzungen ganz andere Bedeutungen an: Ihre Reisepässe tragen die Spur der Deplatzierungen, der Zwänge, des Wartens und der Spesen für die Visumanträge. Sie informieren über die Etappen einer Reise oder über mehr oder weniger glückliche Aufenthalte. Für manche zeugen diese 430

DER UNVERZICHTBARE REISEPASS

Stempel, Kritzeleien und angehefteten Blättchen von festlichen Irrfahrten in den internationalen Flughäfen, für andere wieder zeugen sie von überstandenen Prüfungen und von dem Land, das man hinter sich gelassen hat.

Ohne Reisepass und staatenlos Alle Inhaber eines Reisepasses transportieren auch die unveräußerliche Eigenschaft der Nation, der sie angehören, mit sich und setzen sich im Fall von Beschädigungen oder Fälschungen auch gerichtlicher Strafverfolgung aus. Die beunruhigende und faszinierende Figur des Spions, der mit seinen vielen gefälschten Pässen spielt, zeugt indirekt von dem beinahe sakralen Charakter, den dieser Alltagsgegenstand angenommen hat. Seinen Reisepass stolz herzuzeigen oder öffentlich zu vernichten, zeugt von dem Stand der Beziehungen zwischen Individuen und ihrem Staat. Sie bekennen sich zu ihrer Zugehörigkeit, verteidigen die Position ihres Landes und drücken aus, wie sehr sie an den Werten hängen, die er verkörpert. Im anderen Fall bestreiten sie den Wortlaut dieser Zugehörigkeit und beschließen, sich symbolisch von ihrer eigenen Nation zu trennen. Diese politische Blasphemie bleibt allerdings üblicherweise die Waffe derjenigen, die um eine Verlängerung ansuchen können. Die Kriege, der Zusammenbruch der Nationen und das Chaos treiben die Passlosen, diejenigen, die ihre Nationalität verloren oder auf keine Nation mehr Anspruch erheben können, auf die Straßen. Der 1922 geschaffene Nansen-Pass schützte diese Staatenlosen, die keine Identität mehr hatten. Als der Völkerbund im Mai 1926 endgültig den internationalen Reisepass vorschrieb, sollte dieses Instrument die Wiederholung dieser Flüchtlingskrise verhindern. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlossen mehrere Konventionen der Vereinten Nationen Bescheinigungen für Flüchtlinge (1951) und für die Staatenlosen (1954). Doch diese Instanzen und diese Techniken können nicht verhindern, dass fortwährend Ausnahmen entstehen, die zahlreiche Migranten und Flüchtlinge in einen Zustand der absoluten Ungewissheit versetzen. Manchmal führt die lange Wanderung zur Ausstellung eines neuen Reisepasses, der dann der Ausdruck einer Rückkehr zu einem normalen Leben ist. 431

ILSEN ABOUT

Literatur Ilsen ABOUT und Vincent DENIS, Histoire de l’identification des personnes, Paris 2010. Thomas CLAES, Passkontrolle! Eine kritische Geschichte des sich Ausweisens und Erkanntwerdens, Berlin 2010. Valentin GROEBNER, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004. Egidio REALE, Le Régime des passeports et la Société des Nations, Paris 1930. Craig ROBERTSON, The Passport in America. The History of a Document, Oxford 2010. Mark B. SALTER, Rights of Passage. The Passport in International Relations, Boulder 2003. John TORPEY, The Invention of the Passport. Surveillance, Citizenship, and the State, Cambridge 2000.

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CATHERINE WIHTOL DE WENDEN

Hin und her Europa, lange Zeit ein Auswanderungskontinent, ist eine der wichtigsten Einwanderungsregionen der Welt geworden. Im Lauf der Jahrzehnte haben sich die imaginären Grenzen verschoben: Heute ist der andere nicht mehr der europäische Immigrant, der den Eisernen Vorhang überquert oder vor dem Krieg und der Diktatur flüchtet, sondern der häufig muslimische Orientale oder Afrikaner.

Anfang der 1950er-Jahre: ein Schiff mit 1500 Passagieren an Bord, die nach Australien auswandern, beim Auslaufen im Hafen von Triest.

CATHERINE WIHTOL DE WENDEN

Der Begriff melting pot wurde 1908 in den Vereinigten Staaten durch ein Stück eines jüdisch-amerikanischen Autors popularisiert, der mit diesem Begriff die enorme amerikanische Assimilationskapazität aufzeigen wollte. In Frankreich spricht man vom „französischen Schmelztiegel“ (creuset français), auch Titel eines 1988 publizierten Werks von Gérard Noiriel. Der Meltingpot ist immer ein Bild, ja eine Utopie: Aus dem Gemisch würde ein neuer Mensch, eine neue Lebensweise hervorgehen. Man findet ihn als Devise auf dem amerikanischen Dollar: „Et pluribus unum“, eine Wendung, die einem Gedicht Vergils entnommen ist (Moretum in der Aeneis), das die Komponenten beschreibt, aus denen sich ein Kräuterkäse zusammensetzt. Es suggeriert, dass sich die Neuankömmlinge im Schmelztiegel der einheimischen Bevölkerung auflösen werden. Könnte es sich beim europäischen Meltingpot um eine Anpassung Europas an eine von außerhalb importierte Realität handeln, an das amerikanische „Modell“, ein bis 1960 assimilationistisches Modell, das nachher von manchen als salad bowl bezeichnet wurde, dessen Ingredienzien intakt bleiben und so den Multikulturalismus suggerieren? Aber anders als die Neue Welt, die die Zuwanderung unterstützt hat, tut sich Europa, Einwanderungskontinent wider Willen, schwer, die Immigration als konstitutiv für seine Bevölkerung zu betrachten. Es sieht sich einem Paradox gegenüber: Obwohl es eines der ersten Migrationsziele auf der Welt ist – an erster Stelle, was die Migrationsströme betrifft, an zweiter in Bezug auf den Anteil der Migranten an der Bevölkerung –, sieht sich die Mehrheit der Europäer nicht als Bewohner eines Einwanderungskontinents. Die Einwanderung gehört immer noch nicht – oder so wenig – zur europäischen und zur Nationalgeschichte der meisten europäischen Länder. Es ist schlimmer: Viele lehnen sie als illegitim, gefährlich und als katastrophal für die Identität und die Werte Europas und der Nationalstaaten ab. Daraus ergibt sich die entscheidende Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses der Migration in einem Europa, das den Willen hat, zusammenzuleben, aber auch neue imaginäre und imaginierte Grenzen errichtet. Sowohl die punktuelle Symbolpolitik wie die Erinnerungskultur im weiteren Sinn zeigen, wie sich eine ganze Reihe auf die Gegenwart bezogene furchteinflößende oder hoffnungsvolle Zukunftsprojektionen entwickeln und wiederholen, die mit der jahrhundertelangen Erfahrung der Einwanderung und dem Beitrag der Ausländer zur gemeinsamen Geschichte verbunden sind. 434

HIN UND HER

Ein Auswanderungsterritorium Lange ist Europa wegen seines Bevölkerungsreichtums, der Neugier der Europäer, neue Länder zu entdecken, und ihrer Gier, sich deren Reich­ tümer anzueignen und sie zu kolonisieren, ein Auswanderungskontinent gewesen. In Europa in Bewegung erklärt Klaus J. Bade, dass mithilfe der Dampfmarine europäische Auswanderer massenhaft in die Länder transportiert werden konnten, die Arbeits- und Siedlungsmigranten suchten. Andere innereuropäische Migrationen haben religiöse oder konfessionelle Gründe: französische Protestanten, die im 17. Jahrhundert nach Deutschland, Genf, die Niederlande oder Großbritannien geflüchtet sind, die Vertreibung der westeuropäischen Juden (Spanien, deutsche Länder) ins polnische „Refugium“ oder auf den osmanisch beherrschten Balkan, die Pogrome, die im 19. und 20. Jahrhundert die russischen, polnischen und rumänischen Juden vertrieben haben, ohne Flucht und Exil angesichts der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nazis zu vergessen. Die inneren Konflikte (Französische Revolution, „48er“ vieler europäischer Länder, Autokratien und Diktaturen) und die internationalen Umwälzungen (Teilungen Polens im 19. Jahrhundert, Russische Revolution von 1917, Kalter Krieg) haben die Migrationen erheblich anwachsen lassen. Die zwei Weltkriege haben zu massiven ethnischen Umverteilungen geführt, wie es das Beispiel der „Vertriebenen“ aus den ehemals deutschen Gebieten, die nach 1945 polnisch geworden sind, zeigt – oder der immer wieder angeführte Präzedenzfall des Bevölkerungsaustauschs zwischen Griechenland und der Türkei nach 1923. Einige Konflikte wie der Völkermord an den Armeniern nach 1915 oder der Spanische Bürgerkrieg hatten große Immigrationsströme zur Folge. Bei vielen entstanden dauerhafte Gedächtnisgemeinschaften und kollektive Identitätsansprüche, die zu Konflikten zwischen dem Herkunftsland und dem Aufnahmeland führten. Auch die Armut war ein Grund zur Emigration, wie im Fall der 31 Millionen Italiener, die ihr Land zwischen 1860 und 1960 verlassen haben. Zu neuen Auswanderungen von Europäern kam es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, etwa zur „Rückkehr“ von zwei Millionen Deutschen aus Russland oder Rumänien, zur Rückkehr von 350 000 Pontosgriechen (aus dem heutigen Georgien), zur Ausreise von 500 000 Bulgaren türkischer Abstammung in die Türkei und zu den Flüchtlingsströmen im ehemaligen Jugoslawien. 435

CATHERINE WIHTOL DE WENDEN

Figuren des Exils Jede dieser historischen Migrationen wird im Gedächtnis mit bekannten Exilierten assoziiert, die einen gewissen europäischen Kosmopolitismus symbolisieren, vom deutschen Romantiker Adelbert von Chamisso (ursprünglich ein nach 1789 emigrierter französischer Adliger) über die zwei exemplarischen Polen, den Dichter Adam Mickiewicz, der seinen Pan Tadeusz 1834 in Paris schrieb, und den englischen Romancier Joseph ­Conrad, geborener Józef Korzeniowski, bis zum französisch-griechischen Regisseur Costa-Gavras. An diese endlose Kohorte von Ausländern zu erinnern, die die verschiedenen nationalen Kulturen mitgestaltet und durch ihre Mobilität eine europäische Kultur ins Leben gerufen haben, ist weiterhin eine hochgradig symbolische Entscheidung gegen die wiederkehrende Versuchung, sich auf sich selbst zurückzuziehen. Die eindeutige Rolle, die die success story der französischen Hugenotten in Preußen vor dem Hintergrund der goldenen Erinnerung an die preußische Toleranz in der Demokratisierung der politischen Kultur Westdeutschlands nach 1945 spielte und heute noch in Berlin stark nachwirkt, ist nur ein Beispiel. Dennoch ist Europa seit den 1960er-Jahren vor allem ein Einwanderungskontinent, auch wenn seine Bevölkerung diese Realität offenbar nicht sehen will. Ende 2015 zeigte eine Meinungsumfrage von Eurobarometer, dass die Immigration von 45 Prozent der Europäer als ihre größte Sorge angegeben wurde.

Aufnahme- und Asylterritorium Frankreich hat seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wegen des von der industriellen Revolution bedingten Arbeitskräftemangels als erstes Land seine Türen für Arbeitsimmigranten geöffnet. Wie es Émile Zola in Germinal beschrieb, sind die belgischen, italienischen, Schweizer Grenzgänger anfänglich oft sehr schlecht akzeptiert worden. Die blutigen antiitalienischen Ausschreitungen der Marseiller Vespern und des Massakers von Aigues-Mortes 1893 sind im Gedächtnis geblieben, ein Gedächtnis, das den bis heute herrschenden Diskurs infrage stellt. Neben den Italienern, dem größten Einwanderungskontingent im Jahr 1930, kamen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Polen, dann die Algerier. Nach 1945 kamen nacheinander Angehörige zahlreicher Nationalitäten 436

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als Migranten nach Frankreich: Spanier (manche waren mit der Retirada, dem Rückzug der Republikaner, 1939 nach Frankreich gekommen), Portugiesen, von denen die meisten illegal über die Pyrenäen eingereist sind und von denen der Dokumentarfilm O Salto (1967) von Christian de Chalonge berichtet, dann Marokkaner, Tunesier, Türken und Migranten von Ländern südlich der Sahara. Deutschland, das seit den 1990er-Jahren am meisten Immigranten in Europa aufnahm, hat seit den 1950er-Jahren „Gastarbeiter“ angeworben, indem es Verträge mit der Türkei, Portugal, Italien, Spanien, Jugo­ slawien und Griechenland abschloss. Während des Wirtschaftsaufschwungs wurde die Immigration als Indiz einer guten Wirtschaftslage angesehen, ohne dass man sich um die Integration kümmerte, da die Immigration als vorübergehend angesehen wurde. Mit dem Stopp der Arbeiterimmigration 1973 stellte sich wie in Frankreich die Frage der Integration. Deutschland zählt heute sieben Millionen Ausländer, zu denen die sogenannten ethnischen Migranten dazukommen: Vertriebene der früheren Ostgebiete nach 1945 (zwölf Millionen), Aussiedler nach 1989 (zwei Millionen) und Übersiedler, die den Eisernen Vorhang bis 1989 überquert haben. Damals hat Deutschland auch drei Viertel der nach Europa gekommenen Flüchtlinge aufgenommen: 1992 zum Beispiel 438 000 von insgesamt 500 000 Asylbewerbern innerhalb der Europäischen Union. Belgien, die Niederlande und Luxemburg – 40 Prozent von dessen Bevölkerung sind Ausländer – haben ebenfalls ausländische Arbeitskräfte für die Arbeit im Bergbau und in der Industrie geholt und leben teilweise dank des Beitrags der Immigranten, ebenso wie die Schweiz, die 30 Prozent Ausländer zählt, oder Österreich mit zehn Prozent. In Großbritannien haben bis zum Arbeitsimmigrationsstopp 1962 und zu den Reisebeschränkungen seit seinem Beitritt zur Europäischen Union 1972 Zuzügler aus dem Commonwealth gearbeitet. Die Grenzöffnung 2004 für Migranten aus Osteuropa hatte einen massiven Zuzug von Polen zur Folge, die die größte Gruppe in Großbritannien, die zweitgrößte in Irland ausmachen. Was Nordeuropa betrifft, fanden dort viele Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten seit 1975 Asyl. Südeuropa schließlich, eine alte Region der Arbeitsemigration und des Exils (fuoriusciti, die aus dem faschistischen Italien geflohen sind, spanische Republikaner, Portugiesen auf der Flucht vor dem Salazar-Regime, 437

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Griechen, die dem Obristenregime entkommen sind), ist Mitte der 1980erJahre eine Immigrationsregion geworden. Alle diese Migrantenwellen und ihre zeitliche Staffelung geben einen Überblick über die mannigfaltige Migrationslandschaft.

Migrationsschicksale in den Erinnerungen Seit Mitte der 1980er-Jahre gibt es immer mehr „postmigrantische“ Lieder, Filme, Romane, Autobiografien, Essays, Theaterstücke, die jüngere Immigrationserfahrungen thematisieren und ein dauerhaftes, nicht auf ihr Aufnahmeland beschränktes Publikum erreichen. Ein Beispiel unter anderen ist Azouz, ein Junge vom Stadtrand (2001, französisches Original 1986), in dem Azouz Begag seine schwierige Kindheit als Immigrantenkind in Lyon erzählt und das zur geschätzten Schullektüre geworden ist, während Hanif Kureishis Der Buddha aus der Vorstadt (1990), der von der BBC verfilmt und von David Bowie vertont wurde, vielfach übersetzt worden ist. Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani, ein prominenter Intellektueller, entwickelt seine politische Reflexion in Bezug auf seinen familiären und persönlichen Hintergrund, während die Filme von Fatih Akin von den Erfolgen und dem Unbehagen der zweiten deutsch-türkischen Generation handeln. Im Bereich der Populärkultur bietet der Sport eine ideale Gelegenheit, die Integration von Talenten mit Migrationshintergrund in Szene zu setzen und die verschiedenen Epochen miteinander zu vergleichen. Die allfälligen Entgleisungen heutiger Spieler werden umso mehr bedauert, als sie einen eklatanten Kontrast zur Generation „black-blanc-beur“, das heißt der aus schwarzen, weißen und arabischen Spielern bestehenden Generation von Zinédine Zidane bilden, die – hochgelobt – ihrerseits zwangsläufig mit der von Michel Platini und Jean Tigana verglichen wurde, diese wiederum wurde am großen Raymond Kopa (Kopaszewski) gemessen, dem französischen Stürmer polnischer Herkunft der 1950er-Jahre. Mit leichter Zeitverzögerung ist das Modell dasselbe in Deutschland, wo der erste Einsatz von Spielern türkischer oder afrikanischer Herkunft die Gelegenheit bot, an den bedeutenden Anteil polnischer Spieler, die bereits in der Zwischenkriegszeit in Deutschland spielten, zu erinnern. Dieses Phänomen ist nicht auf Westeuropa begrenzt. Ein Spieler nigerianischer Herkunft wurde Anfang des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts Mitglied der 438

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polnischen Nationalmannschaft und Schweden hat lange auf seinen Star Zlatan Ibrahimović gezählt. Aber diese mediatisierten Beispiele wirken wie vom dominierenden Bild abgekoppelt, das im Wesentlichen das einer Arbeitsmigration bleibt und nur selten als Siedlungsmigration konzipiert ist. Der Bevölkerungsrückgang und die dauerhafte Präsenz von Menschen islamischer Kultur sind noch „undenkbar“. Die Flüchtlingskrise ab 2014 bedeutete für Europa eine neue Herausforderung, die die Infragestellung der Immigrations- und Asylpolitik der Abkommen von Schengen (1985) und Dublin (1990) zur Folge hatte. Die verschärfte Sicherheitspolitik hat den massiven Zuzug von Asylbewerbern (2014 625 000, 2015 1,2 Millionen) infolge der syrischen, aber auch irakischen und afghanischen Krise sowie der am Horn von Afrika nicht verhindern können. Die Versuchung ist groß, die nationalen Grenzen zu schließen, wie es die zentral- und osteuropäischen Länder getan haben, zumal die Krise der Solidarität zwischen europäischen Nationen durch den Vormarsch der extremen Rechten verstärkt worden ist. Deutschland, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs drei Viertel der Flüchtlinge in Europa aufgenommen hat, zeichnete sich durch die Ankündigung seiner Kanzlerin Angela Merkel aus, ihr Land sei bereit, 2015 800 000 Asylbewerber aufzunehmen. Die anderen westeuropäischen Staaten haben das Prinzip einer „Lastenverteilung“ nur sehr zögerlich akzeptiert (160 000 Asylbewerber, die auf 28 europäische Länder aufgeteilt werden sollten). Zur selben Zeit sind im Mittelmeer von 2000 bis 2015 25 000 Menschen gestorben und haben so in einem Klima fast allgemeiner Indifferenz das Mare Nostrum in einen Friedhof verwandelt. Dennoch dürfte die Schließung der Grenzen weiter andauern, da sie trotz der sporadischen Wirkung beschämender Bilder des 20. Jahrhunderts durch die Meinungsumfragen und den Aufstieg der extremen Rechten beglaubigt wird. Sie hat zur Ausweitung der Abschiebezentren, der Wartezonen, der Mauern (wie in Ceuta und Melilla, spanischen Enklaven in Marokko), hot spots in Italien und Griechenland und zu Stacheldrahtzäunen wie in den zentraleuropäischen Ländern der Balkanroute geführt. Nach einem Bericht des UN-Flüchtlingskommissariats (HCR) von 2015 ist Griechenland vor Italien das Land, in dem die meisten Asylbewerber ankommen. In der öffentlichen Meinung wird die fehlende Solidarität mit dem Kampf 439

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gegen den Terrorismus gerechtfertigt, mit dem die Flüchtlinge und die urbane Gewalt in Verbindung gebracht werden.

Die zweite Generation Die 1980er-Jahre sind eine Übergangsperiode. Einerseits wird den damaligen europäischen Ländern, die die Arbeitsmigration ausgesetzt haben, nach und nach die Dringlichkeit einer Aufnahmepolitik bewusst, die häufig mit einer Rückführungspolitik verknüpft ist (Deutschland 1972, die Niederlande 1975, Frankreich 1977). Zugleich wird eine interkulturelle Politik, die häufig auf die Rückkehr ins Herkunftsland ausgerichtet ist, in die Tat umgesetzt. Der Begriff Integration, der in Frankreich von dem im kolonialen Algerien der 1950er-Jahre verwendeten Wort herkommt, ersetzte damals den der Assimilation, der seit den 1880er-Jahren in Gebrauch war. Andere Länder wie Großbritannien und die Niederlande führten den Begriff Multikulturalismus ein, der aus den Vereinigten Staaten und vor allem aus Kanada kam, wo er zuerst die Koexistenz zwischen Französisch- und Englischsprachigen bezeichnete und dann auf die neuen Zuzügler angewandt wurde. Das Phänomen der zweiten Generation mit Migrationshintergrund machte sich immer mehr in den Vorstädten des ältesten Einwanderungslandes Europas, Frankreich, bemerkbar. Im Lauf der Jahre 1975–1985 wurde in den europäischen Ländern eine Politik umgesetzt, die den Immigranten neue Rechte eingeräumt hat und die den Wechsel vom Migranten zum Staatsbürger begünstigen sollte. Lokale politische Rechte wurden den (europäischen und nichteuropäischen) Ausländern zugestanden, so in Schweden 1975, in Dänemark 1981, in den Niederlanden 1985 und heute in 15 europäischen Ländern, die Schweiz eingeschlossen (im Kanton Neuchâtel seit 1848). In Frankreich zählte das Ausländerwahlrecht, Dauerbrenner der politischen Debatten, 1981 zu den 101 Maßnahmen des Präsidentschaftskandidaten François Mitterand und wurde 2012 von François Hollande wiederaufgenommen, ohne dass es eingeführt worden wäre. Die im Vertrag von Maastricht 1992 definierte Unionsbürgerschaft hat den Bürgern der Union gemäß der Regel der Gegenseitigkeit der Rechte zwischen Europäern das aktive und passive Kommunalwahlrecht eingeräumt (Artikel 8). Hinsichtlich des Wahlrechts der Nicht-EU-Bürger hat zwischen Ländern mit 440

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Bodenrecht wie Großbritannien und jenen mit Blutrecht wie Italien das Gewicht der Tradition den Ausschlag gegeben.

Diskriminierungen Mehr als die europäischen Staaten bringt vor allem Europa die Bürgerschaft der Immigranten und der Menschen mit Migrationshintergrund voran, da die Einsicht, dass die Immigranten bleiben und die folgenden Generationen Staatsbürger sein werden, immer mehr um sich greift. Im Gefolge Großbritanniens, Vorreiter in diesem Bereich (Commission for Racial Equality, 1976), wird der Kampf gegen Diskriminierung in einer europäischen Direktive von 1999 festgeschrieben und wird so ab dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts obligatorisch Teil der Gesetzgebung der europäischen Länder. Die politische Förderung der Diversität, was nicht dasselbe ist, ist eine Antwort auf die Affirmative Action in den Vereinigten Staaten. Seit Mitte der 1990er-Jahre revoltieren die jungen Europäer mit maghrebinischem oder afrikanischem, in Großbritannien pakistanischem Migrationshintergrund gegen die andauernden Diskriminierungen: Gesichtskontrollen, willkürlicher Polizeigewahrsam und willkürliche Inhaftierung. Ihre Staatsbürgerschaft und ihre Zugehörigkeit zu den europäischen Ländern werden wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Vorstadtvergangenheit und wegen des Verdachts, sie gehörten zu den radikalisierten islamischen Randgruppen, angezweifelt. Mörderische Terroranschläge, die von europäischen Staatsbürgern muslimischer Kultur begangen wurden, die glaubten, ihr Platz sei nicht mehr in Europa und man müsse kämpfen, um den bewaffneten islamistischen Extremismus im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika zu unterstützen, fanden in Frankreich (1995, 2012, 2015, 2016), Spanien (2004), Großbritannien (2005, 2017) und Belgien (2016) statt. Die Fundamentalisten ihrerseits halten die europäische Lebensweise für gottlos und korrupt. Die Radikalisierung wird von Jugendlichen getragen, die in der Islamisierung der Gewalt einen Sinn für ihr Leben gefunden haben. Die urbanen Revolten verfolgen ein anderes Ziel: Sie finden nicht im Namen des Islam statt, sondern im Namen des Verrats der offiziellen Werte der Gleichheit und Brüderlichkeit im heutigen politischen, sozialen und institutionellen Kontext. Die ersten gewalttätigen Unruhen in französischen Städten haben ab dem Ende der 441

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1970er-Jahre stattgefunden. Andere folgten 1995 und 2005, wobei sich ein tiefsitzendes Gefühl, ausgeschlossen zu werden, manifestierte. Ähnliche Aufstände, deren Bilder sich dauerhaft in den Köpfen festsetzten, fanden 2011 in London statt.

Die Präsenz des Islam Zur gleichen Zeit hat sich der Islam in Europa dort, wo er nicht schon präsent war, in seiner Vielfalt – Maghrebiner, Türken, Afghanen, subsaharische Afrikaner, Pakistani, Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten – festgesetzt. Es handelt sich im Wesentlichen um einen friedlichen Islam, der jedoch seine Präsenz durch den Bau von Moscheen, muslimische Friedhofsabteilungen, verschleierte Frauen, Halal-Fleisch und muslimische Buchhandlungen demonstrieren will. Er gerät häufig mit den säkularen Gesellschaften in Konflikt, die darin manchmal den Willen sehen, sich über die westlichen Werte des Individualismus, der Menschenrechte und der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau hinwegzusetzen. Obwohl alle europäischen Staaten mit einem unterschiedlichen Instrumentarium und philosophischen Zugang das Zusammenleben fördern wollen und die Integration, anders als die Flüchtlingsströme, nicht in die Zuständigkeit der Europäischen Union fällt, stellt man fest, dass die angewandten Methoden übereinstimmen. Frankreich und Großbritannien haben ein weitgehend inklusives Staatsbürgerschaftsgesetz beschlossen und viele europäische Staaten, die früher auf dem Blutrecht beruhten, haben zu Beginn der 1990er-Jahre ein Gleichgewicht zwischen Bodenrecht und Blutrecht hergestellt, was den Erwerb der Staatsbürgerschaft betrifft. Dennoch bestehen weiterhin Verständnisschwierigkeiten: Dies betrifft etwa das Tragen des Kopftuchs im öffentlichen Dienst, das seit 2004 in Frankreich im Unterschied zu vielen europäischen Staaten verboten ist. Der Mangel an Moscheen hat viele Gemeinden dazu veranlasst, Grundstücke für den Bau muslimischer Gotteshäuser bereitzustellen, um die Gebetsräume in Kellern und Garagen zu vermeiden, aber einige Länder haben es vorgezogen, die Verwaltung des Islam den muslimischen Gemeinden zu übertragen.

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Neue imaginäre und imaginierte Grenzen Viele europäische Länder haben ihre nationale Identität, ausgehend vom Konzept der Nationalstaaten, entwickelt, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Folge des Zusammenbruchs der großen, oft multikulturellen Reiche (Österreich-Ungarn, Russland, Osmanisches Reich) entstanden sind, aber auch verschiedene Minderheiten diskriminiert haben (Juden, Armenier, Aleviten, Protestanten). Diese auf der Sprache, der Kultur und manchmal der Religion beruhenden Identitäten schlossen die Immigration nicht ein, denn manche dieser Länder waren auch Auswanderungsländer. Sobald sie Aufnahmeländer geworden sind, haben diese Länder häufig den Anteil der Immigranten an ihrer nationalen Geschichte unterdrückt und die Nachfahren von Immigranten, für die diese Abstammung in ihrer neuen Heimat keinerlei Bedeutung mehr hatte, haben manchmal durch eine fremdenfeindliche Einstellung gegenüber den Neuankömmlingen die Tür hinter sich geschlossen. So hat Frankreich, wo jeder vierte Franzose einen ausländischen Vorfahren zählt, einen mächtigen Gründungsmythos auf einer autochthonen Ahnentafel aufgebaut, der oft als nationaler Roman herhalten muss. Einige versteifen sich auf den „großen Austausch“ zwischen „echten“ Franzosen und den Immigranten, ein Mythos der extremen Rechten, bei dem die Moscheen an die Stelle der Kirchen treten und die Araber und subsaharischen Afrikaner alle Führungspositionen anstelle der weißen und christlichen Europäer besetzen würden. Dies ist die unterschwellige Botschaft der Essays von Thilo Sarrazin in Deutschland oder des Romans Unterwerfung von Michel Houellebecq. Die Geschichte ist trotz allem in beide Richtungen verlaufen: Byzanz hat seinen Platz an Konstantinopel und dann an Istanbul abgetreten und die Hagia Sophia, die Sophienkirche, wurde in eine Moschee verwandelt, während in Andalusien die Moscheen von Sevilla und Córdoba Kathedralen geworden sind. Das Gedächtnis früherer Migrationen ist zentral in der Definition der europäischen Identität, die sich dort konstituiert hat, wo die muslimischen Eroberer zurückgedrängt wurden: Europa war nach den Niederlagen der Türken und Araber auf Malta, in Granada, Wien und Lepanto stärker geworden. Der andere wurde daraufhin nur mehr gefeiert, um den Kolonialismus (wie auf der Kolonialausstellung 1931 in Frankreich) 443

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oder den Beitrag der Kolonialtruppen in den zwei Weltkriegen aufzuwerten, den der Film Tage des Ruhms (2006) von Rachid Bouchareb mit Stolz und Bitterkeit in Erinnerung ruft. Mit neuen, vornehmlich aus dem Süden kommenden Migrationsströmen (Flüchtlinge, Arbeiter, Familien, Studenten) konfrontiert, betrachten die Europäer Europa durch das Prisma eines europäischen Romans, der den Migrationen den Rücken zukehrt oder ihnen nur sehr wenig Platz einräumt, indem er die „autochthonen“ Identitäten aufwertet. Dem zwischen 1990 und 2000 in Großbritannien, dann in Deutschland (Multikulti) oder in den Niederlanden propagierten Multikulturalismus wird heute misstraut, da man ihn verdächtigt, den Kommunitarismus zu begünstigen. Manche ziehen die nationale Einheit oder die Wahrung ethnisch-nationaler Identitäten vor – wie die zentral- und osteuropäischen Länder angesichts der jüngsten Migrationen. Wenn sich die Grenze zum anderen verschoben hat  –  die Westeuropäer werden in den Ländern, in denen sie leben, nicht mehr als Fremde gesehen, außer solche mit nichteuropäischem, armem, sichtbarem und muslimischem Migrationshintergrund  –, so sind andere Grenzen verstärkt worden: um Europa durch Mauern, Lager, Abschiebe- und Haftzonen vor den Neuankömmlingen zu schützen, um die Ausgrenzungszonen von den Stadtzentren fernzuhalten, um den Islam von den christlichen Kulturen abzugrenzen, was in mehrheitlich säkularisierten und wenig praktizierenden Gesellschaften paradox anmutet. Ein anderes Paradox: Diejenigen, die die ethnische, kulturelle, soziale Durchmischung praktizieren, sind die Europäer selbst, besonders die Volksschichten (Mischehen, Doppelstaatsbürgerschaft, Interkulturalität), die zwei oder drei Generationen später in populären und sentimentalen Filmen wie der burlesken deutsch-türkischen Komödie Almanya von Yasemin S¸amdereli, L’auberge espagnole  –  Barcelona für ein Jahr (über die Erasmus-Studienaufenthalte) von Cédric Klapisch, Nur für Personal! von Philippe Le Guay (über die spanischen Dienstmädchen in Paris) oder P ­ ortugal, mon amour von Ruben Alves verklärt werden.

Die Immigration wird als Gefahr gesehen Dennoch ist es schwierig, den Europäern zu sagen, sie lebten in der größten Immigrationsregion der Welt, selbst wenn die Anzahl der Ausländer 444

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relativ gering bleibt. Viele Europäer sehen heute in der Immigration vor allem eine Gefahr, eine Herausforderung, eine Bedrohung ihrer Lebensweise (besonders des Wohlfahrtsstaats), ihrer Identität. Sie verschließen sich der Tatsache, dass die Immigration auch ihre Identität und ihr Kollektivgedächtnis verändert hat, und ziehen sich lieber auf sich selbst zurück. Die Moscheen werden nur mehr ungern im Stadtbild toleriert. Die Einwanderungsmuseen finden in Europa nur mühsam ihren Platz, während es in Amerika immer mehr davon gibt. Beispielhaft ist Paris, wo das 2007 gegründete Museum erst 2014 eröffnet wurde, während die Museen in New York (Ellis Island), Buenos Aires oder São Paulo, wo jeder seine Wurzeln wiederfinden will, allgemeine Zustimmung finden. In seinem Roman Und dennoch leben sie beschreibt Alberto Moravia die Haltung der Offiziere der Befreiungsarmee in Kampanien (Zentral­ italien) angesichts der Verzweiflung einer Frau, deren Tochter in einer Kirche von muslimischen Soldaten, die wahrscheinlich der französischen Kolonialarmee angehörten, kollektiv vergewaltigt worden ist. Für die Generäle gibt es da nichts zu sagen und nichts zu sehen, diese Frau ist verrückt. Was zählt, ist der Kampf gegen den anderen, den Faschismus und den Nazismus, und diese Muslime sind mit ihnen im Krieg verbündete Befreier. Die Grenze verläuft also anderswo, zwischen deutschen Nazis und italienischen Faschisten einerseits und der Befreiungsarmee, die nichteuropäische Muslime umfasst, andererseits. Heute ist diese Grenze in einer Opposition verankert, die gegen die nichteuropäische Immigration und gegen den Islam konstruiert worden ist. Trotzdem sind die Militärfriedhöfe, die europäische Arbeitergeschichte, die Klassenkämpfe, der Sport, die Volkskunst voll von Kollektivgeschichten, die die Einwanderung einschließen. Was die Eliten angeht, vergisst man allzu häufig die großen Architekten wie Gustave Eiffel (geborener Bonickhausen), die Romanciers, die Maler, die Modeschöpfer, die Filmregisseure und -schauspieler, die Komponisten und Interpreten, die Sporthelden, die Wissenschaftler wie Marie Curie. Viele Symbole Europas sind von Ausländern erfunden worden und viele große Männer (und Frauen) wie Leonardo da Vinci, Immanuel Kant, Wolfgang Amadeus Mozart oder Ludwig van Beethoven waren zuerst Europäer und erst nachrangig Natio­nalbürger.

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Literatur Klaus J. BADE, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. Sophie BODY-GENDROT und Catherine WIHTOL DE WENDEN, Policing the Inner City and France, Briain and the US, New York 2014. Gérard NOIRIEL, Le Creuset français. Histoire de l’immigration, Paris 2006. John REX und Guharpal SINGH, The Governance of Multiculturalism, Aldershot 2004. Camille SCHMOLL, Hélène THIOLLET und Catherine WIHTOL DE WENDEN, Migrations en Méditerranée, Paris 2015. Michel WIEVIORKA, La Diversité, Paris 2008.

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„Das alte Europa“ Dieser Begriff war in erster Linie der Name, den die Neue Welt – Amerika – Europa gegeben hatte. Heute jedoch kristallisiert sich um diesen Begriff eine Debatte über den Platz der Europäer in der Moderne, die lange von ihrer zivilisatorischen Mission überzeugt waren.

Alexis de Tocqueville, L'Ancien Régime et la Révolution, erschienen bei Michel Lévy Frères, Paris 1856.

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„Das alte Europa“ brachte es zum Wort des Jahres 2003: Der rechtskonservative US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld hatte im Januar 2003 mit seiner Erklärung, Frankreich und Deutschland stellten „ein Problem dar“ und seien für ihn das „alte Europa“, für beträchtliche Furore und scharfe Gegenworte gesorgt. Mit beträchtlicher rhetorischer Wucht konterte etwa Jürgen Habermas, es sei eine merkwürdige Verkehrung der Fronten, wenn Rumsfeld – „der Politiker des von außen erzwungenen ‚Regimewechsels’ und der Theoretiker des ‚preemptive strike’“ – das neue, gegen den realpolitischen Zynismus der Abgebrühten agierende Europa „das alte“ nenne. „In der Kritik seiner europäischen Freunde begegnen ihm die preisgegebenen eigenen, die nordamerikanischen Ideale des 18. Jahrhunderts.“ Und der Theaterregisseur Luc Bondy ergänzte: „Wenn Herr Rumsfeld nun verächtlich sagt, das friedenssüchtige Europa sei eben ‚das alte Europa’, dann ehrt uns dies. Wenn das alte Europa, das den Krieg gekannt hat, nun die Vernunft und die Raison besitzt, den Krieg nicht mehr zu wollen, dann bin ich für dieses alte Europa, das das neue Europa ist.“1

Der Spiegel der USA Als Rumsfeld mit seinem spitzen Statement das „alte Europa“ gegen ein „neues“ ausspielen wollte, konnte er auf einen fest verankerten rhetorischen Topos bauen. Denn seit zwei Jahrhunderten bereits heißt Europa einzuordnen, den Vergleich mit Amerika zu suchen. Amerika „hat es besser als unser Kontinent, das alte“, ließ 1827 Johann Wolfgang von Goethe verlauten, während Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur selben Zeit mit weit weniger Enthusiasmus notierte, Europa verhalte sich zu Amerika wie Hamburg zu Altona oder Frankfurt zu Offenbach. Hegels Urteil war freilich ambivalent, denn in seinen Augen war Amerika nicht nur eine abhängige Peripherie Europas, sondern zugleich ein von Tradition und hergebrachten Blockaden unbeschadeter, freier Entwicklungsraum.2 Mehrere Dekaden später äußerte sich Max Weber nach einer dreimonatigen 1 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Januar 2003. 2 Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien: Den Vereinigten Staaten, in: Goethes Werke: Weimarer Ausgabe, Weimar 1889–1919, WA I, 29, S. 156; Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Werke, Bd. 12: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 109 ff.

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Rundreise durch die Vereinigten Staaten ebenfalls zwiespältig: Zwar habe Amerika Kräfte in einem positiven Sinn entwickelt, aber es sei zweifelhaft, ob es einem erschöpften Europa als Vorbild dienen könne.3 Wenn Europäer Amerika beschrieben, beschrieben sie sich also auch immer selbst. Diese Selbstbeschreibungen fielen sehr unterschiedlich, oft durchaus selbstkritisch aus. Der Begriff altes Europa stammt aus dem Arsenal der Rhetorik der Französischen Revolution. Sie sagten Ancien Régime, wenn sie die Zeit vor 1789 meinten. Alexis de Tocqueville hat anlässlich einer Studienreise nach Nordamerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der dortigen Demokratie die Herrschaft der Massen vorhergesehen und mit ihr ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte hinaufziehen sehen, das ungeachtet mancher Kontinuitäten scharf vom Ancien Régime – so der Titel eines seiner Hauptwerke, L’Ancien Régime et la Révolution (1856) – abzusondern sei. Karl Marx hat aus dem Ancien Régime eine Gesellschaftsformation gemacht, von ihm Feudalismus genannt, und das alte Europa im Kommunistischen Manifest zum Reizbegriff ausgebaut: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.“4

Europa als Zivilisation Das „neue Europa“ entwarf sich als zivilisierende, die Moderne repräsentierende Macht, die mithilfe kolonialer Herrschaft Licht in die Kontinente des Südens bringt. Dies lässt sich etwa an den Rechtfertigungen jener Zeitgenossen aufzeigen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die koloniale Eroberung Afrikas forderten. Die Vorstellung von Afrika als eines von Sklaverei durchzogenen Kontinents, der von seinen eigenen Tyrannen unterdrückt und vom Pfad zu Zivilisation, Christentum und Handel ferngehalten wurde, war seit den 1860er-Jahren zentral für die Missionspropaganda und die Antisklavereibewegungen sowie eine wesentliche Komponente des für das europäische Lesepublikum 3 Vgl. Claus Offe, Selbstbetrachtung aus der Ferne, Tocqueville, Weber und Adorno in den Vereinigten Staaten, Frankfurt a. M. 2004, S. 42. 4 Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1975 [1848], S. 41.

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zugänglichen Wissens über Afrika. Besonders populär und wirksam waren in diesem Zusammenhang die Bücher des schottischen Missionars David Livingstone, der ausgezogen war, die Afrikaner zu christianisieren und vom Joch der Sklaverei zu befreien. Sklaverei zerstöre, schrieb er, alle Anreize, sich in der Landwirtschaft und Lohnarbeit zu engagieren. Die auf koloniale Expansion drängenden Kräfte verfügten nun über ein neues schlagkräftiges Argument und vermochten die koloniale Aufteilung Afrikas gar noch als humanitären Kreuzzug gegen Sklaverei und Sklavenhandel auszugeben. Die starke Hand des Kolonialstaates schien vonnöten, ja sogar die einzige Chance, um die Afrikaner gleichsam vor ihrer eigenen Gewalt zu schützen und nebenbei den Kontinent auch wirtschaftlich für die vermeintlichen Wohltaten des „rechtmäßigen“ Handels zu „öffnen“.5 Abolitionistische Rhetorik zählte also zu den zentralen Rechtfertigungsstrategien bei der Etablierung des europäischen Kolonialismus in Afrika. Oder zugespitzt formuliert: Der politische Kampf gegen Sklavenhandel und Sklaverei, der in den 1780er-Jahren begann, führte gleichsam in die Kolonisierung Afrikas ein Jahrhundert darauf. Kennzeichnend für die Abolitionsbewegung, die vor allem in England präsent war, erscheint das zunächst eher unkoordinierte Zusammenspiel von religiös erweckten Propheten und Moralisten. Sklaverei wurde von ihnen als Sünde und Verbrechen gegen die göttliche Vorsehung aufgefasst, der Kampf gegen die Sklaverei mithin als Kreuzzug individueller und nationaler Sündenreinigung geführt. Der Appell an das Mitleiden mit den Versklavten verknüpfte sich mit der Verheißung des reinen Gewissens. Für das Agieren gegen Sklaverei und Sklavenhandel kamen also Ideologie und Politik eine besondere Bedeutung zu. „Die Sklaverei“, fasst Jürgen Osterhammel die Mehrheitsmeinung der Forschung zusammen, „wurde nicht beseitigt, weil sie dem wirtschaftlichen Fortschritt im Wege stand, sondern weil sie politisch und moralisch nicht mehr länger zu verteidigen war.“6 1807 fand eine Gesetzesvorlage, die den Sklavenhandel mit britischen und anderen Kolonien für unrechtmäßig erklärte, große Mehrheiten in beiden Häusern des Londoner Parlaments. Knapp 40 Jahre später verbot das 5 Vgl. Frederick Cooper, Afrika in einer kapitalistischen Welt, in: Shalini Randeria und Andreas Eckert (Hg.), Vom Imperialismus zum Empire. Nicht-westliche Perspektiven auf die Globalisierung, Berlin 2009, S. 54. 6 Jürgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, München 2000, S. 54.

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­ ritische Parlament auch den Besitz von Sklaven. Andere Mächte wie b Frankreich folgten, später auch die Vereinigten Staaten.

Der opportunistische Kampf gegen die Sklaverei Der Erfolg der Antisklavereibewegung stand in Großbritannien im Einklang mit einem nach dem Verlust der nordamerikanischen Kolonien neu formulierten nationalen Interesse. Der Kampf gegen die Sklaverei wurde zu einem Kennzeichen nationaler Tugend, zu einem Mittel, mit dem die Briten die anderen mit ihrer vermeintlich angeborenen Liebe zur Freiheit beeindrucken und sich selbst in Momenten der Verzagtheit Mut zusprechen konnten. Auf längere Sicht profitierte die herrschende Klasse Großbritanniens am stärksten von der Abolitionsbewegung, die gleichwohl keineswegs ein konservatives Unternehmen war, sondern von breiten Bevölkerungsschichten getragen wurde. Doch der Kampf gegen die Sklaverei legitimierte zum einen die imperiale Vormachtstellung Großbritanniens in der Welt, schien doch, wie Linda Colley schreibt, der Kreuzzug gegen die Sklaverei ein weiterer Beleg und zugleich Garantie für seine Ausnahmeposition unter den Nationen zu sein. „Britische Kanonenboote segelten unter Gottes Schutz, weil sie Gottes Werk vollführten.“7 Zum anderen konnte die abolitionistische Doktrin innenpolitisch die neue industriegesellschaftliche Ordnung absichern helfen, indem sie dafür grundlegende soziale und moralische Werte wie freie Marktwirtschaft und Selbstverantwortung anpries.8 Die neue Hinwendung zu staatlichen Interventionen im überseeischen Handel und in der Produktion, wie sie sich zum Ende des 19. Jahrhunderts vollzog, entsprach den wachsenden sozialen Interventionen von Regierungen in Europa selbst – den staatlichen Bemühungen, „respektable“ Arbeiterklassen zu schaffen. Das „alte Europa“ hatte in Zeiten des Sklavenhandels von der Gewalt in Afrika profitiert und diese zusätzlich stimuliert. Das „neue Europa“ hingegen plädierte nun für eine berechenbare und geordnete wirtschaftliche Expansion.9 Ein solches Denken 7 Linda Colley, Britons. Forging the Nation 1707–1837, New Haven 1992, S. 360. 8 Vgl. Albert Wirz, Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, Frankfurt a. M. 1984, S. 195. 9 Vgl. Frederick Cooper, Conditions Analogous to Slavery. Imperialism and Free Labor Ideology in Africa, in: ders. et al., Beyond Slavery. Explorations of Race, Labor, and Citizenship in Postemancipation Societies, Chapel Hill/London 2000, S. 116.

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manifestierte sich nicht allein in den europäischen Metropolen, sondern gleichsam auch „vor Ort“, in Afrika selbst, wo sich die verbreitete Gewalt negativ auf europäische Handelsinteressen auswirkte und komplizierte Debatten über die Frage auslöste, wo und wie europäische Regierungen intervenieren sollten, um kommerziellen Besitz zu schützen und wirtschaftlichen Fortschritt zu sichern. Kolonialismus konnte einer eher skeptischen Öffentlichkeit in Europa, die nicht recht davon überzeugt war, dass vom Kolonialismus mehr als einige Abenteurer profitieren würden, mithilfe einer Rhetorik erklärt werden, die an die Notwendigkeit des Fortschritts appellierte, über den auch in Europa so viel gesprochen wurde. Hervorzuheben ist, dass diese moralische Vision weitaus internationaler war als der von Großbritannien angetriebene Kampf gegen den Sklavenhandel nach 1807. Sich selbst inszenierten die imperialen Mächte als zivilisationsbringend, die Afrikaner hingegen als Sklavenhalter, zur Ordnung und Selbstkontrolle nicht fähig. Die europäischen Mächte würden kooperieren, um jene Strukturen zu schaffen, die eine geregelte und rationale Nutzung afrikanischer Ressourcen und Arbeitskraft ermöglichen.

Kolonisation: eine Mission Koloniale Herrschaft stand seit ihren Anfängen immer wieder unter Rechtfertigungsdruck. Und selbst dann, wenn viele Vertreter und Akteure des kolonialen Projektes eine Art „natürlichen“ Herrschaftsanspruch verspürten, so sorgten die Kolonisierten ebenso wie Kritiker im „Mutterland“ dafür, dass der Kolonialismus oder zumindest zentrale Aspekte davon, etwa die Gewalt, immer wieder neu legitimiert werden mussten. Die Zivilisierungsmission war die wohl einflussreichste Rechtfertigungsideologie des Kolonialismus im 19. und 20. Jahrhundert. Sie besagte, dass die Kolonisierten zu primitiv seien, um sich selbst regieren zu können, jedoch zur Besserung fähig seien. Das Zivilisierungsprojekt der Kolonialmächte, das die Bevölkerung der kolonisierten Gebiete zu disziplinierten Bauern oder Arbeitern und zu willfährigen Subjekten eines bürokratischen Staates machen wollte, gab den Anstoß zu einem Diskurs über die Frage, wie viel „Zivilisierung“ diese Untertanen bräuchten und welche politischen Folgen zu viel Zivilisierung haben könnte. Allgemein wollten Kolonialbeamte ihre Untertanen zu „perfekten Eingeborenen“, 452

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nicht zu „Nachbildungen von Europäern“ machen. Die Vorstellung von einer Zivilisierungsmission eröffnete jedoch auch den Kolonisierten Handlungsspielräume und gab ihnen einen wichtigen Bezugspunkt für ihre Beschwerden und Proteste sowie die Durchsetzung ihrer Interessen.

Europa auf dem Prüfstand Insgesamt war die Rhetorik der Zivilisierungsmission charakterisiert durch eine Spannung zwischen Borniertheit und Universalismus, Sendungsbewusstsein und Herrschaftswahn, teleologischer Geschichtsbetrachtung und Entwicklungsnegation, dem Insistieren auf kultureller Überlegenheit und realer Unfähigkeit, der Rhetorik der Assimilation und der Angst, von der Fremde verschlungen zu werden. Kritik am zivilisatorischen Sendungsbewusstsein aus der Sicht der Kolonisierten ist vielfach überliefert. Eine berühmte Legende besagt, dass Mahatma Gandhi, als er einmal von einem jungen amerikanischen Journalisten gefragt wurde: „Mr. Gandhi, was halten Sie von der westlichen Zivilisation?“, nach kurzem Nachdenken geantwortet habe: „Ich denke, es wäre eine gute Idee.“ Wesentlich schärfer nahm Aimé Césaire, der große Dichter der Négritude, Europa ins Gericht. Er äußerte in seinem 1955 publizierten Discours sur le colonialisme den Verdacht, die Weißen könnten Adolf Hitler nicht das Verbrechen am Menschen an sich nicht verzeihen, sondern, so Césaire, „dass es die Demütigung des Weißen ist und die Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren“.10 Die von Césaire in zornigen Worten beklagte Verharmlosung – gar Negierung – kolonialer Verbrechen und Gewalt rüttelte an der verbreiteten Ansicht, die Europäisierung der Erde sei letztlich ein Projekt des Fortschritts gewesen und habe die Kolonisierten vor Schlimmeren bewahrt. Als Césaire seine Schrift veröffentlichte, lag das europäische koloniale Projekt augenscheinlich bereits weitgehend in Trümmern. Die europäischen Besitzungen in Asien hatten mit wenigen Ausnahmen die Unabhängigkeit erlangt, in Afrika nahm der Prozess der Dekolonisation Fahrt auf und sollte binnen weniger Jahre zum Ende der Kolonialherrschaft in weiten Teilen des Kontinents führen. 10 Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Berlin 1968 [1955], S. 12.

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Frantz Fanon schließlich, der radikale Theoretiker der Dekolonisation, argumentierte mit Macht, die „Dritte Welt“ solle Europa endgültig den Rücken kehren. Sie stehe, schrieb er in der Schlussfolgerung seines zuerst 1961 publizierten Buches Les damnés de la terre, „heute als eine kolossale Masse Europa gegenüber; ihr Ziel muss es sein, die Probleme zu lösen, die dieses Europa nicht hat lösen können […]. Also, meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, indem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind. Die Menschheit erwartet etwas anderes von uns als diese fratzenhafte und obszöne Nachahmung. Wenn wir Afrika und Lateinamerika in ein neues Europa verwandeln wollen, dann vertrauen wir die Geschicke unserer Länder lieber den Europäern an! Sie werden es besser machen als die Begabtesten unter uns. Wenn wir jedoch wollen, dass die Menschheit ein Stück vorwärts kommt, wenn wir sie auf eine andere Stufe heben wollen als die, die Europa innehat, dann müssen wir wirkliche Erfindungen und Entdeckungen machen […]. Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen.“11

Bumerang Die Kritik an Europa durch nichtwestliche Intellektuelle und Politiker erfährt in den vergangenen Jahren zunehmendes Interesse. Diese Kritik hebt nicht zuletzt hervor, Europa sei ein Kontinent unter vielen, keineswegs aber Modell und Referenz für den Rest der Welt, so der indische Historiker Dipesh Chakrabarty. Dies geschieht in einem Kontext, der einerseits durch beschleunigte ökonomische Globalisierung und zunehmende Migration, andererseits durch den wachsenden Trend zu nationalen und anderen Formen des kulturellen Essenzialismus geprägt ist. In Europa wird der islamische Fundamentalismus als wichtigste (und bedrohlichste) Form des Antiwesternismus gesehen. Der radikale Islamismus ist eine hochmoderne Ideologie, die sich gegen Internationalismus und Säkularismus in der islamischen Welt richtet. Das Unbehagen in Europa über die mit dem Aufstieg radikaler Ethnonationalismen verbundenen Konflikte und Spannungen hat damit zu tun, dass dies nicht 11 Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. 1966 [1961].

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nur ein Problem vermeintlich unterentwickelter Staaten ist, sondern im Herzen Europas stattfindet. Der Historiker Anthony G. Hopkins schreibt: „Das unvorhergesehene Erscheinen eines virulenten Stammes durchsetzungsfähiger Ethnizität hat nicht nur fremde und uns sehr ferne Völker hervorgebracht, sondern auch Gesellschaften, deren Nähe zu unserer eigenen sehr groß ist: Die ‚Barbaren‘ sind nicht nur innerhalb der Mauern, sondern wir sind die ‚Barbaren‘“. Und Partha Chatterjee ergänzt: „Den Nationalismus betrachtet man heute als eine dunkle, elementare, unberechenbare Kraft, die die geordnete Ruhe des zivilisierten Lebens bedroht. Was einst erfolgreich an die Außengrenzen der Erde verbannt wurde, kehrt nun durch die längst vergessenen Provinzen Habsburg, des Zaren und des Osmanischen Reichs nach Europa zurück. Wie Drogen, wie Terrorismus und illegale Einwanderung ist es ein weiteres Produkt der Dritten Welt, das der Westen nicht mag, aber nicht verbieten und kontrollieren kann.“12 Insofern wenden sich die Produkte der westlichen Modernisierung gleichsam gegen sie selbst.

Erleuchtung: unerfüllte Versprechen Gleichzeitig wird der Westen für ein hohes Maß an Scheinheiligkeit heftig kritisiert: Schon immer und bis heute sei das europäische Projekt der Aufklärung in der Praxis durch Doppelstandards und Widersprüche geprägt. In der Tat scheinen der – in sich ohnehin sehr heterogene – westliche Lebensstil und damit auch dessen zugrunde liegenden Ideen nicht universalisierbar. Der sich verändernde Diskurs offenbart die Schwächen des Vorbilds Europa und bringt eine Situation zum Ausdruck, in der europäisches Denken nicht mehr als Leitbild der globalen Debatte über gesellschaftliche und politische Ordnungen dient. Die vergangenen beiden Dekaden haben überdies mit Nachdruck eine Relativierung des „westlichen Skripts“ als global zentrale Referenz und Taktgeber offenbart. Außerhalb Europas gewinnen stärker eigenständige oder sich jedenfalls dezidiert von Europa absetzende Ideen an Bedeutung und verändern so den globalen Diskurs, wobei sich diese Ideen aus einer Vielzahl von Quellen 12 Anthony G. Hopkins, Back to the Future. From National History to Imperial History, in: Past & Present 164 (1999), S. 198–243; Partha Chatterjee, The Nation and Its Fragments. Colonial and Postcolonial Histories, Princeton 1993.

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speisen. Dabei spielt die wachsende ökonomische Potenz zahlreicher nichtwestlicher Staaten (insbesondere Chinas) offenkundig eine wichtige Rolle für die Attraktivität zumindest vordergründig nichtwestlicher Ideen. Gegenwärtige Debatten über einen spezifischen chinesischen Kapitalismus werden etwa in Afrika diskutiert; brasilianische und indische Intellektuelle stehen in engem Austausch über „eigene“ Wege sozialer Gerechtigkeit. Einige Anregungen, die in starkem Bezug zu nichtwestlichen Regionen entstanden, erlangen weltweite Resonanz, etwa Amartya Sens Überlegungen zu Wohlfahrt und Armutsbekämpfung in seinem Buch The Idea of Justice (2009). In vielen Teilen der Welt ist Europa überdies als Ratgeber oder wenigstens Gesprächspartner auch nur noch bedingt erwünscht. Dies erfolgt mit Verweis auf die Existenz von Innovationsorten jenseits von Europa, aber auch auf die zahlreichen falschen und nicht eingelösten Versprechen Europas. Die Enttäuschung über die vermeintliche Selbstabschottung und Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden anderer, dieser „traurigen Mutation im Herzen der säkularen Moderne“13, offenbarte sich unlängst auch in vielen Kommentaren nichtwestlicher Intellektueller über die geringe Beachtung des Massakers, das die Terrorgruppe Boko Haram an 2000 Menschen in Nigeria um die gleiche Zeit verübte, als die Attacke auf Charlie Hebdo in Paris stattfand. „Schwarze, die Schwarze töten, haben Europa noch nie gekümmert.“14

Geteilte Geschichten Lange Zeit haben vor allem Kulturwissenschaftler sich dafür interessiert, wie der Transfer von Ideen Veränderungen in den Gesellschaften bewirkt, die Ideen importieren und übernehmen. In diesem Paradigma des Einflusses beziehungsweise der Verbreitung europäischer Ideen erschienen die Wege der Ideen vornehmlich als Einbahnstraßen und die vorherrschende Frage war die nach dem Verhältnis von bereits vorhandenen, „traditionalen“ und importierten, „modernen“ (= europäischen) Ideen. Diese Ansätze haben freilich übersehen, dass sich Ideen nicht verpflanzen und transferieren lassen, als ob ihnen die Reise nichts antun könnte. 13 Pankaj Mishra, After the Paris attacks. It’s time for a new Enlightenment, in: The Guardian vom 20. Januar 2015. 14 Tariq Ali, It didn’t need to be done, in: London Review of Books 37,3 vom 5. Februar 2015.

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Tatsächlich verändern sich in Transferprozessen nicht nur die aufnehmenden Gesellschaften, sondern auch die Ideen selbst. Daher können Abweichungen auch nicht als kulturelle Missverständnisse oder Fehllektüren abqualifiziert werden, denn auf diese Weise würden die komplexen Prozesse der Adaptation, der Veränderung und der Appropriation ausgeblendet. Erst eine Betonung der Aneignungsweisen wird der Hybridität der Ideen in der modernen Welt gerecht und ermöglicht es, die Vorstellung von machtfreien Ideen (häufig gedacht als universale Ideen westlicher Provenienz) zugunsten einer Kontextualisierung und Historisierung der Ideen und ihrer Routen zu überwinden. Erst dann kommen auch die vielfältigen „Rückwirkungen“ der Ideen auf Europa in den Blick. Die Zirkulation von Ideen zwischen Europa und den ehemaligen Kolonien verlief nicht auf Einbahnstraßen, sondern hat auch in den „westlichen“ Zentren ihre Spuren hinterlassen, wenngleich die Art und Weise des Austausches in hohem Maß asymmetrisch blieb. Die Attraktivität westlicher Konzepte und Ideen soll in diesem Zusammenhang natürlich nicht bestritten werden. Die Idee der „Entwicklung“ etwa sagte nach 1945 den Politikern der „unterentwickelten“ Gesellschaften ebenso zu wie den Menschen in den „entwickelten“ Ländern. Denn sie ließ beide an dem intellektuellen Universum und der moralischen Gemeinschaft teilhaben, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Kontext weltweiter Entwicklungsinitiativen entstand. Diese Gemeinschaft teilte die Überzeugung, dass die Linderung der Armut durch ökonomische und soziale Selbstregulierung allein nicht möglich sei. Vielmehr bedürfe es konzertierter Interventionen von Regierungen armer und reicher Länder in Zusammenarbeit mit der wachsenden Gruppe internationaler Hilfs- und Entwicklungsorganisationen. Menschenrechte stehen für eine zentrale westliche „Idee“, die insbesondere nach 1945 im Kontext einer neuen Weltordnung weite Verbreitung fand und kontrovers debattiert wurde. Der Versuch, diese Idee und damit verbundene Praktiken durchzusetzen, ging einher mit Verweisen auf die Hypokrisie Europas, nicht zuletzt im spätkolonialen Kontext. Die Kolonialmächte würden Menschenrechte predigen, in ihren eigenen Kolonien aber nicht durchsetzen. Andererseits gab diese Idee vielen Politikern der kolonisierten Welt ein wichtiges Argument an die Hand.15 15 Andreas Eckert, African Nationalists and Human Rights, 1940s to 1970s, in: Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Human Rights in the Twentieth Century, New York 2011, S. 283–300.

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Frantz Fanon, der vielen als eine Art postkolonialer Theoretiker avant la lettre gilt, schrieb einmal, Europa sei das Produkt der „Dritten Welt“ und formulierte damit auf zugespitzte Weise eine der Grundeinsichten des Postkolonialismus. Die sogenannte New Imperial History hat diese Idee ein Stück weit aufgegriffen, etwa in ihrer Entdeckung der „Gegenströme“ des Kolonialismus, die die Vorstellung von einem einseitigen Transfer von der Metropole in die Kolonie infrage stellte. Gleichwohl schien Europa trotz aller neuen räumlichen Kategorien wie „global“, „transimperial“ oder „transkolonial“, die die Dichotomien von „Metropole – Kolonie“ oder „Zentrum – Peripherie“ zu überwinden helfen sollten, noch immer im Zentrum der neuen Narrative zu stehen. Der analytische Rahmen des Nationalstaates wurde zwar partiell gesprengt, zugleich erfuhren Imperien eine Art Nationalisierung als „Britisch“, „Niederländisch“ oder „Französisch“. Dies ging einher mit dem Fortbestehen des alten nationalgeschichtlichen Diskurses beziehungsweise nationalgeschichtlicher Logiken in zahlreichen Studien und Essays zu Europa. Christian Geulen hat seinerzeit gar den Verdacht geäußert, „ob man in den letzten fünfzehn Jahren vielleicht deshalb so genau die Erfindung nationaler Traditionen in der Vergangenheit untersucht hat, um zu lernen, wie man – nun mit Blick auf Europa – so was macht“.16 Steht, fragte parallel Étienne Balibar in seinem Buch Nous, citoyens d’Europe (2001), das Projekt Europa tatsächlich, wie immer wieder verkündet wird, für die Überwindung des Nationalen und nationaler Konflikte? Oder werden wir nicht gerade Zeugen, wie Nationalismus, oft gepaart mit Rassismus, auch in europäischen Kernländern eine neue Dynamik entfaltet? Kommt der Natio­nalstaat nun lediglich im europäischen Gewand daher?17

Jenseits nationaler Räume Diese vor über einem Jahrzehnt geäußerte Sorge ist aktueller denn je. Zugleich rückte das Konzept der „verwobenen Geschichte“ oder „Verflechtungsgeschichte“ mit Nachdruck die Notwendigkeit in den Blick, 16 Christian Geulen, Zwischen Wahn und Wahrheit. Die entstellte Wiederkehr der Vergangenheit: Europa als Wille und Vorstellung kommt vom Prinzip der Nation nicht los – obwohl es sich als dessen Überwindung begreift, in: Frankfurter Rundschau vom 18. Dezember 2002. 17 Vgl. Étienne Balibar, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg 2003.

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Vorstellungen von nationalen Räumen grundsätzlich anders zu fassen. Denn der Kolonialismus, so die damit einhergehende Einsicht, verband nicht so sehr einzelne kolonisierende Nationen Europas mit ihren kolonisierenden Nachbarn oder ihren jeweiligen Kolonien. Vielmehr waren etwa einzelne Städte  –  Paris, London, Hamburg, aber auch Wien oder Zürich  –  auf unterschiedliche Art und Weise mit den verschiedenen Kolonien verknüpft, abhängig von den verschiedenen translokalen Netzwerken und Kreisen, in denen ihre Handelshäuser, Wissenschaftler oder Einwanderer agierten. Wie das Beispiel der Schweiz zeigt, waren selbst europäische Nationen ohne formale Kolonien Teil des kolonialen Projektes und profitierten von ihm. Überdies zirkulierten in der Schweiz koloniale Diskurse und Imaginationen, Wissensbestände und Waren innerhalb wissenschaftlicher und kommerzieller Communitys, durchdrangen das politische Leben und färbten die Alltagskultur. Europäische Selbstrepräsentationen und Selbstverständnisse sind untrennbar mit „imperialen Fantasien vom ‚Eigenen’ und ‚anderen’“ verbunden, und zwar sowohl in den europäischen Ländern mit Kolonien als in jenen ohne koloniale Besitzungen. Gerade der „informelle Imperialismus“ der nichtimperialen europäischen Nationalstaaten mag eine Reihe von Lektionen zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Funktionsweisen von soft power in Abwesenheit direkter territorialer Kontrolle bereithalten. Schließlich erlaubt uns der Blick auf Europa durch die Linse des Kolonialismus, Prozesse des „internen Kolonialismus“ nachzuvollziehen  – Strukturen ökonomischer Ausbeutung und repressiver Herrschaft in Irland etwa oder die Behandlung von Minoritäten wie den Roma in Ostund Westeuropa. Fatima El-Tayeb hat auf die „spezifischen europäischen Formen der ‚unsichtbaren’ Rassifizierung“ verwiesen, die in symptomatischen Konturen „kolonialer Amnesien“ oder „kolonialer Unschuld“ ihren Ausdruck findet.18 Es wäre ein reizvolles Unterfangen, diese Formen des aktiven Löschens von Erinnerung mit der viel beschriebenen Konstruktion von Erinnerungsorten zusammenzubringen. Die Geschichte Europas ist, wie Pierre Nora richtig erfasst hat, unter dem Druck kollektiver Erinnerungen geschrieben worden. Aber sie ist ebenso unter dem Druck des kollektiven Vergessens geschrieben 18 Fatima El-Tayeb, European Others. Queering Ethnicity in Postnational Europa, Minneapolis 2011.

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worden. Kollektive Erinnerungen und kollektives Vergessen sind Teil einer „geteilten Geschichte“, die (west)europäische Nationalstaaten wie das alte Europa als Ganzes mit der nichteuropäischen Welt verbindet.19 Eine Geschichte, die sowohl eint als auch entzweit. Und eine Geschichte, der sich Europa wieder mit Nachdruck stellen muss – gerade in einer Zeit, in der ein zunehmend rabiater Nationalismus, der Brexit und Politiker wie Donald Trump Europa erneut alt aussehen lassen.

Literatur Boris BARTH und Jürgen OSTERHAMMEL (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005. Aimé CÉSAIRE, Discours sur le colonialisme, Paris 1955. Dipesh CHAKRABARTY, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, aus dem Engl. von Robin Crackett, Frankfurt a. M./New York 2010 [2000]. Frantz FANON, Les Damnés de la terre, Paris 2002 [1961]. Shalini RANDERIA und Andreas ECKERT (Hg.), Vom Imperialismus zum Empire. Nichtwestliche Perspektiven auf die Globalisierung, Frankfurt a. M. 2009. Shalini RANDERIA, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: Jörn Rüsen, Hanna Leitgeb und Norbert Jegelka (Hg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt a. M. 1999, S. 87–96. Andrew C. ROSS, David Livingstone. Mission and Empire, London/New York 2004. Amartya SEN, Die Idee der Gerechtigkeit, aus dem Engl. von Christa Krüger, München 2017 [2009]. Albert WIRZ, Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, Frankfurt a. M. 1984.

19 Shalini Randeria, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne, in: Jörn Rüsen et al. (Hg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt a. M. 1999, S. 87–96.

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SANJAY SUBRAHMANYAM

Ein Schritt zur Seite – Europa und die Welt „Europa“: Das ist und war immer eine unfertige und fragwürdige Kategorie, vor allem angesichts der Unsicherheit bezüglich ihrer physischen und demografischen Grenzen. Seit dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit stellen insbesondere die überseeischen Kontakte ein privilegiertes Laboratorium dar, um die verschiedensten Definitionen zu testen. Wenn hier Europa noch einmal „demontiert“ wird, dann weniger als Idee, sondern als eine von innen und außen wahrgenommene Einheit mit ihren konkreten Bewohnern.

Portugiesische Gesandte besuchen Japan. Ein Detailausschnitt eines japanischen Wandschirms des Malers Kano Naizen (1570–1616).

SANJAY SUBRAHMANYAM

In dem berühmten Gedicht Elegía evozierte Jorge Luis Borges das eigene Schicksal, „durchkreuzt zu haben die vielen Meere der Welt / oder das einzige und einsame Meer der vielen Namen“1. Wenn einem die Gewohnheit, dem „único y solitario mar“ verschiedene Namen zu geben, etwas willkürlich, ja absurd vorkommen mag, kann man dann nicht dasselbe von der Erde und ihren Kontinenten sagen? Welchen Unterschied gab es schließlich zwischen dem „Europa“ genannten Gebilde und dem Rest des eurasischen Kontinents? Ist die regelmäßige Verschiebung der Grenzlinie zwischen Europa und Asien, die erst im Lauf des 18. Jahrhunderts in einem eher fragwürdigen Abkommen zwischen Russland und Schweden festgelegt wurde, nicht an sich das Zeichen einer tief sitzenden Unsicherheit bezüglich der wirklichen physischen und demografischen Grenzen Europas? Haben die Europäer selbst immer genau gewusst, wo sie sich befanden und wo ihre anderen waren? Es ist nützlich, diese Fragen zu stellen, weil sich viele Europäer (besonders im Westen) heute vorsätzlich weigern, sie zu stellen. In ihren Augen ist die Identität Europas stabil und solide und dies immer gewesen, im Allgemeinen, weil sie „Europa“ weniger als geografische denn als transzendierende und gar zivilisatorische Einheit sehen. Man stellt so – auch beiderseits der Scheidelinie zwischen denen, die „Europa“ als politisches Projekt befürworten, und denen, die es ablehnen – die Existenz eines oberflächlichen und nachlässigen Korpus gemeinsamer Hypothesen darüber fest, was Europa und seine Grenzen ausmacht. Sie werden von den einen bekräftigt, von den anderen stillschweigend akzeptiert. Mein Ziel hier ist also, in gewisser Weise „Europa“ zu demontieren, indem ich mich weniger auf Europa als Idee konzentrieren will (wie es sogar diejenigen tun, die „Europa provinzialisieren“ wollen), sondern als konkrete geografische Einheit, die von konkreten menschlichen Gruppen bewohnt wird. Mein zeitlicher Ausgangspunkt kann nur das 15. Jahrhundert sein, als die iberischen Königreiche (und in geringerem Ausmaß die italienischen Stadtstaaten) langsam ihre Handels- und Eroberungsnetze zum Atlantik hin ausdehnten. Ihre ersten Kontakte und Konflikte betrafen relativ vertraute Bevölkerungen, die des Maghreb. Diese waren seit Langem ihre Nachbarn und vor allem in Bezug auf die Iberische Halbinsel und Sizi1 „O destino el de Borges / haber navegado por los diversos mares del mundo / o por el único y solitario mar de nombres diversos“; Elegía, 1964, aus dem Spanischen von Otto Wolf.

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lien manchmal sogar ihre Lehnsherren gewesen. Da der wesentliche Unterschied zwischen den Bewohnern des Maghreb und den Iberern in der Religion bestand, spielte der binäre Gegensatz zwischen Christ und Maure von Anfang an eine außerordentlich große Rolle. Diese Opposition beruhte auf der Überzeugung, dass Letztere, auch wenn ein Teil des Glaubens der Mauren (und spezieller jene Elemente, die den Propheten Mohammed und seine Offenbarungen betrifft) falsch sei, mit den Christen dennoch die Erbschaft anderer Propheten, heiliger Stätten und Erzählungen teilten. Als sie jedoch die afrikanische Küste entlangfuhren, trafen die Iberer und die Italiener auf andere, weniger vertraute Völker. Das Problem verschärfte sich, als sie sich einerseits an die Eroberung Amerikas machten und andererseits mit Indien Handelsbeziehungen aufnahmen. Sie bezeichneten die ihnen noch weniger vertrauten Völker dieser neuen Gebiete recht unscharf und umfassend als „Heiden“, aber versahen sie immer mehr mit Beinamen, die sich auf die Hautfarbe und die Rasse bezogen wie negro (oder preto). Die Iberer und Italiener wurden ihrerseits von ihren muslimischen Nachbarn mit einem Wort bezeichnet, das bereits seit mehreren Jahrhunderten in Gebrauch war: Afranj oder „Franke“. Diese Bezeichnung ging auf die Epoche der Kreuzzüge zurück und sollte vor allem die Untertanen der westlichen christlichen Mächte von den Byzantinern unterscheiden, die die Muslime für gefestigter und vernünftiger hielten. Die Kreuzzüge hatten das dauerhafte Gedächtnis der extremen Brutalität der Franken hinterlassen, nicht nur gegen ihre muslimischen Gegner, sondern auch gegen ihre eigenen Glaubensgenossen, die Christen des Orients. So fällt auf, dass der Name, der die Iberer nach 1500 nach Osten in den Indischen Ozean begleitet hat, gleichbleibend „Franke“ war, ob auf Persisch, Tamil, Malaysisch oder sogar Chinesisch (Folanji). Er wurde dauerhaft mit Charakterzügen wie Hinterlist, Verschlagenheit, Verstellung assoziiert, den hauptsächlichen Eigenschaften dieser Leute in den Zeugnissen und wiederkehrenden Beschreibungen im gesamten Bereich des Indischen Ozeans. Und es war wohlgemerkt in diesen Gebieten, in denen einheimische politische Verbände zumindest bis 1750 am erfolgreichsten Widerstand gegen die imperialen Pläne der Iberer, dann der Holländer und Engländer leisteten. Man muss selbstverständlich zwischen all den beschriebenen Beziehungen und dem, was in Amerika und im subsaharischen Afrika geschah, 463

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unterscheiden. Rein materiell gesehen funktionierte die Trias „Kanonen, Mikroben und Stahl“ (um den Titel des Werks Guns, Germes, and Steel von Jared Diamond aufzunehmen) für die Iberer an manchen Orten viel besser als an anderen. Der verbreitete Mythos, dass die iberischen Eroberer (und später andere Westeuropäer) von den eingeborenen Völkern wie Götter begrüßt worden sind, ist natürlich eine zweckorientierte Lügengeschichte, wenn sie auch in gewissen Fällen ein Körnchen Wahrheit enthalten mag. Dieser Mythos hatte allerdings wenig Aussicht, der Bewährungsprobe eines längeren Zusammenlebens standzuhalten. Ein oder zwei Generationen nach der Eroberung haben amerikanische Autoren wie Inca Garcilaso de la Vega (1539–1616) viel einfühlsamer verstanden, wer ihre Eroberer waren und warum sie gesiegt hatten. Dieses Verständnis schloss eine Diagnose der Schwächen der präkolumbianischen politischen Systeme ein, deren Konsolidierung oft erst jungen Datums war und die sich unter dem Druck der Konquistadoren (die – das war bekannt – ja auch nur Menschen, ja sehr unvollkommene Menschen waren) schnell gespalten haben. Am Ende des 16. Jahrhunderts haben andere Länder Westeuropas, zuvörderst die Niederlande und England, aber in gewissem Ausmaß auch Frankreich, den überseeischen Eroberungs- und Kolonisierungsplänen der Iberer nachgeeifert. Diese neuen Mächte probierten ein komplexes Spiel aus; es lag ihnen viel daran, sich als den Iberern – die sie häufig durch eine leyenda negra ihrer unnötigen Grausamkeit gegen nichteuropäische Völker bezichtigten – moralisch überlegen darzustellen, doch führten sie gleichzeitig das iberische Projekt in großen Zügen fort. In diesem Kontext erwies sich das Konzept von der Mittelpunktstellung „Europas“ insofern als wirklich sinnvoll, als es eine Geschichte von Staaten präsentierte, die trotz innerer Unstimmigkeiten verschiedene Varianten eines gleichen Plans verfolgt hätten. In Amerika, in Afrika und in dem maritimen Asien suchten die Westeuropäer weniger ihre Differenzen als ihre Gemeinsamkeiten zu unterstreichen. So war „Europa“ zu Beginn der Neuzeit großteils eine ausbaufähige Kategorie, wobei die überseeischen Eroberungen ein privilegiertes Laboratorium darstellten, um die verschiedenen Definitionen zu testen und infrage zu stellen. Was ihre Mitmenschen der nichteuropäischen Welt betrifft, tendierten diese auch dazu, die Westeuropäer trotz ihrer inneren Divergenzen als eigene Kategorie zu betrachten, ohne notwendigerweise 464

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Osteuropa (grosso modo den Bereich des orthodoxen Christentums) derselben Kategorie zuzuordnen. Osmanische Intellektuelle, die sicherlich die intensivsten diplomatischen und Handelsbeziehungen mit Italien, Frankreich und anderen europäischen Staaten unterhielten, begriffen oft auf subtile Weise ihre innere Dynamik. Dennoch betrachteten sie sie weiter als „Franken“ und behandelten sie mit einem gerechtfertigten Misstrauen. Die mogulische Elite Indiens verfügte im 18. Jahrhundert ebenfalls über eine komplexe und differenzierte Kenntnis der europäischen Geopolitik. Dies hinderte sie nicht, sich auf Europa als bilad-i-Afranj („das Gebiet der Franken“) zu beziehen, dessen Bewohner trotz ihres unleugbaren Erfindungsreichtums als notorisch stolz, gewalttätig und hinterlistig dargestellt wurden. Die Kampagne, die dazu bestimmt war, das Christentum in den überseeischen Gebieten zu verbreiten, war ohne Zweifel ein wesentlicher Faktor im kollektiven Identitätsgefühl der „Europäer“. Der TokugawaStaat in Japan widerstand diesem Druck mit aller Schärfe und wies um 1640 die Iberer schließlich aus, während die Holländer nur unter drakonischen Bedingungen weiter Handel treiben durften. Nicht alle Ausländer waren von dieser Politik der Stärke betroffen und es ist noch schwierig, genau zu sagen, ob das Hauptkriterium der Japaner die „europäische“ oder die „christliche“ (kirishtan) Identität war, genauso wenig, wie man weiß, welche Rolle in diesem Fall das Bewusstsein der konfessionellen Unterschiede spielte. Die zweite massive Welle der Kolonialexpansion, die um 1750 begann, wog zweifellos schwer, was das Bild betrifft, das man sich schließlich von „Europa“ und seinen Grenzen machte. Während die Religion diesbezüglich weiterhin einen zentralen Platz einnahm, stellten die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts geführten kolonialen Experimente viel stärker rassisch begründete Konzeptionen der Unterschiede zwischen den Kontinenten in den Vordergrund. Sie stützten sich auf verschiedene pseudowissenschaftliche Entdeckungen, die die in allen Teilen der Welt kursierenden Rassentheorien anwandten. Es handelte sich dabei um Auseinandersetzungen, die oftmals in anderen Räumen als denen der vergangenen Jahrhunderte stattfanden. Die „schwarzen“, „braunen“ und „gelben“ Rassen waren selbstverständlich von Beginn an aus jeder „Europa“-Konzeption ausgeschlossen. Aber auch die russische Intelligenzija grämte sich, weil sie nicht recht wusste, ob sie „wirklich“ Euro465

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päer oder einfach nur Asiaten waren. Desgleichen führte der Untergang des Osmanischen Reiches dazu, sich die Frage zu stellen, ob es für die Türken besser wäre, sich im Osten nach Asien oder im Westen nach Europa hin zu orientieren, eine immer noch aktuelle Debatte. Die kreolischen Nationalisten, die in den 1770er-Jahren in den entstehenden Vereinigten Staaten, dann nach 1810 in Spanischamerika hervortraten, fragten sich ihrerseits, ob ein „Europa jenseits Europas“ in der Folge der kolonialen Ansiedlungsprojekte der aus Westeuropa stammenden Bevölkerungen möglich sei. Warum auch nicht, auch diese konnten sich nun auf das Erbe der Aufklärung berufen. „Europa“ ist und war immer eine unfertige und infrage gestellte Erfindung, mehr in Bezug auf seinen konkreten Raum mit seinen Barrieren und seinen Grenzen als ein abstraktes Wesen. Wir können auch nicht außer Acht lassen, dass die Identität derjenigen, die dazugehören oder davon ausgeschlossen sind, manchen sehr wichtig, anderen hingegen völlig gleichgültig ist. Vorzugeben, dass Europa nur eine Zivilisation oder eine Idee ist, bedeutet, der konkreten Wirklichkeit der Debatte auszuweichen. Es kann keinen „europäischen Wert“ außerhalb der Europäer als konkreten Menschen oder außerhalb Europas als klar umrissenen Raums geben. Und diese Werte werden sich in einem Jahrhundert bestimmt ebenso sehr von den heutigen unterscheiden wie diese von den rassistischen Ideologien des 19. Jahrhunderts.

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ÉTIENNE FRANÇOIS / THOMAS SERRIER

Was heißt und zu welchem Ende studiert man europäische Erinnerungsgeschichte? Oder: Was haben wir durch unsere Weltreise über Europa entdeckt?

Warum eigentlich ein so umfangreiches Buch, warum so viele Autoren, aus so vielen Nationen? Haben wir denn auch nur im Traum tatsächlich geglaubt, mit diesen stattlichen drei Bänden eine definitive Antwort auf die Frage nach der europäischen Identität, der europäischen Geschichte und den europäischen Erinnerungskulturen präsentieren zu können? Mitnichten: Wie in der Einleitung schon erwähnt, wissen wir nur allzu gut, dass, wie Max Weber vor mehr als einem Jahrhundert in seinem Aufsatz Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) so trefflich formulierte, „es keine schlechthin ‚objektive‘ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der ‚sozialen Erscheinungen‘ unabhängig von speziellen und ‚einseitigen‘ Gesichtspunkten [gibt], nach denen sie  –  ausdrücklich oder stillschweigend, bewusst oder unbewusst  –  als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden“1. Mit seinem Fokus auf den Wandel kollektiver Erinnerungen im Lauf der Geschichte, mit seiner eigenen, durchaus situierten Entstehungsgeschichte ist unser Buch naturgemäß nicht mehr als ein Seismograf der Gegenwart. Diese Einsicht ändert allerdings nichts an unserer festen Überzeugung, dass es sich gleichwohl durch eine echte Pertinenz auszeichnet  –  trotz oder gerade wegen seiner kollektiven, experimentierfreudigen, multiperspektivisch gebrochenen Herangehensweise an ein Objekt der Vielseitigkeit, ja des Facettenreichtums 1 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904], zitiert von Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, S. 81.

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ÉTIENNE FRANÇOIS / THOMAS SERRIER

par excellence: Europa beziehungsweise Europa und die europäischen Erinnerungen.

Auch wir Europäer „sind Gedächtnis“ Die allererste Lehre, die wir aus unserer Arbeit gezogen haben, ist die Bestätigung, dass „wir Gedächtnis sind“, um den Biologen Martin Korte zu zitieren. Jeder unserer Beiträge zeigt auf seine Weise, wie jede Kollektivität ihre eigene, gruppenbildende beziehungsweise gruppenstabilisierende Erinnerungskultur produziert. Jede Erinnerungskultur stellt de facto einen „Mythos“ dar – in der positiven, sinnstiftenden Bedeutung Hans Blumenbergs, Claude Lévi-Strauss‘ oder Benedict Andersons. Eine Erinnerungskultur beruht viel mehr auf dem emotional bedingten Glauben an die Unteilbarkeit historischer Erfahrung als auf einem dialogisch abgesicherten Wissen. Erinnerungskulturen sind deshalb von der Sache her durch und durch subjektiv, selektiv und normativ. Vergangenheiten werden von sozialen Gruppen eben auch deshalb als gegenwärtig relevant wahrgenommen, weil die Menschen fest von ihrem Wahrheitsgehalt, ihrer Einzigartigkeit und Unantastbarkeit überzeugt sind, sodass ihre Geschichte und ihre Identität schlussendlich ein und dasselbe sind: existenzielle, sprich nicht verhandelbare Kategorien. Dabei stand für uns von Anfang an fest, dass die kollektiven Erinnerungskulturen nicht nur Vorstellungen und Diskurse sind, sondern vor allem gesellschaftliche Praxis. Sie sind durch ihre sozialen Dimensionen – von den wegweisenden „Erinnerungsunternehmern“ zur breiteren Partizipation – wie auch durch ihre institutionellen Aspekte – von offiziellen oder nicht offiziellen Gedenkveranstaltungen bis hin zu staatlichen und/oder zivilgesellschaftlichen Einrichtungen des kulturellen Gedächtnisses – charakterisiert. Vielleicht wird die Vergangenheit mit der Zeit tatsächlich zu einem fremden Land, einem foreign country, wie David Lowenthal es formulierte. Doch lebensgeschichtliche Fäden, gerade noch aufgespürte Überbleibsel verschlungener Zeiten, halbwegs dokumentierte Spuren, gerettete Fragmente nur halbwegs überlieferter Erzählungen ermöglichen es den Nachgeborenen, den Stab der Erinnerung von der Zeitzeugengeneration an sich zu nehmen. In Archiven, Museen und Bibliotheken, in den Schulen und Universitäten, in öffentlichen Gedenkritualen, aber auch im menschlich geschaffenen Land468

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schaftsbild und in der Architektur der Städte kristallisiert sich dann der Bezugsrahmen heraus, worauf das soziale Gedächtnis sich nun über die Generationen hinweg wird stützen können. Europa: Das ist sowohl ein Raum des „kommunikativen“ als auch des „kulturellen Gedächtnisses“. Beides wurde hier gleichermaßen berücksichtigt, um ihre Interaktionen wie auch den Übergang von einer Form des Gedächtnisses in die andere besser zu verstehen, hört man doch häufig, dass das alte Nachkriegsnarrativ von europäischem Frieden und Wohlstand die jüngeren Europäer weniger überzeugt, da der Zweite Weltkrieg und die Wiederaufbauphase in immer weitere historische Ferne rücken. Ob als Folge des Generationenwechsels oder aber binneneuropäischer Differenzen: Auf eindrückliche Weise wurde unsere wichtigste Eingangshypothese bestätigt, dass die europäischen Erinnerungskulturen – seien sie älteren oder jüngeren Ursprungs – niemals einheitlich und einvernehmlich, sondern fast immer von Asymmetrie und Ungleichheit gekennzeichnet sind. Sie existieren auf keinen Fall für sich allein, sondern sind immer mit anderen verflochten. Oft entspringen sie einem unmittelbaren Spannungsverhältnis etwa zwischen Nachbarnationen, Nachbarvölkern, Nachbarmächten; immer lassen sie sich in größere Zusammenhänge einordnen. Aus dieser Kontextabhängigkeit und grundsätzlichen Relationalität erklären sich nicht zuletzt die potenziellen Mehrfach(be)deutungen, der mehr oder minder akute Interpretationsstreit, der sich fast immer um sie rankt, und schließlich der stete Wandel, dem sie unterworfen sind. Um Erinnerungskulturen besser zu verstehen, sollte man zunächst ihre zutiefst existenzielle Bedeutung anerkennen. Gleichwohl sollte man nicht alles eins zu eins hinnehmen. Im Gegenteil: Sowohl Erinnerungskulturen als auch Meistererzählungen gehören kritisch hinterfragt, will man begreifen  –  wie Pierre Bourdieu es empfiehlt  –,  was sie unter bestimmten Bedingungen „glaubhaft“ macht, was diese Glaubhaftigkeit aber unter anderen Vorzeichen wieder infrage stellt.

Europa: anders und mehr als die EU und der Westen Die Europäische Union stellt sich oftmals – mit welcher Glaubwürdigkeit sei dahingestellt – als das „ganze Europa“ dar. Tatsächlich wird sie innerhalb wie außerhalb Europas für gewöhnlich mit Europa in eins gesetzt. 469

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Diese verkürzte Sicht ist auf den ersten Blick sicherlich nachvollziehbar. Die 28 Länder der Europäischen Union (EU) zählten 2018 mit insgesamt 513 Millionen Einwohnern mehr als zwei Drittel der Bevölkerung des Kontinents. Die EU ist durch eine seltene Kontinuität in der europäischen Geschichte sowie durch die vielen gemeinsamen Merkmale ihrer Länder gekennzeichnet (liberal-parlamentarische Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialstaat, Menschenrechte und Verzicht auf innereuropäische Kriege als ultima ratio der Konflikte), von den transnationalen Strukturen der Union nicht zu sprechen. Dies alles hat ohne Zweifel eine immense nachhaltige Wirkung, man denke an die Abschaffung der inneren Grenzen oder die Dynamik der Versöhnung. Der damit einhergehende zivilgesellschaftliche Prozess der Verflechtung „von unten“ mag zwar nicht so auffällig wie all die Krisen sein, die die Geschichte der „europäischen Integration“ von Anfang an und bis hin zum Brexit begleitet haben. Der langfristig alles entscheidende Einfluss des „verkannten Bürgers“, wie Hartmut Kaelble so trefflich schreibt, führt aber dazu, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der EU größer als oft vermutet ist und dass die jeweiligen nationalen Vergangenheiten immer mehr als zugleich national und europäisch, anders gesagt: als ein gleichermaßen getrenntes und gemeinsames Erbe wahrgenommen werden. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die EU eine junge Erscheinung ist, die lange Zeit ein Nebenprodukt des Kalten Krieges und der US-amerikanischen Vormundschaft war, dass sie sich erst nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Blocks über den ehemaligen Eisernen Vorhang erweitern konnte und dass sie nur allmählich zu einer politischen und bürgerlichen, ansatzweise auch sozialen und kulturellen Gemeinschaft geworden ist. Europa ist aber entschieden mehr. Und zwar nicht nur mit Blick auf seine vieldimensionale Gegenwart, sondern auch hinsichtlich seiner äußerst variablen geografischen Ausdehnung und seiner mehr als zwei Jahrtausende alten Geschichte. Europäische Länder, die nicht zur EU gehören, und so gut wie alle nichteuropäischen Länder wurden im Lauf der Geschichte von Europa tangiert. In der longue durée kann die Ineinssetzung von EU und Europa deshalb nur irreführend sein. Um es mit Reinhart Koselleck zu formulieren: Die Europäische Union stellt sicherlich einen bedeutsamen „Erfahrungsraum“ für die heutigen EUBürger dar – aber nicht nur für sie. Ein „Erwartungshorizont“ bleibt sie 470

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für viele EU-Bürger, aber eben nicht alle, während sie sehr wohl ein Magnet für viele europäische und außereuropäische Nicht-EU-Bürger ist. Somit beeinflusst die EU das „kollektive Gedächtnis“ ihrer Bürger, aber nicht ausschließlich ihres. Das hat mit den Überlappungen, aber auch mit den Unterschieden zwischen dem, was gemeinhin zu Europa gerechnet wird, und anderen, angrenzenden oder ferneren Regionen der Welt zu tun. „Der Westen“ etwa: Das ist, spricht man von Europa, die zweite geläufige Identifizierung, die jedoch einen nicht ganz unproblematischen normativen Kern besitzt. Der besonders in (West-)Deutschland verbreitete Begriff geht davon aus – wie vor allem von Heinrich August Winkler vertreten –, dass „der alte Westen, d. h. das Abendland[,] und der neue Westen, d. h. die USA“, eine für die ganze Welt vorbildliche „Wertegemeinschaft“ bilden.2 Die Führungsrolle der USA seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts steht selbstverständlich außer Frage. Noch heute nimmt ihre Wirtschaft den ersten Platz in der Welt ein; dies gilt auch für Wissenschaft, Technologie und Medien; militärisch sind die USA bei Weitem das mächtigste Land der Welt, von der weltweiten Ausstrahlung des amerikanischen way of life nicht zu sprechen. Ließe sich nicht zugespitzt sogar sagen, dass Europa „heute psychologisch abhängiger von den Vereinigten Staaten als vor 30 Jahren ist“, wie der ehemalige US-Botschafter in Deutschland John Kornblum kürzlich meinte?3 Soll das aber bedeuten, dass Europa nur ein Teil des „Westens“ wäre? Wer dies glaubt, übersieht, dass der so verstandene Westen eine indirekte Fortsetzung des Kalten Kriegs darstellt, die eine wiederholte Marginalisierung Osteuropas, des Balkanraums und Russlands zur Folge hat. Die These, nach der der „Westen“ identisch mit dem A und O der Weltgeschichte wäre, führt schließlich zu einer illusorischen Wahrnehmung: Die Erstplatzierung der USA geht nämlich zurück und das traditionelle Zusammenhalten mit Europa schwächelt schon seit Jahrzehnten. In einer globalen Welt müssen solche globalen Koordinaten jenseits alter Denkautomatismen neu gedacht werden.

2 Hans-Dietrich Genscher und Heinrich August Winkler, Europas Zukunft. In bester Verfassung?, Freiburg/Br. 2013, S. 43–44. 3 John Kornblum, Der Tagesspiegel, 4.8.2019.

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Deshalb stellt sich Europa in unserem Buch anders dar als der bloße Westen; deshalb ist es mehr als nur Europäische Union. Solche Kongruenzen sind nicht ausgeschlossen; sie mögen sogar ab und zu Sinn ergeben. Doch sind sie konjunkturelle Erscheinungen und eine Sache des Blickwinkels. Als starre Größen dürfen sie nicht verstanden werden. Europa, wie in diesem Buch verstanden, umfasst umgekehrt eine vielseitige und vielschichtige, konkrete, lebendige und sich wandelnde Realität. Gewiss werden die europäischen Erinnerungen heute entscheidend durch die Europäische Union bestimmt. Im Mittelpunkt dieser Bände, deren Ziel es ist, den unerschöpflichen Reichtum an erinnerungskulturellen Spiegelungen zu erhellen, stehen jedoch eine mehr als tausendjährige Tiefendimension sowie ein kontinental und global weitverzweigtes Geflecht an historischen Bezügen.

Die Vielfalt Europas Auch wenn es heute viele transnationale Institutionen gibt, auch wenn die EU in vieler Hinsicht eine übernationale Realität ist, so bleiben doch die Nation und der Nationalstaat entscheidend für das Verständnis der Geschichte Europas und seiner Gedächtniskulturen. Wie der Mediävist Hermann Heimpel (1901–1988) einmal bemerkte: „Dass es Nationen gibt, ist historisch gesehen das Europäische an Europa.“ Ohne Europa gäbe es keine Nationen, aber ohne Nationen auch kein Europa. Das Paradox ist längst bekannt: Trotz – oder vermutlich eher wegen – der Globalisierung und der EU-Erweiterung haben in Europa weder der Nationalstaat noch die nationalen Gedächtniskulturen an Anziehungskraft verloren. Europa zählt seit dem Zusammenbruch des Ostblocks vierzehn neue Nationalstaaten, weitere Neugründungen – auch im westlichen Europa – sind nicht ausgeschlossen, blickt man nach Katalonien, Schottland oder Flandern. Bis heute bietet der nationale Rahmen tatsächlich die wichtigste Struktur kollektiver Erinnerungen, was vielleicht gerade in der Art und Weise zu beobachten ist, wie besonders grenzübergreifende Themen wie das christliche Erbe, die europäische Aufklärung oder der Kapitalismus sich in Meisternarrativ und Symbolik auch immer national herunterbrechen lassen: Mit Immanuel Kant, David Hume, Voltaire, Cesare Beccaria, Katharina II., Joseph II. oder Stanisław II. August verfügt jedes europäische Land über landeseigene Ikonen der Aufklärung. 472

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Der Thematik der Grenzen und Abgrenzungen wurde deswegen nicht von ungefähr mit einer Vielzahl an einschlägigen Beiträgen eine zentrale Bedeutung in unserem Vorhaben beigemessen: Eine wichtige Erkenntnis aus unserem erinnerungsgeschichtlichen Großpanorama ist im Nachhinein tatsächlich, dass Europa auch Jahrhunderte, nachdem bestimmte Konflikte beigelegt wurden, ein Kontinent der Tausenden und Abertausenden Grenzen ist: Es mögen neben den fast als „klassisch“ zu bezeichnenden Grenzen wie dem Rhein oder der Berliner Mauer auch „unsichtbare Grenzen“ wie etwa zwischen Protestanten und Katholiken oder vergangene, aber weiterhin raumstrukturierende „Phantomgrenzen“ in Wahrnehmung, Erfahrung und Gestaltung sein, wie Béatrice von Hirschhausen so schön sagt. Mit der bleibenden Relevanz zweier wichtiger innereuropäischer Grenzen sahen wir uns bei der Arbeit immer wieder konfrontiert: einerseits der jahrtausendealten Scheidelinie zwischen der lateinischen und der griechischen Christenheit, auf der anderen Seite der viel jüngeren, sich erst im 18. Jahrhundert in Form von stereotypen Selbst- und Fremdbildern herauskristallisierenden, dafür aber durch die eigene Dramaturgie des Kalten Kriegs noch sehr emotional geprägten Grenze zwischen dem westlichen und dem östlichen Europa. Von „zwei Europa“ würden wir trotz allem nicht mehr reden wollen. Das war schon damals – und ist nun noch mehr angesichts der vielen neuen beziehungsweise wieder hervorgetretenen Brechungen – viel zu oppositionell gedacht, rückt man die sehr unterschiedlichen regionalen Entwicklungen seit drei Jahrzehnten in die Tiefenperspektive von mehreren Jahrhunderten. Binnengrenzen sind natürlich nicht das Einzige. Wie in vielen Abhandlungen nachzulesen ist: Europa ist ein Kontinent, der sich von Anfang an durch eine Abgrenzung von der islamischen/muslimischen Welt definiert hat – von der Schlacht von Poitiers über die Reconquista und die jahrhundertlange Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich bis hin zur Ablehnung der EU-Aufnahme der Türkei. Dass viele Länder wie Portugal, Spanien, England, die Niederlande, Frankreich, Belgien, Italien, Russland, aber auch Deutschland und Dänemark eine weltweite Kolonialausdehnung erlebten, führte darüber hinaus zu einer bleibenden Abgrenzung zwischen den Weißen auf dem Kontinent und den Nichtweißen in Übersee. Allerdings sollte man hinzufügen, dass die Außengrenzen der EU, die, unmittelbar politisch definiert, administra473

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tiver und juristischer Natur sind, etwas anderes als die Grenzen Europas sind, die durchaus ein brisantes Politikum darstellen, vor allem aber in den kulturellen und sozialen Repräsentationen schweben, die ihrerseits oftmals geschichtlich oder pseudogeschichtlich untermauert werden. Deshalb besteht der Bedarf des genaueren Hinschauens: Historisch gewachsene oder im Entstehen begriffene Identitäten lassen sich oftmals nur aus der Differenz oder „entlang der Gräben“ (Navid Kermani) verstehen, woraus sich ein aktueller Trend der Reiseliteratur und Grenzberichterstattung aus den alt-neuen Rändern des europäischen Kontinents  –  vom Kollaps des sowjetischen Imperiums bis zur vom Brexit überschatteten Gegenwart  –  besser begreifen lässt (man lese Ryszard Kapuściński, Geert Mak, Andrzej Stasiuk, Jurij Andruchowytsch, Paolo Rumiz, Rory Stewart oder den bereits erwähnten Kermani, um nur einige Autoren zu nennen). Die allgegenwärtige Bedeutung gegenseitiger Abgrenzungen in der europäischen Geschichte und die sich daraus herleitende Vielfalt der überwiegend national geprägten Erinnerungskulturen bedeuten allerdings auf keinen Fall, dass diese komplett voneinander getrennt wären. Das spezifisch Europäische an ihnen liegt im Gegenteil vielmehr darin, dass sie so gut wie alle strukturell miteinander verflochten sind. Nicht nur, dass alle europäischen Länder sich auf das Erbe der Antike (die altgriechischen Epen, die Philosophie und Demokratie, das römische Recht und das Römische Reich, die lateinische Sprache et cetera) berufen. Oder dass Grenzüberschreitungen konstitutiv waren (und mehr denn je sind) für die Herausprägung ihrer Kultur, Musik, Philosophie oder beispielhaft ihrer Literatur: „Laurence Sterne“, so listet Milan Kundera auf und hält damit eine genuin europäische Dynamik fest, „reagiert auf François Rabelais, und Denis Diderot wird von Laurence Sterne angeregt; Henry Fielding beruft sich ständig auf Miguel de Cervantes, und an Fielding misst sich Stendhal; die Tradition von Gustave Flaubert setzt sich im Werk von James Joyce fort, und Hermann Broch entwickelt in seiner Reflexion über Joyce seine eigene Poetik des Romans, während Franz Kafka Garcia Márquez klarmacht, dass es möglich ist, aus der Tradition auszuscheren und ‚anders‘ zu schreiben.“4 4 Milan Kundera, Der Vorhang, aus dem Französischen von Uli Aumüller, München 2005, S. 52–53.

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WAS HEISST EUROPÄISCHE ERINNERUNGSGESCHICHTE?

Im Gegensatz zu diesen Leuchtsternen europäischer Kulturgeschichte haben aber auch die ständigen Auseinandersetzungen, Konflikte und Kriege, die die europäische Geschichte bis heute kennzeichnen, bei der Ausformung eines großen zusammenhängenden Erinnerungsgeflechts eine zentrale Rolle gespielt. Um gleich ein fundamentales Beispiel zu nennen: Die zweitausendjährige Geschichte des Christentums in Europa lässt sich nur im Zusammenhang mit dem Judentum, dem es entsprungen ist, und dem Islam, mit dem es sich ständig auseinandersetzte, verstehen. Das Gleiche gilt in umgekehrter Weise für das Judentum wie auch für den Islam. Kultureller Austausch und Spannungsverhältnis gehören hier wie in etlichen anderen Beispielen aufs Engste zusammen. Getrennte, wenn nicht geradezu gegensätzliche Erinnerungen haben deshalb oftmals eine gemeinsame Matrix. So trägt die teilweise erfolgende Europäisierung der nationalen Erinnerungskulturen und der europäischen Erinnerungsorte, die als Folge des Friedens, der Annäherung und des Ausbaus der EU seit den 1950er-Jahren zu beobachten ist, immer noch die Züge des Wettstreits der Nationen aus dem „langen 19. Jahrhundert“ und der blutigen Auseinandersetzungen aus der Weltkriegsepoche. Mit Fokus auf das bereits angesprochene Thema Grenzen lässt sich sagen: Durch die häufigen territorialen Veränderungen, die neuen Grenzziehungen und die wortwörtlich zu verstehenden kulturellen Hinterlassenschaften, insbesondere in Grenzgebieten, zieht sich die Problematik der kulturellen Aneignung eines „fremd-“ beziehungsweise mehrfach kodierten Raumes wie ein Leitmotiv durch die europäische Geschichte hindurch. Wenn einem deutschen Leser vielleicht als Erstes das Kulturerbe ehemals deutscher, nunmehr polnischer Städte einfällt, für die Breslau/Wrocław oder Danzig/Gdańsk zwei Paradebeispiele liefern, so ist Vergleichbares als Erbe von Konflikten aus älteren Zeiten oder noch nicht vernarbten Dramen jüngster „ethnischer Säuberungen“ wie im ehemaligen Jugoslawien überall anzutreffen. Es ist vor diesem Hintergrund nur allzu verständlich, dass unsere Eingangshypothese zur Dialektik und Konflikthaftigkeit europäischer Erinnerungskulturen ohne Ausnahme von jeder einzelnen Abhandlung in allen drei Bänden bestätigt wurde. Wie schon oben bemerkt, sind Erinnerungskulturen alles andere als fest und endgültig. So betrachtet, sind vergangenheitspolitische Gesetze oder soziale Bemühungen der Sakralisierung eines Gedächtnisses nur fragile, oftmals vergebliche Versuche, 475

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den Fluss der Erinnerung zu stabilisieren, was die Dignität solcher Gesten nicht mindert: Wie in unserem Buch überall nachzulesen ist, sind die Sorge und der Wettstreit um Vergangenheitsdeutung oftmals auch deshalb von solch existenzieller Verbissenheit gekennzeichnet, weil ihre entscheidende gruppenbildende Rolle für die Gegenwart und die Zukunft den sozialen Akteuren durchaus bewusst ist.

Europa und die Welt oder: Wem gehören die europäischen Erinnerungen? Dem gewissen Gefühl der Europäer, dass sie gewollt oder ungewollt etwas miteinander teilen – ob in einer gemeinsamen Vergangenheit, in der Gegenwart oder in einer noch nicht klar definierten Zukunft –, sind wir dennoch in unseren drei Bänden Schritt für Schritt begegnet. So ist letztendlich auch das hier benutzte „Wir“ legitim, wenn auch als ein fragiles, stets im Wandel begriffenes „Wir“. In diesem Sinn, so ein wichtiges Fazit der Untersuchung, lässt sich sehr wohl von einer europäischen Identität sprechen. Frühere Gegensätze bergen in diesem Sinn ein eigentümliches Potenzial. Schlachten werde zu späteren Begegnungsorten – genauer: Wie viele hier untersuchte Beispiele und Gegenbeispiele zeigen, können sie es zumindest werden. In Zeiten des Zweifels kann der wiederholte Verweis auf die bereits überwundenen Gräben nach 1945 und 1989 durchaus dienlich sein. Dafür, so eine weitere Lehre, gilt es, die Geschichte europäischer Gegensätze als die eines gemeinsamen Erbes zu erzählen, auch wenn an dieser Stelle noch einmal an Tzvetan Todorovs bereits in der Einleitung zitierte Bemerkung über die „Europäer von morgen“ erinnert werden darf: Was bei der Suche nach einem „gemeinsamen“ Gedächtnis auf dem Spiel steht, ist letztlich die Anerkennung, dass „die Erinnerung des Nachbarn genau so legitim ist wie die eigene“. Da Europa heutzutage nur noch einen kleinen Teil der Welt darstellt, hängt seine Zukunft aber auch sicher von dem Selbstverständnis und der Positionierung der Europäer gegenüber der Welt ab. Lässt sich anhand von Erinnerungsdiskursen und Erinnerungspraktiken nicht konkreter erfassen, wer „wir“ sind, was einen Europäer ausmacht, also auch wer nicht dazugehört beziehungsweise dazugehören soll? Diese Doppelfrage in unserer Zeit zu stellen, ist zweifelsohne alles andere als 476

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komfortabel, denn – so viel spürt der Wissenschaftler bis in seinen legendären Elfenbeinturm – es ist nicht weit von der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung zu ihrer politischen Operationalisierung. Unser Kontinent, der noch vor nicht allzu langer Zeit die Welt dominierte, irrt in unseren Augen vollkommen, wenn er ernsthaft daran denkt, sich nunmehr von der „restlichen Welt“ durch neu gezogene Mauern abzuschotten. Die Ära von Kolonialismus und Imperialismus hat zwangsläufig tiefe Spuren hinterlassen, auch insofern, als dass nichteuropäische Völker Europa nun sehr wohl an dessen propagierte „universelle“ Werte und die sich daraus herleitende heutige Verantwortung erinnern. Wenn in diesen Bänden jenseits allen Eurozentrismus eine These verteidigt und illustriert werden sollte, dann diese: Europäische Erinnerungen lassen sich nicht in die Grenzen Europas einschließen – nicht nur, weil mancher Erinnerungsort im wörtlichen Sinn außerhalb Europas verortet ist, sondern vor allem, weil alle „europäischen“ Erinnerungsorte europäische und globale Bezüge zugleich aufweisen und Erinnerungskulturen niemandes Eigentum sind. Europas gemeinsame und geteilte Erinnerungen lassen sich heute immer mehr nur mit einem Ohr für ihre globalen Resonanzen verstehen; die „Gegenwart unserer Geschichte“, wie unser Untertitel lautet, spielt sich trotz des dezidierten europäischen Fokus und Forschungsobjekts nicht ausschließlich auf dem europäischen Kontinent ab. Die Frage danach, wer denn Teil an den europäischen Erinnerungen hat, weist aber auch eine andere, sozialere Komponente auf. In seiner berühmten Rede Was ist eine Nation? (1882) bemerkte der Historiker Ernest Renan: „Das Vergessen – ich möchte fast sagen: der historische Irrtum – spielt bei der Erschaffung einer Nation eine wesentliche Rolle, und daher ist der Fortschritt der historischen Studien oft eine Gefahr für die Nation.“ Dennoch dürfen wir zum Schluss getrost die Frage nach dem etwaigen Vergessenen, wenn nicht gar Verschwiegenen aufwerfen. Oder in anderen Worten: Was gäbe es noch zu untersuchen? Nennen wir drei Stränge. Zum einen sind sicherlich die noch im Entstehen begriffenen kollektiven Erinnerungen zu nennen, von denen man bereits jetzt annehmen kann, dass sie ein großes Thema für morgen sein werden. Trotz der täglichen Nachrichten, die jedoch fast ausnahmslos die Dramatik der Meeresrettung in Szene setzen, sind hier die Gruppen der „Neueuropäer“ (Flüchtlinge, Migranten) zu nennen. Auch wenn 477

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sie  –  vollkommen zu Recht  –  bereits Eingang in unser Buch gefunden haben: Durch Film, Theater, Reportagen, Literatur wächst der Platz ihrer individuellen wie kollektiven Erfahrungen derzeit rasant im europäischen Diskurs. Aber auch die viel erfreulicheren Erinnerungen von ERASMUS-Paaren und bi- und multinationalen Familien sind im allgemeinen Bewusstsein noch weniger präsent, als ihnen gebührt. Zweitens: Unterdrückte oder medial marginalisierte Gruppen haben es ebenfalls schwer, ihren Erinnerungen ein breiteres, geschweige denn europa­ weites Echo zu verschaffen, was den dürftigen Platz der Frauen, der Landarbeiter, der Arbeiter, nicht zuletzt der Arbeitslosen und verkrachten Existenzen im europäischen Erinnerungsdiskurs erklärt. Dies ist erinnerungsgeschichtlich die Kehrseite eines trotz aller Larmoyanz nach wie vor reichen Kontinents mit seinen charakteristischen sozialen Hierarchien. Drittens sei auf das Verschüttete, auf das aus den lebendigen Erinnerungen allmählich Verschwundene hingewiesen, das mehr und mehr zur Sache reinen Wissens mutiert. So erinnert in Budapest mit Ausnahme einiger Bäder und der Türbe (Grabstätte) des Derwischs Gül Baba als des nördlichsten Wallfahrtsorts des Islam nur noch sehr wenig an das osmanische Kapitel in der Geschichte der ungarischen Hauptstadt, das immerhin von 1526 bis 1684/86 dauerte. Schließen wir ab, wie wir in unserer Einführung begonnen haben: mit Paul Ricœur. Der französische Philosoph weigerte sich bekanntlich in seinem Spätwerk Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, aus epistemologischer Sicht zwischen der „Wahrheit“ der Geschichte und der „Treue“ des Gedächtnisses zu entscheiden, und sondierte stattdessen moderierend die „Idee einer Politik der gerechten, richtigen und ausgewogenen Erinnerung“ („juste mémoire“). Mit Blick auf die vielen Spannungen, die die Erinnerungskulturen mit ihren Opferdiskursen und wechselseitigen Anschuldigungen nicht selten begleiten, ist man dem sehr zugeneigt. Es obliegt uns Autoren und Lesern, die die Diskrepanz zwischen Geschehenem und Erinnertem, Wahrgenommenem und Inszeniertem nun besser kennen, Europa nicht zu beschönigen, sondern unter Berücksichtigung eben dieser Gegensätze neu zu erfassen. Vielleicht hilft neben dem Wunsch nach einer forcierteren Förderung der Übersetzungen und einer immer breiteren Europäisierung der Schulcurricula ein weiterer Vorschlag Ricœurs dabei tatsächlich aus der Sackgasse: nämlich „sich seine eigene Geschichte von den anderen erzählen zu lassen“. Dazu liefert 478

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„Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte“ seinen kollektiven Beitrag. Dass diese Tour d’Horizon durch Geschichte, Politik und Erinnerungskultur jedoch weder reichen wird noch reichen kann, hat Augustinus bereits vor mehr als 16 Jahrhunderten gleichsam meditativ nahegelegt: „Groß ist sie, diese Kraft des Gedächtnisses; gewaltig ist sie, mein Gott, ein weiter, ein unendlicher Innenraum. Wer erreichte je seinen Grund?“5 Die Auseinandersetzung mit Europa, seinen Gedächtnissen und seiner Identität ist grundsätzlich offen; sie wird unsere Zukunft bestimmen. Freuen wir uns darüber.

5 Augustinus, Bekenntnisse, aus dem Lateinischen übersetzt und herausgegeben von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2017, Zehntes Buch, Paragraf 5, S. 258.

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ANDREI PLEŞU

Ein unordentliches Europa?1

Wir sind dem großzügigen Projekt eines „vereinten Europas“ verpflichtet und scheinen die alten und anhaltenden Spannungen unserer kontinentalen Geschichte, ihre konstituierend vielfarbige Natur, nicht zu kennen oder zu übersehen. Europa hat eine lange Tradition der Selbstsegregation, der Multidimensionalität, der Debatten über die nationale Identität, die bis hin zu heftigen internen Konflikten reichen können. Das erste Scheitern unserer „gemeinsamen Heimat“ Europa war die Zersplitterung des Römischen Reiches in ein westliches und ein östliches Segment. Rom löste sich von Byzanz, der Katholizismus von der Orthodoxie, der Protestantismus vom Katholizismus, das Reich vom Papsttum, der Osten vom Westen, der Norden vom Süden, der Germane vom Latein, der Kommunismus vom Kapitalismus, das „Zentrum“ von der „Peripherie“, England vom Rest des Kontinents … Das Gespenst der Teilung ist das, was Jacques Dewitte – bewundernd die „europäische Ausnahme“ nannte. Wir erkennen leicht die Unterschiede, die unsere Identität ausmachen; wir sind jederzeit in der Lage, uns von uns selbst zu distanzieren. Wir haben sowohl den Kolonialismus als auch den Antikolonialismus erfunden; wir haben den Eurozentrismus und die Relativierung des Europäismus erfunden. Die Weltkriege des letzten Jahrhunderts begannen als innereuropäische Kriege; der europäische Westen wurde jahrzehntelang durch einen „Kalten Krieg“ vom Osten abgetrennt. Ein unmögliches „eheliches“ Dreieck hat die Geister ständig entflammt: die deutsche, die lateinische und die slawische Welt. Zwischen der Europäischen Union und Europa im weiteren Sinn, zwischen Zentralverwaltung und nationaler Souveränität, zwischen den Euroländern und den Ländern mit eigener Währung, zwischen den SchengenLändern und den noch vom Vertrag ausgeschlossenen Ländern nimmt die 1 Aus einer Rede, die am 9. Juni 2017 am Institut für Humanwissenschaften, Wien, gehalten und von Eurozine am 19. Februar 2018 veröffentlicht wurde.

EIN UNORDENTLICHES EUROPA?

Irritation zu. Bei aller bewährten edlen Rhetorik von der „Einheit“, von einem „gemeinsamen Haus“ und von kontinentaler Solidarität verläuft die allgemeine Situation keineswegs in Richtung Einförmigkeit  –  dies ist das „Familienporträt“ des komplizierten europäischen Konstruktes. Unter Berücksichtigung all dessen (historische und stilistische Spannungen, hysterische Betonung von Unterschieden) könnten wir euroskeptisch, wenn nicht gar depressiv werden. Aber das würde bedeuten, die Vorteile der Vielfalt zu vergessen, die verführerische Vitalität eines Organismus, der sich der Systematisierung widersetzt, der das Grau der geometrischen Homogenisierung ablehnt. Tatsächlich sind wir uns alle einig, dass wir nicht das gleiche Europa wollen, wie es Adolf Hitler wollte (einer der „Pioniere“ eines vereinten Europas …). Wir wollen kein Europa der Ausgrenzung, der Reglementierung, der ethnischen und ideologischen Reinheit, der gekreuzigten Alteritäten. Eine solche Entwicklung würde eher zum „thermischen“, zum entropischen Tod unserer Solidarität führen. Wir ziehen ein kompliziertes Europa dem triumphalen Mantra der Homogenität vor, das nicht in der Lage ist, sich selbst in die Dis­ kussion einzubringen. Wir bevorzugen ein Europa der kontinuierlichen Fermentation, ein Europa, das sich mit seinen eigenen Krisen auseinandersetzt, das sich unter anderem auch durch seine Fähigkeit auszeichnet  –  wie Leszek Kołakowski feststellte  –,  durch Momente des „schlechten Gewissens“ zu gehen. Das Europa, dem wir uns anschließen, ist das Europa, das die Anthropologie, die Disziplin des Verständnisses der kulturellen Differenz, begründet hat, das Europa, das sich der Erforschung des „wilden Denkens“ verschrieben hat, das seine Universitäten mit Abteilungen für das Studium außereuropäischer Sprachen und Zivilisationen füllte. Wir vergessen oft, dass die Geschichte des modernen Europas mit der unwahrscheinlichen Begegnung zwischen einem zerfallenden Römischen Reich und eindringenden nomadischen Stämmen aus Asien begann. Wir sind das Ergebnis dieser spektakulären Hybridisierung, und das erklärt vielleicht unsere Offenheit für alles, was uns nicht vorhersehbar in eine statische Identität einbindet. Es war kein Zufall, dass Karl Kerényi für das Wort „Europa“ eine bedeutsame mögliche Etymologie vorschlug: Es kann übersetzt werden als „derjenige, dessen Augen weit offen sind“, und damit als „derjenige, der eine große Vision hat“.

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ANDREI PLEŞU

Natürlich wollen wir den Triumphalismus eines ewig friedlichen „gemeinsamen Hauses“ nicht durch den Triumphalismus der fruchtbaren Inkohärenz, der Krise als Lebensweise, der einzigen wirklich realistischen, subtilen, profitablen Lebensweise, ersetzen. Ja, die Europäische Union ist geprägt durch „die Zerbrechlichkeit aller politischen Dinge“, wie Ivan Krastev irgendwo sagt. Jacques Delors hatte recht, als er befürchtete, dass wir in unserem Bemühen, eine Gemeinschaft aufzubauen, zu einer Art UPO werden könnten: ein „unidentifiziertes politisches Objekt“. Wir könnten uns Tony Judt anschließen und sagen: „Europa ist mehr als ein geografischer Begriff, aber weniger als eine Antwort.“ Schon Ende der 80er-Jahre hatte Hans Magnus Enzensberger Angst vor der postdemokratischen Entwicklung unseres „sanften Monsters aus Brüssel“. Wie wir wissen, stehen wir vor schweren Rissen in Demokratie, Kapitalismus und Globalisierung. Der Nationalismus ist kein arrogantes Überbleibsel des provinziellen Europas mehr, sondern eine erfolgreiche Wahlwaffe in den großen Ländern des Zentrums des Kontinents. Wir sehen uns konfrontiert mit dem Brexit, der unberechenbaren Türkei, Flüchtlingen, Terrorismus, Finanzkapriolen und mehr. Aber die Lösung ist weder dekonstruktive Panik noch die rosige Demagogie einer leuchtenden Zukunft. Abgesehen von seiner Unschärfe, hat jede Konfrontation eine willkommene Dimension von Neubewertung, Rekalibrierung und Neuanfang. Und seit seiner Existenz ist Europa sehr gut darauf trainiert, zu überleben, seine Brüche zu integrieren, seine Narben in Zeichen der Vitalität zu verwandeln. Es waren die Vorteile (und der Charme?) einer heftigen Krise, die Michael Portillo, der britische Verteidigungsminister zwischen 1995 und 1997, wahrscheinlich meinte, als er sagte: „Ich bin sehr für ein unordentliches Europa. Ich hoffe, dass die Erweiterung nicht nur gut für die neuen Demokratien ist, sondern auch ein unordentlicheres Europa schafft.“ Wenn ich mich nicht irre, sind wir diesem Ziel sehr nahe …

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KARTEN

Was zu Europa gerechnet wird

Eine etwas andere Sichtweise zu Europa ISLAND

Karte 1

Als „Geburtsstätte der Demokratie“ gegen jeden Ausschlussgedanken gewappnet Immer Fast immer Ab und zu Selten Fast nie Niemals Europa

FINNLAND NORWEGEN

ESTLAND SCHWEDEN

Nordsee IRLAND

LETTLAND

DÄNEMARK

Ostsee

LITAUEN

zu RUSSLAND

GROSSBRITANNIEN

WEISSRUSSLAND

NIEDERLANDE

Atlantischer Ozean

BELGIEN

POLEN

DEUTSCHLAND

LUXEMBURG

TSCHECHISCHE REPUBLIK SLOWAKEI ÖSTERREICH UNGARN

SCHWEIZ

SLOWENIEN

BULMONTEGARIEN NEGRO NORDMAZED. ALBANIEN

ANDORRA

SPANIEN

RUMÄNIEN

KROATIEN SERBIEN Adria B.-H.

MONACO

PORTUGAL

M

ITALIEN

Ägäis

MALTA TUNESIEN

MAROKKO

GRIECHENLAND

Mittelmeer

ALGERIEN

LIBYEN

RUSSLAND

KASACHSTAN

SD

Aralsee

UKRAINE

USBEKISTAN

K

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MOLDAU

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GEORGIEN ARMENIEN

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AZERBAIDSCHAN

TURKMENISTAN

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Schwarzes Meer

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TÜRKEI

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SYRIEN

IRAN

ZYPERN IRAK

LIBANON

ISRAEL

JORDANIEN

SAUDI-ARABIEN ÄGYPTEN

Rotes Meer

KUWAIT

Persischer Golf

Daten für die Festlegung der aktuellen Grenzen der europäischen Staaten vor dem 19 Jh. im 19. Jh. vor 1914 von 1918 bis 1923 1924 und 1929 von 1940 bis 1947 partielle internationale Anerkennung (2008)

ISLAND

Status- oder Routenänderungen seit 1989

Nordsee IRLAND GROSSBRITANNIEN NIEDERLANDE

Atlantischer Ozean

BELGIEN

LUXEMBURG

1

ANDORRA

PORTUGAL SPANIEN 1 2 3 4 5

SCHWEIZ SLOWENIEN BOSNIEN-HERZEGOWINA KOSOVO NORDMAZEDONIEN

Mittelmeer

FINNLAND NORWEGEN

RUSSLAND

ESTLAND SCHWEDEN LETTLAND DÄNEMARK

LITAUEN

Ostsee

zu RUSSLAND

WEISSRUSSLAND

E POLEN

DEUTSCHLAND

UKRAINE

TSCHECHISCHE REPUBLIK ÖSTERREICH

1

W SLO

AKE

I

MOLDAU

UNGARN RUMÄNIEN

2

IE

SAN MARINO

N

I T A L I E N Adria VATIKAN (1924–1929)

Schwarzes Meer

RB

3

SE

KROATIEN

4

MONTENEGRO

BULGARIEN

5

ALBANIEN Ägäis

TÜRKEI

GRIECHENLAND SYRIEN

Die Sprachen Europas

is

yi Mischsprachen ara: Arabisch ast: Asturisch be: Weißrussisch bg: Bulgarisch br: Bretonisch ca: Katalanisch chm: Mari cs: Tschechisch csb: Kaschubisch cv: Tschuwaschisch cy: Walisisch da: Dänisch deu: Deutsch el: Neugriechisch eng: Englisch et: Estnisch eu: Baskisch fi: Finnisch fra: Französisch fy: Westfriesisch ga: Irisch-Gälisch gd: Schottisch-Gälisch gl: Galicisch hun: Ungarisch hr: Kroatisch is: Isländisch ita: Italienisch kab: Kabylisch krl: Karelisch kur: Kurdisch kv: Komi

lad: Judäo-Spanisch lt: Litauisch lv: Lettisch mdf: Mokschanisch myv: Ersjanisch nds: Niederdeutsch nld: Niederländisch no: Norwegisch oc: Okzitanisch pol: Polnisch por: Portugiesisch rm: Rätoromanisch ron: Rumänisch rup: Aromunisch rus: Russisch sc: Sardisch sco: Scots se: Nordsamisch sk: Slowakisch sl: Slowenisch spa: Spanisch sr: Serbisch sq: Albanisch sv: Schwedisch tur: Türkisch ukr: Ukrainisch vep: Wepsisch wen: Sorbisch yrk: Nenzisch

gl

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Nordsee

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Atlantischer Ozean

(lad)

Mittelmeer

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(vep) chm

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Ostsee

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Schwarzes Meer tur

bg

Adria

sq (sq)

tur

kur

(lad)

rup

el Mittelmeer

Ägäis

tur

Europäisches Straßenpalimpsest: römische Straßen und mittelalterliche Jakobswege

Eburacum

Mare Germanicum

Deva Britannia

Isca Silurum Londinium

Oceanus Britannicus

Oceanus Atlanticus

Germania Gallia

Rotomagus Lugdunensis

Aug. Treverorum Paris

Brigantium

Santiago de Compostela

Ulm

Dijon

Aquitania

Bordeaux

Asturica Augusta

Burgos

Narbo Martius

Caesaraugusta

Emona

Massilia

Caesariensis

Corsica

Roma

Mare Tyrrhenum

Sitifis

Messana

Hippo Cirta Regius

Sicilia

Carthago

Numidia

Syracusae

Lambaesis

Thapsus

AFRICA

Sabratha

Leptis Magna

PROCONSULARIS

Paris

0

Römisches Reich ab 117 n. Chr. Straßen im Römischen Reich Jakobswege Moderne Orte (Jakobsweg) 200

400

600 km

Bu

A

Caesarea

MAURETANIA

Pa

ITALIA

Sardinia

Volubulis

S P

Dalmatia

Ariminum

Carthago Nova

Mare Ibericum

Tingitana

Aquileia

Bononia

Arelate

Noricum

Virunum

Valentia

Corduba

Tingis

Innsbruck

Mediolanum

V

Salzburg Wi

Raetia

HISPANIA Hispalis Gades B a e t i c a

Regensburg

Lauriacum

Genf Einsiedeln

Tarraco

Toletum

Lusitania

Lyon

Narbonne

Salamantica Olisipo

Périgueux

Lugdunum

Prag

Castra Regina

Konstanz

Le Puy Conques Toulouse N a r b o n e n s i s Avignon Genua Tolosa

Ostabat

Tarraconensis

Vindonissa

Augustodunum

Burdigala

León

Belgica

Argentorate

Vézelay

Mare Cantabricum

Mogontiacum

Trier

Lutetia

Orléans

Tours

Leipzig

Colonia

Aachen

T

G E R M A N I A Breslau

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na Vindobona Carnuntum

urg Wien

m

m

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ia

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Aquincum Budapest

Savaria Poetovio Pannonia

Salonae Naïssus Narona

Tomis Oescus

Moesia

Mare Adriaticum

Sinope Bithynia

Thracia

Byzantium

Dyrrhachium Thessalonice Brundisium Tarentum

Mare Aegaeum

Actium

Mare Ionium

Corinthus

Pontus Euxinus

Novae

Serdica

Macedonia

Heraclea Nicomedia

Asia

Pontus

Amasia Satala

Galatia Pamphylia

Tarsus

Rhodus Creta

Ptolemais

Palmyra

SYRIA

Damascus Tyrus Iudaea

Cyrene

Berenice

Cyrrhus Antiochia Apamea Phoenice

Cyprus

Mare Internum

Assyria

Cappadocia Comm.

Cilicia

Lycia

Cnossus

Armenia

Nicopolis Ancyra Caesarea Melitene

Pergamum

Sardis Ephesus Athenae Miletus

Achaia

ae

a

Troesmis

Siscia Dacia Singidunum Viminacium Burnum

Hierosolyma Alexandria

CYRENAÏCA

Memphis

Babylon

ARABIA

AEGYPTUS Sinus Arabicus

Das Europa der Gotik (12. bis 16. Jahrhundert)

York Kilkenny

Lincoln Peterborough Worcester

Ely

Cambridge London Wells Salisbury Canterbury

Exeter

B

T Amiens Bayeux

Beauvais Rouen Caen Saint-Denis Paris

Coutances

Atlantischer Ozean

Mont-Saint-Michel

Chartres

Le Mans

Vendôme

Angers Tours

Bourges Poitiers

Clermont-Ferrand

Rodez Santiago de Compostela

Oviedo León

Sasamón

Carcassonne Sanguesa Narbonne

Burgos Toro Salamanca Ciudad Rodrigo

Valladolid Ségovie Avila

Toledo

Belém

Sevilla

Tuleda Zaragoza

Gérone Barcelona

Batalha Alcobaça

Albi

Toulouse

R

S

is

Ostsee

Danzig

Nordsee Lübeck

Braunschweig

Magdeburg

Paderborn

Brügge

Naumburg

Gent Köln Lüttich Aachen Tournai Huy

Marburg Erfurt

Krakau Prag

Bamberg

Trier

Reims

Breslau Freiberg

Karlstein

Nürnberg Schwäbisch Châlons- Metz Regensburg Gmünd sur-Marne Straßburg Sens Augsburg Troyes Ulm Linz SaintRottweil NicolasAuxerre de-Port Freiburg München Vézelay Basel

Beaune Brou

Wien

Graz

Innsbruck

Lausanne Zagreb

Lyon Mailand

Venedig Bologna

Avignon

Florenz

Pisa

Siena

e

Assisi

Adria

Orvieto

Castel del Monte

Mittelmeer 0

100

200

300 km

Universitäten in Europa um 1500

Atlantischer Ozean

Nordsee Ostsee

Adria

Mittelmeer

Opernaufführungen in Europa Datum der Uraufführung einer Oper vor 1600 von 1600 bis 1699 von 1700 bis 1799 von 1800 bis 1899 nach 1900

Oslo

Anfängliches Zuhause (Opernhäuser im Jahr 1600)

Edinburgh Kopenhagen

Nordsee Rostock

Dublin

London

Berlin

Amsterdam

Leipzig

Atlantischer Ozean Paris

Genf Lyon Bordeaux

Verona Mailand

Venedig

Genua Florenz Marseille

Madrid

Barcelona

Lissabon

Mittelmeer

Rom

Stockholm Moskau Riga

Ostsee

Vilnius Minsk

Kaliningrad

k

ig

Sankt Petersburg

Helsinki

Warschau Poznan´ Dresden

Kiew

Łódz

Wrocław Kraków

Prag Brünn

Bratislava

Wien

Zagreb

Pécs

Odessa

Cluj-Napoca

Budapest Ljubljana

Iasi ,

Debrecen

Sibiu

Timisoara ,

Bukarest

Schwarzes Meer

Belgrad

ig

Sofia Plovdiv Adria

Istanbul

Tirana Neapel Ägäis

Athen Palermo

Valletta

Mittelmeer

0

100 200 300 km

Kolonialreiche der europäischen Mächte um 1914

Europäisches Nordmeer

K ANADA (British Commonwealth) (1867)

GROSSB R I TA N N I E N

D E U TS C H E S REICH

FRANKREICH Ö ST E R R . UNGARN

S PA N I E N V E R E I N I GT E STA AT E N

I TA L I E N

P O RT U G A L (port.)

O S

A LG E R I E N

Atlantischer Ozean

RIO DE ORO

M E X I KO

(port.)

G UAYA N A

L I BY E N FRANZ.W E STA F R I K A

SENEGAL P O RT. GUINEA FRANZ. GUINEA LIBERIA

TO G O

(port.)

K OB E L N GG . O

Golf von Mexico

ANGOLA F R Ü H E R E S PA N . U N D P O RT. KO LO N I E N

DT. S Ü DW E STAFRIKA

Pazifischer Ozean

SÜDAFRIK. UNION (1910)

Atlantischer Ozean

*Großbritannien mit Dominions u. Kolonien (Ägypten 1914 unter brit. Schutzherrschaft) 0

1000

2000

3000 km

Belgien

Vereinigte Staaten

Großbritannien*

Spanien

Frankreich

Deutsches Reich

Portugal

Italien

ÄG

RU S S I S C H ES R E I C H MONGOLEI

OSMANISCHES REICH

P E RS I E N

SUD

A

ÄGY P T E N

N

JA PA N

CHINA

TIBET B R I T. - I N D I E N

Pazifischer Ozean

ERITREA B R I T. SOMALILAND

FRANZ. INDOCHINA

I TA L . SOMALILAND

NG

O

R. N

NIEDERLÄNDISCH-INDIEN

DT. - O STA F R I K A

(port.)

M A D AG A S K A R

Indischer Ozean

AU ST R A L I E N (British Commonwealth) (1901)

K.

Niederlande russisch dominiert britisch dominiert Seehandelsrouten

Wichtigste Siedlungsströme im 19. Jahrhundert (1907) Gründungsjahr der britischen

Dominion

NEUSEELAND (1907)

Schlachtfelder in Europa seit Ende des 18. Jahrhunderts Schlachtfeld mit mehr als 100 000 Toten Schlachtfeld Orte des Bürgerkriegs Warschau Schlachtfeld 18. Jh. [Warschau] Schlachtfeld 19. Jh. (Warschau) Schlachtfeld 20. Jh.

Nordsee

[Hamburg]

[Dünkirchen] [Waterloo] [Artois] [Normandie]

Atlantischer Ozean

(Verdun)

[Solferino]

Marengo

[Saragossa] (Èbre) (Brunete) (Teruel)

Mittelmeer

(Wyborg) (St. Petersburg/Leningrad)

(Moskau) [Borodino]

Ostsee

(Orel) (Minsk) (Kursk)

(Tannenberg) Kolberg (Warschau)

(Kiew)

[Austerlitz] [Wagram] [Budapest]

[Sewastopol]

Schwarzes Meer [Pleven] (Adrianopel)

Adria

[Nevesinje] (Dardanellen) (Gallipoli)

Ägäis [Chios]

Mittelmeer

0

100 200 300 km

FINNLAND

Ermordung der Juden in Europa

NORWEGEN

EST L A N D 40 %

40 %

Reichskommissariat Ostland

L E T T L A N D 89 %

SCHWEDEN

Nordsee DÄ N E M A R K

I R L A N D G RO S S B R I TA N N I E N

L I TAU E N

S OWJ E T U N I O N 43 %

87 %

1,500

Ostsee

N I E D E RLANDE 75 % 104

78 %

25

92 %

G RO S S D E U TS C H ES REICH

B E LG I E N

28 %

FRANKREICH

160

RUMÄNIEN

Generalgouvernement

Reichskommissariat Ukraine

270

75 %

60

2,500

POLEN

S LOWA K E I 300

24 %

58

SCHWEIZ

81 % 75 %

Von Deutschland im Nov. 1942 besetzte Zone

K ROAT I E N 73 %

I TA L I E N

S PA N I E N

400

55 8,5

TÜRKEI

UNGARN 47 %

RU M Ä N I E N IRAK

SERBIEN

J U G O S L AW I E N 17 %

B U LG A R I E N A L BA N I E N TÜRKEI

57

GRIECHENL AND 80 %

Mittelmeer

Zahl der Juden pro Land

über 3 000 000

um 1 000 000 um 500 000 um 100 000 um 20 000

Großdeutsches Reich und Verbündete Annektierte Gebiete Grenzen der Einsatzgruppen A–D

Anteil der jüdischen Opfer in %

Zahl der ermordeten Juden (in 1000)

Die Lager in der Sowjetunion 1929 –1961 Europäisches Nordmeer Ostsibirische See

SCHWEDEN Ostsee

Lwow

FINNLAND

Karasee

Kasan Saratow

Kolyma

Archangelsk

eis rkr ola er P h c i l Nörd

Norilsk

Salechard Perm

Tiksi

Workuta

Narjan-Mar

Gorki

Odessa Charkow

Laptewsee

Murmansk

Minsk Moskau Kiew

Nadym

Igarka Turuchansk

Tura

Ufa

Jakutsk

JushnoSachalinsk

SOWJETUNION

arz hw r Sc Mee

Swerdlowsk Taischet Stalingrad Magnitogorsk Orenburg Tomsk Stawropol Baikalsee Kostanai Omsk Nowosibirsk Krasnojarsk Tschita Astrachan Tbilisi Kysyl Irkutsk Ulan-Ude Kaspisches Karaganda Jerewan Meer Semipalatinsk Baku Ulan-Bator es

Balchaschsee

Aschchabad Taschkent Alma-Ata Frunse Samarkand

IRAN

Magadan Ochotskisches Meer

Chanty-Mansijsk

Rostow

IRAK

Anadyr

Barentssee

Tallinn Kaliningrad Riga Leningrad POLEN Vilnius

NIEN

RKEI

USA

MONGOLISCHE VOLKSREPUBLIK

Stalinabad

AFGHANISTAN

Abgelegene Region mit Hunderten von Isolationslagern Größter Lagerkomplex der UdSSR. Sperrgebiet unter NKWD-Verwaltung

Komsomolsk-na-Amure Swobodny Chabarowsk Blagoweschtschensk

CHINA

Wladiwostok

NORDKOREA SÜDKOREA

CHINA

Regionale Verwaltung von Lagern und Kolonien Lagerkomplexe Wichtige Lagerzonen Grenzverlauf der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg

JAPAN

Die Autoren Ilsen ABOUT, geboren 1975 in Paris (Frankreich). Forscher am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und Mitglied des Georg-SimmelZentrums der École des hautes études en sciences sociales (EHESS). Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Identifikation in Europa. Ana Lucia ARAUJO, geboren 1971 in Santa Maria (Brasilien). Professorin für Kulturgeschichte an der Howard University in Washington (D. C.). Ihre Forschung konzentriert sich auf die Geschichte der Erinnerung an die Sklaverei in der atlantischen Welt. Mathieu ARNOUX, geboren 1959 in Brest (Frankreich). Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Paris 7 – Denis-Diderot und Forschungsdirektor an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS). Seine Forschung konzentriert sich auf die Geschichte der Arbeit und der europäischen Wirtschaft vom 10. bis 16. Jahrhundert. Alessandro BARBERO, geboren 1959 in Turin (Italien). Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Università del Piemonte Orientale Amedeo-Avogadro (Vercelli). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Spätantike und das Mittelalter, insbesondere in der Militärgeschichte. Daniel BARIC, geboren 1972 in Paris (Frankreich). Dozent für Germanistik an der Universität Tours. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Erinnerungsgeschichte Mitteleuropas sowie die gesellschaftspolitischen Implikationen der Mehrsprachigkeit in der Habsburgermonarchie. Simone BLASCHKA-EICK, geboren 1972 in Hannover (Deutschland). Direktorin des Museums für die Geschichte der deutschen Auswanderung in Bremerhaven. Sie ist Expertin für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts aus transatlantischer Sicht. Włodzimierz BORODZIEJ, geboren 1956 in Warschau (Polen). Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau und Präsident des wissenschaftlichen Rates des Hauses der Europäischen Geschichte (Brüssel); 504

DIE AUTOREN

Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Zeitgeschichte Polens und seine Beziehungen zu Deutschland. Patrick BOUCHERON, geboren 1965 in Paris (Frankreich). Mittelalterhistoriker, Professor am Collège de France, Inhaber des Lehrstuhls „Geschichte der Macht in Westeuropa, 13. bis 16. Jahrhundert“. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht die Geschichte Europas im Mittelalter und in der Renaissance, insbesondere in Italien. Dominique BOUREL, geboren 1952 in Offenburg (Deutschland). Forschungsdirektor am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und ehemaliger Direktor des französischen Forschungszentrums in Jerusalem. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht die Kultur- und Geistesgeschichte des deutschen Judentums vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Hamit BOZARSLAN, geboren 1958 in Lice (Türkei). Historiker und Politikwissenschaftler, Forschungsdirektor an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS). Als Spezialist für den Nahen Osten beschäftigt er sich mit Gewalt und Minderheiten-Nationalismus in der Türkei. Rémi BRAGUE, geboren 1947 in Paris (Frankreich). Emeritierter Professor für Philosophiegeschichte an der Universität Paris 1 – Panthéon Sorbonne und an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Mitglied der französischen Académie des Sciences morales et politique. Seine Forschung konzentriert sich auf die Geschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie in der christlichen und muslimischen Welt. Felipe BRANDI, geboren 1974 in Rio de Janeiro (Brasilien). Doktor der Geschichte der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris (EHESS). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Historiografie und die Historiker in Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Horst BREDEKAMP, geboren 1947 in Kiel (Deutschland). Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kunstgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart sowie die Theorie von Kunst und Bild. 505

DIE AUTOREN

Timothy BROOK, geboren 1951 in Toronto (Kanada). Professor für Ostasiatische Geschichte an der University of British Columbia. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Chinas, insbesondere der Ming-Dynastie. Thomas BROSE, geboren 1962 in Berlin (Deutschland). Professor für Philosophie an der Affiliation der päpstlichen Universität Gregoriana in Berlin und Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen Hamann, Kant und Hume sowie die Religionsphilosophie während der Aufklärung. Franco CARDINI, geboren 1940 in Florenz (Italien). Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Florenz. Seine Forschung konzentriert sich auf die Geschichte der Kreuzzüge und die Beziehung zwischen Christentum und Islam. Johann CHAPOUTOT, geboren 1978 in Martigues (Frankreich). Professor für Zeitgeschichte an der Universität Paris 4 – Sorbonne und Mitglied des Institut universitaire de France. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Deutschlands und des Nationalsozialismus sowie die politische und kulturelle Geschichte des heutigen Europa. Catherine COQUERY-VIDROVITCH, geboren 1935 in Paris (Frankreich). Sie ist Professorin für Geschichte an der Universität Paris 7 – Denis-Diderot und spezialisiert auf die Geschichte Afrikas und die sozialen Fragen der Kolonisation. Leyla DAKHLI, geboren 1973 in Tunis (Tunesien). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) / Centre Marc Bloch Berlin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die intellektuelle und soziale Geschichte der zeitgenössischen arabischen Welt. György DALOS, geboren 1943 in Budapest (Ungarn). Der Historiker und Schriftsteller war von 1995 bis 1999 Direktor des Ungarischen Kulturinstituts in Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Mittelund Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert. Mamadou DIOUF, geboren 1951 in Rufisque (Senegal). Professor für Geschichte und Afrikastudien, Direktor des Institute of African Studies an 506

DIE AUTOREN

der Columbia University in New York. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte des französischen Kolonialreichs. Marina DMITRIEVA, geboren 1953 in Moskau (Russland). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Osteuropäische Geschichte und Kultur (GWZO) in Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Kunst und Architektur Mittel- und Osteuropas sowie die Kunsthistoriografie. Andreas ECKERT, geboren 1964 in Bremen (Deutschland). Professor für die Geschichte Afrikas der Humboldt-Universität Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert einschließlich der Geschichte des Staates und der Arbeit. Arnold ESCH, geboren 1936 in Altenbögge (Deutschland). Professor Emeritus der Geschichte an der Universität Bern und ehemaliger Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, Mitglied der Accademia dei Lincei. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Italiens im Mittelalter und in der Renaissance. Ottmar ETTE, geboren 1956 in Zell am Harmersbach (Deutschland). Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind die französisch- und spanischsprachigen Literaturen. Alan FORREST, geboren 1945 in Aberdeen (Vereinigtes Königreich). Professor Emeritus für Zeitgeschichte an der York University. Seine Forschung konzentriert sich vor allem auf die Geschichte der Französischen Revolution und des Premier Empire. Étienne FRANÇOIS, geboren 1943 in Rouen (Frankreich). Professor Emeritus für Geschichte an der Universität Paris 1 – Panthéon Sorbonne und der Freien Universität Berlin, ehemaliger Direktor des Centre Marc Bloch Berlin, Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des modernen und zeitgenössischen Deutschland sowie die europäische Erinnerungskultur.

507

DIE AUTOREN

Pierre-Olivier FRANÇOIS, geboren 1971 in Nancy (Frankreich). Journalist und Produzent von TV-Dokumentarfilmen. Willem FRIJHOFF, geboren 1942 in Zutphen (Niederlande). Professor für Kulturgeschichte an der Erasmus Universität Rotterdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind vor allem die Kultur- und Universitätsgeschichte sowie die Geschichte der Mentalitäten. Alan FROST, geboren 1943 in Cairns (Australien). Professor für Geschichte an der Universität La Trobe. Seine Forschung konzentriert sich auf die Geschichte der australischen Kolonisation. Emmanuel FUREIX, geboren 1971 in Limoges (Frankreich). Professor für Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Universität Paris-Est. Sein Forschungsschwerpunkt ist die politische und kulturelle Geschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert. Robert GILDEA, geboren 1952 in Egham (Großbritannien). Professor für Zeitgeschichte an der Oxford University. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert einschließlich des Zweiten Weltkriegs, die der Erinnerung und der Oral History. Javier GÓMEZ-MONTERO, geboren 1958 in A Coruña (Spanien). Professor für Romanische Literatur an der Universität Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Erinnerungsorte und der kulturelle und literarische Austausch zwischen Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland. Catherine GOUSSEFF, geboren 1961 in Paris (Frankreich). Forschungsdirektorin am Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS). Ehemalige Direktorin des Centre Marc Bloch in Berlin. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Geschichte der (Zwangs-)Migration in den sowjetischen und osteuropäischen Ländern im 20. Jahrhundert. Jonas GRETHLEIN, geboren 1978 in München (Deutschland). Professor für Klassische Philologie (Griechische Literaturwissenschaft) an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und Literatur des antiken Griechenland.

508

DIE AUTOREN

Ulrike GUÉROT, geboren 1964 in Grevenbroich (Deutschland). Die Gründerin des Thinktanks European Democracy Lab ist Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Demokratie in Europa. François HARTOG, geboren 1946 in Albertville (Frankreich). Historiker, Forschungsdirektor an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS). Sein Forschungsschwerpunkt ist die Historiografie der Antike und Neuzeit. Heinz-Gerhard HAUPT, geboren 1943 in Göttingen (Deutschland). Emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsinteressen umfassen die Geschichte der politischen Gewalt in Europa seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Ton HOENSELAARS, geboren 1956 in Rotterdam (Niederlande). Professor für Literatur an der Universität Utrecht. Spezialist für Literatur der englischen Renaissance mit dem Schwerpunkt Shakespeare und die europäische Shakespeare-Rezeption. Marie-Claire HOOCK-DEMARLE, geboren 1937 in Argentan (Frankreich). Professorin für Germanistik an der Universität Paris 7 – Denis-Diderot. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte und die soziale Stellung der Frauen in Europa sowie neue Formen der Macht. Bogumil JEWSIEWICKI, geboren 1942 in Wilno (Polen, heute Vilnius in Litauen). Emeritierter Professor für Geschichte an der Université Laval in Québec (Kanada). Seine Arbeit konzentriert sich auf die Geschichte des französischsprachigen Zentralafrika und die sozialen Nutzungen der Erinnerung. Beatrice JOYEUX-PRUNEL, geboren 1977 in Montpellier (Frankreich). Die Kunsthistorikerin ist Professorin für „Digital Humanities“ an der Universität Genf. Spezialistin für die soziale und transnationale Geschichte der Avantgarde. Hartmut KAELBLE, geboren 1940 in Göppingen (Deutschland). Professor Emeritus der Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Sozialgeschichte Europas im 20. Jahrhundert. 509

DIE AUTOREN

Karena KALMBACH, geboren 1982 in Berlin (Deutschland). Dozentin an der Technischen Universität Eindhoven. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die europäische Rezeption der Tschernobyl-Katastrophe. Arne KARSTEN, geboren 1969 in Hildesheim (Deutschland). Professor für Neuere Geschichte an der Universität Wuppertal. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte Italiens, insbesondere Roms und Venedigs, in der Neuzeit. Bruce F. KAWIN, geboren 1945 in Los Angeles (USA). Emeritierter Professor für Literatur an der University of Colorado in Boulder. Seine Forschungsschwerpunkte sind die amerikanische und britische Literatur sowie die Geschichte des Kinos. Erdal KAYNAR, geboren 1980 in Istanbul (Türkei). Dozent für Neuere Geschichte an der Universität Straßburg. Er arbeitet insbesondere zum Osmanischen Reich der Spätzeit. Gábor KLANICZAY, geboren 1950 in Budapest (Ungarn). Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Central European University of Budapest. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht die religiöse Geschichte Ungarns und Europas am Ende des Mittelalters. Jürgen KOCKA, geboren 1941 in Haindorf (heute Hejnice in der Tschechischen Republik). Professor Emeritus der Geschichte an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er ist Spezialist für die vergleichende Sozialgeschichte Europas und der Vereinigten Staaten im 19. und 20. Jahrhundert. Seine Arbeit konzentriert sich insbesondere auf die industrielle Welt, die Geschichte der Arbeit und den Kapitalismus. Sandrine KOTT, geboren 1960 in Paris (Frankreich). Professorin für europäische Zeitgeschichte an der Universität Genf. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die Bereiche Sozial- und Kulturgeschichte, philanthropische Praktiken sowie die Geschichte des Sozialstaates. Cécile KOVACSHAZY, geboren 1973 in Paris (Frankreich). Dozentin für Komparatistik an der Universität Limoges. Spezialistin für europäische 510

DIE AUTOREN

Literatur, insbesondere romanische Literatur vom 19. Jahrhundert bis heute. Gerd KRUMEICH, geboren 1945 in Düsseldorf (Deutschland). Emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Universität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Erste Weltkrieg sowie Jeanne d’Arc. ´ geboren 1949 in Zrenjanin (Jugoslawien, heute Serbien). Todor KULJIC, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Belgrad. Sein Forschungsschwerpunkte sind die Ideologie und Organisation zeitgenössischer politischer Systeme und Bewegungen. Marie-Claire LAVABRE, geboren 1954 in Reims (Frankreich). Die Politikwissenschaftlerin ist Forschungsdirektorin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die politische Soziologie des Kommunismus sowie die Soziologie des Gedächtnisses. Françoise LAVOCAT, geboren 1961 in Lille (Frankreich). Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paris 3 – Sorbonne Nouvelle und Mitglied des Institut universitaire de France. Ihre Forschung konzentriert sich auf Erzähltheorien und Katastrophenerzählungen in der modernen Literatur. Olivier LAZZAROTTI, geboren 1959 in Saint-Mandé (Frankreich). Professor für Geografie an der Universität Picardie Jules-Verne. Spezialist für die Beziehung zwischen Kulturerbe und Tourismus. Jacques LE RIDER, geboren 1954 in Athen (Griechenland). Forschungsdirektor an der École Pratique des Hautes Études Paris (EPHE). Sein Forschungsschwerpunkt ist die Kulturgeschichte und Literatur des deutschsprachigen Raumes. Manuel LOFF, geboren 1965 in Porto (Portugal). Professor für Zeitgeschichte an der Universität Porto. Seine Forschungen konzentrieren sich auf die Diktatur Francos und die Zeit des Faschismus in Portugal. Ekaterina MAKHOTINA, geboren 1982 in St. Petersburg (Russland). Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Zeitgeschichte an der Universität Bonn. 511

DIE AUTOREN

Im Mittelpunkt ihrer Forschung stehen die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Osteuropa, insbesondere in Litauen. Christof MANDRY, geboren 1968 in Stuttgart (Deutschland). Professor für Moraltheologie an der Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsschwerpunkte sind die politische Ethik und insbesondere die christliche Sozialethik. Pierre MONNET, geboren 1963 in Montreuil (Frankreich). Der Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris (EHESS) leitet das Institut Franco-Allemand de Sciences Historiques et Sociales an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ist dort Professor am Historischen Seminar. Seine Forschungsprojekte beziehen sich auf die Geschichte spätmittelalterlicher Städte und politischer Systeme im europäischen Vergleich. Bodo MROZEK, geboren 1968 in Berlin (Deutschland). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Kolleg Kalter Krieg. Der Historiker ist Spezialist für Geschichte des Pop und der Populärkultur. Er forscht derzeit zur Geruchsgeschichte des Kalten Kriegs. Christian Th. MÜLLER, geboren 1970 in Berlin (Deutschland). Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Militärgeschichte und die Kulturgeschichte der Gewalt. Herfried MÜNKLER, geboren 1951 in Friedberg (Deutschland). Er ist Professor Emeritus für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Spezialist für politische Theorie und Ideengeschichte. Marina MÜNKLER, geboren 1960 in Bad Nauheim (Deutschland). Professorin für Ältere und frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur an der Technischen Universität Dresden. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die mittelalterliche Literatur, insbesondere Reisegeschichten, Freundschaftsdiskurse und Narrative von Risiko.

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DIE AUTOREN

Isidore NDAYWEL È NZIEM, geboren 1944 in Ipamu (Belgisch-Kongo, heute Demokratische Republik Kongo). Professor für Geschichte an der Universität von Kinshasa. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte des Kongo. Pap NDIAYE, geboren 1965 in Antony (Frankreich). Professor für Geschichte an der Sciences Po Paris. Spezialist für die Sozialgeschichte der Vereinigten Staaten und Frankreichs, insbesondere für Geschichte der Minderheiten. Akiyoshi NISHIYAMA, geboren 1969 in Odawara (Japan). Er ist Professor für europäische Geschichte an der Kyoritsu University in Tokio. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Grenzregionen, der deutsch-französischen Beziehungen und die deutsche Bildungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Pascal ORY, geboren 1948 in Fougères (Frankreich). Professor für Geschichte an der Universität Paris 1 – Panthéon Sorbonne. Sein Forschungsschwerpunkt ist die kulturelle und politische Geschichte moderner Gesellschaften. Jiˇrí PEŠEK, geboren 1954 in Prag (Tschechoslowakei, heute Tschechien). Professor für Zeitgeschichte an der Universität Prag. Seine Forschungsschwerpunkte sind die soziokulturelle Geschichte der Tschechischen Republik sowie die Geschichte Deutschlands und der mitteleuropäischen Städte vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Teresa PINHEIRO, geboren 1972 in Lissabon (Portugal). Professorin am Institut für Europäische Studien und Geschichtswissenschaften der Universität Chemnitz, Lehrstuhl „Kultureller und Sozialer Wandel“. Ihre Arbeit konzentriert sich vor allem auf die Geschichte der europäischen Expansion und das iberische Kulturerbe. Andrei Gabriel PLE¸SU, geboren 1948 in Bukarest (Rumänien). Professor für Kunstgeschichte und Religionsphilosophie an der Universität Bukarest. Der Mitbegründer und Leiter des New Europe College Bukarest war 1990– 1991 Kulturminister und 1997–1999 Außenminister Rumäniens.

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DIE AUTOREN

Christian PLETZING, geboren 1969 in Münster (Deutschland). Der Direktor der Academia Baltica, der Akademie Sankelmark und der Europäischen Akademie Schleswig-Holstein ist Spezialist für die Geschichte des Baltikums. Mike PLITT, geboren 1984 in Bremen (Deutschland). Doktorand für Zeitgeschichte an der Europäischen Viadrina Universität in Frankfurt / Oder. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kulturgeschichte des Dreiecks Frankreich, Polen, Deutschland und die Geschichte der europäischen Intellektuellen während des Kalten Krieges. Andrii PORTNOV, geboren 1979 in Dnipropetrovsk (Sowjetunion, heute Ukraine). Professor für Entangled History of Ukraine an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt / Oder. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Stadt- und Geistesgeschichte Osteuropas. Dominique POULOT, geboren 1960 in La Rochelle (Frankreich). Professor für Kunstgeschichte an der Universität Paris 1 – Panthéon Sorbonne. Seine Forschung konzentriert sich vor allem auf die Geschichte der Museen und des Kulturerbes in Europa. Olaf B. RADER, geboren 1961 in Bad Freienwalde (Deutschland). Der Archivar und Historiker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Monumenta Germaniae Historica an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Professor für Kulturgeschichte mit dem Schwerpunkt Mittelalterliche Geschichte. Seine Forschung konzentriert sich insbesondere auf die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches. Kapil RAJ, geboren 1949 in Amritsar (Indien). Forschungsdirektor an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS). Seine Forschungsschwerpunkte sind die Wissenschaft in der Globalisierung, kulturelle Interaktionen und Wissenskonstruktion vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Shalini RANDERIA, geboren 1955 in Washington (D. C., USA). Als Anthropologin leitet sie das Institut für Humanwissenschaften in Wien. Ihre Forschung umfasst die Anthropologie der Globalisierung, Recht, soziale Bewegungen sowie Kolonial- und Postkolonialforschung. 514

DIE AUTOREN

Wolfgang REINHARD, geboren 1937 in Pforzheim (Deutschland). Emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Freiburg im Breisgau. Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehen die Geschichte Europas in der Neuzeit sowie die Geschichte der europäischen Kolonisation. Bernhard RIEGER, geboren 1967 in Erlangen (Deutschland). Professor für Geschichte am University College London. Seine Forschung konzentriert sich auf die europäische Geschichte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einschließlich der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen. Valérie ROSOUX, geboren 1972 in Dinant (Belgien). Politikwissenschaftlerin und Philosophin, Senior Researcher am belgischen Fonds National de la Recherche Scientifique (FNRS) und Professorin an der Katholischen Universität Löwen. Mitglied der Königlichen Akademie von Belgien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Bedeutung von Erinnerung in den internationalen Beziehungen und die transitionale Justiz. Maurice SARTRE, geboren 1944 in Lyon (Frankreich). Emeritierter Professor der Geschichte an der François-Rabelais-Universität in Tours. Spezialist für die antike Geschichte des Nahen Ostens und des Mittelmeers. Régis SCHLAGDENHAUFFEN, geboren 1979 in Straßburg (Frankreich). Soziologe, Dozent an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS). Im Mittelpunkt seiner Forschung steht die Erinnerung an homosexuelle Opfer des Nationalsozialismus. Claudia SCHMÖLDERS, geboren 1944 in Heidelberg (Deutschland). Textredakteurin und Dozentin am Institut für Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Ihre Forschungsinteressen umfassen Buchkultur und Physiognomik. Gesine SCHWAN, geboren 1943 in Berlin (Deutschland). Politikwissenschaftlerin, Präsidentin der Governance-Plattform Humboldt-Viadrina in Berlin. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Geschichte der Theorien der Demokratie. Thomas SERRIER, geboren 1971 in Le Mans (Frankreich). Professor für deutsche Geschichte und Kultur an der Universität Lille. 2018 – 2019 Fel515

DIE AUTOREN

low am Nantes Institute for Advanced Study. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, die der Grenzregionen Mittel- und Osteuropas und die europäischen Erinnerungskulturen. Suresh SHARMA (†), geboren 1945 in Karnal (Indien). Historiker und Anthropologe, ehemaliger Direktor des Center for the Study of Developing Societies in New Delhi. Seine Forschung konzentrierte sich auf die indische Gesellschaft und auf Gandhi. Irina SHERBAKOVA, geboren 1949 in Moskau (Russland). Historikerin, Germanistin und Publizistin. Seit Ende der 1970er-Jahre befasst sie sich intensiv mit der Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus in der Sowjetunion. Sie ist Mitinitiatorin der Menschenrechtsorganisation Memorial. Nenad STEFANOV, geboren 1970 in Bad Homburg (Deutschland). Wissenschaftlicher Koordinator am Interdisziplinären Zentrum für Grenzforschung „Crossing Borders“ der Humboldt-Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozial- und Kulturgeschichte des Balkans im 19. und 20. Jahrhundert und die Geschichte des intellektuellen Austauschs zwischen dem Balkan und Westeuropa. Michael STOLLEIS, geboren 1941 in Ludwigshafen (Deutschland). Rechtsanwalt und emeritierter Professor für Rechtsgeschichte an der Universität Frankfurt am Main. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im öffentlichen Recht und in der Rechtsgeschichte. Bo STRÅTH, geboren 1943 in Jönköping (Schweden). Professor Emeritus der Geschichte an der Universität Helsinki. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie der Geschichte, der politischen Theorie, der modernen Wirtschaftstheorie und der Geschichte des heutigen Europa. Sanjay SUBRAHMANYAM, geboren 1961 in Neu-Delhi (Indien). Er ist Professor für Neuere Geschichte an der University of California in Los Angeles und Inhaber des Lehrstuhls „Histoire globale de la première modernité“ am Collège de France. 516

DIE AUTOREN

Fabien THÉOFILAKIS, geboren 1976 in Paris (Frankreich). Dozent für Zeitgeschichte an der Universität Paris 1 – Panthéon Sorbonne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte von Kriegsgefangenen sowie die Nachkriegsjustiz in Europa. Philipp THER, geboren 1967 in Mittelberg (Österreich). Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien. Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht die soziokulturelle Geschichte Deutschlands und Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert. Axel TIXHON, geboren 1972 in Dinant (Belgien). Professor für Geschichte an der Universität Namur. Seine Forschung konzentriert sich auf die Geschichte der belgischen Institutionen und die mündliche Überlieferung von historischem Wissen. John TOLAN, geboren 1959 in Milwaukee (USA). Professor für Geschichte an der Universität von Nantes und Mitglied der Academia Europæa. Im Mittelpunkt seiner Forschung steht die Geschichte der kulturellen und religiösen Kontakte zwischen der arabischen und lateinamerikanischen Welt im Mittelalter. Richard TOYE, geboren 1973 in Cambridge (Großbritannien). Professor für Geschichte an der Universität Exeter. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die britische Politik, wirtschaftliches Denken und die Geschichte der Imperien. Jürgen TRABANT, geboren 1942 in Frankfurt am Main (Deutschland). Professor Emeritus der Sprachwissenschaft am Institut für Römische Philologie der Freien Universität Berlin und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Arbeitsschwerpunkte sind vor allem die französische und italienische Sprachwissenschaft sowie die Anthropologie der Sprache. Enzo TRAVERSO, geboren 1957 in Gavi (Italien). Professor für Zeitgeschichte an der Cornell University in Ithaca (New York). Spezialist für die Kultur- und Geistesgeschichte Europas des 19. und 20. Jahrhunderts.

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DIE AUTOREN

Jakob VOGEL, geboren 1963 in Hamburg (Deutschland). Direktor des Centre Marc Bloch Berlin und Professor am Centre d’histoire de Sciences Po Paris, Inhaber des Lehrstuhls für Europäische Geschichte (19. und 20. Jahrhundert). Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht die europäische Geschichte der Neuzeit, insbesondere die Geschichte der Nation, die Geschichte des europäischen Kolonialismus vom 18. bis 20. Jahrhundert und die Wissensgeschichte. Claudia WEBER, geboren 1969 in Guben (Deutschland). Professorin für Zeitgeschichte an der Europäischen Viadrina Universität in Frankfurt /  Oder. Spezialistin für die Geschichte der Gewalt in Ost- und Südeuropa. Catherine WIHTOL DE WENDEN, geboren 1950 in Soissons (Frankreich). Politologin, emeritierte Forschungsdirektorin am Internationalen Forschungszentrum an der Sciences Po Paris. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der internationalen Migration aus globaler Sicht. Jay WINTER, geboren 1945 in New York (USA). Professor Emeritus für Zeitgeschichte an der Yale University. Spezialist für den Ersten Weltkrieg und seine Auswirkungen auf das 20. Jahrhundert. Agata ZYSIAK, geboren 1985 in Łód´z (Polen). Kultursoziologin und Forscherin an der polnischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Stadtsoziologie und die historische Soziologie.

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