Ethnographien der Sinne: Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen [1. Aufl.] 9783839427552

Sensual perception under focus - this volume develops new perspectives for ethnographic research, keeping its possibilit

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German Pages 322 [324] Year 2014

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Ethnographien der Sinne: Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen [1. Aufl.]
 9783839427552

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
Vorwort
Einleitung
THEORETISCHE PERSPEKTIVEN / METHODISCHE ANSÄTZE
Kulturanthropologie und Wahrnehmung. Zur Sinnlichkeit in Feld und Forschung
Mediatisierte Sinne und die Eigensinnigkeit der Medien. Für eine medientheoretische Sensibilisierung der sinnlichen Ethnographie
»Sound Culture«, »Acoustemology« oder »Klanganthropologie«? Sinnliche Ethnographie und Sound Studies
Ess-Settings als Versammlungen der Sinne. Zum Problem der Greifbarkeit sinnlicher Wahrnehmung
APPRENTICESHIP / ZUR SCHULUNG DER SINNE
Framing and educating attention. A sensory apprenticeship in the context of domestic energy research
Living fieldwork – Feeling hostess. Leibliche Wahrnehmung als Erkenntnisinstrument
Das ›erlernte‹ Tasten der Lakandon Maya Zur Erfassung der Tortillazubereitung durch das Konzept skilled touch
Die Reise ins Knie. Zum ethnographischen Umgang mit Grenzphänomenen im Kontext heterodoxer Heilweisen
›FAKTEN‹ SPÜREN / SINNLICHE WAHRNEHMUNG UND GESCHICHTE
Von Sinn und Sinnlichkeit des Richtens. Ein historischer Blick auf Konzepte juristischer Urteilsfindung Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts
Sinnliche Ethnographie an Tatorten. Überlegungen zur Ausstellungsanalyse in Gedenkstätten an historischen Orten nationalsozialistischer Verbrechen
Himmlische Düfte – Höllischer Gestank Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Sinne am Beispiel des foetor judaicus im frühneuzeitlichen Spanien
Doing sense with the senses. Knowledge circulation on themed walks and their ethnography
RÄUME / SINNE / ATMOSPHÄREN
Acid House als Grenze des praxeologischen Kulturverständnisses. Zum Realismus der sensuellen Ethnographie
Emotionen/Körper/Sinne und der Fußballraum. Methodische Zugänge zu einer Fenerbahçe-Kneipe in Wien
New York City ›Die Stadt spüren‹ als Zugang zum Feld
Sustaining a dynamic pause. Serendipitous knowledge of an ensounded body
(T)Raumerfahrungen des Körpers. Von Aktionsräumen und machtvollem Zeigen
Autorinnen und Autoren

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Lydia Maria Arantes, Elisa Rieger (Hg.) Ethnographien der Sinne

Edition Kulturwissenschaft | Band 45

Lydia Maria Arantes, Elisa Rieger (Hg.)

Ethnographien der Sinne Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Karl-Franzens-Universität Graz, des Dekanats der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, des Referats für Wissenschaft und Forschung des Landes Steiermark und des Kulturamts der Stadt Graz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Mauricio Ricardo Arantes, Graz, 2013 © Mauricio Ricardo Arantes Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2755-8 PDF-ISBN 978-3-8394-2755-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 9 Vorwort

Katharina Eisch-Angus | 11 Einleitung

Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger | 13

THEORETISCHE PERSPEKTIVEN | METHODISCHE ANSÄTZE Kulturanthropologie und Wahrnehmung Zur Sinnlichkeit in Feld und Forschung

Lydia Maria Arantes | 23 Mediatisierte Sinne und die Eigensinnigkeit der Medien Für eine medientheoretische Sensibilisierung der sinnlichen Ethnographie

Judith Willkomm | 39 »Sound Culture«, »Acoustemology« oder »Klanganthropologie«? Sinnliche Ethnographie und Sound Studies

Fritz Schlüter | 57 Ess-Setting als Versammlungen der Sinne Zum Problem der Greifbarkeit sinnlicher Wahrnehmung

Inga Reimers | 75

APPRENTICESHIP | ZUR S CHULUNG DER SINNE Framing and educating attention A sensory apprenticeship in the context of domestic energy research

Kerstin Leder Mackley and Sarah Pink | 93

Living fieldwork – Feeling hostess Leibliche Wahrnehmung als Erkenntnisinstrument

Tanja Angela Kubes | 111 Das ›erlernte‹ Tasten der Lakandon Maya Zur Erfassung der Tortillazubereitung durch das Konzept skilled touch

Petra Panenka | 127 Die Reise ins Knie Zum ethnographischen Umgang mit Grenzphänomenen im Kontext heterodoxer Heilweisen

Mirko Uhlig | 143

›FAKTEN‹ SPÜREN | SINNLICHE W AHRNEHMUNG UND GESCHICHTE Von Sinn und Sinnlichkeit des Richtens Ein historischer Blick auf Konzepte juristischer Urteilsfindung Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts

Sandra Schnädelbach | 161 Sinnliche Ethnographien an Tatorten Überlegungen zur Ausstellungsanalyse in Gedenkstätten an historischen Orten nationalsozialistischer Verbrechen

Sarah Kleinmann | 179 Himmlische Düfte – Höllischer Gestank Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Sinne am Beispiel des foetor judaicus im frühneuzeitlichen Spanien

Julia Gebke | 195 Doing sense with the senses Knowledge circulation on themed walks and their ethnography

Sarah Willner | 213

RÄUME | SINNE | ATMOSPHÄREN Acid House als Grenze des praxeologischen Kulturverständnisses Zum Realismus der sensuellen Ethnographie

Jochen Bonz | 233 Emotionen/Körper/Sinne und der Fußballraum Methodische Zugänge zu einer Fenerbahçe-Kneipe in Wien

Nina Szogs | 251 New York City ›Die Stadt spüren‹ als Zugang zum Feld

Simone Egger | 269 Sustaining a dynamic pause Serendipitous knowledge of an ensounded body

Polina Tšerkassova | 287 (T)Raumerfahrungen des Körpers Von Aktionsräumen und machtvollem Zeigen

Elisa Rieger | 301 Autorinnen und Autoren | 317

Danksagung

Wir bedanken uns an dieser Stelle ganz besonders bei allen Unterstützer_innen dieses Sammelbandes, ohne die eine Annäherung an Ethnographien der Sinne nicht möglich gewesen wäre. Zu Beginn steht Stephanie Tomschitz (Graz), welche die 8. Doktorand_innen-Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (dgv) erstmals nach Graz holte. Das Thema Sinnliche Ethnographien. Für eine Reflexion der Rolle sinnlicher Wahrnehmung in kulturanthropologischen Forschungen war unter den vier Nachwuchswissenschaftler_innen (Lydia Maria Arantes, Johanna Stadlbauer, Elisa Rieger und Stephanie Tomschitz) bald festgelegt, welche die Tagung im Mai 2013 am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz gemeinsam organisierten und veranstalteten. Wir bedanken uns an dieser Stelle einerseits für die großzügige universitäre Unterstützung durch Räumlichkeiten, Sachmittel, technischen und administrativen Beistand sowie die Bereitstellung von Fördergeldern, damit wir diese Tagung ausrichten konnten. Andererseits gilt auch ein großer Dank den Vortragenden, die sich von diesem Thema sichtlich angesprochen fühlten, und dem interessierten Publikum, welche uns eine spannende und erkenntnisreiche Tagung bescherten. Darüber hinaus ermöglichte uns die Leitung eines Panels zum Thema Sensory knowledge and its circulation beim 11. SIEF-Kongress im Juni/Juli 2013 in Tartu, Estland (SIEF – International Society for Ethnology and Folklore) nicht nur eine Diskussion auf internationaler Ebene, sondern legte letzten Endes auch die Idee eines Sammelbandes nahe. Den hier vertretenen Panelteil_nehmer_innen sei besonders gedankt, da sie den Band um die Dimension der Interdependenz von Wissen und Sinnen erweitern. Für das englischsprachige Lektorat danken wir an dieser Stelle Antonia Barboric. Ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Universität Graz seitens des Forschungsmanagements und -service und seitens des Dekanats der geistes-

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wissenschaftlichen Fakultät sowie der Abteilung 8 Wissenschaft und Gesundheit des Landes Steiermark und des Kulturamts der Stadt Graz hätten diese Überlegungen jedoch keine dokumentierte und als Buch verdichtete Form gefunden. Wir danken deshalb den Fördergeber_innen ganz besonders für ihre Unterstützung der wissenschaftlichen (Nachwuchs)Forscher_innen, die dadurch die Möglichkeit erhalten, an der internationalen Fachdiskussion sowohl teil zu haben, als dazu auch einen zusätzlichen Beitrag leisten zu können.

Graz, im August 2014

Die Herausgeberinnen

Vorwort K ATHARINA E ISCH -A NGUS

Die Vorstellung einer Forschung mit allen Sinnen fasziniert. Wir können unsere alltäglichen wissenschaftlichen Gegenstände sehen, hören, und durchaus auch schmecken, riechen, fühlen. Nur, was tun mit diesen Wahrnehmungsdaten? Wie sollen wir aus dem Gefängnis der eigenen Sinnlichkeit hinaus – und zum wissenschaftlichen Verstehen von Alltagskultur kommen? Als einer der ersten im Fach hat sich Utz Jeggle mit den Sinnen, mit Körper, Subjektivität und feldforschender Sensibilität auseinandergesetzt – und mit der Problematik ihrer wissenschaftlichen Reflexion: »Jede wissenschaftliche Arbeit zertrennt und zerteilt, legt untergründige Adern, Verbindungen bloß. Aber auch wenn sie nicht ausschlachtet, steht sie doch stets in Gefahr, das auseinandergenommene Objekt nicht mehr zusammensetzen zu können [...].«1 Als Volkskundler und Ethnograph vertraute Jeggle dem Konkreten und Gegenständlichen. In Der Kopf des Körpers suchte er daher die Lösung im Kopf als dem Ort, wo vier von fünf Sinnen lokalisiert sind und wo zugleich Wahrnehmungen in Sinn und Sprache übersetzt werden. So koppelte er die Sinne empirisch-körperlich an den Sinn, dem er mit wissenschaftlicher Akribie im Erleben, Erzählen und Erinnern des Alltags nachspürte. In der Reflexivität sinnengeleiteter Forschung sah Utz Jeggle ein methodisches und erkenntnistheoretisches Anliegen, das die Ethnographie mit der Psychoanalyse teilt. Beide wissen, dass die sinnliche Wahrnehmung im wissenschaftlichen Sezieren verloren geht, aber auch, dass es keine individuelle, ›authentische‹ Sinneswahrnehmung gibt, die nicht je schon kulturell und alltagsweltlich sinnbesetzt ist. Drittens haben sich beide Wissenschaften die sinnliche Wahrnehmung als methodisches Sensorium erschlossen: Analog zur

1

Jeggle, Kopf des Körpers, 12.

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Psychoanalyse nutzt auch die ethnographische Methodik die ›freischwebende Aufmerksamkeit‹, um über Sachdaten hinaus die sinnliche Wahrnehmung dafür zu öffnen, was im Forschungsfeld an Gefühlsmomenten, Assozationen und Irritationen mitschwingt. Die Kultur kann – und das tut sie unentwegt – Machtstrukturen tabuisieren, sie unbewusst und unaussprechbar machen, dennoch aber bleiben sie sinnlich eingekörpert und der subjektiven Wahrnehmung der Forschenden zugänglich. Hier schlägt die Freudsche Psychoanalyse das ›Zuhören mit dem dritten Ohr‹ vor, das insofern reflexiv ist, als sich der Analytiker, der auch eine Ethnographin sein kann, zugleich als interagierende Alltagsperson und Gesprächspartnerin wahrnimmt. Ethnographie braucht die wahrnehmende Einlassung auf die Perspektive des Anderen ebenso wie die Sensibilität für deren Widerhall im Eigenen, die in einem dritten Schritt (selbst-)reflexiv gedeutet werden. In dieser dialogischen Forschungsbewegung wird das wissenschaftlich Zerlegte zu neuen, verstehenden Zusammenhängen zusammengesetzt, indem sich die Sinne mit kulturellem Sinn verbinden – oder besser: mit der Vielfalt und Vieldeutigkeit kultureller Sinngebung, wie sie sich in der Forschungssituation erschließt. Entsprechend werden die sinnlichen Eindrücke einer Forschungsszene innerhalb der assoziativen Kontexte von Bildern, Gesprächen, Erzählungen und Erinnerungen sinntragend. Die Sinne sind blind ohne die Wegweisungen des kollektiven Gedächtnisses, sie sind stumm ohne das Erzählen, taub ohne die Erfahrung, die materielle Wahrnehmungen zu Alltagspraxen formt. Über das sinnlich-reflexive Deuten spiegelt sich gesellschaftlicher Wandel im alltäglichen Sinneswandel, und erhält auch die Sinnestäuschung, die Imagination, ihren kulturellen Raum. Mit Karl Valentin darf die interaktive Reflexion alltäglicher Sinnenvielfalt dann durchaus einmal »ganz saudumm« ausgehen: »Anni: Was is denn nacha ganz saudumm? – Simmerl: Ganz saudumm wär zum Beispiel des, wenn i zu dir gsagt hätt: ›Anni, halt dir amal d’Ohrn zua, dann schau i, ob i di riach.‹ – Anni: So, des is ganz saudumm? – Simmerl: Ja, des is ganz saudumm.«2

L ITERATUR Jeggle, Utz (1986): Der Kopf des Körpers. Eine volkskundliche Anatomie, Weinheim, Berlin: Quadriga. Valentin, Karl (1985): Gesammelte Werke in einem Band, München: Piper.

2

Valentin, Gesammelte Werke, 190.

Einleitung L YDIA M ARIA A RANTES UND E LISA R IEGER

Sinnliche Wahrnehmung ist im lebensweltlichen Alltag sowie im Prozess der ethnographischen Forschung eine Selbstverständlichkeit. Gerade diese Selbstverständlichkeit hat jedoch zur Folge, dass Wahrnehmung und leibliche Erfahrung nur schwer einer kritischen Reflexion zugänglich gemacht werden können. Das, was wir und andere wahrnehmen, zu verstehen und in Worte zu fassen, scheint geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Dabei beklagen sich manche nicht nur darüber, dass in gewissen Bereichen die Sprache fehle, um das Wahrgenommene zu bezeichnen und sprachlich vermittelbar zu machen.1 Darüber hinaus scheint auch die (vermeintliche) Subjektivität von Wahrnehmung2 im wissenschaftlichen Kontext gerne neu diskutiert zu werden. Es verwundert deshalb nicht, dass gerade die Auseinandersetzung mit sinnlicher Wahrnehmung in den empirischen Kulturwissenschaften3 nicht nur von der steten Forderung nach einer (Selbst-)Reflexivität der Forscher_innen begleitet wird, sondern auch mediengestützte und kollaborative4 methodische Zugänge

1

Auf die Schwierigkeit konkreter sprachlicher Erfassung von sinnlicher Wahrnehmung

2

Der Verweis auf eine ›vermeintliche‹ Subjektivität rührt daher, dass der Philosoph

verweist z.B. Inga Reimers in ihrem Beitrag. Lambert Wiesing von einem Öffentlichkeitscharakter von Wahrnehmung ausgeht. Vgl. hierzu Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung. 3

Die im deutschsprachigen Raum geläufigen Fachbezeichnungen Europäische Ethnologie/empirische Kulturwissenschaft/Volkskunde/Kulturanthropologie werden in diesem Band durchwegs synonym verwendet.

4

Siehe hierzu auch Leder Mackley/Pink in diesem Band.

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einen Aufschwung erfahren, erhofft man sich durch diese doch ein größeres Maß an Vergleichbarkeit und Intersubjektivität.5 Wahrnehmung und leibliche Erfahrung sind nicht nur aus den oben genannten Gründen eine Herausforderung für empirisch-kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Forschungsansätze. Der Körper_Leib6 ist auch, und dies gar nicht selten in seiner Wahrnehmung und Beschreibung von Abspaltungen und Einverleibungen begleitet, welche einmal ein spezifisches Organ, dann wieder die ganze Atmosphäre des Phänomens favorisieren. Diese z.T. höchst politische Motivation, den Körper_Leib zu erfassen, verweist auf humane Selektionsmechanismen, welche die Eigen-Erfahrung und Eigen-Bewegung des Körpers nur zu gern ausblenden. Im Zuge historischer Beschäftigungen mit Körperkonzepten führt jedoch kaum ein Weg an der kollektiven praktischen Vernunft vorbei, die Verweise auf den viel zitierten cartesianischen Dualismus oder auf den l’homme machine nahe legen, und damit das Ordnungsproblem7 des Körper_Leibs, der immer wieder unwillkürliche Handlungen setzt, demonstrieren. Das Phänomen – Körper_Leib – welche Namen es auch findet, bleibt Faszinosum und durchdringt vielleicht gerade deshalb als solches immer wieder wissenschaftliche Reden, gestaltet Forschungsvorhaben, begründet theoretische und in der Folge methodische Konzepte. Gegenwärtig, sei es als Reaktion auf die Betonung der textuellen Repräsentationsformen empirischer Kulturwissenschaften, sei es als Antwort auf turns, wie den cognitive turn oder den (neuro)biological turn8, rücken Wahrnehmungsmodalitäten, insbesondere jedoch die Sinne (wieder) in den Vordergrund empirisch-kulturwissenschaftlicher Forschungen.9 Immer mehr (Nachwuchs-)Forscher_innen versuchen sich daran, das sinnlich-leibliche Eingebunden-Sein in die alltägliche Lebenswelt einerseits sowie in Feldforschungsprozesse und -dynamiken andererseits nicht nur zu reflektieren, sondern auch epistemologisch fruchtbar zu machen. Im vorliegen-

5

Siehe hierzu z.B. Pink, Sensory Ethnography, 49–58.

6

Mit dieser Schreibweise versuchen wir, historisch erwachsene Schreibungen zu vermeiden, um eine dritte Dimension mit einzubeziehen – nämlich eine dynamische Lücke, welche nicht nur verbindet, sondern auch dem Dazwischen der Konzepte und der Übergänge von einem ins andere Raum gibt.

7

Vgl. hierzu List, Ethik des Lebendigen.

8

Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, 381f.

9

Vgl. beispielsweise Chakkalakal, Lebendige Anschaulichkeit, in der Zeitschrift für Volkskunde 2014 oder das Thema des 40. dgv-Kongresses: Kulturen der Sinne. Zugänge zur Sensualität der sozialen Welt, 22.–25. Juli 2015, Zürich.

E INLEITUNG

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den Band werden deshalb rezente Überlegungen zu sinnlicher Wahrnehmung als Forschungsgegenstand einer kritischen Alltagskulturforschung sowie als eine, die methodische Praxis erweiternde Perspektive versammelt und zur Diskussion gestellt. Ethnographien der Sinne vereint sowohl Beiträge, welche sich verstärkt mit einzelnen Sinnen auseinandersetzen, als auch Aufsätze, die den Umgang mit den Sinnen zu Beginn des 21. Jahrhunderts dokumentieren und in seinem Entstehungskontext veranschaulichen. Von der praktischen Schulung der Sinne bis hin zur abstrakten Überschreitung in theoretisch-methodischen Neukonzeptionen reicht die Auseinandersetzung mit und Neuverhandlung von einer forschenden Perspektive auf das Phänomen Körper_Leib. Die spezifisch ethnographische Zugangsweise erlaubt neue Zugänge zum Faszinosum Körper_Leib, sie stellt Selbstverständliches im Forschungsprozess heraus und anschließend in Frage, um die Welt nicht nur sinnhaft, sondern auch begrifflich neu zu fassen. Unumgänglich sind deshalb Neuschöpfungen und geeignete Übersetzungen, welche die anglo-amerikanische Debatte um eine Sensory Ethnography/Anthropology of the Senses10 aufnehmen und in einem neuen kulturellen Kontext diskutieren. Dabei stoßen einzelne Beiträger_innen auf historisch gewachsene und manchmal auch vorgezeichnete Denklinien, denen nur schwer zu entkommen ist. Dennoch – sowohl die Bezauberung des Phänomens, als auch die forschende Herangehensweise einer neuen Generation von (Nachwuchs-)Wissenschaftler_innen motiviert dazu, diese Herausforderungen anzunehmen und sich am eigenen Material zu erproben. Dieses evoziert vor allem eine intensive Reflexionstätigkeit und erkennt die Schwierigkeit, über Wahrnehmung im Alltag und im Forschen zu sprechen. Gerade diese Schwierigkeit bringt es zuweilen auch mit sich, dass nach neuen methodischen Herangehensweisen gesucht wird. So weisen einige Beiträge autoethnographische Züge auf, auch wenn dies nicht immer explizit gemacht wird. Auseinandersetzungen mit den Körper_Leibern und Wahrnehmungen anderer, scheinen (mehr oder weniger) selbsttätig auch die Reflexion der eigenen Körperlichkeit, Leiblichkeit und Sinnlichkeit auf den Plan zu rufen. Und dies u.a. auch mit dem Ziel, dass die leiblichen Erfahrungen der Feldzugehörigen nicht (nur) als Forscher_in nachempfunden werden, sondern als dem Feld Zugehörige gemacht werden. Dies soll nicht nur ein besseres Verständnis der Beziehung zwischen den Menschen im untersuchten Feld und

10 Für einen Überblick über theoretische wie methodische Ansätze aus dem angloamerikanischen Raum sowie eher jüngere Auseinandersetzungen mit Wahrnehmung als Forschungsfokus und methodenerweiterndes Instrumentarium aus dem deutschsprachigen Raum siehe Arantes in diesem Buch.

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ihren Handlungen, sondern in weiterer Folge auch eine adäquatere (sprachliche) Vermittlung und Repräsentation der leiblich erfahrenen Erkenntnisse erlauben. Darüber hinaus kann dadurch nicht nur ein Einblick in die Einübung von körperlich-sinnlichen Disziplinierungsmaßnahmen gewonnen werden, sondern auch Diskrepanzen zwischen körperlichen Inszenierungen von Gefühlen und leiblichen Empfindungszuständen – wie am Beispiel der Messehostessen besonders lebhaft veranschaulicht wird – herausgearbeitet werden (Kubes). Diese mit der Forschung einhergehende Schulung der sinnlichen Wahrnehmung, im englischen auch als sensory apprenticeship11 bezeichnet, stellt sich auch als sehr große Herausforderung dar. So kann Forscher_innen etwa die anthropologische »Mit-Reise« in die hermetisch abgeriegelt scheinenden ›Orte‹ im Kontext medizinethnologischer Erforschung von schamanistischen Heilpraktiken verwehrt bleiben (Uhlig). An die Seite der Forderung nach einem sinnlichen Nach- und Mitempfinden der untersuchten Praktiken muss deshalb auch das Eingeständnis gestellt werden, dass Ethnograph_innen den Feldzugehörigen nicht überall hin folgen können (müssen). Sie müssen vielmehr auch lernen, das Unvermögen auszuhalten, genau das wahrnehmen zu können, was die Akteur_innen im Feld wahrnehmen. Um den eigenen sinnlich-leiblichen Schulungsprozess auch im Nachhinein wahrnehmen zu können, schlagen Leder Mackley/Pink die Verwendung audiovisueller Medien in der Erhebungsphase vor. Gerade bei Forschungen, die alltägliche und bisweilen unhinterfragte Tätigkeiten untersuchen – wie das eigene Haus temperaturkonstant zu halten –, müssen sich die Forschenden von ihren eigenen eingelernten Kategorisierungen und Referenzrahmen befreien und idealerweise durch die eigene praktische Involvierung die feldimmanenten Bezugssysteme neu erlernen. Durch die Einführung der Videokamera, besonders auch bei einer kollaborativen Arbeitsweise, wird einerseits nicht nur die notwendige (technisch-induzierte) Distanz hergestellt, sondern andererseits auch ein retrospektives ›Zurückfühlen‹ ermöglicht, was wiederum eine mehrmalige ›gefühlte‹ Nähe zum Feld erlaubt. Die Verwendung von Medien jeglicher Art muss jedoch stets reflektiert werden. Denn diese transformieren Wahrnehmung nicht nur, sondern bewirken einen wechselseitigen Prägungsprozess. Das menschliche Sensorium passt sich nicht nur an das technische Equipment an, sondern auch das technische Gerät wird (nach)justiert, um jenes an das menschliche Sensorium anzugleichen. Es gilt demnach, die Verwendung von wahrnehmungstransformierenden Medientechnologien im lebensweltlichen Alltag zu untersuchen und auch die

11 Vgl. dazu z.B. Stoller, Sensuous Scholarship; Pink, Sensory Ethnography.

E INLEITUNG

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Einbindung von forschungsunterstützendem Gerät zu reflektieren, um dadurch eine »Sensibilisierung von Wahrnehmung im Erhebungskontext« (Willkomm) zu gewährleisten. Die bereits angesprochene Schulung der eigenen Wahrnehmung bzw. das damit einhergehende Verständnis dafür, wie Feldangehörige ihre Wahrnehmungsfähigkeiten verfeinern, erfordert zudem weitere Differenzierungen bestehender Begrifflichkeiten. Gerade die feinfühlige, den ganzen Körper fordernde Zubereitung von Tortillas bei den Lakandon Maya wird durch die sinnlich-gestützte Erforschung nicht nur in ihrer Komplexität – sei es in sinnlichleiblicher oder auch spiritueller Hinsicht – veranschaulicht, sondern in ihrer dichten Beschreibung auch verstehbar und nachempfindbar gemacht (Panenka). Von der Zubereitung der Mahlzeiten zur Einverleibung dieser ist es ein recht kurzer Weg. Um auch das Essen anthropologisch fassen zu können, plädiert Inga Reimers für experimentelle ethnographische Zugänge. Die gezielte Inszenierung des Essens als kollektive Handlung im ethnographischen Forschungsexperiment soll dabei einen vertrauten Rahmen schaffen, in dem die Bemühungen Früchte tragen sollen, Geschmacks-, Geruchs- oder akustische Wahrnehmungen der eigenen Kaubewegungen bzw. eines zerkaut-werdenden Knuspermüslis verbal festzuhalten und so (wissenschaftlich) greifbar zu machen. Gerade die Klang-Erfahrung ist auch auf kollektiver Ebene ein spannendes Forschungsfeld. Dabei ist zu bedenken, dass das Wahrzunehmende im jeweiligen Moment immer zuerst hervorgebracht werden muss. Klangliche Hervorbringungen, d.h. die Bedingungen der Erfahrbarkeit von Klang, sowie deren Wahrnehmung sind z.B. insofern von großer Bedeutung für kulturelle und soziale Praktiken, als etwa nicht-gewollter Klang (Lärm) als sozialräumlich strukturierend beobachtet wird. Um zu vermeiden, der seit langem bestehenden Tradition der Trennung von Körper und Geist das Wort zu reden, möchten wir im Folgenden weitere Aspekte und Themen aufgreifen, die evident, sich manchmal jedoch auch ein wenig versteckt im Umgang mit den Sinnen ranken. Sie sollen gerade nicht die Dichotomie von Sinn und Sinnlichkeit fortschreiben, sondern versuchen vielmehr die Prozesshaftigkeit, Dynamik und die spezifische Veränderlichkeit menschlichen Wahrnehmens im empirischen Forschungsprozess herauszustreichen. Einzelne Beiträge versammeln deshalb Erweiterungen von damit verbundenen theoretischen wie methodischen Konzeptionen und Forschungsgansätzen. Zu nennen sind hier vor allem die Ausdehnung von Körperkonzepten in z.B. multiple bodies (Willner) oder des Pierre Bourdieu’schen Habitus-Konzepts um die Lacan’sche Dimension (Bonz) sowie die Steigerung methodischer Zugänge, beispielsweise einer Stadtanthropologie durch Gernot Böhmes Atmosphärenkonzept (Egger)

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oder jener eines praxeologischen Wissenschaftsverständnisses durch die Ergänzung durch – noch einmal Lacan – das Imaginäre und Reale (Bonz). Veränderlichkeit wird besonders dort deutlich, wo emotionale Erfahrungen die Feldforschung nachhaltig beeinflussen und Forschende das Konzept der Key Emotional Episodes von Peter Berger wieder aufgreifen, um den Forschungsprozess nicht nur intersubjektiv vermittelbar zu machen, sondern überhaupt fortführen zu können (Szogs), um dadurch eine Eintrittskarte ins Feld zu erhalten. Wenn das Teilen dieser emotionalen Episoden im Forschungsprozess zum Schlüsselmoment wird, dann entsteht nicht selten der Eindruck, dass der ephemere Charakter von Sinneseindrücken plötzlich eine Wucht erhält, die – einem Sturm vergleichbar – nicht nur Türen öffnen kann, sondern vielmehr dazu fähig ist, langjährig Verwurzeltes aus seiner Verankerung zu heben. Besonders ein Blick auf die historische Genese juristischer Urteilsfindung vermag z.B. anhand des (Augenscheins)Beweises zu zeigen, wie prozesshaft die oft als Fakten dargestellten und so auch vermittelten – allerdings andauernden – Prozesse geführt werden (Schnädelbach). Das fortwährende Spiel von Ruhe und Bewegung erhält hinsichtlich der musealen Repräsentation von Tat- und Gedenkorten ebenso großes Gewicht. Sich z.B. auf die Stille an Tatorten nationalsozialistischer Verbrechen einzulassen und sich von dieser überwältigen zu lassen – die Überwältigung schließlich auszuhalten (Kleinmann) – verändert nicht nur die Beziehung zu sogenannten historischen Tatsachen und Fakten, sie öffnet vielmehr den Blick für weitere Zugänge zur Wahrnehmung der Forschenden im Feld und ihre Bedeutung. Andernorts wiederum beendet die stille, jedoch dynamische Pause eines in den Köpfen vorgefassten Konzertablaufs das Musizieren gegen eine klangliche Stadtumgebung, sie befördert stattdessen das Moment der überkulturellen Verbindung (Tšerkassova). Im Rückzug auf den eigenen Körper_Leib und im meditativen ›Verschließen‹ vor sinnlichen Ablenkungen wiederum lässt jene Stille schließlich die Raumerfahrung der Wahrnehmenden neu entfalten (Rieger). Diese Perspektiven auf die Rolle sinnlicher Wahrnehmung verweisen im Feldforschungsprozess auf ein lebendiges Werden und Vergehen, auf agile Verflechtungsmomente, sie verweisen jedoch auch auf die Anstrengungen, welche die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Grausamkeiten und Abgründen menschlichen Handelns, mit sich bringen kann. Die Tradition sozialer Ausgrenzung und Stereotypisierung, wie sie gern am Körper_Leib und in Feldern, welche diesen zum Gegenstand machen, verhandelt werden, wird z.B. am foetor judaicus evident. Der konstatierte Hebräerduft wird im frühneuzeitlichen Spanien zum Geruchsstigma für eine gesellschaftliche Gruppe (Gebke) – zur paradoxen Festschreibung an das an sich flüchtige Moment einer Geruchswahr-

E INLEITUNG

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nehmung. Diesen stigmatisierenden Festschreibungen wirken Versuche entgegen, welche in diesem Band die Komplexität der Wahrnehmung auf begrifflicher wie auf methodischer Ebene aufnehmen und neu verhandeln. Sinnliche Ethnographien (Kleinmann) stehen beispielsweise der Sensuellen Ethnographie (Bonz) zur Seite, um eine Sinnhaftigkeit (›doing sense‹ bei Willner) der körperlichen Wahrnehmung zu erreichen. Eine weitere Verfeinerung begrifflicher Konzepte und Methoden, wie das Konzept skilled touch (Panenka) oder auch die Methode der living fieldwork (Kubes), zeigt, wie vielfältig sich die Auseinandersetzung mit dem Körper_Leib gestalten kann. Gleichwohl ist den Autor_innen bewusst, dass sie mit ihren Neuschöpfungen und Überlegungen aktiv im Spiel des (wissenschaftlichen) Werdens und Vergehens partizipieren. Es scheint, die Wucht des ephemeren Charakters sinnlichen Empfindens löst sich erneut auf – sowohl die Beschäftigung mit den Sinnen und des damit verbundenen spezifischen Wissens, als auch die Vermittelbarkeit dieses Wissens inspirieren zu einem neuen Versuch, die Welt zu berühren.

L ITERATUR Bachmann-Medick, Doris (2010): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg: Rowohlt. Chakkalakal, Silvy (2014): Lebendige Anschaulichkeit. Anthropologisierung der Sinne und der Erfahrungsbegriff im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Volkskunde (1), 33–64. List, Elisabeth (2009): Ethik des Lebendigen, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Pink, Sarah (2009): Doing Sensory Ethnography, London [u.a.]: Sage. Stoller, Paul (1997): Sensuous Scholarship, Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Wiesing, Lambert (2009): Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

T HEORETISCHE P ERSPEKTIVEN | M ETHODISCHE ANSÄTZE

Kulturanthropologie und Wahrnehmung Zur Sinnlichkeit in Feld und Forschung L YDIA M ARIA A RANTES

Der vorliegende Beitrag soll einen Überblick über relevante Auseinandersetzungen mit sinnlicher Wahrnehmung in kulturanthropologischen Forschungen geben. Wie sich herausstellen wird, nimmt sinnliche Wahrnehmung zunehmend eine Doppelrolle ein. So wird nicht nur gefordert, sie als zu erforschenden Gegenstand in den Kanon der Kulturanthropologie als kritische Alltagskulturwissenschaft aufzunehmen. Darüber hinaus soll sie auch als erkenntnisgewinnende Instanz im ethnographischen Forschungsprozess anerkannt werden. Die ersten zwei einleitenden Abschnitte behandeln Anzahl, Abgrenzung und Hierarchisierung der Sinne und werfen einen kurzen Blick auf die Geschichte der Wahrnehmungsforschung sowie die Dominanz des Sehens im (wissenschaftlichen) Erkenntnisgewinnungsprozess. Der Großteil des Beitrags setzt sich mit Studien aus dem Bereich der angloamerikanischen Kultur- und Sozialanthropologie und parallel entstehenden wie auch darauf basierenden Bemühungen im deutschsprachigen Raum auseinander.

E INLEITENDE B ETRACHTUNGEN Fünf, sechs, sieben oder wie viele Sinne? Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken – das sind gemeinhin diejenigen Kategorien, anhand derer wir sinnliches Wahrnehmen in Worte fassen. Diese Fünfzahl der Sinne und die damit begrifflich gefassten, klar voneinander abgrenzbaren Wahrnehmungsvorgänge gehen bereits auf Aristoteles zurück. Er proklamiert in seinem Werk Über die Seele, dass sich aufgrund seiner Aus-

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führungen jeder überzeugen lassen sollte, dass »es keinen weiteren Sinn außer den fünfen (ich meine Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Getast) gibt […]«1. In der westlichen Denktradition wurden diese fünf Sinne vor allem nach ihrem Abstand zum Wahrgenommenen in Nah- und Fernsinne eingeteilt. Zu den Nahsinnen zählten demnach Tasten und Schmecken, zu den Fernsinnen Sehen, Hören und Riechen, wobei das Riechen vielfach eine Zwischenposition einnahm. Diese Einteilung korrespondiert weitestgehend mit einer Hierarchisierung der Sinne ihrer Entwicklungsstufe zufolge in sogenannte höhere und niedere Sinne, wobei Sehen und Hören einen höheren Status in diesem hierarchisch organisierten Modell zugesprochen bekamen, Tasten, Schmecken und Riechen einen niederen Status. Georg Simmel und Sigmund Freud zufolge steht die Distanzierung von den Nahsinnen bzw. die besondere Bedeutung der Fernsinne im Zusammenhang mit dem Entwicklungsgrad einer Kultur.2 Das in der westlichen Denkweise verankerte Modell der fünf Sinne hat sich hartnäckig gehalten, obwohl es auch hierzulande erstens Zeiten gab, wo beispielsweise Schmecken und Tasten zusammengedacht wurden oder wo das Tasten in diverse Sinne unterteilt wurde.3 Zweitens wird Wahrnehmung spätestens seit dem Aufkommen der modernen Physiologie im 19. Jahrhundert zumindest im naturwissenschaftlichen Kontext stärker ausdifferenziert. So wird aktuell in der Sinnesphysiologie vom visuellen, auditiven und vestibulärem System (Gleichgewichtssinn), sowie von der Somatosensorik (dazu gehören die Sensorik der Körperoberfläche, des Bewegungsapparates und der inneren Organe, sowie die Schmerzempfindung), Geruch und Geschmack gesprochen.4 Drittens wurde in einer Vielzahl an sozialanthropologischen Studien bei indigenen Bevölkerungsgruppen veranschaulicht, dass das dortige alltägliche Erleben und Erfahren sowie die damit einhergehende Kategorisierung sinnlicher Wahrnehmung nicht mit dem westlichen Fünf-Sinne-Modell vereinbar ist. Diese Argumentationsstränge werden üblicherweise dafür herangezogen, um nachzuweisen, dass die Sinne – ihre Anzahl, Abgrenzung und hierarchischen Positionen – ein kulturelles Konstrukt darstellen bzw. dass demnach das westliche Modell der fünf Sinne keinesfalls universelle Gültigkeit besitzt.5

1

Aristoteles, Über die Seele, 424b, 22f; zit. in: Jütte, Geschichte der Sinne, 66.

2 Vgl. Beer, Im Reich der Sinne, 7. 3

Vgl. Classen, Foundations, 401.

4

Vgl. dazu Schmidt/Schaible, Neuro- und Sinnesphysiologie, 203.

5

Indem sinnlicher Wahrnehmung ihr präkultureller Charakter aberkannt wird, wird auch die Annahme, dass sinnliche Wahrnehmung einen unmittelbaren Zugang zur Welt verschaffe, als Illusion entlarvt. Vgl. Classen, Foundations, 401–402.

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Wahrnehmungsforschung und Okularzentrismus Wahrnehmung als Forschungsobjekt bzw. die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit von Wahrnehmung ist über Jahrhunderte ein Gebiet der Philosophie. Dabei ist besonders der philosophische Streit im 17. und 18. Jahrhundert zwischen Empiristen und Rationalisten darüber, ob denn Körper oder Geist – sprich sinnliche Wahrnehmung oder das vernunftgeleitete Denken – die Basis von Erkenntnis bilden würden, zu erwähnen.6 Diese ursprünglich philosophische Frage wandert im 19. Jahrhundert in die Naturwissenschaften, vorerst in die Sinnesphysiologie und bestimmte Zweige der Psychologie, danach in die Biologie, Neurophysiologie und Kognitionsforschung.7 Wahrnehmung soll messbar sein bzw. vermessen werden, was sich auch daran bemerkbar macht, dass z.B. der Tastsinn in mehrere Sinne zerfällt und die zu messenden Einheiten immer kleiner werden (Sensoren, Rezeptoren, Neuronen, etc.). Damit verschwindet das Augenmerk »auf die Verbindung zwischen sinnlicher Wahrnehmung und kulturellen Formen und Praxen« zunehmend aus dem philosophischen Diskurs und Wahrnehmungsforschung wird vorwiegend als naturwissenschaftliche Domäne gehandhabt.8 Über die Ausdifferenzierung der Sinne hinaus wird auch eine Verengung der Wahrnehmung konstatiert, die insbesondere mit dem im Zeitalter der Aufklärung geforderten vernunftgeleiteten Denken und Handeln zusammenhängt. Bereits in der griechischen Antike wird dem Sehen eine Abstraktionsfähigkeit besonderer Art zugeschrieben, da es die Entfernung zwischen den Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen überbrücken und gleichzeitig Distanz wahren kann. Das Sehen wird somit zum Sinn des (objektiven) Erkennens schlechthin. Diese Dominanz des Sehens radikalisiert sich im Verlauf des Zivilisationsprozesses und der damit einhergehenden Disziplinierung.9 Auch im Zuge der Entstehung der Wissenschaften spitzt sich diese Vorherrschaft der visuellen Wahrnehmung im Erkenntnisprozess zu, indem sich ein »distanzierter und überwachender Blick heraus[bildet], der das Sehen noch einmal instrumentalisiert und funktionalisiert«.10 Der erkundende und penetrierende Blick des Wissenschaftlers wird zu einer Metapher für Wissensaneignung, das Sehen avanciert zum zivilisatorischen Sinn schlechthin. Getragen wird dies von aufkommenden Technologien zur Unterstützung der visuellen Wahrnehmung, wie beispielsweise dem Mikroskop auf

6

Für eine ausführliche Diskussion hierzu siehe Kernmayer, Philosophische Disziplin.

7

Vgl. z.B. Kernmayer [u.a.], Sinnes-Wandel?, 103.

8

Vgl. Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 74.

9 Vgl. Wulf, Das gefährdete Auge, 22.  10 Ebd., 24.

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wissenschaftlicher Ebene, aber auch von Bildmedien wie Photographie und Kino auf einer alltagsnahen Ebene, womit wiederum die Dominanz des Sehens – der sogenannte Okularzentrismus – betont wird.11

S INNLICHE W AHRNEHMUNG IN KULTURANTHROPOLOGISCHEN

F ORSCHUNGEN

Angloamerikanischer Raum Im angloamerikanischen Raum treten kulturanthropologische Untersuchungen, die sich mit sinnlicher Wahrnehmung beschäftigen, seit den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts verstärkt auf.12 Grundlegende Arbeiten stammen vom Medienwissenschaftler Marshall McLuhan und seinem Schüler Walter Ong, die als wichtige Prototheoretiker der Anthropology of the Senses13 gelten. Zu Vorläufern der Anthropologie der Sinne zählen auch der Anthropologe Claude Lévi-Strauss, der in seinem Werk zu Mythologien sinnliche Codes von Mythen untersucht, sowie auch die Ethnomusikologen Anthony Seeger und Steven Feld, die beide auf die besondere Bedeutung des Hörens bei den von ihnen untersuchten Bevölkerungsgruppen in Brasilien und Papua Neuguinea hinweisen. Das in der westlichen Denktradition als ›Gemeinschaftssinn‹14 erachtete Hören wird jedoch auf diese Weise dem mit der Vernunft verbündeten Sehen gegenübergestellt und in gewissem Sinne romantisch verklärt. Nicht-westlichen Gesellschaften eine gesteigerte Hörfähigkeit wie auch ein erhöhtes taktiles und olfaktorisches Empfindungsvermögen zuzuschreiben, wird nicht zuletzt auch

11 Vgl. Classen, Foundations, 402f. 12 Für einen Überblick hierzu siehe: ebd., 405–409. 13 Die kulturanthropologische Auseinandersetzung mit sinnlicher Wahrnehmung wird erstmals in der angloamerikanischen Kultur- und Sozialanthropologie Ende der 1980er-Jahre als Anthropology of the Senses gefasst. Der Schlüsseltext dieser Phase The Taste of Ethnographic Things stammt von Paul Stoller. Dazu später mehr. 14 Der Begriff ›Gemeinschaftssinn‹ spielt darauf an, dass eine leibliche Anwesenheit der Hörer_innenschaft die Grundbedingung für deren akustische Wahrnehmung darstellt. Anders ausgedrückt: Da der flüchtige Klang von Worten nur im Moment des Ausgesprochen-Werdens wahrgenommen werden kann, ist die unmittelbare Präsenz von Wahrnehmenden Voraussetzung für ein Wahrnehmen des Gesagten.

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deshalb kritisiert, weil ihnen dadurch »die Last der aus der Wahrnehmungsstruktur der westlichen Moderne verbannten Wahrnehmungsmodi auferlegt wird«.15 Erste Ansätze der sogenannten Anthropology of the Senses sind demnach dadurch gekennzeichnet, dass sie die bis dahin rudimentär untersuchten nichtvisuellen Wahrnehmungsmodi, im Besonderen das Hören, in den Fokus nahmen. Dem innerhalb der westlichen Denktradition beobachteten Okularzentrismus sollte somit der Wind aus den Segeln genommen werden. In weiterer Folge wird dieser »bias against sight«16, also die (unbewusste oder bewusste) Vorliebe für die Untersuchung nicht-visueller Modi, wiederum ebenso kritisch betrachtet wie zuvor das visualistische bzw. okularzentristische Paradigma selbst. Ein weiterer Grund, den Stellenwert sinnlicher Wahrnehmung in kulturanthropologische Forschungen zu integrieren, liegt in den 1980er und 90erJahren auch darin, semiotischen Ansätzen, welche Kultur und Kulturerleben in Bezug auf ihre Zeichenhaftigkeit lasen, eine lebensweltnähere Perspektive entgegenzuhalten. Eine zentrale Rolle spielen hierbei die wegweisenden Beiträge des Medizinanthropologen Thomas Csordas Anfang der 1990er-Jahre. In der Einleitung zu seinem Sammelband Embodiment and experience. The existential ground of culture and self konzipiert er embodiment als »existential ground of culture and self«17. Er stellt sich damit gegen die Ansicht, der Körper sei ein Text, in den die soziale Wirklichkeit eingeschrieben werde, und dementsprechend ein Geschöpf von Repräsentation. Basierend auf Merleau-Pontys Phänomenologie stellt Csordas dem semiotischen bzw. symbolischen Paradigma einen Ansatz gegenüber, der den Körper als »function of being-in-the-world« denkt und somit den Körper »as biological, material entity« und Verkörperung »as an indeterminate methodological field defined by perceptual experience and mode of presence and engagement in the world« begreift.18 Sinnliche Wahrnehmung soll jedoch nicht nur als anthropologische Forschungsobjekte begriffen und danach befragt werden, wie sie in das Soziale und Kulturelle hineinspielen. In The Taste of Ethnographic Things ruft Paul Stoller Anthropolog_innen zudem dazu auf, sie mögen »ihre Sinne für die Welten ihrer anderen öffnen« und ›geschmackvolle‹ Ethnographien mit lebendigen Darstellungen der »Gerüche, Geschmäcker und Texturen von Land, Leute und Essen« produzieren.19 Es geht ihm darum, nicht nur das Aussehen der Dinge zu

15 Ingold, Perception, 252 [Übersetzung LMA]. 16 Howes, Sensual Relations, 51f. [Hervorhebung im Original]. 17 Csordas, Introduction, 6. 18 Vgl. ebd. 12. 19 Stoller, The Taste of Ethnographic Things, 7, 29 [Übersetzung LMA].

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veranschaulichen, sondern diese eurozentrische Dominanz des Visuellen hintan zu stellen und sich verstärkt auch auf andere sinnliche Eindrücke zu verlassen. Dadurch würden Beschreibungen und Interpretationen nicht nur lebendiger und zugänglicher werden, sondern auch eher der Wirklichkeit des Feldes entsprechen.20 Stoller plädiert als einer der ersten dafür, dass sinnliche Wahrnehmung in die ethnographischen Forschungs- und Schreibpraxis Eingang findet.21 Seit Mitte der 1990er-Jahre setzen sich eine Reihe von kanadischen Anthropolog_innen im Rahmen der Concordia Sensoria Research Group an der Concordia University in Montreal intensiv mit sinnlicher Wahrnehmung und ihrer spezifischen Bedeutung für die Vermittlung von Werten und Normen in sozialen Gefügen auseinander. Hier sind vor allem Constance Classen und David Howes zu nennen. Ziel einer Anthropology of the Senses im Sinne von Classen ist es, das sensory model einer Gesellschaft zu eruieren, welches veranschaulichen soll, wie sinnliche Erfahrung durch die ihr attribuierten Werte, Vorstellungen und Praktiken mit Bedeutung aufgeladen und vermittelt wird, um anhand dieser sensory models Kulturvergleiche im Bereich der Wahrnehmungsweisen vornehmen zu können.22 Classen beschäftigt sich außerdem auch ausführlich mit der Genderspezifik23 von sinnlicher Wahrnehmung. Sie veranschaulicht anhand eines Rückblicks in die Vormoderne, dass Frauen traditionellerweise mit den sogenannten niederen bzw. Nahsinnen in Verbindung gebracht wurden, da sie hauptsächlich über »das nährende Berühren« definiert wurden, während Männern »der dominierende Blick« attribuiert wurde.24 David Howes, der mit Classen weitgehend übereinstimmt, postuliert folgende Grundannahmen einer Anthropologie der Sinne, die sich seinen Forschungen zufolge ausmachen lassen: Erstens werden die Sinne in einem ständigen Zusammenspiel von Eindrücken und Werten zueinander in Beziehung gesetzt. Sie seien zweitens je nach sozialer Wichtigkeit hierarchisch geordnet, diese Ordnung sei jedoch nicht statischer Natur, sondern werde gegebenenfalls angepasst. Drittens können sinnliche Eindrücke als einander widersprechend empfunden werden, wenn beispielsweise ein Geruch auf etwas anderes schließen lasse als das, was mündlich vermittelt werde. Viertens könne auch eine Zusammenarbeit der Sinne im Feld beobachtbar sein. Howes argumentiert, dass gerade diese

20 Stoller, The Taste of Ethnographic Things, 9. 21 Siehe hierzu auch Stoller, Sensuous Scholarship. 22 Vgl. Classen, Foundations, 402. 23 Ein weiteres Beispiel hierfür ist: Desjarlais, Sensory Biographies. 24 Vgl. Classen, Colour of Angels, 5–7 [Übersetzung LMA].

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Dynamik der intersinnlichen Beziehungen die sensory models einer Gesellschaft und ihrer Mitglieder ausmache.25 Um ein volles Verständnis des Stellenwerts der Sinne in spezifischen Kulturen und Gesellschaften zu erlangen, sollen eine Reihe von Bereichen untersucht werden: praktischen Tätigkeiten, religiöse Riten und Glaubenssysteme, Formen der sozialen Organisation, Kommunikationsweisen, die Materialisierung ästhetischer Vorstellungen und dergleichen.26 Dabei weist er mit Nachdruck darauf hin, dass es nicht ausreiche, sinnliche Wahrnehmung einfach zu beschreiben, sondern dass ihre spezifische Bedeutung für gesellschaftliches Zusammenleben zu erkunden sei. Mit Robert Desjarlais und seinen Ausführungen in Body and Emotion übereinstimmend resümiert Howes, dass rein impressionistische Beschreibungen nicht erklären würden, wie kulturelle Kategorien Form, Gehalt und Bedeutung von körperlicher Erfahrung prägen und deshalb nicht genügen würden. Weiters fordert er eine Rekonzeptualisierung der Sinne als »ways of thinking and knowing«27, womit er implizit auf eine Aufhebung bzw. Auflösung des Körper-Geist-Dualismus anspielt. Abseits der Ansätze der kanadischen Forscher_innengruppe sind auch Kathryn Linn Geurts Untersuchungen bei den Anlo-Ewe in Ghana zu nennen. Sie stößt dort auf das kulturelle Bedeutungssystem seselelame – wortwörtlich: ›feel-feel-at-flesh-inside‹ – von dem sie behauptet, dass es gleichzeitig die mentale und die körperliche Seite von Wahrnehmung zu fassen vermöge und sich so dem in der westlichen Denktradition verankerten Körper-Geist-Dualismus widersetze. Das körperliche Empfinden wird im Konzept von seselelame als zentrale Erkenntnis- bzw. Informationsquelle betrachtet. Geurts schlussfolgert, dass wir in diesem Konzept nicht nur mit der Non-Universalität des Fünf-SinnModells konfrontiert seien, sondern auch mit einer »Seins- und Erkenntnistheorie, die Wissen und Vernunft, nebst einer Entfaltung von Moral und Identität, mit dem Körper und ›dem Fühlen im Fleisch‹ verbindet« und bewerkstelligt es, dieses Wahrnehmungskonzept auf begrifflicher Ebene zu fassen, ohne auf die traditionellen fünf Kategorisierungsmöglichkeiten zurückzugreifen.28 Andere Wege gehen der britische Sozialanthropologe Tim Ingold und eine Reihe von Wissenschaftler_innen, die sich seinen Ansätzen verpflichtet fühlen. Ingold ist seit den 90er-Jahren darum bemüht, Ansätze der biologischen Anthropologie mit denen der Sozial- und Kulturanthropologie zusammenzubringen, da der

25 Vgl. Howes, Sensual Relations, 48–50. 26 Vgl. Howes, Reply, 319. 27 Howes, Sensual Relations, 50 [Hervorhebung im Original]. 28 Vgl. Geurts, On Rocks, 197 [Übersetzung LMA].

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Mensch seiner Ansicht nach nicht ein aus unterschiedlichen sich ergänzenden Teilen – wie Körper, Geist und Kultur – zusammengesetztes Wesen ist, sondern ein einmaliger Ort kreativen Wachstums innerhalb eines sich kontinuierlich entfaltenden Beziehungsfelds.29Ihm geht es darum, ein grundsätzliches Verständnis dessen zu erlangen, wie Menschen sich die Welt im praktischen, konkreten Gebrauch ihrer sinnlich-körperlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignen. Es steht die individuelle Wahrnehmungspraxis im Zentrum. In seinem viel zitierten Essay Stop, Look, Listen. Vision, hearing and human movement verfolgt er das Ziel, den Vorwurf, das Visuelle bzw. seine Dominanz sei an den Übeln der Moderne schuld, aus sozialanthropologischer Sicht zu widerlegen. In der westlichen Tradition gehe nicht eine Reduzierung auf das Visuelle von Statten, sondern vielmehr eine Reduzierung des Visuellen selbst. »Offenbar kann das Primat des Visuellen nicht zur Rechenschaft für die Objektivierung der Welt gezogen werden. Eher im Gegenteil, indem es in den Dienst dieses eigentümlichen modernen Projekts der Objektivierung genommen wurde, verkommt das Sehen zu einem reinen, desinteressierten Reflexionsvermögen, dessen Aufgabe es lediglich ist, 30

›Dinge‹ in ein transzendentes Bewusstsein zu befördern.«

Das Sehen verkümmert ihm zufolge im Verlauf der Moderne zu einem Wahrnehmungsmodus, dem abseits von Abstraktions- und Distanzierungsvermögen kein Wahrnehmungs- und Erkenntnispotenzial attestiert wird. Ihm geht es auch weniger darum, ob jeweils das Sehen oder das Hören in einer Kultur vorrangig sei, sondern dass das grundlegende Verständnis vom Sehen selbst thematisiert werden müsse. Er plädiert dafür, die Gemeinsamkeiten des Sehens und Hörens herauszuarbeiten, anstatt als Kompensation einen »turn to listening« heraufzubeschwören.31 In dieselbe Kerbe schlagen auch Cristina Grasseni und Greg Downey, welche sich immer wieder auf Ingolds Arbeit beziehen. Grasseni kritisiert ebenfalls die Kritik am Okularzentrismus und möchte gewissermaßen das dadurch in Verruf geratene Sehen rehabilitieren. Sie argumentiert nämlich, dass skilled vision nicht notwendigerweise auch visualistisch sein müsse, also der Grundannahme beipflichtend, dass das Sehen als nobelste sinnliche Erfahrung begriffen werde. Anhand ihrer Feldforschung bei Rindzüchtern in Oberitalien veranschaulicht sie, dass Sehen immer auch Hinsehen bedeutet, und somit dem Sehen ein

29 Vgl. Ingold, Perception, 4f. 30 Ebd., 253 [Übersetzung LMA]. 31 Vgl. ebd., 287.

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aktiver Prozess des Hinbewegens, dem wiederum ein Lern- und Übungsprozess vorausgeht, implizit ist. Sie fordert deshalb, das Sehen als verkörperten, angeeigneten, geschulten (skilled) Sinn zu verstehen.32 Greg Downey zeigt anhand seiner Untersuchungen von Techniken des Sehens in der brasilianischen Kampfkunst capoeira an der Schnittstelle von Kulturanthropologie und biologischen sowie neurophysiologischen Ansätzen, dass sogenannte visuelle Strategien einerseits eine Form körperlichen Wissens darstellen und andererseits ein Mittel dafür sind, (Körper-)Wissen zu erlangen. Für Downey zeigen diese visuellen Strategien, dass die sinnliche Welterfahrung selbst eine Fähigkeit darstellt und deshalb auch weiterentwickelt bzw. verfeinert werden kann.33 Menschen werden demnach nicht mit fix-fertigen Fähigkeiten geboren, die Welt um sie herum wahrzunehmen, sondern müssen sich diese in Akten des Übens und Kultivierens erst aneignen.34 Die Anthropologin Sarah Pink, welche sich ebenfalls intensiv mit sinnlicher Wahrnehmung beschäftigt, fragt u.a. danach, inwieweit Sittlichkeit und Moral auf sinnlicher Wahrnehmung bzw. der Einschätzung von sinnlichen Erfahrungen und sinnlichen Qualitäten von Wäsche und Wäsche-Waschen gründen. Sie zeigt beispielsweise, wie konformes und non-konformes Verhalten in Bezug auf saubere Wäsche angestrebt bzw. untergraben wird, ohne den Zwängen nach sauberer Wäsche selbst nachzugeben. So stellen beispielsweise Erfrischungssprays die sinnlichen Qualitäten dessen, was es bedeutet, sauber zu sein, für einen ihrer Protagonisten wieder her. Er kann so dem Druck, sich in der Öffentlichkeit sauber zu präsentieren, standhalten, ohne sich mit dem mühsamen Prozess des Wäsche-Waschens näher auseinandersetzen zu müssen.35 Diese beiden vorgestellten Extrempole – den Blick auf kollektive Wahrnehmungswelten im Sinne Howes‘ oder Classens und phänomenologisch-orientierte Zugänge auf individuelle Wahrnehmungspraxen im Sinne Ingolds –, sowie auf dem Kontinuum dazwischen angesiedelte Varianten wurden vor wenigen Jahren von Sarah Pink zusammengeführt. Dabei konzipiert sie Sensory Anthropology als einen interdisziplinären Zugang und Sensory Ethnography als umfassende ethnographische Forschungspraxis.36 Sie vereint Stränge aus der Sozialanthropologie, Humangeographie, Philosophie und dem Kunstbereich und hebt

32 Vgl. Grasseni, Skilled Vision. 33 Vgl. Downey, Seeing with a ›sideways glance‹, 223. 34 Vgl. z.B. Ingold, Perception, 283; Classen, Foundations, 402. 35 Vgl. Pink, Dirty Laundry. 36 Vgl. Pink, Sensory Ethnography und The future of sensory anthropology.

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besonders hervor, dass die Sinne der Forschenden als »route to knowledge« begriffen werden mögen, als Wege, um zu (wissenschaftlicher) Erkenntnis zu gelangen. Sarah Pink plädiert mit Verweis auf Stoller auch dafür, Feldforschung als sensory apprenticeship zu begreifen.37 Entsprechend der Ideale der teilnehmenden Beobachtung sind Ethnograph_innen ohnehin bereits dazu aufgefordert, sich körperlich in ihr Feld zu begeben und an den Aktivitäten, die sie studieren wollen, zu beteiligen, um so das Feld und die Menschen, die dieses konstituieren, von innen heraus zu verstehen. Gerade aufgrund der leiblichen Eingebundenheit in Feld und Forschung, mit der eine »education of attention«38 und ein »attunement of the senses«39 einhergehen, ist eine umfassende Reflexion der sinnlichen Feld-Forschungs-Erfahrung umso mehr geboten. »Learning to sense and make meanings as others do thus involves us not simply observing what they do, but learning how to use all our senses and to participate in their worlds, on the terms of their embodied understandings«40, fordert Sarah Pink. Deutschsprachiger Raum Parallel zum Aufblühen der Anthropology of the Senses im angloamerikanischen Raum, gibt es v.a. seit den 1980er-Jahren auch Bemühungen in der deutschsprachigen historisch-philosophisch orientierten Anthropologie, sinnliche Wahrnehmung ›in den Blick‹ zu nehmen. Hier sind beispielsweise Dietmar Kamper und Christoph Wulf zu nennen, die sich in einem ihrer gemeinsam publizierten Sammelbände folgende Fragen stellen: »Welchen zivilisatorischen Stellenwert in Gesellschaft und Geschichte haben die Sinne? […] Dienen sie dem Staunen und der Verwunderung über die endliche Schönheit der Dinge oder den endlosen Strategien der Macht und der Kontrolle? Und welche Rückkoppelungen zwischen Leiden und Tun, zwischen Passion und Aktion lassen sich verzeichnen?«41

Darin wird beispielsweise auch die Verkümmerung der sogenannten Nahsinne als ein Gerücht entlarvt, denn »gerade weil die abstrakte Gesellschaft der Aus-

37 Vgl. Stoller, Sensuous Scholarship; siehe auch Leder Mackley/Pink in diesem Band. 38 Ingold, Perception, 37, zit. in: Pink, Sensory Ethnography, 70. 39 Grasseni, Skilled Vision, 53, zit. in: Pink, Sensory Ethnography, 71. 40 Pink, Sensory Ethnography, 72 [Hervorhebung im Original]. 41 Kamper/Wulf, Blickwende, 13.

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bildung von Riech-, Schmeck- und Tastkulturen feindlich gegenübersteht, konnten diese nicht verallgemeinerungsfähigen Vermögen überdauern«. Es könnte deshalb gerade ihre Missachtung gewesen sein, die sie davor bewahrt hat, in fremden Anspruch genommen zu werden.42 Obwohl es bereits in den 1980er-Jahren Auseinandersetzungen mit dem Körper als volkskundlichem Untersuchungsgegenstand gab – so habe Utz Jeggle43 den Körper für die Volkskunde ›entdeckt‹44 –, gewinnt sinnliche Wahrnehmung im Speziellen erst in der jüngeren Fachgeschichte an Bedeutung. Hier sind vor allem die Ethnologin Bettina Beer und die Kulturanthropologin Regina Bendix zu nennen. Ebenso wie Sarah Pink fordern sie nicht nur eine Auseinandersetzung mit sinnlicher Wahrnehmung als Analysekategorie, um ihre Bedeutung im und für das Alltagsleben herauszuarbeiten, sondern betonen auch den epistemologischen Mehrwert des Miteinbeziehens von sinnlichen-leiblichen Erfahrungen der Feldforscher_innen in der ethnographischen Forschungspraxis, sowie deren Reflexion und Miteinbeziehen in die Interpretation.45 Bettina Beer schlägt in die Kerbe der bereits erwähnten kanadischen Forscher_innengruppe rund um Howes und Classen und gibt konkrete Vorschläge dafür, wie man sich an ein sensorisches Modell (sensory model) einer Kultur annähern könnte: einerseits über die Sprache und die Verwendung von SinnesMetaphern, andererseits über die Zusammenhänge von sehen oder hören und verstehen bzw. wissen. Ein Beispiel dafür ist die im Englischen übliche Aussage »I hear you«, wortwörtlich »ich höre dich«, sinngemäß jedoch »ich verstehe dich«. Verständnis ist demzufolge an das Hören gebunden. Außerdem ist Beer zufolge auch eine Analyse von Körperdekorationen sowie der Rolle von Sinnen in Ritualen, der Mythologie und der Kosmologie aufschlussreich.46 Regina Bendix setzt sich dafür ein, dass zum einen sinnliche Erfahrung und Körperwissen in ihrer habituellen Prägung als Erkenntnisinteresse und Forschungsfoci stärker in den Mittelpunkt rücken und dass zum anderen auch der Ethnograph_innen Körper und Sinne als erkenntnisgewinnende Instanzen in der ethnographischen Praxis erkannt und anerkannt werden. Sie fordert, sinnlichleibliche Erfahrungen als Daten zu behandeln und darauf hin zu untersuchen, »inwiefern sie Interviewdaten, Gelesenes und Beobachtetes bereichern«; die

42 Vgl. Kamper/Wulf, Blickwende, 12–15. 43 Matter bezieht sich hier auf: Jeggle, Im Schatten des Körpers. 44 Vgl. Matter, Blicke auf den Körper, 32 (Anmerkung 9). 45 Vgl. z.B. Beer, Im Reich der Sinne; Bendix, Introduction. 46 Vgl. Beer, Im Reich der Sinne, 10.

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Körpertechniken und die sinnlichen Erfahrungen, die sie uns vermitteln, »sind als Teil ethnographischer Empfänglichkeit oder, um im Vokabular der Sinne zu bleiben, Feinfühligkeit, zu kultivieren«.47 Um die nötige sensory reflexivitiy und sensory effectiveness in der teilnehmenden Beobachtung zu erlangen, schlägt sie vor, sich an Deirdre Sklars Methode der kinesthetic empathy zu orientieren, dem »auf Bewegung beruhenden Einfühlungsvermögen«. Dabei geht es darum, die körperliche Teilhabe und Eingebundenheit im Feld festzuhalten und anhand der »vom Körper getragenen Zugangsweise« eine Teilnahme an den Gefühlen und Ideen von anderen zu ermöglichen.48 Bendix zeigt zudem konkrete Bereiche auf, die von den Perspektiven einer sinnlich angereicherten Ethnographie profitieren könnten: Koch- und Esskultur, hygienische Praxen, Sport und Spiel, sowie andere Bereiche der Alltagskultur. »In manchen Bereichen gilt es, diese Leistung der Sinne als sowohl somatisch wie individuell und kulturell geschulter Organe zu würdigen. In anderen Bereichen dagegen kann das Nichtproblematisierte problematisiert werden – so etwa die Reduktion sinnlicher Potenz mit zunehmendem Alter und die sich dadurch ergebende Unsicherheit und Verluste im Selbstvertrauen vom Kochen und Abschmecken bis zur Hygiene.«49

Auch empfiehlt sie »die Sinnbiographie der Ethnographin […] als eine weitere Dimension methodischer Reflektion [sic!] zu bedenken«, was sie mit ihren eigenen Erfahrungen begründet – sie nahm als junge Ethnographin ganz andere Eindrücke auf, als sich ihr als erfahrene Forscherin 20 Jahre später eröffneten.50 Im Bereich der philosophischen Anthropologie bzw. anthropologischen Philosophie setzt sich gegenwärtig Mădălina Diaconu intensiv mit sinnlicher Wahrnehmung im städtischen Raum auseinander. Sie bringt in Sinnesraum Stadt. Eine multisensoriale Anthropologie eine Reihe ihrer jüngsten Aufsätze zusammen, in denen sie sich mit Sinnlichkeit in der Kunst und im Alltagsleben im urbanen Raum beschäftigt. Dabei schenkt sie den bis dato in urbanen Forschungen vernachlässigten Wahrnehmungsmodi der Taktilität und des Geruchssinns besondere Beachtung. Sie untersucht beispielsweise städtische Grünräume, die ihrer Meinung nach nicht nur Wohlbefinden bewirken, sondern auch zur ästhetischen Bildung beitragen und veranschaulicht anhand von Stadtlandschaften, dass

47 Vgl. Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 79. 48 Vgl. ebd. 80. 49 Ebd., 81. 50 Vgl. ebd.

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gerade die Materialität von Stadt und nicht etwa die Bedeutung oder Funktion dieses materiellen »Gewebes von Oberflächen« ästhetische Werte vermittelt.51 Darüber hinaus ist gerade die Sinnlichkeit von Kultur ein für Jungforscher_innen immer beliebter werdender Forschungsfokus, wie auch in diesem Band klar ersichtlich ist. Für die Sinnlichkeit des Stadterlebens interessierten sich etwa drei Studierende der HU Berlin im Rahmen ihres Studienprojekts Sensing the Street. Anhand einer Art sinnlicher Kartographie erforschten sie drei Berliner Straßen auf unterschiedlichste sinnliche Qualitäten hin, um den Lebensraum Straße so greifbar zu machen, »wie er sich allen unseren Sinnen darbietet«52. In ihrer Publikation setzen sie sich auch mit der Problematik der Darstellung sinnlicher Stadterfahrung auseinander und geben Einblick darin, wie sie die Straße als Atmosphäre abseits von klassischen Fotoausstellungen mit einzelnen Installationen inszenierten, um so die jeweilige sinnliche Identität der drei Straßen nachvollziehbar und nach-erfahrbar zu machen. Susanne Schmitt wagte sich in anderer Hinsicht an die Erfahrung des museal Dargestellten heran. Sie erforscht in ihrer Studie das deutsche Hygiene-Museum als einen »Ort, der durch den Körper und mit allen Sinnen erlebt und erfahren wird«.53 Methodisch gestützt durch eine sinnlich-fokussierte ethnographische Herangehensweise untersucht sie lokal artikulierte Klassifikationen der Sinne und beleuchtet nicht nur den erlebnisorientierten, interaktiven Zugang, der vom Publikum gewissermaßen sinnlich-leibliche Partizipation abverlangt, sondern auch Befindlichkeiten und leibliche Erfahrungen der Museumsmitarbeiter_innen.

Z USAMMENSCHAU

UND KRITISCHER

AUSBLICK

Es herrscht, wie aus dem Dargestellten hervorgeht, Einigung darüber, dass sinnlicher Wahrnehmung bzw. sensory semiosis, worunter Michael Herzfeld das kultur- und kontextspezifische Zusammenspiel von Wahrnehmung begrifflich zu fassen versucht, als kulturanthropologischer Forschungsfokus eine wichtige Rolle einnimmt und weiterhin einnehmen soll. Wie schon Jeggle in Bezug auf den Körper, plädieren auch Bendix und Herzfeld dafür, die Auseinandersetzung mit Wahrnehmung in Feld und Forschung generell quer mitlaufen zu lassen, anstatt eine Subdisziplin zu begründen, wie es eher im Sinne von David Howes wäre.54

51 Vgl. Diaconu, Sinnesraum Stadt, 9–13, Direktzitat auf Seite 13. 52 Hiebsch/Schlüter/Willkomm, Sensing the Street, 32. 53 Schmitt, Wissenschaftsmuseum, 11. 54 Vgl. Bendix, Introduction, 8.

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In der Kulturanthropologie sind, kurz resümierend, zwei Perspektiven auf sinnliche Wahrnehmung zentral: Einerseits kann die Mitberücksichtigung des Sinnlichen in der ethnographischen Arbeit dazu beitragen, die Rolle des Sensoriums im lebensweltlichen Alltag wie auch seine sozial und kulturell unterschiedliche Gewichtung und Wertung besser zu verstehen. Andererseits bieten das Bewusstsein, sinnlich-leiblich in das Feld eingebunden zu sein, und die Anerkennung der Forscher_innensinne als erkenntnisgewinnenden Instanzen einen epistemologischen Rahmen, der die ethnographische Praxis wie auch den von ihr vorgegebenen Interpretations(spiel)raum erweitern. Die grundsätzliche Streitfrage, ob nun lebensweltlich verortete Wahrnehmungspraxen oder auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene verhandelte Wertvorstellungen und Ordnungen, die auf Basis sinnlichen Erlebens evoziert bzw. auch geregelt werden, als Ansatzpunkte für sinnlich-ethnographische Forschungen erachtet werden, lässt sich nicht lösen, da diese untrennbar miteinander verbunden sind. Wo immer man beginnt, solange man aufmerksam ist, wird man kollektive Sinnwelten (worlds of sense) finden, die von konkreten Wahrnehmungspraxen (ways of sensing) geprägt sind und individuelle Wahrnehmungspraxen, die von gesamt-gesellschaftlich vorherrschenden Sinnwelten geformt werden, beendet David Howes eine rezente hitzige Debatte mit Tim Ingold.55 Mit Nadine Wagener-Böck kann man sich allerdings die Frage stellen, ob kulturanthropologische Forschungen überhaupt nicht-sinnlicher Natur sein können.56 Können wir ohne unsere Sinne forschen? Wohl kaum. In Anlehnung daran kann man sich fragen, ob Sensory Ethnography oder sensory apprenticeship in ihrer spezifischen Benennung nicht gar obsolet sind. Verweist die Forderung, Forscher_innen mögen sich ihr sinnlich-leibliches Eingebunden-Sein ins Feld bewusst machen und darüber reflektieren, etwa darauf, dass die (am Schreibtisch haftenden) Forscher_innen vergessen haben, dass sie immer schon körperlich und leiblich ins Feld eingebunden sind, dass Interaktion und Kommunikation, egal welcher Art, immer schon körperlich fundiert sind? Ist es gar der beobachtbaren Methodenausdifferenzierung und den konzisen Anleitungstexten zu qualitativen Erhebungs- und Analysemethoden geschuldet, dass sich Forscher_innen eher darüber ›verkopfen‹, ob sie alle Anweisungen richtig befolgen, als dass sie ihre körperlich-leibliche Anwesenheit Feld wahrnehmen und reflektieren? Es sind eben nicht körperlose Geiste, die sich (wie fremdgesteuerte Maschinen) ins Feld begeben, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, bewegliche und sich bewegende Körper, sich und andere spürende Leibe.

55 Vgl. Howes, Reply, 331. 56 Vgl. Gespräch mit ihr auf der SIEF-Konferenz im Juli 2013 in Tartu.

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Mediatisierte Sinne und die Eigensinnigkeit der Medien Für eine medientheoretische Sensibilisierung der sinnlichen Ethnographie J UDITH W ILLKOMM

»Es ist ein Märzmorgen im Jahr 2007. Ich werde durch recht laute, schroff krächzende Rufe geweckt. Es ist sicher nicht später als 6 Uhr. Mein Fenster steht offen, sodass ich einen Teil der mittelgroßen Bäume des Innenhofs einsehen kann, vom Kronenansatz bis über die Wipfel. Die Lärmer sind bald als zwei Individuen des Eichelhähers Garrulus glandarius bestimmt. Wie ich es für gewöhnlich bei akustisch außergewöhnlichen Situationen handhabe – und solch eine liegt ohne Zweifel vor, denn die beiden streiten sich offenbar um ein Revier –, hole ich meinen Rekorder. Dabei bemerke ich, dass es doch recht frisch ist. Klar wird: ich muss mich beeilen, da ich es, unvorbereitet wie ich bin, nicht lange in der Kälte aushalten werde. Aber Zeit, sich großartig zu bekleiden, ist keine – die Situation kann jeden Moment enden. Während das Getöse der beiden Vögel sich fortführt, kauere ich in der Deckung meines Fensterbrettes mit Rekorder und Richtmikrofon und schneide mit. Nach gut 15 Minuten beschließe ich, ins Bett zurückzukehren – es ist einfach zu kalt. Als ich die Geräte ausstellen will sehe ich, dass der Schalter für die Aufnahme von mir nicht ausgelöst worden ist. In diesem Moment wurde mir erstmalig bewusst, dass ich während einer Aufnahme – und besonders, wenn sie nicht routiniert oder bedacht, sondern hastig geschieht – vom eigentlichen Geschehen nichts mitbekomme.«1

Diese Situation beschreibt der Ornithologe und Klangkünstler Patrick Franke im Rahmen seiner theoretischen Diplomarbeit, die er im November 2007 an der

1

Franke, Das natürliche und das mediatisierte Hören, 4.

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Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig einreichte. Er nimmt sie zum Anlass, um den von ihm erfahrenen Unterschied zwischen ›natürlichem‹ und ›mediatisiertem‹ Hören zu verdeutlichen.2 Von einer ganz ähnlichen Erfahrung berichtet die Kulturanthropologin Regina Bendix in ihrem Aufsatz Was über das Auge hinausgeht. Zur Rolle der Sinne in der ethnographischen Forschung. Auch Bendix nimmt ihr erstes Feldforschungsprojekt in den 1980er-Jahren über den Neujahrsbrauch des Silvesterchlausens im appenzellerischen Urnäsch in der Schweiz zum Anlass, um ihre Wahrnehmung im Feld damals und heute zu reflektieren: »Mein eigener Zustand war v.a. einer der intensiven mentalen Aufmerksamkeit, mit stetem Augenmerk darauf, dass die Kamera nicht zu schneenass wurde, das Mikrofon nicht meinen Atem sondern die Zäuerli auffing und ich die Menschen, die ich interviewt hatte, auch in der Brauchausübung erkennen würde – was ohne gute Kenntnis ihrer Singstimmen auch nur durch visuelle Hinweise zu lösen war.«3

Als sie 2003 nach fast 20 Jahren wieder an den urnäscher Ritualen zum Jahreswechsel teilnimmt, ist ihr Aufenthalt privater Natur. Sie erwartet zwar mit Neugierde, die potenziellen Veränderungen zu beobachten; allerdings hat sie keine »analytischen Vorbereitungen« getroffen und geht noch dazu ohne Aufnahmetechnik ins Feld.4 Bendix bemerkt, dass sie diesmal die kleinen und alltäglichen Details in der Interaktion zwischen den Besuchten und den Chläus registriert, weil sie sich »ohne störende Gerätschaften« und im Kreise ihrer Familie viel näher an das Geschehen wagt.5 Obwohl das erste Beispiel einem biologisch-künstlerischen und das zweite einem ethnographischen Kontext entstammt, zeigen sie doch wesentliche Gemeinsamkeiten auf: Beide Personen sind auf technische Medien (Audioequipment und Kameratechnik) angewiesen, um ihre Daten zu erheben. Der eine sammelt akustisches Referenzmaterial für den Austausch mit anderen Ornithologen, die andere will die aufgezeichneten Brauchtumsszenen in einer qualitativen Datenanalyse mit den bereits zuvor geführten Interviews vergleichen. Für beide ist es eine einmalige Gelegenheit, die ein schnelles Handeln verlangt und ihre Aufmerksamkeit auf die Technik lenkt. Erst im Nachhinein stellen sie fest, dass sich ihr Wahrnehmungsfokus verschoben hat und sie dadurch die Ereignisse

2

Vgl. Franke, Das natürliche und das mediatisierte Hören.

3

Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 75.

4

Ebd., 76.

5

Ebd., 78.

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anders registriert haben. Der Einsatz von technischen Medien verändert die Beobachtungsmodalitäten im Feld. Es entsteht ein Wechselverhältnis zwischen den technischen Möglichkeiten der Aufzeichnungsapparate und den Sinneseindrücken der Forschenden während des Feldforschungsprozesses. Dieses Wechselspiel möchte der folgende Beitrag beschreibbar machen. Dafür soll im ersten Schritt, ausgehend von einigen Überlegungen des populären Medienwissenschaftlers Marshall McLuhan, die für die Begründung der Anthropology of the Senses bzw. der Sensory Ethnography zentral geworden sind,6 eine medienbegriffliche Differenzierung zwischen menschlichen Sinnen und technischen Medien vorgenommen werden. Durch diese soll im zweiten Schritt anhand von Beispielen aus der biologischen Feldforschung erörtert werden, inwiefern sich durch den Umgang mit technischen Medien im Feld die menschliche Wahrnehmung verändern kann. In einem abschließenden dritten Schritt soll schließlich eine Perspektive entwickelt werden, die sowohl das menschliche Sensorium als auch die Bedingungen der technischen Medien zum Forschungsgegenstand werden lässt und die Reflexion dessen in den ethnographischen Feldforschungsprozess mit einbezieht.

U NTERSCHEIDUNG

ZWISCHEN

S INNEN

UND

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Inspiriert durch die gesellschaftlichen Veränderungen, die Film, Funk und vor allem Fernsehen mit sich brachten, propagierte McLuhan in den 1960er-Jahren die Theorie, dass sich die technischen Medien unserer Zeit zu Erweiterungen bzw. Prothesen der menschlichen Sinnesapparate bzw. zu Gliedmaßen entwickelt haben: »I am working from the observation, that our technical media, since writing and printing, are extensions of our senses.«7 Dieser Grundgedanke wurde in den 1980er-Jahren für die Anthropology of the Senses zum Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung mit der Hierarchisierung der Sinne in unterschiedlichen historischen Epochen, Kulturen und Gesellschaften und für die Sensory Ethnography zum entscheidenden Argument, dass multimediale Systeme, wie Kamera- und Videotechnik nicht nur das menschliche Auge und Ohr adressieren, sondern alle Sinne gleichzeitig stimulieren und somit mentale

6

Vgl. u.a. Pink, Sensory Ethnography, 56; Howes, Empire of the Senses; Classen, Anthropology of the senses, 405f. Classen z.B. bezeichnet McLuhan zusammen mit Walter J. Ong als »prototheorists of the anthropology of the senses«. Ebd.

7

McLuhan, Inside the five sense sensorium, 46.

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Prozesse verändern und beeinflussen können.8 Die entscheidende Erkenntnis, die McLuhan mit seinem Ansatz, trotz der kontrovers diskutierten Kurzschlüsse und Unschärfen seiner Theorie9, etablieren konnte, fasst David Howes wie folgt zusammen: »our senses – and our sensibilities – are fashioned by culture and technology and not just given by biology.«10 Um diesen Formungs- und Prägeprozess unserer Sinne beschreibbar zu machen, ist es wichtig, eine begriffliche Differenzierung zwischen Sinnen und Medien vorzunehmen, um Missverständnissen und Verwechslungen vorzubeugen. McLuhan hatte selbst einen sehr weitgefassten Medienbegriff und bezeichnete u.a. auch Kleidung, Waffen oder Geld als Technologien, welche die menschlichen Sinne ausweiten.11 Aus medienphilosophischer Sicht erweist sich eine harte Mediendefinition als wenig fruchtbar. Entscheidend ist, aus welcher Forschungsperspektive man auf kulturelle Prozesse schaut, um aus dem jeweiligen Kontext bzw. der jeweiligen Situation heraus zu bestimmen, welche Dinge in diesem Zusammenhang zu Medien werden können. Betrachtet man Medien als Erweiterung der menschlichen Sinne, läuft man Gefahr, die entscheidenden Prägungsprozesse zu übersehen, wenn man das technische Gerät mit dem menschlichen Sensorium (begrifflich) gleichsetzt. Das ist an dieser Stelle entscheidend, da aus anthropologischer Sicht der Mensch, sein Körper und die Sinne selbst oft als Medium verstanden werden: »The senses are the media through which we experience and make sense of gender, colonialism and material culture.«12 Demzufolge dürfte es keine Wahrnehmung der Welt jenseits medialer Vermittlungen geben, da »Medialität so etwas wie die Grundbedingung (der Möglichkeit) von Erkenntnis sei«.13 Doch diese ontologischen Unterscheidungen führen an der ursprünglich epistemischen Fragestellung vorbei, in

8 9

Vgl. u.a. Classen, Anthropology of the senses, 403f.; Pink, Sensory Ethnography, 56. Auf die medienwissenschaftlichen Debatten, die McLuhan und seine Theorien zur Folge hatten, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dass auch im Laufe der Herausbildung der sinnlichen Ethnographie der eindimensionale, wenig kulturübergreifende und evolutionistische Modelcharakter seiner Theorien und sein technikdeterministischer Impetus kritisch reflektiert wurden, so zum Beispiel in der von McLuhan und Ong formulierten Unterscheidung zwischen oralen und literalen Kulturen. Vgl. Classen, Anthropology of the senses; Pink, Sensory Ethnography.

10 Howes, Empire of the senses, 23. 11 Vgl. McLuhan, Understanding media. 12 Howes, Empire of the senses, 4 [Hervorhebung JW]. 13 Weber, Under Construction, 173.

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deren Kontext eine Abgrenzung zwischen der mit der Verarbeitung von Sinneseindrücken einhergehenden menschlichen Vermittlungsleistung und den von technischen Medien hervorgebrachten Aufzeichnungs-, Übertragungs-, und Transformationsprozessen notwendig wird.14 Es macht einen Unterschied, ob der eingangs zu Wort gekommene Patrick Franke die Eichelhäher über seine Kopfhörer hört und dabei auf das Aufnahmegerät schaut oder einfach nur am Fenster sitzt und sie beobachtet. Ich möchte seine Formulierung des ›mediatisierten Hörens‹ aufgreifen und mit mediatisierten Sinnen jene menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten (Sehen, Hören, Riechen, Spüren, Schmecken, Tasten etc.) bezeichnen, die in Auseinandersetzung mit und im Gebrauch von technischen Medien entstehen. Medien wären in diesem Zusammenhang demnach technische Apparaturen, die in der Lage sind, bestimmte Dinge oder Ereignisse zu übertragen, zu verarbeiten und/oder zu speichern.15 Dabei verändern sowohl die medialen Produktionsprozesse (z.B. Ton aufzeichnen, fotografieren, filmen) als auch die medialen Produkte (Fernsehbilder, Tonaufnahmen, Fotografien etc.) die menschlichen Wahrnehmungsfilter. Zwar orientieren sich die spezifischen Aufzeichnungs- und Transformationsmechanismen der Medien an den Prinzipien der menschlichen Wahrnehmungsrezeptionen, doch die technische Übertragung ist nie vollständig identisch mit der menschlichen Sinnesleistung. Diese Diskrepanz könnte man als eine gewisse Eigensinnigkeit von Medien im wahrsten Sinne des Wortes und in dreifacher Hinsicht bezeichnen. Erstens unterliegen die technischen Medien einer ›Eigenlogik‹, die oft mit ihrer Bauweise, Funktion, Handhabung und Bedienung zusammenhängt. Zweitens besitzen sie eigene ›Sinnesfilter‹, da sie akustische, optische, haptische oder olfaktorische Phänomene zwar gewissermaßen erfassen können, diese aber auf andere Weise selektieren, fokussieren und verarbeiten als der menschliche Sinnesapparat. Somit erweitern und ergänzen sie in bestimmten Bereichen die menschlichen Sinnesleistungen, gleichzeitig klammern sie dabei aber oft andere Wahrnehmungsebenen aus. Drittens wohnt insbesondere optischen bzw. audiovisuellen Medien die Eigenschaft inne, sich selbst im Prozess der Mediatisierung

14 Diese Differenzierung zwischen menschlicher Wahrnehmung und technischer Vermittlung soll weder technikdeterministische Szenarien heraufbeschwören, noch den (wahrscheinlich nie in dieser Form existenten) »wunderbaren vollsensorischen Leib« jenseits jeglicher Medialität romantisieren. An dieser Stelle danke ich Sebastian Gießmann für diese schöne Formulierung und dem Graduiertenkolleg Locating Media (Siegen) für die diesbezüglich konstruktiven Diskussionen. 15 Vgl. Kittler, Geschichte der Kommunikationsmedien.

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unsichtbar zu machen.16 Die Medienphilosophin Sybille Krämer spricht davon, dass Medien zum »blinden Fleck im Mediengebrauch« werden: »Sie wirken gewöhnlich unterhalb der Schwelle unserer Wahrnehmung; im Gebrauch ›entziehen‹ Medien sich durch eine Art ›aisthetischer Neutralität‹: Nur im Rauschen, das ist aber in der Störung, bringen Medien sich selbst in Erinnerung, rücken ins Zentrum der Wahrnehmung.«17 Medien sind folglich keine neutralen Verlängerungen des menschlichen Sinnesapparats. Sie sind nicht nur eigensinnig im funktionalen Sinn, sie sind es auch bezogen auf die Ebene der Wahrnehmung. Welche pragmatischen Konsequenzen diese Eigensinnigkeit beim Einsatz von Medien im Feldforschungskontext ergibt, soll im Folgenden an Beispielen aus dem Bereich der Bioakustik erläutert werden.

T ONTECHNIK B IOAKUSTIK

ALS EPISTEMISCHES

W ERKZEUG DER

Die Bioakustik ist ein Forschungsfeld, das in den 1950er-Jahren aus den technischen Möglichkeiten der Schallspeicherung und -übertragung erwuchs und die Tontechnik als epistemisches Werkzeug in den Forschungsalltag einband. Seitdem wurde das Erstellen von Tonaufnahmen zur Datengrundlage, mit deren Hilfe die akustische Kommunikation von Tieren und ihre auditiven Wahrnehmungsformen untersucht werden. Der Einsatz von bioakustischen Methoden im Feld verschiebt den Aufmerksamkeitsfokus der Forschenden und lässt neue Wissenspraktiken entstehen. Zentral werden nun die Lautäußerungen der Tiere und die Frage, wie man diese am besten mit den technischen Möglichkeiten ›einfangen‹ kann. Die Arbeit im Feld erfordert mobile, zuverlässige und wetterbeständige Technik, die nicht nur auf die Feldsituation angepasst ist, sondern auch den Ansprüchen genügt, die das Forschungsobjekt an den Datenerhebungsprozess stellt. Tonaufnahmegeräte erweisen sich in der Bioakustik oft als wesentlich ergiebiger und leichter handhabbar als beispielsweise Foto- oder Videotechnik, da sich viele Tiere in schwer einsehbarem Gelände aufhalten, häu-

16 Aus der Perspektive einer historisch arbeitenden Anthropology of the Senses ist diese Unsichtbarkeit besonders ausschlaggebend, denn Medien werden zu Ereignissen im doppelten Sinn. Zum einen ändern sie die Art, wie Ereignisse produziert, verarbeitet, gespeichert (erinnert), geordnet, priorisiert werden, zum anderen kommunizieren sich Medien durch ihre Medienereignisse auch immer in spezifischer Weise mit, ohne dabei explizit wahrgenommen zu werden. Vgl. Vogel, Medien-Werden, 122. 17 Krämer, Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung?, 81.

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fig nachts oder in der Dämmerung (zu Sonnenauf- bzw. -untergang) rufaktiv sind und selten nur an einem Rufstandort verweilen. Ein Problem stellt jedoch oft die Geräuschkulisse im Feld dar. Die Mikrophone verfügen nicht, wie das menschliche Gehör, über kognitive Selektionsmechanismen, die zwischen Vorder- und Hintergrund, Nutz- oder Störgeräuschen unterscheiden können. Dies erfordert den Einsatz von Filtermechanismen, um das empirische Datenmaterial bereits während der Aufnahme zu selektieren und zu fokussieren.18 Abgesehen davon stellt manchmal auch die Wahl des geeigneten Rekorders eine Herausforderung dar. Auch wenn es inzwischen sehr viele handliche Rekorder gibt und fast jedes Handy bzw. jeder Mp3-Player eine Aufnahmefunktion besitzt, ist die Aufnahmequalität und das Mp3-Format von handelsüblichem Audioequipment, das in der Regel für menschliche Hörgewohnheiten ausgelegt ist, oft nicht für ›tierische‹ oder wissenschaftliche Analysezwecke geeignet. Neben spezieller Auswertungssoftware hat die bioakustische Forschung im Laufe der Jahre art- und oft sehr projektspezifische Aufnahme- und Abspielgeräte hervorgebracht.19 Es bilden sich aber auch neue Dokumentationspraktiken aus. Da die Tonaufnahme nur das Klangereignis aufzeichnen kann, muss alles, was das Gerät nicht von selbst erfasst, entweder zusätzlich notiert oder angesagt werden. Dies gilt für offensichtliche Daten wie das lokale Setting, Datum und Uhrzeit, ebenso wie für ausschließlich ersichtliche Beobachtungen oder für Gehörtes, aber vielleicht von der Technik nicht Aufgenommenes. Hinzu kommt, dass die Forschenden ein ausgeprägtes Gespür dafür entwickeln müssen, die artspezifischen Lautäußerungen ihrer Forschungstiere aus der jeweiligen Geräuschkulisse herauszuhören. Vor und hinter jeder Tonaufzeichnung verbirgt sich also für gewöhnlich ein forschendes Ohr, das die Situation vor Ort erfasst, über Zeitpunkt, Länge und Umstand der Aufnahme entscheidet, die Tonqualität beurteilt oder die in der Auswertung meist graphisch dargestellten Daten gegebenenfalls mit dem eigenen Höreindruck abgleicht. Dieses implizite auditive Wissen ist unter den Forschenden meist so selbstverständlich, dass es bei Befragungen keine explizite Erwähnung findet. Erst ein Gang ins Feld macht deutlich, wie grundlegend diese – im wahrsten Sinne des Wortes – unerhörten Fertigkeiten für die bioakustische Feldforschung sind und wie wenig die Forschenden sich dieser bewusst sind.

18 Beispielsweise können ungewollte Geräuschkulissen durch Windschutzkörbe und Schaumstoff- bzw. Kunstfellüberzüge, Richtmikrophone und entsprechende Vorverstärker bzw. Tiefpassfilter an den Geräten minimiert werden. 19 Vgl. Willkomm, Die Technik gibt den Ton an.

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Forschende Sinne und technische Medien im Feldeinsatz Die folgenden Beispiele sollen dazu dienen, die Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung von menschlicher Wahrnehmung und technischen Medien aufzuspüren. Sie entstammen meiner eigenen teilnehmenden Beobachtung in zwei unterschiedlichen bioakustischen Feldforschungsprojekten der verhaltensökologischen Arbeitsgruppe der Freien Universität Berlin (FU). Forschungsschwerpunkt dieser Feldarbeitsgruppe ist die akustische Kommunikation von Singvögeln. Als ein charakteristisches Artmerkmal gilt der jeweilige Gesang einer Spezies. Dieser wird vornehmlich von männlichen Exemplaren vorgetragen und dient im Wesentlichen dazu, Weibchen anzulocken und das eigene Territorium zu markieren. Den »Zusammenhang zwischen Gesangsqualität von Männchen und weiblichen Verpaarungsentscheidungen«20 untersucht die Arbeitsgruppe u.a. mittels Playback-Experimenten an Nachtigallen im Treptower Park in Berlin. Bei diesen Experimenten werden den Männchen im Park auf bestimmte Forschungsfragen zugeschnittene Tonaufnahmen mit Hilfe von eigens für kleine Singvögel konzipierten Lautsprechern vorgespielt.21 Diese sogenannten Playback-Stimuli sollen Reaktionen bei den Vögeln provozieren, die wiederum mit einem Zweikanalton-Aufnahmerekorder festgehalten werden. Ein Mikrophon erfasst das Gesangs- und Rufverhalten des Tieres, ein anderes dient dazu, das sichtbare Verhalten in Form von Kommentaren der Forschenden festzuhalten. Gemeinsam mit der Leiterin der Arbeitsgruppe, Prof. Silke Kipper, habe ich die Studentin Annemarie Kaiser bei der Durchführung von PlaybackExperimenten im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit begleitet. Ihr Forschungsdesign sah als notwendige Voraussetzung vor, dass das Versuchstier bereits gesangsaktiv ist, bevor der Playback-Stimulus abgespielt wird. Wir fuhren die Nachtigall-Reviere im Park mit Fährrädern an; sobald wir in ein Revier kamen, horchten wir, ob das entsprechende Versuchstier singt. Wenn ja, bauten wir das Audio-Equipment für das Playback-Experiment auf. Vor dem Versuch zeichneten wir in der Regel noch für einige Minuten den gewöhnlichen Gesang des Nachtigall-Männchens auf. »Nachdem wir die Technik im Territorium ›Nestklau‹ aufgebaut haben, positionieren wir uns wieder im Abstand von ca. 3–5 Metern zum Vogel, um ihn nicht zu stören. Annemarie macht sich Notizen über Kanalposition, Ort, Exemplar und Uhrzeit sowie eine Skizze vom

20 Interview mit Silke Kipper vom 18.02.2011. 21 Vgl. Willkomm, Die Technik gibt den Ton an, 405f.

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Versuchsaufbau, daher merke ich nicht gleich, dass wir warten, bzw. dass der Vogel schweigt. Ich besitze noch nicht den ›Nachtigall-Fokus‹ und achte auf viel zu viele andere Vögel. Ich kann zwar die Nachtigall heraushören, der ›An- und Aus-Sensor‹ für die Präsenz der Nachtigall fehlt allerdings bisher in meinem Gehör.«22

Die Tatsache, dass ihr Versuchstier gerade nicht gesangsaktiv ist, scheint für die zwei Forscherinnen so klar, dass sie diese nicht mehr verbal kommunizieren müssen. Das Heraushören des Nachtigall-Gesangs, beispielsweise aus dem sogenannten Morgenchorus der vielen Singvögel im Park, ist eine Selbstverständlichkeit, die sich alle Student_innen in der Nachtigall-Forschung innerhalb der ersten Tage und Wochen im Park aneignen.23 Hier liefert das ›forschende Ohr‹ die nötigen Informationen für die Identifizierung des Forschungsobjekts und dient der Orientierung im Feld. Dass es darüber hinaus gelegentlich auch auf ein gewisses Gespür für die Eigenheiten spezifischer Apparate ankommt, soll das folgende Beispiel aufzeigen: »Silke Kipper startet das Playback und schaut während des Experiments immer wieder auf den Player, da dieser nicht automatisch nach dem gespielten Track aufhört. Da jedes zusammengeschnittene Playback nur einmal abgespielt werden sollte, ist Silke sehr hinterher, dass nicht aus Versehen ein neuer Track angespielt wird.«24 Die Juniorprofessorin behält den Player zur Kontrolle in der Hand und sein Display im Auge. Doch man könnte in dieser Situation ebenso gut schlussfolgern, dass der Player sie ›in der Hand hat‹, denn ihr Aktionsradius und ihre Aufmerksamkeit für das Experiment sind dadurch eingeschränkt. Zur gleichen Zeit achtet sie aber auch noch auf das Aufnahmegerät, das den Versuch und die Kommentare der Studentin aufnimmt, denn der Rekorder war bei den Nachtaufnahmen in dieser Saison bereits zweimal aus unerfindlichen Gründen ausgefallen. »Tatsächlich schaltet sich das Gerät auch bei einem der Playback-Experimente plötzlich ab. Silke Kipper bemerkt es sofort und kann schnell reagieren. Sie hält den Player an,

22 Feldnotiz vom 30.04.2011. 23 Dieses Heraushören des Nachtigall-Gesangs nehmen sie auch mit in ihren Lebensalltag: Annemarie erzählt mir, dass sie, seitdem sie ihre Praxisarbeit in der Verhaltensökologie gemacht hat, überall in den Parks von Berlin in der Balzsaison die Nachtigallen hört. Auch ich kann die Nachtigallen inzwischen nicht mehr überhören. 24 Feldnotiz vom 30.04.2011.

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untersucht das Aufnahmegerät, wechselt die Batterien und fährt es wieder hoch. Der Rekorder funktioniert wieder und das Experiment kann fortgeführt werden.«25

Hier tritt mit einem Mal die Eigenwilligkeit der einzelnen Gerätschaften zutage, die noch in dem zuvor geführten Interview mit der Arbeitsgruppenleiterin bei der Frage nach den Schwierigkeiten mit der Technik im Feld unerwähnt blieb. Das Wechselspiel zwischen Medien und Sinnen im Feld Doch natürlich führt der Einsatz von technischen Medien nicht immer und nicht ausschließlich zu einer Reduktion oder Ablenkung der Sinneseindrücke im Feld. Es findet immer wieder ein Abgleich zwischen der akustischen Aufnahmequalität der Technik und der auditiven Wahrnehmung der Forschenden statt. Ein Beispiel, das mir dieses Wechselspiel sehr schön vor Ohren geführt hat, war meine teilnehmende Beobachtung bei einer Fledermausforschung im Schlosspark Biesdorf in Berlin. Die Doktorandin Silke Voigt-Heucke ist ebenfalls Mitglied in der verhaltensökologischen Arbeitsgruppe der FU und arbeitet zum Balz- und Revierverhalten des Großen Abendseglers, einer europäischen Fledermausart. Ähnlich wie bei den Nachtigallen, verwendet sie PlaybackExperimente, um herauszufinden, wie die Tiere z.B. auf mögliche Rivalen reagieren, denn die Männchen des Großen Abendseglers sitzen ab Mitte August nach Einbruch der Dunkelheit in Baumhöhlen oder Fledermauskästen und ›singen‹ bzw. äußern komplexe Vokalisation in einem Balzkontext, um Weibchen anzulocken. Silke Voigt-Heucke verwendet für ihre Playback-Experimente keine gängigen Tonaufnahmegeräte. Hier wird ein kleines Netbook zum Aufnahmerekorder, Ultraschalllautsprecher und Ultraschallmikrophon werden per USB angeschlossen. Eine spezielle Software kann die Ultraschalllaute im Livespektrogramm am Bildschirm anzeigen. Die Doktorandin beschreibt mir in dem Interview, das wir vor der Feldsaison geführt haben, wie die Technik ihr vor Augen führt, was sie alles in der Nacht ohne ihr Equipment nicht wahrnehmen würde. »Wenn man gerade so im freien Luftraum Aufnahmen macht oder im Wald: also man sieht ja ganz viel einfach nicht und auch diese ganze akustische Welt, die bleibt dir einfach verborgen. […] Du kannst ganz viel drauf haben auf deinem Spektrogramm, was du

25 Feldnotiz vom 30.04.2011.

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da so live an dir vorbeizischen siehst und du siehst und hörst es nicht und kriegst es nicht mit.«26

Fledermäuse können Rufe erzeugen, die in sehr hohen Frequenzbereichen angesiedelt sind (bis zu 150 kHz) und somit jenseits des menschlichen Hörvermögens liegen.27 Die Tiere senden diese ›ultrakurzen‹ Laute aus, um sich in der Nacht durch das Echo, das die Rufe zurückwerfen, zu orientieren und ihre Beutetiere – meist Insekten – im Flug aufzuspüren. Doch die Fledermäuse benutzen ihre Stimmen nicht nur zur Echoortung, sondern auch, um untereinander zu kommunizieren. Als ich Anfang September 2011 zum ersten Mal zu den Abendseglern in den Schlosspark Biesdorf gehe, bin ich erstaunt, dass ich die Tiere z.T. hören kann. »Während wir abseits der Wege laufen macht mich Silke auf die Rufe aufmerksam: Die ersten Rufe höre ich nicht, doch dann stellt sich auch mein Ohr ziemlich schnell auf die ›klickenden‹ Triller und fiependen Ziehlaute ein, die hörbaren Gesangselemente der Abendsegler-Männchen.«28 Doch was sich genau hinter den Gesängen der Abendsegler verbirgt, sehe ich erst, als die Doktorandin ihr Equipment vor einem Fledermauskasten aufbaut und das Programm startet, das die Ultraschalllaute aufzeichnet: »Gemeinsam schauen wir auf das Avisoft-Programm auf dem Laptopmonitor, in dem sich das Livespektrogramm über drei Zeilen fortschreibt und dabei immer wieder überschreibt. [...]. Wenn wir reden, wird das eher wie eine Wolke im Spektrogramm abgebildet, unsere Stimmen sind nicht vergleichbar mit den klaren Signalen, die sich abzeichnen, sobald ein Fledermaus-Männchen zu singen beginnt. Nun sehe ich, was ich alles nicht höre. [...] Weder Wind noch Blätterrauschen, Menschenstimmen oder Straßenverkehr überlagern die Fledermausrufe, die sich in klaren und deutlichen schwarz-grauen Linien, Kurven und Mustern vor einem nahezu rauschfreien Hintergrund abzeichnen. War ich mir zuvor nie ganz sicher, ob Silke das meinte, was ich hörte, als sie von den hörbaren Rufen der Abendsegler sprach, sehe ich nun, was ich höre und Silke kann auf das zeigen, was wir hören und nicht hören. Der Klang wird in seiner Einschreibung viel leichter adressierbar, der Austausch über das, was wir hören, erfolgt unmittelbar über die sichtbaren Zeichen. Mit einem Mal ist das Gesehene deutlicher zu hören, im gleichen Moment wird das Unhörbare sichtbar. Wie unhörbar aber auch unsichtbar das Beobachtete ohne die Anzeige

26 Interview mit Silke Voigt-Heucke vom 18.02.2011. 27 Das menschliche Hörspektrum bewegt sich je nach individueller Hörfähigkeit zwischen 20 Hz und 20 kHz. 28 Feldnotiz vom 09.09.2011.

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ist, wird mir immer dann wieder bewusst, wenn der Computerbildschirm sich verdunkelt«29

Die Ultraschall-Laute, die sich in unmittelbarer Nähe ereignen, sind auf dem Computerbildschirm gut sichtbar. Doch der Aufnahmebereich des Mikrophons ist sehr eingeschränkt, da Ultraschall eine nur sehr geringe Reichweite besitzt. Mögliche Interaktionen oder Reaktionen auf die Balzgesänge aus weiterer Entfernung werden nicht aufgenommen. Außerdem ist das Ultraschallmikrophon für Frequenzen unter 1200 Hz kaum empfänglich. Das hat den Vorteil, dass viele tieffrequente Störgeräusche ausgeblendet werden. Allerdings fallen dadurch auch die für Menschen gut hörbaren Lautäußerungen des Abendseglers aus dem Registrierungsraster der Aufzeichnung. »Bezogen auf den Visualisierungsprozess könnte man im übertragenden Sinne von einer ›Kurzsichtigkeit‹ der Technik sprechen.«30 Die Schulung der Sinne durch die Medien Die beschriebenen Beispiele machen deutlich, dass im Feldforschungsprozess unterschiedlichste Einflussfaktoren zusammenwirken und dazu führen, dass die menschlichen Sinne im freien Gelände im Zusammenspiel mit, sowie in Abgrenzung und in Abhängigkeit von, technischen Aufzeichnungsmedien geschult werden. Diese Schulung erfolgt, bezogen auf die erwähnte Eigensinnigkeit der Medien, in dreifacher Hinsicht. Erstens legt das Aufzeichnungsgerät den Fokus fest, sobald es zum bestimmenden Element der Datenerhebung wird: Was wie, wann und wo im Feld aufgenommen werden kann, entscheiden neben dem Forschungsobjekt nun in der Regel die limitierenden Faktoren der technischen Apparatur. Zu laut, zu leise, zu nass, zu staubig, zu kalt, zu warm, zu hell, zu dunkel, zu weit weg, zu nah dran oder schlicht und einfach zu kaputt wird nicht mehr nur in Bezug auf die Aufnahmefähigkeit der Forschenden im Feld relevant, sondern vor allem in Bezug auf die technischen Grenzen der Medien. Gleichzeitig erfolgt natürlich auch die Herausbildung eines routinierten Umgangs mit dem Gerät; das Kennenlernen der technischen Tücken, Vermeiden klassischer Bedienungsfehler und die optimale Anpassung der apparativen Funktionen an die Forschungsbedingungen sind nützliche und manchmal auch für den Forschungsprozess ausschlaggebende Aneignungsschritte.

29 Feldnotiz vom 09.09.2011. 30 Willkomm, Die Technik gibt den Ton an, 408.

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Zweitens ist es aber auch die eigene Wahrnehmung, die in der Arbeit mit technischen Aufzeichnungsmedien eine erweiterte Prägung, Ausbildung und Reflexion erfahren kann. Entscheidend hierbei ist nicht nur, dass einem z.B. im Falle des Tonaufnahmegeräts die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des menschlichen Hörvermögens vor Ohren geführt werden, was wiederum das Hören im Feld verändert, lenkt und trainiert. Dieses Anders-und-mehr-Hören führt auch zu einem geübteren Blick und lässt die eigene Körperlichkeit spürbar werden, wenn z.B. das Mikrophon die eigenen Schritte und Handgriffe überdimensional laut erfasst. Nicht selten entsteht eine direkte Kopplung der Sinneseindrücke, wenn die aufgezeichneten Schallschwingungen direkt vor Ort oder später im Labor in visuelle Anzeigen transformiert werden. Das spezifische Feldwissen speist sich also nicht nur aus den reflektierten und kondensierten Tatsachen, die im späteren Forschungsprozess erarbeitet werden, sondern aus dem z.T. verkörperten und implizit bleibenden Erfahrungswissen, das eng mit den Sinneseindrücken verbunden ist, die sich meist nicht nur auf einer Wahrnehmungsebene bewegen, sondern sich ergänzen, kombinieren und zwischen den einzelnen Sinneskanälen hin und her springen. Dieses besondere Sensorium wird häufig erst in Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit den Forschungsmedien entwickelt, geschärft und verändert. Drittens geht das Erkennen und die Reflexion dieses Umstandes im alltagspraktischen Handeln mit und durch die Forschungsmedien oft verloren, da sie sich selbst wie bereits erwähnt, der sensuellen Wahrnehmung entziehen. Erst im Moment der Störung treten die Medien wieder zutage, z.B. wenn der Bildschirm des Laptops sich während der Fledermausforschung verdunkelt, wenn das Tonaufnahmegerät bei den Nachtigallen ausfällt oder wenn der Wind das Rauschen in der Aufnahme zu stark werden lässt. Albert Kümmel weist darauf hin, dass Bruno Latour diese Art von Unterbrechung als ein »konstitutives Moment« identifiziert, »in dem die Medialität eines Mediums sichtbar wird«.31 Diese Unterbrechungs- oder Störungsmomente rufen den Eigensinn der technischen Medien in Erinnerung, der manchmal sogar Anpassungen, Veränderungen und Verbesserungen der Geräte zur Folge hat bzw. bestimmte Mediennutzungen im Feldforschungsprozess ausschließt. Gleichzeitig macht die Störung darauf aufmerksam, inwiefern die menschlichen Sinne durch die technischen Medien mediatisiert werden, indem sie die Wahrnehmung verändern, verlagern, erweitern oder konzentrieren.

31 Kümmel, Störung, 233.

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IN DER ETHNOGRAPHISCHEN

Diese wechselseitigen Prägungsprozesse lassen sich natürlich nicht nur in der biologischen Feldforschung finden. Auch in der sinnlichen Ethnographie entwickeln die Forschenden Strategien, um Technik im Feld nutzbar zu machen und gleichzeitig verändert sich durch den Umgang mit technischen Medien die eigene Wahrnehmung. Meine Erfahrungen diesbezüglich haben mich im Rahmen eines ethnographisch-künstlerischen Stadtforschungsprojektes auf die Idee gebracht, der Feldtauglichkeit von Technik, den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Aufzeichnung sensueller Eindrücke durch Medien und der Herausbildung von spezifischen sensuellen Fähigkeiten auf den Grund zu gehen.32 Auch Regina Bendix unterstreicht die Relevanz der Sinne im Forschungsprozess und führt an, dass sensuelle aber auch emotionale Kenntnis ebenfalls eine Form des Wissens sei. Das Konzept der sinnlichen Ethnographie führt zu einer Sensibilisierung der Wahrnehmung im Erhebungskontext und eröffnet einen Zugang zu anderen Beobachtungsmodi.33 Eine zentrale Aufgabe der sinnlichen Ethnographie ist es, die »Leistung der Sinne als sowohl somatisch wie individuell und kulturell geschulter Organe zu würdigen«.34 Es existiert für jede Situation ein lebens-, kultur-, alltags-, arbeits- oder forschungsspezifisches Sensorium und jede Form von Wissen entwickelt daraus ihre eigene sensuelle Professionalität. Daher gilt es auch, den Prozess, durch den dieses spezifische Sensorium wissenschaftliche Erkenntnis generiert, anzuerkennen und transparent zu machen.35 Jede bewusste oder unbewusste Konfrontation mit dem eigenen Sensorium aber auch mit den Sinnesleistungen anderer, prägt die Forschenden und erweitert ihre Wahrnehmungskompetenzen. Bendix spricht von einer spezifischen »Sinnbiographie«, die im Laufe der Jahre durch unterschiedlichste Feldaufenthalte, Begegnungen und Erkenntnisse geprägt wird.36 Sie bemerkt, dass »die sinnlichen Antennen – mit anderer und vielleicht auch längerer Lebenserfahrung – Daten anders oder auch überhaupt

32 Vgl. Hiebsch [u.a.], Sensing the street. Informationen und Fotodokumentationen zum interdisziplinären Forschungs- und Ausstellungsprojekt Sensing the Street. Eine Straße in Berlin sowie eine Liste von allen Beteiligten unter www.sensingthestreet.de. 33 Vgl. Keifenheim, Wege der Sinne, 38. 34 Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 81. 35 Vgl. Pink, Sensory Ethnography, 2. 36 Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 81.

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erst aufnehmen« können bzw. in anderer Hinsicht abgemildert oder verändert wahrnehmen.37 Dabei ist meiner Meinung nach jede Sinnbiographie immer auch als eine Medienbiographie aufzufassen. Denn die Schulung der Sinne geht meist mit einer Schulung der Medien einher, sobald man diese in den Forschungsalltag einbindet. Viele empirische Studien, die den Ansatz einer sinnlichen Ethnographie verfolgen, sehen sich in der Tradition der Visuellen Anthropologie verankert. Ebenso wie die Bioakustik erst mit dem Aufkommen von transportablen Tonaufnahmegeräten entstand, bediente sich die Visuelle Anthropologie mit zunehmender ›Erleichterung‹ des Kamera- und Fotoequipments ab den 1980erJahren der Medientechnik als ›multisensorischem‹ Instrumentarium. Zur gleichen Zeit begann sie, kulturspezifische Aneignungsstrategien von Medieninhalten oder lokale, globale und medienübergreifende sensuelle Rezeption von Bildtraditionen zu erforschen.38 Vor diesem Hintergrund wird nicht nur eine Reflexion über den Einsatz von audiovisuellen Medien als für die sinnliche Ethnographie zentraler »Methodenapparat« und »pädagogisches Werkzeug« relevant39, sondern auch die Position und sinnliche Erfahrungswelt der Ethnograph_innen. Ebenso wie in der Bioakustik das forschende Ohr Form, Umfang und Qualität der akustischen Aufnahme lenkt und bewertet, erfordert auch die in der Visuellen Anthropologie so zentral gewordene Arbeit mit Videokamera und Fotoapparat einen geübten Blick, geschulte Körpertechniken und Erfahrungen im Umgang mit der Technik. Neben diesen praktischen Fähigkeiten kommt in der ethnographischen Forschung aber auch der Einfluss der Forschenden selbst auf die Situation, die aufgenommenen Daten und die spätere Auswertung zum Tragen. Meist steht hinter der Erforschung fremder (Sub)-Kulturen eine bestimmte ›Sicht‹ auf die Welt, eine ›Ideologie‹ mit der eine ›soziale Umwelt‹ erforscht wird.40 So manifestieren sich die von Bendix beschriebenen Lebenseinstellungen und sinnlichen Antennen z.B. im Akt des Filmens in der Präsenz der Ethnograph_innen hinter der Kamera, »als Ansprechpartner, als Fragender, als Subjekt, das mit Kamera handelt [...]. Der Körper der Person hinter Kamera oder Tonband ist Teil des Bildes oder des Interviews, auch wenn er nicht sichtbar ist«41.

37 Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 81. 38 Vgl. Keifenheim, Wege der Sinne, 34f. 39 Vgl. Westricht, Abschied von der Visuellen Anthropologie?, 136f. 40 Vgl. ebd., 136–138. 41 Ebd., 140. Auch für die im Rahmen der Wissenschaftsforschung mehr und mehr in den Blick geratende Bedeutung der Sinne im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess

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Darüber hinaus haben Medien immer ihre eigene Rolle im Forschungsprozess. Sie können z.B. integraler Bestandteil einer Interaktion zwischen Forschenden und ihrem Feld sein oder selbst zum Akteur werden. Ihre Anwesenheit kann zum Kristallisationspunkt in der Forschung werden, sie können die Aufmerksamkeit sowohl der Forschenden als auch der Beforschten fokussieren oder ablenken, einen notwendigen Abstand, aber auch störende Distanz schaffen, Nähe erzeugen und Annäherung verhindern, Klarheit schaffen und zu Missverständnissen führen. Die Sprach- und Kulturwissenschaftlerin Ingeborg Baldauf weist in der Betrachtung des Technikeinsatzes in ihrer Feldforschung sehr anschaulich auf das Eigenleben von Tonaufnahmen im Forschungsprozess hin, thematisiert zugleich aber auch die Reaktionen ihres Forschungsfeldes auf die Anwesenheit des Tonaufnahmegeräts.42 Hier zeigt sich ein medienreflexives Verhalten der Aufgenommenen, wenn gewisse Sachverhalte erst nach dem Ausschalten der Technik zur Sprache kommen oder andersherum erst durch das Mikrophon eine »Repräsentationsqualität« erzeugt wird, die das Gesagte bzw. das Gesungene zu einem Auftritt werden lässt.43 Für einige Gewährsmänner wurde das »Produzieren von vollen Tonbändern« sogar zum »Selbstzweck«, indem die Technik einen »entscheidenden Kick« gab.44 Auch in meinem Forschungsfall war das Tonaufnahmegerät ein wichtiger Reflexionsfaktor. Während der Interviews wurde mein Gerät zum Anschauungsobjekt, auf das im Gespräch von Seiten der Befragten Bezug genommen wurde und an dem beispielhaft Funktionen und Unterschiede der Aufnahmemodelle gezeigt wurden. Andererseits merkte ich, dass sich die Präsenz meines Rekorders während der späteren teilnehmenden Beobachtung als unpraktisch erwies, da meine Aufmerksamkeit auf den Interaktionen der Forschenden mit ihrer Technik lag und mich die parallele Anfertigung von medialen Dokumentationen (Tonaufnahmen, Fotos aber auch Notizen) oft überforderte.

F AZIT Der Einsatz von Medien macht die Wahrnehmung im Feld nicht besser oder schlechter, er transformiert sie nur auf eine spezifische Weise, da Medien etwas

fordern Burri [u.a.] eine Betrachtung der wechselseitigen Einflüsse von verkörperten Praktiken und Instrumenten. Vgl. ebd., The five senses of science, 3. 42 Vgl. Baldauf, Von Menschen und Maschinen in der Feldforschung, 52–61. 43 Vgl. ebd., 54. 44 Vgl. ebd., 57.

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anderes aufzeichnen und wahrnehmbar machen, als das, was die Forschenden im Feld mit ihren Sinnen registrieren. Gleichzeitig schult die Auseinandersetzung mit den Eigenheiten der Medien das menschliche Sensorium und führt zur Anpassung oder Verbesserung des technischen Equipments und zur Ausbildung feldspezifischer Seh-, Hör-, oder Bewegungsgewohnheiten. Kommt diese Wechselseitigkeit nicht in den Blick, werden Medien nur als Blackbox behandelt: »Wenn eine Maschine reibungslos läuft, wenn eine Tatsache feststeht, braucht nur noch auf Input und Output geachtet zu werden, nicht mehr auf ihre interne Komplexität.«45 Damit werden die Eigensinnigkeit der technischen Medien und ihr Einfluss auf den Forschungsprozess in den toten Winkel geschoben. Eine sinnliche Ethnographie sollte folglich nicht nur die Wahrnehmungen und Emotionen der Forschenden als erkenntnisleitende Faktoren ernst nehmen, sondern auch die im Feld zum Einsatz kommenden Forschungsmedien in ihrer Eigenlogik und Eigensinnigkeit mit bedenken und hinterfragen. Darüber hinaus sollte auch die Rolle der technischen Medien im Alltag und in der Lebenswelt der zu Erforschenden in den Forschungsprozess mit einbezogen werden, insbesondere im Hinblick auf das spezifische Sensorium, das die zu Erforschenden im Umgang und in Auseinandersetzung mit ihren Alltagsmedien ausbilden.

L ITERATUR Baldauf, Ingeborg (2007): Von Menschen und Maschinen in der Feldforschung. Erfahrungen aus Afghanistan und Uzbekistan, in: Julia Ahamer/Gerda Lechleitner (Hrsg.): Um-Feld-Forschung. Erfahrungen – Erlebnisse – Ergebnisse, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 51–62. Bendix, Regina (2006): Was über das Auge hinausgeht. Zur Rolle der Sinne in der ethnographischen Forschung, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 102, 71–84. Burri, Regula V./Schubert, Cornelius/Strübing, Jörg (2011): Introduction. The Five Senses of Science. Making Sense of Senses, in: Science, Technology & Innovation Studies 7 (1), 3–7. Classen, Constance (1997): Foundations for an anthropology of the senses, in: International Social Science Journal 49 (153), 401–412. Franke, Patrick (2007): Das natürliche und das mediatisierte Hören, Diplomarbeit, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig.

45 Latour, Die Hoffnung der Pandora, 373.

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Keifenheim, Barbara (2000): Wege der Sinne. Wahrnehmung und Kunst bei den Kashinawa-Indianern Amazoniens, Fankfurt am Main/New York: Campus. Kittler, Friedrich (1993): Geschichte der Kommunikationsmedien, in: Jörg Huber/Alois Martin Müller (Hrsg.): Raum und Verfahren, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 169–188. Krämer, Sybille (2003): Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren, in: Stefan Münker [u.a.] (Hrsg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main: Fischer, 78–90. Kümmel, Albert (2005): Störung, in: Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hrsg.): Grundbegriffe der Medientheorie, Paderborn: Fink, 229–236. Hiebsch, Maria Elisabeth/Schlüter, Fritz/Willkomm, Judith (2009): Sensing the Street. Eine sinnliche Ethnographie der Großstadt, in: Sandra Maria Geschke (Hrsg.): Straße als kultureller Aktionsraum. Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Wiesbaden: VS Verlag, 31–57. Howes, David (Hrsg.) (2005): Empire of the senses. The Sensual Culture Reader, Oxford/New York: Berg. Latour, Bruno (2000): Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. McLuhan, Marshall (1997 [1961]): Inside the five sense sensorium, in: David Howes (Hrsg.): Empire of the senses. The Sensual Culture Reader, Oxford/ New York: Berg, 43–54. McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media. The extensions of man, New York: Gingko Press. Pink, Sarah (2009): Doing Sensory Ethnography, London [u.a.]: Sage. Vogl, Joseph (2001): Medien-Werden. Galileis Fernrohr, in: Lorenz Engell [u.a.] (Hrsg.): Mediale Historiographien, Weimar: Universitätsverlag, 115–124. Weber, Stefan (2003): Under Construction. Plädoyer für ein empirisches Verständnis von Medienepistemologie, in: Stefan Münker [u.a.] (Hrsg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main: Fischer, 172–184. Westricht, Michael (2013): Abschied von der Visuellen Anthropologie?, in: Berliner Blätter 64, 135–141. Willkomm, Judith (2013): Die Technik gibt den Ton an. Zur auditiven Medienkultur der Bioakustik, in: Axel Volmar/Jens Schröter (Hrsg.): Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld: Transcript, 393–417.

»Sound Culture«, »Acoustemology« oder »Klanganthropologie«? Sinnliche Ethnographie und Sound Studies F RITZ S CHLÜTER

Tonaufnahmen werden in der ethnographischen Feldforschung seit mehr als einhundert Jahren zu Dokumentationszwecken eingesetzt. Das auditive Interesse der Ethnologie galt dabei allerdings kaum jemals anderen akustischen Phänomenen oder Praktiken als Musik oder dem gesprochenen Wort. Nur vereinzelt, und wenn, dann eher als zufälliges Nebenprodukt dieser Feldforschungsexpeditionen, gibt es auch Tonaufnahmen der »akustischen Atmosphäre«1 einzelner Orte. Unter den Vorzeichen einer Anthropologie der Sinne bzw. einer Sinnlichen Ethnographie plädieren heute mehr und mehr Ethnolog_innen und Kulturanthropolog_innen für das Studium verschiedener »Sinneskulturen«2 einerseits sowie für eine stärkere Berücksichtigung sinnlicher Wahrnehmung in der konkreten Feldforschungssituation andererseits. Im Zuge dieser Entwicklung ist auch ein wachsendes Interesse an den sozialen und kulturellen Bedeutungen von Klängen und Geräuschen zu konstatieren sowie überhaupt eine erhöhte Aufmerksamkeit für das Hören und Zuhören in der ethnographischen Forschung.3 Zugleich erfährt derzeit eine interdisziplinäre Forschungsrichtung, die sich dezidiert der Untersuchung von akustischen Phänomenen und Praktiken widmet, unter der Sammelbezeichnung Sound Studies einen bemerkenswerten Aufschwung in den Geistes-

1

Böhme, Architektur und Atmosphäre, 76f.

2

Frz.: »cultures sensibles«. Corbin bezieht den Begriff der ›Sinneskultur‹ vor allem auf

3

Vgl. z.B. Bendix, Symbols and sound, senses and sentiment; Lindner, Klänge der

bestimmte historische Zeiträume. Vgl. Corbin, Geschichte und Anthropologie, 21. Stadt; Müske, Maritime Klanglandschaften; Scholl, Wer hören will, muss fühlen.

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und Sozialwissenschaften.4 So überfällig diese Hinwendung zu akustischen Phänomenen – einem aus den Wissenschaften lange Zeit weitgehend ausgeklammerten Gegenstandsbereich – zweifellos ist, so groß muss aufseiten der (Europäischen) Ethnologie auch die Skepsis sein, wenn im Zuge dessen plötzlich zunehmend Begrifflichkeiten wie »Sound Culture«, »Klanganthropologie« oder »Hearing Cultures«5 in Umlauf geraten: Schlagworte, die offenbar mehr oder weniger spezifische Zusammenhänge zwischen ›Sound‹ und ›Kultur‹ suggerieren, ohne diese immer plausibel machen zu können. Anstatt jedoch weitere Abgrenzungen vorzunehmen, möchte ich im Folgenden vor allem bestehende Schnittmengen und Gemeinsamkeiten zwischen den Sound(scape) Studies und einigen ausgewählten ethnologischen und kulturanthropologischen Forschungsansätzen herausarbeiten. Denn im Rahmen einer methodischen Sensibilisierung für (auditive) Wahrnehmungen und Empfindungen, für (akustische) Atmosphären und Stimmungen – wie sie nicht nur im vorliegenden Band diskutiert wird – stellen sich für die Ethnologie/Kulturanthropologie derzeit ganz neue Fragen.

›K ULTUREN

HÖREN ‹



HIER UND JETZT ?

Befinde ich mich etwa auf einem öffentlichen Platz in der StadtŹ6 und konzentriere ich mich bewusst auf das, was ich höre, dann mag mir das akustische Geschehen in meiner Umgebung zunächst relativ unbeständig und zufallsbedingt erscheinen: Was soll das anderes sein als Lärm, ein ungeordnetes Gewirr von Stimmen, Schritten und anderer, weitgehend unbeabsichtigt produzierter Geräusche? Und doch werden sich im Wogen und Rauschen dieses Platzes schon nach kurzer Zeit gewisse Muster bemerkbar machen, die ich nur hier in dieser Zusammensetzung vorfinden kann. Bestimmte ›akustische Institutionen‹ – wie Kirchenglocken oder andere Signale – sind unter Umständen für den Ort, an dem ich mich befinde, typisch. Und spätestens dann, wenn ich mir die ganze mögliche Bandbreite an akustischen Äußerungen vergegenwärtige, die ich hören könnte, muss ich mir darüber klar werden, dass die Klanglandschaft dieses

4

Für einen kritischen Überblick zur Genese der Sound Studies vgl. die Einleitung von

5

LaBelle, Acoustic Territories; Schulze/Wulf, Klanganthropologie; Erlmann, Hearing

Volmar/Schröter, Auditive Medienkulturen. Cultures. 6

ŹHÖRBEISPIEL 1: Schlüter, Field Recording Alexanderplatz. Abruf unter http:// sonicagents.wordpress.com/sound-culture/. Dieser Text wird durch neun Hörbeispiele ergänzt, welche jeweils unter dieser URL abgerufen werden können.

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Platzes offensichtlich bestimmten, mehr oder weniger expliziten Regeln folgt. Auf welche Weise kommt die »Klanglandschaft«7 – verstanden als die Gesamtheit an Klängen und Geräuschen, die ich in meiner Umgebung hören kann – eigentlich zustande? Was kann ich anhand seiner momentanen, akustischen Atmosphäre über diesen Ort lernen? Und wenn ich davon ausgehe, dass die Klanglandschaft dieses Platzes zumindest zum Teil ihr Fundament in sozialer Praxis hat: mit welchen Methoden lässt sie sich, als flüchtiges kollektives Produkt, ethnographisch untersuchen? Bevor ich näher auf drei verschiedene Forschungsansätze eingehe, die sämtlich einer kulturanthropologischen Klangforschung zugerechnet werden können, erscheint ein kurzer Rückblick angebracht: Denn es war Murray Schafer – kein Ethnologe, sondern Komponist und Musikwissenschaftler –, der die akustische Umwelt erstmals als eigenes Untersuchungsfeld behandelte.

D IE K LANGLANDSCHAFT

IN SITU STUDIEREN

The Soundscape, die 1977 erschienene Monographie des Kanadiers R. Murray Schafer (sprich: Schäfer), gründet in der Idee, die akustische Umwelt als eine gigantische Komposition zu verstehen, an der wir alle beteiligt sind: Wir seien gewissermaßen zugleich die Mitwirkenden eines globalen Konzerts, das dauernd stattfindet, und dessen Zuhörer_innen. Schafer betrachtete den Menschen – als Produzenten von Sprache, Gesang und Musik, aber auch der vielen anderen akustischen Begleiterscheinungen des Alltags – jedoch nur als Teil des großen akustischen Ensembles dieses Planeten, zu dem auch die Geräusche von Wind und Wetter und die verschiedenen Lautäußerungen der Tierwelt beitragen. Sein Versuch, verschiedene Klanglandschaften empirisch zu erforschen und mit ihnen auch eine bestimmte Logik bzw. »Ordnung der Klänge«8 zu beschreiben, ist für die Ethnologie vor allem insofern relevant, als er hierbei die Grundzüge einer eigenen, qualitativen Methodik der Klangforschung entwickelt, die im Übrigen selbst stark von der ethnographischen Feldforschung inspiriert ist.Ź9 Und auch in theoretischer Hinsicht bietet die ›Klanglandschaft‹ zahlreiche Anknüpfungspunkte:

7

Engl.: »soundscape«. Als »Soundscape« im engeren Sinne bezeichnet Murray Schafer

8

Schafer, Die Ordnung der Klänge.

9

ŹHÖRBEISPIEL 2: »The Music of Horns and Whistles«. Schafer, The Vancouver

»die akustische Umwelt«. Schafer, The Soundscape. 274f.

Soundscape. Mit einem wechselnd besetzten Team aus Musik- und Kommunikations-

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»das Konzept […] hat Vorteile für Anthropolog_innen. [Schafer] konzipiert die Klanglandschaft als eine öffentlich zirkulierende Entität, die nicht nur Produkt sozialer Praktiken, Ergebnis einer bestimmten Politik und bestimmter Ideologien ist, sondern die ebenso auf die Ausprägung dieser Praktiken, Politiken und Ideologien zurückwirkt. […] Wie auch die ›Landschaft‹ umfasst der Begriff ganz widersprüchliche Kräfte wie Natur und Kultur, Zufall und gezielte Komposition, Improvisiertes und planerisch Gestaltetes. In ähnlicher Weise wie die Landschaft, die sich erst durch ihre Kultur- und Ideengeschichte und bestimmte Praktiken des Sehens konstituiert, impliziert die Klanglandschaft Zuhören als kulturelle Praxis.«10

Schafers Wortschöpfung und seine »Kulturgeschichte des Hörens« wurde in den vergangenen rund vierzig Jahren von Musiker_innen, Architekt_innen, Künstler_innen und Wissenschaftler_innen verschiedenster Disziplinen aufgegriffen; neuerdings sehen sich seine Konzepte aber auch wachsender Kritik ausgesetzt. Denn das »Tuning of the World«, die (musikalisch verstandene) ›Stimmung der Welt‹ zu erforschen und zu erkennen, ist für ihn nur der erste Schritt. Im zweiten Schritt fordert er ein visionäres »Akustisches Design«, das die vorgefundene »dissonante«, d.h. vom Menschen korrumpierte Klanglandschaft nach Möglichkeit »repariert« und »korrigiert«11 – hier geht es um mehr als nur um ein besseres ›Fein-Tuning‹. Dessen ungeachtet hat Schafer mit dem Begriff des »Soundscapes« eine ganz neue Perspektive auf die Umwelt eröffnet.

S OUNDSCAPE . C OMPOSED

BY

C ULTURE ?

Soundscapes bzw. Klanglandschaften, d.h. die alltägliche (urbane) Geräuschkulisse wirklich kulturanthropologisch zu erforschen, setzt zunächst einmal voraus, sie als flüchtiges kulturelles Artefakt zu verstehen, d.h. als das Produkt von – mehr oder weniger gezielten – soziokulturellen Praktiken. Und tatsächlich beschreibt eine wachsende Zahl von Kulturanthropolog_innen mit eigenen theoretischen Konzepten wie »sozio-akustischer Ordnung«12, »Akustemologie«13

wissenschaftler_innen führte Schafer u.a. qualitative Interviews, zeichnete Karten und machte Tonaufnahmen im Feld. Das Hörbeispiel ist eine sogenannte Soundscape Composition auf der Basis von Field Recordings. 10 Samuels [u.a.], Soundscapes, 330 [Übersetzung FS]. 11 Vgl. Schafer, The Soundscape, 237–245. 12 Engl.: »socioacoustic order«. Järviluoma [u.a.], Acoustic Environments in Change, 25. 13 Feld/Brenneis, Doing anthropology, 462.

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bzw. »sonic order of urban space«14 explizite Zusammenhänge zwischen Klängen, Kulturen und Orten. Die folgenden Abschnitte sind deshalb drei Forschungsansätzen gewidmet, die sich dezidiert als Teil einer ethnographischen Klangforschung verstehen.15 Ihnen allen ist der Versuch gemeinsam, in einem größeren, d.h. durchaus ›klanglandschaftlichen‹ Kontext spezifischen kollektiven Praktiken auf die Spur zu kommen, die sich im Akustischen manifestieren, und diese Phänomene hinsichtlich ihrer soziokulturellen Ursachen, Wirkungsweisen und symbolischen Bedeutungen zu untersuchen. Europe‫ތ‬s Soundscapes. »Acoustic Environments in Change« Als die finnischen Ethnomusikolog_innen Helmi Järviluoma, Heikki Uimonen, Noora Vikman und weitere Forscher_innen im Jahr 2000 eine Forschungsreise durch Finnland, Schweden, Italien, Deutschland, Frankreich und Schottland unternahmen, besuchten sie genau die Orte, die Schafer 25 Jahre zuvor mit seinem Team aufgesucht hatte, und beforschten diese auch mit ähnlichen Methoden. Als historische Vergleichsstudie ist Acoustic Environments in Change (AEC) damit nicht nur im Europäischen Raum ein völlig einzigartiges Projekt.16 Während Schafers Feldforschungsergebnisse und Schlussfolgerungen aus dem Jahr 1975 heute zum Teil recht scherenschnittartig wirken, sorgt die methodische und theoretische Schulung der finnischen Ethnomusikolog_innen nun für eine Vertiefung und Diversifizierung der Perspektiven auf die Klanglandschaften der untersuchten Orte. Murray Schafer behandelte die Einwohner_innen der jeweiligen Dörfer und Kleinstädte beispielsweise noch ganz selbstverständlich als Mitglieder einer lokalen ›akustischen Gemeinschaft‹, wohingegen Järviluoma [u.a.] nun sehr viel vorsichtiger von Indizien sprechen, die auf die Wirksamkeit bestimmter, hegemonialer sozio-akustischer Ordnungssysteme in den jeweiligen Orten verweisen. Diese kollektiven symbolischen Ordnungen könnten jedoch kaum dem Ort als Ganzem zugeschrieben werden; sie seien eher an individuelle Voraussetzungen wie Generation oder Geschlecht denn an die gesamte ›Dorfgemeinschaft‹ geknüpft, weshalb sie auch innerhalb des Kollektivs ständig neu verhandelt würden. Dennoch mache sich diese »sozio-akustische Ordnung«

14 Atkinson, Ecology of sound, 1906. 15 Der vorliegende Text beruht z.T. auf meiner Magisterarbeit, in der ich ausführlicher auf die Protagonist_innen einer ethnographischen Klangforschung eingehe: Schlüter, Die Klanglandschaft als ethnographisches Feld. 16 Järviluoma [u.a.], Acoustic Environments in Change enthält auch den Nachdruck der ersten Studie von Schafer, Five Village Soundscapes.

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gelegentlich bemerkbar: es entstehen Konflikte, wenn sie nicht von allen geteilt und eingehalten wird.17 Eine besondere Qualität der Feldstudie ist zweifellos ihre hohe methodische Transparenz: Die Dokumentation des Forschungsprozesses steht stets gleichberechtigt neben der Präsentation der Ergebnisse – genauer gesagt, sind diese sogar unauflöslich miteinander verknüpft.18 Nach dem Motto »from impressions to categories and back«19 entwickeln Järviluoma [u.a.] ihre Darstellung immer entlang konkreter Beobachtungen und Begegnungen, sodass die Erfahrungen aus der Feldforschungsphase auch im Nachhinein greifbar bleiben und nicht in Abstraktionen verloren gehen. Zum Teil gelingt dies dank der zitierten Aussagen aus den qualitativen Interviews; ausschlaggebender sind aber vielleicht noch die Auszüge aus den ebenso achtsam wie selbstkritisch geführten Hörprotokollen der Feldforscherinnen, die im Rahmen wiederholter listening walks entstanden. Acoustic Environments in Change steht in vielerlei Hinsicht in direkter Tradition zu Schafers Vorarbeiten. Was die Darstellung der Ergebnisse angeht, nutzt AEC z.B. bewusst auch akustische Repräsentationsweisen. Das narrative Potential sogenannter Soundscape Compositions schöpfen sie indes nicht völlig aus: Die Tondokumente werden in erster Linie in Form von weitgehend unbearbeiteten, nicht arrangierten Field Recordings präsentiert – ganz anders als bei Steven Feld, der Soundscape Compositions gar als eigenes Medium für die ethnographische Dokumentation und Darstellung etablieren möchte. Akustemologie und auditive Erzählungen des Regenwalds Steven Feld gehört, was Publikationen im Umkreis der Sound Studies angeht, zweifellos zu den am meisten gedruckten und zitierten Ethnolog_innen. Der

17 So etwa von Jugendlichen, die im Zentrum des schottischen Dorfes Dollar manchmal bis tief in die Nacht feiern und lärmen. Dass es dabei es nicht allein um Lautstärke, sondern mindestens ebenso sehr um konfligierende Wertvorstellungen geht, wird an der Irritation deutlich, die viele der älteren Einwohner Dollars vor allem angesichts der akustischen Präsenz junger Frauen äußern: »the voices of the young women during the night in Dollar would have been unthinkable a few decades earlier«. Järviluoma [u.a.], Acoustic Environments in Change, 26. 18 Dies scheint mir ganz in der Absicht der Autor_innen zu liegen: AEC will kontextualisieren, wo Schafer polarisierte. Noora Vikman formuliert an anderer Stelle, Schafers ursprüngliches Motto »›the tuning of the world‹ has changed into ›the tuning of the soundscape concepts‹«. Vikman, Looking for a ›right method‹, 150. 19 Järviluoma [u.a.], Acoustic Environments in Change, 261.

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Großteil seiner bisherigen Forschung – von jüngeren Projekten abgesehen – kreist um den kleinen Stamm der Kaluli in der Bosavi-Region in Papua NeuGuinea, die er Mitte der 1970er Jahre das erste Mal besuchte.20 Seitdem interessiert er sich in erster Linie für Zusammenhänge zwischen akustischer Umwelt und kultureller Praxis – eine Beziehung, die er als ›Akustemologie des Ortes‹ konzeptuell zu beschreiben, aber auch akustisch erfahrbar zu machen sucht. Schon bevor Steven Feld Anthropologie studierte, war er als Musiker, Toningenieur und Sound Designer tätig. Sicher nicht ganz zufällig leitet er seine erste ethnomusikologische Veröffentlichung – wie zuvor schon Colin TurnbullŹ21 – ebenfalls mit einer Klangcollage aus Alltagsgeräuschen ein;Ź22 dieser sei es gewesen, der ihn überhaupt darauf gebracht habe, bei der Feldforschung die akustische Dimension eines Ortes besonders zu berücksichtigen. »Unter dem Stichwort Akustemologie möchte ich […] die besondere Bedeutung des Hörens als eigene Modalität von Wissen und In-der-Welt-Sein untersuchen. Klänge und Geräusche gehen von Körpern aus und dringen in sie ein; diese Reziprozität […] sorgt dafür, dass sich Körper – anhand ihres akustischen Potentials – auf bestimmte Orte und Zeiten ›einstimmen‹. Sowohl das Hören als auch das Lautgeben sind jeweils ›verkörperte‹ Fähigkeiten, sie situieren einzelne Akteur_innen und ihre Handlungsweisen in bestimmten historischen Welten.«23

Felds Konzept der ›Akustemologie‹ (zusammengesetzt aus ›Akustik‹ und ›Epistemologie‹) will also eine Art lokal erworbene, kollektiv geteilte akustische Weltanschauung beschreiben: so wie Orte stets sinnlich wahrgenommen würden, sei auch die sinnliche Wahrnehmung stets »verortet«.24 Feld analysiert en détail,

20 Die Kaluli, Jäger und Sammler_innen, sind eine kleinere Gruppierung der etwa 1200 Menschen umfassenden Bosavi kalu. Vgl. Grosh/Grosh, Kaluli. 21 ŹHÖRBEISPIEL 3: »In the Rainforest. Approaching a Forest Camp«. Turnbull/ Francis, The Pygmies of the Ituri Forest. Eine der ersten ethnographischen Soundscape Compositions avant la lettre ist dieses Intro einer ethnomusikologischen Langspielplatte aus dem Jahr 1957. In der kurzen Collage aus Field Recordings sind u.a. Vögel, Zikaden, singende Kinder und Arbeitsgeräusche zu hören. 22 ŹHÖRBEISPIEL 4: »Garden Clearing by Men‫ތ‬s Communal Work Group«. Feld, Music of the Kaluli. Zu hören ist »the layering of speaking voices, the birds and ambience, the overlapping of axes, trees falling, and the whooping, whistling, yodeling, and singing different snatches of song«. Feld/Brenneis, Doing anthropology, 464. 23 Ebd., 462. 24 Engl.: »as place is sensed, senses are placed«. Feld, Waterfalls of song, 91.

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wie die vielschichtige Geräuschkulisse des Regenwaldes die Erfahrungswelt der Kaluli prägt und sich in einer (Klang-)Kultur niederschlägt, für die Zuhören, Stimme und akustische Präsenz von zentraler Bedeutung sind. In den verschiedenen Lauten des Waldes – insbesondere denen von Vögeln – erkennen die Kaluli etwa die Gegenwart einer ›anderen Seite‹, einer Geister- und Totenwelt. Die ›akustemologische‹, d.h. gleichermaßen sensorische wie symbolische Verflechtung von Kultur, Klang und Ort macht Feld u.a. an der Bedeutung und Funktion der ilib nachvollziehbar – einer speziellen Trommel, die im Rahmen einer größeren Trauerzeremonie zum Einsatz kommt.25 Die ilib weise vielfältige akustische, materielle und symbolische Bezüge zum tibodai auf, einem scheuen Waldvogel (Schopf-Pitohui, pitohui cristatus), dessen Ruf die Kaluli als Klage eines verstorbenen Kindes interpretieren. Nun ist es eine Sache, den Satz zur Kenntnis zu nehmen: ›Im Ruf des tibodai vernehmen die Kaluli die Klage eines verstorbenen Kindes.‹ Eine Tonaufnahme dieses Rufs zu hören, ist eine gänzlich andere Erfahrung. Mich persönlich hätten Felds Beschreibungen wahrscheinlich relativ kalt gelassen, wenn ich im Zuge der Lektüre nicht einmal den Gesang des tibodai recherchiert und eine entsprechende Aufnahme gehört hätte.Ź26 Der vergleichsweise ›simple‹, dabei aber außergewöhnlich lang anhaltende Gesang ist von intensiver, durchdringender Lautstärke und damit sehr weit zu hören; zugleich mutet er seltsam traurig an – vor allem deshalb, weil die Tonhöhe im Verlauf des langen, monotonen Liedes permanent sinkt. Dem akustischen Muster des Gesangs folgend wird die einzelne ilib denn auch nicht in komplexen Rhythmen gespielt, sondern regelmäßig geschlagen. Erst im Zusammenklang mehrerer Trommeln entstehen dann komplexere, asynchrone rhythmische Überlagerungen, die in ihrer erkennbaren Symbolik unter den Beteiligten tiefe Trauer auszulösen vermögen.Ź27 Dies sei hier nur ein Beispiel dafür, wie der Klangkosmos des Regenwaldes in Form von sprachlichen Bezeichnungen, von magischen und mythischen Konzepten sowie im dramaturgischen Aufbau von Zeremonien und Gesängen seinen Widerpart im ›akustemologisch‹ strukturierten System der Kaluli-Kultur findet. Was Steven Felds Arbeiten darüber hinaus so bemerkenswert macht, ist vor allem sein Versuch, Soundscape Compositions einzusetzen, um »den akusti-

25 Vgl. Feld, Sound as a symbolic system. 26 ŹHÖRBEISPIEL 5: Rasmussen, Crested Pitohui. Der Gesang des tibodai ist nur sehr leise im Hintergrund zu hören; sein schwebender Ton hält aber von Anfang bis Ende an. Abschließend ist der Ruf noch einmal kurz gefiltert, d.h. isoliert, zu hören. 27 ŹHÖRBEISPIEL 6: »Group Ceremonial Drumming, ilib kuwo«. Feld, Bosavi.

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schen Eindruck [zu erwecken], sich an einem Ort zu befinden«28. Feld setzt bewusst auf Klangcollagen, um von seinen Forschungen zu ›erzählen‹ und möchte Tonaufnahmen gar als eigenes ethnographisches Medium etablieren, gleichberechtigt neben dem ethnographischen Film. Gelegentlichem Widerstand aus der eigenen (ethnomusikologischen) scientific community – Vorwürfen von Effekthascherei, Subjektivität und mangelnder Transparenz seiner Soundscape Compositions – begegnet Feld u.a. mit der Strategie einer ›dialogischen Authentisierung‹ seiner Ergebnisse: Stets präsentiere und diskutiere er seine Aufnahmen und Kompositionen auch im Feld; auf diese Weise stelle er deren Glaubwürdigkeit und Gültigkeit als ethnographische Dokumente sicher.29 Das Verhältnis von wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeitsweise in seinen Soundscape Compositions wird letztlich aber nicht ganz klar, und es erscheint fraglich, ob dieser Widerspruch überhaupt ganz aufzulösen ist. Mehr Kopfzerbrechen bereiten mir da schon die Gegensätze, die Steven Feld mit seinem zentralen theoretischen Konzept der ›Akustemologie‹ stillschweigend überbrücken möchte: Das Spannungsverhältnis zwischen ökologisch prägender Struktur einerseits – »sound structure as social structure«30 – und kreativer Handlung, d.h. den performativen, konstruktivistischen Aspekten kultureller Praxis andererseits – »sound making as place making«31 – wird dabei nicht explizit adressiert. Solange diese Klärung aussteht, wirkt das Konzept auf mich recht hermetisch. Auch hat Steven Feld es bislang auf andere (etwa: urbane) Regionen und Kulturen nicht mit gleichem Gewinn anwenden können. Schall als räumlich strukturierte, sozial strukturierende Kraft Der britische Soziologe und Stadtforscher Rowland Atkinson nimmt auf Steven Felds akustemologischen Forschungsansatz zwar explizit Bezug, wendet sich im Gegensatz dazu aber städtischen Lebensräumen zu. Schall könne als ein flüchtiges, laufend aktualisiertes »schwingendes urbanes Gewebe«32 verstanden werden, das den gesamten Raum durchzieht. Seine Beschaffenheit und konkrete Verteilung in der Stadt ist allerdings weder überall gleich noch rein zufällig, sondern oft an andere – soziale, kulturelle – Faktoren geknüpft. Die Klanglandschaft einer Stadt wird nicht nur kollektiv hervorgebracht, sie wirkt auch –

28 Feld/Brenneis, Doing anthropology, 463 [Übersetzung FS]. 29 Vgl. Feld, Dialogic Editing. 30 Feld, Sound structure as social structure. 31 Feld/Brenneis, Doing anthropology, 465. 32 Engl.: »a resonant metropolitan fabric«. Atkinson, Ecology of Sound, 1905.

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als Umweltfaktor – auf die Individuen zurück; diese ›akustische Lebenswelt‹ hat weitreichende soziale und kulturelle Implikationen. Einige der ganz konkreten sozialräumlichen Effekte von Schall versucht Atkinson als »sonic order of urban space«33 fassbar zu machen, u.a. am Problemfeld ›Lärm‹.34 In Städten, die immer lauter werden, sind ruhige Wohngebiete ein knappes Gut und damit auch wirtschaftlich lukrativ. Atkinson verweist hier auf Studien, die zeigen, dass die Höhe von Immobilienpreisen und Mieten partiell daran gekoppelt ist, wie effektiv der Wohnraum vor Lärm und Störungen von außen geschützt ist: Der Wert von Immobilien in ruhigen Lagen liegt zumeist deutlich höher.35 Bei Monatsmieten und Kaufpreisen wird also immer auch bezahlt für die Sicherung der eigenen »auditiven Autonomie«, d.h. für die Garantie, bestimmten Arten städtischen Lärms zu entgehen.36 Steigende Preise für Wohnraum führen aber langfristig dazu, dass untere Einkommensschichten allmählich an den ›Rand‹ gedrängt werden, d.h. in Richtung weniger hoch bewerteter Wohngebiete mit höherer Lärmbelastung. Dabei handelt es sich streng genommen um eine mehr oder weniger verdeckte ›Umverteilung‹ von Kosten, weil einkommensschwache Schichten für geringere Mieten höhere Schallpegel in Kauf nehmen. Auch wenn Atkinson die Verbindung zu Pierre Bourdieu nicht selbst herstellt, bilden dessen Überlegungen zu ›physischem‹ und ›sozialem Raum‹ hier meines Erachtens eine wichtige Referenz: denn Atkinsons Modell ermöglicht es, die ungleiche geographische Verteilung von Lärm in der Stadt als eines jener »Phänomene [zu verstehen], die scheinbar an den physischen Raum gebunden sind, tatsächlich aber ökonomische und soziale Unterschiede widerspiegeln«.37

33 Atkinson, Ecology of Sound, 1905; aufgrund der Wortwahl könnte man auf eine inhaltliche Nähe zur ›socio-acoustic order‹ tippen, wie Järviluoma [u.a.] sie beschreiben. Allerdings zielt sein Begriff eher auf sozialgeographische Ordnungen ab. 34 ›Lärm‹ muss letztlich selbst als soziales Konstrukt begriffen werden; vgl. hierzu etwa Bijsterveld, The diabolical symphony of the mechanical age. Damit soll jedoch nicht in Abrede gestellt werden, dass gesundheitliche Schäden infolge dauernder Lärmbelastung statistisch nachgewiesen sind (Herzerkrankungen, Beeinträchtigungen der Konzentration und des Immunsystems). Vgl. Bartsch [u.a.], Terror am Himmel. 35 Vgl. Atkinson, Ecology of sound, 1909. Für den Immobilienmarkt in Genua vgl. Baranzini/Ramirez, Paying for quietness. 36 Engl. »aural autonomy«; Atkinson, Ears have walls, 15. Der gleichen ökonomischen Logik folgen kostenpflichtige »auditive Refugien« in der Stadt, z.B. Privatklubs, Yoga- und Meditationszentren oder geschlossene Gartenanlagen; vgl. ebd., 17f. 37 Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, 33.

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Im großen Maßstab – und unter Berücksichtigung weiterer Faktoren – trägt Lärm in der Stadt damit einerseits zur Entstehung von exklusiven Adressen und andererseits zur »Ghettoisierung« bei – ein sozioökonomischer Mechanismus, den Bourdieu generell in Bezug auf »seltene Güter« in der Stadt beschreibt: »Personen ohne Kapital [werden] physisch oder symbolisch von den sozial als selten geltenden Gütern ferngehalten und dazu gezwungen, mit den unerwünschtesten Personen und am wenigsten seltenen Gütern zu verkehren. Mit Kapitallosigkeit kulminiert die Erfahrung der Endlichkeit: an einen Ort gekettet zu sein. Umgekehrt sichert der Besitz von Kapital nicht nur physische Nähe (Residenz) zu den seltenen Gütern; […]. Einer der Vorteile, den die Verfügungsmacht über den Raum verschafft, ist die Möglichkeit, Dinge oder Menschen auf (physische) Distanz zu halten, die stören [...], indem sie […] den visuellen und auditiven Wahrnehmungsraum mit Spektakel und Lärm überziehen, die [...] als unerwünschtes Eindringen oder selbst als Aggression erfahren werden.«38

Wird Ruhe tatsächlich als eines jener seltenen und teuren ›Güter‹ angesehen, würde das den Schluss nahelegen, dass es möglich wäre, mit einem Schallpegelmessgerät die (negativ korrelierte) Einkommenshöhe der Anwohner_innen zu messen – je leiser die Umgebung, desto wohlhabender, je lauter, desto ärmer die Anrainer_innen. Und tatsächlich kommt eine aktuelle Studie des Umweltbundesamtes für Berlin zu einem entsprechenden Ergebnis.39 Rowland Atkinsons makroskopische Perspektive offenbart mithin eine kaum beachtete ›sonic order of urban space‹, nämlich die latente Wirksamkeit einer quantitativ messbaren Form von »akustischer Gewalt«,40 die langfristig die sozialräumliche Ordnung einer Stadt umzuschichten vermag: Es ist eben kein Zufall, wenn ein Stadtteil wie Neukölln plötzlich eine enorme Aufwertung erfährt – kurz nach der Schließung des benachbarten Flughafens Tempelhof –, wohingegen im sozialstrukturell vergleichbaren Stadtteil Wedding, der noch immer unter der Route

38 Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, 30f. 39 Wenn auch nicht für den gesamten Stadtraum statistisch signifikant, so doch zumindest gebietsweise: etwas verklausuliert wird in der Studie formuliert, »dass zwar keine berlinweite Umweltungerechtigkeit beim Themenfeld Lärm existiert, jedoch eine deutliche Doppelbelastung in einzelnen innerstädtischen Planungsräumen durch eine hohe Lärmbelastung und einen niedrigen sozialen Status zu beobachten ist«. Lakes/Brückner, Sozialräumliche Verteilung, 27 [Hervorhebung FS]. 40 Bosshard, Hörstürze und Klangflüge.

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des Flughafens Tegel liegt, eine vergleichbare Entwicklung bislang kaum zu beobachten ist.Ź41 Den Einfluss anderer, qualitativer Aspekte der Klanglandschaft spricht Atkinson nur am Rande an. Auch schwerer zu fassende ›weiche‹ Faktoren wie Atmosphären und Stimmungen hätten selbstverständlich ihre Auswirkungen; sie unterlägen deshalb, wie er am Beispiel der gezielten Orchestrierung und Kontrolle »akustischer Territorien«42 ausführt, zum Teil sogar einem bewussten Design. Doch muss die akustische Atmosphäre eines Ortes eben nicht zwangsläufig gezielt gestaltet sein, um einen Einfluss auf das subjektive Erleben und Verhalten zu haben: »[...] Klänge und Geräusche vermögen es, uns auf subtile Weise anzutreiben, zu leiten, zu empfangen oder abzustoßen.«43

F AZIT . E THNOGRAPHISCHE K LANGFORSCHUNG Angesichts eines so breitgefächerten Spektrums an Zugängen kann von kulturanthropologischer Klangforschung im Grunde nur im Plural gesprochen werden.44 Zugleich bestehen zwischen den genannten Beiträgen von Helmi Järviluoma [u.a.], Rowland Atkinson und Steven Feld eine ganze Reihe von Korrespondenzen. Sie verstehen Soundscapes gleichermaßen als sinnlich erfahrbare, räumlich ausgedehnte, lokalspezifische ›akustische Texturen‹ des Alltags; sie identifizieren und interpretieren verschiedene soziale Bedingungen ihres Zustandekommens, diskutieren ihre ›Lesbarkeit‹ und kulturelle Bedeutung wie auch ihre sozialen Auswirkungen; und je für sich liefern sie substantielle, empirische Ergebnisse aus ganz unterschiedlichen Feldern, die durchaus so etwas wie

41 ŹHÖRBEISPIEL 7: Schlüter, Field Recording Überflüge einer Wohnanlage. Das Field Recording kann vielleicht verdeutlichen, was dies bei derzeit rund 480 Flugzeugen pro Tag für die Wohnbevölkerung im Alltag bedeutet. 42 Atkinson behandelt unter diesem Stichwort in erster Linie den gezielten Einsatz von funktioneller Musik im konsumtiven Kontext, etwa in Einkaufszentren; vgl. Atkinson, Ecology of sound, 1909f. 43 Vgl. Atkinson, Ears have walls, 22 [Übersetzung FS]. 44 Diese Vielfalt an Zugängen ist für die Sound Studies keineswegs untypisch und nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass sie sich mit ihrer Konzentration auf – im weitesten Sinne – akustische Phänomene einem mehr oder weniger willkürlich gesetzten Gegenstandsbereich widmen, der gewissermaßen quer zu herkömmlichen disziplinären Grenzziehungen liegt.

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sound cultures oder hearing cultures beschreiben, obwohl sie derlei plakative Begrifflichkeiten eher meiden. Die drei Forschungsansätze stehen für die große Bandbreite an möglichen Anknüpfungspunkten, die Schafers Konzept aus meiner Sicht auch heute noch für die Kulturanthropologie bereit hält.45 Sie gehen über Murray Schafers ursprünglichen Ansatz der Soundscape-Forschung nun aber vor allem insofern hinaus, als sie den Akzent stärker auf die Bedeutungsebene dieser allgegenwärtigen, alltäglichen Geräuschkulisse setzen: »Klanglandschaften sind – ebenso wenig wie Landschaften – nicht nur etwas physikalisch Äußeres, nicht nur räumlicher Rahmen, getrennt von menschlichem Handeln. Klanglandschaften stecken voller Bedeutungen. Wie Landschaften sind sie ebenso sehr psychische wie physische Phänomene, ebenso kulturelle wie materielle Konstrukte.«46

Eine methodisch wie theoretisch weitergedachte kulturanthropologische Klangforschung begreift die akustische Umwelt deshalb gewissermaßen als eine seismographisch zu erkundende Oberfläche, hinter der sich die Interventionen und Motivationen verschiedener Akteur_innen verbergen: unterschiedliche individuelle und kollektive kulturelle Praktiken, die in der Summe einen Teil dessen hervorbringen und formen, was Schafer als Soundscape oder Klanglandschaft bezeichnet hat. Helmi Järviluoma [u.a.] beobachten etwa in den Orten, die sie untersucht haben, die Wirksamkeit bestimmter »sozio-akustischer Ordnungssysteme«, die u.a. zwischen erwünschten akustischen Praktiken und akustischen Tabus differenzieren, und die damit letztlich auch beeinflussen, was an einem Ort zu hören ist, und was nicht.47 Wer das unangenehme Gefühl kennt, schon einmal im falschen Moment zu laut gelacht zu haben, ahnt vielleicht, dass solche unausgesprochenen »akustischen Regime«48 fast überall in Abstufungen wirksam sind: Im Zweifelsfall werden sie im wahrsten Sinne des Wortes fühlbar und spürbar. Die alltägliche Klanglandschaft – kollektiv geformt und kollektiv geteilt – kann also als eine Art Kommunikationsplattform begriffen werden, die von den verschiedensten Sender_innen und Empfänger_innen genutzt wird. Da diese

45 Dies darf freilich weder bedeuten, Schafers ästhetische Bewertungen unhinterfragt zu übernehmen, noch – in positivistischer Manier – das akustische Inventar bestimmter Regionen bloß zu ›registrieren‹ und zu ›katalogisieren‹. 46 Feld, A rainforest acoustemology, 226 [Übersetzung FS]. 47 Vgl. Järviluoma [u.a.], Acoustic environments in change, 25f. 48 Vgl. hierzu Schlüter, Akustische Territorien, akustisches Regime.

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jedoch kaum dieselben Weltbilder und Wertmaßstäbe teilen, muss der akustische Raum zugleich als symbolischer Austragungsort und erfahrbares Zeugnis bestimmter (hegemonialer) symbolischer Ordnungen verstanden werden. Die individuellen Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten sind dabei – wie Rowland Atkinson zeigt – keineswegs gleich verteilt, sondern hängen u.a. vom sozialen Status ab. Städtische gated communities sind vielleicht das symbolträchtigste Beispiele für im wahrsten Sinne des Wortes exklusive urbane Zonen, die sich nicht zuletzt gegen den Lärm der Anderen abschotten; auch im Zuge der ›Aufwertung‹ einzelner Stadtteile sind teils gezielte Strategien einer »akustischen Gentrifizierung«49 auszumachen. Atkinson betont allerdings, dass sich ein Großteil dieser Entwicklung eher schleichend und vergleichsweise anonym vollzieht: Nachweisliche Zusammenhänge zwischen Wohlstand und ruhigem Wohnumfeld sowie zwischen Armut und hoher lokaler Lärmbelastung legen nahe, dass Schall in der städtischen Geographie zu einer ganz eigenen »sozialen Qualifizierung des Raums«50 beitragen kann und – über den ökonomischen Hebel – als sozialräumlich »strukturierte und strukturierende Kraft«51 begriffen werden muss. Das oft als so flüchtig und filigran beschriebene ›akustische Gewebe‹ kann also durchaus greifbare, gar gewaltsame Auswirkungen haben. Die komplexeren symbolischen Querverbindungen eines ganzen ›akustemologischen‹ Systems werden sich zwar kaum jemals augenblicklich erschließen, sondern – wie bei Steven Felds Untersuchungen zur Kultur der Kaluli – erst allmählich, im Laufe jahrzehntelanger Forschung: Der irritierende, klagende Ruf des tibodai-Vogels kann mir dennoch durch Mark und Bein gehen, auch wenn ich (noch) nicht um dessen spezifische spirituelle Bedeutung weiß. Dieses unmittelbare, ›berührende‹ Moment von Hörerfahrungen ist ein starkes Argument dafür, gerade bei der Darstellung der Ergebnisse sinnlicher Ethnographien künftig noch mehr auf andere Medien – jenseits des Texts – zu setzen, wie es derzeit u.a. auch am Sensory Ethnography Lab der Harvard University erprobt wird.Ź52 Dokumentarische Soundscape Compositions, Field Recordings oder akustische Collagen können sich eben einer ganz eigenen Art von Sprache bedienen, um von Feldforschungen zu erzählen.

49 Für Warschau vgl. etwa Kusiak, Acoustic gentrification. 50 Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, 27. 51 Atkinson, Ears have walls, 24. 52 ŹHÖRBEISPIEL 8: »Wind Horse«. Spray, Blue Sky, White River. Stephanie Spray verquickt rhythmisches Atmen und flüsterndes Gebet, Geräusche des Kali-GandakiFlusses, Glockenklänge und Windstöße zu einer hypnotisierenden Soundscape Composition. Die Aufnahmen stammen aus der Pilgerstätte Mukhtina, Nepal.

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Das auditive Interesse der Ethnologie gilt also längst nicht mehr nur vergleichsweise anerkannten akustischen Praktiken wie Sprache oder Musik. Ethnographische Klangforschung – begriffen als Teilprojekt einer sinnlichen Ethnographie – widmet sich heute einer Vielzahl von Feldern und Fragestellungen.Ź53 Mit ihrer relativ gut ausgebauten Methodik, die u.a. listening walks, verschiedene Modi der Kartierung und dokumentarische Tonaufnahmen einschließt, könnte sie zugleich Vorbild sein für andere sinnliche Ethnographien. Andere Perspektiven. Akustische Feldforschung Das Interesse an den unausgesprochenen, scheinbar selbstverständlichen Anteilen kollektiven Wissens durchzieht alle ethnographische Forschung, egal ob ›in der Fremde‹ oder ›zuhause‹; die Europäische Ethnologie, die Feldforschung im eigenen, vertrauten Umfeld betreibt, geht dabei gerne aus von der programmatischen »Prämisse [der] Unbekanntheit gerade auch jener Welten, die wir selbst bewohnen«.54 In einer solchen Forschungssituation muss ein ›fremder Blick auf das Eigene‹ natürlich erst bewusst kultiviert werden. Die Sound Studies sind hier insofern einen Schritt voraus, als sie gewissermaßen per definitionem eine andere Perspektive einnehmen. Sobald ich mich bewusst und ausschließlich darauf konzentriere, wie sich mein Umfeld anhört, vollziehe ich ja bereits eine gewisse methodische »Befremdung«.55 Vielleicht der wichtigste Aspekt einer ethnographischen Klangforschung scheint mir daher akustische Feldforschung im Sinne des Wortes zu sein:56 Denn obwohl die Klanglandschaft Teil der gewohnten Umgebung ist, dürfte sie zugleich – als eigenes Untersuchungsfeld – den meisten mehr oder weniger fremd sein: eine terra incognita, ein unbekanntes Land im eigenen, wenn man so will. Und doch ist die Klanglandschaft alles andere als ein unzugängliches Paralleluniversum. Wenn sie überhaupt als eigener sensorisch-symbolischer Kosmos begriffen werden kann, dann ist dieser aufs engste mit unserem Alltagsleben verwoben. Der Zugang führt über die sinnliche Wahrnehmung.

53 ŹHÖRBEISPIEL 9: Burkhalter, Über Geräusche die Welt deuten. Das Feature beleuchtet aktuelle Forschungsfelder und Kontroversen unter Klangforscher_innen. 54 Amann/Hirschauer, Die Befremdung der eigenen Kultur, 9. 55 Ebd., 15. 56 Zumal der maßgeblich von Murray Schafer geprägte Ansatz, Klanglandschaften in situ zu studieren, neben den oftmals eher theorielastigen techniksoziologischen, kulturhistorischen, musik- und medienwissenschaftlichen Strömungen, welche die Sound Studies derzeit dominieren, allmählich verloren zu gehen droht.

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Ess-Settings als Versammlungen der Sinne Zum Problem der Greifbarkeit sinnlicher Wahrnehmung I NGA R EIMERS

Essen strukturiert unseren Tagesablauf, ganz gleich, ob es schnell an der Imbissbude oder in gemütlicher Runde zu sich genommen wird. Es stellt eine biologische Notwendigkeit dar und beinhaltet dabei immer auch soziale und sinnliche Dimensionen. In seiner sich täglich wiederholenden Form ist das Essen eine Alltagshandlung par excellence und weist darüber hinaus Parallelen zum wissenschaftlichen Erkenntnisprozess auf: In beiden Feldern nähert man sich einem Gegenstand, analysiert und verarbeitet ihn, bis man sich schließlich wieder Neuem zuwendet. Beim Essen wird die Speise oder das Getränk betastet, zerteilt, gewendet und zur Verarbeitung vorbereitet. Dabei entfaltet sich der Geschmack eines Getränks oder einer Speise erst nach und nach im Laufe dieses Vorgangs. Nach dem Kauen wird das Essen geschluckt und gleitet in den Magen. Es wird für kurze Zeit eins mit dem Körper, der es noch einmal in kleinere Teile zerlegt und nur das behält, was er gebrauchen kann. Auch als Forschende nähern wir uns unserem Gegenstand, bauen Nähe zu ihm auf, nehmen mit, was wir interessant finden und verlassen das Feld dann wieder. Beide Vorgänge – das Essen und Forschen – sind dabei sehr subjektiv und an den eigenen Körper gebunden. Wenn wir Dinge betrachtend oder reflektierend erfassen, werden sie verinnerlicht und einverleibt. Dabei können sowohl Forschende als auch Essende nie genau dasselbe erforschen/essen, sondern es bedarf stets einer Verhandlung über den betreffenden Gegenstand.1 Die Philosophin Madalina Diaconu bezeichnet Essen zudem als Form der Überredung, als »Persuationsmittel« in politischen und geschäftlichen Verhand-

1

Vgl. Diaconu, Tasten, Riechen, Schmecken, 318, 326, 342.

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lungen und führt die Gemeinschaft stiftende Funktion des ritualisierten religiösen Mahls wie beispielsweise des christlichen Abendmahls an.2 Diese Verbindungen zwischen dem ethnographischen Forschungsprozess und der sinnlichen Alltagspraktik des Essens und Kochens sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Essen und Kochen als Formen der Versammlung, in der verschiedene Akteur_innen gemeinsam handeln und sinnliche Erfahrungen machen, stellen für die Verhandlung sinnlicher Erfahrungen ein ideales Forschungsfeld dar. Die methodologische Frage der Greifbarkeit und Übersetzbarkeit von Sinneswahrnehmungen in einen intersubjektiven Kontext ist dabei in nahezu allen Forschungen, die mit ephemeren ›Gegenständen‹ wie Emotionen, Wissen oder eben sinnlicher Wahrnehmung umgehen, ein zentrales Problem. Die Wichtigkeit der Untersuchung eben dieser Gegenstände scheint jedoch unbestritten. Exemplarisch seien hier die zahlreichen Arbeiten von Regina Bendix, Constance Classen, David Howes, Tim Ingold und Sarah Pink genannt. Diese nehmen zum einen Bezug darauf, dass Forscher_innen das Feld nicht nur vorwiegend sehend und hörend, sondern auch tastend, riechend und schmeckend untersuchen sollten. Zum anderen wird den verschiedenen sinnlichen Dimensionen der Untersuchungsgegenstände und -situationen ein Erkenntnispotential zugeschrieben, welchem bisher nicht ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Oft verbleiben Forderungen nach einer Stärkung der sinnlichen Aspekte ethnographischer Forschung in der Position der Forderung und Anregung oder die Ergebnisse aus der Praxis sinnlicher Ethnographien werden kaum theoretisch ausgewertet. Diese Lücke soll in meiner Forschung zu Ess-Settings als Forschungsversammlungen beleuchtet werden. Der Begriff Ess-Setting stellt eine von mir gewählte Bezeichnung dar, die Situationen beschreibt, in denen Essen und Kochen bewusst als kollektive Handlungen inszeniert werden. Essen und Kochen werden hier bewusst als zwei zusammenhängende bzw. nicht klar trennbare Praktiken begriffen und sind gleichermaßen im Begriff Ess-Setting enthalten. Bei diesen Settings kann es sich sowohl um von mir initiierte, experimentelle Formate handeln, als auch um im Rahmen meiner Forschung besuchte und beschriebene Versammlungssituationen, in denen gekocht und/oder gegessen wird. Besonders interessant sind jene Ess-Settings, in denen der Grund für die Versammlung über den des gemeinsamen Essens hinausgeht und ein übergeordnetes Thema bearbeitet wird. Dies wäre zum Beispiel bei einem Nachbarschaftstreff der Fall, bei dem in der Situation des gemeinsamen Kochens und Essens ein lokales Problem behandelt wird.

2

Vgl. Diaconu, Tasten, Riechen, Schmecken, 343.

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In den von mir veranstalteten experimentellen Formaten können wiederum methodologische Fragen erprobt werden; zum Beispiel die Frage danach, inwiefern der Ort und seine Gegebenheiten Einfluss auf die gemeinsame WissensproWissensproduktion haben. In den Ess-Settings interessiert mich neben den soziokulturellen Aspekten gemeinsamen Essens auch die Rolle von sinnlichimplizitem Wissen und sinnlicher Wahrnehmung in diesen Situationen. Hierbei spielen Überlegungen zur Verbalisierbarkeit von Sinneswahrnehmungen eine zentrale Rolle und inwiefern beispielsweise experimentelle Verfahren einen methodologischen Beitrag hierzu leisten können. Durch seine Alltäglichkeit und Niedrigschwelligkeit scheint das Setting des gemeinsamen Essens und Kochens besonders geeignet, gemeinsame Wissensproduktion von Wissenschaftler_innen und Nicht-Wissenschaftler_innen zu ermöglichen.3 An dieser Stelle ist bewusst vorerst vom Ermöglichen die Rede, denn allein die Situation des Essens ist noch kein Garant für das Gelingen eines solchen Formats. Eine Forschung zu und mit Ess-Settings verlangt konsequenterweise einen multisensorischen Ansatz4, der z.B. nach den Praxisformen, in denen sich sinnliches Wissen äußert, sowie den Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Sinnen fragt: Erzeugt zum Beispiel der Vortrag einer blinden Person andere Formen von Aufmerksamkeit bei den Zuhörenden als einer sehenden Person? Sinnliche Wahrnehmung spielt dabei in doppelter Hinsicht eine Rolle: sowohl beim Erfassen der Situation durch die beteiligten Akteur_innen als auch hinsichtlich dem sinnlichen Output, den ein starrender Blick, eine zufällige Berührung oder hörbare Essgeräusche hervorbringen. Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren verstärkt Formate in künstlerischen, stadtplanerischen und aktivistischen Kontexten zu beobachten, die Versammlungen und die Bearbeitung eines festgelegten Themas immer auch mit dem gemeinsamen Essen und Kochen verbinden. Sie erstrecken sich über verschiedene Bereiche, die von der Fernsehsendung über räumliche Installationen bis hin zum Dinner im Dunkeln als Familien- und Firmenevent reichen.5 Diese Formate untersuche ich teils in teilnehmender Beobachtung teils durch die Analyse vergangener Settings. Hierbei greife ich u.a. auf multimediale Dokumentationen der Veranstalter_innen sowie Interviews mit diesen zurück.

3

Zu den Möglichkeiten und Schwierigkeiten von Ess-Settings in transdisziplinären Kontexten sowie zur experimentellen Ethnographie vgl. Reimers, Wer versammelt wen?.

4

Vgl. Diaconu, Sinnesraum Stadt.

5

Hier seien exemplarisch genannt: die Fernsehsendung Konspirative KüchenKonzerte; das Küchenmonument des Kollektivs raumlabor; und das Format Dinner im Dunkeln.

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Mich interessiert neben der Rolle des Essens und Kochens als kollektiver Handlung selbst auch die Frage nach den Möglichkeiten, Erkenntnis in diesen Settings zu generieren. Aktuell haben sich in meiner Forschung vier vorläufige Analyseperspektiven auf Ess-Settings entwickelt: Essen und Kochen (1) als soziales Setting und Experiment, (2) als sinnliches Setting und Experiment, (3) als performativer Rahmen und (4) als Forschung und Repräsentation. Diese sollen im Folgenden kurz anhand von Beispielen umrissen werden. Allerdings sind diese Perspektiven nicht immer eindeutig voneinander trennbar, weshalb zumeist alle vier Perspektiven – zu unterschiedlichen Anteilen – in den Beispielen vorhanden sind.

B EISPIELE E SS -S ETTINGS I Im ersten Beispiel – dem der Universität der Nachbarschaften (UdN) – steht die ermöglichende und soziale Funktion des gemeinsamen Essens im Mittelpunkt. In diesem temporären Raum war insbesondere die Vernetzung universitärer Projekte mit den häufig bildungsfernen Akteur_innen aus der Nachbarschaft im Fokus.6An einem Abend pro Woche wurde hier das Format Restaurant als Plattform geschaffen. In diesem konnten sich Wissenschaftler_innen und Personen aus der Nachbarschaft des Stadtteils einbringen und begegnen.7 So kochten z.B. Köch_innen aus dem Stadtteil und halfen mit Besteck und Geschirr aus. Darüber hinaus wurden Ausstellungen zum Projekt UdN in das Format installiert, an denen vor Ort weitergedacht und -geschrieben werden konnte. Diese Forschung ging für viele Beteiligte über das übliche Maß an zeitlichem und körperlichem Einsatz in einem Studienprojekt hinaus, da diese Abende regelmäßig bis in die Nacht dauerten und dabei alltägliche Praktiken wie Essen oder Wohnen zu einem Forschungszusammenhang wurden. Daran zeigt sich eine Schwierigkeit solcher Formate, die anhand von Alltagspraktiken wie Kochen und Essen übergeordnete Fragestellungen erforschen. Sie ziehen bewusst keine scharfen Grenzen zwischen dem sozialen und dem erkenntnisgenerierenden Mehrwert, müssen aber, um Forschung zu sein, trotzdem ein dokumentierbares Ergebnis in Bezug auf ihre Fragestellung liefern. Diese Projektbeschreibung an sich bietet noch keine besonderen Befunde zu Essen bzw. Kochen als sinnliche Versammlungspraktik. Nimmt man das Vorgehen der UdN-Betreiber_innen aber einmal nicht nur als Forschung über Essen

6

Siehe hierzu UdN, Universität der Nachbarschaften.

7

Vgl. UdN, IKP 2013. Hotel Wilhelmsburg.

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bzw. soziale Situationen, sondern als Werkzeug, um zu Erkenntnissen zu kommen – also als Forschung mit Essen und Kochen – ernst, so ergeben sich hier Möglichkeiten für die Gestaltung von Forschungssettings, die insbesondere die Teilhabe von Nicht-Wissenschaftler_innen erleichtern können. Einen direkten Bezug zur sinnlichen Wahrnehmung stellt ein Essexperiment von Anna Mann [u.a.] her, das in einem kollektiven Text aller Beteiligten unter dem Titel Mixing Methods, Tasting Fingers beschrieben wird. Hierbei versammelten sich sechs Wissenschaftlerinnen, um selbst zubereitete Speisen verschiedener Esskulturen gemeinsam mit den Händen zu essen. Sie stellten sich die Frage, ob eine Speise anders schmeckt, wenn sie mit den Händen gegessen wird. Die Autorinnen beschreiben das Essen mit den Händen als einen subjektivkörperlichen Vorgang, bei dem die Hände als operatives Werkzeug mit dem Riechen und Schmecken verbunden werden und dabei den Eindruck von Unmittelbarkeit im Vergleich zum (mediatisierten) Essen mit Besteck erwecken. Darüber hinaus kann Besteck auch im Sinne einer zivilisatorischen Errungenschaft dem Werkzeug der bloßen Hände gegenübergestellt und ›westlicher‹ bzw. ›nicht-westlicher‹ Ess-Kultur zugeordnet werden. Ein Teil der Wissenschaftlerinnen ist mit ›westlichen‹ und ein Teil mit ›nicht-westlichen‹ Esskulturen aufgewachsen. Während die eine Gruppe somit von klein auf mit den Händen gegessen hatte, stellte das Essen mit den Händen für die andere Gruppe – abseits von Fast- und Fingerfood – eine neue Praktik und Erfahrung dar. Die ›Expertinnen‹ standen hier vor der Herausforderung, eine für sie alltägliche, implizite Praktik explizit zu machen und zu verbalisieren. Die ›Laien‹ waren vor allem damit beschäftigt, die einzelnen Komponenten des Essens zu mischen und zum Mund zu führen. Dabei beschreiben sie, dass Schmecken ein wechselseitiger Prozess zwischen manuellen und gustativen Tätigkeiten ist. Mit der sinnlichen Erfahrung, Essen mit den Händen zu berühren und für den Mund vorzubereiten, sind somit kulturelle, körperlich-gebundene Hintergründe verbunden, die in dem beschriebenen Setting durch ein gemeinsames Erlebnis erfahr- und beschreibbar gemacht werden. An dieser Stelle sei ergänzend zu Mann [u.a.] darauf hingewiesen, dass der Hand als erkenntnisstiftendes und -sicherndes Organ schlechthin eine besondere Rolle zukommt. Können die Augen einen Gegenstand nicht sicher erkennen und erfassen, werden zuerst die Hände eingesetzt, um das Gesehene zu überprüfen und zu verifizieren. Dabei überwindet der Tastsinn zwangsläufig die Distanz zwischen dem zu Begreifenden und der wahrnehmenden Person und beinhaltet beim Befühlen auch immer die Bewegung des Körpers im Raum. Insbesondere

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dann, wenn nach der Greifbarkeit sinnlicher Wahrnehmung gefragt wird, sollte also der Tastsinn stärker berücksichtigt werden. Als Beispiel für die Perspektive von Essen als Repräsentation ziehe ich einen Workshop der Soziologen Michael Guggenheim und Florian Keller im Rahmen einer Tagung heran.8 In diesem beschränkten sie sich konsequenterweise nicht auf das Format der Rede, sondern ließen auch Lebensmittel und Speisen einfließen.9 Ziel war weniger eine systematische Forschung und Analyse als vielmehr ein Versuch, Fragen und Thesen aus den Vorträgen des Workshops in das Medium ›Essen‹ zu übersetzen und erfahrbar zu machen. In einem Gang des Buffets wurde so der Zusammenhang zwischen Essen und Emotionen aufgegriffen, indem Herz, Zunge und Gehirn zubereitet und angeboten wurden. Auf der einen Seite sollte damit Bezug genommen werden zu Theorien, die einen Zusammenhang zwischen dem Charakter eines Menschen und seiner Ernährung herstellen. Auf der anderen Seite wurden bei den Wissenschaftler_innen des Workshops durch das Essen von Innereien Emotionen wie Ekel und Ablehnung erzeugt: »Academics who had just given talks about tongues and languages, brains and thinking, sensory science and acidity, were now made to eat what they were talking with and about only a few minutes ago.«10 Mit Bezug auf den Soziologen Antoine Hennion beschreibt Guggenheim schließlich das für den genannten Workshop grundlegende methodologische Problem der intersubjektiven Übersetzbarkeit von körperlich-sinnlicher Erfahrung und Wahrnehmung »as a result from a performance by the taster, a performance that relies on techniques, corporeal training, repeated experiments«11. Diese Erkenntnis kann nun entweder zu verstärkter autoethnographischer Arbeit führen, in der Forscher_innen vor allem eigene Erfahrungen beschreiben und sich weniger mit der Rekonstruktion von Wahrnehmungen Dritter befassen. Oder eine solche Forschung wird verstärkt als partizipative Forschung durchgeführt, in der alle an der Forschung Beteiligten gemeinsam nach adäquaten Übersetzungen suchen.

8

Der Workshop Emotions on a plate wurde vom 20.–21. März 2008 am Collegium

9

Vgl. Guggenheim, The Proof is in the Pudding, 72.

Helveticum der ETH Zürich veranstaltet. 10 Ebd., 77. 11 Guggenheim, The Proof is in the Pudding, 68.

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B EISPIELE E SS -S ETTINGS II: T AKTSINN Unter dem Arbeitstitel Taktsinn habe ich seit Mai 2013 drei Forschungsdinner zu unterschiedlichen Themen und Fragestellungen veranstaltet. Das erste trug den Untertitel Ein experimenteller Abend zum Nicht-Visuellen12. Es stellte in meiner Forschung eine experimentelle Versuchsanordnung für das Versammeln als Forschungsverfahren dar und sollte dabei Fragen zum Nicht-Visuellen in Forschung, Kunst und Alltag sowie zu experimentellen Settings aufwerfen. Das Nicht-Visuelle stellte hier einen analytischen Platzhalter für eine Kritik an der Dominanz des Visuellen dar. Aus diesem Grund waren zusätzlich zu den Dinnergästen drei Expert_innen des Nicht-Visuellen eingeladen, die jeweils zwischen den drei Gängen Beiträge aus ihrer Alltags- und Forschungspraxis zum Besten gaben. Der blinde Soziologe Siegfried Saerberg präsentierte eine persönliche Soundscape, der Kulturanthropologe Johannes Müske gab einen Einblick in den Umgang mit archivalischen Klangquellen und die Reiki-Meisterin Angelika Leisering schloss den Abend mit einem Wahrnehmungsexperiment und einem Vortrag zu Energien ab. Die ritualisierte Form des Festmahls war einerseits ein performativer Rahmen des Experiments zum Nicht-Visuellen, der die Gäste zum Austausch über das Sinnliche, Nicht-Visuelle anregte, aber nicht zwang. Andererseits diente das Dinner als ein Handlungsfeld, in dem die persönliche Sinneswahrnehmung bei der per se sinnlichen Handlung des Essens thematisiert werden konnte. Die Gäste waren aufgefordert, das Essen bewusst zu schmecken, zu riechen und zu hören. Wie riecht also die Möhrensuppe? Wie fühlt sich das Fingerfood im Hauptgang an? Und welche Geräusche macht ein Apfelcrumble, wenn er gemeinschaftlich gekaut wird? Über den beschriebenen Rahmen hinaus sollten der Ausgang und die Erkenntnismöglichkeiten offen bleiben und insofern einer experimentellen Anordnung folgen.13 Über die Herausforderung hinaus, das Nicht-Visuelle festzumachen, bereitete es vielen Gästen Probleme, eine routinierte und zumeist unbewusste Alltagspraktik wie das Essen explizit und kommunizierbar zu machen. Zumal die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Gespräch mit den zuvor nicht bekannten

12 Vgl. Reimers, Dokumentation Taktsinn I und Reimers, Wer versammelt wen? Darin gehe ich auch auf den experimentellen Aspekt des Dinners näher ein. 13 Siehe dazu den Experimentbegriff von Hans Jörg Rheinberger, der beschreibt, dass sich Erkenntnis oft nicht zielgerichtet herstellen lässt, sondern sich im experimentellen Aufbau einstellen muss. Vgl. Rheinberger, Man weiß nicht genau, was man nicht weiß, 66.

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Tischnachbar_innen zurückfiel. So schwankte der Fokus zwischen der subjektiven, sinnlichen Selbstwahrnehmung beim Essen und dem kollektiven Erlebnis des Essens, Zuhörens und Diskutierens. Genau in diesem Oszillieren zwischen der Formalität einer wissenschaftlichen Versammlung und der Informalität eines gemeinsamen Abendessens lag eine große Chance, anderes Wissen als z.B. in Tagungen oder Kongressen hervorzubringen. Dabei ist Wissen in diesem Kontext vor allem als greif- und kommunizierbare Form der Erkenntnis zu verstehen. Anschließend an das Dinner wurden ausgewählte Fragen zum NichtVisuellen des Abends in einem schriftlichen Feedback beantwortet. Alternativ dazu wurde ein Bargespräch als Form des mündlichen Feedbacks angeboten. Auf Impulsfragen der involvierten Barkeeperin entwickelten sich informelle Gespräche, die den Charakter von Pausengesprächen und weniger von wissenschaftlichen Analysen hatten, dabei aber (sichtbar für die Sprechenden) mit einem Audio-Aufnahmegerät aufgezeichnet wurden. In der Auswertung dieser Gespräche zeigte sich zum einen, dass die Konstruktion eines vermeintlichen Nicht-Visuellen nicht in der Lage war, die Dominanz des Visuellen zu unterbinden. So erzeugten z.B. die Hörbeispiele der Vortragenden automatisch wieder Bilder in den Köpfen der Zuhörenden. Zum anderen spielte in den Interaktionen der Gäste sinnliche Wahrnehmung in doppelter Hinsicht eine Rolle: Einige Gäste überdachten während des Vortrags des blinden Soziologen ihre Sitzposition oder schlossen die Augen, da sie ihre Aufmerksamkeit nicht über sichtbare Gesten und Körperhaltungen an die Vortragenden vermitteln mussten. Im zweiten Taktsinn-Dinner14 sollte getestet werden, inwiefern Kochen und Essen in der Lage sind, Erinnerungen in besonderer Form hervorzubringen und inwiefern Verfremdungen der Ess-Situation dabei behilflich sein können. An diesem Abend gab es keine ausgewiesenen Expert_innen, sondern alle Gäste waren in ihrer Alltagsexpertise angesprochen. Bei der gemeinsamen Zubereitung einer Gemüsesuppe stand im ersten Gang vor allem die soziale Situation des Kochens im Mittelpunkt. Wie funktioniert beispielsweise die Abstimmung über die Größe der Gemüsestücke und wie wird der Prozess des Würzens und Abschmeckens in einer Gruppe von gut zehn Personen verhandelt. Beim schweigenden Löffeln der Gemüsesuppe waren die Essenden gleichermaßen mit sinnlichen und sozialen Aspekten des Essens konfrontiert: Das Ausschalten der (verbalen) Kommunikation während des ersten Gangs sollte hier die individuelle Hinwendung zum Geschmackserleben fördern. Genau dies trat jedoch bei vielen Gästen gerade nicht ein. Ganz im Gegenteil überlagerte die ungewohnte soziale

14 Vgl. Reimers, Dokumentation Taktsinn II.

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Situation, nicht miteinander sprechen zu dürfen, das bewusste Schmecken der Suppe. Für den Hauptgang waren die Gäste bereits in der Einladung aufgefordert worden, eine Nudelsoße vorzubereiten und mitzubringen, mit der sie besondere Erinnerungen verbinden. Diese Erinnerungen konnten gemeinsame Kochabende mit Freunden, Reiseerinnerungen oder Leibspeisen aus der Kindheit sein. Vor Ort sollten die Teilnehmenden jeweils ihr Nudelgericht der gegenübersitzenden Person füttern und dabei die Geschichte der selbst gekochten Soße erzählen. Das Schmecken und Sprechen wurde also bewusst zusammengebracht, um sich Erinnerungen zu nähern. Hierbei zeigte sich, dass die Handlungen des Fütterns und Gefüttertwerdens stark mit Assoziationen zu Kindheit und dem Gefühl von Unmündigkeit zusammenhingen, da sich einige Gäste diesem Experiment nach kurzer Zeit entzogen und auf das Füttern verzichteten. In der anschließenden Diskussion bei Kaffee und Kuchen wurde deutlich, dass für die Anwesenden die Erinnerungen kaum an den Vorgang des Essens, sondern viel mehr an den Prozess der Essenszubereitung und des Erzählens über die Erinnerung gebunden waren. Die Annahme, dass Erinnerungen über das Essen und Schmecken direkt vermittelt werden, erwies sich in diesem Experiment als falsch. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die Lebensmittel und die zubereiteten Mahlzeiten selbst Repräsentationen für vergangene Situationen, sozio-kulturelle Hintergründe oder auch für persönliche Einstellungen (Stichwort Vegetarismus) sind. Diese erschließen sich entweder aus einem gemeinsamen Wissen direkt oder müssen insbesondere durch Narrative vermittelt werden.

D AS P ROBLEM Q UALITÄTEN

DER

G REIFBARKEIT

SINNLICHER

Im Alltag wie in der Forschung ist es (noch) nicht möglich, Geschmack und Geruch – die zentralen Sinne in Ess-Settings – technisch aufzuzeichnen. Darin sieht u.a. Michael Guggenheim auch einen Grund, weshalb diese Sinne in der Soziologie als erkenntnisstiftende Sinne ausgeblendet werden. Somit muss die Objektivierung und Repräsentation von gustatorischen und olfaktorischen Wahrnehmungen über die wahrnehmenden Personen selbst durch Sprache, Schrift, Zeichnungen oder anderen Medien in einen intersubjektiv-nachvollziehbaren Zustand gebracht werden. Die Erstellung dieser Dokumente ist zentral dafür, dass ein experimentelles Dinner nicht nur ein soziales und sinnliches Ereignis bleibt, sondern zur Forschung werden kann. Damit rückt die Verbalisierung von Wahrnehmungen in Ethnographien der Sinne insgesamt in den Mittelpunkt. Im

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Rahmen der Bargespräche des ersten Taktsinn-Dinners stellte jedoch eine Gruppe von Gästen fest, dass bestehende Begriffe häufig kaum in der Lage sind, sinnliche Komponenten zu beschreiben. So gibt es gerade dann, wenn es um das Sprechen über Gerüche geht, kaum eindeutige Bezeichnungen für diese in den europäischen Sprachen, wie Susanne B. Schmitt in ihrer sensorischen Ethnographie des Deutschen Hygiene-Museums mit Jim Drobnick feststellt: »odours cannot be named in any European language; the closest we can come is to say something smells like something else.«15 Daraus kann geschlossen werden, dass eine verstärkte Fokussierung auf Gerüche in Alltag und Forschung auch eine differenziertere Sprache über Gerüche hervorbringt bzw. hervorbringen müsste. Darüber hinaus werden beim Reden über die Sinne und sinnliche Wahrnehmung häufig Stereotype und kulturell-gebundene Bewertungen hervorgebracht, die in der Sprache selbst verankert sind. In der ethnographischen Forschung sollten Forscher_innen für diesen Vorgang sensibilisiert sein, um aufkommende Stereotype zu hinterfragen und nicht zu reproduzieren sowie gegebenenfalls auch als Erkenntnisquelle nutzen zu können. Auch Susanne Schmitt fordert eine Methodologie, die sprachliche Aussagen von Informant_innen in die sinnliche Forschung einbezieht, diese aber schon während der Datenerhebung an den Entstehungskontext (wie z.B. räumliche Aspekte und die mit der Situation verbundenen Handlungen) koppelt. Erst so kann beschrieben werden, wie das Zusammenspiel aus gebauter Umwelt, situativen Elementen und subjektiver Wahrnehmung einen Raum oder eben eine Versammlung konstituieren kann.16 Dabei betont Schmitt die wechselseitige Konstitution von atmosphärischen Räumen durch den wahrnehmenden und handelnden Körper der Anwesenden und die Beschaffenheit des Ortes selbst. Laut Michael Hauskeller lassen sich insbesondere Geruch und Geschmack nur als Teil eines »Stimmungsganzen«17 begreifen, das nicht willkürlich ohne Hinblick auf die Umgebung hergestellt werden kann. Diese multiperspektivische Analyse von Wahrnehmungsdaten ergibt insbesondere dann Sinn, wenn beispielsweise Daten zum Atmosphärischen erhoben werden sollen. So sind Atmosphären laut Gernot Böhme ein Zustand, der sich zwischen dem Subjekt und dem Objekt einstellt und eben beide dieser Seiten benötigt: die leibliche Anwesenheit und der Raum mit den in ihm befindlichen Dingen und Körpern.

15 Drobnick, Smell Culture Reader, 54, zit. in: Schmitt, Ein Wissenschaftsmuseum geht unter die Haut, 188. 16 Vgl. Schmitt, Ein Wissenschaftsmuseum geht unter die Haut, 40. 17 Hauskeller, Atmosphären erleben, 16.

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Gleichzeitig haftet die Atmosphäre aber keinem dieser Akteur_innen an bzw. kann sie nicht eindeutig zugeordnet werden.18 In diesem Zusammenhang wird auch das Konzept des impliziten Wissens (tacit knowledge) des Philosophen Michael Polanyi relevant.19 Polanyi beschreibt implizites Wissen als das Beherrschen/Können einer Praktik, ohne in der Lage zu sein, dieses Können zu verbalisieren. Der Berufs- und Wirtschaftspädagoge Georg Hans Neuweg stellt in seiner Untersuchung zu implizitem Wissen in der Pädagogik mit Bezug auf Polanyi fest, dass »wir viele Kompetenzen […] erwerben, ohne jemals sprachliche Instruktionen erhalten zu haben. Das gilt […] für nahezu alle nicht aus dem natürlichen Lebenszusammenhang ausgegliederten Lernprozesse.«20 Dabei gilt die Wahrnehmung als »die reduzierteste Form impliziten Wissens«, die »fließend zur wissenschaftlichen Entdeckung« übergehen kann.21

M ETHODOLOGISCHE Ü BERLEGUNGEN E THNOGRAPHIE DER S INNE

FÜR EINE

Eine Möglichkeit, Emotionen und sinnliche Aspekte explizit zu machen, liegt also im gemeinsamen Handeln und der Aufzeichnung und Auswertung dieser kollektiv erlebten Situation, wie dies für die ersten beiden Taktsinn-Dinner beschrieben wurde. Im Folgenden möchte ich nun drei Vorschläge für eine Ethnographie der Sinne machen, die sich aus meiner bisherigen Forschung als vielversprechend ergeben haben. Sie sollen weniger als Anleitungen, sondern vielmehr als Anregungen zur Erprobung in der Praxis gelesen werden: Der erste Vorschlag beschäftigt sich mit der im deutschsprachigen Raum weitestgehend unbekannten Methode der Ethno-Mimesis. Laut den Ethnograph_innen Maggie O’Neill und Phil Hubbard stellt diese eine Möglichkeit dar, mithilfe von künstlerischen Verfahren sinnliches Wissen hervorzubringen. Mimesis wird hierbei weniger im Sinne von Nachahmung oder Mimikry verstanden, sondern vielmehr als Form sinnlichen Wissens, das in kollektiver Arbeit gemeinsam hervorgebracht wird. Als Beispiel hierfür beschreiben die Autor_innen von ihnen initiierte walks mit Asylbewerber_innen. In diesen vermittelten die Asylbewerber_innen beim gemeinsamen Laufen durch die Stadt

18 Vgl. Böhme, Atmosphären, 33–34. 19 Polanyi, The tacit dimension. 20 Neuweg, Könnerschaft und implizites Wissen, 7. 21 Ebd., 140.

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Interessierten ihr Stadtbild und verknüpften dabei gleichzeitig Erinnerungen an ihre Heimat mit dem neuen Zuhause vor Ort. Hierbei fallen Erkenntnisprozess und Repräsentation von Wahrnehmung in Teilen zeitlich zusammen. Somit wird in der Ethno-Mimesis einerseits sinnliches Wissen in narrativer Form vermittelt und kann gleichzeitig im Zuhören und gemeinsamen Handeln von den Teilnehmer_innen empathisch im Sinne eines »sensuous knowing« nachvollzogen werden.22 Dadurch, dass Personen unterschiedlicher Sozialisierung temporär eine gemeinsame Praktik ausüben, wirken die ›Gehübungen‹ hier als eine Art Katalysator und Ausgangspunkt, um Dialoge und Relationalitäten anzuregen. Wie beim gemeinsamen Essen handelt es sich beim Gehen um eine stark inkorporierte und in der Regel wenig reflektierte Alltagspraktik. Insofern sind die Möglichkeiten der Ethno-Mimesis auf die beschriebenen Ess-Settings mit Hinblick auf das Hervorbringen sinnlichen Wissens übertragbar. Ergänzend oder alternativ zur Ethno-Mimesis können zweitens experimentelle Verfahren eine Ethnographie der Sinne methodologisch erweitern. In diesen planen Ethnograph_innen selbst das zu beforschende Setting und erproben dabei offene Fragestellungen. In der gemeinsamen Handlung in diesem Setting und der Verbalisierung des dabei Wahrgenommenen kann so situatives, körperlichsinnliches Wissen in besonderer Weise gemeinsam produziert werden. So geht Georg Hans Neuweg davon aus, dass es nicht einen Vorrat fertig formulierter Aussagen gibt, die in einem präverbalen Zustand in uns vorhanden sind und dann nur noch expliziert werden müssen. Sondern indem wir den Prozess der Wahrnehmung rekonstruieren, berichten wir von einem Wissen, das in dem Moment der Verbalisierung erst geschaffen wird.23 Experimentelle Verfahren können somit implizites Wissen einer Gruppe greif- und beschreibbar machen. So kann u.a. durch die Veränderung von Raumparametern, implizites Wissen im gemeinsamen Handeln hervorgebracht werden, indem alltägliche, unhinterfragte Abläufe und Gegebenheiten gebrochen werden. Sie schaffen dabei Möglichkeitsräume, in denen sich Wissen »ereignen« . kann 24 Folgt man Georg Hans Neuweg in seiner Argumentation zu Theorie und Praxis nach Ryle, so geht »[e]rfolgreiche Praxis […] ihrer eigenen Theorie voraus; […] Noch bevor die Regeln explizit bekannt sind, werden sie praktiziert, und nur deshalb kann man sie vielleicht überhaupt finden.«25 Auf die Versamm-

22 Vgl. O’Neill/Hubbard, Walking, Sensing, Belonging, 47. 23 Vgl. Neuweg, Könnerschaft und implizites Wissen, 6. 24 Vgl. Rheinberger, Experiment, Differenz, Schrift. 25 Neuweg, Könnerschaft und implizites Wissen, 8.

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lung der Sinne und die Greifbarkeit sinnlicher Wahrnehmung bezogen, hieße dies, dass dem bewussten Nachdenken über die Sinne und dem Verbalisieren dieser Gedanken ein impliziter Prozess des »Beliefertwerdens« vorgeschaltet ist.26 Wie dieser Prozess in Gang gebracht wird oder wie ein Setting möglichst so gestaltet werden kann, dass sich u.a. durch Zufall (Stichwort Serendipity27) eine (neue) Erkenntnis einstellt, kann nur experimentell, also durch das Ausprobieren herausgefunden werden. Somit zielt das ethnographische Experiment weniger auf Wiederhol- und Messbarkeit ab, sondern auf das Schaffen von Möglichkeitsräumen, die das Sich-Einstellen von Erkenntnis ermöglichen. Es ist dabei weniger als Substitut für den gesamten ethnographischen Forschungsprozess zu sehen, sondern vielmehr als Tool, um in bestimmten Forschungssituationen wichtige Impulse zu geben. Drittens schlage ich situative Gruppendiskussionen als Erweiterung der Methodologie sinnlicher Ethnographien vor und nehme dabei noch einmal das Beispiel des beschriebenen Bargesprächs im Anschluss an das Taktsinn-Dinner auf. Hier zeigt sich, dass ein informelleres Gruppengespräch durch die Interaktion der Akteur_innen besonders gut sinnliches Wissen hervorbringen bzw. Fragen dazu aufwerfen kann. Dabei ist ebenfalls das Setting dieser Gesprächsrunde von großer Bedeutung, um eine im Gegensatz zu einem klassischen Interview informellere Atmosphäre entstehen zu lassen. Durch die Aufzeichnung des Gesprächs, um es weiterverwenden zu können, bleibt allerdings ein Rest an Formalität erhalten. Im Erfahrungsaustausch zur subjektiven sinnlichen Wahrnehmung findet in diesem Gespräch eine Annäherung an eine gemeinsame Wahrnehmungsposition statt. Dabei wird diese nicht von den Forschenden im Nachhinein konstruiert, sondern die Akteur_innen selbst bieten hier eine Deutung ihrer Wahrnehmung an. Die Gruppendiskussion kann dabei von der forschenden Person selbst geführt werden oder aber es organisieren sich Untergruppen innerhalb der forschenden Akteur_innen, was einem möglichst wenig hierarchiegeprägten Forschungssetting Rechnung trägt. Der vorgestellte Forschungsansatz, in dem von Forschenden selbst experimentelle Forschungssettings geschaffen werden, an denen diese selbst teilnehmen, ist im Kontext einer zurzeit verstärkten Diskussion ethnographischen Arbeitens zu sehen. So werden zum Beispiel insbesondere im anglo-amerikanischen Raum in den letzten Jahren Ansätze wie die Autoethnographie, Performance Ethno-

26 Vgl. Neuweg, Könnerschaft und implizites Wissen, 8. 27 Zur Rolle des Zufälligen in der ethnographischen Arbeit siehe Lindner, Serendipity.

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graphie oder auch eine Ethnographische Theorie diskutiert.28 Tom O’Dell und Robert Willim sprechen im Zuge dessen auch die veränderten zeitlichen Rahmenbedingungen von Ethnographien in Verbindung mit administrativen Aufgaben an Universitäten etc. an.29 Möglicherweise können gerade punktuellere, interventionistische, experimentelle Forschungssettings wie die der beschriebenen Forschungsdinner insbesondere bei Fragen zu sinnlicher Wahrnehmung einen Beitrag zu dieser Debatte leisten. Wie gezeigt wurde, lassen sich zusammenfassend zwei Hauptprobleme für das Explizieren sinnlicher Wahrnehmung feststellen: Zum einen handelt es sich um die sprachlichen Einschränkungen insbesondere für ›vernachlässigte‹ Sinne wie den Geruchssinn. Zum anderen bedarf es großer Anstrengungen, um alltägliche und oft unbewusste Vorgänge wie das Riechen und Schmecken explizit zu machen. In den ersten Versuchen zu experimentellen Ess-Settings zeigte sich, wie wichtig es war, eine vertraute Alltagssituation wie das gemeinsamen Essen zu untersuchen, dabei aber einzelne Parameter zu verändern, um ein reflektiertes Ausführen dieser routinierten Praktiken zu fördern. Auf der Ebene der Aufzeichnung und Übersetzung habe ich die Methode der Gruppendiskussion bzw. des Bargesprächs vorgeschlagen, da diese einen informelleren Charakter aufweisen und die durch sie ermöglichte Interaktion zwischen den Akteur_innen implizites Wissen bzw. die Verbalisierung dessen anzuregen vermochte. Darüber hinaus ist diese Form und die Situation des Essens insgesamt in der Lage, einen Rahmen zu bieten, soziale Grenzen abzubauen und Situationen entstehen zu lassen, die v.a. nicht planbar sind.30 Auch das Beispiel der walks in Verbindung mit der Ethno-Mimesis verdeutlicht, dass dieses Vorgehen nicht auf das Essen beschränkt, sondern durchaus auf andere alltägliche Praktiken übertragbar ist. Schließlich sollten systematische Verfahren, die sinnliche Wahrnehmung in der ethnographischen Forschung greifbar machen, weiterhin nicht nur theoretisch diskutiert, sondern verstärkt in der Praxis erprobt und weiter- oder neu entwickelt werden.

28 Zu alternativen Ethnographien: Geimer, Performance Ethnography und Autoethnography; O’Dell/Willim, Irregular Ethnographies. Zur Autoethnographie: Chang, Autoethnography; Böhnisch-Brednich, Autoethnografie. Zur Performance Ethnographie: Denzin, Performance Ethnography. 29 Vgl. O’Dell/Willim, Irregular Ethnographies, 6. 30 Vgl. Derschmidt, http://www.permanentbreakfast.org, zit. in: Diaconu, Tasten, Riechen, Schmecken, 242f.

E SS-S ETTINGS ALS V ERSAMMLUNGEN

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APPRENTICESHIP | Z UR S CHULUNG

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Framing and educating attention A sensory apprenticeship in the context of domestic energy research K ERSTIN L EDER M ACKLEY AND S ARAH P INK

In this chapter, we explore the notion of sensory apprenticeship in processes of experiential and anthropological knowledge production in the applied context of a British study on domestic energy consumption. In Making, the anthropologist Tim Ingold argues that what we call research or fieldwork in anthropology »is in truth a protracted masterclass in which the novice gradually learns to see things, and to hear and feel them too, in the ways his or her mentors do« (Ingold 2013: 2). Borrowing from the ecological psychologist, James Gibson, Ingold likens this to undergoing an »education of attention« (Gibson 1979: 254; Grasseni 2004). In this sense, anthropologists are always students, or apprentices, to the practical, experiential and discursive lifeworlds of their respondents, continually transforming (Ingold 2013) as they move forward with them through the environments of which they are part. This is perhaps most pertinent in sensory-ethnographic research where, as Pink has noted, »[l]earning to sense and make meanings as others do […] involves us not simply observing what they do, but learning how to use all our senses and to participate in their worlds, on the terms of their embodied understanding« (Pink 2009: 72). Here, we specifically reflect on our use of video during fieldwork and analysis. Following Grasseni who describes video recording »as a tool for refining the ethnographer’s attention, for monitoring and aiding the training of the eye« (Grasseni 2004: 12), we see the camera as a »catalyst of attention« (ibid.: 24), both within the processes of framing the research encounter and subsequently accessing it through the finished recording. Yet, this training of eye

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and attention is also one of accessing and making sense of wider embodied sensory experiences in the environments of which we are part, during ethnographic encounters and when we revisit and continue to imagine them thereafter. In pursuing this line of investigation in this chapter, we build on previous reflections on the nature and status of video in collaborative sensoryethnographic research (Pink/Leder Mackley 2012; Leder Mackley/Pink 2013). Through a focus on apprenticeship, we further seek to advance theory and practice within sensory ethnography in relation to the anthropology of knowledge (Harris 2007; Marchand et al. 2010). As Marchand has argued, »despite decades of meticulous study about the ways in which knowledge is articulated and made manifest in innumerable contexts, the majority of anthropological analyses stop short of providing satisfying explanation (or approximations) of how learning, knowing, and practice actually occur, take shape, and continually transform with situated bodies and minds. Fieldworkers customarily record what their subjects know, but they are less inclined to delve into questions of how we come to know as humans.« (Marchland 2010: 3)

We respond to this challenge by jointly authoring and reflecting on how we have come to know, experience and subsequently share our knowledge with others. As will become clear, within the context of our research, the notion of apprenticeship took on a double meaning as processes of ›attuning‹ to participants’ sensory lives, on the one hand, and to practices of sensory ethnography in collaborative research on the other hand, became closely intertwined.

A SENSORY

APPRENTICESHIP

The idea of ›apprenticing‹ has established itself as a means of inquiry in anthropological research and has long informed, in more or less explicit ways, ethnographers’ understandings and appropriations of participant observation (Pink 2009). Often the ethnographer apprentice actively sets out to take on an apprenticing stance, in order to learn a specific skill or technique, a ›way of doing‹, with the extended aim to gain a better understanding of ›ways of knowing‹ or making meaning of and in the world. Jean Lave’s (2011) exploration of ethnography as social practice in the context of her 1970s fieldwork among Liberian tailors dealt with the notion of apprenticeship through a double problematic. First, Lave was interested in the experience of apprenticeship by Vai and Gola tailors, thus studying in detail situated processes

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of informal learning and knowledge transfer; second, she chose the stance of the apprentice ethnographer to develop and maintain a form of critical ethnography that would approach the relationship between theory and method as one of emerging and changing relations. Lave’s work seeks to highlight how knowledge is not just passed on in terms of information – received and processed through the mind – but develops through practical engagement in socially and culturally specific settings (see also Grasseni 2004). Moreover, it demonstrates that it is precisely the reflection on ›how we come to know‹, entangled with how we come to conduct, perform and live ethnographic practice, that underpins ethnography as a critical methodology. Within the context of sensory scholarship, ethnographer apprentices have often paid attention to individual senses, albeit in relation to wider embodied learnings, understandings and transformations. Responding to tensions around ocularcentrism in the field, Cristina Grasseni’s study of Italian cattle breeding reframes vision not as an observational gaze but as a ›skill‹ that needs to be trained, is culturally specific and can be seen as »a permanent sediment, an embodied way of accessing the world and managing it« (Grasseni 2004: 45). This notion is further developed in her edited collection, Skilled Visions (2007), in which it extends to the fields of arts, architecture and medicine, amongst others. Similarly, some studies have specifically focused on skilled listening as a form of apprenticeship; Tom Rice’s (2013) work focuses on listening skills in medical practice, and Greg Downey’s »apprenticeship of hearing« regards learning and attending to music in the Afro-Brazilian art of Capoeira (Downey 2005: 100). Moving beyond a focus on individual senses, in Doing Sensory Ethnography (2009) Pink invites us to think of sensory apprenticeships in a multisensory way as we engage all of our senses and learn through our whole bodies when attending to and embedding ourselves as researchers in the lifeworlds of others. She cites Paul Stoller’s 1990s apprenticeship in Songhay sorcery as one of the first scholarly examples to link the idea of the ethnographer apprentice with the sensing body. Stoller thematises his own body as learning ground through which he came to know, partly through experiencing illness, the underlying workings of local sorcerers’ rivalries and power relations. In this chapter, we build on Pink’s notion of sensory apprenticeship as not only situated and learned in and through the sensing body but, following Ingold, in the apprenticing body as perceiving and learning through interrelations with their environment. Accordingly,

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»it is through actually engaging in the activities and environments we wish to learn about that we come to know them. On the basis of such participation the ethnographer then has to unravel the academic implications of such learning and of the ways of knowing she or he has experienced.« (Pink 2009: 70, our emphasis)

Our thoughts revolve around two related issues. First, we are interested in the ways in which, through our focus on energy use in relation to the »sensory home« (Pink 2004), we have become apprentices to the sensory experiences, lifeworlds and environments of our participants. In some ways, this has been a different challenge to that faced by Lave and colleagues, in that we have studied energy consumption and digital media use in households and through everyday realities that, though still different and idiosyncratic, often felt very familiar and ›known‹. Employing a sensory framework and using the video camera in this context was thus a way of disassociating ourselves from existing categories of human activity and people-object-environment interrelations, and finding new routes into understanding these contingencies of everyday life through a sensory lens (see also Pink et al 2013). Second, and in close relation to the above, we consider how our research was itself an apprenticeship, primarily for Kerstin, as we were developing practical and conceptual ways of doing sensory ethnography. Unlike other researchers in this field, Kerstin did not necessarily set out to be an ethnographer apprentice but has come to conceptualise her work as such, specifically also in terms of the ways in which our collaboration developed over the course of the study. As Kerstin was learning through collaboration with Sarah – by watching, listening, doing and, later, co-writing and co-analysing – she felt herself stepping in and out of certain ways of framing and knowing people’s everyday lives. At the same time, because Kerstin was doing most of the fieldwork with participants, Sarah was in turn apprenticed to Kerstin’s experience of the research process, through our video recordings, discussions and written narratives. We were both as well seeking to learn from our participants as they guided us around their lives. One challenge in this context was to go beyond language and take into account all the sensory, often unspoken phenomena that are part of lived experience and of the ways in which energy use was implicated in the making of homes.

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ETHNOGRAPHY AND VIDEO

With the rediscovery of the senses in anthropology also came a critique of and move away from vision as seemingly dominant or superior sense. Partly, and as alluded to above, anthropologists were concerned with the notion that the researcher’s analytic ›gaze‹ would objectify, judge and take agency away from the people it followed (cf. Ruby 1991). Partly, they questioned the close link that had traditionally been made between seeing/observing and knowing/ understanding. Both tensions are still prominent in anthropological and related research and have perhaps become even more pertinent in the context of increasingly (audio-)visually recorded research encounters. However, as Grasseni’s work amongst that of others demonstrates, there has also been a resurrection of vision as a more reflexive and dynamic route to knowledge. In line with Grasseni, Michael Herzfeld describes it as »not only the authoritative and self-conscious activity that characterises surveillance and invites charges of ›visualism‹« but also as a »learned capacity. As such«, he argues, »it is thoroughly cultural, requiring ethnographic specificity in consideration of its appearance everywhere, from Yukhagir hunters’ techniques to medical brain scanning« (Herzfeld 2007: 207). In a related vein, Pink has argued that »ethnographic knowledge does not necessarily exist as observable facts« but »is better understood as originating from fieldwork experiences. Knowledge is produced in negotiation between research participants and researcher, rather than existing as an objective reality that may be recorded and taken home in a notebook, word processing file, audio recording, photograph or video« (Pink 2013: 105, our emphasis). As such, the focus on vision alone is not rendered problematic in itself but depends on the theoretical-analytic frame and stance of the ethnographic researcher. On the one hand, and as would be the case with other visualethnographic research, approaching the research encounter in parts through video led us to pay particular attention to our evolving relationships with participants. Our chosen methods, discussed in more detail below, were designed to generate a collaborative engagement here, rather than one of pure observation. We were guided by participants who were able to draw our attention to specific elements of their lives and homes and, although we were behind rather than in front of the camera, our movements, expressions and foci of attention were equally inscribed in the finished recording. In one case, the power relation between researcher and researched was actively brought into balance by a young participant who had just won a digital camera in a photo competition and

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proceeded to video Kerstin and our colleague, Roxana Moroúanu, as they were filming them and other members of their family during a tour of their home. Yet, beyond considering the ethics of using video in ethnographic fieldwork, our sensory framework invited us to approach video not just purely as an audiovisual medium but as an entry point that would help us as researchers and viewers to »empathise with and imagine multisensory embodied experiences« (Pink/Leder Mackley 2012: 4.1) in relation to the environments that we were part of and later revisited on video. Following David MacDougall, we thus saw the potential of the visual as allowing us to »construct knowledge not by ›description‹ […] but by a form of ›acquaintance‹« (2006: 330). By this we mean that we could use video to feel our way (back) into the research context at the same time as drawing on personal experience, embodied memory and participants’ gestures and descriptions to try and sense our way into other people’s environments. This had an impact on how we framed research encounters in the first place and further translated into how we ›re-framed‹ video footage when sharing findings with others, that is, when guiding or inviting colleagues to make sense of video through a sensory-ethnographic lens and in relation to the concepts that we saw emerging from the fieldwork (see also Pink/Leder Mackley 2012; Leder Mackley/Pink 2013). In the following, we illustrate these processes in relation to our project and methodology.

L EARNING TO

FRAME AND FILM IN MOVEMENT

The research discussed in this chapter forms part of a four-year study of domestic energy use and digital innovation with twenty family households in the UK. Apart from social scientists, the research team includes experts from engineering, design and computer sciences. Through its interdisciplinary focus, LEEDR (Low Effort Energy Demand Reduction, 2010–2014) aims to understand in detail how families use energy and digital media in their everyday lives, with the ultimate aim to inform the design of bespoke digital interventions and help householders reduce energy consumption in a way that fits into their lives. The study is situated against the backdrop of the UK government’s legal obligation under the Climate Change Act 2008 to reduce greenhouse gas emissions by 80% by 2050 (counting from a 1990 baseline), with domestic dwellings currently making up just over 30% of UK energy demand. Participating families initially signed up for a number of qualitative research activities, partly led by the project’s Design team, as well as for their energy

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consumption (gas, electricity, hot water flow, temperatures and activity/ movement) to be monitored in detail, including via individual appliances, for the course of up to three years. In terms of our ethnographic research, we designed two key stages of fieldwork: the home video tour and a series of ›everyday activity‹ studies during which we engaged with how people did some everyday tasks around the house, such as the laundry and cooking, and also how they used the bathroom and digital media. Here, we mainly focus on the home video tour. The home video tour is a method with a biography (Pink/Leder Mackley 2012) which, like sensory ethnography, has evolved in use. It was employed by Sarah in a comparative study of housework and gendered identities in Spain and the UK (Pink 2004), and it is through the home video tour that the concept of the ›sensory home‹ emerged. In her work, Sarah discovered how the home is experienced, made and continually remade as a multisensory environment, and that people do a variety of everyday activities to create, maintain or try to achieve a certain ›sensory aesthetic‹ of home. These kinds of activities might include cleaning or laundry practices, the use of music and other sound around the home, material choices, and so on. In the context of LEEDR, the sensory home became a conceptual tool through which we framed both our fieldwork and ongoing analysis. The aim was to use it as an indirect route to exploring how energy consumption is implicated in the everyday making of the ›sensory aesthetic‹ of home, without necessarily directly addressing energy use with participants. The tour involved us (individually or in pairs) following and filming one or several participants as they guided us through their home, telling us about the history of their house, about decorative choices, floor surfaces, their use of lighting, heating, and generally about what they do, on an everyday basis, to make their home ›feel right‹. Our understanding of the sensory home revolves around a theory of ›place‹ that is chiefly influenced by writing in human geography and phenomenological anthropology, specifically by Doreen Massey (2005) and Tim Ingold (2008), and conceptualises place in two ways. We discuss this in detail elsewhere (Pink/Leder Mackley 2012) and only summarise here. First, place – and home as place – is conceived not as a locality but as »open« (Massey 2005: 131) and unbounded, and as a constantly shifting ecology of different intensities and »constellations« (ibid.) – or, in Ingold’s words, a »meshwork« (Ingold 2008: 1808) or »zone of entanglement« (ibid.: 1797) – of people and things. Second, and bearing this ecology of place in mind, it is also an environment that can be sensed/perceived and negotiated/made by the people that are part of it.

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In one way, this means that we do not privilege people or the human subject but would regard them as one of many different organisms and moving things that constitute and are part of an environment (see Pink 2012). At the same time, we also assume intentionality and agency, and we understand people as active and innovative. So we place the human subject at the centre, focusing on how people experience place, how they engage with and act in relation to their environments, as both participants and agents in ›place-making‹. Reframing the home in this way, as ›place-event‹, does a number of things for the sensory apprentice: It means that we can conceive of and still analytically frame the ›messiness‹ and ›ongoingness‹ that is everyday life, and it helps us to conceptualise change and the idea of moving forward through the world; it enables us to attend to both the material and immaterial dimensions of what makes home; and it frames the ethnographic encounter as part of the place-event of home. The sensory ethnographer thus draws on their own situated experience of sensing, relating to and moving through the environment as well as engaging with participants to explore how they come to experience, negotiate and become part of the constellation of place. As such, it is a specific way of seeing and attending to the home, with the video tour as a ›route to knowledge‹ about how place is made and remade, and sensed and experienced by people. It is within this context that we seek to disentangle energy use. The video hence becomes a trace through the home, inscribed with audiovisual ›clues‹ that paint a picture of home, both at the time of recording and, through participant and researcher reflection, at remembered and imagined times. Clues come in the form of light/lighting, spatial arrangements, recorded sounds and material textures, as well as participants’ movements in front of the camera (gestures, situated performances) and the conversations that ensue between ethnographer and respondent. In tracing the home in this way, the camera becomes an extension of the researcher’s body as it at once sees and records, moves and orients itself, replicates and frames the researcher’s attention. This attention is always split, in the case of our work, between engaging with the environment and with the small flip-out screen on our cameras as we record it. In our experience, then, this kind of use of video has had a number of implications for the person holding the camera, primarily but not exclusively in terms of framing the research encounter. At the beginning of our collaboration, while watching and jointly analysing Sarah’s pilot video tour through Rhodes’ home (discussed in Pink/Leder Mackley 2012), Kerstin became aware of the ways in which Sarah had allowed the camera to follow Rhodes’ directions and reflections, thus actively seeking out the visual reference points that would illustrate what had been said, as well as indicate Sarah’s own frame of attention.

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With regard to the latter, Kerstin was for instance struck by Sarah filming the carpeted steps as she followed Rhodes upstairs to the family bedrooms. Although, as we discussed later, there were also other practical reasons for this choice of frame, it stood out as an unusual camera angle, with floor surfaces often only featuring on video accidentally – when active filming has ended and the camera is lowered down whilst still recording. In this instance, it was an invitation to pay attention to the feel of the carpet underfoot, combined with the sounds of the floor boards underneath that creaked under Rhodes’ and Sarah’s quick steps. The relative ›point-of-view‹ perspective of the camera thus allowed Kerstin to sensorially discover the home with Sarah and Rhodes, despite not being physically present. Likewise when Sarah viewed Kerstin’s video recordings, because we were using the same perspective from which to film, it was easy for her to engage empathetically through an understanding of how the video had been made, and to imagine what it had felt like to make it. When later leading video tours herself, Kerstin went through several stages of experiencing, recording and making sense of her and participants’ sensory experiences of home. Initially, this involved focusing on her own sensory experiences in participants’ homes, and partly noting these in field notes after research encounters. Some of her field notes related to experiences ›off-camera‹ (or in relation to the videos) and thus complemented the finished recordings. The following are typical excerpts from her initial reflections across a number of household visits, and were designed to aid her sensory memory: »We just had a spell of hot days in October – record-breakingly so – but today was the first sign that we were back in autumn. A very cool wind, still combined with sunshine, but considerably cooler.« (field note from October 4th, 2011) »We naturally made our way into the office space, or front room. It felt very bright and was facing the main road. […] The living room felt dark, though it doesn’t look so on camera. [...] The utility room was noticeably cooler than the rest of the house.« (field note from September 30th, 2011) »The house smelled sweet, I recognised the smell of dust and unopened windows. […] We later learned that [participant] does not believe in cleaning; it’s not something she cares to talk about. Time is better spent doing other things, though she [had] swept the kitchen floor before our arrival.« (field note from October 10th, 2011)

As video tours continued, Kerstin increasingly developed a sensitivity towards trying to capture what she could feel, that is, inscribe both participants’ and her

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own sensory experiences on video for others to see and feel. This sometimes involved commenting on certain smells, changes in temperature or the feel of the floor surface underneath, and also encouraging participants to reflect on these material and immaterial elements during their joint experience. Beyond this, she found herself using the camera as a tool for discovery – of the textures and fabrics of home – at once catching up with and directing her own focus of attention. Reflecting on sensory experiences and evoking sensory memories in others seemed crucial to developing a form of empathy with participants and understanding the environment they were part of. Yet, the videos were not just about the immediacy of the research encounter – of our roles in it and our experience of these environments – but also about trying to imagine the home at other moments, as described and demonstrated by participants. Both framing and analysing research encounters (two activities which, as we note elsewhere, are not easily separated, Leder Mackley/Pink 2013) thus began to increasingly intersect with the theoretical notion of the place-event of home. As such, we used the videos as analytic entry points that would allow us to conceive of people-object-environment relations at different moments in participants’ everyday lives. Two related processes stood out to Kerstin in this respect. First, there was a need to move beyond conceiving of the home video tour as a mere interview in movement. While language played an important role and was one way of making sense of participants’ worlds, the visual and sensory framework shifted our attention to practical activity, the movement and interrelations of people and things, and all the visible and invisible elements that constituted home for people. While home video tours could be analysed discursively, for instance by paying attention to how participants accounted for their energy use in a way that would prioritise the (often somewhat problematic) notion on ›self-report‹, the sensory framework actively challenged pre-conceptions of what participants were doing ›right‹ or ›wrong‹ with regard to energy consumption, and instead sought to reveal a deeper understanding of the processes that accompanied, necessitated and generally affected how energy was used in domestic settings. Second, and in relation to the above, the ›sensory‹ was not just a matter of capturing experience in terms of individual smells, textures, and so on, but also of re-imagining participants’ agency within the context of their sensory environments. In the following ethnographic example, we reflect on this with regard to what we came to describe as ›invisible architectures‹ of the home, which in turn led us to consider the concept of flow and people as negotiators of flows (see also Pink/Leder Mackley forthcoming). We conceive of the latter as

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tangible and intangible flows of air, light or liquids that move or are experienced by participants as moving through the home.

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ARCHITECTURES ‹. DISCOVERING PARTICIPANTS ’ SENSORY WORLDS Alan (late 40s), his wife and four children have lived in their semi-detached house in a quiet cul-de-sac for over ten years. During that time, the house has undergone a variety of structural and decorative changes, including an extension above the garage, which contains the master bedroom and en-suite bathroom. Much of the work, such as fitting the kitchen, has been done by Alan himself. When we visited him for a joint video tour in December 2011, he told us that he had just redone the second bathroom; they had opted for a shower instead of the prior bath tub, and the room was still awaiting some finishing touches, such as covering exposed pipes and laying new flooring. Less visible and obvious to us was the work Alan had done to actively change the more hidden fabric of the home, specifically with regard to insulation. At several times during the tour, Alan stopped to elaborate on the nature, position and effect of added insulation. For instance, directing our view out of the window from his oldest son’s room towards a neighbouring house which was characteristic of buildings in this area, he told us that, when he redid the bathroom, he put four inches of insulation behind the timber-framed tiles between windows. He had made similar alterations to the front of the house. As he explained in this daughter’s room, knocking on the wall by the window, »that wall there is like plaster board there, and obviously it’s timber-framed, you see, and… from experience, when I did the bathroom, when I took the plaster board down, there was very little insulation in there, you see, we’re talking about an inch, one inch insulation. And then obviously I took the plaster board down, and I replaced it with four inch insulation.« (Figure 1, video tour from December 1st, 2011)

Since making this change, he told us, his daughter had not complained about any draughts coming from the windows.

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Figure 1: Alan discussing insulation in his daughter’s bedroom

Source: © LEEDR, Loughborough University, 2011

As we were about to conclude the tour on the first floor, Alan opened the loft hatch and used a metal pole to point towards an additional layer of wood that had been placed on top of the existing timber: »You see this bit of wood just here? I put that bit of wood on there, you see, cos obviously«, pointing at the bottom part of the structure, »from there to there is the roof timbers, or should I say ceiling timbers, and then I put that on. So from there to there«, that is, from the bottom of the original to the top of the added wood, »is all insulation, on top of this« (Figure 2, video tour from December 1st, 2011). Figure 2: Additional insulation between first floor ceiling and loft

Source: © LEEDR, Loughborough University, 2011.

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As it turned out, this added insulation was useful in most parts of the house. In the extension, however, Alan had miscalculated the ratio of radiators and insulation, partly due to his childhood memories of going to bed in »freezing« temperatures. His parents’ home did not have any central heating, and bedrooms were partly built across a cool passageway. In order to avoid experiencing the same kind of cold with regard to the position of his current bedroom above the unheated garage, Alan had ensured there was plenty of insulation in the master bedroom’s floor and ceiling, and that the room was equipped with two radiators. Given the extent of insulation, Alan soon realised that one radiator would have been enough. If it is damp outside, he told us, the room gets too hot; if it is cold outside, the indoor temperature is just right. In order to manage temperatures, both radiators are now kept to a minimum heat via thermostatic valves. Later, off camera, Alan showed us the different stages of his DIY insulation projects in the form of photos he had taken on his smart phone. Clearly, Alan was aware of our interest in energy consumption and had deemed it important to share with us the efforts he had put into increasing energy efficiency through added insulation. This was relevant to our research. Yet, equally important to us was the interplay between visible and hidden, material and immaterial (or, in the case of Alan’s phone, digital), known and felt elements of the home that our visual-ethnographic engagement had brought to the fore. Alan intimately knew the fabric of his house and was able to account for flows of cold and warm air in parts because he had played an active role in managing these. As we conducted additional video tours and revisited existing tours on video, we encountered similar examples of participants accounting for sensory flows depending on the position of their house, material structures, interrelations between spaces, and so on. At the same time, the notion of ›invisible architectures‹ did not only refer to ›actual‹ architecture but extended to other sensory, social and affective elements that were part of how families knew, experienced and negotiated the home. This included the creation of audio-visual landscapes through the use of digital media, the negotiation of flows of hot, cold, humid or smelly air via windows, doors, fans and so on, or the general uses that were assigned to different spaces in the home, as known but not always visible or articulated by individual family members.

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S ENSORY

APPRENTICESHIP AS THEORETICAL METHODOLOGICAL DIALOGUE Just as Alan had revealed to us the different layers of the fabric of his home, the experience of conducting sensory ethnography in the home was one of uncovering a series of theoretical-methodological relationships as they emerged during our video tour fieldwork and progressed through the everyday activity studies. We have been particularly conscious of how we arrived at different kinds of knowledge partly because of the processual nature of our research which, for Kerstin, moved from training her sensory reflexivity, via seeking to convey the latter through the audio-visual framing of the research encounter, to exploring – in collaboration with Sarah – the implications of emerging concepts. Partly the interdisciplinary nature of our research required an additional layer of reflexivity as we had to communicate ethnographic insights through video and narrative (see Leder Mackley/Pink 2013). As with Alan’s example, when concepts and ideas arose through our experiences of particular tours (where they were heightened or more obvious), we tracked those through other households, working through the materials to respond to our core research questions of how people ›needed‹ to use energy to create and maintain a particular sensory aesthetic of home, to make their homes ›feel right‹. In relation to invisible architectures and sensory flows, we have proposed to the LEEDR team that if we conceptualise people as the directors of such flows in their homes, this offers a new way of considering what it is that people do in their homes that goes beyond conventional divisions of domestic activity into practices of doing the laundry, cooking, or showering, and so on. Sharing notions of flow and invisible architectures has also helped to situate the home – as changing and transitional, and as emplaced (with permeable membranes) within and in relation to the outside world. For instance, we have explored how participants manage the boundaries of the home and negotiate natural light and flows of air to dry laundry. Likewise, we have learned how the way in which respondents understand their systems of pipes of hot and cold water is shaped by a combination of sensory experiences and structural knowledges which, in turn, affect how they use tabs and showers around the home. The nature of these kinds of insights and interrelations, we hope, will aid our design and engineering colleagues to broaden and rethink problems and solutions with regard to possible energy-related interventions.

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C ONCLUSION In this chapter, we have shared our experiences of conducting collaborative sensory-ethnographic research in the context of an interdisciplinary study of domestic energy consumption. In doing so, we have conceived of our working relationship as one of apprenticing, both to the sensory worlds of participants and to each other’s ways of ›doing sensory ethnography‹ as more and less experienced ethnographic researchers. As we discussed, our use of video played a significant role in producing wider sensory-ethnographic knowledge, primarily in the ways in which it focused our (and participants’) attention, and later enabled a reconnection with research encounters and families’ sensory worlds. For the purposes of clarity, we have partly discussed our acquisition of knowledge as somewhat of a linear process. To an extent, this is how Kerstin experienced it; the joint video tour with Alan and the discussion that ensued between us in the car on the way back from Alan’s house to our campus offices constituted a memorable moment in learning to understand how we might conceive of the home as intimately and sensorially ›known‹ and managed by participants – in its material and immaterial manifestations – and how this might matter. It is one of several such moments of recognition that changed how Kerstin approached and made sense of her work, and these specifically continued, as with this chapter, during our activities of co-writing when we were able to test and learn about each other’s experiences and ideas. At the same time, the research process was one of going back and forth between seemingly established categories of knowledge (as partly informed by our partner disciplines) and the sensory framework that constantly evolved and reshaped our way of approaching domestic energy consumption. It was also, importantly, one of dipping in and out of video recordings as we sought to reconnect with participants’ sensory worlds and explore further concepts, such as flow, in the context of families’ lives. As such, the process was always reiterative, and our methodology was both critical and ›improvisory‹. At the beginning of this chapter, we referred to Jean Lave’s ethnographerapprentice practice in Liberia. Her work led her to consider apprenticeship as a »relational concept« in which, rather than beginning from a standpoint of not knowing and learning from someone who does, »we are all apprentices, engaged in learning to do what we are already doing« (Lave 2011: 156). Employing a form of social practice theory, she argues that »social life is not reducible to knowledge or even to knowing, but to collective doing, as what being is, as part of the lived-in world« (ibid.: 152). Likewise, in Improvising Theory, Liisa Malkki describes ethnographic research practice as »a way of being in the

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world« (Cerwonka/Malkki 2007: 178). Anthropological fieldwork, she writes, »is not usually a straightforward matter of working. It is also a matter of living [...]. All this engages the senses and emotions, and it takes time« (ibid.). While Malkki partly refers to the ways in which contexts of life and work intersect, in that ethnographers’ life situations have practical and theoretical implications for their research, both her and Lave’s reflections highlight the importance of understanding ethnographic research as one of embodied emplacement. As we have sought to demonstrate in this chapter, our research would not have developed in the same way had we not been able to physically share research encounters with each other and with participants. Where this was not possible, our video ethnographies – in relation to sensory concepts and narratives – became a vehicle through which we shared experiences, sensorial empathy, knowledge and understanding, all concepts that were closely intertwined.

ACKNOWLEDGEMENTS The interdisciplinary LEEDR project, based at Loughborough University, is jointly funded by the UK Research Councils’ Digital Economy and Energy programs (grant number EP/I000267/1). For further information about the project, collaborating research groups and industrial partners, please visit www.leedr-project.co.uk. We thank all LEEDR family households for generously participating in our research.

R EFERENCES Cerwonka, Allaine/Malkki, Liisa H. (2007): Improvising theory. Process and temporality in ethnographic fieldwork, Chicago: University of Chicago Press. Downey, Greg (2005): Learning Capoeira. Lessons in cunning from an AfroBrazilian art, New York: Oxford University Press. Gibson, James J. (1997): The ecological approach to visual perception, Boston, MA: Houghton Mifflin. Grasseni, Cristina (2004): Video and ethnographic knowledge. Skilled vision in the practice of breeding, in: Sarah Pink/Ana Isabel Alfonso/Laszlo Kurti (eds.): Working Images. Visual Research and Representation in Ethnography, London: Routledge, 12–27.

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Grasseni, Cristina (ed.) (2007): Skilled visions. Between apprenticeship and standards, Oxford: Berghahn. Harris, Mark (2007): Ways of knowing. Anthropological approaches to crafting experience and knowledge, Oxford: Berghahn. Herzfeld, Michael (2007): Envisioning skills. Insights, hindsights, and second sight, in: Cristina Grasseni (ed.): Skilled visions. Between apprenticeship and standards, Oxford: Berghahn, 207–216. Ingold, Tim (2008): Bindings against boundaries. Entanglements of life in an open world, in: Environment and Planning A 40, 1796–1810. Ingold, Tim (2013): Making. Anthropology, archaeology, art and architecture, London: Routledge. Lave, Jean (2011): Apprenticeship in critical ethnographic practice, Chicago: University of Chicago Press. Leder Mackley, Kerstin/Pink, Sarah (2013): From emplaced knowing to interdisciplinary knowledge. Sensory ethnography in energy research, in: The Senses & Society 8 (3), 335–353. MacDougall, David (2006): The corporeal image. Film, ethnography, and the senses, Princeton, NJ: Princeton University Press. Marchand, Trevor (2010): Making knowledge. Explorations of the indissoluble relation between minds, bodies, and environment, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 16, 1–21. Massey, Doreen (2005): For space, London: Sage. Pink, Sarah (2009): Doing sensory ethnography, London: Sage. Pink, Sarah (2012): Situating everyday life. Practices and places, London: Sage. Pink, Sarah (2013): Doing visual ethnography, London: Sage. Pink, Sarah/Leder Mackley, Kerstin (2012): Video and a sense of the invisible. Approaching domestic energy consumption through the sensory home, in: Sociological Research Online, http://www.socresonline.org.uk/17/1/3.html, accessed June 10th, 2014. Pink, Sarah/Leder Mackley, Kerstin (forthcoming): Flow in everyday life. Situating practices, in: Cecily Maller/Yolande Strengers (eds.): Beyond behaviour change. Intervening in social practices for sustainability, London: Routledge. Rice, Tom (2013): Hearing the hospital. Sound, listening, knowledge and experience, Canon Pyon: Sean Kingston Press. Ruby, Jay (1991): Speaking for, speaking about, speaking with, or speaking alongside. An anthropological and documentary dilemma, in: Visual Anthropology Review 7, 50–67.

Living fieldwork – Feeling hostess Leibliche Wahrnehmung als Erkenntnisinstrument T ANJA A NGELA K UBES

»Der Wecker klingelt fünf vor fünf. Sechs Stunden Schlaf müssen reichen. Wenn nur die Beine nicht so schmerzen würden. Aber das ist normal am vierten Tag. Schnell einen Kaffee zum Wachwerden, dann duschen, Beine rasieren, Haare waschen, Haare föhnen, Haare glätten. Immer dieser Aufwand, denkt sie sich schlaftrunken, und fixiert automatisch ihre Frisur. Im Bad riecht es nach Haarspray, Deo, Bodylotion und Parfüm. Nun muss noch das Gesicht dekoriert werden. Ihre Gesichtshaut spannt. Sie deckt Unreinheiten, Rötungen und Augenringe ab, trägt Make-Up, Rouge, Wimperntusche, Lidschatten und Lippenstift auf. Sie wickelt Pflaster um die einzelnen Zehen, die schmerzhafte Druckstellen und Blasen aufweisen. Schließlich zieht sie ihren Push-Up BH an und schlüpft in die Strumpfhose und das figurbetonte schwarze Kleid. Eine halbe Stunde Fahrt, sie ist angekommen. Bevor sie die Halle betritt, raus aus den bequemen Turnschuhen, rein in die engen zwölf cm Stilettos. Sie schiebt ihre Eintrittskarte in das Drehkreuz, und während sie hindurchgeht, verändert sich ihre verschlafene Mimik automatisch zu einem sympathischen Lächeln. An ihrem Platz angekommen stellt sie sich in Pose. Hier wird sie die nächsten zwölf Stunden stehen. Einfach ist das anfangs nicht, ihren Körper so zu präsentieren, immer schön zu sein und zu lächeln. ›Ihr präsentiert die Automobilmarke‹, wurde ihr während der Schulung von der Agentur eingeschärft. Die Erfahrung, reines Objekt zu sein, ist dennoch überraschend unangenehm. Sie steht also da, und präsentiert mit ihrem Körper das Ausstellungsobjekt. Wenn sie die Reaktionen der Besucher_innen deutet, ist noch nicht ganz klar, wer hier mehr Schauobjekt ist, das Auto oder sie. Also versucht sie schön zu sein, versucht sich schön zu fühlen und: zu präsentieren. Auf ihren High Heels still in einer bestimmten Pose stehend, lächelnd, an einem zugewiesenen Platz, den Körper angespannt, den Bauch eingezogen, im hautengen kurzen Kleid, perfekt gestylt, von vielen

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hunderten Besucher_innen fotografiert – zwölf Stunden am Tag, zehn Tage lang. Das ist der Job einer Messehostess.«1

E INLEITUNG . › DOING HOSTESS ‹ Die folgenden Ausführungen basieren auf einer Studie, die im Grenzgebiet von Ethnologie und Soziologie angesiedelt ist und sich mit Hostessen auf Automobilmessen beschäftigt.2 Mit der Methode der living fieldwork stelle ich eine Forschungsmethode vor, die autoethnographische Ansätze mit ›klassischen‹ Forschungsdesigns zu verbinden sucht. Ziel ist es, erprobte ethnologische und soziologische Methoden um eine leibempirische Dimension zu ergänzen und dadurch auch inhärente, nicht verbalisierte leibliche Bedeutungen erfassen und verstehen zu können. Das leibliche »Zur-Welt-Sein«3 im eigenen Forschungsfeld wird dabei von mir als Akteurin direkt umgesetzt, bildet aber am Ende nicht das Zentrum des Textes. Living fieldwork ist eine subjektzentrierte Methode, in der die persönliche leibliche und körperliche Erfahrung der Forschenden den Zugang zu einer performanz- und leibzentrierten Forschung eröffnet. Da ich in meiner Arbeit u.a. leibliche Empfindungen in Bezug auf Emotions-, Körper- und Leibdisziplinierungstechniken, Emotionswandel und Emotionsaneignung untersuche, gilt mir die sensorische Introspektion als Grundstein der reflexiven Erkenntnisgewinnung, auf der aufbauend der Einsatz anderer qualitativer Methoden überhaupt erst möglich wird. Der Kulturanthropologe Thomas Csordas kritisierte schon vor fast 20 Jahren die Körperblindheit der Ethnologie und versuchte mit seinem Paradigma des »embodiments«, dem Körper dieselbe Stellung zu verschaffen, wie sie dem Text im Rahmen des textual turn zugestanden wurde.4 Indem ich meinen eigenen

1

Feldnotiz. Aus Gründen des Informant_innenschutzes werden alle Feldnotizen und Interviewpassagen, die zu einer Identifizierung meiner Gesprächspartner_innen führen könnten (Namen, Erhebungsdatum) anonymisiert oder nicht angegeben.

2

In meiner Dissertation, Fragmentierte Identitäten. Rollenbilder, Medialisierung und Inszenierung von Weiblichkeit am Beispiel von Hostessen auf Automobilmessen (Arbeitstitel), untersuche ich unter anderem, wie der Körper von Hostessen nach einem kulturell vorgegebenen Idealbild in Szene gesetzt wird.

3 4

Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 282. Vgl. Csordas, Embodiment as a Paradigm for Anthropology; ders., Embodiment and Experience; Geertz, Dichte Beschreibung; Clifford/Marcus, Writing Culture.

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HOSTESS

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›Leibkörper‹ als methodisches Erkenntnisinstrument systematisch einsetze, gehe ich noch über Csordas‘ Forderung hinaus, Verkörperungen von Kultur, bzw. embodiment zum Ausgangspunkt theoretischer kulturanthropologischer Überlegungen zu machen. Howes weist zu Recht auf die Notwendigkeit hin, Kultur aus den jeweiligen gesellschaftlichen Theorien und Praktiken heraus zu erklären.5 Um dies umsetzen zu können, müssen sensorische und emotionale Erfahrungen zuallererst selbst erlebt werden. Meine Ausführungen geben ein Beispiel dafür, wie dieser Anspruch umgesetzt werden kann. Das von Hostessen praktizierte statische Verharren in einer vorgegebenen Pose ist keineswegs so einfach, wie es von außen erscheinen mag. Die Betroffenen müssen sich nicht nur spezifische Körpertechniken aneignen, um das stundenlange Stehen und Posen auf hohen Pumps zu ertragen, sie müssen auch ihr äußeres Erscheinungsbild nach vorherrschenden Schönheitsidealen ausrichten und emotionale Dissonanzen überwinden, um dem Idealbild der stets lächelnden, schönen Frau gerecht werden zu können. Indem Hostessen ihren Körper nach einem kulturell vorgegebenen Idealbild in Szene setzen, wird Kultur auf stereotype Weise am Körper produziert und performativ reproduziert. Durch ein interaktives doing gender wird dabei der Hostessenkörper im Prozess der Darstellungsarbeit erst erschaffen.6 Diese Tätigkeit ist ein komplexer, multidimensionaler Prozess, findet immer in der Masse sowie im öffentlichen Raum statt und wird von mir als doing hostess bezeichnet. Die Ausübung der Hostessentätigkeit bzw. das doing hostess wird von mir als inkorporierte körperliche und leiblich wahrgenommene kulturelle und soziale performativ vollzogene Praxis untersucht.7 Die Darstellungsarbeit der Hostessen besteht stark aus der Kontrolle, der Regulierung und der Unterdrückung leiblicher Gefühle. Die körperlich angeeignete Technik, leibliche Emotionen so zu arrangieren, dass erlebte Gefühle nicht spontan gezeigt, sondern unterdrückt werden, erfordert zahlreiche emotionale »Disziplinarmechanismen«8, bzw.

5

Vgl. Howes, Sensual Relations, 56f.

6

Vgl. Kessler/McKenna, An Ethnomethodological Approach; Garfinkel, Studies in

7

Im Folgenden unterscheide ich im phänomenologisch-soziologischen Sinne zwischen

Ethnomethodology. Körper und Leib. Mit Körper bezeichne ich den menschlichen Körper in seiner Materialität, mit Leib den Körper als wahrnehmende Instanz, wie dies u.a. von Maurice Merleau-Ponty, Helmut Plessner und Hermann Schmitz diskutiert wird. 8

Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, 271; vgl. hierzu auch Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation.

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»Emotionsarbeit«9. Die Hostessentätigkeiten verlangen also eine hohe emotionale Investitionsbereitschaft seitens der Akteurinnen, die für außenstehende Beobachter_innen nicht zu erkennen ist. Die erlebten Sinneswahrnehmungen und Gefühle wurden von den von mir interviewten Hostessen kaum zur Sprache gebracht: »Eigentlich stehe ich den ganzen Tag da, schaue nett aus und lächle, mehr passiert da nicht.«10 Sensorisches und emotionales Erleben während dem doing hostess ist oft stark ambivalent. Dies umso mehr, wo Empfindungen aufgrund der Dauer der Performanz ihre Bedeutung verlieren und die kulturelle, meist positiv vermittelte Wertung und Zuschreibung der körperlichen Handlung (durch Medien, Besucher_innen, Automobilmarken, Agenturen) in den Vordergrund rückt. Sprachlosigkeit oder das Unvermögen der Formulierung heißt allerdings keinesfalls, dass durchgeführte Handlungen, kulturelle Körperpraxen und die dadurch erlebten Emotionen für das Individuum von geringerer Relevanz sind. Auch heißt es nicht, dass inkorporierte, unbewusst gewordene Handlungen nicht eine Botschaft nach außen transportieren und eine symbolische Bedeutung widerspiegeln können. Ein großer Teil unserer leiblichen Erfahrung ist sprachlich nicht einfach darzustellen. Dazu zählen auch die körperlichen und leiblichen Erfahrungen von Hostessen. Wie nun kann es gelingen, die emische Sicht11 einer solchen Gruppe zu erforschen, wenn diese den ganzen Arbeitstag lang weder verbal kommunizieren noch ihre Pose, ihren Standort oder ihre Mimik verändern? Wenn sie darüber hinaus eine vertraglich festgelegte Schweigevereinbarung unterzeichnet haben, die auch zeitlich nachgeordnete Befragungen deutlich erschwert oder oft gar verhindert? Offensichtlich entzieht sich die emische Ebene der Hostessentätigkeit dem Beobacht- und Befragbaren und vollzieht entscheidende Sinngebungsverfahren in einer tiefer liegenden, oft unbewussten Sphäre, die sich allenfalls erfahren bzw. erfühlen lässt. Mit traditionellen qualitativen Beobachtungsverfahren können sensorische Wahrnehmungen und Empfindungen nur begrenzt erforscht werden. Sie stoßen spätestens dann an ihre Grenzen, wenn die leiblich gefühlten oder sensorischen Dimensionen der Hostessentätigkeit erfasst werden sollen. Um kulturell bedingte Handlungsabläufe und Bedeutungsformationen in ihrer tieferen Struktur auch leiblich zu verstehen und später angemessen durch

9

Vgl. Hochschild, Das gekaufte Herz, 30.

10 Interview mit Anna. 11 Mit dem Begriff wird in der Ethnologie die Innensicht der Erforschten bezeichnet. Mein Ziel in der Forschungssituation ist es, mit den Augen der Hostessen zu sehen und wie diese zu fühlen.

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HOSTESS

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qualitative Methoden stützen zu können, braucht es ein Vorverständnis dessen, was während der kulturellen Inszenierung im und am Körper und mit dem Leib passiert. Im Folgenden werde ich daher eine neue Methode der ethnographischen Datengewinnung vorstellen, die bestehende Ansätze der teilnehmenden Beobachtung und dichten Teilnahme12 zu einer Form der living fieldwork radikalisiert und so den Weg zu einer interozeptiven sensorischen Erfahrung des Feldes eröffnet. Indem ich dabei die sensorische Erfahrung mit Methoden und Ansätzen aus den Feldern Körpersoziologie, Gendertheorie, Emotionsethnologie und Ethnologie der Sinne zusammenbringe, versuche ich zugleich, einige epistemologische Probleme früherer autoethnographischer Ansätze zu umgehen.13

V ON DER

TRADITIONELLEN FIELDWORK

F ELDFORSCHUNG

ZUR LIVING

Feldforschung oder teilnehmende Beobachtung wird in den methodischen Ausführungen Bronislaw Malinowskis als qualitatives Forschungsverfahren definiert, bei dem die Forschenden über einen längeren Zeitraum hinweg mit den Beforschten zusammenleben, diese beobachten und an ihrer Sozialwelt teilnehmen. Gut 75 Jahre später zeigt Gerd Spittler, dass die Ethnologie in der qualitativen Feldforschung noch einen Schritt weitergehen kann, als von Malinowski gefordert. In seiner Weiterführung der teilnehmenden Beobachtung plädiert Spittler für eine »dichte Teilnahme«, in der vor allem die soziale Nähe zu den Erforschten ausschlaggebend ist.14 Indem so intensiv wie möglich am Leben der Beforschten teilgenommen wird, sei es möglich, komplexe Alltagssituationen besser zu verstehen. Mit seinem Programm einer »Teilhabe am Leben« verfolgt Spittler vor allem das Ziel eines Erlebens der Situationen mit allen Sinnen.15 Die eigene sinnliche16 Erfahrung im Feld sieht er – ungeachtet der Gefahr, Sinnestäuschungen und Fehlinterpretationen zu erliegen – als zentralen Erkenntniszugang. Besonders für eine tiefere Interpretation sozialer

12 Vgl. Malinowski, Argonauten; Spittler, Teilnehmende Beobachtung. 13 Vgl. Atkinson, Rescuing Autoethnography; Bönisch-Brednich, Autoethnografie; Chang, Autoethnography as Method; Ellis/Bochner, Autoethnography; dies., Composing Ethnography; Ellis/Adams/Bochner, Autoethnographie. 14 Vgl. Spittler, Teilnehmende Beobachtung, 19. 15 Vgl. ebd., 20. 16 Sinnlich und sensorisch werden von mir synonym verwendet.

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Phänomene sei das körperliche und seelische Empfinden ausschlaggebend.17 Spittler argumentiert hier durchaus im Sinne der anglo-amerikanischen Anthropology of the Senses.18 Paul Stoller, ein Vertreter dieser Forschungsrichtung sieht schon Mitte der 1980er-Jahre in der sensorischen Erfahrung während der Feldforschung nicht einfach nur eine mögliche Ergänzung zum gewohnten ethnographischen Forschungsprozess, sondern erkennt sie als eine Möglichkeit, Bedeutung jenseits gewohnter Wissenschaftspfade zu erfahren und dadurch ethnographische Darstellungen zu bereichern.19 Auch der Kulturanthropologe David Howes rückt die kulturelle Bedeutung von Sinnen in den Mittelpunkt seiner Arbeit und interpretiert mit Einbezug eines sensorischen Modells den Kula-Gabentausch Malinowskis neu. Er erweitert die Bedeutung des Tauschsystems der Trobriander_innen, indem er die verschiedenen Ritualphasen zueinander in sensorische Beziehungen setzt und u.a. die genderspezifische Bedeutung von Gerüchen und Tönen während der Tauschaktivitäten aufzeigt.20 Kulturelle, sensorische Merkmale, fordert er, sollen von Ethnolog_innen analysiert, in den kulturellen Kontext eingebettet und interkulturell verglichen werden.21 Wie Constance Classen weigert sich auch Howes, das Soziale über das Sinnliche zu stellen. Beiden geht es primär nicht um eine Hierarchisierung, sondern vielmehr darum, wie sich die beiden Konzepte gegenseitig bedingen und Kultur hervorbringen.22 Die Ethnologin Judith Okely weist darauf hin, dass jede Teilnahme im Forschungsfeld immer auch körperliches Engagement mit

17 Das totale Eintauchen in das Forschungsfeld, das Nachvollziehen und Verstehen der Bedeutung sensorischer Wahrnehmungen bei kulturellen Handlungen und deren Auswirkungen auf das leibliche Empfinden, auf den Körper und das Selbst kann allerdings auch mit Spittlers Methode nicht in jedem Fall geleistet werden. 18 Ähnliche Überlegungen stellt Sarah Pink in ihrer Monographie Doing Sensory Ethnography an. Zur Programmatik einer sensorischen Ethnologie vgl. insbesondere auch Classen, Worlds of Sense; Classen/Howes/Synnott, Aroma; Desjarlais, Body and Emotion; Howes, Varieties of Sensory Experience; ders., Sensual Relations; Hsu, The Sense and the Social; Ingold, The Perception of Environment; ders., World of Sense and Sensing the World; Pink, Sensory Ethnography; Stoller, The Taste of Ethnographic Things; ders., Sensuous Scholarship. 19 Vgl. Stoller, The Taste of Ethnographic Things, 9. 20 Vgl. Howes, Sensual Relations, 61–94. 21 Vgl. ebd., 245. 22 Vgl. Classen, Worlds of Sense. Für eine Kritik an Howes‘ Ansatz siehe Ingold, World of Sense and Sensing the World.

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einschließt.23 Die Feldforschenden sind während der Feldforschung immer körperlich und leiblich im Feld anwesend und somit zu jeder Zeit der empirischen Forschungsphase auch subjektiv empfindend und sensorisch wahrnehmend. Die leibliche Erfahrung während der Feldforschung ist unumgänglich, um Kultur im Sinne von Geertz dicht beschreiben und verstehen zu können. Versuche, am eigenen Körper selbst leiblich-kulturelle Fremderfahrungen zu machen, gibt es sowohl in der Ethnologie als auch in der Soziologie. So steigt der französische Soziologe Loïc Wacquant im amerikanischen Ghetto in den Boxring, um die Bedeutung der kulturellen Praxis des Boxens am eigenen Leib zu spüren. Der Kulturanthropologe Robert Desjarlais beschäftigt sich mit der Bedeutung kultureller Kategorien für das Erleben von körperlicher Erfahrung bei Heilritualen der Yolmo Sherpas in Nepal. Er geht dazu bei einem nepalesischen Schamanen in die Lehre und versucht durch eigene Trance-Erfahrungen in die sensorischen Prozesse der Heilpraxis einzutauchen.24 Beiden Ansätzen ist gemein, dass die Forschenden bei den von ihnen Beforschten in die Lehre gehen und zeitweise zum Teil ihres Feldes werden. In meiner Forschung über Hostessen gehe ich ähnlich vor. Ich wende mich allerdings keinem kulturellen Phänomen in der Ferne zu, sondern einem kulturell befremdlichen Phänomen meiner eigenen Gesellschaft. Im Fall meiner konkreten Forschung geht es mir mit der Methode der living fieldwork um ein eigenes Erleben des doing hostess. Ich versuche, die leibliche Auswirkung der Performanz auf (und abseits) der Messebühne nicht nur als Forscherin sondern als Hostess zu erfahren. Dieses methodische Vorgehen hat einen einfachen Grund: körperlich angeeignete Praktiken von der Art, wie Hostessen sie ausüben, verändern das Körperbewusstsein und -empfinden nicht nur während der eigentlichen Performanzphase, sondern wirken – wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann – deutlich darüber hinaus. Da der Handlungsspielraum der Hostessen während ihrer Tätigkeit stark reglementiert und beschränkt ist, ist es besonders wichtig, am eigenen Leib zu fühlen und wahrzunehmen, was es für das Selbst bedeuten kann, in einem solchen Kontext zu agieren. Für meine Studie habe ich daher bei mehreren Messen alle Prozesse – von der Erstellung einer Sedcard über das Casting bis zum Messealltag – selbst durchlebt. Mein Körper war dabei vor allem subjektives leibliches Erfahrungsinstrument. Mein Selbst nutze ich dabei als Ressource. Es ist nicht nur Mittel der

23 Okely, Fieldwork Embodied, 65. 24 Vgl. Wacquant, Body and Soul; Desjarlais, Body and Emotion.

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Informationsaufzeichnung, um das »selbst gesponnene Bedeutungsgewebe«25 zu interpretieren, sondern leibliches Erfahrungsinstrument, das multisensorisch wahrnimmt. Ich versuche, mich nicht nur physisch sondern auch emotional ganz auf das Leben einer Hostess einzulassen.26 Die living fieldwork ist somit nicht nur der Grundstein meiner Methodenvarianz, sondern auch ein methodischer Zugang zu meinen Kolleginnen, um eine totale Nähe zu diesen zu schaffen und als ›Leidensgenossin‹ – im wahrsten Sinne des Wortes – wahrgenommen zu werden. Für diese Forschungsphase ist es zentral, sich von vorgefertigten Meinungen zu befreien, wissenschaftliche Vorprägungen so gut es geht auszuschalten und die reflexive Distanziertheit möglichst erst nach Beendigung der Teilnahme im Feld einzunehmen.27 Das 24-stündige totale Dabeisein und totale Erleben steht im Vordergrund meiner Methode. Im Gegensatz zur Autoethnographie geht es bei der living fieldwork nicht vordergründig um eine poetisch und ästhetisch befriedigende Darstellung meiner persönlichen Erlebnisse im fertigen Text. Stattdessen wird das leibliche Erfahren lediglich als methodisches Vorspiel angesehen. Als ein Vorspiel allerdings, das eine für den weiteren Forschungsprozess unverzichtbare Grundvoraussetzung bildet. Die Methode der living fieldwork ist weder Nabelschau noch Egozentrismus. Mein Selbst als Forscherin wird im fertigen Werk zwar reflektiert und beschrieben, allerdings stellt diese Form von autobiographischer Sichtbarkeit lediglich die unverzichtbare Basis meiner Methode dar, nicht ihren Endzweck. Subjektzentrierte Passagen werden deshalb nur marginal in den letztlich fertigen Text aufgenommen. Dieses methodische Vorgehen grenzt sich deutlich von einem going native ab. Die Rollenübernahme als Hostess wird von mir gezielt als Methode eingesetzt und auf den Zeitraum der Messe begrenzt. Nach der körperlich und leiblich zentrierten Datenaufnahme im Feld, kehre ich wieder in meine Rolle als analysierende und interpretierende Forscherin zurück.28

25 Geertz, Dichte Beschreibung, 9. 26 Äußerlich unterscheidet mich während der Inszenierung tatsächlich nichts von den von mir Beforschten. Lediglich auf einer Metaebene sind meine Motivation und meine Reflexion anders gelagert. 27 Vgl. dazu auch Glaser/Strauss, The Discovery of Grounded Theory. 28 Die Anwendung der Methode war mir – wie bei allen subjektzentrierten Forschungszugängen – nur möglich, weil mir der uneingeschränkte Zugang als vollwertige Akteurin offen stand. Nur das Verfügen über die entsprechenden körperlichen Ressourcen – Geschlecht, Alter, Größe, Gewicht, Textur der Haut usw. – ermöglichte es mir überhaupt, zur Hostess zu werden.

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D AUERLÄCHELN ALS K ÖRPERTECHNIK

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LEIB - TRANSFORMIERENDE

Eine professionelle Hostess lächelt von Beginn der jeweiligen Veranstaltung bis zu deren Ende, ohne Pause. Von außen betrachtet erscheint es erstaunlich, wie es Hostessen gelingt, über einen so langen Zeitraum so monoton zu agieren. Gibt es hierbei eine bestimmte Technik? Und ist das Lächeln dann noch bewusst? Welche Emotionen werden während des Dauerlächelns erlebt? Ist man gar glücklich und zufrieden? Welche Auswirkungen hat das permanente Lächeln auf einen selbst? Dies und vieles mehr sind Fragen, denen ich an dieser Stelle nachgehen möchte. Das auf Dauer gestellte Lächeln der Hostessen ist eine ›Körpertechnik‹,29 die jede Hostess bei der Tätigkeit der Produktpräsentation anwenden soll. Das Dauerlächeln ist dabei eine der körper- und leibverändernden Performanzen, die den typischen Hostessenhabitus30 ausmachen. Hostessen eignen sich diesen Habitus nach einiger Zeit der Hostessentätigkeit selbständig an.31 Das Dauerlächeln, als eine Facette des doing hostess, wird nach der körperlichen Aneignungsphase zu einem körperlichen Leibkönnen, das im Sinne des Wortes ›in Fleisch und Blut‹ übergegangen ist. Diese körperliche Performanz wirkt sowohl auf den physischen Körper als auch auf die Psyche, d.h. die angeeigneten Körpertechniken beeinflussen nicht nur den Umgang mit dem Körper während der Inszenierung, sondern beeinflussen den mentalen, emotionalen, spürbaren und fühlenden Leib und wirken somit über die Dauer der Performanz hinaus. Im Alltag ist ein Lächeln32 mit Emotionen verbunden. Gelächelt wird in Verbindung mit einer Reaktion, meist einer direkten Interaktion. Lächeln ist hierbei mit einem positiven Gefühl verknüpft und mit einer subjektiven Bedeutung besetzt. Zusätzlich ist das Lächeln immer zeitlich begrenzt, je nach Dauer des Blickkontaktes zu einer Person oder der Dauer der Erinnerung. Reines Lächeln ohne Grund über längere Zeit hinweg ist im westlichen Alltag kein adäquates

29 Ich verwende den Begriff nach Marcel Mauss, Die Techniken des Körpers. 30 Der Hostessenhabitus soll hier im Sinne Pierre Bourdieus als Handlungsstrategie, die die Akteur_innen wissen lässt, wie sie sich im Feld der Messe verhalten sollen, verstanden werden. Vgl. Bourdieu, Antworten auf einige Einwände, 403f. Der Habitus bezeichnet dabei »Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken [...].« Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 164f. [Hervorhebung im Original]. 31 Auf mögliche Arten der Aneignung werde ich hier jedoch nicht eingehen. 32 Gemeint ist hier das sogenannte Duchenne-Lächeln, das wirkliche Freude ausdrückt.

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mimisches Verhalten. Das Dauerlächeln ist entsprechend eine Körpertechnik, die sich die Hostess nach und nach aneignen muss und schließlich anwenden kann, egal ob 100 Besucher_innen um sie und das Ausstellungsobjekt stehen und schauen oder nicht. Die mimische Leistung erfordert große schauspielerische Fähigkeiten, denn das Lächeln soll erstens ›echt‹ aussehen und nicht zu einem falschen Grinsen verkommen und zweitens möglichst persönlich wirken. Besonders zu Beginn der Hostessentätigkeit fällt es erfahrungsgemäß ziemlich schwer, grundlos ohne Gegenreaktion zu lächeln. Hilfreich ist es hierbei, anfangs den Blickkontakt mit den Besucher_innen zu suchen. Permanent ist dies jedoch nicht möglich, da erstens die Besucher_innenmassen stark fluktuieren und sich die einzelnen Besucher_innen meist zeitlich sehr begrenzt für die jeweilige Inszenierung interessieren. Zweitens könnte ein zu lange dauernder Blickkontakt auch von den Besucher_innen falsch aufgefasst werden. Drittens ist die Besucher_innenzahl je nach Tageszeit und Messetag sehr unterschiedlich. Gefordert wird aber, permanent zu lächeln, also auch, wenn keine Besucher_innen das Lächeln erwidern oder gar keine Besucher_innen mit der Hostess kommunizieren. Jede_r kennt wahrscheinlich das Gefühl eines künstlich hervorgebrachten kurzen Lächelns. Diese Aktion widerstrebt einem im Normalfall, da das Lächeln hier nicht mit einer positiven Emotion verbunden ist, sondern kurzzeitig bewusst erzeugt wird und nicht mit der gefühlten Emotion übereinstimmt. Ähnliches passiert bei der Aneignung des Dauerlächelns bei Hostessen. Diese versuchen das Lächeln zu inszenieren. Diese mimische Leistung erfordert große Disziplin. »Man lächelt einfach, egal ob man jemanden nett findet oder nicht, man lächelt auch, wenn gar niemand vorbeikommt (...)«.33 Schließlich nach einiger Zeit des Lächelns ist diese Mimik so weit inkorporiert, dass die Hostess das Lächeln gar nicht mehr bewusst wahrnimmt. Die angeeignete Körpertechnik erlaubt also eine Trennung von erlebten und gezeigten Emotionen. »Das Schlimmste ist, wenn man abends daheim in den Spiegel schaut und beim Abschminken bemerkt, dass man immer noch blöd grinst. Wenn einem das bewusst wird, fällt die Mimik ganz schnell zusammen.«34 Keine der Hostessen konnte mir genau erklären, wie dieses inkorporierte ganztägige Lächeln funktioniert. »Man tut es halt einfach, man hat das nach einiger Zeit so drin, dass das einem gar nicht mehr bewusst ist. Man kann das dann einfach einschalten und wieder abschalten«.35 Die Methode der living fieldwork gestattete es mir, mich selbst in die entsprechende Situation

33 Interview mit Petra. 34 Interview mit Marie. 35 Interview mit Petra.

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HOSTESS

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zu begeben und zu spüren, was das künstliche Dauerlächeln mit einem Menschen macht: »Natürlich weiß ich, wie ein Lächeln, ein verführerisches Lächeln, auszusehen hat. Zur Erinnerung muss ich mich nur auf der Messe umblicken und zu meinen Kolleginnen schauen, für die diese Tätigkeit ganz selbstverständlich und automatisch erscheint. Aber Dauerlächeln ohne Interaktion, wie soll das funktionieren? Zu Beginn, gelingt mir der Versuch zu lächeln dennoch nur, indem ich die Gesichtsmuskulatur bewusst anspanne. Für meine gezeigte Emotion gibt es aktuell leider keinen Auslöser, also versuche ich meine Lippen zu einem Lächeln zu formen. Ich fühle mich albern, die Situation wirkt unwirklich, ich versuche mich zu disziplinieren. Schon nach kurzer Zeit verkrampft meine Mundpartie, meine Lippen beginnen von der ungewohnten Anspannung zu brennen. Mein Mund fühlt sich ausgetrocknet an. Das Gebläse viele Meter über mir bläst warme metallisch riechende Luft auf mich herab und unterstützt dieses Befinden. ›Denke an etwas Positives, an etwas Lustiges‹, versuche ich mir stoisch einzutrichtern, aber mir fällt spontan nichts ein – die Absurdität der Situation entlockt mir dann doch noch ein Lächeln, welches ich mit Muskelkraft an meinen Ohren festzutackern versuche. Jetzt muss ich mir nur noch überlegen wem ich mein Lächeln schenke. Die Besucher_innen werden erst in ein paar Minuten in die Halle strömen, also entscheide ich mich fürs erste für einen schönen glänzenden Sportwagen am Nachbarstand, den ich mit meinem lächelnden Blick fixiere und verführerisch anlächle.«36

E MOTIONSARBEIT

UND TACIT KNOWLEDGE

Sobald eine Hostess die Praxis des Dauerlächelns erlernt hat, kann sie diese jederzeit stundenlang anwenden. Die Inkorporation des speziellen Lächelns geschieht unbewusst. In diesem Kontext kann das spezifisch angeeignete Lächeln als Körpertechnik, im Sinne Karl Polanyis als tacit knowledge oder mit Scheper-Hughes als embodied knowlegde bezeichnet werden.37 Jede Hostess hat, sobald sie die Technik des Dauerlächelns erlernt hat, das Wissen inkorporiert, kann dieses aber nicht oder nur schwer verbalisieren. Das Wissen ist in ihrem Körper und kann bei Bedarf abgerufen und reproduziert werden. Es ist jedoch schwer, in Worte zu fassen, wie die entsprechende Körpertechnik letztendlich funktioniert.

36 Feldnotiz. 37 Polanyi, The Tacit Dimension; Scheper-Hughes, Embodied Knowledge.

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Neben angeeigneter Körpertechnik impliziert das Dauerlächeln vor allem Emotionsarbeit. Der Körper wird benutzt, um Gefühle darzustellen, die man nicht empfindet. Mimik und Gestik müssen hierbei den kulturell bedeutsamen Gefühlsnormen angepasst werden. Der Begriff Emotionsarbeit bezieht sich dabei auf das ganze Spektrum des Gefühlshandelns.38 Gefühlsarbeit ist auch bei Hostessen mit einer aktiven Handlung verknüpft, allerdings wird beim Dauerlächeln permanent ein Gefühlsausdruck dargestellt und gezeigt, der (jedenfalls die meiste Zeit) nicht als solcher erlebt wird. Dauerlächeln als berufliche Tätigkeit stellt keine direkte Interaktionsarbeit im klassischen soziologischen Sinne dar. Zwischenmenschliche Interaktion ist hier nicht vordergründig konstitutiv für die Entstehung von Mimik und Gestik der Hostess. Die Interaktion zwischen Messebesucher_in und Hostess ist, im Gegenteil, extrem eingeschränkt. In der Regel reicht sie nicht über einen kurzen Blick hinaus. Eine direkte ›face to face‹-Interaktion wie bei Flugbegleiter_innen gibt es kaum. Hostessen müssen nicht (oder nur sehr selten) auf äußere Reize reagieren. Sie müssen vielmehr dauerhaft monotone Gefühlsarbeit leisten, ohne auf ein Reizreaktionsschema zu reagieren, um hostessenkonform handeln zu können. Während der Tätigkeit des Dauerlächelns erfolgt daher eine Impulskontrolle und -unterdrückung durch die Hostess, die geradezu als paradigmatische Umsetzung von Foucaults Überlegungen zur Disziplinierung des Körpers gelten kann.39

F AZIT .

LIVING FIELDWORK



FEELING HOSTESS

Weite Teile der von mir untersuchten Körperpraxen sind nicht-sprachlicher Natur. Klassische Befragungs- und Beobachtungssettings sind daher wenig geeignet, die komplexen Handlungs- und Emotionsschemata, die in der Tätigkeit des doing hostess aufscheinen, adäquat zu erfassen. Das Sprechen über den sensorischen und emotionalen Status während des doing hostess stellt in jedem Fall eine Abstraktion dar, die eine abstrahierende Sprache voraussetzt. Diese aber steht den Beforschten in der Regel nicht zur Verfügung, da die aufgeworfenen Fragen nicht in ihren Interessenshorizont fallen. Auch entstand häufig eine Diskrepanz zwischen meinem eigenen sinnlichen Erleben und den Aus-

38 Vgl. Hochschild, Das gekaufte Herz, 33. 39 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen.

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HOSTESS

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sagen der befragten Hostessen.40 Die der empirischen Phase zeitlich deutlich nachgeordnete Interpretationsarbeit vermag hier Bedeutungsstrukturen freizulegen, die in der Vorstellungswelt der Beforschten keine verbalisierte (oder auch nur verbalisierbare) Entsprechung haben. Die Möglichkeit, Hostessen überhaupt zu ihrer Tätigkeit zu interviewen oder zu befragen ist überdies durch die Tatsache stark beschränkt, dass diese als muted group41 vertraglich an eine Schweigeklausel gebunden sind. Dies stellt einerseits ein Problem für meine Forschung dar, da mir viele meiner Gesprächspartnerinnen im Feld aus verständlichem Grund immer wieder Interviewanfragen abschlägig beantworteten. Es unterstützt aber zugleich mein Plädoyer für die verstärkte eigene Teilnahme im Feld. Durch diese geriet ich zwar selbst offiziell unter die vertragliche Schweigepflicht, doch erhielt ich dadurch den Zugang zum Feld nicht nur als Forscherin sondern auch als Kollegin – mit der man ganz anders sprach als mit einer ›Outsiderin‹.42 Indem ich darüber hinaus durch ein ›feeling‹ des doing hostess beispielsweise auch die Auswirkungen des Dauerlächelns am eigenen Körper erlebt habe, erfahre ich das sprachlich nur schwer zu Vermittelnde am eigenen Leib. Diese selbsterlebte totale Erfahrung als Hostess ist für mich der Schlüssel zur Dechiffrierung der kulturellen und leiblichen Bedeutung des doing hostess.43 Living fieldwork ist also eine Methode, mit der leibliche Erfahrungen am und im Körper selbstreflexiv für die ethnographische Untersuchung fruchtbar gemacht werden können. Ihr Hauptanliegen ist dabei nicht, die Erlebnisse während der Forschung in einen ich-gesättigten autoethnographischen Text zu überführen, sondern durch die tiefe Erfahrung einen emischen Zugang zur Lebenswirklichkeit der Beforschten zu erhalten und so kulturell beeinflusste sensorische Dynamiken an Leib und Körper besser verstehen zu können.

40 Dies wurde mir jedoch erst richtig bewusst, nachdem ich selbst als Hostess ins Feld gegangen bin, meine eigene Erfahrung im Feld analysiert habe, und diese in den Interviews zur Sprache bringen konnte. 41 Ardner, The Problem Revisited, 21. 42 Meine Kolleginnen wissen immer von meiner Forschung, die Automobilkonzerne und Agenturen wissen nur in Ausnahmefällen davon. 43 Diese Erfahrung deckt sich mit den Befunden anderer Ethnolog_innen, so etwa: Spittler, Teilnehmende Beobachtung; Stoller, The Taste of Ethnographic Things.

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Das ›erlernte‹ Tasten der Lakandon Maya Zur Erfassung der Tortillazubereitung durch das Konzept skilled touch P ETRA P ANENKA

In vielen Kochpraktiken nimmt das Tasten eine zentrale Rolle ein. Die verschiedensten Beschaffenheiten von Nahrungsmitteln, Arbeitsflächen und Kochutensilien werden durch die haptische Wahrnehmung vermittelt. Dies gilt auch für die Lakandon Maya im Bundesstaat Chiapas im Süden von Mexiko, bei welchen das Zubereiten von Tortillas zu den wichtigsten alltäglichen Kochpraktiken der Frauen gehört. Im Rahmen meiner Feldforschung beobachtete ich, wie die lakandonischen Frauen auf das Maisteigbällchen klopften, um eine Tortilla zu formen. Dabei hielten sie ihre Finger gerade und berührten den Maisteig nicht zu lange. Das weckte mein Interesse an der haptischen Wahrnehmung bei dieser Kochpraktik. Im Rahmen dieses Artikels nutze ich die Kochpraktiken der Lakandon Maya als Schlüssel für folgende Fragen: Inwieweit wird das Tasten im Rahmen einer Praktik geformt und erlernt? Wie kann dieses ›erlernte‹ Tasten bestmöglich durch wissenschaftliche Beschreibung erfasst werden? Basierend auf den Konzepten skilled practice von Tim Ingold und skilled vision von Cristina Grasseni erarbeite ich in diesem Artikel hierfür ein weiteres Konzept: nämlich das Konzept skilled touch. Grasseni folgend argumentiere ich, dass der Tastsinn, ebenso wie der Sehsinn, geschult werden kann und demnach auch ein ›erlerntes‹ Tasten beschrieben werden kann. Im Ausführen der Praktiken interagieren die einzelnen Sinne miteinander. Auf diese Weise entsteht in der körperlichen Bewegung nicht nur eine neue sinnliche Qualität, sondern auch etwas, das durch bisherige anthropologische Konzepte nicht hinreichend erfasst werden konnte. Skilled touch ergibt sich, meiner Felderfahrung zufolge, wenn Bewegungswissen und Wahrnehmungen so koordiniert werden, dass der Tast-

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sinn verstärkt wird. Mein neues Konzept versucht anhand der Tortillazubereitung bei den Lakandon Maya die Praktik besser als bisherig bestehende Konzepte zu beschreiben, dies soll aus Folgendem deutlich werden.

T ASTSINN ,

SKILLED PRACTICE UND SKILLED VISION

Mit dem Aufkommen der Anthropologie der Sinne in den 1980/90er-Jahren in der Ethnologie wurde auch das westliche Fünf-Sinne-Modell und die Hierarchisierung der Sinne, welche den Tastsinn an die letzte Stelle rückt, einer Kritik unterzogen. Die Anthropologie der Sinne lenkte das Forschungsinteresse auf Bedeutung, Anwendung und kulturelle Ordnungen der Sinne.1 Die Forschung ergab, dass sich sowohl Alter, Geschlecht sowie der jeweilige kulturspezifische Kontext auf sinnliche Erfahrungen auswirken und diese auch individuell angeeignet bzw. verändert werden können. Sinnliche Erfahrungen können damit als heterogen und in stetiger Interaktion mit der umgebenden Welt beschrieben werden.2 Sensorische Modelle helfen die Komplexität dieser Erfahrungen in ihrer Beschreibung zu vereinfachen, zumal auch innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Beschreibungsmodelle parallel auftreten können.3 Im Zuge des wissenschaftlichen Diskurses über verschiedene Einteilungen der Sinne4 sowie ethnographischer Forschungen wurde auf die Komplexität und Wichtigkeit des Tastsinns immer wieder hingewiesen. Constance Classen vereint in ihrem umfangreichen Sammelband The Book of Touch sowohl Beiträge über den Tastsinn, seine kontextgebundenen und komplexen Bedeutungen, als auch spezielle Anwendungsgebiete der haptischen Wahrnehmungen. Trotzdem fehlt hier der Vollständigkeit halber ein wissenschaftliches Konzept, welches das spezifisch angeeignete Tasten, wie es z.B. bei der Tortillazubereitung der Lakandon Maya zur Anwendung kommt, umfassend beschreiben könnte. Feeling, Rhythmus und skilled practice In seinem berühmten Aufsatz über Körpertechniken beschreibt Marcel Mauss wie sich der Mensch körperliche Bewegungen durch wiederholtes Ausüben an-

1

Vgl. Classen, Worlds of sense; Feld, Sound and sentiment; Howes, Varieties of sensory experience; Synnott, The body social.

2

Vgl. Beer, Boholano Olfaction, 153.

3

Vgl. Howes, Empire of the Senses, 11; Beer, Boholano Olfaction, 153.

4

Vgl. Howes, Introduction; Keifenheim, Wege der Sinne.

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eignet. Ähnlich werden Tim Ingolds skilled practices meist über einen längeren Zeitraum hinweg erlernt und sind das Ergebnis einer sogenannten Lehrzeit. Es sind erlernte Praktiken, die durch die Verbindung und Koordination von Bewegung und Wahrnehmung zu einem spezifischen Bewegungsablauf bestimmt sind. Damit aus einem Bewegungsablauf eine skilled practice wird, reicht es aber nicht aus, die Bewegungen lediglich mehrmals zu wiederholen. Vielmehr muss sich bei den Ausführenden durch die wiederkehrenden Bewegungen ein feeling für den Bewegungsablauf, für die Materie und das Umfeld einstellen. Auf diese Weise entsteht ein Rhythmus des Bewegungsablaufs, der zentral für das Verständnis der skilled practice ist. Leroi-Gourhan folgend argumentiert Ingold, die rhythmic quality sei ein Merkmal des fließenden Bewegungsablaufs. In einer fluent performance sind somit Bewegung und Wahrnehmung so miteinander verbunden, dass sich ein feeling für den rhythmischen Bewegungsablauf einstellt: »For there to be rhythm, movement must be felt. And feeling lies in the coupling of movement and perception that, […], is the key to skilled practice.«5 Die fluent performance wird zudem durch eine sich verändernde und variierende Rhythmik charakterisiert, sodass auch die rhythmischen Bewegungsabläufe und die notwendige Konzentration für etwaige Veränderungen von erfahrenen Ausübenden bei skilled practices berücksichtigt werden können.6 Ingold veranschaulicht diesen Gesamtzusammenhang immer wieder an seinem bekannten Beispiel des Schreiners, der ein Brett sägt. Dabei verweist er darauf, dass der neue Schreinerlehrling noch nicht die Unterschiede zwischen den einzelnen Streichen mit der Säge erkennt und somit kein perfekter Schnitt gelingen kann. Jeder Streich fühlt sich für ihn gleich an. Ein erfahrener Schreiner dagegen hat ein feeling für das Material, das Werkzeug und das ihn umgebende Umfeld. Voller Konzentration korrigiert er für jeden Streich seine Körperhaltung und koordiniert bewusst seine Bewegungen und Wahrnehmungen. Auf diese Weise gelingt ihm ein perfekter Schnitt.7 Das feeling und die sich dadurch einstellenden rhythmischen Sägebewegungen sind somit zentraler Bestandteil für das Gelingen von skilled practices. Skilled vision Das Konzept skilled vision von Cristina Grasseni baut auf Tim Ingolds Überlegungen zu Bewegung und skilled practice auf und stellt im Besonderen den

5

Ingold, Being alive, 60 [Hervorhebung im Original].

6

Vgl. ebd., 58–61.

7

Vgl. ebd., 58.

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erlernten Blick heraus.8 Grasseni beschreibt skilled vision als »embedded in multi-sensory practices, where look is coordinated with skilled movements, with rapidly changing points of view, or with other senses, such as touch«.9 Vision ist hierbei nicht als rein visuelle Wahrnehmung oder als ›einfacher‹ Blick zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um Blicke, die in einer kulturellen Umgebung durch Sozialisation geformt und in spezifischen Kontexten angeeignet werden. Der so erlernte Blick beeinflusst nicht nur das Beziehungsgefüge zueinander, er ist auch in die Dynamiken des sozialen, materiellen und ökologischen Umfelds eingebettet. »Skilled vision, once acquired, are not so much codes, or tools for actively manipulating messages, as much as backgrounds and scenarios that make those messages meaningful«.10 Diese Umfelder oder Hintergründe verleihen neu erhaltenen Informationen Bedeutung, die der spezifisch angeeignete Blick neu verorten und bedeutungsvoll machen kann.11 Grasseni beschreibt das an einem Beispiel, in dem Kinder von italienischen Viehzüchtern mit Spielzeugkühen spielen. Die Spielzeugkühe sind exakte Nachbildungen von echten Rassekühen. Die gezüchteten Rassemerkmale der echten Kühe werden von den Kindern im Spiel durch die Anwendung des im Umgang mit dem Wissen über die Rassekühe erlernten Blicks auch bei den Spielzeugkühen als besonders schön beurteilt. So werden während des Spielens optische Merkmale der Spielzeugkühe durch den erlernten Blick im Gesamtkontext der ästhetischen Zuchtmerkmale von Rassekühen verortet und erhalten dort ihre spezifische Bedeutung.12 In diesem Zusammenhang verweist Grasseni auch auf den erlernten Blick als hegemonial gegenüber anderen Sinnen oder sogenannten skilled movements.13 Ihr Konzept der skilled vision soll, wie das erste Beispiel zeigen wird, nun auf Ernährungspraktiken angewendet werden. Zur besseren Unterscheidbarkeit möchte ich ihr Konzept mit meinem des skilled touch im anschließenden Beispiel kontrastieren.

8

Vgl. Grasseni, Good Looking.

9

Grasseni, Introduction, 4.

10 Ebd., 11. 11 Vgl. ebd., 9–11. 12 Grasseni, Good Looking, 59–62. 13 Vgl. ebd., 59–64.

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D IE L EHRE

ALS

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S CHLÜSSEL ZUM E RLERNEN

Zur Erforschung von skilled practices, skilled vision wie eines skilled touch eignet sich besonders die Methode der ›Lehre‹, im Englischen als apprenticeship bezeichnet.14 Dadurch erschließen sich den Forschenden die von den Informant_innen oft für selbstverständlich gehaltenen, räumlichen Aufteilungen und konkreten Ordnungen von Gegenständen. So ist beispielsweise in einer lakandonischen Küche auf den ersten Blick nicht ersichtlich, dass das gemeinsam untergebrachte Geschirr streng nach Kernfamilien innerhalb eines Haushalts sortiert ist. Erst durch das Erlernen des richtigen Geschirreinräumens und Verteilens erhält ein apprentice Einblick in die Zusammenstellung der Gegenstände.15 Zudem können durch das Ausführen von Praktiken mit dem eigenen Körper sinnliche Eindrücke und körperliche Erfahrungen gewonnen werden. Diese können eigene Grenzen aufzeigen und neue, eng mit der Praktik verwobene und schwer verbalisierbare Fragen aufwerfen. Die eigenen sinnlichen und körperlichen Erfahrungen sind vor allem in ethnographischen Arbeiten von hoher Relevanz und erfordern z.B. eine dichte Teilnahme, wie Spittler im gleichnamigen Artikel beschreibt. Schon zu Beginn der Anthropology of the Senses verweist Stoller auf ein Sensuous Scholarship16 der Forschenden im Feld und gegenwärtig fordert Sarah Pink in Doing Sensory Ethnography eine Disziplinen übergreifende Etablierung der sinnlichen Ethnographie. Für meine eigene Lehrzeit bei den Lakandon Maya erwies sich als besonders interessant, wie David Sutton die Weitergabe von practical knowledge am Beispiel des Kochens situiert. Hierbei greift er die Einteilungen des Raumes und der Gegenstände und das Lernen durch die Ausführung einer Tätigkeit auf. Er zeigt aber auch, dass beim Zubereitungsprozess das Beobachten eine zentrale Rolle einnehmen kann. Das veranschaulicht er am Beispiel, in dem in Griechenland die Mädchen ihre Mütter bei der Zubereitung der Mahlzeiten nur zu beobachten scheinen. Bis sie eines Tages für die Mutter einspringen und das Gericht ohne Hilfe zubereiten.17 Die fortlaufenden Prozesse der Zubereitung bezeichnet Sutton als doing cooking18 und die Lehrzeit als embodied apprenticeship19. Die in diesem Beitrag diskutierten Beispiele, versuchen begrifflich zu

14 Vgl. Coy, Apprenticeship. 15 Vgl. Keller/Dixon Keller, Cognition and tool use, 60–76, 86–88. 16 Vgl. Stoller, Sensuous scholarship, xv. 17 Vgl. Sutton, Remembrance of Repasts, 137. 18 Vgl. ebd., 125–141. 19 Vgl. ebd., 134–135.

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fassen, wie die lakandonischen Frauen bei bestimmten Praktiken das doing cooking durch den Fokus auf den Seh- oder Tastsinn erlernen, was Grasseni als skilled vision und ich in Anlehnung daran als skilled touch bezeichnen möchte. Sutton folgend handelt es sich auch bei meinem Konzept um fortlaufende Prozesse rund um die Zubereitung von Speisen, die im Rahmen einer spezifischen Lehre, mit Suttons Worten als embodied apprenticeship, erlernt werden. Während mehrerer Feldforschungsaufenthalte für mein Dissertationsprojekt ging ich von 2010 bis 2012 in verschiedenen Haushalten ›in die Lehre‹. Bei den Lakandon Maya wird das Kochen oft als eine Arbeit der Frauen beschrieben20, doch in der Praxis trifft das meist nur auf die Tortillazubereitung zu. Dennoch halten sich die Frauen tagsüber meistens in der Küche auf. Diese befindet sich stets separat vom Wohnhaus und wird immer noch meist aus Holz errichtet. Die meisten Arbeiten in der Küche werden auf einem größeren, hüfthohen Arbeitstisch erledigt. In einer Ecke steht der lakandonische Herd, der aus drei Steinquadern besteht, die U-förmig angeordnet sind. Auf ihnen ruht ein Eisengitter mit dem comal, einer niedrigen Pfanne aus Ton oder eine Metallplatte. Für die Lakandon Maya gehört zu der Küche auch der unmittelbare Außenbereich um die Küche herum. Dort leben ihre Hühner und die Frauen züchten hier ihr Gemüse. Die Küche ist mit ihrem Innen- und Außenbereich das Zentrum des familiären Lebens, in welches die Kochpraktiken oft integriert sind. Zum Erlernen der Tortillazubereitung bereitete ich drei Monate lang in einem Haushalt täglich mit den lakandonischen Frauen zusammen Teig und Tortillas zu. Im Laufe der Zeit begannen sich mein Körper und meine Sinne an die für mich neuen Bewegungen und Wahrnehmungen zu gewöhnen. Meine haptische Wahrnehmung wurde feinfühliger gegenüber den verschiedenen Maisteigmassen, abhängig von der Art des Mahlens des Maiskorns selbst oder der Teigmischungen, wie z.B. Maisteigmasse mit Maniok.

SKILLED VISION BEIM

ANRÜHREN

DER

ANNATTOPASTE

Für die Zubereitung eines Hühnereintopfes pollo en caldo wird unter anderem Annattopaste benötigt, um das helle Hühnerfleisch und die Brühe tiefrot zu färben.21 In diesem ersten Beispiel geht es um das Anrühren dieser Paste, die bei

20 Vgl. McGee, Watching Lacandon Maya lives, 76. 21 Durch Annattopaste verändert sich die Farbe des Hühnerfleischs von weiß zu rot, was das Hühnerfleisch symbolisch zu einem echten Fleisch bäk transformiert. Für die Lakandon Maya verfügt das Hühnerfleisch aufgrund seiner roten Farbe dann über

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den Lakandon Maya kuxu’ heißt. Diese Kochpraktik der Lakandon Maya lässt sich besonders gut mithilfe von Grassenis Konzept der skilled vision erfassen. Denn beim Anrühren der Paste wird das hegemoniale, erlernte Sehen mit der haptischen Wahrnehmung koordiniert, ähnlich wie Grasseni dies bei italienischen Viehzüchtern beobachtet hatte.22 Indem zuerst das Konzept der skilled vision anhand dieses Beispiels veranschaulicht wird, sollen in weiterer Folge die Unterschiede zum Konzept des skilled touch besser zu Tage treten. Kuxu’ muss ne chäk sein! Während meiner Feldforschung 2011 begann die Informantin Dona Eloisa23 in einer kleinen getrockneten Kürbisschale aus einem eingekochten Annattostück die Paste anzurühren. Ich fragte sie, woher sie wüsste, wie lange die Annattopaste angerührt werden müsse. Sie meinte, das sähe man an der Farbsättigung. Es sei ne chäk, d.h. sehr rot. Dann sei die Paste richtig angerührt worden, weshalb es später im Hühnereintopf nicht flocken würde. In vielen anderen Haushalten beobachtete ich jedoch später, wie die Frauen auch immer die Konsistenz ertasteten. Doch auch sie bestätigten nur wieder, dass sie nicht nur die Farbe sondern auch die Konsistenz sehen konnten. Daraufhin begann ich bei verschiedenen Familien die Annattopaste selbst anzurühren. Beim Anrühren der Paste wurde zuerst die höchst mögliche Farbsättigung erreicht. Erst danach änderte sich die Flüssigkeit, indem sie dickflüssiger und sämiger wurde. Was die Informantin Dona Eloisa als das Sehen der sehr roten Farbe bezeichnete, beinhaltete nicht nur das Sehen alleine, sondern auch zumindest den haptischen Sinn ter-ik, der hier durch den Sehsinn mit ausgedrückt wird.

mehr Energie. Sie assoziieren die Farbe Rot mit der Sonne, der Hitze, dem Blut, ihrer wichtigsten Gottheit Hachäkyum sowie Sexualität aber auch mit Krankheit. In der Mythologie wird vor allem die Verbindung zwischen der Farbe Rot und Hitze bzw. Blut hergestellt, da diese beiden Elemente den menschlichen Körper lebendig machen, also Energie verleihen. Diese Konnotation lässt erkennen, wie die Veränderung der Fleischfarbe mit einer Steigerung der Energie des Hühnerfleischs verbunden ist. Vgl. Bruce, Lacandon Maya dream symbolism; Vargas Melgarejo, Los colores lacandónes. 22 Grasseni, Good Looking, 64. 23 Name der Informantin wurde geändert.

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Abbildung 1: Beim Anrühren der Annattopaste

Quelle: Petra Panenka, Nahá, 08.08.2011

Tasten und Anrühren der kuxu-Paste Wie das Beispiel des Anrührens der kuxu’-Paste zeigt, wird die Annattopaste mit erfahrenen Handbewegungen angerührt. Zum Gelingen der Annattopaste trägt aber auch das Sehen auf spezifische Art und Weise bei. Das liegt meinem Erachten nach in der Bedeutung des Sehsinns wir-ik. Die Lakandon Maya beschreiben visuelle Wahrnehmungen auch als das Verstehen von Formen, Farben und Größen.24 Das Sehen gilt als aktiver Sinn. So schreiben auch die heutigen yukatekischen Maya dem Sehen eine »handelnde Qualität«25 zu. Diese Bedeutung des Sinns geht teilweise bis zu den klassischen Maya zurück. Bereits dort wurde das Sehen als beeinflussend wahrgenommen. So halten Houston, Stuart und Taube fest: »The eye is procreative. It not only receives images from the outer world, but positively affects and changes that world through the power of sight.«26 Ein Blick hat demnach verändernde Wirkung auf das Umfeld.

24 Vgl. Bruce, Lacandon Maya dream symbolism; Vargas Mergalejo, Los colores lacandónes. 25 Hanks, Referential practice, 89. 26 Houston/Stuart/Taube, The memory of the bones, 167.

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Im vorhin beschriebenen Fall verändert sich durch den erlernten Blick einer lakandonischen Frau die Konsistenz der Annattopaste. Dabei wird besonders der Tastsinn ter-ik miteinbezogen. So wird in dem Beispiel die richtige Konsistenz nicht nur durch die Farbsättigung gesehen, sondern auch ertastet. Jüngere Frauen fragen dabei oft die älteren und erfahreneren Frauen um Rat, ob diese das kuxu’ als sämig genug erachten. Ein ebenso wichtiger Bestandteil der skilled vision sind die über die Jahre angeeigneten Handgriffe und erlernten Bewegungen, die Grasseni skilled movements27 nennt. Diese sind mit dem erlernten Blick und anderen Sinnen, besonders dem Tastsinn verknüpft. Um einen geübten Blick auf die Annattopaste zu werfen, drehen sich die Lakandon Maya Frauen ganz selbstverständlich zum Licht, rühren langsamer, damit die Konsistenz besser sichtbar wird. Ebenso reiben sie die Paste zwischen den Fingern und lassen sie aus ein paar Zentimetern Höhe in die Kürbisschale tropfen, damit sie die Sämigkeit sehen können. Bei älteren, trockenen Annattostücken wird das Stück während des Anrührens abgetastet, um herauszufinden, ob es porös geworden ist. Denn ein zu brüchiges, poröses Stück wäre bereits zu alt und gäbe nur wenig sämige rote Annattopaste, die zudem später im Hühnereintopf flocken würde. Für die Beschreibung der Anrührpraktik der Annattopaste scheint das Konzept der skilled vision sehr gut geeignet zu sein, denn es ermöglicht, die Anwendung und Bedeutung des erlernten Blicks mit dem Tastsinn sowie den Bewegungsabläufen zu erfassen. Vermittelte und entschlüsselte Nachrichten, wie hier die richtige Sämigkeit und die inhärenten Bedeutungen des Sehsinns können in den Gesamtkontext der Anrührpraktik gesetzt werden. Dort ist es der spezifische Blick, der neue Bedeutungen verleiht. Grassenis Konzept der skilled vision übertrage ich nun am Beispiel der Tortillazubereitung auf den Tastsinn ter-ik, so dass der Fokus vom hegemonial erlernten Blick auf das ›erlernte‹ Tasten verlagert wird.

SKILLED TOUCH BEI DER

T ORTILLAZUBEREITUNG

DER

L AKANDON M AYA Der zentrale Unterschied zwischen skilled vision und skilled touch besteht also zunächst darin, welcher Sinn spezifisch geschult wird. Im folgenden Beispiel möchte ich zeigen, wie der Tastsinn durch das Tortillazubereiten geformt und geschult wird. Zudem wird der Tastsinn im Gegensatz zum Sehsinn gemeinhin

27 Grasseni, Introduction, 4.

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als Nahsinn bezeichnet. Dies hat zur Folge, dass die als unmittelbarer empfundenen haptischen Wahrnehmungen sich auch in ihren Charakteristika und Qualitäten deutlich von visuellen Wahrnehmungen unterscheiden. Wie das Beispiel der Tortillazubereitung zeigen wird, ist die Nähe und der direkte Kontakt mit der Materie ein zentrales Merkmal des skilled touch. Darüber hinaus veranschaulichen die Ausführungen, dass das erlernte Tasten, im Gegensatz zum erlernten Sehen nicht als dermaßen hegemonial besetzt bezeichnet werden kann. Baik a päkach wah?28 Die Praktik der Tortillazubereitung heißt bei den Lakandon Maya päkach wah und gehört zu den wichtigsten täglichen Arbeiten der Frauen. Dabei unterscheiden die Lakandon Maya zwischen hach wah, den selbstgemachten Tortillas aus Mais, und wah, den Tortillas aus Maismehl, die heute sehr viel verbreiteter sind.29 Im Folgenden geht es um die Zubereitung der hach wah. Für die Vorbereitung der Teigmasse masa werden die Maiskörner zuerst vom Kolben gelöst und dann gewaschen. Meist bleiben die Körner über Nacht in einem großen Topf und werden am Morgen des Folgetages gleich als erstes zum Kochen aufgesetzt, da sie mindestens acht Stunden gekocht werden müssen. Anschließend werden sie in einer Mühle einmal gemahlen. Dabei entsteht die noch recht grobkörnige Maismasse säkpet, die verpackt für einige Zeit aufbewahrt werden kann. Für die Zubereitung der hach wah muss das säkpet erneut gemahlen werden, damit die feinere Teigmasse masa entsteht. Aus dieser werden auf einem hüfthohen Holztisch auf einem rechteckig zugeschnittenen Bananenblatt oder ersatzweise einer Plastikfolie mit den Handflächen große, runde Tortillas geformt.30 Anschließend werden die Tortillas auf dem comal gebacken.

28 Lakandonisch für »Was ist päkach wah?«. Päkach wah lässt sich aus dem Lakandon Maya am besten als Tortillas machen übersetzen. 29 Beobachtungen des Maiskonsums und Maismehlkonsums im Dorf Nahá zufolge aus den Jahren 2010–2012. 30 Vgl. McGee, Watching Lacandon Maya lives, 65–67.

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Abbildung 2: Tortillazubereitung ›päkach wah‹

Quelle: Petra Panenka, Feldforschung 2010

In meiner ›Lehrzeit‹ im Frühjahr 2010 wurde ich mit einem »Hier, mach mal!« erstmal mir selbst überlassen. Kurze Zeit später hatte ich die Hälfte des Teigbällchens für die Tortilla an meinen Händen kleben und der Rest bildete eine unförmige kleine Tortilla. Etwas ungläubig beobachteten die Frauen um mich herum meine Unfähigkeit und korrigierten geduldig in den folgenden Wochen immer wieder meine Fehler. Die haptische Wahrnehmung wurde kaum verbal erwähnt und ist auch nur ein Teil der ganzen Praktik des päkach wah. Zu dieser gehört auch die richtige Körperhaltung. Dabei steht die Frau nur wenige Zentimeter von dem hüfthohen Arbeitstisch entfernt. Mit den geraden Beinen sorgt sie für ein besseres Gleichgewicht des Körpers. Den Oberkörper hält sie während dem päkach wah stets gerade und bewegt ihn aus der Hüfte heraus mit regelmäßigen Wippbewegungen vor und zurück. So stellt sich durch das wiederholte Wippen des Oberkörpers ein rhythmischer Bewegungsablauf ein. Die Tortilla wird geformt, indem der Druck aus den rhythmischen Wippbewegungen heraus von den Schultern in die Arme und schließlich auf die Hände übertragen wird. Mit diesen klopft man auf das Maisteigbällchen. Das gleichmäßige klopfende Geräusch erfüllt für diese Zeit den Raum. Die visuelle Wahrnehmung unterstützt während des ganzen Arbeitsprozesses das Formen und das Einschätzen, ob der Tortillateig zu trocken geworden ist. Abschließend wird der noch ungleichmäßige Tortillarand durch das Anheben des Bananenblatts von der Blattaußenseite her mit ausgestreckten Fingern festgedrückt.

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skilled touch und päkach wah Wie Grasseni schon über skilled vision schreibt, so ist auch skilled touch das Ergebnis eines Lernprozesses, indem der jeweilige Sinn in einer bestimmten Situation immer wieder angewendet und geformt wird. Skilled touch ist im Falle des päkach wah ein ›erlerntes‹ Tasten, das stets mit rhythmischen Bewegungsabläufen abgestimmt wird und in enger Verbindung mit anderen Sinnen steht. Dies gilt besonders für den lakandonischen Gefühlssinn kin(w)-ik und den Hörsinn wuy-ik. Die Schulung des Tastens ist in der Praktik päkach wah zentral. Obwohl er ein wichtiger Bestandteil der Tortillazubereitung ist, heben die Frauen der Lakandon Maya die Relevanz des Tastsinns ter-ik nicht verbal hervor. Sie weisen jedoch während der Zusammenarbeit ihre Töchter von klein auf mit Gesten an, die Finger gerade zu halten. Wie Leroi-Gourhan bereits feststellte, entfaltet sich eine Hand erst vollständig durch das, was sie macht.31 Darauf aufbauend spricht Tim Ingold von skilled hands. Diese entwickeln sich für ihn als ein Teil der skilled practice in der langjährigen Praxis durch das Zusammenspiel von Bewegung und feeling.32 Anstatt das Maisteigbällchen auf einem Bananenblatt oder ersatzweise einer großen Plastikfolie zu verstreichen, wird es von den lakandonischen Frauen mit den ausgestreckten Fingern zu einer Tortilla in Form geklopft. Auf diese Weise erwärmt sich der Maisteig nicht und bleibt nicht an den Fingern kleben. Darüber hinaus erlaubt das erlernte Tasten ter-ik den Frauen während des Formens der kreisrunden Teigfladen zu beurteilen, ob die Tortillas insgesamt angetrocknet sind. Ist das der Fall, wird die bearbeitete Tortilla mit etwas Wasser benetzt, damit ihre Oberfläche wieder geschmeidig und leicht zu klopfen ist. Auf diese Weise trägt die erlernte Beurteilung der haptischen Wahrnehmungen maßgeblich zum Einschätzen der Temperatur, Oberflächenstruktur und Konsistenz der Teigmasse bei. Das Tasten wird beim päkach wah sehr eng mit wuy-ik, dem lakandonischen Hörsinn und kin(w)-ik, dem lakandonischen Gefühlssinn koordiniert. Erfahrene Frauen beschreiben den Klang des gleichmäßig klopfenden Geräusches als zusätzlich unterstützend bei der Tortillazubereitung. Denn die akustischen Wahrnehmungen beim päkach wah ermöglichen es den Frauen, die Tortillazubereitung im Gesamtkontext zu verstehen. Das liegt an der Bedeutung des Hörsinns wuy-ik, der neben dem Hören auch das Verstehen mit einschließt. In einer oralen Kultur wie jener der Lakandon Maya ist der Sinn wuy-ik in dieser

31 Vgl. Leroi-Gourhan, Gesture and Speech, 240, zit. in: Ingold, Being alive, 57. 32 Vgl. Ingold, Being alive, 58.

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zweifachen Bedeutung für die alltägliche Wissensvermittlung und Verständigung genauso zentral wie für die Kommunikation in rituellen Kontexten. Einige Lakandon Maya erklärten es auch als ›Kontexte von bestimmten Situationen erfassen‹ oder ›den Inhalt des Gesagten verstehen‹. Für die Praktik des päkach wah bedeutet dies, dass der rhythmische Klang den lakandonischen Frauen hilft, die Praktik als Ganzes zu verstehen und bewusst auszuüben. Bei jeder rhythmischen Wippbewegung ändert sich das klopfende Geräusch und unterstützt so ihre Konzentration. In diesem achtsamen Zustand interagieren sie mit dem kin(w)-ik, dem lakandonischen Sinn für das innere Fühlen. Kin(w)-ik ist ein sehr interessanter Sinn. So kennen viele Mayaethnien kein Wort, das explizit fühlen bedeutet.33 Die Lakandon Maya verwenden kin(w)-ik daher vielmehr für die Bezeichnung eines inneren Fühlens. Nach der lakandonischen Vorstellung bündelt dieser Sinn die wahrgenommenen und gefühlten Kräfte im Körper eines Menschen. In diesem Zusammenhang ist das emische Konzept pixan wichtig, das Lebenskraft‚ göttliche Kraft, Herz oder Zentrum des ganzen, lebenden Körpers bedeutet.34 In der Vorstellung der Lakandon Maya muss das pixan ausgeglichen sein, damit eine Person eine Tätigkeit gut ausführen kann. Das bedeutet, wenn eine lakandonische Frau ein ausgeglichenes pixan hat, dann fühlt sie sich innerlich gut. In diesem Zustand fällt es ihr leicht, ihre ganzen Kräfte zu mobilisieren und sich auf die Ausführung ihrer Arbeit zu konzentrieren. Damit also die Tortillas gelingen, benötigt eine lakandonische Frau ein ausgeglichenes pixan. Denn nur wenn sie sich innerlich gut fühlt und sich mit ihren ganzen Kräften der Praktik des päkach wah widmen kann, werden die Tortillas richtig rund und gehen dann beim Backen auf dem comal auf. Das kin(w)-ik entspricht somit weitestgehend dem was Ingold als feeling bezeichnet. Das feeling ist aber bei den Lakandon Maya durch seine Verbindung zum pixan auf das spirituelle Umfeld erweitert. Bei der Tortillazubereitung sind kin(w)-ik, wuy-ik und ein ausgeglichenes pixan wichtig, um in einen rhythmischen Bewegungsablauf zu finden und ihn zu halten. Dabei führt jede einzelne rhythmische Wippbewegung des Oberkörpers über die Schultern und Arme zu den Händen. Damit bestimmt der Rhythmus des Bewegungsablaufs, wie lange die Finger die Tortilla jeweils berühren. Auch die

33 Vgl. Houston/Stuart/Taube, The memory of the bones, 139–141. 34 Vgl. Boremanse, Hach Winik, 91. Für die Lakandon Maya gibt es wie für viele Mayaethnien eine sichtbare und eine unsichtbare Welt. Das pixan ist auch der Teil eines Menschen, der in die unsichtbare Welt reisen kann. Vgl. Boremanse, Hach Winik, 91; Bruce, Lacandon Maya dream symbolism; Vargas Melgarejo, Los colores lacandónes.

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Kraft, um die Tortillas in Form zu klopfen, kommt aus den körperlichen Wippbewegungen. Grasseni nennt diese Art von erlernten Bewegungsabläufen skilled movements. Die Sinne kin(w)-ik, wuy-ik und das ausgeglichenen pixan werden dabei mit den skilled movements koordiniert und unterstützen so stets das Tasten. Tim Ingold hält im Zusammenhang mit rhythmischen Arbeiten bei skilled practices einen weiteren interessanten Punkt fest. Für ihn tritt trotz eines regelmäßigen Bewegungsablaufs keine Gewöhnung ein. Vielmehr setzen sich bei jeder Bewegung die dabei stattfindenden Modifizierungen der Bewegungen und Wahrnehmungen stets neu zusammen. Aus diesem Grund erfordert jede erneute Ausführung einer Bewegung selbst von erfahrenen Ausübenden immer die volle Aufmerksamkeit.35 Dies trifft auch auf die rhythmischen Bewegungsabläufe der lakandonischen Frauen während der Tortillazubereitung zu. Wie die Erläuterungen zeigen, treten die lakandonischen Frauen bei der Tortillazubereitung durch die beiden Sinne kin(w)-ik und wuy-ik nicht nur mit ihrem sozialen, materiellen, ökologischen sondern auch mit ihrem spirituellen Umfeld in Verbindung. Haptische Wahrnehmungen von Konsistenz, Oberflächenstruktur und Temperatur der Maisteigmasse werden zusammen mit anderen Sinneswahrnehmungen und den rhythmischen Bewegungsabläufen im Gesamtkontext der Praktik des päkach wah verortet und erhalten dort ihre spezifische Bedeutung. Dies soll durch das vorgestellte Konzept des skilled touch besonders zum Ausdruck kommen.

S CHLUSSFOLGERUNG Die Körpertechniken von Marcel Mauss bildeten den Ausgangspunkt für Tim Ingolds Konzept skilled practice, das sich mit meinem Konzept skilled touch in zwei Punkten ähnelt. Zum einen werden in beiden letzteren Konzepten die rhythmischen Bewegungsabläufe, d.h. die skilled movements mit den Wahrnehmungen koordiniert. Zum anderen werden die von den Konzepten erfassten Praktiken in einer ›Lehre‹ erlernt. Der skilled touch unterscheidet sich aber von der skilled practice, indem er differenzierter betrachtet den Fokus auf das erlernte Tasten legt, dieses hervorhebt und erfasst. Um Bedeutungen und Anwendungen des erlernten Tastens umfassender verstehen zu können, verortet das Konzept skilled touch auch andere Sinne und skilled movements innerhalb der Praktik.

35 Vgl. Ingold, Being alive, 79–80.

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Mit dem Konzept skilled vision hat der skilled touch gemeinsam, dass der Sinn erlernt ist und dieser mit anderen Sinnen interagiert sowie mit skilled movements koordiniert wird. Des Weiteren teilen beide Konzepte, dass vom Umfeld vermittelte Informationen in der jeweiligen Praktik kontextualisiert werden können, um eine tiefere Bedeutung im Gesamtkontext zu erhalten. Ein offensichtlicher Unterschied besteht jedoch in der anderen Sinnesmodalität des Tastens, das über andere Charakteristika verfügt. Zudem wird bei der skilled vision ein sogenannter Fernsinn erlernt, beim skilled touch dagegen ein sogenannter Nahsinn. So ist das lakandonische Tasten ter-ik beim päkach wah stets an den direkten Kontakt mit der Materie gebunden. Dadurch bleibt er im Gegensatz zur skilled vision beim Anrühren der Annattopaste in seiner Reichweite begrenzter. Im Kontrast zu skilled vision konnte für den skilled touch im Falle der Tortillazubereitung keine Dominanz des erlernten Sinns gegenüber anderen Sinnen nachgewiesen werden. Wie die Erläuterungen des päkach wah gezeigt haben, interagiert der Tastsinn bei den Lakandon Maya sehr stark mit dem Gefühlssinn kin(w)-ik, dem Hörsinn wuy-ik und mit der Verbindung zur spirituellen Ebene (pixan) und kommt erst durch die rhythmischen Bewegungsabläufe zur vollen Geltung.

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Die Reise ins Knie Zum ethnographischen Umgang mit Grenzphänomenen im Kontext heterodoxer Heilweisen1 M IRKO U HLIG

R EISEABSICHT »Der Körper«, so heißt es in einem Einführungstext zur methodisch genutzten ›Körpererfahrung‹, stelle »für Feldforscher_innen ein wichtiges Mittel zum Verstehen von Wirklichkeit« dar.2 Es gehe der »Sinn-volle[n] Ethnographie«3 – wie Regina Bendix unter Eindruck einer eher verhaltenen volkskundlichen Kenntnisnahme internationaler Wahrnehmungsdiskurse4 etliche Jahre nach Utz Jeggles Volkskunde der Körperlichkeit5 betonte – darum, die eigene Sensorik als »Bestandteil unseres methodologischen Instrumentariums zu erkennen und zu nutzen und aus dieser Perspektive wiederum die Rolle der Sinne in Kommunikation und

1

Für richtungsweisende Ratschläge zur Straffung meiner Überlegungen möchte ich mich bei den Herausgeberinnen wie auch bei Sebastian Scharte (Bonn) und Michael Simon (Mainz) bedanken.

2

Mohr/Vetter, Körpererfahrung in der Feldforschung, 114.

3

Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 78.

4

Bereits Mitte der 1930er-Jahre hatte Marcel Mauss in einem psychologischen Diskussionszusammenhang auf die Probleme einer körpervergessenden Kultur- und Sozialforschung aufmerksam gemacht. Vgl. Mauss, Les techniques du corps.

5

In seinen Vorüberlegungen versuchte Jeggle das fachliche Bewusstsein für Körpererfahrungen als eine »zusätzliche Erfahrungsebene [für] die volkskundliche Analyse« zu schärfen. Jeggle, Im Schatten des Körpers, 171.

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kultureller Praxis mitzubedenken.«6 Diese Plädoyers gegen eine Körpervergessenheit der Geisteswissenschaften sind vor allem für die empirische Bearbeitung medizinethnologischer Fragestellungen anregend, zumal sie durch die breite Rezeption phänomenologischer Vorarbeiten7 erkenntnistheoretische Sackgassen eines radikalen Empirismus zu vermeiden wissen. Die meisten zeitgenössischen Spielarten einer ›Sensual Ethnography‹ sind sich so z.B. darüber im Klaren, dass die universalistisch argumentierende Position einer, überspitzt formuliert, emphatischen Mimikry8 kritisch gesehen werden muss.9 Bemerkenswert ist hierbei die verbreitete ›Türsteher‹-Metapher, verweist sie doch auf die unglückliche, aber durchaus nicht seltene Forschungssituation, dass Forscher_innen »aufgrund bestimmter Verhaltensweisen oder äußerlicher Merkmale keinen Zugang zum Feld« erhalten.10 Wie verhält es sich nun mit dem Umstand, dass der eigene Körper bzw. augenscheinlich nicht ausreichende Wahrnehmungsqualitäten den Zugang zu Erlebnisräumen blockieren, die zumindest für die Akteur_innen des im Folgenden vorgestellten Untersuchungsfeldes von Wichtigkeit sind? Im Bewusstsein, diese komplexe Frage nur skizzenhaft anreißen und nicht vielschichtig beantworten zu können, möchte ich mich dem vorrangig methodologischen Problem, welches aber ein interpretatives nach sich zieht, über eine kurze Feldforschungsepisode nähern. Es sei vorweggenommen, dass ich am Ende dieses Beitrages zum systematischen Nachdenken über Chancen sowie Probleme einer Wahrnehmungsanthropologie erstere nur grob berühren und letztere womöglich noch vermehren werde.

6

Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 72.

7

Überblicksdarstellungen bieten Fellmann, Phänomenologie zur Einführung sowie

8

Gemeint ist die angebliche Fähigkeit eines jeden Menschen, Wahrnehmungen jegli-

Gabriel, Die Erkenntnis der Welt. cher Art mit anderen Menschen aufgrund identischer sensueller Voraussetzungen uneingeschränkt teilen und durch den eigenen Vollzug Empfindungen des Gegenübers verstehen zu können. Dass die Möglichkeiten des Fremdverstehens und des Sichhinein-Fühlens generell in Frage gestellt werden können, hat der US-amerikanische Philosoph Thomas Nagel in einem auch über die Grenzen der Philosophie bekannt gewordenen Aufsatz diskutiert. Nagel, What is it like to be a bat? 9

Vgl. Mohr/Vetter, Körpererfahrung in der Feldforschung, 110.

10 Ebd., 113.

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R EISEVORBEREITUNGEN Eitrige Arthritis, postenteritische Arthritis, Arthritis nach Impfung, ReiterKrankheit – im achten Kapitel der 10. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten, kurz ICD-10 genannt, dürfen sich interessierte Leser_innen über die Symptome vielgestaltiger Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems informieren. Für den, der ad hoc mehr über die Gründe des eigenen Leidens erfahren möchte, bietet dann das Internet einen fast überall verfügbaren und bunt zusammengestellten Strauß mehr oder minder Nützlichem für die spontane und persönliche Ätiologie. Im Rahmen eines DFG-Forschungsprojektes11 zum Thema ›Geistiges Heilen in der Gegenwartsgesellschaft‹ habe ich etliche Menschen kennengelernt, die sich noch weiterer Optionen bedienen. Damit kann wohl kaum der probate Gang zu niedergelassenen Fachärzt_innen gemeint sein. Fühlt sich etwa Sönke12 (*1957) nicht wohl, dann fällt sein erster Blick gewöhnlich nicht in den aktuellsten Klassifizierungskatalog der Weltgesundheitsorganisation. Auch bedient er sich eher selten virtueller Suchmaschinen und interaktiver Ratgeberforen. Bei der ersten Beschäftigung mit akuten Problemen, seien sie körperlicher oder zwischenmenschlicher Natur, nutzt der zertifizierte Heilpraktiker und Leiter einer Heilpraktikerschule häufig eine Deutungs- und Handlungssphäre, der einige seiner Mitmenschen zunächst wohl mehr Ungläubigkeit, denn Verständnis entgegenbringen dürften: Bei einem entzündeten Gelenk, so verrät mir Sönke in einem Gespräch 2011, führe ihn der Heilungsweg selten zum Orthopäden des Vertrauens. Vielmehr »reise« Sönke mithilfe schamanischer13 Techniken »in das Knie, oder in die Unterwelt, in einen stell-

11 Mehr Details in: Uhlig/Simon, Sinnentwürfe in prekären Lebenslagen. 12 Die Namen aller hier zitierten und erwähnten Forschungspartner_innen wurden anonymisiert. 13 Auch wenn es in diesem Aufsatz nicht dezidiert um die Entwicklungsgeschichte gegenwartsschamanischer Vorstellungen und Praktiken geht, muss klar gestellt werden, dass es sich bei den rezenten europäischen oder auch nordamerikanischen Spielarten nicht um Weiterführungen autochthoner Traditionslinien handelt, sondern vielmehr um eine junge Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Primär durch die Werke von Mircea Eliade, Carlos Castañeda oder Michael Harner erfuhren die auch als neoschamanisch bezeichneten Konzepte ab den späten 1960er-Jahren Aufmerksamkeit durch ein größeres – nichtwissenschaftliches – Publikum. Für den deutschsprachigen Raum kann von einer breiteren Rezeption erst ab den frühen 1990er-Jahren ausgegangen werden. Als Einführung und Übersicht sei empfohlen DuBois, An Introduction to Shamanism.

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vertretenden Fantasieplatz für dieses Knie« und schaue, »was da los« sei und »was das Knie denn wirklich« brauche.14 Bereits eine kursorische Sichtung wissenschaftlicher wie journalistischer Auseinandersetzungen mit solch eher heterodoxen15 Heilweisen fördert eine bisweilen hochemotional aufgeladene Diskussionsatmosphäre zutage. Dass etliche Beiträge aus diesem Umfeld nicht immer durch wertfreie Sachlichkeit und Offenheit glänzen, hat sicherlich komplexe Ursachen. An der Möglichkeit inhärenter Sinnqualitäten zweifeln womöglich diejenigen ungesehen, die Sönkes Vorstellungs- und Handlungsweisen als weiteres Kapitel der ›Geschichte menschlicher Unvernunft‹ lesen.16 Manch anderer tut Sönkes Reisen ins Ich unter Eindruck pejorativer Berichterstattungen mit leicht spöttelnder Geste als anachronistisches Privatgebaren ab, harren doch immerhin gesellschaftlich dringlichere oder zumindest (natur-)wissenschaftlich gesehen vernünftigere Aufgaben ihren häufig eben auch staatlich subventionierten Lösungen.17 Doch da Sönke nicht nur in seine eigene Welt reist, sondern auch in die Gelenke, Ohrmuscheln und Herzen seiner Klient_innen (und diese Reisetechniken im Seminarund Ausbildungskontext gegen Entgelt vermittelt), mag sich die spöttelnde Geste in einen aufklärerisch mahnenden Zeigefinger verwandeln, eindringlich auf die Etikette Scharlatan, Abzocker oder Okkulttäter (Herbert Schäfer) pochend.18 Der für das kulturwissenschaftliche Ohr bisweilen irritierend scharfe Ton der Diskussion lässt erahnen, inwieweit durch Abwertungs- und Abgrenzungstechniken u.a. hegemoniale und – daran gekoppelt – berufsständische Interessen verfolgt werden. Daneben geht man sicherlich nicht fehl, die ablehnenden Positionen,

14 Alle in diesem Satz verwendeten Zitate sind einem Interview vom 30.05.2011 entnommen. 15 In Anlehnung an Pierre Bourdieus Terminologie stellen, verkürzt gesagt, heterodoxe Vorstellungen und Handlungen bewusste Konterpunkte zu den jeweiligen gesellschaftlich oder gemeinschaftlich bestimmten kulturellen Standards dar. Vgl. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, 318–334. Selbstverständlich handelt es sich um eine nur relational bestimmbare Begrifflichkeit, welche durch die jeweilige wissenschaftliche Definition von Majorität und Minorität bedingt ist. In diesem Aufsatz bilden biomedizinische Konzepte (und Standards) den Bezugspunkt für heterodoxe Heilweisen. 16 Vgl. Wuketits, Animal irrationale. 17 Vgl. Mayer, Über Grenzen schreiben. 18 Für zahlreiche Belege und weiterführende Literatur vgl. Bauer/Hövelmann/Lucadou, Von Scheinriesen.

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stellenweise unverblümt als Polemiken artikuliert19, auf eine Unsicherheit zurückzuführen, welche die Konfrontation mit »Grenzphänomene[n] am Rand der als feststehenden Wirklichkeit«20 auszulösen vermag. Bedeutete doch deren tatsächliche und somit unkontrollierbare Existenz eine Bedrohung für das Machbarkeitsdenken einer verbreiteten naturwissenschaftlichen Weltanschauung, die jedoch klar von naturwissenschaftlichen Forschungsprogrammen zu trennen ist.21 Aber auch diese bieten meines Wissens keine Erklärungsansätze, die nicht äußerst kontrovers behandelt werden: In experimentalwissenschaftlichen Gegenstandsbereichen kommen Grenzphänomene wie z.B. Telepathie, Seelenreise, Psychokinese oder Hellsicht als ernstzunehmende, d.h. quantifizier- und erklärbare Forschungsgegenstände meist nicht vor und wenn doch, dann fast ausnahmslos an den disziplinären Peripherien.22 Mit Blick auf die Fachgeschichte23 muss wohl nicht weiter erörtert werden, dass sich eine kulturanthropologisch-volkskundliche Forschung für heterodoxe Komplexe wie Chakrenharmonisierung, Krafttiere, Engel- und Herzenergie oder eben auch schamanische Heilungsreisen in lädierte Körperteile interessiert. Diese Konzepte und Praxen werden in kulturwissenschaftlicher Lesart als kommunizier- und diskutierbare ›kulturelle Tatsachen‹24 verstanden und im besten Falle abseits simplifizierender Disqualifizierungen oder eines romantisierenden »Rehabilitationsethos«25 im Kontext ihrer historischen, räumlichen und sozialen Verwendungen gewürdigt. Um die Ansprüche einer ethnologisch orientierten Übersetzungswissenschaft26, zu welcher unsere Disziplin immer häufiger gezählt wird, angemessen einlösen zu können, bedarf es zur angestrebten Annäherung von Sinnhorizonten einer gemeinsam geteilten Erlebnisbasis als Verständigungsbasis. Da sich diese jedoch eben nicht immer allein durch das Gespräch herstellen lässt, ist das beobachtende Eintreten in den jeweiligen Erfahrungs- und Erlebnisraum der

19 Zu diesem Aspekt vgl. Bauer/Hövelmann/Lucadou, Von Scheinriesen, 95–100. 20 Müller, Im Schatten der Aufklärung, 24 [Hervorhebung im Original]. 21 Vgl. Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, 266. 22 Als Überblick vgl. Ambach, Experimentelle Psychophysiologie in Grenzgebieten. Für eine kulturhistorische Einordnung der genannten Phänomene vgl. erneut Müller, Im Schatten der Aufklärung, 75–126. 23 Zu denken sei in diesem Zusammenhang an volkskundliche Diskussionen zum Thema Aberglauben, nachgezeichnet in Harmening, Wörterbuch des Aberglaubens, 1–17. 24 Vgl. Konersmann, Kulturelle Tatsachen, 13–69. 25 Rottenburg, Ethnologie und Kritik, 57. 26 Vgl. Streck, Vom Grund der Ethnologie als Übersetzungswissenschaft.

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Akteur_innen ein unabdingbarer Arbeitsschritt.27 Allerdings dürfte auch einsichtig sein, dass für Sönkes eher introvertierte Ursachenforschung Orte aufgesucht werden, an die eine anthropologische (Mit-)Reise – zumindest anfänglich – nicht leicht fallen dürfte. Erschwerend kommt hinzu, dass diese Plätze, so das Gros meiner Gesprächspartner_innen, in der Regel nur vom Betroffenen selbst bereist und erlebbar gemacht werden können; was ein ethnographisches Erkunden solch scheinbar hermetisch verschlossener Orte fast gänzlich unmöglich erscheinen lässt. Nun scheinen sich die Erlebnisräume, um die es hier gehen soll, also dem beobachtenden Auge des Ethnographen (Michel Leiris) zu verschließen, gar über dieses hinauszugehen. Augenscheinlich müssen weitere Sinne aktiviert werden. Die konsequente Auslegung einer ›Sinn-vollen Ethnographie‹ in Form eines Selbstbeobachtungsversuches böte die Möglichkeit, einen der dialogischen Umkreisung hinzugeschalteten Verstehensprozess über die eigenen Fingerspitzen, Geschmacksknospen oder sonstigen Nervenenden einzuleiten. Als originär volkskundlicher Pionier solch eines Zuganges kann Will-Erich Peuckert genannt werden.28 Derart bewusst initiierte Selbsterfahrungen, wie sie Peuckert und in seiner Nachfolge andere Forscher_innen praktiziert haben29, nutzen im Gegensatz zu ähnlich einfühlenden, jedoch eher philologischen Arbeiten à la Mircea Eliade oder Werner Müller sprichwörtlich den eigenen Körper als konkretes ethnographisches Instrument – mit allen unvorhersehbaren Nebeneffekten. Eine Umsetzung in meinem Falle hieße demnach, mich an einer Reise im Sinne Sönkes zu versuchen.

R EISEVERSUCH Von seinen schamanischen Reisen berichtet mir Sönke das erste Mal an einem warmen Frühlingsvormittag im angenehm klimatisierten Foyer der von ihm

27 Vgl. grundlegend Kutzschenbach, Feldforschung als subjektiver Prozess, 126–130. 28 Der Göttinger Ordinarius überschritt Anfang der 1930er-Jahre die rein textwissenschaftliche Methodengrenze, als er sich im Selbstexperiment eine sogenannte ›Hexensalbe‹ auf empfindliche Körperpartien applizierte. Die Salbe hatte Peuckert zuvor mithilfe frühneuzeitlicher Quellen eigens für das Experiment hergestellt, die dann auch die erhoffte halluzinogene Wirkung erzielte – was wiederum von zeitgenössischen Zeitungen dankbar aufgegriffen wurde. Für eine Retrospektive vgl. Peuckert, Ergänzendes Kapitel über das deutsche Hexenwesen. 29 Ausführliche Darstellungen in: Duerr, Über die Grenzen einer seriösen Völkerkunde, 381–383.

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geleiteten Ausbildungsstätte. Da unser Interview immer wieder durch telefonische Anfragen unterbrochen wird, bieten sich mir einige Gelegenheiten, sämtliche Flyer und Magazine vor mir auf dem Tisch in näheren Augenschein zu nehmen. Darunter befindet sich auch die Ankündigung zu dem Einführungs- und Austauschworkshop Schamanisches Heilen am 23. Juni von 11 bis 18 Uhr, Kostenpunkt: 50 Euro. »In der Regel sind es zwei Reisen, die wir schaffen. In dem Fall ist es spannend, denn da können Laien mitmachen genauso wie Leute, die schon die Grundkurse mitgemacht haben und da gibt es jetzt keine grobe Einführung in die Arbeit an sich, dafür reicht die Zeit nicht, aber zwei Reisen, wo man sehr konkret sagen kann: ›So! Mein Thema ist … und daran will ich dann arbeiten!‹; und dann passiert das!«30

An besagtem Tag (Fronleichnam) nehme ich also die Gelegenheit wahr, an meiner ersten geführten schamanischen Reise teilzunehmen. Um kurz vor 11 Uhr betrete ich die Ausbildungsstätte und werde von Sönke begrüßt, der noch mit einigen Vorbereitungen beschäftigt ist. Im Vorzimmer des Seminarraums mache ich Bekanntschaft mit den bereits eingetroffenen Teilnehmer_innen. Die Begrüßungen fallen freundlich, aber verhalten aus, was ich zunächst darauf zurückführe, dass wohl niemand – ich eingeschlossen – so recht weiß, was heute auf uns zukommen mag. Womöglich liegt es auch daran, dass ich als Unbekannter dazu stoße – wie sich später beim gemeinsamen Mittagsessen in einem fußläufig zu erreichenden Schnellrestaurant herausstellt, sind sich etliche der Teilnehmer_innen aus anderen Veranstaltungen bekannt. Bis auf mich und einen weiteren Mann sind es elf Frauen im Alter von 35 bis 55 Jahren, die sich auf den schamanischen »Schnupperkurs« (Wortlaut Sönke) einzulassen gedenken. Wie bei den meisten Ritualen oder sonstigen Zusammenkünften, an denen ich im Laufe meiner Feldforschung teilgenommen habe, bin ich mit 30 Jahren der Jüngste in der Runde bzw. dem Halbkreis, den wir mithilfe der hauseigenen Liegekissen nun bilden. Es werden Thermoskannen ausgepackt, Decken ausgebreitet und die mitgebrachten Wollsocken übergestreift. Augenscheinlich geht es um Behaglichkeit, Entschleunigung, um ein Heraustreten aus Alltagsroutinen. So lässt der Verzicht auf Stühle jeglicher Art erst gar nicht zu, dass wir arbeitsbzw. büroweltliche Körperhaltungen einnehmen. Bevor wir mit der ersten Reise beginnen, hat Sönke eine Auflockerungsübung angedacht: Er startet den CD-Player und ein paar Sekunden später ertönt perkussive Musik aus den Boxen. Sönke schließt die Augen und beginnt, sich zu

30 Interview mit Sönke am 30.05.2011.

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den rhythmischen Klängen zu bewegen. Wir machen es ihm nach, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Ich persönlich empfinde Tanzen in Gesellschaft eher als unangenehm und entwickele Schamgefühle, sodass ich steif und unbeholfen von einem Bein auf das andere wippe und meine Blicke unwillkürlich durch nicht ganz verschlossene Lider durch den Raum schweifen lasse. Im Gegensatz zu den Teilnehmerinnen, deren Bewegungen mit zunehmender Tanzdauer an raumgreifender und selbstbewusster Expressivität gewinnen, scheint sich mein männlicher Nachbar (ca. 55 Jahre alt) ebenso deplatziert und unsicher zu fühlen wie ich. So aufgelockert bzw. verunsichert setzen wir uns wieder hin und eröffnen eine Vorstellungsrunde. Sönke ist darum bemüht, eine angenehme und ungezwungene Atmosphäre zu erzeugen. Nach sechs Vorstellungen ist es an mir, mich als Kulturwissenschaftler zu outen, der den Gedanken hegt, eine Arbeit über, wie ich es vage formuliere, ›alternative Heilmethoden‹ anzugehen. Obgleich es sich um eine öffentliche Veranstaltung handelt und sich somit sicherlich alle Teilnehmer_innen im Vorfeld darüber Gedanken gemacht haben, wieviel sie von ihren persönlichen Beweggründen preis geben möchten, beschleicht mich kein gutes Gefühl, hat mir Sönke im Vorfeld doch u.a. erklärt, wie zielführend die Formulierung einer konkreten Reiseabsicht sei. Von Fragen, wie man glücklicher würde, halte Sönke nämlich nichts. Je konkreter die formulierte Reiseabsicht, desto aufschlussreicher sei das Ergebnis. Im Workshopkontext hieße dies nun, gegebenenfalls intime Dinge und Gefühle zu artikulieren. So formuliert auch Gabriele, Ende 30, direkt eine kritische Frage in meine Richtung: Ob denn die Lebensgeschichten, die hier in diesem Setting erzählt werden, auch in meiner Arbeit vorkämen? Das hielte sie für sehr bedenklich. Sei doch das, was man hier und heute über sich und seine Beweggründe erzähle doch von recht persönlicher Art – und nur für diesen Kreis bestimmt. Margit, Anfang 50, stimmt Gabriele zu und wisse im Moment nicht genau, wie sie mit meiner Anwesenheit umgehen solle. Ich versichere beiden und allen anderen Anwesenden Diskretion im Umgang mit den gewonnenen Eindrücken, wie es in unserem Metier Usus ist. An diesem Punkt schaltet sich Sönke ein und entschärft die Situation, indem er mir Vertrauen ausspricht. Nach Beendigung der Vorstellungsrunde steht nun die erste Reise an. Sönke erklärt mit wenigen Sätzen den technischen Ablauf, geht aber – wie er es im Interview bereits angekündigt hatte – kaum auf etwaige kosmologische Implikationen des Vorhabens ein. Von Krafttieren, jenseitigen Welten usw. ist keine Rede. Hier und heute gehe es ausschließlich um das eigene Erleben der schamanischen Reisetechnik und um die Chance, tiefere Einsichten über die persönliche Situation zu erlangen. So werde z.B. Gabriele seit Wochen von Halsschmerzen geplagt, Margit fühle eine generelle körperliche Schwäche. Anderen ginge es um

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ihr Inneres Kind, um Sicherheit und Stabilität in der jetzigen Lebensphase – die Palette der artikulierten Reiseabsichten reicht von vage bis biografisch detailliert, von der Bewältigung alltäglicher Probleme bis zur versuchten Verarbeitung traumatischer Erlebnisse und Trauer. Glücklicherweise frei von körperlichen Beschwerden und akuten Belastungen seelischer Art entscheide ich mich dazu, meinen sogenannten »Lebensgarten« zu bereisen, denn dieser stelle, so hatte mir Sönke Ende Mai erklärt, »ein wunderbares Hilfsmittel für Leute« dar, die weder ein konkretes dringliches Anliegen hätten, noch Erfahrung im schamanischen Reisen besäßen. »Es gibt Leute, die können superschnell visualisieren in ihrer Fantasie, die können sich alles vorstellen, ganz einfach. Und es gibt Leute, für die ist das fast verschlossen. […] Für die ist der Zugang extrem schwer in so ein fantasiemäßiges Denken.« Der »Lebensgarten«, so Sönke weiter, sei mein »ganz eigener, persönlicher Garten. Da haben auch fremde Leute nichts drin zu suchen, das ist nur [betont] Ihr Garten. Und dieser Garten ist gestaltbar, der verändert sich, also die Reisen da rein sind normale Hygienemaßnahmen. […] So, und das ist ein wunderbares Hilfsmittel für viele Leute, einen Einstieg in die schamanische Arbeit zu machen. Eine der Reisen ist oft: ›Stell Dir mal so einen Garten vor, das ist Dein persönlicher Lebensgarten.‹ 31

Die erste Reise ist oft einfach, da drin spazieren zu gehen.«

Der Erfolg einer Reise hinge demzufolge nicht allein vom Vorstellungsvermögen der jeweiligen Person ab, sondern begründe sich vielmehr durch die spezifische intrinsische Wirkkraft des Rituals. Es wirke auch ohne Glauben oder sonstige kognitive oder körperliche Bemühungen. Vorstellungsgabe oder Entspannungsübungen wären dem Effekt laut Sönke nicht abträglich, allerdings auch nicht obligatorisch für das befriedigende Gelingen des Rituals. Nachdem wir es uns auf den Liegematten bequem gemacht und die Augen geschlossen haben, beginnt Sönke monoton eine Rahmentrommel zu schlagen. Ich harre der (womöglich floralen) Dinge, die mir erscheinen mögen und versuche, regelmäßig und ruhig zu atmen. Währenddessen geht Sönke durch den Raum, bleibt hier und dort stehen, zieht dann, die Trommel schlagend, schweigend weiter. Zwar gelingt es mir, einen Garten meines Geschmacks zu visualisieren, doch soll sich dieser, wenn ich Sönke richtig verstanden habe, ja eben unabhängig von meinen kognitiven Anstrengungen, quasi als ontische Entität vor meinem inneren Auge zeigen. Sobald ich aber absichtslos an andere Dinge denke, z.B. an das kürzlich zur Kenntnis genommene Paradigma der ›Mikroskopischen Unter-

31 Interview mit Sönke am 30.05.2011.

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suchung sozialer Ereignisse als ethnographische Methode‹32, verschwindet mein locus amoenus. Die Viertelstunde ist vorbei, wir kommen auf Sönkes Bitte hin zurück und beginnen eine weitere Rederunde. Diesmal soll es darum gehen, uns über das eben Erlebte auszutauschen und mithilfe von Sönke erste Deutungsversuche des Wahrgenommenen zu unternehmen. Gabriele, die, wie sich nun herausstellt, bereits des Öfteren mit Sönke zusammengearbeitet hat, kann z.B. sehr bildhaft von ihrer Reise erzählen. Zusammen mit Sönke nähert sie sich einer Interpretation dahingehend, ihren momentan etwas vernachlässigten Traum vom professionellen Tanzen wieder ehrgeiziger zu verfolgen. Meinen eher mageren Reisebericht quittiert Sönke mit einem mehrdeutigen Lächeln.

R EISEGRENZEN , D EUTUNGSGRENZEN ? Wenn Mohr und Vetter hervorheben, der Körper sei »die zentrale Figur […] auch im Erleben von Unsicherheiten«33, so möchte ich ihnen vor dem Hintergrund meiner Empirie zustimmen: Das beschriebene Feldbeispiel steht exemplarisch für meine Feldforschung, in der es mir nicht gelang, vermeintlich Außersinnliches wahrzunehmen. Ob nun im Rahmen weiterer schamanischer Reisen oder sogenannter ›Schwitzhüttenrituale‹34 – eine über das rein physische Empfinden reichende Erfahrungsbasis, die auch nur annähernd mit der meiner Gesprächspartner_innen kongruiert, wollte auch durch Zuhilfenahme einer ›Sinn-vollen Ethnographie‹ nicht gelingen. Durch das Ausbleiben dessen, was mir als Essenz der untersuchten Heilweise(n) beschrieben wurde, nahm das verunsichernde Gefühl einer partiellen Feldblindheit und -inkompetenz stetig zu und konnte auch bis zum Verfassen dieser Zeilen nicht wirklich gemindert werden. Nun gehöre es, so ein durchaus berechtigter Einwand, nicht zu den dringlichsten Aufgaben der Kulturwissenschaften, die zu beschreibenden und anschließend zu deutenden Phänomene auch tatsächlich am eigenen Körper erleben zu müssen.

32 Vgl. Meyer/Schareika, Neoklassische Feldforschung. 33 Mohr/Vetter, Körpererfahrung in der Feldforschung, 101. 34 Hierbei handelt es sich, technisch gesprochen, sowohl um ein im Freien abgehaltenes Dampfbad als auch, symbolisch gesehen, um ein Reinigungsritual, angereichert mit Wiedergeburtsmetaphern und indigenen kosmologischen Versatzstücken. Mit dieser in der gegenwartsschamanischen Szene besonders populären Praxis setze ich mich ausführlicher in meiner Doktorarbeit auseinander. Eine der wenigen ethnographischen Vorarbeiten zur indigenen Aushandlung liefert Bucko, The Lakota ritual of the sweat lodge.

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An dieser Stelle sei an Utz Jeggles Rede von einer »Archäologie des Körpers«35 erinnert, welche eine ›Volkskunde der Körperlichkeit‹ – die Wortwahl deutet es bereits an – weniger in einem (auto-)ethnografischen, sondern vielmehr in einem an historischen und philologischen Fragen interessierten Arbeitsumfeld verortet. Eine ›Sinn-volle Ethnographie‹ wandelt sich somit in eine ›Ethnographie der Sinne‹. Von dort bedarf es nur eines weiteren Schrittes, nämlich dem des bewussten (oder unbewussten) Missverstehens des Homonyms Sinn, um zu einer ›Ethnografie der Sinnhaftigkeit(en)‹ und letztlich zu einer sozialkonstruktivistisch informierten und nicht zwingend sinnlichen Kulturhermeneutik zu gelangen. Die Frage, ob es sich bei den Wahrnehmungsphänomenen tatsächlich um ›Grenzphänomene am Rand der als feststehenden Wirklichkeit‹ handelt, ist für eine so eingeschlagene »mikroskopische Untersuchung sozialer Ereignisse«36 zwar nicht gänzlich irrelevant, für den kulturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn des soeben beschriebenen Zuschnittes aber zweitrangig. An meinem Feldbeispiel aufschlussreich wären in dieser Perspektive vielmehr das Handlungssetting, die Thermoskannen, die Wollsocken, die Körperhaltungen, die Tanzsequenz, die auf in der Situation wirkende klischeehafte Geschlechterrollen verweist (emotionale Frau vs. verschlossener Mann), das gemeinsame Mittagsessen, die altersbedingten Kommunikationsstrukturen. Aufschlussreich sind auch die Zuschreibungen, die wissenschaftliche Vorhaben durch die Akteur_innen des untersuchten Feldes erhalten – z.B. Wissenschaft als maximal objektives Projekt zur Bloßlegung des ›Menschen Kerns‹. All dies sind Bausteine für die Interpretation kultureller Bedingtheiten. So auch die emische Perspektive: Für Sönke sei jede schamanische Reise ein faszinierender Moment. Während solch einer geführten Reise mache er nichts außer einen monotonen Rhythmus vorzugeben. Er sei nichts als ein Trommler und versuche sich als Einflussfaktor komplett zurückzunehmen. Die Reiseerlebnisse machten die Teilnehmer_innen bzw. Klient_innen alleine. »Die spannende Frage«, so Sönke, »die natürlich dann psychotherapeutisch oder psychoanalytisch auftaucht, ist: Wieviel davon ist bewusst oder unbewusst?« Als langjährig aktiver Heilpraktiker für Psychotherapie sei er sich sicher: Im Grunde antworte man »ja nur selbst. Wobei hier jetzt die Diskussion auftaucht: Wer oder was antwortet da? […] Die klassischen Schamanen in verschiedenen Kulturkreisen würden sagen: ›Da gibt es Geister, die dafür zuständig sind, Gott, oder was auch immer, und die kann ich konkret in

35 Jeggle, Im Schatten des Körpers, 169. 36 Meyer/Schareika, Neoklassische Feldforschung, 79.

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dieser Traumwelt ansprechen.‹ […] Die geben dem ganzen dann noch einmal eine Form, die aus ihrem Kulturgut aber existiert. Das haben wir ja nicht mehr. Nichtsdestotrotz 37

geben wir dem ganzen eine Form.«

Diese Passage verweist mindestens auf zwei Vorstellungen und Strategien, die sich einem kulturanthropologisch-volkskundlichen Übersetzungsversuch nicht verschließen: Erstens ließe sich der von Sönke im Gespräch fast beiläufig – da offenkundig als Selbstverständlichkeit empfundene – angesprochene Topos eines ›Kulturverlustes‹ anhand weiterer, jetzt aber ausgesparter Interviewpassagen als ein thematischer Faden aufgreifen, der zu einem tieferliegenden Problemkreis, nämlich Sönkes Verständnis von Kultur und Gesellschaft führte. Und dieses zunächst subjektive und partikulare Verständnis könnte, wenn auch kleinschrittig, mithilfe Sinnprovinzen weiterer Akteur_innen kontrastiert werden, stellt doch die Kulturverlustrhetorik ein wiederkehrendes Motiv in der Szene dar. In einem einschlägigen Szeneklassiker, dessen Lektüre auch Sönke nachhaltig geprägt hat, werden z.B. christliche Feste und gegenwärtige Bräuche (wie u.a. Halloween) mit angeblich konkreten Traditionslinien in Verbindung gebracht, die »weit bis in die heidnische Antike der Kelten« zurückreichten.38 Dieser Befund zeigte sich für eine zeitgenössische Brauchforschung als durchaus diskussionswürdig. Zweitens ist aus hermeneutischer Sicht auch Sönkes Rationalisierung der Grenzphänomene bemerkenswert. Was uns bei einer Reise begegne, was (oder wer) uns antworte, das seien, wie Sönke betont, wir selbst.39 Und diese Begegnung mit dem Ich sei nach Sönke hochgradig kulturell konfiguriert. Solch ein Erklärungsansatz erinnert an Übersetzungsversuche, zu denen auch Thomas Csordas‫ ތ‬viel rezipierte ›Embodiment‹-Theorie zu zählen ist.40 Mit deren Hilfe werden für Bürger_innen von Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften befremdliche Erfahrungen wie Besessenheit und Trance als ausschließlich kulturgebundene Kontingenzreduktionen gedeutet, wird »die Erfahrung von

37 Interview mit Sönke am 30.05.2011. 38 King, Der Stadtschamane, 231. 39 Zu diesem Punkt ist anzumerken, dass mir Sönke durchaus nur genau das mitteilen könnte, was einen Kulturwissenschaftler als Mitglied einer rational argumentierenden scientific community seiner Meinung nach hören möchte. Unter diesem Gesichtspunkt, den Karl-Heinz Kohl ausführlich diskutiert hat, erübrigt sich wohl jegliche Rede von Interviewdaten als reine und unverfälschte Wiedergabe(n) der Realität. Vgl. Kohl, Against Dialogue. 40 Erstmals erläutert in Csordas, Embodiment as a Paradigm for Anthropology.

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Geistkontakten auf die Externalisierung ursprünglich eigener Erfahrungen« zurückgeführt, somit das Fremde »erklär- und berechenbar« gemacht.41 Die Erfahrung des Fremden und Numinosen wird diesseitig – und zu einem gewissen Grad auch einseitig – funktionalistisch interpretiert, die ethnologische Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer tatsächlichen Alterität, die nicht übersetzt, geschweige denn ergründet werden kann, gilt auch in Csordas‫ ތ‬Konzept als für eine Kulturanalyse wenig zielführend. Trotz aller Möglichkeiten kulturwissenschaftlich fundierter Rationalisierungen von Grenzphänomenen, bleibt die Unsicherheit, mit einer Fremderfahrung konfrontiert zu sein, die sich – zumindest für mich – nicht adäquat sinnvoll-ethnographisch erfahren lässt. Dies muss, wie eben ausgeführt, nicht als Manko der Forschung gewertet werden. Doch bleibt das Gefühl einer Lücke, das ernst genommen werden sollte. Man könnte erwidern, die Grenzphänomene seien durchaus real, wenn auch bloß im Rahmen der Narration. Alles was über diesen Kontextualismus hinausgehe, sei metaphysische Spekulation und räume nur »unnötigen Schutt in den Weg« der Forschung.42 So man Kulturanthropologie/Volkskunde im Stile einer dialogisch angeleiteten Deutung von (Selbst-)Deutungen betreibt und dem impliziten Gestus einer ›demokratische[n] Kulturgeschichtsschreibung‹ (Helmut P. Fielhauer) Rechnung tragen möchte, hieße dies, den Wahrnehmungen der Forschungspartner_innen abseits konstruktivistischer Domestikationen Wahrhaftigkeit zuzugestehen. Hier böte sich die Idee einer konjunktivistischen Anthropologie der Schwebe an, wie sie ähnlich auch von Ehler Voss mit Bezugnahme auf Bernhard Streck empfohlen wird. Mit ihr sei der Versuch unternommen, die einzelnen im Feld registrierten Töne menschlicher Äußerungen mitsamt ihrer Differenzen und Ambivalenzen behutsam in ein Konzert der Mehrstimmigkeit zu integrieren, ohne jedoch die aufgefundenen Brüche kitten zu wollen.43 Womöglich ist es nämlich gerade der Schutt im Wege der Forschung – Ehler Voss nutzt das Bild vom »Fremden als Sand im Getriebe«44 –, der uns dazu nötigt, die stets breiter ausgetretenen Hauptwege der Wissenschaften zu verlassen und in den abseitigen Gräben unverhofft Erhellendes vorzufinden. Die Wahrnehmung einer Lücke zwischen Wahrnehmung und Nichtwahrnehmung verweist auf einen intersubjektiv vermittelbaren Gegenstandsbereich. Gerade die Rede von Grenzen und Grenzerfahrungen zeigt ja sehr deutlich, dass

41 Voss, Domestikationen des Fremden, 211. 42 Gerndt, Zur Perspektive volkskundlicher Forschung, 36. 43 Vgl. Streck, Fröhliche Wissenschaft Ethnologie. 44 Voss, Domestikationen des Fremden, 211.

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diejenigen – ich eingeschlossen –, die sich solcher Metaphern bedienen, eine Ahnung vom Raum hinter der Grenze haben. Auch Hans Peter Duerr hat früh die Grenzen einer Übersetzungsleistung im Spiegel von Grenzphänomenen thematisiert und den Unterschied zwischen Verstehen und Translation unterstrichen: Verstehen sei »nicht die Zurückführung des Fremden auf ein Bekanntes«.45 Es scheint also spezifische Perspektiven im Kontext heterodoxer Heilweisen zu geben, die nicht von jeder Person, entgegen der Aussagen einiger Akteur_innen des Feldes, eingenommen werden können. Duerr warnt jedoch davor, aus diesen Eindrücken einer Inkommensurabilität kursichtig auf eine generelle Unvergleichbarkeit zu schließen, nach der sich die Befunde des Feldes in einer postmodernen Beliebigkeit auflösen würden. Es ginge eher um eine Akzeptanz »verschiedene[r] Lebensformen, ohne daß es eine Meta-Lebensform geben müßte, die den letzten Grund der einzelnen Weltbilder abgäbe«.46 Die Pointe hieße also, in Form einer Paraphrasierung des bekannten Wittgenstein-Diktums ausgedrückt: Über das, worüber Ethnograph_innen aufgrund mangelnder Wahrnehmungskompetenzen nichts sagen können, müssen sie sich selbst zurücknehmen und auch diejenigen sprechen lassen, die wahrnehmen – oder auch vermeintlich wahrnehmen – können.47 Eine dialogische Forschung hat diese Freiheit und sollte sie nutzen.

R EISELITERATUR Ambach, Wolfgang (Hrsg.) (2012): Experimentelle Psychophysiologie in Grenzgebieten, Würzburg: Ergon. Bauer, Eberhard/Hövelmann, Gerd H./Lucadou, Walter von (2013): Von Scheinriesen, in: Zeitschrift für Anomalistik 13, 89–126. Bendix, Regina (2006): Was über das Auge hinausgeht: Zur Rolle der Sinne in der ethnographischen Forschung, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 102, 71–84. Bourdieu, Pierre (2009 [1972]): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

45 Duerr, Über die Grenzen einer seriösen Völkerkunde, 384. 46 Ebd., 387. 47 »Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.« Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 7.

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Bucko, Raymond A. (1998): The Lakota ritual of the sweat lodge. History and contemporary practice, Lincoln: University of Nebraska Press. Csordas, Thomas J. (1990): Embodiment as a Paradigm for Anthropology, in: Ethos 18, 5–47. DuBois, Thomas A. (2009): An Introduction to Shamanism, Cambridge: Cambridge University Press. Duerr, Hans Peter (1993 [1976]): Über die Grenzen einer seriösen Völkerkunde oder: Können Hexen fliegen?, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Justin Stagl (Hrsg.): Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion, Berlin: Reimer, 381–391. Fellmann, Ferdinand (2006): Phänomenologie zur Einführung, Hamburg: Junius. Gabriel, Markus (2013): Die Erkenntnis der Welt – Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Freiburg im Breisgau: Karl Alber. Gabriel, Markus (2013): Warum es die Welt nicht gibt, Berlin: Ullstein. Gerndt, Helge (1980): Zur Perspektive volkskundlicher Forschung, in: Zeitschrift für Volkskunde 76, 22–36. Harmening, Dieter (2005): Wörterbuch des Aberglaubens, Stuttgart: Reclam. Jeggle, Utz (1980): Im Schatten des Körpers. Vorüberlegungen zu einer Volkskunde der Körperlichkeit, in: Zeitschrift für Volkskunde 76, 169–188. King, Serge Kahili (2003 [1990]): Der Stadtschamane. Ein Handbuch zur Transformation durch Huna, das Urwissen der hawaiianischen Schamanen, Berlin: Lüchow. Kohl, Karl-Heinz (1998): Against Dialogue, in: Paideuma 44, 51–58. Konersmann, Ralf (2006): Kulturelle Tatsachen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kutzschenbach, Gerhard von (1982): Feldforschung als subjektiver Prozess. Ein handlungstheoretischer Beitrag zu seiner Analyse und Systematisierung, Berlin: Reimer. Mauss, Marcel (1935): Les techniques du corps, in: Journal de Psychologie 32, 271–293. Mayer, Gerhard (2003): Über Grenzen schreiben. Presseberichterstattung zu Themen aus dem Bereich der Anomalistik und der Grenzgebiete der Psychologie in den Printmedien Spiegel, Bild und Bild am Sonntag, in: Zeitschrift für Anomalistik 3, 8–46. Meyer, Christian/Schareika, Nikolaus (2009): Neoklassische Feldforschung: Die mikroskopische Untersuchung sozialer Ereignisse als ethnographische Methode, in: Zeitschrift für Ethnologie 134, 79–102. Mohr, Sebastian/Vetter, Andrea (2014): Körpererfahrung in der Feldforschung, in: Christine Bischoff/Karoline Oehme-Jüngling/Walter Leimgruber (Hrsg.): Methoden der Kulturanthropologie, Bern: Haupt/UTB, 101–116.

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UND

Von Sinn und Sinnlichkeit des Richtens Ein historischer Blick auf Konzepte juristischer Urteilsfindung Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts1 S ANDRA S CHNÄDELBACH »Thatsachen müssen gesehen, gehört, gefühlt worden sein.« RICHARD SCHMIDT

Dies besagt das Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts von 18982, das sich der richterlichen Beweiswürdigung widmet und die Verbindung von Wahrnehmung und Urteil thematisiert. Bis heute besitzt der »Augenschein« als Beweismittel »durch unmittelbare sinnliche Wahrnehmung«3 von Gegenständen oder Vorgängen vor Gericht Gültigkeit.4 Die Beweiswürdigung als Grundlage des Urteilens ist also an die Körperlichkeit des Richters5 gebunden; die Nutzung der Sinneseindrücke bildet die Voraussetzung des Urteilens und stellt gleichzeitig selbst eine Form der Beurteilung dar. Der Verweis auf diese körperliche, sinnliche Dimension des Urteilsprozesses eröffnet ein interessantes Spannungs-

1

Dieser Aufsatz basiert auf Forschungsarbeiten im Rahmen meiner Dissertation zum Thema Urteilsgefühl – Gefühlsurteil. Konzepte juristischer Rationalität und Emotionalität 1870–1933 (Arbeitstitel).

2

Schmidt, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, 246f.

3

Weber, Creifelds Rechtswörterbuch, Artikel Augenschein, 101.

4

Vgl. StPO § 86, ZPO § 371.

5

Es ist der historischen Situation geschuldet, dass hier ausschließlich von männlichen Richtern die Rede ist: Die erste Frau wurde 1930 zum Richteramt zugelassen.

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feld, gilt das Rechtswesen doch als Sphäre der Rationalität und des Verstandes, in der Regelanwendung und Subsumtion unter Normen im Mittelpunkt steht.6 Auch die juristischen Lehrbücher um 1900 scheinen diese Vorstellung auf den ersten Blick zu stützen. Im Kontext des Beweisverfahrens finden sich Beschreibungen von »rein logische[n]«7 Operationen und Gegenüberstellungen von sinnlicher Wahrnehmung und »Reflexion«8. Genauso deutlich bringen die Debatten um den Augenscheinsbeweis aber zum Ausdruck, dass eine konzeptuelle Trennung von Sinn und Sinnlichkeit, von Verstand und körperlicher Wahrnehmung – und damit die Trennung von Wahrnehmung und Urteil – problematisch ist.9 Wie also wird das Verhältnis von Sinn und Sinnlichkeit in den Konzepten der Beweis- und Urteilsfindung dieser Zeit gedacht? Der Fokus auf die Rolle sinnlicher Wahrnehmung beim Urteilen kann, so soll gezeigt werden, als Schlüssel fungieren, um die tiefgreifenden Veränderungsprozesse im Rechtswesen Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts zu analysieren. Diese Zeit ist als eine Phase vielfältiger Aushandlungs- und Neudefinitionsprozesse zu betrachten, die sich, so die These, nicht zuletzt entlang jener Fragen um eine verstandes- und/oder sinnesbasierte Urteilsweise bewegten. Welchen Stellenwert also maßen die Zeitgenossen den Sinneseindrücken des Richters bei? Wird die sinnliche Wahrnehmung überhaupt als Teil des Urteilens aufgefasst? Und wie sollte sich der Umgang mit sinnlicher Wahrnehmung gestalten, wie die »Überzeugung von den Thatsachen«10 gewonnen werden?

W AS IST UND WIE ENTSTEHT (AUGENSCHEINS )B EWEIS ?

EIN

Rein formal betrachtet stellt der richterliche Augenschein einen Teil des gerichtlichen Beweisverfahrens dar, mithilfe dessen das Gericht versucht, die Tat und den Tathergang bzw. den sogenannten Sachverhalt zu rekonstruieren. Anhand der juristischen Beschreibungen, wie sie in den Lehrbüchern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auftreten, wird deutlich, dass das Beweisverfahren als ein Prozess der Wahrheitserkenntnis verstanden wird. Die »Feststellung der

6

Vgl. hierzu Meder, Rechtsgeschichte, 249.

7

Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht, 398.

8

Schmidt, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, 459.

9

Zur historischen Entwicklung der Diskussion um juristische Erkenntnisprobleme vgl. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?

10 Schmidt, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, 246.

V ON S INN

UND

S INNLICHKEIT

DES

RICHTENS

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Wahrheit«11 stellt laut klassischer Lehre einen mehrstufig gedachten Vorgang dar, der abgeschlossen ist, sobald sich »bei dem Richter die Überzeugung von der Wahrheit«12 eingestellt hat. Doch was ist zu dieser »Herstellung der Wahrheit«13 für den Richter zu tun? Richard Schmidt trennt in seinem Lehrbuch den ersten Vorgang der »Beweisaufnahme, d.h. der Entgegennahme der Erkenntnisquellen« von dem zweiten der »Beweiswürdigung, d.h. der Ableitung der aufklärungsbedürftigen Tatsachen und Regeln aus dem Wahrgenommenen«14. Der Unterschied zwischen den Schritten liegt laut Schmidt vor allem in der Art der Verarbeitung durch den Richter: Die Beweisaufnahme ist für ihn »ein Vorgang der Sinneswahrnehmung«, die Würdigung »ein Vorgang der Reflexion«,15 die in einem Urteil über die Wahrheit des zu Beweisenden mündet. Die Beweiswürdigung ist ebenso wie die darauf folgende juridische Entscheidung ein »rein interner Reflexionsvorgang«, eine »Vornahme von logischen Operationen«16. Der Übergang zwischen den beiden sei daher fließend. Die sinnliche Wahrnehmung jedoch bleibt von der geistigen Arbeit klar abgegrenzt. Für die Beweistätigkeit sind Schmidt zufolge vor allem »die logischen Elemente der richterlichen Entscheidung«17 von Bedeutung. Diese strukturelle Trennung von Sinn und Sinnlichkeit, von verstandesbasierter Arbeit und körperlicher Wahrnehmung ist ein Kernelement vieler Lehrbücher. So beschreibt auch Birkmeyer: »Man läßt die Beweismittel sprechen« während der Beweisaufnahme, dann wird in der Beweiswürdigung »zusammengestellt, geprüft und [...] gewertet«.18 »Die Operation der Beweiswürdigung«, so Birkmeyer weiter, »ist also jetzt eine rein logische.«19 Mit dieser Aufteilung der Erkenntnisschritte wird nicht nur eine physische von einer logischen Ebene getrennt, sondern gleichzeitig auch eine Opposition von Passivität und Aktivität eröffnet. Dies klingt bereits im Begriff

11 Birkmeyer, Strafprozeßrecht, 395. Da diese Untersuchung nicht primär rechtshistorisch angelegt ist, wird der Fokus im Folgenden nicht auf spezielle Eigenheiten bzw. Unterschiede von Straf- und Zivilprozessordnung, sondern auf den Umgang mit sinnlicher Wahrnehmung bzw. auf emotionale Implikationen gelegt. 12 Kleinfeller, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 310. 13 Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht, 397. 14 Schmidt, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, 459. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht, 397f. 19 Ebd., 398.

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der ›Erkenntnisquelle‹ an, die wahrgenommen werden soll. Der Richter nimmt diese laut Schmidt entgegen, er empfängt sie und horcht, wie Birkmeyer formuliert, auf ihre Botschaft. Der sinnliche Wahrnehmungsvorgang wird also von beiden Autoren als ein passiver Rezeptionsakt verstanden, als Empfangen eines Reizes von außen. Dem wird eine Sphäre der inneren, nämlich geistigen Arbeit gegenübergestellt. Erst im zweiten Schritt, dem der Reflexion, erhält der Richter dann die aktive Funktion des Räsonierenden und Urteilenden. Das Urteilen beginnt diesem Verständnis folgend also erst nach der ›Entgegennahme‹ der Erkenntnisquellen, nach der sinnlichen Wahrnehmung.20 In der Anwendung auf den richterlichen Augenscheinsbeweis allerdings scheint dieses Konzept der Mehrstufigkeit, über das die Beweisproduktion gefasst wird, an seine Grenzen zu stoßen. Die strikte Trennung der Erkenntnisschritte von Wahrnehmung und Beurteilung in der Methodenlehre erweist sich den Juristen im Hinblick auf die sinnliche Wahrnehmung beim Augenscheinsbeweis als brüchig. Ein erster Widerspruch ist bereits in der Definition dieser Beweisform angelegt: Der richterliche Augenschein ist »jene [...] Sinneswahrnehmung, durch welche der Richter sich die zu einer erschöpfenden Beweiswürdigung nöthige Ueberzeugung zu verschaffen sucht«21. Es geht um die physische Präsenz des Richters, der durch seine Sinneswahrnehmung – hier sind alle Sinne gemeint, neben Seh- auch Geruchs-, Gehörs-, Geschmacks- oder Tastsinn22 – die Wahrheit unmittelbar erschließen soll. Die sinnliche Wahrnehmung ist also nicht nur Voraussetzung des Richtens, sondern fällt mit der Beurteilungsdimension zusammen. Das Urteil über den Wahrheitsstatus des zu Beweisenden geht direkt mit der sinnlichen Wahrnehmung einher, die Überzeugung von der Wahrheit wird durch den sinnlichen Eindruck beim richterlichen Augenschein gewährleistet. Die spezielle Qualität dieser Beweisform liegt laut Zeitgenossen genau in der Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung, die dem Richter einen von weiteren Verarbeitungsschritten wie Protokollen oder Zeugenaussagen unverfälschten Eindruck der Wirklichkeit ermöglicht. Deshalb nimmt der richterliche Augenscheinsbeweis eine besonders wichtige Position unter den Beweismethoden ein: Er könne als einzige Beweisform Sicherheit über die sogenannten

20 Es bleibt zu beachten, dass die Lehrbücher nicht die Gesamtheit der zeitgenössischen Debatten abbilden. Als dominante Konzepte der zeitgenössischen Lehre sind sie hier dennoch relevant. Zu Widersprüchen gegen und Einsichten in die Grenzen ideal typischer Abgrenzungen siehe Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? 21 Weveld, Lehre vom gerichtlichen Augenschein, 1. 22 Vgl. ebd.

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Tatsachen liefern und »objektive Wahrheit schaff[en]«.23 Sinnliche Wahrnehmung erscheint als Garantiemittel, durch das sich dem Richter objektive, d.h. von jeder anderen Person ebenso und unverändert wahrzunehmende Tatsachen, zeigen. Im Zuge des Augenscheins wird die sinnliche Wahrnehmung von dem Wahrscheinlichkeitspostulat, das für andere Beweisformen gilt, gerade ausgenommen. Während der Richter sonst »niemals absolute Gewißheit« erlangen könne, was seine Überzeugung von der Wahrheit angehe, zeige sich die direkte sinnliche Wahrnehmung gewissermaßen als ›sichere Bank‹ innerhalb der Beweisproduktion.24 Die besondere Urteilssicherheit bezüglich der Überzeugung von der Wahrheit verdankt der Richter folglich dem physischen Akt seiner sinnlichen Wahrnehmung, die in diesem Fall eine aktive Urteilskomponente besitzt. Eine klare Trennung von Wahrnehmung und Beurteilung ist hier nicht gegeben. Es war daher eine Streitfrage unter zeitgenössischen Juristen, inwiefern der Augenscheinsbeweis nun mit dem allgemeinen Modell, das auf dichotomischen Kategorien von Innen und Außen bzw. Aktivität und Passivität aufbaute, in Einklang zu bringen sei. Die Frage nach der Abgrenzung von Wahrnehmung und Urteil wird besonders virulent in Diskussionen um die sogenannte richterliche Überzeugung, auf die sich der Augenscheinsbeweis und generell jeder Beweis gründet. Hier zeigt sich, wie eng das Konzept der richterlichen Überzeugung mit Fragen nach dem richterlichen Umgang mit Sinneswahrnehmungen und Gefühlen verwoben ist.

D AS V ERTRAUEN AUF DIE I NNERLICHKEIT . V ON GESETZLICHEN B EWEISREGELN ZUR ›Ü BERZEUGUNG ‹ Das 19. Jahrhundert bedeutet für das Rechtswesen der deutschen Einzelstaaten und später des Kaiserreichs eine Zeit tiefgreifenden Wandels. Insbesondere mit den Straf- und Zivilprozessreformen in Preußen ab 1846 und den 1877 erlassenen Reichsjustizgesetzen25 finden einige grundsätzliche Neuerungen in die Gerichtsverfahren Eingang. Im Strafrecht wird der mittelalterliche, zum Teil von Folter begleitete Inquisitionsprozess abgelöst von einem öffentlichen, münd-

23 Weveld, Lehre vom gerichtlichen Augenschein, 70, auch 2, 40; vgl. auch Kleinfeller, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 355. 24 Hellmann, Lehrbuch des deutschen Civilprozeßrechtes, 480. 25 Erlassen wurden die Reichsjustizgesetze 1877, in Kraft traten sie allerdings erst 1879.

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lichen und unmittelbaren Strafverfahren.26 Neu und heftig umstritten ist außerdem die Abschaffung der gesetzlichen Beweisregeln durch den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung. Seit Jahrhunderten war die Beweisproduktion und -bewertung des Richters streng reglementiert worden, ein Katalog von fixierten Kriterien, unter welchen Voraussetzungen eine Behauptung als wahr oder unwahr zu betrachten war, leitete den Richter an. Das Urteil über die Wahrheit, die Beurteilung der Beweise lag damit außerhalb der richterlichen Kompetenz.27 Im Unterschied dazu stellt ab 1879 für Straf- wie Zivilangelegenheiten im gesamten Kaiserreich nicht mehr Regelanwendung, sondern die individuelle Einschätzung des Richters den Kern der richterlichen Urteilstätigkeit dar. Richter sind lediglich angehalten, »nach bestem Wissen und Gewissen«28 zu urteilen – was allerdings weitgehend im Dunkeln lässt, wie »[d]as Zustandekommen der richterlichen Ueberzeugung, die urtheilende Thätigkeit des Richters«29 zu verlaufen habe. Wie oder woraus soll diese Überzeugung gebildet werden? In den heftig geführten Debatten spielt der Verweis auf das französische Rechtssystem eine wichtige Rolle. Der Code d’Instruction Criminelle setzt auf einen starken Einbezug von Laienrichtern und auf das Konzept der intime conviction, welche laut der Rechtshistorikerin Karoline Peters auf der Annahme beruht, »daß der Geschworene nur aufgrund seiner orakelhaften moralischen Überzeugung urteilen könne«30. »Das Gesetz fordert von den Geschwornen keine Rechenschaft über die Gründe, wodurch sie sich überzeugt gefunden haben; es schreibt ihnen keine Regeln vor [...]. [Es] macht an sie die einzige Frage [...]: Sind sie innig überzeugt?«31 Diese innige Überzeugung der Geschworenen als Grundlage des Urteilens wird in Frankreich als Gegenpol zu den vermeintlich durch Intellekt und Betriebsblindheit eingeengten oder gar fehlgeleiteten Berufsrichtern gedacht32 – eine Vorstellung, die auch in der deutschen Jurisprudenz aufgegriffen wird. Dort findet die intime conviction eine Weiterentwicklung im Konzept des ›Totaleindrucks‹, das auf eine Art Wahrheitsinstinkt der Volksrichter setzt, die »vom Standpunkt des natürlichen Rechtsgefühls«33 Fälle prüfen

26 Vgl. Roth, Grundriss, 138–158. 27 Vgl. Koch, Der Zeugenbeweis in der deutschen Strafprozeßrechtsreform, 246f. 28 Weveld, Lehre vom gerichtlichen Augenschein, 68. 29 Rupp, Der Beweis im Strafverfahren, 107. 30 Peters, Temme und das preußische Strafverfahren, 161. 31 Code d’Instruction Criminelle, 161. 32 Vgl. Bergfeld, Der Zeugenbeweis im deutschen Zivilprozeßrecht, 218. 33 Tippelskirch, Beiträge zur zukünftigen Strafprozeßordnung für Preußen, 309.

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sollten.34 Erst durch die »intuitive Erkenntnis der Geschworenen«, so der Jurist Köstlin, trete zu der »abstrakten Reflexion« eine »qualitativ andere, unmittelbare Erkenntniß, ein intuitives Vernehmen«.35 Hier rückt wiederum die direkte sinnliche Wahrnehmung in den Vordergrund: Die Voraussetzung des intuitiven Urteilens sieht Köstlin in der »lebendige[n] mündliche[n] Rekonstruktion der Handlung«, weil »jener Gesammteindruck nicht aus Reflexion, sondern nur aus Anschauung hervorgehen kann«.36 Ein weiteres wichtiges Element besteht darin, »daß sich der Richtende mit seinem Gewissen in die Mitte der Handlung versetzt und so deren einzelne Seiten und Momente zum Gesammteindrucke des lebendigen Ganzen sammelt«.37 Deutlich wird hier die Vorstellung des Urteilens als eines Zusammenspiels von Intuition, Imagination und direkter sinnlicher Wahrnehmung, beruhend auf physischer Präsenz und emotionaler Sensibilität des Richters. Die sinnliche Wahrnehmung inklusive ihrer emotionalen Implikationen ist hier also nicht nur Voraussetzung, sondern Inbegriff des Urteilens selbst. Diese Methode ziehen etliche deutsche Rechtsgelehrte gleichzeitig aber auch in Zweifel und üben heftige Kritik: Irrationalität und Willkür werde Tür und Tor geöffnet, wenn das Urteil nur auf Eindrücken auf das Gemüt der Richter beruhe, wenn der Richter nur »einem gewissen dunklen Gefühle« von der Wahrheit folge.38 Richterliches Urteilen ist ihrem Verständnis nach keineswegs identisch mit einer Überzeugungsbildung durch Intuition und Gefühl. Diese Komponenten erscheinen in ihrer Argumentationslinie vielmehr als Gefahr des Rechts. Und doch wird 1879 im gesamten Kaiserreich das Prinzip der freien Überzeugungsbildung, die freie Beweiswürdigung, eingeführt – und zwar für Laienwie für Berufsrichter. Ausschlaggebend hierfür ist laut Peters das Aufbrechen der strengen Dichotomisierung zwischen Urteilsweisen von Berufs- und Laienrichtern.39 Auch die Urteilsfindung der Geschworenen wird mit der Zeit stärker als Prozess der Reflexion betrachtet. Es vollzieht sich gewissermaßen, so meint

34 Vgl. dazu auch Deppenkemper, Beweiswürdigung als Mittel prozessualer Wahrheitserkentnis, 214f. 35 Köstlin, Wendepunkte des deutschen Strafverfahrens, 116–118. Zum »Wahrheitsinstinkt« siehe auch Deppenkemper, Beweiswürdigung als Mittel prozessualer Wahrheitserkenntnis, 198–204. 36 Köstlin, Wendepunkte des deutschen Strafverfahrens, 120. 37 Ebd. 38 Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozeß, 70; ähnlich auch Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, 140–142. 39 Vgl. Peters, Temme und das preußische Strafverfahren, 162f.

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Küper, eine »Rationalisierung der Schwurgerichtsidee«40. Dennoch wirft das Konzept der freien Überzeugungsbildung in seiner formalen Liberalisierung und Subjektivierung für die Richterschaft etliche Fragen auf. Denn es ist keineswegs geklärt, »ob es sich um eine einfache Angelegenheit des Gewissens, um eine intuitive Entscheidung [...] oder ob es sich nicht doch stets um eine Verstandestätigkeit handele«41. Eine zentrale Herausforderung besteht also darin, genau diese Elemente des richterlichen Urteilens – und damit das richterliche Urteilen selbst – zu definieren.

D ENKGESETZE UND E RFAHRUNGSREGELN E RSATZSICHERHEITEN

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Je stärker die Kategorie der Überzeugung in den Mittelpunkt rückt,42 desto stärker liegt die Last der grundsätzlichen Fehlbarkeit menschlichen Erkennens auf den Schultern des Richters. Die Frage, inwieweit im Prozess überhaupt »Gewissheiten« produziert werden könne, wird von den Zeitgenossen intensiv diskutiert.43 Das von vielen Juristen geteilte Vertrauen auf die richterliche sinnliche Wahrnehmung – und damit insbesondere auch jenes auf den Augenscheinsbeweis – gerät in die Kritik. Scharf geht Friedrich Stein in einem Text von 1898 »den jugendlichen Glauben an die ›Gewissheit‹« des Augenscheins an: »Keine Stütze ist schwächer als die der eignen Sinneswahrnehmung.«44 Wie ist nun mit diesem Bewusstsein für die Fehlbarkeit der menschlichen Wahrnehmung umzugehen, »[w]ie [...] eine richtige Ueberzeugung zu erlangen« 45? Eine Antwort der Zeitgenossen darauf lautet: durch »geistige Arbeit«46 an der sinnlichen Wahrnehmung. Nicht nur der Augenscheinsbeweis, sondern die

40 Küper, Die Richteridee der Strafprozeßordnung, 222. 41 Nobili, Die freie richterliche Überzeugungsbildung, 42. 42 Vgl. hierzu Stichweh, Subjektivierung der Entscheidungsfindung, 266. 43 Zu Positionen dieser Diskussion siehe Birkmeyer, Deutsches Strafprozeßrecht, 396. Dass es sich hierbei nicht um einen erkenntnistheoretischen Fortschritt handelt und Grenzen menschlicher Erkenntnis bereits früher thematisiert wurden, beschreibt Regina Ogorek. Vgl. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? 44 Stein, Das private Wissen des Richters, 29. Generell scheint der Augenscheinsbeweis in den Abhandlungen und auch in den Prozessordnungen, die alle Beweismethoden auflisten, von seiner ehemals meist ersten Stelle an hintere Positionen zu rücken. 45 Rupp, Der Beweis im Strafverfahren, 199. 46 Ebd., 1.

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gesamte »urtheilende Tätigkeit des Richters«, betont Erwin Rupp 1884 in seiner beweistheoretischen Arbeit, beruhe auf »Sinneswahrnehmungen: Gehöreindrücken von Zeugenaussagen, Gesichtseindrücken von Objekten der Außenwelt«.47 Entgegen der Lehrbuchmeinungen ist bei Rupp die sinnliche Wahrnehmung unauflöslich mit gedanklicher Verarbeitung verwoben, womit auch die richterliche Urteilstätigkeit schon viel früher ansetzt. Schon die automatische, teils unbewusste Interpretation dessen, was wir wahrnehmen, diese sogenannten ›Vorstellungen‹ gelte es zu hinterfragen und mit Methoden kritischen Denkens zu überprüfen. In gewisser Weise zeigt sich hier, wollte man an Küper anknüpfen, eine ›Rationalisierung der Wahrnehmungsidee‹ und damit auch der Überzeugungsidee. Das richterliche Urteilen beginnt bereits mit der sinnlichen Wahrnehmung, deren Richtigkeit jedoch in einem Akt der Verstandesarbeit überprüft werden muss. Die Konzentration auf die Innerlichkeit, auf die sinnliche Wahrnehmung bleibt bestehen, wird jedoch vom Begriff der Intuition gegelöst und »mit Hilfe eines complicirten Apparates von zahlreichen Schlüssen«48 quasi ›rationalisiert‹. Rupp setzt auf eine Bewusstmachung von Sinnesverarbeitungen, auf eine Beobachtung des Denkens – eine Selbstbeobachtung. Sie scheint ihm im Unterschied zur Wahrnehmung nicht fehlbar zu sein, »insoweit wir die ›Gesetze des Denkens‹, die Regeln der ›Logik‹ bei derselben befolgt wissen.« 49 Mit »Anwendung dieser Regeln« sei gewiss, »daß die Resultate absolut gewiß, daß sie giltig seien.«50 Allerdings scheint ihm die dauerhafte Anwendung dieses Verfahrens praktisch unmöglich, da es »eine viel zu langwierige und complicirte Kette von zahlreichen Denkoperationen« sei.51 Die Lösung? Für sie findet Rupp keine Regel. Die Urteilsfähigkeit, wie sie der »gesunde Verstand« 52 besitzt, gekoppelt mit dem steten, »gewissenhaften« 53 Bemühen um größtmögliche Selbstreflexion, muss dem Richter genügen. Wie es dennoch möglich sein soll, zu sogenannten »richtigen«, intersubjektiv gleich ausfallenden Überzeugungen zu gelangen, lässt Rupp offen.54 Obgleich Rupp also die geistige, logische Arbeit ins Zentrum stellt, so dienen doch als Kitt seiner Theorie Begriffe, die nicht weniger interpretationsoffen sind wie jener der Überzeugung selbst.

47 Rupp, Der Beweis im Strafverfahren, 101. 48 Ebd., 99. 49 Ebd., 21 [Hervorhebungen im Original]. 50 Ebd. 51 Ebd., 22. 52 Ebd., 100. 53 Ebd., 199. 54 Zur »richtigen Ueberzeugung« vgl. ebd., 198–203.

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Nichtsdestotrotz ist erkennbar, wie er versucht, der Unbestimmtheit des Beweisrechts und der Fehlbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung durch den Fokus auf ›Denkgesetze‹ und Erfahrungsregeln Herr zu werden. Hatte man sich der gesetzlichen Beweisregeln entledigt, um der Ausdifferenzierung des Lebens gerecht zu werden und auf individuelle Fälle reagieren zu können – und dies als Fortschritt und Modernisierung des Rechtssystems angesehen –, so scheint die Unbestimmtheit des Rechts bei den Zeitgenossen das Bedürfnis nach Einführung mentaler Gesetze und zusätzlicher Erfahrungsregeln auszulösen. »Wir Kinder des neunzehnten Jahrhunderts haben Umwälzungen auf allen Wissensgebieten in genügender Zahl und von solcher Wucht erlebt, dass wir Bescheidenheit haben lernen müssen«, bemerkt Friedrich Stein in seiner Abhandlung über Das private Wissen des Richters und fragt: »Wie aber gelingt es uns, die wir doch im Prozesse festen Boden unter den Füssen haben müssen, um von hier aus den gerechten Spruch zu fällen, diesen Boden zu finden, wenn Nichts in Ruhe, Alles in Bewegung ist?«55 Als zentral für die Überzeugungsbildung des Richters bewertet er »den ganzen Schatz seiner Lebenserfahrung«, die »Kenntniss der Lebensverhältnisse«, gerade da, wo die Rechtssätze neu sind oder sich auf unscharfe Wendungen berufen.56 Der Begriff der Lebenserfahrung oder auch Lebensnähe ist bei Stein verknüpft mit den sogenannten Erfahrungssätzen, an denen der Jurist sich zu orientieren habe – die allerdings nirgends schriftlich festgehalten sind. In dieser Hinsicht greifen die entsprechenden Wissenschaften dem Richter unter die Arme: Insbesondere die aufstrebenden Disziplinen der forensischen Psychologie und der Kriminalistik erhalten im 19. Jahrhundert immer größere Deutungsmacht bei der Beweisproduktion. Sie verheißen genau jene Leerstellen bei der Beweisproduktion und Urteilsfindung zu füllen, die durch den Verweis auf ›Denkgesetze‹ und Erfahrungsregeln nicht vollends gefüllt werden können.

H ERAUSFORDERUNG

DURCH NEUE

E XPERTISE

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bringt für die Naturwissenschaften einen rasanten Aufschwung. In der Medizin glaubt man ›eine neue Epoche für die Wissenschaft‹ begonnen zu haben und die Medizin endlich in die Welt des naturwissenschaftlichen Faktenwissens überführt zu haben. Auch die junge Disziplin der Sozialwissenschaft profiliert sich über die »Einübung des Tat-

55 Stein, Das private Wissen des Richters, 31. 56 Ebd., 41.

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sachenblicks«57 und reiht sich damit ein in die zeitgenössische Hinwendung der Forschung zum Faktischen. Diese ist nicht zuletzt getragen von einem erblühenden Wissenschaftsglauben, der neben einem starken Fortschrittsgedanken auch tiefes Vertrauen in die Hervorbringung von Gewissheiten transportiert – also eben jene Sicherheit verspricht, nach der man im Recht stets (und mit Einführung der freien Beweiswürdigung umso intensiver) sucht. Es sind denn auch Vertreter der natur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, vor allem der Psychologie und der daraus hervorgehenden Criminalpsychologie, die das Justizwesen, insbesondere die Strafjustiz, in Frage stellen und als Sachverständige vor Gericht immer häufiger entscheidungsrelevante Positionen erhalten.58 Dabei konfrontieren sie Praktiken, die auf sinnlicher Wahrnehmung beruhen, auf mehreren Ebenen mit Herausforderungen: Bei dem vom Richter persönlich einzunehmenden Augenschein stellt sich zum einen rein praktisch die Frage nach der Einbindungsmöglichkeit einer Sachverständigenperson und nach deren Kompetenzbereich. Zum anderen ziehen die neuen wissenschaftlichen Disziplinen aber auch durch ihre inhaltliche Beschäftigung mit der menschlichen Wahrnehmung bisherige juristische Methoden in Zweifel. Als Sachverständige gelten um 1900 allgemein jene Personen, die sich durch »Kenntniß einer Wissenschaft, einer Kunst oder eines Gewerbes«59 auszeichnen und deren Zuziehung der Richter anordnen kann.60 Welche Position der Sachverständige aber beim Augenscheinsbeweis einnehmen soll und in welchem Verhältnis er zum Richter steht, ist unter den Zeitgenossen stark umstritten.61 Die Grenze zwischen richterlichem Augenschein und Sachverständigenbeweis ist unklar und verschwimmt immer wieder: Ist der Augenscheinsbeweis unter Hinzuziehung eines Experten überhaupt noch ein Augenscheinsbeweis? Nimmt der Sachverständige gar richterliche Funktionen wahr?62

57 Vgl. Bonß, Die Einübung des Tatsachenblicks. 58 Vgl. Raphael, Verwissenschaftlichung des Sozialen sowie ders., Embedding the Human and Social Sciences in Western Societies; Kästner/Kesper-Biermann, Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz; zur Definition des Sachverständigen oder (von mir synonym gebrauchten) Experten insbesondere vgl. dies., Zur Einführung, 3, 5. 59 Hellmann, Lehrbuch des deutschen Civilprozeßrechtes, 560. 60 Vgl. Hellmann, Lehrbuch des deutschen Civilprozeßrechtes, 557. 61 Vgl. z.B. Wewer, Der Beweis durch Augenschein im Deutschen Zivilprozessrecht; Kleinfeller, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts. 62 Die Form des zusammengesetzten Augenscheins existierte bereits vor den Prozessreformen des 19. Jahrhunderts. Allerdings scheint es, als würde die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Richter und Experte erst im Zuge der freien Beweis-

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Diese Frage nach dem Kompetenzbereich des Sachverständigen wird wieder anhand jener Argumentationslinien ausgehandelt, die über verschiedene Vorstellungen der Bezogenheit von Wahrnehmung und logischem Schluss verlaufen. Ältere Modelle trennten Hellmann zufolge die Tätigkeit des Experten in zwei Bereiche, nämlich einerseits des »wahrnehmenden« und andererseits des »urtheilenden« Sachverständigen.63 Er selbst wie auch andere Zeitgenossen weisen diese Unterscheidung als veraltet zurück. Der wahrnehmende Sachverständige sei immer und unweigerlich zugleich urteilender Sachverständiger. »Denn wo der Richter ohne Hilfe Sachkundiger eine richtige Wahrnehmung nicht machen kann, da ist es der Sachkundige, der zufolge seiner Sachkenntnisse die Objekte beurtheilt und indem er beurtheilt, wahrnimmt, was andere nicht wahrnehmen.«64 Hier zeichnet sich also die These ab, die Wahrnehmung sei an sich bereits abhängig von bestimmten fachlichen Grundvoraussetzungen, und damit auch nicht von der Beurteilung des Gegenstands zu trennen. Die Kompetenz des Experten manifestiert sich einerseits in der besonderen Qualität seiner sinnlichen Wahrnehmung, einer »geschärfte[n] Fähigkeit seiner Sinne«65, gleichzeitig aber auch in einer gesteigerten Beurteilungsfähigkeit, »wo andere nichts als den nackten Sinneseindruck berichten könnten«66. Genau diese Frage nach den Fähigkeiten im Bereich der sinnlichen Wahrnehmung stellt auch einen Konfliktpunkt in den Kompetenzstreitigkeiten zwischen Sachverständigen und Richtern vor Gericht dar. Um die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen o.ä. zu beurteilen, wurde eine besondere Beobachtungsgabe der Beurteilenden als wichtig erachtet, beispielsweise hinsichtlich bestimmter Gebärden des Zeugen.67 Die Aushandlungsprozesse um Deutungs- und Beurteilungshoheit, die nicht nur zwischen Sachverständigen und Juristen, sondern ebenso heftig zwischen den einzelnen Disziplinen der Sachverständigen geführt werden68, erhalten noch einmal eine neue Dimension, als sich die Sozial- und Naturwissenschaften verstärkt dem Richter und dessen Wahrnehmen und Urteilen zuwenden. Einerseits war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Rechtssoziologie entstanden,

würdigung und mit dem Bedeutungszuwachs des Sachverständigenbeweises verstärkt diskutiert. Vgl. z.B. von Weveld, Lehre vom gerichtlichen Augenschein, 39. 63 Hellmann, Lehrbuch des deutschen Civilprozeßrechtes, 562. 64 Ebd. 65 Stein, Das private Wissen des Richters, 9. 66 Ebd., 10. 67 Vgl. Greve, Verbrechen und Krankheit, 312f und 440f. 68 Vgl. Kästner/Kesper-Biermann, Experten und Expertenwissen in der Strafjustiz.

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welche die soziokulturellen Bedingungen des Richtens reflektierte,69 andererseits wurde die Tradition des Richtens von Seiten der Psychologie angegriffen, die zum Teil philosophisch schon Vorgedachtem, aber Vernachlässigtem nun ›faktischen‹ Boden gab. In seiner Studie Zur Psychologie der richterlichen Urteilsfindung richtet sich Albert Hellwig gegen die gängige juristische Auffassung der Urteilsbildung als einen »logischen Schluß« und betont vielmehr die »Fähigkeit zur richtigen Verarbeitung von Sinneseindrücken«.70 Die Herausforderung stelle sich nicht erst, wie oft angenommen, bei der Anwendung juristischer Kenntnis auf die wahrgenommenen Tatsachen, sondern bereits in der Feststellung und Definition der Tatsachen selbst.71

D ER KRIMINALISTISCHE B LICK UND F AKTENWISSEN

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Je mehr die neuen wissenschaftlichen Disziplinen die Grenzen des richterlichen Wahrnehmens betonen und die grundsätzliche Unsicherheit und Fehlbarkeit der Urteilsfindung ›wissenschaftlich belegen‹, desto stärker untermauern sie die Notwendigkeit naturwissenschaftlicher Praktiken bei der Wahrheitsfindung und bringen sich damit auch als unentbehrliche Experten vor Gericht in Stellung. Zwei der erstarkenden Disziplinen sind die sogenannte Criminalpsychologie und die sich daraus entwickelnde Kriminalistik. Mit ihrer voranschreitenden Institutionalisierung werden nicht nur neue Forschungsrichtungen geschaffen, sondern gleichzeitig auch neue Vorstellungen zur Herstellung und Ordnung von Wissen. So beschreibt Rebekka Habermas in ihrer Studie über Diebe vor Gericht, wie die Unsicherheit über die Definition und Herstellung von Beweisen seit Einführung der freien Beweiswürdigung in einen Boom der Kriminalistik und in eine Art von Ordnungsobsession mündet, weshalb nicht nur neue Textsorten und Recherchetechniken, sondern auch neue Parameter zur Differenzierung von wahr und falsch entstehen.72 Die Verflechtung der verschiedenen Disziplinen mit der Rechtswissenschaft ist somit als »Teil einer viel breiteren Veränderung von Wissensformationen und Arten der Wissensproduktion« anzusehen.73 Mit

69 Grundlegend hier: Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts. 70 Hellwig, Zur Psychologie der richterlichen Urteilsfindung, 5f. 71 Vgl. ebd., 25. Inwieweit Hellwig dabei alte Topoi als neue Erkenntnis verkauft, kann hier nicht erörtert werden. Vgl. dazu z.B. Ortmann, Vom ›Motiv‹ zum ›Zweck‹. 72 Vgl. Habermas, Diebe vor Gericht, 95f. und 111–114. 73 Ebd., 95f.

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immensem Fleiß- und Zeitaufwand wird ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Informationsflut produziert, es werden Protokolle, darunter auch Augenscheinsprotokolle, Listen und beschriftete Skizzen erstellt, die Objektivität evozieren sollen, indem sie »einen reihenden Stil pflegen, der Vollständigkeit, Sachlichkeit und Unbeteiligtheit suggerierte und damit die Abwesenheit jedweder Form von Emotionalität oder Subjektivität, von Überflüssigem oder Schnörkeln zu garantieren scheint«.74 Bei der juristischen Wahrheitsproduktion bestätigt sich also auch, was Bonß im Hinblick auf die Sozialwissenschaften beschreibt: Quantifizierbarkeit entwickelt sich zu einem Leitgedanken, es gilt, »Erfahrungsgegenstände, in partikulare, verrechenbare Einheiten aufzulösen«.75 Das Vermessen und Protokollieren wird zu einem Mittel, gar zum Hauptgegenstand der Beweisproduktion, gemäß der von dem Staatswissenschaftler und Ökonom Bruno Hildebrand geäußerten Überzeugung, dass die »statistische Zahl« eine »absolute Thatsache [sei], die keinen Zweifel zulässt«.76 Sie schließe »jeden subjectiven Irrtum, jeden Einfluss individueller Auffassung aus« und verwandle »unsere menschlichen Beobachtungen erst in wirkliche Tatsachen«.77 Und doch bleibt die sinnliche Wahrnehmung unerlässlich. Die zur Sammlung des Beweismaterials herangezogenen Polizeikräfte benötigen laut einem von Habermas zitierten Polizeihandbuch nämlich nicht nur »gesunde Urtheilskraft, einige Lokalkenntnis, Fertigkeit im Lesen und Schreiben«, sondern auch »gute sinnliche Werkzeuge zur Thätigkeit und Wahrnehmung« und vor allem die »Fähigkeit zu sehen und zu hören«78. Was Habermas als einen »neue[n] Blick« beschreibt,79 scheint sich also ebenso auf eine allgemeinere Wahrnehmungsebene zu beziehen. Die Frage nach der Tragweite sinnlicher Wahrnehmung und ihrer Urteilsdimension läuft in den Debatten stets mit.

74 Habermas, Diebe vor Gericht, 114. 75 Bonß, Die Einübung des Tatsachenblicks, 82. 76 Hildebrand, Die wissenschaftliche Aufgabe der Statistik, 4. 77 Ebd., 5. 78 Zimmermann, Die deutsche Polizei im neunzehnten Jahrhundert, 1113, 1126, zit. in: Habermas, Diebe vor Gericht, 118. 79 Habermas, Diebe vor Gericht, 96.

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F AZIT Es ist deutlich geworden, dass die Rechtswissenschaft Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder neue Versuche macht, das Verhältnis von Wahrnehmung und Urteil neu bzw. näher zu bestimmen. Viele Autoren, insbesondere jene von Lehrbüchern, arbeiten sich dabei an dichotomischen Modellen ab. Oft wird die Vorstellung einer von außen initiierten Wahrnehmung bzw. eines von außen auf den Körper wirkenden Reizes einer innerlich gedachten Reflexion gegenübergestellt. Gleichzeitig bedeutet dies auch die Kontrastierung von passiver Reaktion bzw. Rezeption und aktiver (geistiger) Eigenleistung. Intensiv diskutiert wird das Verhältnis von Wahrnehmung und Urteil im Kontext der freien Beweiswürdigung, die mit dem zentralen Begriff der inneren Überzeugung zunächst mit einer formalen Subjektivierung der richterlichen Tätigkeit einhergeht und mit emotionalen Implikationen verwoben scheint. Gleichzeitig erfährt die Rechtswissenschaft eine gegenläufige Entwicklung: Die neue Wirkkraft natur- und sozialwissenschaftlicher Deutungsweisen und die Hinwendung zum Sicherheit versprechenden Faktenwissen leisten der Entsubjektivierung der Beweis- und Urteilsproduktion Vorschub, was sich beispielsweise in der Übernahme von Techniken der forensischen Psychologie und der Kriminologie zeigt. Es existieren also verschiedene Stoßrichtungen zur Definition des Verhältnisses von sinnlicher Wahrnehmung und Urteil, die sich überlagern, sich widersprechen, gegenseitig aufeinander Bezug nehmen. Den betrachteten Narrativen ist eine Suchbewegung eigen, die eine nie abgeschlossene Schleife zu bilden scheint. Sie alle kreisen um eine zentrale, aber letztlich ungeklärte Frage: Was ist und wo beginnt das richterliche Urteilen?

Q UELLEN Birkmeyer, Karl (1898): Deutsches Strafprozeßrecht. Mit eingehender Bezugnahme auf die preußischen und bayerischen Ausführungsbestimmungen und unter Berücksichtigung des österreichischen Strafprozeßrechtes, Berlin: H. W. Müller. Code d’Instruction Criminelle (1811 [frz. Ausgabe 1808]). Gesetzbuch über das gerichtliche Verfahren in Criminal-Sachen oder Criminal-Prozeß-Ordnung. Aus dem Französischen nach der officiellen Ausgabe übersetzt von Gottfried Daniels, Berlin: Keil.

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Ehrlich, Eugen (1913): Grundlegung der Soziologie des Rechts, München/ Leipzig: Duncker & Humblot. Feuerbach, Paul Johann Anselm (1813): Betrachtungen über das GeschwornenGericht, Landshut: Philipp Krüll. Hellmann, Friedrich (1886): Lehrbuch des deutschen Civilprozeßrechtes für den akademischen und praktischen Gebrauch, München: Ackermann. Hellwig, Albert (1914): Zur Psychologie der richterlichen Urteilsfindung, Stuttgart: Enke. Hildebrand, Bruno (1866): Die wissenschaftliche Aufgabe der Statistik. Eine akademische Rede, gehalten am 5. August 1865 zum Abtritt des Prorectorats, in: ders. (Hrsg.): Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 6, Jena. Kleinfeller, Georg (1905): Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts für das akademische Studium, Berlin: Vahlen. Köstlin, Christian Reinhold (1849): Wendepunkte des deutschen Strafverfahrens im 19. Jahrhundert, kritisch und geschichtlich beleuchtet, nebst ausführlicher Darstellung der Entstehung des Geschwornengerichts, Tübingen: Laupp. Mittermaier, Carl Joseph Anton (1834): Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozeß, Darmstadt: Heyer. Rupp, Erwin (1884): Der Beweis im Strafverfahren. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Darstellung des deutschen Beweisrechts, Freiburg/Tübingen: Mohr. Schmidt, Richard (1898): Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts, Leipzig: Dunker & Humblot. Stein, Friedrich (1893): Das private Wissen des Richters. Untersuchungen zum Beweisrecht beider Prozesse, Leipzig: Hirschfeld. Tippelskirch, August Wilhelm Ferdinand von (1857): Beiträge zur zukünftigen Strafprozeßordnung für Preußen, in: Archiv für Preußisches Strafrecht 5, 303–325. Weveld, Adalbert von (1877): Zur Lehre vom gerichtlichen Augenschein im Civilprozess, München: Ackermann. Wewer, Ludger (1922): Der Beweis durch Augenschein im Deutschen Zivilprozessrecht, Dissertation, Universität Marburg.

L ITERATUR Bergfeld, Christoph (1994): Der Zeugenbeweis im deutschen Zivilprozeßrecht von 1877–1933, in: André Gouron [u.a.] (Hrsg.): Subjektivierung des justi-

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Sinnliche Ethnographie an Tatorten Überlegungen zur Ausstellungsanalyse in Gedenkstätten an historischen Orten nationalsozialistischer Verbrechen S ARAH K LEINMANN

»Jede Ausstellung tritt auf mit dem Anspruch, etwas Nicht-Sichtbares erfahrbar zu machen. Die Erinnerung an den nationalsozialistischen Terror und den Massenmord jedoch verschärft das Problem des Sichtbarmachens bis zur Aporie: Von Auschwitz wissen wir mehr, als wir uns vorstellen können.«1

Cornelia Brink bezieht sich hier auf die Möglichkeiten menschlicher Wahrnehmung in Ausstellungen von KZ-Gedenkstätten. Während diese Ausstellungen durch Besuchende vor allem sehend rezipiert werden, zeigen sie zugleich eine abwesende, nicht unmittelbar sichtbare Vergangenheit der Verbrechen an. Diese Verbrechen scheinen in ihrer Intensität und Dimension zudem häufig ›unvorstellbar‹.2 Können sie doch erzeugt werden, so sind bestimmte Bilder im Kopf3 schwer aushaltbar. Gleichwohl können sie die Wahrnehmung der Besuchenden bestimmen. Ausstellungen in KZ-Gedenkstätten sprechen außerdem nicht nur den Sehsinn an. Bisweilen gibt es Audiobeiträge zu hören oder es gilt, die Hände einzusetzen, um Vertiefungsschubladen oder Ordner zu öffnen. Auch bei kulturwissenschaftlich-ethnographischen Forschungen in Ausstellungen werden diese multiplen Zugänge und Wahrnehmungsmöglichkeiten

1 2

Brink, Je näher man es anschaut, 56. Dies ist auch durch ihre historische Neuartigkeit bedingt. Zugleich haben wir es hier auch mit Abwehrhaltungen zu tun, die zu Relativierung und Leugnung führen können.

3

Immaterielle Bilder können auch Gegenstand visueller Ethnographie sein. Vgl. Pink, Doing Visual Ethnography, 23.

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berücksichtigt. Der Grad ihrer Berücksichtigung hängt von der jeweiligen Fragestellung ab.

Z UM C HARAKTER

DER

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Auch ich forsche kulturwissenschaftlich-ethnographisch in Ausstellungen. Meine Forschung beschäftigt sich mit musealer Repräsentation nationalsozialistischer Täter_innen. Meine Untersuchungsorte sind NS-Dokumentationszentren, also ehemalige Orte der Inszenierung und Verwaltung des nationalsozialistischen Staates, und Gedenkstätten an historischen Orten nationalsozialistischer Verbrechen. Letztere zeichnen sich als spezifische Museumsorte dadurch aus, dass sie eine historische Funktion als Orte der Internierung, Folter und Tötung von Menschen hatten. Es handelt sich also um Tatorte.4 Zudem sind diese Gedenkstätten bisweilen auch Friedhöfe, indem sie die letzte Ruhestätte von Ermordeten bergen und das Erinnern und Trauern in besonderer Art ermöglichen, auch wenn sich kein oder kein genau lokalisierbares Grab im Boden befindet. Die Gedenkstätten sind damit vor allem Orte der Opfer5 nationalsozialistischer Verbrechen. Als Tatorte erschließen sie sich uns nur bedingt ›von sich aus‹, sie wurden samt ihrer baulichen Spuren durch bezeugende Überlebende, justizielle Aufarbeitung und historische Recherche zum Sprechen gebracht und dechiffriert, jedoch zugleich durch Denkmale, Geländeleitsysteme, Schautafeln und Ausstellungen erneut gedeutet.6 Trotz der Nachnutzung,

4

An den Orten der Inszenierung und Verwaltung des nationalsozialistischen Staates fanden ebenso Verbrechen statt, wie beispielsweise die Zwangsarbeit bei der Wewelsburg. Ein weiter Tatortbegriff, wie Wolf Kaiser ihn im Kontext der historischpolitischen Bildung vorschlägt, umfasst auch die Orte der Entscheidung, Verwaltung und Planung des Verfolgens und Mordens. Vgl. Kaiser, Historisch-politische Bildungsarbeit an Täterorten und in Gedenkstätten, 16. Dieser Tatortbegriff kommt einem kriminalistischen Tatortbegriff nahe, der weiter ist als der juristische. Er schließt nämlich auch »die Orte ein, die wichtige Daten zur Lösung des Falles liefern […].« Leonhardt/Roll/Schurich, Kriminalistische Tatortarbeit, 5; vgl. auch Clages, Kriminalistik, 84.

5

Die Bezeichnung ›Opfer‹ kann Wehrlosigkeit, Schwäche oder Naivität implizieren. Unter anderem firmiert sie bei Jugendlichen als Schimpfwort. Ich ziehe sie hier trotzdem der Formulierung ›Betroffene‹ vor, die im Kontext von Mord und systematischer kollektiver Ermordung euphemistisch erscheint.

6

Vgl. beispielsweise Klei, Der erinnerte Ort.

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Bearbeitung, Veränderung und Erschließung wird bezogen auf diese Orte häufig von ›Authentizität‹ oder in Anlehnung an Walter Benjamin von einer spezifischen »Aura« gesprochen7, die diese Tatorte ausmache oder ihnen innewohne. Wie kritisch man auch immer zu diesen Begriffen stehen mag, es ist evident, dass viele Besuchende gerade diesen Charakter erinnerungskulturell markierter historischer Tatorte suchen oder zu spüren meinen.8 Wenn ich für diese Orte die Formulierung ›Orte der Opfer‹ gebrauche, dann um zu betonen, dass diese Leidensstätten den Ermordeten und Überlebenden zu widmen sind. Dennoch sind die nationalsozialistischen Täter_innen als Verantwortliche für die Verbrechen nicht zu verschweigen, sondern, um im Bild zu bleiben, möglichst sichtbar zu machen. Denn ohne sie – und ohne spezifische historische politische, soziale und ökonomische Gegebenheiten, die den Handlungsrahmen bildeten – gäbe es keine zu betrauernden Opfer.

F ORSCHUNGSEINDRÜCKE Da ich zur musealen Darstellung nationalsozialistischer Täterschaft forsche, halte ich mich recht häufig an den nun beschriebenen Orten auf, halte somit sozusagen auch Orte aus, an denen Menschen gequält und ermordet wurden. Diese Tatorte, diese Orte der Opfer lösen bei mir, wenn ich sie als Forscherin besuche, trotz gebotener wissenschaftlicher Distanz stets aufs Neue in unterschiedlicher Intensität emotionale Reaktionen wie Beklommenheit, Wut und Trauer aus.9 Das liegt zum einen daran, dass ich um ihre Geschichte als Tatorte,

7

Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

8

Es gibt daneben viele dezentrale historische Orte der Erschießung, der Verbrennung und des Totschlags, Folter-, Deportations- und Verhörorte, über die Gras gewachsen ist und die bis heute unbeachtet geblieben sind; Tatorte, von deren Vergangenheit nur noch wenig materiell zeugt. Am schwersten wiegt hierbei die Abwesenheit der Menschen. Dass die Kennzeichnung eines Tatorts niemandem das Leben zurück gibt, dass also nichts wieder gut zu machen ist, muss anerkannte Voraussetzung erinnerungskultureller Bemühungen sein.

9

Eine andere affektive Reaktion, die oft mit diesen Orten verbunden ist, ist Faszination für die Täter_innen und das Morden. Musealisierte Tatorte lösen als touristische Attraktionen ein neugieriges Schaudern bei vielen Besucher_innen aus, bei dem eine Komponente ist, dass man sich selbst vermeintlich und tatsächlich in Sicherheit wiegen kann. Auch als Wissenschaftler_innen brauchen wir ein gewisses Interesse, eine ›Faszination‹ für unseren Gegenstand. Wir benötigen Lust, näher hinzuschauen.

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Orte des Mordens und Orte des Massenmordens weiß. Zum anderen liegt es daran, dass ich über Empathie für die Ermordeten verfüge, und die historischen Orte nationalsozialistischer Verbrechen in Ablehnung nationalsozialistischer Ideologie wahrnehme. Meine eigenen Gefühlslagen beim Forschen und die Anfrage zur Mitwirkung am vorliegenden Sammelband bewogen mich, mich intensiver mit Fragen zur Forschung an Verbrechensorten zu beschäftigen. Dabei geht es mir mitnichten darum, Selbstreflexionen, die in den Dialog zwischen mir und meinem wissenschaftlichen Gewissen gehören,10 den Leser_innen zuzumuten, vielmehr möchte ich sie für die ethnographische Forschung ertragreich machen und meine damit verbundenen Überlegungen zur Methodik teilen. Die »Begegnung mit der rauen Wirklichkeit des ›Feldes‹« soll nicht »durch den Reiz der Selbstuntersuchung […]« ersetzt werden, sondern ich ziele auf die »Verfeinerung und Verstärkung der Erkenntnismittel«11 ab. Nachdem ich mich entschieden hatte, meine Wahrnehmungen und Emotionen beim Forschen an Verbrechensorten genauer zu reflektieren und darüber den vorliegenden Artikel zu schreiben, fielen mir zwei Eintragungen in meinem Forschungstagebuch zur Untersuchung am Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim in Oberösterreich ein. Das Renaissance-Schloss Hartheim bei Linz war als Tötungsanstalt der Aktion T4 sowie als Tatort der Aktion 14f13 »eine der zentralen Stätten der NS-Euthanasie«.12 Etwa »30.000 behinderte und kranke Menschen, einschließlich arbeitsunfähiger KZ-Häftlinge«13 wurden dort von Mai 1940 bis August 1944 ermordet. Nach dem Aufenthalt in der ehemaligen Gaskammer, die in die Ausstellung der heutigen Gedenkstätte integriert ist, notierte ich: »Dort wurden 30.000 Menschen ermordet. Beim Betreten der ehemaligen Gaskammer mein Griff ans Geländer, der Hals fühlt sich anders an. Diese Kollision.«14 Es gibt noch eine weitere, ähnliche Passage in meinem Forschungstagebuch, die ich in Raum zwei der Ausstellung niederschrieb: »Ich lese die Informationstafel hinter mir, neben dem Eingang links. Nachdem ich

Dies sollte jedoch nicht zu einer instrumentellen, verharmlosenden Annäherung führen. 10 Vgl. Maase, Das Archiv als Feld, 270. 11 Bourdieu, Narzisstische Reflexivität, 366. 12 Kepplinger/Reese/Weidenholzer, »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren«, 10. 13 »Lebensspuren«. Flyer des Lern- und Gedenkortes Schloss Hartheim, gesichtet Februar 2013. 14 Feldnotiz vom 12.02.2013.

S INNLICHE E THNOGRAPHIE

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Erstickung durch Kohlenmonoxid gelesen habe, muss ich die Tür öffnen.«15 Die zitierten Sequenzen geben zweimal eine körperliche Reaktion wieder. Diese trat jeweils an Stellen ein, an denen das Morden explizit erwähnt wurde bzw. meine Vorkenntnisse die Verbrechen als Bilder in meinem Kopf sichtbar werden ließen. Nun verhält es sich aber so, dass, obgleich Gedenkstätten »klar wertorientierte Einrichtungen sind, die sich gegen antiaufklärerisches und inhumanes Denken und Handeln richten«16, die Gedenkstättenpädagogik eben nicht darauf abzielt, bei Menschen bestimmte emotionale Reaktionen zu forcieren. Die Besucher_innen sollen im Gegenteil eigene Zugänge finden und zur Reflexion befähigt werden.17 Zwar war ich nun als Forscherin und nicht als Teilnehmerin eines pädagogischen Angebotes vor Ort. Trotzdem habe ich so reagiert, wie es sich womöglich keine Gedenkstättenpädagog_innen wünschen, da weder das Identifizieren mit den Opfern noch die rein emotionale Annäherung an die NS-Geschichte das Ziel heutiger Bildungsangebote ist. Ich habe mich sozusagen selbst überwältigt oder überwältigen lassen, obwohl ich aus vollstem Herzen und Verstande bejahe, dass nicht »sentimentale Einfühlung« sondern »eine beurteilende Stellungnahme«18 bildungspolitisches Ziel der Arbeit von Einrichtungen an historischen Orten nationalsozialistischer Herrschaft sein sollte. Trotzdem habe ich nach Luft geschnappt und mir Halt verschafft. Das war mir zunächst nicht nur als Wissenschaftlerin unangenehm, sondern auch als Nachfahrin der nicht-verfolgten deutschen Mehrheitsgesellschaft. Mein Großvater väterlicherseits, der vor rund 20 Jahren verstorben ist, war als Ingenieur beim Chemieunternehmen IG Farben in Bitterfeld tätig. Mein Großvater mütterlicherseits, dem ich viel verdanke, war als Soldat der Wehrmacht in französischer Kriegsgefangenschaft. Ich stehe also auf der Täterseite, keinesfalls politisch, sondern genealogisch, und finde es unangebracht, mich mit den Opfern zu identifizieren. Identifikation ist an dieser Stelle allenfalls im Sinne von Empathie zulässig, die auch eine beurteilende Stellungnahme einschließen kann. Zur Illustration dieses empathischen Identifikationsbegriffs möchte ich folgendes Zitat von Theodor W. Adorno anführen, das zwar historische gesellschaftliche

15 Feldnotiz vom 12.02.2013. 16 Scheurich, NS-Gedenkstätten als Orte kritischer historisch-politischer Bildung, 41. 17 Vgl. beispielsweise Ehmann/Kaiser/Lutz, Praxis der Gedenkstättenpädagogik; vgl. Thimm/Kößler/Ulrich, Verunsichernde Orte. Häufig wird im Kontext der Gedenkstättenpädagogik das Überwältigungsverbot des Beutelbacher Konsenses zitiert und mitunter als normative Standpunktlosigkeit fehlinterpretiert. 18 Geißler, Zur aktuellen Repräsentation des Nationalsozialismus, 220; vgl. auch Knigge, Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein, 3–15.

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Verhältnisse – und nicht pädagogische Zielsetzungen – meint, jedoch gut auf den Punkt bringt, was Identifikation noch bedeuten kann: »Jeder Mensch heute, ohne Ausnahme, fühlt sich zu wenig geliebt, weil jeder zu wenig lieben kann. Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können.«19

Die Fähigkeit zu dieser Form der Identifikation im Sinne von Empathie ist erstrebenswert; Identifikation im Sinne von Gleichsetzung mit den Betroffenen und Opfern nationalsozialistischer Verfolgung ist es hingegen nicht. Trotzdem bleibt es Fakt, dass ich selbst die geschilderten körperlichen Reaktionen erlebt habe. Irgendwann nach meinem Forschungsaufenthalt habe ich einem ehemaligen Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen exemplarisch diese beiden Erfahrungen im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim geschildert. Ich erläuterte ihm meine Irritation und führte das Überwältigungsverbot gedenkstättenpädagogischer Arbeit an. Er entgegnete daraufhin: »Darf man sich nicht überwältigen lassen?« Ich zögerte: »Eigentlich nein.«20 Für diesen knappen Dialog bin ich dankbar, denn da war es, das kleine Wörtchen ›eigentlich‹. Eigentlich nein – weil es ein Unterschied ist, ob ich Abstand davon nehme, meine Zielgruppe in einem pädagogischen Setting am Ende des Tages zu einer bestimmten Aussage zu bringen, ob ich vermeide, an Seminarteilnehmende zu appellieren, ein bestimmtes Gefühl zu spüren, oder, ob ich selbst beim Individualbesuch den körperlichen Nachhall einer Art von Schock, von Entsetzen, von innerer Erschütterung spüre, und für einen Moment davon überwältigt bin. Für mich ist evident, dass ich diese Eindrücke und Selbstbeobachtungen bei der Interpretation der erhobenen Daten berücksichtigen muss. Beim Sichten meiner Forschungsnotizen fielen mir weiterhin zwei Gespräche auf, die mir in diesem Kontext wichtig erscheinen. Eine Unterhaltung führte ich mit einer Freundin, die ähnlich wie ich zur Nachgeschichte und Musealisierung der nationalsozialistischen Konzentrationslager forscht. Wir kamen auf künftige Forschungsinteressen zu sprechen. Meine Freundin sagte mir, dass nach der nächsten Arbeit mit »dem Thema« erst einmal Schluss sei: »Genug Mord, genug Verbrechen.«21 Sie wollte anschließend zu einem anderen, wenn auch verwandten Thema forschen, nämlich zum Überleben national-

19 Adorno, Erziehung nach Auschwitz, 60. 20 Feldnotiz vom 18.04.2013. 21 Feldnotiz vom 23.08.2013.

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sozialistischer Verfolgung. Die Befassung mit dem Forschungsgegenstand löste bei ihr Traurigkeit und Betroffenheit aus, sie war in gewisser und berechtigter Weise ›anstrengend‹. Meine Freundin war selbstachtsam und verordnete sich daher eine sachte wissenschaftliche Umorientierung. Das zweite Gespräch führte ich mit der Mitarbeiterin einer Gedenkstätte, die sich auf einem Areal befindet, auf dem Tausende von Menschen ermordet wurden. Ich fragte sie, wie es ihr mit der eigenen täglichen Präsenz am Vernichtungsort ginge. Sie meinte, es sei in Ordnung, und sie denke, die psychische berufliche Belastung sei stärker bei Notärzt_innen oder Hospizmitarbeiter_innen, die direkt mit den Menschen konfrontiert seien, denen es schlecht gehe. In ihrem Fall sei ja aber »niemand mehr da«22, das Morden läge sehr lange zurück. Emotionaler werde sie selbst nur, wenn Angehörige kämen, um etwas über ihre getöteten Verwandten in Erfahrung zu bringen. Ich fand diese Haltung nachvollziehbar, denn sich kontinuierlich überwältigen zu lassen, ist auf Dauer nicht zu bewältigen. Deswegen muss beispielsweise in medizinischen und pflegerischen Berufen sprachlich auch die berühmt-berüchtigte ›Niere auf Zimmer fünf‹ herhalten – was unnötigerweise allerdings auch heißen kann, dass der Mensch so behandelt wird, als sei er Anhängsel seines Organs –, und deshalb kann auch ein_e Gedenkstättenmitarbeiter_in oder Forscher_in nicht jeden Arbeitstag und jede Untersuchungseinheit mit einem Weinen beginnen, obwohl es vielleicht angemessen wäre. Ich komme zu meiner Selbstbeobachtung im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim zurück und zur Frage, wie sinnliche Ethnographie an Tatorten bzw. in Ausstellungen von Gedenkstätten an historischen Orten nationalsozialistischer Verbrechen funktionieren kann, ohne eine vernunftorientierte Perspektive aufzugeben oder einer »psychologisierenden und ich-bezogenen Deutungsdogmatik«23 Vorschub zu leisten. Meine Überlegungen gehen allgemein und grundlegend mit Hoffnungen auf »eine intellektuelle Kultur, die rationalistisch, aber nicht dogmatisch, wissenschaftlich, aber nicht wissenschaftsgläubig, offen, aber nicht belanglos und politisch progressiv, aber nicht sektiererisch ist«24, einher.

22 Feldnotiz vom 31.07.2013. 23 Becker/Eisch-Angus/Hamm [u.a.], Die reflexive Couch, 182. 24 Bricmont/Sokal, Eleganter Unsinn, 261.

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ETHNOGRAPHISCHE

AUSSTELLUNGSANALYSE

Bereits das Museum jenseits eines Verbrechensortes ist ein sinnliches Medium.25 Ausstellungen werden auch hier vor allen Dingen angesehen, es gibt jedoch bisweilen auch etwas zu hören, zu ertasten oder zu riechen und man bewegt sich hindurch.26 Darüber hinaus ist auch das Museum, obgleich die Entwicklung der Gedenkstätten an historischen Tatorten nationalsozialistischer Verbrechen eben nicht direkt an die Genese der europäischen Museumslandschaft anschließt,27 »in vielfacher Weise auf den Tod […] bezogen: Seine Vorgeschichte ist mit Totenkulten und Grabbeigaben verknüpft; es fungiert als Mortifizierungs- und Wiederbelebungsinstrument; es bewahrt ausgestorbene Kulturen oder Hinterlassenschaften von Toten; es versucht, als rettendes kulturelles Erbe dem Tod, Verfall und Vergessen entgegenzutreten; es stellt […] unterschiedliche Umgangsweisen mit den Toten und dem Tod aus; und […] ist […] ein in der Literatur beliebter Ort für Todesfälle […] und Todesreflexionen […].«28

Weiterhin ist die Eigenschaft oder Assoziation einer letzten Ruhestätte auch für Museen relevant: »Der Topos vom Grab oder Friedhof, d.h. von der mortifizierenden Kraft, durchzieht die Geschichte der Museumskritik.«29 Das heißt, sobald man in Ausstellungen sinnliche Ethnographie betreibt, ist man latent mit Todesbezügen konfrontiert. Leider fehlt bislang generell für die Untersuchung von Ausstellungen eine »etablierte Analysemethode«.30 Vielversprechend scheint mir grundsätzlich ein Vorgehen, das in sanfter Anlehnung an die Methode der ›Dichten Beschreibung‹ geschieht31 und eine mehrtägige Verweildauer in den Ausstellungen vorsieht, da es gilt, einen komplexen, mehrdimensionalen Raum (sinnlich) zu erfassen, der bei längerer Betrachtung zusätzliche Merkmale offenbaren und variante Assoziationen ermöglichen kann.

25 Vgl. Korff, Objekt und Information im Widerstreit, 120. 26 Die Möglichkeiten sinnlicher Wahrnehmungen für Besucher_innen hängen natürlich auch von der Ausrichtung des Museums ab, beispielsweise ob es ein naturwissenschaftliches oder kunsthistorisches Haus ist. 27 Vgl. Knigge, Gedenkstätten und Museen, 378. 28 Vedder, Alben, Sammelsurien, Inventare, Museen, 151. 29 Ebd. 30 Thiemeyer, Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, 32. 31 Vgl. Geertz, Dichte Beschreibung; vgl. auch Muttenthaler/Wonisch, Gesten des Zeigens, 49–53.

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Die Untersuchung von Ausstellungen, so wie ich sie verstehe, ist bereits unabhängig von einem Tatort- oder Verbrechenshintergrund ein sinnlicher Vorgang. In der forschenden Wahrnehmung spielen Raumtemperatur, Geräusche, Gerüche und Lichteffekte eine Rolle; auch andere Besucher_innen, ihre Schritte, ihr Flüstern, ihr Räuspern oder wenn sie in meinem Weg stehen, beeinträchtigen den sinnlichen Zugang zu dem, was gezeigt wird. Ich erkunde die Ausstellungen zu Fuß, bewege mich also durch sie hindurch und bin somit gedanklich und somatisch mobil. Im Stehen, Verweilen, Gehen erschließe ich die einzelnen Ausstellungsbereiche und die gesamte Narration. Bisweilen setze ich mich, um mich besser auf die Eindrücke der Augen und Ohren zu konzentrieren. Im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim fiel mir so vor allem die tiefe Stille auf, die mich umgab, als ich an einem Wintervormittag die einzige Besucherin war und nicht einmal mehr meine eigenen Schritte hörte. Den Moment der Fortbewegung möchte ich nicht überbewerten, jedoch darauf hinweisen, dass zu den Ausstellungen an historischen Orten nationalsozialistischer Verbrechen stets ein Gelände mit Exponatcharakter gehört, das mobil erschlossen werden kann. Eine kulturwissenschaftliche Forschung, welche die Wahl, Nutzung und Wirkung dieser Wege auf dem Gelände ausleuchtet, ist meines Wissens noch nicht vorgenommen worden.32 Generell bemühe ich mich, alle Ausstellungen – sowohl diejenigen an Tatorten, als auch andere Ausstellungen – mit frei- oder gleichschwebender Aufmerksamkeit wahrzunehmen, um »sowohl einen distanzierten als auch einen beteiligten Standpunkt« einzunehmen und »hin und her zu wechseln, wie es die Situation erfordert«.33 Die frei- bzw. gleichschwebende Aufmerksamkeit ist eine

32 Mir fällt diesbezüglich Walking through Ruins von Tim Edensor ein, der sich durch still gelegte Fabrikanlagen und damit wortwörtlich in einem vollkommen anderen Kontext bewegt. Die ruinenhaften Überrestelandschaften der Gedenkstätten oder die »Landschaften der Metropole des Todes« (Otto Dov Kulka) erfordern eigene, andere Zugänge. Vgl. Edensor, Walking through Ruins, 123–141. Das Bewegen der Besucher_innen durch eine Gedenkstätte hindurch wirkt sich auf ihr Verständnis des Ortes aus. Je nach Richtung, punktueller Verweildauer und Geschwindigkeit werden unterschiedliche Aspekte (der Geschichte) des Ortes wahrnehmbar. Man kann eilen oder innehalten, fliehen oder sich konfrontieren; möglicherweise erlaubt das In-Bewegung-Sein auch ein gewisses Gefühl der Kontrolle über die Situation, vielleicht stimuliert es auch gedankliche Beweglichkeit, eine gewisse Offenheit für das Sammeln von Eindrücken. Zuletzt liefert es die haptische Beglaubigung für die Tatsächlichkeit des Tatortes: er ist begehbar. 33 Greenson, Technik und Praxis der Psychoanalyse, 375.

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Behandlungsmethode aus der Psychoanalyse. Sigmund Freud notierte sie, um Hilfestellungen für die Aufmerksamkeit gegenüber Patient_innen zu geben. »Indes ist diese Technik eine sehr einfache. Sie lehnt alle Hilfsmittel, […] selbst das Niederschreiben ab und besteht einfach darin, sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche ›gleichschwebende Aufmerksamkeit‹ […] entgegenzubringen. Man erspart sich auf diese Weise eine Anstrengung der Aufmerksamkeit, die man doch nicht durch viele Stunden täglich festhalten könnte, und vermeidet eine Gefahr, die von dem absichtlichen Aufmerken unzertrennlich ist. Sowie man nämlich seine Aufmerksamkeit absichtlich bis zu einer gewissen Höhe anspannt, beginnt man auch unter dem dargebotenen Materiale auszuwählen […] und folgt bei dieser Auswahl seinen Erwartungen oder seinen Neigungen. Gerade dies darf man aber nicht […].«34

Erweiternd kann man sagen: »Dem Interesselosen muss der Schatten des wildesten Interesses gesellt sein […]«35, denn frei- oder gleichschwebende Aufmerksamkeit ist nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit. Sie ermöglicht vielmehr bezogen auf Ausstellungsanalyse, die sinnliche Wahrnehmung ressourcenschonend zu dosieren und angemessen zu interpretieren. Ich begehe alle Ausstellungen, die ich untersuche, zunächst als aufgeschlossene Besucherin und folge in meinem Weg dem empfohlenen Rundgang. Hierbei orientiere ich mich zusätzlich an der Methode der freien Assoziation, die dazu dienen soll, »den subjektiven Anteil der Wahrnehmungen produktiv zu nutzen«36, indem ich mich beim Verweilen und Vertiefen spontan leiten lasse. Auch diese Methode ist der Psychoanalyse entlehnt. Sie bezeichnet ursprünglich die offene Selbstdarstellung der Patient_innen und das szenische Verstehen der Analytiker_innen in einer therapeutischen Behandlungssituation.37 Doch während »alle Sinnesorgane außer dem Ohr […] in diesem Kontakt zurück«38 treten, ist diese Methode für die Museumsanalyse auf andere Sinne zu erweitern. Mit gebotener Vorsicht könnte man zusätzlich davon sprechen, einen ›sechsten Sinn‹ zu aktivieren, der eben im losen und spontanen, freischwebenden Umherschweifen der Wahrnehmung besteht. Nach dem ersten Rundgang durch die Ausstellung notiere ich meine Gedanken zum Gezeigten, aber auch Gerüche,

34 Freud, Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung, 377. 35 Adorno, Ästhetische Theorie, 24. 36 Muttenthaler/Wonisch, Rollenbilder im Museum, 128. 37 Vgl. Lorenzer, Die Sprache, der Sinn, das Unbewusste, 63–80. 38 Ebd., 70.

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Geräusche, scheinbar themenfremde Assoziationen39 und Irritationen oder körperliche Reaktionen oder Emotionen. Dann betrete ich die Ausstellung ein zweites Mal, lege Skizzen der für mich besonders relevanten Bereiche wie auch des Grundrisses der Ausstellung an und notiere relevante Texte oder Textpassagen. Zur Dokumentation setze ich außerdem Fotos und Filmaufnahmen ein40, indem ich chronologische Aufnahmen des Ausstellungsaufbaus sowie relevanter Ensembles und Texte vornehme. Diese Aufnahmen dienen mir unterstützend im Forschungsprozess, indem sie es mir trotz ihrer Selektivität41 ermöglichen, fernab ›nochmals in die Ausstellung zu gehen‹, um beispielsweise Verweise zwischen verschiedenen Ausstellungsbereichen zu prüfen. Interessanterweise geraten manche Details erst vor dem Monitor des Computers in die Reichweite meiner Wahrnehmung, als helfe die vermittelte, ›auraferne‹ Anschauung beim Erkennen, obgleich womöglich einfach nur die Aufmerksamkeit länger verweilt. Zum dritten Mal gehe ich durch die Ausstellung mit einem Fragenkatalog, in dem ich einerseits systematisiere, was ich gefühlt, gesehen und gehört habe, und andererseits konkrete Informationen vermerke, z.B. wie häufig der Begriff der Täter_innen verwendet wird oder welche Exponate gezeigt werden. Ergänzend führe ich ein Interview mit einer ausstellungsverantwortlichen Person, um konzeptionelle Überlegungen und Entscheidungen sowie den Transfer von Ergebnissen der historischen Forschung in die Ausstellung nachzuvollziehen.42

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Diese dreistufige methodische Vorgehensweise praktiziere ich in den Ausstellungen von Dokumentationszentren und Gedenkstätten. Vor allem an den historischen Tatorten empfiehlt sich jedoch besonders die Haltung und Perspektive der frei- oder gleichschwebenden Aufmerksamkeit, da diese Orte uns als Forschende zusätzlich persönlich und wissenschaftlich (heraus-)fordern. An den historischen Tatorten bin ich daher verstärkt aufmerksam gegenüber meinen Emotionen. Sie geben Hinweise auf Nachzuprüfendes und darauf, weshalb ich mit manchen Aspekten des Wahrgenommenen mehr, mit anderen weniger

39 Vgl. Muttenthaler/Wonisch, Gesten des Zeigens, 44. 40 Vgl. grundsätzlich zu dieser Methode Pink, Doing Visual Ethnography; vgl. auch Thiemeyer, Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, 34. 41 Vgl. Pink, Doing Visual Ethnography, 88. 42 Vgl. hierzu auch Thiemeyer, Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, 33.

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gedanklich beschäftigt bin. Ich möchte so auch vermeiden, dass sich der Fokus der Analyse unbewusst verschiebt oder eine implizit wahrnehmungsgeleitete Über- sowie Fehlinterpretation des Materials stattfindet. Meine Selbstbeobachtung gibt mir zusätzlich Hinweise auf etwaige Erfordernisse der Resilienz im Forschungsprozess, wie beispielsweise eine längere Pause zwischen einzelnen Datenerhebungen. Meine körperlichen Reaktionen übergehe ich vor allem an den historischen Tatorten nicht als »persönliches, psychosomatisches Beiwerk«, sondern betrachte sie ebenso als »Daten, die deutlicher kognitiv geartet sind« und erkunde, »inwiefern sie Interviewdaten, Gelesenes und Beobachtetes bereichern« und versuche, meinen »habituellen Körperzustand in stetem Vergleich zu demjenigen der Feldsituation zu reflektieren«.43 So habe ich beispielsweise verstanden, dass ich nicht nur gähnen muss, wenn ich müde bin oder ein Raum schlecht belüftet ist, sondern auch häufig dann, wenn ich mit Impulsen konfrontiert bin, die belastend oder anstrengend wirken. Für die Reflexion von Emotionen und Erkenntnissen suche ich das informelle Gespräch mit anderen Wissenschaftler_innen. Die Teilnahme an einer Feldforschungssupervision in einer Gruppe von Wissenschaftler_innen, in der Notizen, Gedanken und Gefühle diskutiert werden können, halte ich für sinnvoll, konnte ich jedoch bislang nicht realisieren.44 Eine aufmerksame Selbstbeobachtung der Forscherin und ein methodisches Vorgehen wie das zuvor Beschriebene können bei einer Tatort-Ethnographie mit allen Sinnen dazu beitragen, Überwältigungsmomente als epistemische Momente fruchtbar zu machen.

S CHLUSS Das zuvor Dargelegte mag auch für die pädagogische oder kuratorische Arbeit in Gedenkstätten, für zeithistorische Forschungen – beispielsweise mit Zeitzeug_innen oder im Archiv – oder kulturwissenschaftliche ›Tatortforschungen‹ an anderen Verbrechensorten gelten. Sinnliche Wahrnehmung im Forschungsprozess sollte jedoch keine theoriegeleitete Analyse ersetzen und nicht zur selbstreflexiv-narzisstischen Nabelschau werden. Die Sinne sollten bei der Erhebung ethnographischer Daten nicht überbewertet werden, dennoch formen

43 Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 79. Bei der Analyse von Ausstellungen sind wir – anders als beispielsweise beim Führen von Interviews – nicht unmittelbar mit der Körpersprache von Anderen konfrontiert; es gibt Ansätze, auch diese methodisch zu nutzen. Vgl. Spülbeck, Begegnung statt Dialog, 124–139. 44 Vgl. Becker/Eisch-Angus/ Hamm [u.a.], Die reflexive Couch.

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sie »[…] die ethnographische Datenaufnahme mit. […] Eine die Sinne miteinbeziehende Feldforschungspraxis wird […] vielleicht doch einige Beobachtungsund Reflektionswerkzeuge [sic!] enthalten, die den emotionalen Haushalt nützlich ergänzen.«45 Wenn ich Ausstellungen in Gedenkstätten an historischen Orten nationalsozialistischer Verbrechen analysiere, bleiben die Bilder im Kopf und die Schmerzen im Bauch schwer aushaltbar, weil die spezifischen historischen Ereignisse schwer auszuhalten sind. Im Rahmen einer selbstreflexiven, aber nicht selbstreferentiellen, sinnlich sensiblen ethnographischen Forschung können Wissenschaftler_innen diese Wahrnehmungen aber besser handhaben, verstehen und deuten.

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45 Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 78.

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S INNLICHE E THNOGRAPHIE

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Himmlische Düfte – Höllischer Gestank Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Sinne am Beispiel des foetor judaicus im frühneuzeitlichen Spanien J ULIA G EBKE

Der foetor judaicus, auch unter dem Begriff ›Hebräerduft‹ bekannt, ist ein bereits in der spätantiken Kirchenväterliteratur geläufiges antijüdisches Motiv, das den Juden unterstellte, einen besonderen Gestank auszudünsten.1 Im iberischen Raum wurde dieses Motiv – wie auch andere übliche Vorwürfe gegen die Juden – auf die Gruppe der Conversos übertragen. Spätestens an der Schwelle vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit wurde das muslimisch-jüdisch-christliche Gegen-, Neben- und Miteinander in Spanien von dem Gedanken eines einheitlichen katholischen Königreichs abgelöst. Dieser Wunsch manifestierte sich beispielsweise im Vertreibungsedikt von 1492, das die jüdische Bevölkerung vor die Wahl stellte, entweder im Land zu bleiben und zu konvertieren oder das Königreich innerhalb von vier Monaten zu verlassen. Da es eine Reihe von Bezeichnungen und Definitionen sowohl in den historischen Quellen, als auch in der heutigen Forschung für die konvertierten Muslime und Juden gibt, schlage ich für das bessere Verständnis meines Themas folgende Einteilung vor: Als Conversos will ich die jüdischen Konvertierten und ihre Nachkommen bezeichnen. Die muslimischen Konvertierten und ihre Nachkommen lassen sich wiederum unter dem Begriff der Morisken zusammenfassen. Soll von Morisken wie Conversos gleichermaßen die Rede sein, dann werde ich den Ausdruck Neuchristen verwenden. Da das Vertrauen in die Aufrichtigkeit der oft durch Zwang erfolgten Konversionen fehlte und Rückfälle in den alten Glauben (Apostasie) befürchtet

1

Vgl. Cluse, Studien zur Geschichte der Juden, 318–320.

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wurden, wurden entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen. Zum einen wurde die Spanische Inquisition gegründet mit dem vorrangigen Ziel, Conversos, die heimlich den jüdischen Glauben praktizierten, aufzuspüren. Idealerweise sollte diese die Abtrünnigen in den Schoß der Kirche zurückführen und schlimmstenfalls strafen und durch die weltliche Gerichtsbarkeit hinrichten lassen. Zum anderen wurden von verschiedenen Institutionen wie Zünften, Stadträten, religiösen Orden, Ritterorden, Universitätskollegien (Colegios Mayores) oder auch Domkapiteln Statuten erlassen, die den Neuchristen den Zugang zu Ämtern und Würden verwehrten. Diese Statuten wurden unter dem Namen Blutreinheitsstatuten, estatutos de limpieza de sangre, bekannt. Dahinter verbarg sich eine Blutreinheitsideologie2, welche die spanische Gesellschaft in Alt- und Neuchristen aufteilte. Den Altchristen wurde hierbei reines, den Neuchristen durch ihre Abstammung unreines Blut zugeschrieben. Rainer Walz fasst diese Trennung daher unter dem Begriff des ›genealogischen Rassismus‹3 zusammen. Wenn also der königliche Palastarzt Gerónimo de Huerta (1579–1649) sich die Frage stellte, warum die Juden schlecht riechen würden, bezog er sich damit in erster Linie nicht auf ein imaginäres Judentum außerhalb der Grenzen der Iberischen Halbinsel, sondern hatte die Conversos im Blick. Zwar vertrat er die These, dass der den Juden anhaftende schlechte Geruch durch das Taufwasser eliminiert werde, jedoch: »[…] so wie die Seele durch das Taufwasser gewaschen rein wird, behaupten viele, dass der Körper von seinem schlechten Geruch befreit werde. Aber wenn sie diese [die Seele] wieder mit ihrer Apostasie beschmutzen, ist es möglich, dass damit auch [der Geruch] wieder auftrete.«4 Antijüdische Motive wie die Idee des foetor judaicus konnten somit auf die Conversos übertragen werden, indem man die Aufrichtigkeit ihrer Konversion infrage stellte. Beim foetor judaicus als Stigma der Conversos handelte es sich jedoch nicht um einen schlichten Ideentransfer eins zu eins, stattdessen erhielt das Motiv neue Komponenten und wurde entsprechend erweitert. So gerieten beispielsweise auch die Morisken in den Blick, sodass man von der Idee eines neuchristlichen Geruchsstigmas sprechen kann. Wie sich diese Weiterentwick-

2

Zur Blutreinheitsideologie siehe Hering Torres, Rassismus in der Vormoderne.

3

Walz, Der vormoderne Rassismus, 719–748; ders., Die Entwicklung eines religiösen

4

Huerta, Problemas filosóficos, 16v. Original: »[…] el qual lauado con el agua del

Rassismus in der Frühen Neuzeit, 337–362. bautismo, quedando limpia el alma, dizen muchos quedar el cuerpo libre de su mal olor. Pero tornando a ensuciarla con su apostasia será possible tornar a manifestarse con el.« Wenn nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen ins Deutsche im Folgenden von der Autorin.

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lung vollzog und welche Komponenten hierbei eine Rolle spielten, untersuche ich im Rahmen meines Dissertationsprojekts. In diesem Aufsatz möchte ich hingegen reflektieren, welche Theorien und Methoden geeignet erscheinen, um sich dem Thema des neuchristlichen Geruchsstigmas anzunähern. Konkret stellt sich die Frage, inwieweit sich das Thema im Rahmen einer Kulturgeschichte der Sinne behandeln lässt und welche Rolle hierbei anthropologische Zugänge spielen können. Um dieser Frage nachzugehen, gilt es zunächst, den Geruchssinn genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie Bettina Beer es treffend auf den Punkt bringt, lassen sich unter dem Oberbegriff Geruch sowohl Gerüche als auch Geruchswahrnehmungen fassen.5 Erstere besitzen für das Motiv des neuchristlichen Geruchsstigmas kaum Relevanz, daher sollen vor allem letztere, also die Wahrnehmungsmöglichkeiten von Gerüchen, in den Fokus rücken. Zuerst gilt es daher, einen kurzen Überblick über die Bedeutung und Funktionen des Geruchssinns zu geben. In einem zweiten Schritt soll die Frage geklärt werden, in welcher Weise das Thema Geruch in der kulturhistorischen und anthropologischen Forschung erörtert wird. Drittens ist es sinnvoll, das Motiv des neuchristlichen Geruchsstigmas historisch zu kontextualisieren. Dazu soll ein kurzer Aufriss dienen, der beleuchtet, unter welchen Vorzeichen der Geruch in der Frühen Neuzeit verhandelt wurde. Der Aufsatz schließt mit einigen Überlegungen, wie sich eine Analyse des neuchristlichen Geruchsstigmas im Rahmen einer Kulturgeschichte der Sinne gestalten ließe.

G ERUCHSWAHRNEHMUNGEN . E IN D EFINITIONSVERSUCH »In der Früh sprüht man sich als Erinnerung jenes Parfum auf, das die Großmutter so gerne verwendet hat.«6 So beginnt die Kolumne von Julya Rabinowich, die zum Anlass von Allerheiligen im Standard erschien. Ein wichtiger Aspekt von Geruch wird hierbei bereits erwähnt, der sogenannte Proust-Effekt7, d.h. durch bestimmte Gerüche lassen sich Erinnerungen hervorrufen, in diesem Fall ganz bewusst durch das Auftragen des großmütterlichen Parfums. Da Marcel Proust (1871–1922) in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit eindrucksvoll das Zusammenspiel von Nostalgie und sinnlichem Geschmacks-

5

Beer, Geruch und Differenz, 210. Ich danke Lydia Maria Arantes für den Hinweis auf den Aufsatz von Bettina Beer.

6

Rabinowich, Verlassenschaften und Nachwehen, A 12.

7

Vgl. hierzu auch Oberzaucher/Keber, Immer der Nase nach…, 53.

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und Geruchserlebnis beschreibt – man denke nur an die berühmte MadeleineSzene –, erscheint die Benennung dieses Effekts nach ihm nur allzu gerechtfertigt. Dass diese Erinnerungen jedoch zumeist nicht bewusst erzeugt werden, sondern uns oftmals ohne unser Zutun regelrecht überfallen, zeigt das Ende der kurzen Erzählung von Rabinowich: »In der U-Bahn umweht es einen plötzlich so eigenartig: halb vertraut, halb alte Dame. Man sieht sich nach dieser um und stellt fest, dass man selbst die Quelle des Olfaktorischen ist. Ach ja, Omas Parfum.«8 An dieser Stelle zeigt sich eine gewisse Unausweichlichkeit, quasi eine Geruchsinvasion, der man sich nicht verwehren kann. Auch Diskussionen über Pheromone und ihre Bedeutung für die Partnerwahl oder ihre Wirkung auf den weiblichen Menstruationszyklus lassen sich in einem solchen Kontext des Unbewussten verorten.9 Bis zu einem gewissen Grad mögen diese Konzepte stimmig sein, doch birgt die Betonung des Unbewussten gerade in Bezug auf die Annahme einer Natürlichkeit/eines instinktiven Moments in der Geruchswahrnehmung auch Gefahren in sich, denn in diesem Zusammenhang wird ein anderer wichtiger Aspekt des Geruchssinns unterschlagen: die Bedeutung der Sozialisation und der kulturellen Prägung für die Wahrnehmung von Gerüchen. Auf diese doppelte Komponente des Geruchssinns, einerseits des natürlichen Wahrnehmens und andererseits des kulturell-geprägten Urteilens, verweist bereits Jean-Jacques Rousseau (1712– 1778) in einem Brief vom 15. Dezember 1763 an den Herzog Ludwig Eugen von Württemberg: Die Kinder unterscheiden frühzeitig die verschiedenen Gerüche, starke und schwache, aber nicht gute und schlechte. Die Empfindung kommt von der Natur, aber Vorliebe und Abneigung nicht. Diese Beobachtung, die ich besonders am Geruchssinn gemacht habe, läßt sich auf die anderen Sinne nicht anwenden; so ist auch das Urteil, das die Kleine [die Tochter des Herzogs] in dieser Hinsicht fällt, schon etwas Erworbenes.œ10

Wie unterschiedlich diese Urteile ausfallen können und, dass sie zudem in hohem Maße durch individuelle Erfahrungen beeinflusst werden, zeigt eine nicht repräsentative Umfrage von 270 Studierenden und Lehrenden an der Concordia University von Montréal, die Anthony Synnott durchführte und 1993 in einem unveröffentlichten Manuskript festhielt. So zählte ein Befragter den Geruch von

8

Rabinowich, Verlassenschaften und Nachwehen, A 12.

9

Vgl. Oberzaucher/Keber, Immer der Nase nach…, 53–57.

10 Rousseau, Ich sah eine andere Welt, 185; vgl. auch Le Guérer, Le déclin, 28.

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Benzin zu seinen Lieblingsdüften, da dieser ihn an die Freiheit erinnere, sich überall hinbegeben zu können.11 In der Medizin wird in Bezug auf das zweite, urteilende Moment von Hedonik gesprochen, unter der „die subjektive Bewertung eines Duftes als angenehm oder unangenehm“12 verstanden wird. Doch scheint auch in der Hedonik zumindest eine Geruchswahrnehmung der Menschen genetisch determiniert zu sein. So gibt Hanns Hatt im Interview mit der Zeitung Die Welt an, dass »[v]iele Daten […] darauf hin[weisen], dass der Geruch von Verwesung genetisch bedingt ist«13. Aber auch in diesem Fall können kulturelle Faktoren die Wahrnehmung des Verwesungsgeruchs erheblich beeinflussen, wie die Ethnologin Bettina Beer mit Verweis auf die Studie Rainer Neus aufzeigt. Da auf den Philippinen die Leichen häufig längere Zeit in den Häusern aufgebahrt werden, stellt sich offenbar eine Art Gewöhnungseffekt ein, den Neu wie folgt beschreibt: »Bei einem Sterbefall wies mich ein junger Mann einmal darauf hin, daß die Leiche seines Großvaters trotz einsetzender Verwesung kaum rieche.«14 Somit wird der Verwesungsgeruch zwar weiterhin als unangenehm eingestuft, jedoch scheint der Enkel in der Lage zu sein, bei diesem Unterschiede für sich wahrzunehmen und detailliertere Abstufungen zu treffen. Die Zweiteilung der Geruchswahrnehmung ermöglicht es, den Rahmen für eine historische Betrachtung von Geruchswelten besser abzustecken. Berichte über Geruchserfahrungen sind somit immer auch vor dem Hintergrund der individuellen und kulturellen Prägung der riechenden Zeitzeugen zu betrachten. Folglich sagen die historisch erhaltenen Geruchserfahrungen oftmals wenig über die Umwelt aus, die erschnuppert wird. Mittelalterliche und frühneuzeitliche Geruchswelten bleiben weitestgehend im Verborgenen bzw. lassen sich höchstens erahnen. Mehr Informationen erfahren wir bei solchen Berichten jedoch über die Riechenden. Ihre Erzählungen können Aufschluss über ihre Sozialisation sowie ihre persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen geben. Dies soll im Übrigen nicht heißen, dass eine Geschichte der Geruchswelten nicht unternommen werden kann oder sollte. Allerdings sollte hierbei die Einwirkung kultureller und individueller Faktoren auf die überlieferten Geruchsberichte mit berücksichtigt werden.

11 Vgl. Classen/Howes/Synnott, Aroma, 1–2. 12 Hatt, Geschmack und Geruch, 434. 13 Gerber, Ekeln bei Verwesungsgeruch. 14 Neu, Die lebenden Toten, 32–33; vgl. auch Beer: Geruch und Differenz, 224.

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K ULTURGESCHICHTE DER S INNE . E INE B ESTANDSAUFNAHME Drei Themenschwerpunkte der theoretischen Debatte in der Anthropologie bzw. auch der Kulturgeschichte der Sinne erscheinen mir mit Blick auf das zu erforschende Motiv des neuchristlichen Geruchsstigmas besonders relevant. Zum einen findet die Idee vom Okularzentrismus der westlichen Welt immer wieder Erwähnung. Zum zweiten bewegt sich auch die Theorie um eine Kulturgeschichte der Sinne, wie bereits vor ihr die Körpergeschichte15, zwischen den Polen von Erfahrung und kultureller Konstruktion. Zum dritten wird oftmals ein Ausblenden der eigenen sinnlich-kulturellen Prägung für das Erforschen der Sinne in fremden Kulturen, seien es heutige oder historische, eingefordert. Diese drei Themenschwerpunkte gilt es im Folgenden genauer zu analysieren. Der Okularzentrismus bezieht sich auf die Hierarchisierung der Sinne, die bereits seit der Antike geläufig war. Demnach kam Sehen und Hören in der Regel ein höherer, Schmecken, Riechen und Tasten ein niedrigerer Stellenwert zu. Allerdings gab es im Laufe der Geschichte ganz verschiedene Modelle16, die sich nicht nur in der Einordnung, sondern auch in der Anzahl der Sinne unterschieden. Dass dem Sehen als Sinn eine immer prominentere Stellung zugesprochen wurde, hing eng mit der Geschichte der Wissenschaften zusammen. Constance Classen verweist beispielsweise auf entsprechende Erfindungen von optischen Gläsern, wie Mikroskop und Teleskop, welche die Bedeutung des Sehsinns für die Wissenschaften noch zu steigern wussten.17 Auch die frühneuzeitliche Anatomie leistete ihren Beitrag zu einer weiteren Stärkung des Sehsinns als Sinn der Wissenschaft, denn die Anatomen stützten sich, wie Simone De Angelis18 nachweisen konnte, vornehmlich auf zwei Legitimierungskonzepte in ihrer Arbeit – die Autorität und die Autopsie. Dabei wurden dem Sehsinn bzw. der Autopsie in der Anatomie unterschiedliche Rollen zugeschrieben. Zum einen ging es dem frühneuzeitlichen Anatomen darum, durch eine Sektion selbst zu sehen, die Lehren der Autoritäten wie Galen oder Hippokrates zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Zum anderen waren Medizinstudenten und Kollegen anwesend, um wiederum durch ihr Sehen die in der Sektion gewonnenen Erkenntnisse zu bezeugen oder ihnen widerspre-

15 Für einen Überblick über die theoretischen Positionen siehe beispielsweise: Lorenz, Leibhaftige Vergangenheit. 16 Zu den Modellen und ihrer Hierarchisierung vgl. Jütte, Geschichte der Sinne, 65–83. 17 Classen, The Senses, 361. 18 De Angelis, Autopsie und Autorität, 887–901.

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chen zu können. Zum dritten nutzten frühneuzeitliche Anatomen wie Andreas Vesal (1514–1564) die Möglichkeiten der Visualisierung in ihren Schriften. So sollten auch dem Leser durch abgedruckte Darstellungen, beispielsweise des menschlichen Skeletts, die Forschungsergebnisse des Anatomen veranschaulicht werden. Zugleich wurde ihm damit die Möglichkeit zugestanden, diese einer eigenen visuellen Überprüfung zu unterziehen. Die Kritik am Okularzentrismus ist somit insoweit gerechtfertigt, da die anderen Sinne durch die wissenschaftliche Fokussierung auf den Sehsinn oftmals in den Hintergrund rücken und unberücksichtigt bleiben. Der sensual turn, wie David Howes ihn nennt, ist daher auch in der Geschichtswissenschaft zu begrüßen. Damit muss jedoch keinesfalls ein ebensolcher in der Arbeitsweise der Historiker_innen einhergehen, denn wie am Konzept der Autopsie ersichtlich wurde, hat sich das Sehen als wissenschaftliche Methode durchaus bewährt. David Howes kommt für die Anthropologie zu folgender Einsicht, die sich durchaus auch auf die historische Zunft übertragen lässt: »More serious, however, is the fact that anthropologists don’t know how to communicate the kinds of things we want to communicate through smells and tastes and textures.«19 Für die Geschichtswissenschaft kommt noch hinzu, dass vornehmlich mit Schriftzeugnissen gearbeitet wird, sodass eine Erforschung und Analyse historischer Quellen in Schriftform naheliegend erscheint. Was die Wechselwirkungen zwischen sinnlicher Erfahrung und kultureller Konstruktion anbelangt, so macht Constance Classen darauf aufmerksam, dass diese für eine historische Untersuchung nicht auflösbar seien und somit beide Bereiche in ihrem Verhältnis zueinander in den Blick genommen werden müssen.20 David Howes ergänzt diese Forderung nach einer stetigen Einbeziehung der menschlichen Dimension in die Analyse von Sinneswelten noch durch den Hinweis auf die Problematik, dass andernfalls die sinnlich-kulturelle Prägung des Forschenden das Bild dieser Sinneswelten trübe.21 Ohne die Bedeutungszuschreibungen und Ordnungen sinnlicher Erfahrungen zu kennen, die von den Menschen in ihrer Zeit vorgenommen bzw. gelebt wurden, erweist sich das Potential für Fehlschlüsse als unüberschaubar. Die Forderung nach einer Berücksichtigung der Wechselwirkungen von Sinneserfahrung und kultureller Konstruktion scheint nur allzu gerechtfertigt, wenn sich die historische Zunft in diesem Punkt nicht den Vorwurf des Präsentismus zuziehen möchte.

19 Howes, Sensual Relations, 58. 20 Vgl. Classen, The Senses, 357; vgl. auch Howes, Can these dry bones live?, 446–447. 21 Vgl. Howes, Can these dry bones live?, 447.

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Wie oben bereits angedeutet, betrachte ich es durchaus als legitim, den Fokus frei zu wählen. Eine Geschichte der mittelalterlichen Geruchswelten erscheint mir folglich ebenso interessant wie eine Geschichte, die den Schwerpunkt auf die kulturellen Systeme und sozialen Beziehungen legt, die durch Sinnesmodelle, sensory models22, geprägt werden. Voraussetzung für beide Ansätze ist jedoch die Berücksichtigung der festgestellten Wechselwirkungen. Für eine Untersuchung des Motivs des neuchristlichen Geruchsstigmas bietet sich der Zugang über die kulturellen Systeme und sozialen Beziehungen an. So kann und konnte die Zuschreibung von spezifischen Gerüchen zur Ausgrenzung sozialer Klassen oder ethnischer Gruppen genutzt werden. Classen, Howes und Synnott zeigen folgende Geruchspolitiken auf. Einerseits können als fremd wahrgenommene Gerüche aufgrund von unterschiedlichen Ernährungs-, Hygiene- bzw. Parfümierungspraktiken als negativ eingestuft werden. Andererseits wird der entsprechenden Gruppe oftmals ein Geruch zugeschrieben, der ihnen zu eigen sei.23 Die dargestellten Dimensionen des Geruchs als Ausgrenzungskriterium erweisen sich als hilfreiches Raster für das Thema des neuchristlichen Geruchsstigmas. Zudem lässt sich diese Geruchspolitik noch um die Perspektive der ausgegrenzten Gruppe erweitern. Nach Classen sind vor allem zwei Reaktionen in diesem Kontext festzustellen, zum einen die Akzeptanz und Übernahme dieses ihr auferlegten Geruchs, zum anderen die Erarbeitung eines Geruchsmodells unter umgekehrten Vorzeichen.24 Folglich erscheint es sinnvoll, das Augenmerk auch auf neuchristliche Reaktionen zu richten und zu überprüfen, ob und auf welche Weise sie mit dem ihnen auferlegten Geruchsstigma umgehen. Um nun die Sinnesmodelle fremder und vergangener Kulturen erforschen zu können, wird sowohl von Classen als auch von Howes gefordert, die eigene sinnlich-kulturelle Prägung soweit wie möglich auszublenden, um sich von ihr nicht zu Fehlinterpretationen verleiten zu lassen.25 Diese Forderung erscheint mir nur bedingt praktikabel, denn die eigene sinnlich-kulturelle Prägung ist, wie oben beschrieben, nichts, was bewusst oder willentlich entwickelt wird. Da wir uns nicht in ein unbeschriebenes Blatt verwandeln oder einen entsprechenden Reset-Knopf drücken können, schlage ich stattdessen vor, das eigene Sinnesmodell bewusst zu nutzen. Zunächst gilt es, wie in diesem Aufsatz angedacht wurde, sich die Möglichkeiten und Grenzen, sozusagen den Aktionsradius, des

22 Vgl. Howes, Sensual Relations, 55. 23 Vgl. Classen/Howes/Synnott, Aroma, 165. 24 Vgl. Classen, The Senses, 356. 25 Vgl. Classen, The Senses, 358; Howes, Can these dry bones live?, 445.

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eigenen Sinnesmodells bewusst zu machen. In einem zweiten Schritt könnten die eigenen sinnlichen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erinnerungen dann als eine Art Leitfaden dienen, um sich vor allem über die Wahrnehmungsdifferenzen dem fremden kulturellen System anzunähern und die Unterschiedlichkeit und Willkürlichkeit der Sinnesmodelle aufzudecken. Zur Verdeutlichung soll das Beispiel des neuchristlichen Geruchsstigmas herangezogen werden. So wird u.a. die spanisch-jüdische Küche, in der mit Olivenöl gekocht wurde, für den schlechten Geruch verantwortlich gemacht. Andrés Bernáldez (ca.1450–nach 1513), der als Chronist die Geschichte der katholischen Könige, Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón, aufzeichnete, berichtete über die spanischen Juden, die vor der Vertreibung im Königreich lebten: […] und das Fleisch brieten sie mit Öl […], und das Öl mit dem Fleisch ist eine Sache, die den Atem schlecht riechen lässt; und so stanken ihre Häuser und Türen nach jenen Speisen und sie selbst hatten den Geruch der Juden aufgrund der Speisen, und weil sie nicht getauft waren. Gesetzt den Fall, dass einige getauft waren, stanken sie wie Juden, da sie das Wesen der Taufe kränkten durch ihren Aberglauben und ihr Judaisieren […].œ26

An dieser Stelle wird somit – neben der fehlenden Taufe bzw. der Apostasie nach der Taufe – das Braten mit Olivenöl für den schlechten Geruch verantwortlich gemacht. Andersherum stellte auch für die Conversos die christliche Küche, in der viel Schweinefleisch und Schmalz zum Kochen verwendet wurde, eine olfaktorische Herausforderung dar. So berichtete eine Dienerin 1505 vor dem Inquisitionsgericht, dass ihre Herrin, Ana Laínez, sich ein Tuch vor die Nase hielt, da sie den Geruch des gekochten Schweinefleischs nicht ertrug.27 Aus meiner Sicht, bzw. von meinem Geruchssinn ausgehend, war die ablehnende Haltung gegenüber dem Duft von Olivenöl schwer nachvollziehbar, sodass ich solche Aussagen als konstruiert empfand und sie als Fiktion einstufte. Die Haltung von Ana Laínez hingegen konnte ich eher verstehen und als reale Erfahrung werten. Diese Diskrepanz führte mich zu der Erkenntnis, dass ich

26 Bernáldez, Historia de los reyes católicos, 98; Original: »[…] e la carne guisaban con aceyte […], e el aceyte con la carne es cosa que hace muy mal oler el resuello; e ansi sus casas y puertas hedian muy mal a aquellos manjarejos, e ellos eso mesmo tenian el olor de los judios por causa de los manjares, y de no ser bautizados puesto caso que algunos fueron bautizados mortificado el carácter del bautismo en ellos por la credulidad e por judaizar hedian como judios.« Vgl. Gitlitz, Secrecy and Deceit, 536. 27 Gitlitz, Secrecy and Deceit, 537.

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mich in beiden Fällen von meiner eigenen Sinneswahrnehmung hatte leiten lassen. Wenn ich also die Reaktion von Ana Laínez in Bezug auf die christliche Küche ernst nahm, musste ich genauso die abwehrende Reaktion des Hofchronisten Andrés Bernáldez auf die spanisch-jüdische Küche als solche gelten lassen und als reale Sinneserfahrung in Erwägung ziehen. In diesem Fall führte mich mein eigenes Sinnesmodell zwar zunächst zu einem Fehlschluss, diente mir jedoch gleichzeitig als Indikator, um diesen zu revidieren. Es wäre auch eine Überlegung wert, solche Gedankengänge nicht nur für sich selbst anzustellen, sondern diese auch im erarbeiteten Text zu artikulieren. Für die Körpergeschichte lässt sich Barbara Duden hier exemplarisch nennen, welche die Diskrepanz zwischen dem eigenen nicht wegzudenkenden Körper und den zu untersuchenden historischen Frauenkörpern, den Patientinnen des Eisenacher Arztes Johann Storch, in ihrer Arbeit offen problematisiert: Und doch läßt sich die Forschung nach dem verlorenen Körpergefühl nicht vom Studium der Soziogenese unserer Körper trennen. […] Wenn ich mir als Historikerin des historischen Ursprungs meiner Wahrnehmungen nicht bewußt bin, dann verbaue ich mir a priori den Weg zu der untergegangenen Wirklichkeit der ›Leibhaftigkeit‹. […] Wenn ich mit den fundamentalen Selbstverständlichkeiten meines Körpers, die vielleicht wie kein anderer Teil meines Denkens mir zur ›Natur‹ geworden sind, an die Frauenklagen herangehe, die der Arzt in Eisenach aufzeichnet und in denen sich eine je einzigartige Leidensgeschichte verkörpert, so verfälsche ich schon grundsätzlich jedes Verständnis dieser Aussage. Je mehr mein Staunen der mir fremden Leibwahrnehmung in Eisenach gegenüber wuchs und je deutlicher mir die Schwierigkeit bewußt wurde, diese Quelle befriedigend zu interpretieren, um so dringender wurde es für mich, das Feld zu erkunden, innerhalb dessen andere Forscher ähnliches versucht haben.œ28

Barbara Duden thematisiert an dieser Stelle sowohl ihre theoretischen Überlegungen zum Körper und zu einer Körpergeschichte als auch ihr Staunen über die Fremdartigkeit, das ihr offenbar zum Motor für ihre Recherchen wurde. Zugleich ermöglicht sie durch diese Veranschaulichung ihrem Lesepublikum – ganz im Sinne des Legitimationskonzeptes der Autopsie – ihre Herangehensweise einer Überprüfung zu unterziehen und selbst zu urteilen. Gegen dieses Vorgehen gibt es allerdings sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Anthropologie einige Bedenken.

28 Duden, Geschichte unter der Haut, 13.

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Auch in der Historischen Ethnographie ist die Frage nach einer bewussten Darstellung der eigenen Überlegungen und Arbeitsweise ein Thema. So schreibt Michaela Fenske über ihre Arbeit im ›Feld‹ Archiv: Ich habe erst im Laufe der Zeit gelernt, in jedem Stutzen, jeder Verwunderung, aber auch in jedem Einverständnis und Wiedererkennen einen wichtigen Hinweis für die Auswertung der Dokumente zu sehen, und erst nach und nach begriffen, wie ich meine Reaktion als spätmoderne Leserin auf die in den Dokumenten enthaltenen Aussagen ebenso wie Gegenwartsforscherinnen Irritationen im Feld als eine Sonde der Erkenntnis nutzen kann.œ29

Jens Wietschorke fürchtet hingegen, dass durch diesen starken Einbezug der Forschenden das eigentliche Thema und die Untersuchung der historischen Quellen ins Abseits geraten könnten: »Aber führt nicht die geforderte Introspektion und Selbstethnografie des angeblich ins Feld involvierten Forschers in der historischen Ethnografie leicht aufs unsichere Terrain eines Subjektivismus, der vom qualitativ zu erschließenden Gehalt der Quellen selbst ablenkt?«30 Sicher sollte die Thematisierung der eigenen Vorgehensweise nicht überhand nehmen, aber in angemessener Dosis, wie z.B. bei Barbara Duden, halte ich eine solche durchaus für sinnvoll und hilfreich für ein besseres Verständnis des zu untersuchenden Gegenstands. Ob man diese Überlegungen für sich behalten oder doch im Text selbst problematisieren möchte, bleibt letztendlich eine Frage des Geschmacks. Wichtig erscheint mir jedoch, die eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und daraus resultierenden Vorannahmen zu reflektieren und sie als Indikator für die Untersuchung nutzbar zu machen.

G ERUCHSWELTEN

DES FRÜHNEUZEITLICHEN

S PANIENS

Um eine Analyse des neuchristlichen Geruchsstigmas im frühneuzeitlichen Spanien überhaupt ermöglichen zu können, gilt es nun, sich die Vorzeichen zu vergegenwärtigen, unter denen Gerüche und Geruchswahrnehmungen in dieser Zeit verhandelt wurden. Geruch spielte in der Frühen Neuzeit eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung des Göttlichen wie des Dämonischen. Laut Classen,

29 Fenske, Mikro, Makro, Agency, 166. 30 Wietschorke, Historische Ethnografie, 206 [Hervorhebung im Original]. Ich danke Judith Willkomm für den Hinweis auf die Diskussion in der Historischen Ethnographie und auf die Aufsätze von Michaela Fenske und Jens Wietschorke.

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Howes und Synnott lässt sich dieses Phänomen für die westliche Vormoderne im Allgemeinen festhalten.31 Auch Barbara Baert32 konnte anhand von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gartenallegorien in Bild und Schrift die Tragweite von Geschmack und Duft für den Zugang zum Göttlichen aufzeigen. Die Bedeutung der Gerüche für die religiöse Welt lässt sich zudem am Beispiel der Heiligenviten nachweisen, in denen sich die Anwesenheit Christi häufig durch einen angenehmen Duft bemerkbar macht, die fast schon obligatorische Verführungsszene durch den Teufel wird hingegen von Gestank begleitet. Auch in Prozessen gegen Hexen und Zauberer kann der Gestank als Zeichen dämonischer Präsenz eine Rolle spielen. So wird im Hexenhammer (Ausgabe Speyer 1486) beschrieben, wie die Gerichtsdiener bei der Festnahme eines des Zauberns Verdächtigen durch olfaktorische Hindernisse gehemmt wurden: Als daher ein Richter mit Namen Petrus, der auch schon oben erwähnt worden ist, einen Zauberer mit Namen Stadlin durch seine Diener gefangennehmen lassen wollte, befiel ihre Hände ein so starkes Zittern, und in die Nasen drang ein so übler Gestank, daß sie beinahe [daran] verzweifelt wären, ob sie es wagen sollten, auf den Zauberer loszugehen.œ33

Auch im französischen Fall der Besessenen von Loudun, die im Übrigen bei Annick Le Guérer34 Erwähnung finden, zeigt sich die Bedeutung von Duft und Gestank. So schildert Jeanne des Anges (1606–1665), die spätere Äbtissin des Klosters, in ihren Memoiren (1642) ihre Entwicklung von einer Besessenen zu einer Heiligen. Dabei assoziiert sie die Anwesenheit der Dämonen immer wieder mit Gestank. Die späteren Wunder, ein paar Tropfen wunderwirkendes Öl auf ihrem Hemd und die Schriftzüge der Namen Jesus, Maria und Joseph, die auf ihrer Hand entstanden und sich nach dem Ausbleichen regelmäßig erneuerten, werden als Duft wahrgenommen. Die wundersame Erneuerung der Namen wird von ihr wie folgt beschrieben: Zuweilen kommt es vor, dass sich bei der Erneuerung der Buchstaben sehr angenehme Düfte verbreiten, nicht bloß im Chor der Kirche, sondern manchmal auch im ganzen Hause. Die Buchstaben selber sind duftgetränkt und riechen ähnlich süß wie die Ölung [auf

31 Vgl. Classen/Howes/Synnott, Aroma, 54. 32 Vgl. Baert, ›An Odour. A Taste. A Touch. Impossible to Describe‹, 145. 33 Kramer (Institoris), Der Hexenhammer, 351 [Hervorhebung im Original]. 34 Vgl. Le Guérer, Le déclin, 33.

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ihrem Hemd]; was den Personen, die den Geruch wahrnehmen, viel Verehrung einflößt und sie überzeugt sein lässt, dass die Auffrischung durch göttliche Kraft erfolge.œ35

Der Geruchssinn war somit für den frühneuzeitlichen Christen ein wichtiger Indikator für eine göttliche oder dämonische Präsenz. Auch der foetor judaicus lässt sich in dieses Schema einfügen. Allerdings galt der angenommene jüdische Gestank den mittelalterlichen Autoren in erster Linie als göttliche Strafe der Juden für die Ermordung Christi, also den Gottesmord. Dieser Makel konnte jedoch laut christlicher Theologie durch das Taufsakrament behoben werden. Im Werk Dialog über die Wunder des Zisterziensers Caesarius von Heisterbach (ca.1170–ca.1240) findet sich die Geschichte eines zum Christentum konvertierten Mädchens, das die Ankunft ihrer ungetauften jüdischen Eltern durch ihre neue Geruchswahrnehmung erspürt.36 Somit eliminierte die Taufe nicht nur den foetor judaicus, sondern ermöglichte auch seine Wahrnehmung an anderen. Auch in der frühneuzeitlichen Medizin war man den Ursachen von schlechtem Geruch auf der Spur. Der jüdische Arzt und Dichter Francisco López de Villalobos (1473–1549), der vermutlich kurz vor dem Vertreibungsedikt 1492 zum Christentum konvertierte, unterschied in seinem medizinischen Überblickswerk, das er in Reimform verfasste, zwischen verschiedenen Körpergerüchen. So nannte er zunächst den Mundgeruch37, dessen Ursache nach seiner Ansicht in erster Linie durch verfaulte Zähne oder ein Ungleichgewicht der Körpersäfte hervorgerufen werde. In einer anderen Strophe kommt er dann auf den schlechten Geruch von Füßen und Achseln38 zu sprechen. Von einem Ungleichgewicht der Säfte ging auch der jüdische Arzt und Philosoph Isaac Cardoso (1603/4–1683) aus. Unter seinem Converso-Namen Fernando Cardoso war er Palastarzt am spanischen Hof Philipps IV. gewesen, bevor er 1645 das Land Richtung Italien verließ und sich offiziell zum Judentum bekannte. In seiner 1679 in Amsterdam auf Spanisch erschienenen Schrift Über die Vortrefflichkeiten der Hebräer bemühte er sich den Vorwurf des foetor judaicus durch medizinische Erklärung zu widerlegen: Somit entsteht der gute Geruch aus der guten Verkochung der Säfte und perfekten Mischung des Feuchten mit dem Trockenen. Und im Gegensatz dazu entwickelt sich der

35 Jeanne des Anges, Ich war die Teufelin von Loudun, 213. 36 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum, 458–459; vgl. auch Cluse, Studien zur Geschichte der Juden, 318–319. 37 López de Villalobos, Sumario de la medicina, 71–72 und 7r–7v. 38 Ebd., 135 und 23r.

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Gestank aus der Fäule, die der Rohheit der Exkremente entspringt, welche nicht von der natürlichen Hitze [des Körpers] besiegt wurde, denn diese rohen unverdauten Ausdünstungen, die über die Haut ausgesondert werden, sind übelriechend und von strengem Geruch […].œ39

Cardoso stützt sich hier also, wie bereits López de Villalobos, auf die Vier-SäfteLehre Galens. Ein guter Körpergeruch ist somit auf die Ausgewogenheit der vier Körpersäfte (Eukrasie) zurückzuführen. Ein Ungleichgewicht im Säftehaushalt (Dyskrasie) verursacht hingegen Fäulnis und damit Gestank. Geruch lässt sich folglich u.a. durch Ernährung und richtige Lebensweise steuern. Cardoso führt weiter aus, dass bereits der italienische Arzt Girolamo Cardano (1501–1576) festgestellt habe, dass die Lebensweise der Hebräer aufgrund ihrer Riten und Gebräuche einen guten Geruch fördere. Somit wandelte er den foetor judaicus ins genaue Gegenteil. Hier findet sich also die Strategie, ein alternatives Sinnesmodell unter umgekehrten Vorzeichen zu erstellen, wie Constance Classen es als zweiten Weg beschreibt. Neben Religion und Medizin ist für den Kontext des neuchristlichen Geruchsstigmas noch der kulinarische Bereich zu erwähnen. Wie oben bereits ausgeführt, wurde die jeweils fremde Küche als übelriechend empfunden. Die unterschiedlichen Essgewohnheiten wurden auch in der spanischen Literatur thematisiert, so zum Beispiel in den Schelmenromanen wie dem Buscón (1626) von Francisco de Quevedo (1580–1645). In diesem führt Quevedo einen Morisken, den Besitzer einer Gaststätte, vor, dessen Glaubensfestigkeit in Zweifel gezogen wird. Dabei kommt er auch auf die Gruppe der Conversos zu sprechen, die durch ihre Nasen und ihre Unfähigkeit, Speck zu riechen, entlarvt werden: Der Besitzer und Wirt war einer von denen, die nur aus Höflichkeit oder Verstellung an Gott glauben, Maurisquen, wie man sie im Volke nennt, denn noch immer gibt es eine weidliche Nachernte dieser Leute und ebenso derer, die Nasen wie rechte Gurken haben, welche indessen nur dann versagen, wenn es darauf ankömmt, einen anständigen Schweinsspeck zu riechen.œ40

39 Cardoso, Las Excelencias de los Hebreos, 342. Original: »De suerte que el buen olor nace de la buena coccion del humor, y perfecta mixtion del humido con el secco, y al contrario el fetor se engendra de la putredine originada de crudeza excrementitia no vencida del natural calor, con que estas exalaciones crudas indigestas, expelidas por la cute son fetidas, y de olor grave […].« 40 Quevedo, Der abenteuerliche Buscón, 36–37. Original: »Era el dueño y huésped de los que creen en Dios por cortesía o sobre falso; moriscos los llaman en el pueblo, que

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Morisken und Conversos werden hier in einem Atemzug genannt, wobei jedoch nur der Converso bei Quevedo durch seine Nase entlarvt wird. In einer französisch-deutschen Ausgabe des Buscón von 1671, bei der die Übersetzung ins Deutsche auf der französischen Übersetzung basiert, ließ der Übersetzer die Speckpassage aus und schreibt stattdessen: Unser Wirth war einer von den jenigen / welche nur auß Höffligkeit an JEsum Christum glauben. Er war ein Moriske / man nennet die jenige unter den Mohren also / die sich zum Catholischen glauben bekehret haben und doch im Argwohn sind / als ob sie es mit dem Judenthum halten.œ41

Sowohl die Auslassung als auch die Assoziation der Morisken mit dem Judentum anstelle des Islams legt die Vermutung nahe, dass die Situation der Conversos und Morisken außerhalb der Iberischen Halbinsel für Verwirrung sorgte. Die Anspielung auf den Speck zur Entlarvung der Conversos funktionierte somit im iberischen Raum, jedoch nicht in Frankreich oder im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Die Möglichkeiten der Ausgrenzung über den Geruch waren zu dieser Zeit somit vielfältig und konnten in unterschiedlicher Weise Anwendung finden. Gerade vonseiten der Converso-Ärzte lässt sich jedoch auch die Tendenz feststellen, Körpergerüche medizinisch zu erklären bzw. wie bei Cardoso ein diametral entgegengesetztes Geruchsmodell zu entwerfen.

E INE B ILANZ Um das Motiv des neuchristlichen Geruchsstigmas im Rahmen einer Kulturgeschichte der Sinne zu untersuchen, konnte gezeigt werden, dass zunächst eine genaue Definition vonnöten ist, auf welche Weise Menschen Gerüche überhaupt wahrnehmen können. Hierbei erwies sich die Unterscheidung der Geruchswahrnehmung in natürliche Wahrnehmung und kulturell-geprägte, urteilende Wahrnehmung als sinnvoll, um das Terrain abzustecken. Der Fokus einer Kulturgeschichte der Sinne muss somit auf der kulturell-geprägten Geruchswahrnehmung liegen (1). Zudem lassen sich die Sinneserfahrungen nur in der

hay muy grande cosecha desta gente, y de la que tiene sobradas narices y solo les faltan para oler tocino […].« Quevedo, El buscón, 63. Vgl. auch Leitner, Das falsche Rot der Rose, 121. 41 Quevedo, L’aventurier Buscon / Der abentheuerliche Buscon, 93.

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Wechselwirkung mit ihrer kulturellen Konstruktion betrachten. Die Schwerpunktsetzung – ob nun Geruchswelten oder kulturelle Geruchssysteme untersucht werden sollen – bleibt jedoch frei wählbar (2). Für das Motiv des neuchristlichen Geruchsstigmas bietet es sich jedoch an, das Hauptaugenmerk auf die kulturelle Konstruktion zu legen. Da sich die eigene kulturelle Prägung der Sinne nicht ausblenden lässt, empfiehlt es sich, ihre Grenzen und Problematiken zu reflektieren und das eigene Sinnesmodell als Indikator für die Suche nach historischen Wahrnehmungsdifferenzen fruchtbar zu machen (3). Diese Überlegungen zur Herangehensweise ließen sich auch sinnvoll in den Text der Untersuchung einbringen. So würde dem Lesepublikum die Möglichkeit gegeben, das Vorgehen besser nachzuvollziehen, zu überprüfen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Das zu untersuchende Thema sollte dabei jedoch nicht aus den Augen verloren werden. Im letzten Schritt ging es darum, sich einen ersten Überblick über die Vielfältigkeit frühneuzeitlicher Geruchsdimensionen zu verschaffen (4), um eine Einordnung des Motivs des neuchristlichen Geruchsstigmas in das frühneuzeitlich-iberische Sinnesmodell vornehmen zu können. So konnte nachgewiesen werden, dass das neuchristliche Geruchsstigma im religiösen, medizinischen und kulinarischen Bereich verhandelt wurde.

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Doing sense with the senses Knowledge circulation on themed walks and their ethnography S ARAH W ILLNER 1

Figure 1: Percussive ledge known as Klumperplatte.

Source: Sarah Willner »Well, it is quite easy. Humans always did things like that, even back then. There is some guy, well, maybe not on this certain stone, but at another site or something similar where someone at some point in time got up there and thought, ›Wow, cool that really makes a hell of a good sound here‹.«2

1

With thanks to Angela Allmendinger for proofreading.

2

Mobile interview with Gino Holle on August 4th, 2012.

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S ENSORY

APPROACHES TO HISTORY AND TOURISM

The 33-year old hiker, Gino, made this observation about prehistoric musicians after he had spontaneously joined a group of young men who were playing with a percussive ledge. By standing on the tops of these natural monuments which often span several meters and rocking the weight of their bodies back and forth, individuals may bring such ledges to vibration. This vibration produces a pervasive beat, resembling that of techno music which can often be heard across great distances. With this observation, Gino refers to the aesthetic experiences he has had in open-air musical venues to formulate a historical interpretation. His understanding is based on an idea of shared sensoria. He seems to conceptualise his body as an ahistorical medium, disregarding its cultural dimension in making statements about life in prehistory, and, thus, imbuing his experiences with representational qualities.3 The site at which this incident took place belongs to an archaeological network of trails which were established around the point at which a Neolithic mummy known as Ötzi was found in 1991. The trail network marks and connects sites of archaeological importance and provides some information on prehistoric settlements in the alpine territory. Its most prominent tourist attraction is the location of the mummy’s discovery, 3200 meters above sea level on the border between Austria and Italy. Despite this popularity, so far not much has been known about how hikers on these archaeologically themed trails experience their alpine tours and how these experiences relate to their constructions about life in prehistoric times. Since October 2011, the research project Performative Practices of Knowledge Circulation4 has been conducting an

3

Gino’s interpretation contrasts contemporary theory on sensory orders. Kathryn Geurts described the culturally prefigured repertoire of sensory perception and experience of an African community. Frustrated by her realisation that she could not understand her participants’ actual feelings, e.g. a kind of materialised intuition, she concluded that sensory experience is not only culturally determined but that it is culture that has been incorporated in the body. Her solution was to discuss the senses in terms of cultural differences and to develop a model of cultural sensory orders (Geurts 2002).

4

This article is associated with the research project Living History. Reenacted Prehistory between Research and Popular Performance, based in Tübingen and Potsdam and financed by the Volkswagen Foundation, which investigates Living History phenomena in museums, TV-documentaries and on themed walks. The term Living

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ethnographic investigation of this field enquiring into the relationship of experience and history. Following the concept of performativity as a self-referential mode of reality construction,5 which is achieved by certain doings, I concentrate on the interconnections of embodied knowledge, atmospheres and popular history constructions which are involved in epistemic processes in the sense of circulating references as explored by Latour (2000: 36–95). In this regard, I am also interested in practices of boundary work, the strategies that demarcate popular history constructions from expert knowledge. The fieldwork included a six-week field stay in the Alps in the summer of 2012. During this time, I accompanied and interviewed hikers on one of the archaeological trails in the area. Some of the mobile interviews and observations lasted more than seven hours. However, they should not be understood as a constant inquiry, they were rather itinerant conversations that were influenced, first, by the surroundings and, second, by the questions of the ethnographer. For example, hikers were asked to describe the places they were experiencing and to share their impressions with the ethnographer.6 Following the movements of the hikers and their interaction with their environment, it was assumed that their impressions and history constructions could be observed in the making, while the stationary interviews were supposed to settle on a more reflexive level. In addition, several visual methods were used in order to enable hikers to express their perceptions, emotions and experiences, e.g. mental maps or photographs. In the summer of 2013, participants took part in an online survey that posed open questions about their memories of important places, their bodily conditions and their emotions. During the fall of 2013, a small set of hikers was visited at their homes. At that point, the research questions addressed the hikers’ impressions of places and atmospheres where they had felt historical presence as well as their interpretations of prehistoric living conditions. Descriptions were imbued with information such as the weather and the hikers’ physical state along with facts from the tour guide and the hikers’ sensory impressions. Following SchmidtLauber (2003), they were asked to select and label characteristics of certain places from a collection of descriptive terms. Similar to Weith’s (2014) approach, they were also asked to locate, draw and feed back their impressions with the help of a human-shaped pictogram. In addition, when presented photo-

History is defined according to Samida (forthcoming) and Pleitner (2011) as performative attempt to develop and perpetuate constructions of history. 5

Fischer-Lichte (2004) to a great extent relies on Judith Butler’s theory on gender constitution through so-called ›doings‹.

6

This approach followed advices from Pink (2009), Lund (2005) and Edensor (2001).

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graphs of typical mountain scenes, hikers were requested to comment on whether they could imagine local prehistoric life. When looking at a photo of a highly frequented rest area, Anton Scholle commented as follows, »Well, it’s some kind of herb garden or something, huh. No idea, tourist trap, mountain shelter. You can probably get there with a car really easily ... at a place like that ... Right, so that was [laughs] not authentic, huh. Popular kitsch.«7 Anton performs a mode of vacation that is connected to physical exercise and further education. For him, the mentioned place would not be a destination he aims for. As he continues that he could not imagine how prehistoric man might have been at this place at some point, Anton uses the parameter of his individual style of being a tourist in the Alps. This touristic programme ordains the imaginative potential of the place. Moreover, it seems to be part of his epistemic regime. Questioning the cognitive identity of this research as well, the (auto-)ethnography of alpine hiking presented here is to be understood as both a touristic and academic cultural practice which takes place in a field where the established boundaries of modern epistemic systems are challenged (Tschofen 2005: 215) or questioned by mobile techniques of knowledge production (Tschofen 2013: 64). Therefore, the fluid boundaries between the field, research and the epistemic role of the researcher in this dynamics must be examined when considering the chosen focus of this work.8

M ULTI - DIMENSIONAL

BODIES

The experience of atmospheres (as material aspects of space, Böhme 1995), dynamics of the body and the emotional practices9 involved in hiking – to name three central objects and categories of this research – have proven to be an abundant field for the ethnographic exploration of performative knowledge

7

Stationary interview with Anton Scholle on October 22nd, 2013.

8

This will be discussed in the upcoming PhD thesis. For European Ethnology’s emphasis on the process of othering one’s own cultural repertoire, self-observation, documentation and methodological reflection, refer to Jeggle (1984). For debates on the analytic potential of sensory perception and personal experience, refer to Maase (2001); Becker (2013: 184).

9

Emotions as cultural practices are actions taken in order to have, manage, communicate or regulate certain experiences (Scheer 2012). Following the concept of habitus, emotional practices may also belong to certain emotional styles (Gammerl 2012).

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circulation which questions the disciplinary concepts of body and experience. Ahistorical body concepts such as the aforementioned circumstance in which a hiker based his construction of prehistory on biographical experiences often appeared during the analysis either on the part of the ethnographer or on that of the participants. In the interviews of the first phase, hikers referred to their senses and experiences in order to form historic interpretations. The (auto-)ethnographic approaches to experience tended to be based on the assumption that sensory registers and body concepts could be shared and compared on the same level, or at the very least, could be communicated. However, the ethnographer was also bound to relate personal sensory experiences to field findings in order to understand the meaning of the research material. In this regard, her epistemic strategies resembled those of the participants. As mentioned above, a sensory ethnographic exploration of performative processes of popular and academic knowledge circulation should thoroughly be reflected in methodology and methods. In our research project, so many aspects to sensory knowledge production and circulation were found that an intensive occupation with the field suddenly endangered the object of research: respective experiences of landscape or the relationship and communication between hikers and tour guides, specific hiking techniques and methods of movement, symbolic relation to equipment, ethnographic observation, the recounting of tours, memories of specific paths or places or the imagination and interpretation of historical life by the participant and the ethnographer. These practices were observed and analysed to contribute to historical interpretations of alpine tourists. They all relate to the senses and sensory knowledge but at the same time refer to different bodies. Past and present experiences coalesce and affect differing bodies in temporal, personal, perceptive and imaginative respect. Past and present, one’s own and that of others, felt bodies, or wished for bodies, that is, these experiences transgress the concrete body and signify self-conception. In addition, the evaluation of sensory perception changes over temporal distance.10 These findings show the complexity of the relationship between senses, emotions and experiences that Donald Brenneis outlined in 2005. He also noted that sensory experiences trigger memory. Here, the cultural dimension of the senses solidifies and deviates from the perception. He summarized,

10 Equating authenticity with distress, Anton Scholle reinterpreted a hike through the rain to be a positive experience which beforehand had been an unpleasant event. Stationary interview with Anton Scholle on October 22nd, 2013.

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»[s]mells, sights, touches, tastes and sounds are not abstract but abstracted from experience. They inhere in particular events and are, both in the moment and in memory, linked to the multiple sensory and social dimensions of those events. Such complex connections across the senses in situ, whether strictly synesthetic or more generally associative, constitute a third recurring theme.« (Brenneis 2005: 142)

In approaching the omnipresence and concurrency of the senses and emotions in tourist experience and ethnography, I will differentiate between the varying aspects as different dimensions of sensory knowledge circulation. For this purpose, I refer to the concepts of tacit respectively embodied knowledge.11 First, processes of the performance of history construction on the examined hiking trails will be described. Second, these will be related to selected ethnographic approaches to sensory and emotional practices. In conclusion, I will reflect on different sensory aspects in history performance. Additionally, I will also reflect on »antiprogrammatic« ethnographic knowledge production (Lindner 2005). Rolf Lindner acknowledged the epistemic agenda of cultural studies to be »sexy« because they deal with popular topics in a buccaneer manner and have actually institutionalised their rejection of being institutionalised. In need for a more tangible concept, I will ask for a qualified in-depth reflection and explicit ideas of how to deal with the senses methodically. The body as a human constant »Well [laughs], a question that I had is how he came to this place. If he really had some chaperons that helped him to get here. Because I experienced the path to be very difficult, even for a healthy man.«12 Arnaldo Sivori was interviewed directly at the location of the mummy’s discovery. He had had very little experience in mountaineering and had accompanied some vague acquaintances in order to reach the location. The route had been very difficult for him and he was proud that he had finally made it to his destination. Based on his experiences, he developed an interpretation of the circumstances of Ötzi’s death. Arnaldo does not differentiate between his own abilities and emotional needs and those he assumes Ötzi had and experienced. He projects his perception of a hostile

11 Following Csordas well-known introduction of embodiment as an anthropological paradigm (1990), embodied knowledge can be a skill that has not yet transcended to a level of abstraction, circulates via practices and follows a cultural logic. This understanding relates to Polanyi’s tacit knowledge (1966). 12 Stationary interview with Arnaldo Sivori on August 11th, 2012.

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environment in which he would not have wanted to be alone onto a historical personality and, thus, initiates a construction of history. Other similar interpretations of hikers were based on practical thoughts and experiences made at the time of hiking. Equipment as a marker of distinction »Sarah: What is your main interest in the Stone Age? Inga Karlsson: Well, what is known about people’s lives. How they could survive in this rough environment und climate and how they could cross the Alps. I mean, it’s actually inconceivable, some hay coats and leather cloths wrapped around the feet [laughs]. We have hiking boots and Goretex jackets and are a little exhausted by the track, right. And how they could survive. How they actually could do it.«13

The interview with Inga took place during a one-week transalpine tour organised by a professional travel company. The tour included the transportation of luggage and accommodation to hotel rooms which were often described as being particularly luxurious and, thus, uncommon for these hikers’ usual travel practices. This offer had been chosen by the group due to the needs of a participating 12-year-old child, the son of Anton Scholle. Anton and Inga are siblings and were accompanied by their spouses. Inga compares her own bodily experiences with those of an imagined prehistoric person. Her own sensory register becomes the scale for her interpretation of the past. If she experiences something as exhausting, it was probably even more exhausting for people in the past who were not as well equipped as the modern hiker. This shows another aspect of the epistemic authority of the body: An important difference between the realities of past and present life is thought to be the hiking equipment attached to the body rather than the body itself. While one’s own sensorium is said to be the connection between past and present experience, the gear’s materiality becomes the matter of differentiation. »Anton: Certainly, they could forget the sorrows of their everyday life for a moment … I believe that we do not differ that much from them back then. Sarah: Mhm. Anton: They certainly did similar things to forget everyday life and such. Sarah: To forget the everyday life. Anton: Yes, I think just on another level.

13 Mobile interview with Inga Karlsson on July 25th, 2012.

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Sarah: Another form of existence? Anton: I think our existence is about managing our everyday life, and that was the same with them just by another standard. They certainly joked around as we do. I think that they also had their beautiful moments where they could forget the struggles or that it could start to rain or something. Sarah: Yes. Anton: We are walking here right now and are looking at our boots; they were walking here and were looking at their hairy feet.«

Anton had been joking around with his family for hours before looking down at his hiking boots and making this last statement. Because Inga and he live in different countries, they do not get together often and, thus, booked the hiking tour in order to spend time with their family. For Anton, the experience of being together with his relatives and following the mountain guide in a constant manner relates to his fantasies about prehistoric everyday life. He assumes a universal human experience in the struggles of everyday life, community and fun. Anton compares the two ways of life by equating his shoes with prehistoric feet. In this way, mountaineering equipment marks cultural diversity of Anton and a prehistoric hiker. In relating to his own performances of hiking and family holiday, he again builds a bridge between the person of the past and himself. Anton’s sensory and emotional experiences overlay the cultural difference that is signified by the material aspects of hiking equipment. The body along with emotional practices appears as a marker of universal humanity that allows for a comparison between prehistoric and contemporary experience. Biographical experiences as a source of knowledge Another aspect of sensory knowledge circulation on hiking trails concerns biographical memories which play an important role in the interpretation of the past. The aesthetics of contemporary perceptions that are connected to biographical incidents (e.g. »Wow, hell of a good sound«) enable a relation to past peoples who are believed to share the same sensory register. In this context, the possibility of differing interpretations and valuations of experience in the past is insignificant for the participants. Individuals may also interpret prehistoric living conditions on the basis of their childhood memories. They identify with prehistoric conditions because they view them through the lens of their own past experiences. Often, such interpretations accentuate an aspect of sensory perception that is combined with the concept of empathy:

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»Margret: Because I do comprehend this a little. My parents had a farm and after the war, I did not get a lot from my parents. You were raised as the family’s pet. My parents had lived during the war. There was not a lot to give. [We were] several children, and so you had to watch out for yourself. Today, children are supported [by their parents] but I had to get everything on my own. And this was the same with the people [in the stone age].«14

As the youngest child of hard-working parents, Margret was often left on her own. She still remembers these experiences of loneliness today. For her, mountaineering is an attempt of self-therapy in order to gain positive experiences and self-assertion. She draws on these mountain experiences in her everyday life. In order to achieve these positive effects, she uses the high alpine territory to deny herself emotional and physical comfort. In the Alps, this physical discomfort may come from the sense of vertigo experienced when crossing glacial crevasses and narrow paths as well as from frostiness, dizziness and lack of sleep due to suffering from symptoms of anoxia at night. Margret interprets prehistoric living conditions on the basis of her reenacted childhood experiences of hardship through which she is able to identify with the past. In alpine hiking, three dominant types of sensory knowledge and their production can be found; that which concerns the environment, that which concerns one’s own body and that which references knowledge in regard to history. The latter is generated by its relation to the first two. Body and sensory experiences and practices play different roles in this context: The body serves as a medium to the past or as a projective surface for interpretations of the past. The interpretations outlined above are often based on an assumption of continuity on a sensorily experienced level. Thus, the body and its sensory registers are understood to be unaffected by historic change, a concept which provides the basis for comparisons and interpretations of the past. The subjects’ interpretations always refer to their own hiking experiences or memories. Thus, experiences become part of the hikers constructions of history. Identification with historical persons (Ötzi) also references similar emotional and haptic experiences. Because it is projected onto the realities of an unknown past life and is utilised to interpret causalities or motivations for certain practices, knowledge about one’s own body becomes historical knowledge. As I have pointed out already, distinctions between their own and prehistoric existences made by today’s interpreters are constructed via the assertion of differences in the materiality of hiking equipment, not via their bodies. The assumption of an ahistorical body seems to be a

14 Mobile Interview with Margret Eberswald on July 20th, 2012.

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more influential concept for the interpretation of the past than the materiality of space. Hikers are more likely to assume that the environment underlies changes instead of human sensory registers. Naturally, the body is the first medium of perception and experience, it is, as Katz and Csordas described, »the shared experience of being human« (Katz/ Csordas 2003: 278, quoted in Pink 2006: 46.) While it would be appealing to assume that hikers compare their experiences with past realities based on this connection alone, such an explanation is oversimplified. What do hikers actually talk about when referring to their bodies and, more importantly, how are do they use their bodies as they make such references? Some participants made statements about what they perceived at the time of questioning, some communicated past experiences, some recalled related episodes of their biographies, and all of those interviewed provided certain interpretations of their individual data. While they were all constantly engaged with their bodies, it is important to differentiate in what ways this engagement took place and to what extent these practices affected their sense of self and history.

E THNOGRAPHY

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Equally diverse as corporeal practices are the ethnographic approaches to the senses which were adopted during this fieldwork. In ethnography, there are differing conceptions of the body and of body-related research whose particular anatomies adhere to the structures of knowledge thus generated. In short: The sensorium changes its appearance depending on how we look at it. The revision of such conceptions is no easy task, and, thus, is to be read as an exemplary synopsis. Without doubt, the foundational concepts of the body as a category of analysis have changed since the earliest socially based approaches to experience. In the early 1990s, in his descriptions of the experience-oriented society, Gerhard Schulze concentrated on the semantic dimensions of expression while differentiating between prelinguistic aspects of experience and those which may be expressed verbally. There is a leftover of experiential meaning that is inaccessible to sociological epistemics (Schulze 1992: 22). The boundaries of sociology may have been applied to European Ethnology as well, which at the time was conceptualising experience independent of culture. In her monograph Doing Sensory Ethnography, Sarah Pink reflects upon changes in the anthropological concept of the body in the past 20 years which most significantly occurred after the notion of embodiment dissolved the theoretical division between the mind and the body. Consequently, the body itself became a source of knowledge equal

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to that of intellectual interpretation and affected the concept of the ethnographer’s body as well. Thus, Pink claims, ethnographers should pursue their work through performative participation (Pink 2009: 23–43) and must be aware of the culturally constructed nature of the senses and the qualitative methods they use. The researcher does not only take part in others’ actions but also performs them and should, thus, reflect on her own performativity and involvement in the production of space. Unfortunately, it does not become entirely clear how to achieve this reflection.15 In the field, the collective performance of hiking was an experience in its own right. The participants and I created and engaged with tacit knowledge that modified or perpetuated existing history constructions. As Pink stated, the co-presence of both researcher and participant is not necessarily about collecting research data on sensory perception but is meant to establish a common ground on which experiences are made and relationships are deepened. Because of the established intimacy (and spatial seclusion), participants were more willing to discuss personal topics than they might have been in less intimate circumstances. In order to establish a trustful work relationship and a dynamic of involvement on the part of the researcher, a physical co-presence of the involved bodies proved to be beneficial. With a similar aim, however due to specifically challenging ethnographic interviews, Susanne Spülbeck developed an empathetic approach via body modulations in order to facilitate an emotional connection with her interviewees. She managed difficult interviews by imitating the posture of her interview partners. In this partial role adoption, Spülbeck communicated empathy and animated her participants to express experiences and memories corresponding with their present emotions (Spülbeck 2001: 124–139). In this case, the body of the ethnographer watches and adapts to the body of scientific interest. In this ethnographic engagement with the body, the focus is on perception, experience and memory, and yet simultaneously creates material for the interpretation of two bodies in interaction. Reenacting hiking practices such as walking at the same speed as interview partners, sharing the same views, eating the same food and making use of the

15 In the present case, the researcher’s – kind of autoethnographic – self-involvement was disentangled by a psychoanalytical supervision group. The group emotionally reenacted the field on the foundation of their own impressions and interpretations (Eisch 2001; Wittel-Fischer 2001; Becker 2013). During this procedure, additional aspects of sensory knowledge production appeared that presented completely different levels of understanding from those of simple first-hand fieldwork experiences.

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same hiking equipment is a quite similar approach. Although it is uncertain as to whether the participants’ perception was actually shared, an insight into how hikers perform their sensory concepts of holiday and hiking was gained. For the ethnographer and the participant, talking about actions that are undertaken in order to feel or experience a certain ›successful‹ hike is more fruitful than the continuously difficult task of questioning and verbalising emotions and experience. Moreover, the hikers were likely to devalue their conceptions of prehistorical living realities because they did not regard them to be adequate knowledge. The different phases of research showed that, as the participants became more acquainted with the interest of this research, they were more likely to contribute insights into their sensorium. Yet, the participants’ development took over a year of repeated field contact to develop a way of addressing and communicating their sensory experiences. In her often-quoted essay, Ear to Ear, Nose to Nose, Skin to Skin. The Senses in Comparative Ethnographic Perspective, Regina Bendix strongly encourages the integration of sensory perception in ethnographic research referring to the ethnographer’s »body as a toolkit« (Bendix 2005: 3) and calls for alternatives to text production in documentation style in order to dig deeper into the field of interest (Bendix 2005: 3–14). She claims that the ethnographer’s experiences or memories can be used as a source even though they might not have been documented during the field contact. Having applied Bendix’ recommendation for some days in the field with quite a loss of (concrete) material, it is arguable that her approach should only be adapted to advanced phases in research. While Bendix was able to recall previously gained sensory knowledge, the ethnography presented here is based on a lengthy field stay that was primarily intended for ›nosing around‹ and collecting a broad data set. Conversely, Bendix was more occupied with memorial qualities of the sensorium for purposes of documentation. Hence, in the case at hand, Bendix’ approach was unsuitable as the ›toolkit‹ had not been adequately developed yet. Other research formats focused on the memorisation and communication of sensory aspects of the street by collecting samples of sound and scent and established a highly subjective approach to urban atmospheres (Hiebsch/Schlüter/ Willkomm 2009: 31–57). While such an approach may be applicable to research interests which are concerned with perception itself and the making of space, it is not necessarily relevant to a study aimed at exploring the sensory aspects of performed history constructions and the role of emotional practices. Separated from their respective concrete experiences, the film and sound recordings from archaeologically relevant places in the Alps could only form the basis for an

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essentialist interpretation of impression but did not reveal anything about the relation of their materiality and the practices of the hikers. By now, three aspects of the researcher’s body and the ethnographic interest in the body, which inspired the research design, should have become clear. The first involves the ethnographer’s body in the dynamics of the field, the second sees the researcher’s body as a tool for immersion into the field, and the third aspect is interested in the participant’s body as a source of scientific and tacit knowledge. While seemingly similar, the focuses of these three aspects are fundamentally different; they are unequally efficient for the purposes of this fieldwork and create essentially dissimilar bodies. This small exemplary collection of samples which are concerned with ethnographic work on sensory knowledge shows the great variety of ethnographic concepts of the body and the senses. Each concept cannot directly be compared to another, not simply because of their fundamental differences concerning their epistemic perspectives but also because they may correspond to differing chronological phases of fieldwork. Some concepts focus on bodily co-presence, some on perception and empathetic approaches towards it, some try to observe and describe experience and memory, and others might be concerned with questions of interpretation and abstraction. While they share their interest in the body and cultural aspects of the senses and their role in knowledge circulation, their concepts differ. Just as the appearance of arteriosclerosis changes depending on the medical treatment it receives (Mol 2007), it seems as if the ethnographic body changes during field contact as well.16 In addition, each encounter in the field is a performance of ethnographic work and the subject matter at hand. A more interesting aspect lies in examining what role the subject matter is assigned to in each respective knowledge performance. Here, it is important to differentiate between the terms relating to the senses in the context of the research. In addition, one must distinguish certain roles of and interests in the body in specific research contexts. For example, the notion exists that the body is a medium of intersubjectivity – i.e. a multi-sited screen of projection in interview situations or observations (where the body is either used to talk about something else, to animate someone to share experiences or to reconstruct certain individual experiences) and is, thus, a tool used to reenact perceptions, experiences, memories and so on. In this respect, some

16 Scheper-Hughes (1994: 231) has outlined three different bodies as levels of anthropological analysis: the representational body social, the controlling body politic and the individual body personal. I would suggest that there are many more; a comparison of differing notions of embodiment in anthropology would be a commendable work.

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studies on sensory experience try to discover something about the ›real‹ perception of their participants (Spülbeck 2001; Chin 2011). These attempts are concerned with and sometimes frustrated due to authenticity. While this approach might be considered another form of ›going native‹, it questions the fundamental trustworthiness of the body as a source at all. This may beg the question as to why ethnography actually needs participants in the first place. Would it not be more realistic to write novels instead of objectifying subjective observations? Ultimately, this may lead to resignation or a constructivist mindin-a-vat-model. Ethnographic approaches to the senses in some way resembled the body concepts expressed by the hikers; they were aware of historical distance and the existence of cultural construction, yet they relied on the senses as authentic sources of knowledge. Because an ethnographer studying tourism acts as a tourist herself and relates to her own personal travel experiences, it is important to examine the culturally constructed nature of the sensorium and, thus, the methodological differentiation between the research tool and the field of interest. Richard Wilk commented on the continuous activity of collecting ethnographic data and the dissolving boundaries between the field and the ethnographer’s home: »We are interpretive instruments, and we are engaging with ethnography when we move any experience from our senses to our pen or keyboard. This is not quite what has been written about so grandly and ambitiously as the translation (Rosaldo 1989), description and interpretation (Geertz 1973), or writing (Clifford and Marcus 1986) of an entity called ›culture‹. Instead I see the heart of the enterprise as something more prosaic and continuous, a semidisciplined process of what Löfgren calls ›managing overflow‹, channelling the overabundance of information, events, and impressions into something which appears to make sense.« (Wilk 2011: 24)

Managing a flood of sensory material requires reliable categories that help to arrange, classify and condense the findings.

C ONCLUSION Sensory knowledge circulation involves a multi-dimensional body where different modes of experience take place: Multi-sensory perception, memory, observation, reflection and interpretation depend on matters of subjectivity, time

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and space and different notions of materiality. It is a non-linear and nonchronological process that interconnects these aspects in an unordered manner. In this respect, hiking and ethnographic research differ concerning their aspects but resemble one another in functionality: Hikers and ethnographers undergo different phases of relating to the environment as well as to themselves and to others. These phases repeat themselves, complement one another and overlap. As an officially accepted and popular epistemic authority, ethnographic research methodologises these phases and allows an appropriate examination of the complexities of body and knowledge interference. In order to anatomise the different aspects of the body that are addressed in particular contexts, an intense examination of these processes is desirable. For the research outlined above, a concentration on sensory practices proved to be helpful. Nevertheless, an urgent need to reflect upon the ethnographer’s presence in data collection and the necessity of ›qualifying‹ participants to reflect on their own sensory techniques was discovered. Consequentially, the rhetorical separation of experts and laypeople who are themselves experts in terms of their practices and interpretations becomes an exceedingly unpleasant task. In the research participants’ opinion, self-made interpretations based on individual experience necessarily continue to be unacceptable as representative knowledge. The generation of these kinds of historical interpretations presented above as well as the academic consideration of their cultural dynamics remain popular in hiking practices. In this regard, the sensorium is a multifunctional tool for ethnographic and other popular practices of making sense.

R EFERENCES Becker, Brigitte [et al] (2013): Die reflexive Couch. Feldforschungssupervision in der Ethnografie, in: Zeitschrift für Volkskunde 109, 181–204. Bendix, Regina (2005): Introduction. Ear to Ear, Nose to Nose, Skin to Skin. The Senses in Comparative Ethnographic Perspective, in: Ethnofoor 18 (1), 3–14. Brenneis, Donald (2005): Afterword. Sense, Sentiment, and Sociality, in: Ethnofoor 18 (1), 142–148. Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Chin, Elizabeth (2011): Reflections on Race, the Body and Boundaries. How to get on the bus, in: Ethnologia Europaeana. Journal of European Ethnology 41 (1), 41–51.

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R ÄUME | S INNE | ATMOSPHÄREN

Acid House als Grenze des praxeologischen Kulturverständnisses Zum Realismus der sensuellen Ethnographie J OCHEN B ONZ

Der turn, den die sinnliche oder, wie ich lieber sagen möchte: sensuelle Ethnographie für die kulturanthropologische Forschung darstellt, lässt sich im Sinne eines Nachholens verstehen, als eine überfällige Ergänzung. Sowohl als Feld einer Vielzahl an Untersuchungsgegenständen wie auch als Form des methodischen Zugriffs vervollständigt das mit den Sinnen Wahrnehmbare, das Empfindbare und Emotionale die bestehenden Untersuchungsgegenstände und Methoden volkskundlich-ethnologischer Forschung. Darüber hinaus hat der sensual turn freilich auch den Charakter einer Mode. »Moden« aber, so Hermann Bausinger, »kommen nicht von ungefähr«1. In diesem Sinne verweist die sensuelle Ethnographie meines Erachtens auf einen Wandel in der Konfiguration des Kulturellen, der es notwendig macht, auf der Ebene der Methodologie und der Begriffe zu antworten. Die diesem Wandel innewohnende Tendenz bildet den Gegenstand meines Beitrags. In methodischer Hinsicht unternimmt die sensuelle Ethnographie eine Zuspitzung des Sich-Aussetzens und des aufmerksamen Wahrnehmens, das prinzipiell einen integralen Bestandteil der ethnographischen Methode der teilnehmenden Beobachtung bildet. Inwiefern es sich bei der Fokussierung auf das Hören, Schmecken, Fühlen um eine Zuspitzung handelt, wird an den Untersuchungsgegenständen deutlich: Anders als sprachliche Aussagen und – ich vereinfache – vieles Sichtbare, springt die Bedeutung von Klängen, Gerüchen, Gefühlen nicht ins Auge. Mit ihrer hierin fußenden Überzeugung, auf das Rie-

1

Bausinger, Identität, 204.

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chen, Schmecken, Hören etc. nicht verzichten zu können, um ein dem Untersuchungsgegenstand adäquates Verständnis entwickeln zu können, trifft sich die sensuelle Ethnographie mit dem ebenfalls zunehmend praktizierten autoethnographischen Forschungsansatz in der Überzeugung, dass ohne eine intensive eigene Erfahrung des_r Forscher_in mit dem Untersuchungsgegenstand keine Erkenntnis über ihn möglich ist. Diese Überzeugung steht in einem Spannungsverhältnis zu der die Ethnologie über Jahrzehnte bestimmenden Annahme, Kulturen wie Texte lesen zu können. Die Voraussetzung hierzu stellt die Kenntnis der entsprechenden ›Sprache‹, des richtigen ›Codes‹, eine Einsicht in ›elementare Strukturen‹ dar. Wenn nun die sensuelle Ethnographie die Notwendigkeit des Spürens betont, bringt sie damit auch ein Desinteresse an den Codes etc. zum Ausdruck. Ihr Insistieren auf dem Spüren artikuliert eine fundamentale Skepsis gegenüber der Produktivität des Paradigmas kultureller Textualität und Lesbarkeit. Da dieses Paradigma seine Leistungsfähigkeit lange und in einer Fülle von Studien bewiesen hat, die sensuelle, emotionale Aspekte keinesfalls ausschlossen, verstehe ich den sensual turn weniger als Kritik an einem Paradigma. Er ist vielmehr als Hinweis auf eine Krise der symbolischen Ordnung zu verstehen, also demjenigen Bereich des Kulturellen, welcher die Textualität und Lesbarkeit in sich birgt, da er als ein entsprechendes Medium fungiert. Die symbolische Ordnung bildet die zentrale Dimension des Kulturellen. Mit Foucault kann sie als ›Diskurs‹, d.h. als die »Ordnung, auf deren Hintergrund wir denken«2, verstanden werden, weil sie eine Matrix, ein »Intelligibilitätsraster«3 (Butler) und damit die menschliche Wahrnehmung der Wirklichkeit erzeugt. Symbolische Ordnungen »sind gleichzeitig Ordnungen der Wirklichkeit und unbewusste Ordnungen des Wissens«4, erläutert Matthias Waltz. »D.h. die für das traditionelle Denken fundamentale Gegenüberstellung von innen und außen, von Subjekt und Wirklichkeit ist prinzipiell aufgehoben.«5 Bei Bourdieu erscheint dieses Prinzip als ›Kongruenz von sozialen und einverleibten Strukturen‹6 oder als die ›Homologie objektiver sozialer und subjektiver mentaler, kognitiver Strukturen‹7, welche den Habitus kennzeichnet.

2

Foucault, Ordnung der Dinge, 25.

3

Butler, Leibliche Einschreibungen, 193.

4

Waltz, Subjektivierende Ordnungen, 82.

5

Ebd.

6

Vgl. Bourdieu, Meditationen, 311.

7

Vgl. Bourdieu, Staatsadel, 15f.

A CID HOUSE ALS G RENZE DES PRAXEOLOGISCHEN K ULTURVERSTÄNDNISSES

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Wenn nun statt Phänomenen, die sich mit diesen etablierten Konzeptionen erfassen lassen, das Nicht-Intelligible als Horizont der Gegenwartskultur8 erscheint und unsere Aufmerksamkeit als Kulturwissenschaftler_innen beansprucht, ist es notwendig, die begrifflichen Werkzeuge zur Beschreibung und Analyse des Kulturellen zu überprüfen.

ACID H OUSE Um an einem Beispiel aus dem Gegenstandsbereich der Europäischen Ethnologie konkret zu werden, stelle ich Ergebnisse einer Popkulturstudie vor, die ich in den 90er-Jahren als eine mehrjährige ethnographische Forschung durchgeführt habe. Diese besaß stark autoethnographische Züge und war durch intensive, an der Ethnopsychoanalyse orientierte Forschungsbeziehungen zu mehreren Akteur_innen des multilokalen Untersuchungsfeldes geprägt.9 Eine besonders wichtige Bezugsperson war der DJ und Musiker Hans Nieswandt, ein früherer Redakteur der Popmusikzeitschrift Spex. In einem ausführlichen biographischen Interview, das er mir früh im Forschungsprozess gab und das zu einem Hauptgegenstand der veröffentlichten Studie werden sollte, äußerte er sich in folgender Weise über sein Erleben von Acid House, eine Mitte der 80er-Jahre aufgekommene, frühe Form der House und Techno-Musik: »Acid House hat mich ziemlich hart getroffen. Also, das war für mich so – da hat sich mein Leben halt geändert. Das war einfach so ganz klar, dass die neue Zeitrechnung da irgendwie anfing mit Acid House.«10 Die hier zum Ausdruck kommende Eindrücklichkeit, die Acid House für Nieswandt besaß, muss vor dem Hintergrund verstanden werden, dass Nieswandt zum Zeitpunkt dieser Erfahrung bereits seit vielen Jahren intensiv, auch als Musikkritiker, mit Popmusik beschäftigt war. Im Verhältnis zu der ihm geläufigen Musik muss Acid House, um die Welt aus den Angeln heben zu können, in entscheidender Weise als anders erlebt worden sein.

8

Zu dieser Diagnose vgl. Bonz, Das Kulturelle.

9

Autoethnographisch erstens insofern, als ich selbst über mehrere Jahre zu einem Akteur des Untersuchungsfeldes wurde; zweitens weil ich mich dem Untersuchungsfeld interpretativ stark über meine Wahrnehmung des Feldes genähert habe, die sich im Laufe der Zeit in, wie ich meine, für das Feld selbst signifikanter Weise veränderte. Hierauf komme ich zurück.

10 Vgl. Bonz, Subjekte des Tracks, 44. Bei den folgenden Erläuterungen dieser Aussage Hans Nieswandts handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung der Seiten 44–47 aus Subjekte des Tracks.

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Diese Ungekanntheit/Nicht-Intelligibilität des Acid House wird von den kulturwissenschaftlichen Konzeptualisierungsversuchen, die mittlerweile vorliegen, sowohl erläutert als auch unterstrichen, wie ich im Folgenden ausführe. Neben der für House und Techno charakteristischen ›geraden Bassdrum‹, also der Betonung der vier Zählzeiten des Viervierteltaktes, und einem Tempo von um die 120 Beats in der Minute ist Acid House durch Klangeigenschaften gekennzeichnet, die durch vom Hersteller nicht intendierte Extremeinstellungen an einem bestimmten Synthesizer entstehen, dem BassǦSynthesizer T303 der Firma Roland. Simon Reynolds beschreibt diesen Sound am Beispiel des Stückes Acid Tracks von Marshall Jefferson wie folgt: »Mit 11 Minuten und 17 Sekunden Dauer ist Acid Tracks nichts als ein Drum-Track mit endlosen Variationen dieses Bass-Sounds: irgendwo zwischen Furzen und neurotischem Wiehern, zwischen dem Blubbern vulkanischen Schlammes und dem tiefen Ur-Brummen des Didgeridoos. Die 303-Bassline ist paradox, denn sie ist ein amnesisches Erinnerungsmoment: vollkommen faszinierend, wenn man sie hört, aber nur schwer zu erinnern oder sich vorzustellen, wenn es vorbei ist, und zwar sowohl als Pattern wie als Stimmung. Ihr Effekt ist die mentale Störung; als sich die Begeisterung für Acid-Tunes zu überschlagen begann, bedauerte Marshall Jefferson, dass die Künstler die 303 nicht zur Erzeugung von Stimmungen einsetzten, sondern um ›Gedankengänge zu unterbrechen‹.«11

Im Gespräch mit Nieswandt wird deutlich, dass sich das von Reynolds beschriebene amnesische Moment des Acid House nicht ausschließlich auf momentane Hörerfahrungen bezieht. Acid House scheint darüber hinaus eine grundlegende Kontinuität im Feld der Popmusik zu unterbrechen. Dieser Umbruch wird nachvollziehbar, wenn man sich die Charakteristik der avancierten Popmusik der 80er-Jahre vergegenwärtigt. Diese bestand in der nachdrücklichen, ausgestellten Bezugnahme auf Vorhandenes: insbesondere auf vorausgegangene Phasen der Popkulturgeschichte (den Soul der 60er, Camp des Hollywoodkinos der 40er etc.) und auf aktuelle gesellschaftliche Phänomene (Thatchers Neoliberalismus). Acid House verweigert sich diesem Prinzip der Verweisung auf Bekanntes, wie Nieswandt und Reynolds betonen: Das Subjekt des Hörens wird vielmehr von etwas erfasst und durchgeschüttelt, für das ihm Sprache und Erinnerungsvermögen gerade fehlen. Mit Kodwo Eshun formuliert ein weiterer Autor, der sich mit Acid House befasst, dessen Nicht-Intelligibilität in folgender Weise:

11 Reynolds, Energy Flash, 25 [Übersetzung JB].

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»Jede Wahrnehmung oszilliert in die andere in einem audiochemischen Feedback-Loop. Pitchverschiebung zieht dich hinunter in einen verwaschenen Geisteszustand, eine Zeitlupen-Computer-Psychose. 303 Filter verschmieren Töne in einem Klangfarbenspektrum des Verfalls. [...] Angst lässt dich in den Tanz taumeln, überflutet dich mit Wellen tröstlicher Panik, bis du dich zugleich sicher und gefährdet fühlst.«12

Eshun betont hier, dass im Acid House die sinngebenden Differenzen zwischen potentiellen Bedeutungsträgern verschwinden, und mit diesen verschwindet auch die Ordnung der Zeit. In einer derart auf Dauer gestellten Gegenwart breitet sich das Ungekannte aus, das ein von der Angst bis zur Geborgenheit reichendes Gefühlsspektrum besitzt. Für Eshun erfordert die Nicht-Intelligibilität der Sounds eine maßgeblich leibliche Rezeptionsweise. Denn wenn Sounds nicht ›festumrissen‹13 seien, sind sie nicht zu begreifen. »[D]er Sound [wandert dann] sehr schnell auf die HAUT – und die Haut beginnt, für dich zu hören. Und wenn die Haut anfängt zu hören, wird dir sehr unheimlich, und dann fängt die Haut an zu leiten, und die Leute sagen: ›Mir ist wirklich sehr kalt.‹ Oder sie behaupten, die Musik wäre wirklich kalt, und das liegt daran, dass ihre Hauttemperatur vielleicht wirklich um ein Grad Celsius gefallen ist, weil die Musik sich darauf niedergelassen hat und der Beat seinen Eindruck hinterlassen hat.«14

Jeremy Gilbert und Ewan Pearson prägen den Ausdruck »materiality of sound«, um die beschriebene Leiblichkeit der Klangwahrnehmung zu fassen, die »corporeality of musical experience«.15 »[S]ound waves vibrate slowly enough to resonate throughout the body.«16 Diese grundsätzliche Eigenschaft des Klanglichen komme in der bassbetonten elektronischen Dance Music der Gegenwart besonders zum Tragen: »[I]t is precisely the bass end of the frequency spectrum – comprising of the slowest vibrating sound waves – that provides listeners and dancers with the most material, most directly corporeal, types of experience. It is the bass and sub-bass which are felt at least as much as they are heard.«17

12 Eshun, Heller als die Sonne, 114. 13 Vgl. ebd., 217. 14 Ebd., 217f. 15 Gilbert/Pearson, Discographies, 44f. 16 Ebd., 46. 17 Ebd. [Hervorhebung im Original].

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Gilbert und Pearson verstehen die für das Subjekt mit dieser Klanglichkeit einhergehende Erfahrung als eine Öffnung seines Wirklichkeitserlebens. Poststrukturalistisch und insbesondere in Anlehnung an die Lacan’sche psychoanalytische Theorie begreifen sie diese näher als eine Überschreitung der symbolischen Ordnung und damit als Öffnung hin zum Genießen in der Dimension des Realen. Das Genießen ist für sie im Nachlassen der Artikulations- und Bindungskraft der symbolischen Ordnung begründet, und insbesondere im Nachlassen der Bindungskraft der Geschlechter-Subjektpositionen Mann und Frau: »[D]ance music should be seen as tending to induce an ecstatic experience of jouissance which is – if only partially and temporarily – an escape from gender itself, a return to a moment when there was no ›I‹ and especially no ›I’m male‹ or ›I’m female‹. We might say, in fact that this is precisely how the central experience of ›rave‹ works; it offers us ecstasy by liberating us from the demands of the symbolic order, the demand to be male or female, the demand to speak and understand, the demand to be anything at all.«18

V OLKSKUNDLICHES F ESTHALTEN

AN

›B EDEUTUNGEN ‹

Die Nicht-Intelligibilität und ein mit ihr einhergehendes Genießen als eine Form der Subversion zu interpretieren, setzt das Vorhandensein und die Wirkmächtigkeit einer symbolischen Ordnung voraus, die subvertiert werden könnte.19 Gilberts und Pearsons unhinterfragt bleibende Annahme des Vorliegens und der Wirkmächtigkeit einer symbolischen Ordnung scheint mir eine direkte Folge

18 Gilbert/Pearson, Discographies, 67 [Hervorhebung im Original] sowie 64f. 19 Ähnliches gilt für den Ansatz, die hier mit Lacan als Genießen qualifizierten Phänomene im Anschluss an Turner als Phänomene der rituellen Schwellenphase zu begreifen: Wird in der Ritualtheorie die in der Schwellenphase entstehende ›AntiStruktur‹ in ihrer Auswirkung auf die am Ritual Beteiligten doch als eine »Erneuerung und Stärkung der bestehenden Strukturen« verstanden. Vgl. Wittinger, Raver im Wunderland, 171. Poststrukturalistisch formuliert: Die Identifikation des Subjekts in einer symbolischen Ordnung erfährt durch die rituelle Überschreitung der Ordnung eine Bestätigung. Diese Stärkung der symbolischen Identifikation findet sich in meinem Material und in den mir bekannten Studien ebenso wenig wie eine entsprechend wirksame symbolische Ordnung den Ausgangspunkt bilden würde. Insofern scheint mir hier die Anwendung der Ritualtheorie vor dem Hintergrund des kulturanthropologischen Diskurses zwar naheliegend, aber dem Untersuchungsgegenstand nicht angemessen.

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ihrer Orientierung an ihren Vorbildern Julia Kristeva, Roland Barthes, Judith Butler zu sein – kanonischen Vertreter_innen des klassischen Poststrukturalismus, dem es vor dem Hintergrund der mit dem Strukturalismus gewonnenen Einsicht in die Existenz und die sozial-kulturell-politische Relevanz der Dimension der symbolischen Ordnung ja um die Problematisierung der Macht des Symbolischen und um die Auslotung von Subversionsmöglichkeiten ging. Wenn heute in der Europäischen Ethnologie mit dem praxeologischen Kulturverständnis, dem hohen Stellenwert Pierre Bourdieus etc. das poststrukturalistische Denken ins Zentrum ernsthafter Versuche gerückt ist, ›Kultur‹ zu denken, spielt Subversion keine Rolle. Die Annahme des Vorhandenseins und der Wirkmächtigkeit einer symbolischen Ordnung teilen sich die entsprechenden Ansätze jedoch mit Gilbert und Pearson.20 Sicher, die symbolische Ordnung wird hier meist nicht bei ihrem Namen genannt; aber als ›Code‹, ›Diskurs‹, ›Habitus‹, ›bedeutungsvolle Körper‹, ›bedeutungsvolle Gefühle‹21 etc. oder auch gänzlich unbezeichnet22 wird sie implizit als dasjenige kulturelle Moment geführt, welches eine grundlegende Kongruenz im Wirklichkeitserleben verschiedener Personen sowie eine grundlegende Kontinuität der Wirklichkeitswahrnehmung über Generationengrenzen hinweg gestattet. – Wie lässt sich das Paradox verstehen, dass die Europäische Ethnologie zu einem Zeitpunkt stark auf das Konzept der symbolischen Ordnung setzt, zu dem die Wirkmächtigkeit der hiermit bezeichneten Kulturdimension infrage steht? Als in den 70er-Jahren in der Auseinandersetzung mit der Rolle der Volkskunde im Nationalsozialismus die frühe Volkskunde des 19. Jahrhunderts kritisch bedacht wurde, hat man den ihr inhärenten Nationalismus betont.23 Ich erkenne in ihr eher Artikulationen des Wunsches nach einer heilen, und das heißt vor allem: dauerhaft Bestand habenden Welt: die ›ruhige Stetigkeit‹, der ›lange Atem‹, »die als wesentliches Merkmal der alten Volkskultur galten und gelten«24, wie Bausinger 1978 schreibt.

20 Vgl. z.B. Scheer, Emotions; Reckwitz, Materialisierung der Kultur; Bonz/ Wietschorke, Habitus und Kultur. 21 Vgl. Eitler/Scheer, Emotionengeschichte als Körpergeschichte. 22 So ist die Dimension des Symbolischen z.B. adressiert, ohne benannt zu werden, wenn Wietschorke in einem reflexiven Text zur Methodologie der Volkskunde fragt: »Wie kommen wir überhaupt zu unserem Wissen über die soziale Welt? Wie erfassen wir die in ihr kursierenden Bedeutungen und wie machen wir sie im Wortsinne bedeutend?« Wietschorke, Beziehungswissenschaft, 329. 23 Vgl. Bausinger, Volkskunde. 24 Bausinger, Identität, 220.

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Ein Rest dieses Wunsches, nämlich die Verknüpfung des Wunsches nach der heilen Welt mit der Annahme einer über-individuellen Übereinstimmung und inter-generationellen Kontinuität der Wirklichkeitswahrnehmung, hat sich meines Erachtens in der Europäischen Ethnologie erhalten und nimmt heute unter anderem im praxeologisch-poststrukturalistischen Kulturverständnis Gestalt an.25 Während der Wunsch an sich alles andere als verurteilenswert ist (ich finde, man müsste ihn zur Entwicklung von Forschungsfragestellungen reflektieren), ist er in der unreflektierten Annahme des Vorhandenseins symbolischer Ordnung als alternativer Bezeichnung für ›Tradition‹ denkbar schlecht aufgehoben. Er blockiert die Untersuchung der »Prozesse der Spätmoderne« – ein Untersuchungsbereich, für den die Europäische Ethnologie in Elisabeth KatschnigFaschs Worten »zuständig« ist.26 Sich, wie im Fall von Acid House, nicht-intelligiblen Phänomen zu stellen, bedarf nicht der Verwerfung des praxeologisch-poststrukturalistischen Kulturverständnisses, sondern dessen Ausweitung. Bezüglich der Art dieser Ausdehnung denke ich an das komplexe konstruktivistische Angebot, um das es sich bei der strukturalen psychoanalytischen Theorie Lacans handelt, der sich in Jahrzehnten psychoanalytischer Praxis und Lehrtätigkeit mit der Innenseite des kulturellen Geprägtseins, dem Niederschlag, den die ›Abhängigkeit‹ des Menschen von der Kultur im Subjekt bildet, befasst hat.27 Um eine Lacan-Rezeption in der Europäischen Ethnologie zu befördern, die Überlegungen Lacans für ihre Fragen und Forschungsinteressen produktiv macht, erscheint es mir sinnvoll, zunächst die im Zentrum der strukturalen Psychoanalyse stehende Unterscheidung zwischen den Dimensionen des ›Symbolischen‹, des ›Imaginären‹ und des ›Realen‹ zu skizzieren;28 Begriffe, die bei Lacan für verschiedene Weisen des Wirklichkeitserlebens durch das Subjekt – und damit für Formen der Subjektivierung – stehen.

25 Eine andere Gestalt besitzt der Wunsch in der permanenten Selbstthematisierung der Volkskunde/Europäischen Ethnologie als Fach mit seinen Traditionen, Begriffen, Methoden etc. Der Wunsch nach einer heilen Welt bezieht sich hier auf das Fach selbst. 26 Katschnig-Fasch, Spätmoderne Lebenswelten, 457. 27 In einem Redebeitrag zur Diskussion im Anschluss an Foucaults berühmten Vortrag Was ist ein Autor? nimmt Lacan Foucault vor den Vorwürfen in Schutz, er negiere das Subjekt. Strukturalismus hin oder her, so Lacan, es gehe hier keinesfalls um die »Negation des Subjekts«. »Es geht um die Abhängigkeit des Subjekts, was etwas ganz anderes ist«. Jacques Lacan in Foucault, Was ist ein Autor?, 1041. 28 Ich orientiere mich hier an den Ausführungen in Evans, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse.

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Symbolisches. Die symbolische Ordnung ist bei Lacan ein Medium, in dem das Subjekt eine Wirklichkeit vorfindet, die nach dem strukturalistischen Modell der Sprache vorgestellt ist: Die Ordnung besteht als ein Verweisungszusammenhang von Zeichen, die arbiträr Bedeutungen zu artikulieren vermögen, weil sich die Zeichen auf der Ebene der Signifikanten unterscheiden. Die symbolische Ordnung artikuliert die Wirklichkeit entsprechend zugleich kontingent wie auch total. »Die symbolische Ordnung ist zunächst in ihrem universalen Charakter gegeben. Sie konstituiert sich nicht nach und nach. Sowie das Symbol erscheint, gibt es ein Universum von Symbolen. [...] Alles ordnet sich in Bezug auf aufgetauchte Symbole, auf Symbole, sobald sie einmal erschienen sind.«29 Dementsprechend bildet das Symbolische eine Ordnung des Wissens, wie Lacan sie in den strukturalen Analysen des ›wilden Denkens‹ bei Lévi-Strauss findet und wie sie Foucault später in Anlehnung an Lacan als ›Diskurs‹ beschrieben haben wird. Das Symbolische bringt so die Bedeutungen der Dinge in ihrem Zusammenhang hervor und es ermöglicht darüber hinaus ein Begehren, das erst im Rahmen des Symbolischen artikuliert ist und Objekte findet. Noch bevor er seinen Begriff von symbolischer Ordnung entwickelt, hat Lacan eine Idee vom Symbolischen als einem Beziehungsmodus – einer Beziehung der Bindung des Subjekts an seine Aussage (›volles Sprechen‹); des Subjekts an sein Unbewusstes; des Subjekts an seine Position etc. Imaginäres. Das Imaginäre im Sinne Lacans ist ebenfalls ein Medium; allerdings ein Medium, das das, was es artikuliert, in der Form eines idealisierten Bildes zeigt. Bei diesem Bild handelt es sich wesentlich um eine Täuschung sowie um eine flüchtige Erscheinung, weshalb das im Medium des Imaginären GestaltAnnehmende auch ständiger Bestätigung bedarf. Was heute als Narzissmus bezeichnet wird, liegt in der Dimension des Imaginären. Während das Symbolische als Beziehungsform triangulär ist (›du, ich und die Positionen, auf denen wir stehen‹; ›du, ich und das Gesetz, auf das wir uns beziehen‹), ist das Imaginäre ein dualer Beziehungsmodus: ›Ich und du‹ im Sinne von ›Du bist mein Ein-und-Alles‹, ›Du bist der Tollste!‹. Insofern geht die Zweiheit hier mit wechselseitiger Bestätigung einher. Ebenso kann sie aber auch als eine absolute Rivalität erscheinen (›er oder ich‹ bzw. ›was er ist, will ich sein‹). Insofern konstituiert das Medium des Imaginären das Feld der Aggressivität. Überhaupt handelt es sich bei der Dimension des Imaginären um das Reich der Affekte.

29 Lacan, Das symbolische Universum, 42.

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Reales. Im Unterschied zu den Dimensionen des Symbolischen und Imaginären ist das Reale im Lacan’schen Verständnis zwar in sich artikuliert, aber eben gerade kein Medium. Denn in der Dimension des Realen ist angesiedelt, was sich der Symbolisierung und der Bildlichkeit entzieht, das Nicht-Intelligible, das Ungestaltige, Unvorstellbare: »Das Unsagbare, das Unnennbare, der Wahnsinn«30. Entsprechend ist die Dimension des Realen bei Lacan auch nicht in einer dem Imaginären und dem Symbolischen vergleichbaren Weise begrifflich ausgearbeitet. Festhalten lässt sich jedoch: In der Dimension des Realen liegt das Genießen, welches das frühkindliche Wirklichkeitserleben bestimmt und das dem post-ödipalen Subjekt über das im Symbolischen artikulierte Begehrensobjekt zugänglich wird; das Reale ist das Leibliche insofern es nicht symbolisch oder imaginär ist, der Körper in seiner organischen Vitalität; das Reale ist der Tod; die Unendlichkeit; die Leere... Außerdem lässt sich auch das Reale als ein Beziehungsmodus begreifen: Des gefühlten Selbst zu Allem und Nichts, gekennzeichnet durch Unmittelbarkeit respektive die spürbare Anwesenheit von etwas, das zwar ungekannt aber zweifellos da ist.

K ULTURELLE K ONFIGURATIONEN , K ULTUR DES T RACKS

DAS

B EISPIEL DER

Dass eine die Dimensionen des Symbolischen, Imaginären und Realen berücksichtigende Konzeptualisierung des Kulturellen kulturelle Phänomene zwar anders erfasst als beispielsweise ein an Bourdieu orientierter praxeologischer Ansatz, aber gerade hierdurch ein grundlegendes Verständnis des untersuchten kulturellen Feldes möglich wird, bildet auch ein Ergebnis meiner House MusicStudie. Die Erklärungskraft, die durch die Unterscheidung der drei Dimensionen entsteht, möchte ich an Beispielen ihres Vorliegens und zweier Konfigurationen, die sie hier bilden, abschließend aufzeigen. In diesem Zuge wird auch deutlich, weshalb es notwendig ist, hier von Kultur bzw. Subkultur zu sprechen und damit an einer Vorstellung von Kulturen, als in ihrer Spezifik relevante Untersuchungsgegenstände der Europäischen Ethnologie bildend, festzuhalten. Die Skizze wird außerdem meine in dieser Studie praktizierte Weise des Einsatzes des wichtigsten methodischen Erkenntnisinstrumentes sensueller Ethnographie zeigen – die als Ausgestaltung kultureller Möglichkeiten verstandene Subjektivi-

30 So die Lacan-Biographin Roudinesco in Badiou/Roudinesco, Jacques Lacan, 85.

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tät der Forschenden.31 Tatsächlich nehme ich die auf dieser, meiner Seite der Beziehung von Forscher und Feld zu verzeichnenden Eindrücke und Veränderungen zur Richtschnur für die folgenden Ausführungen. Am Beginn der Forschung stand eine große Neugier auf die zum damaligen Zeitpunkt, Anfang der 90er-Jahre, von der Zeitschrift Spex repräsentierte ›große Alternativpopkultur‹32, wie Hans Nieswandt sie in unserem ersten Interview nennt. Das Gespräch dokumentiert meine Unwissenheit über die großen und die kleinen Dinge aus der Welt der Popmusik und besaß hierin zahlreiche Parallelen in anderen Situationen. So etwa in einem Besuch in einem Schallplattenladen in Köln, bei dem ich den damals dort arbeitenden Musikjournalisten und DJ Sascha Kösch darum bat, mir doch eine Veröffentlichung zu verkaufen, die ihm besonders gefalle, damit ich ihn später dazu interviewen könne. Tatsächlich erwarb und hörte ich in dieser Zeit viel House Music und bewunderte den Umgang, den die DJs mit den Tracks pflegten, indem sie diese für die Tanzenden behutsam zu einem stundenlangen Band verwoben. Was ich zum damaligen Zeitpunkt nicht besaß, war ein mit dieser Musik verbundenes Wissen: Ich konnte weder den Takt zählen, noch die Instrumente bzw. Sounds voneinander unterscheiden; ganz zu Schweigen von einem Wissen über Namen von Produzent_innen, von Labels, von Clubs oder der Tradition der Electronic Dance Music.33 Ich war zu diesem Zeitpunkt jenseits des Symbolischen im Sinne einer Wissensordnung positioniert, wenn auch nicht ohne Beziehung zu dieser. Es handelte sich bei ihr um eine Beziehung der Bewunderung, die, wie es bei Identifikationen in der Dimension des Imaginären der Fall ist, mit einer hohen Erschütterbarkeit des Subjekts einherging: Nach Begegnungen mit den von mir idealisierten Akteur_innen aus der Welt der Popmusik wurde ich regelmäßig krank. Sarah Thornton hat dieses von mir so massiv erlebte imaginäre Gefälle in einer einflussreichen Studie an der in der Subkultur stattfindenden Konstruktion eines abgewerteten Außen beschrieben. Den Effekt, den dieses Gefälle im Inneren der Subkultur erzeugt,

31 »Es geht darum, die Subjektivität eines Individuums zu erfassen und gleichzeitig diesen Ausdruck eines Menschen als Ausgestaltung gesellschaftlicher Möglichkeiten zu verstehen.« Erdheim/Nadig, Ethnopsychoanalyse, 192. 32 Vgl. Bonz, Subjekte des Tracks, 28 sowie das gesamte Gespräch, 27–41. 33 Die Electronic Dance Music aktualisierte viele Aspekte der Disco-Kultur der 70erJahre und führte auch vielfach zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dieser, wie etwa Peter Shapiros Geschichte der Discomusik exemplarisch zum Ausdruck bringt. Vgl. Shapiro, Turn the Beat Around.

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bezeichnet sie in Anlehnung an Bourdieu – im Rahmen der von ihm beschriebenen Logik der Distinktion – als »subkulturelles Kapital«.34 Im weiteren Verlauf der Forschung – ihrer zweiten Phase – hat sich mir die Welt der Popmusik dann in anderer Weise dargestellt. Das zeigte sich etwa an meinem geänderten Verhältnis zur Musik: Ich habe sie nun verstanden. Das heißt zum Beispiel, dass ich wusste, ob ich einen Track gut fand oder nicht – und zwar auch ohne darüber nachdenken zu müssen. Während mir Rockmusik zu diesem Zeitpunkt völlig uninteressant erschien, konnte ich im Bereich der House Music feine Unterscheidungen vornehmen und hatte insbesondere eine genaue Vorstellung davon, welche ästhetischen Eigenschaften im Moment ›cuttin’ edge‹ waren – und welche diesen Punkt bereits überschritten hatten. Die Möglichkeit, die Musik in der Wahrnehmung zu begreifen, sie als Wissensgegenstand zu verstehen und das Vorhandensein von Kriterien, die ihre Beurteilung möglich machen, weisen auf das Vorhandensein und die Identifikation mit einer symbolischen Ordnung hin. Offenbar bestand in mir zu diesem Zeitpunkt eine solche Identifikation. Meine Subjektivität war, um es mit Bourdieu zu formulieren, durch einen entsprechenden Habitus bestimmt: Als ›praktischer Sinn‹ ordnete er die Wirklichkeit zu einer Welt (ausgehend von und entlang der Kategorien, die diese Ordnung bestimmten). Mit der Musik ist das, was in der ersten Forschungsphase zugleich höchst anziehend wie auch in verstörender Weise ungekannt erschien, in der zweiten Phase verständlich und interessant geworden. Diese Veränderung betrifft nicht die Welt der House Music, sondern meine Position im Verhältnis zu ihr: Ich war zu einem Subjekt der Subkultur geworden. Die in der ersten Phase in ihrer Macht erfahrene Dimension des Imaginären, welche die Subkultur offenbar auf ihrer Außenseite massiv umgibt, die diese Subkultur für Außenstehende verzaubert und die Außenstehenden zugleich entwertet und ausschließt, ist auf der Innenseite nicht verschwunden. Aber sie ist dort in anderer Weise wirksam. Sie bildet hier im Zusammenspiel mit dem Symbolischen und dem Realen eine andere Konfiguration, wie ich im Folgen zeigen möchte. Wie Gilbert und Pearson, Reynolds und Eshun ausführen, ist die TrackMusik wesentlich in ihrer Materialität erfahrbar. Grundlegend geht sie eben nicht in Bedeutungen auf, sondern insistiert in ihrer Existenz, im schieren Dasein der Sounds, deren »unmittelbare Wucht [und] Durchdringungswirkung«35 sowohl leibliche Vibrationen erzeugt als auch eine spezifische Umgebung. Diese bildet einen Erfahrungsraum aus, der so flüssig ist, wie die Durchdringungswirkung an

34 Vgl. Thornton, Club Culture. 35 Schulze, Bewegung Berührung Übertragung, 147.

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den Moment der Anwesenheit des Klangs gebunden ist. Dieser Flüchtigkeit, die der Existenz der Erscheinungen in der Dimension des Realen innewohnt, wirkt ein Erleben der Musik in der Dimension des Imaginären entgegen. Die unbestimmten materialen Existenzen der Sounds nehmen eine Gestalt als punktuelle Sounds oder Soundflächen mit bestimmten Klangeigenschaften an, als kleine Melodielinien, als Stimmen, Samples etc. Indem sie sich von im Realen Existierendem in Gestalten verwandeln, ermöglichen sie den Subjekten der Subkultur, auf dem Dancefloor und überhaupt beim Hören der Tracks ein Anfangen der Welt zu erleben. Denn diese Verwandlungen wiederholen sich nicht nur permanent und möglicherweise unabschließbar; weitere Verwandlungen schließen sich an, wenn verschiedene Gestalten zueinander in Beziehung treten und somit ein Netz, eine Struktur auszubilden beginnen. Die Rohform der Medialität des Symbolischen zeichnet sich ab: ein Netz von Signifikanten, die bereit sind, Bedeutungen an sich zu ziehen.36 Ich versuche die Konfiguration der Subkultur noch einmal in anderer Weise einzuholen. Freilich beweisen sich in der Situation des Durchhörens neuer Veröffentlichungen im Plattenladen oder im Musikerleben beim Tanzen im Club die Kriterien einer symbolischen Ordnung: Beim Durchhören sortierte ich aus, was mir musikalisch nichts sagte; das Tanzen bereitete kein Vergnügen, wenn die Musik als zu alt oder als zu fremd erschien. Aber die symbolische Ordnung bildet hier nicht die Basis der Kultur. Denn nur wenn das Wiedererkennbare auch Ungekanntes enthielt, also das Unbestimmbare anwesend war, machte das Hören und Tanzen glücklich. Diese in der Dimension des Realen angesiedelte materiale Spürbarkeit habe ich in verschiedenen Aspekten der Subkultur wiedergefunden und unter anderem als Einführung neuer Signifikanten in die musikalische Sprache und Welt der elektronischen Dance Music begrifflich zu fassen versucht.37 Weil in den 90er-Jahren im Bereich der Techno- und House Music wöchentlich zig oder hunderte neuer Schallplatten veröffentlicht wurden, war die Subkultur ungeheuer dynamisch. Die Welt wandelte sich gewissermaßen permanent. Nicht auf Wissensgegenständen, Bewertungskriterien, Wahrnehmungskategorien, sondern auf dem Auftauchen und Wahrnehmen der neuen Signifikanten, auf der kulturellen Dynamik lag meines Erachtens der Fokus der Subkultur. Das heißt, ein Zusammenspiel von Realem und Imaginärem bestimmte die Subkultur insofern, als es in der Form des Spürens des Ungekannten sowie in der Idealisierung des neuen Signifikanten eine Ausrichtung auf das Anfangen der Welt schaffte (cuttin’ edge).

36 Vgl. Bonz, Subjekte des Tracks, 98–116, 124–136. 37 Vgl. ebd., 63–88.

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Die imaginäre Beziehung zum Ungekannten zeigte sich auch in anderer Weise. So war ein Moment der Subkultur, das mich in der ersten Feldforschungsphase verstörte, die Unverbindlichkeit der Akteur_innen. Ich konnte mich auf Aussagen, etwa Verabredungen, nicht verlassen. In der zweiten Phase erlebte ich an mir selbst, dass das Treffen von Aussagen manchmal eher Auftritten glich, als ernst gemeint zu sein. Das hier zum Ausdruck kommende Wohlwollen gegenüber Selbstinszenierungen, gegenüber flüchtigen Gestaltannahmen, Aus-dem-Rahmen-Fallendem zeigte sich besonders am exaltierten Verhalten der Leute im Club und am hohen Stellenwert, der hier Glamour zukam.38 Ich habe solche spielerischen imaginären Identifikationen an mir selbst zum Beispiel in der vergleichsweise unspektakulären Weise erlebt, dass ich mich beim Musikhören, auch beim Tanzen, für Momente ganz in einzelnen Sounds, Klangfiguren, Melodielinien wiedergefunden habe und mich in diesen flüchtigen Identifikationen gesehen gefühlt habe, und zwar freundlich gesehen. Das Vorhandensein eines entsprechend wohlwollenden Blicks bildete einen Effekt des spezifisch subkulturellen Ineinanderwirkens der Dimensionen des Symbolischen, Imaginären und Realen. Eine dritte Phase der Feldforschung bestand in meinem langsamen Herausfallen aus der Subkultur. Bezüglich der subkulturellen Wissensgegenstände und Subjektivität stellte es sich als ein Verblassen dar. Ich habe mich z.B. immer weniger für musikalische Neuerscheinungen und Entwicklungen interessiert. Hinsichtlich der Subkultur als ethnographischem Untersuchungsgegenstand wurde erst in dieser Phase eine Auswertung der Beobachtungen und Erfahrungen

38 Das Wohlwollen gegenüber überraschenden Gestalt-Annahmen beschreibe ich in Subjekte des Tracks als Kennzeichen der Ästhetik des Samplings und der Haltung des Chillens. In beeindruckender Weise zeigt es sich z.B. aber bereits in Chantal Regnaults Fotographien der New Yorker Voguing-Szene (vgl. Baker/Regnault, Voguing) oder in einer aktuellen Cover-Gestaltung wie DJ Kozes Amygdala: Mit Motorradhelm und weitem Mantel sitzt der Künstler auf einem Rentier, das auf einer von rosafarbenen Bäumen und Bergen umgebenen Wiese steht. Eindrücklich beschrieben ist das Wohlwollen gegenüber dem Ungekannten auch in Jürgen Teipels 2010 veröffentlichtem Roman Ich weiss nicht. Dass die entsprechenden Phänomene die Kulturforschung auch vor Verständnisschwierigkeiten stellten, belegen etwa Werner Mezgers frühe Untersuchungen zur Discokultur: Zwar wird Wesentliches wahrgenommen, benannt wird es jedoch in einer Weise (›Trance‹, ›Rausch‹, ›Ekstase‹), die ein emisches Verständnis verhindert. Hierzu trägt freilich auch die pädagogische, von der Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule geprägte Beschreibungshaltung bei. Vgl. Mezger, Discokultur; Neißer/Mezger/Verdin, Jugend in Trance?.

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möglich. Die zuvor sensuell erfahrbar gewesenen Züge der Subkultur wurden nun als Aspekte der Subkultur benennbar. Dies gilt insbesondere für die in der Einleitung meines Beitrags getroffene und im Weiteren dann erläuterte Aussage, dass die spätmoderne westliche Gegenwartskultur durch ein Nachlassen der Wirkmächtigkeit der kulturellen Dimension der symbolischen Ordnung gekennzeichnet ist. Die fundamentale Subjektposition liegt hier in der Dimension des Realen.39 Die Kultur des Tracks antwortet auf diese kulturelle Situation, indem sie eine Welt ausbildet, welche die Dimension des Realen zur Erzeugung intensiver Körpererfahrungen nutzt, indem sie auf Erschöpfung zielt, auf das Spüren der eigenen Leiblichkeit und der Anwesenheit von Klängen anderer Körper. Sie nutzt außerdem die das Reale kennzeichnende Flüchtigkeit und Intensität der Dinge um auf dieser Grundlage mit den Mitteln des Imaginären und des Symbolischen eine Welt hervorzubringen.40

D ER R EALISMUS

DER SENSUELLEN

E THNOGRAPHIE

Die sensuelle Ethnographie nicht lediglich als eine Ausdehnung des methodischen Instrumentariums und der Untersuchungsobjekte kulturanthropologischer Forschung zu begreifen, sondern sie im Sinne eines ihr innewohnenden Realismus’ als Hinweis auf eine kulturelle Phänomenlage zu erachten, die eine solche Perspektivverschiebung und ein solches Methodenwerkzeug notwendig macht, bildet den Ausgangspunkt meiner Überlegung. Ich fasse die sensuelle Ethnographie also als einen Indikator auf, welcher auf einen Wandel in der Kultur spätmoderner westlicher Gesellschaften hinweist. Die Tendenz dieses Wandels besteht in einer Einschränkung der Wirkmächtigkeit der im Poststrukturalismus als ›symbolische Ordnung‹ bezeichneten Dimension des Kulturellen, die das Kulturmedium schlechthin bildet. Denn die erst in der Dimension des Symbolischen vorhandenen Kategorien bilden die Wirklichkeitswahrnehmung ihrer Subjekte aus; erst sie lassen Handlungen als sinnvoll erscheinen und schaffen und strukturieren das kulturelle Gedächtnis. Mit Butler formuliert: Die symboli-

39 Eine aktuelle Publikation, die die Kultur des Tracks zum Gegenstand hat, ist Jürgen Teipels Mehr als laut: ein aus Ausschnitten biographischer Interviews mit DJs in thematischen Blöcken zu einem fiktiven Dialog der Beteiligten gefügtes Arrangement. 40 Diese Stabilisierung erfolgt und zeigt sich nicht zuletzt im Bereich der Ökonomie an der Etablierung von Clubs, Labels und Marken, Booking-Agenturen, Musiksoftwareund Geräte-Entwicklung etc.

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sche Ordnung erzeugt die Intelligibilität menschlichen Daseins. Mit dem NichtIntelligiblen respektive dem Realen tritt eine hierzu fundamental verschiedene kulturelle Dimension ins Zentrum der spätmodernen Kultur. Das praxeologisch-poststrukturalistische Kulturverständnis, das wesentlich die Kontinuität kultureller Verhältnisse zu denken erlaubt, orientiert sich bislang ausschließlich an der Intelligibilität menschlicher Wahrnehmungen und Handlungen und setzt damit implizit die Wirkmächtigkeit einer kulturellen Medialität vom Typ symbolischer Ordnung voraus. In Phänomenen wie Acid House stößt das praxeologische Kulturverständnis deshalb an seine Grenze. Damit meine ich keinesfalls, das praxeologische Verständnis von Subjekt und Kultur sei aufzugeben; aber es ist auszudehnen. Ich schlage vor, diese Ausdehnung an Lacans Unterscheidung zwischen den Dimensionen des Symbolischen, Imaginären und Realen zu orientieren. Als Konzeptualisierungen verschiedener Formen der Medialität, von der Dinge und Menschen in ihrer Objekthaftigkeit und Subjektivität abhängen, ermöglichen sie aussagekräftige Kulturanalysen. Kultur als spezifische Konfigurationen aus Symbolischem, Imaginärem und Realem zu begreifen, eröffnet darüber hinaus die Möglichkeit, am ethnologischen Kulturbegriff festzuhalten, indem differenzierter gefasst wird, inwiefern dieser Kulturelles zu bezeichnen vermag. Am Beispiel meiner Studie über die Kultur des Tracks habe ich Grundzüge des so verstandenen Kulturellen einer Subkultur skizziert und zugleich eine weitere Konsequenz sensuell-ethnographischen Forschens festzuhalten versucht: Die Notwendigkeit, als Forscher_in die eigene Subjektivität einzusetzen, um zu Erkenntnissen über andere kulturelle Realitäten zu gelangen. Produktiv wird dieser Realismus der sensuellen Ethnographie, wenn es gelingt, die subjektive Erfahrung zu reflektieren und auf ihrer Grundlage Konzeptualisierungen des Untersuchungsfeldes herauszuarbeiten, die dem Untersuchungsfeld so angemessen wie nur irgend möglich sind.

L ITERATUR Badiou, Alain/Roudinesco, Élisabeth (2013): Jacques Lacan. Gestern, heute, Dialog, Wien/Berlin: Turia + Kant. Baker, Stuart/Regnault, Chantal (2013): Voguing and the House Ballroom Scene of New York City 1989–92, London: Thames & Hudson. Bausinger, Hermann (1978): Identität, in: ders. [u.a.]: Grundzüge der Volkskunde, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 204–263. Bausinger, Hermann (1999 [1971]): Volkskunde, Tübingen: TVV.

A CID HOUSE ALS G RENZE DES PRAXEOLOGISCHEN K ULTURVERSTÄNDNISSES

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Emotionen/Körper/Sinne und der Fußballraum Methodische Zugänge zu einer Fenerbahçe-Kneipe in Wien N INA S ZOGS

Fußball ist der wohl wichtigste Zuschauer_innensport in Europa und ein fester Bestandteil des Alltags und der Identität vieler Menschen. In Wien versammeln sich regelmäßig viele Fans verschiedenster Clubs vor den Bildschirmen in den Fußballkneipen. Für das Dissertationsprojekt Migrating Football Fan Identities1 erforsche ich Fans der beiden türkischen Clubs Galatasaray und Fenerbahऊe in Wien. Galatasaray und Fenerbahऊe sind neben Beúiktaú zwei der drei größten Istanbuler Fußballvereine, deren Beziehung durch eine intensiv ausgelebte Feindschaft charakterisiert ist.2 Der Fokus der Forschung liegt auf teilnehmender Beobachtung der Fans in Alltagssituationen, um der Frage nach der Bedeutung von Fantum »in seiner Dimension als Alltagspraxis der beteiligten Akteure«3 nachzugehen. Im Mittelpunkt steht daher die Frage, wie sich der Fußballfanalltag in Wien konstituiert und welche Bedeutungszuschreibungen das Fansein in einem Mobilitäts- und Migrationskontext erhält. In einer globalisierten Welt mit transnationalen Fans4 und europäischen Wettbewerben findet das Anschauen der Spiele häufig mediatisiert5 statt. In meiner Untersuchungsgruppe schauen sich die Wiener Fans die Spiele der Süper Lig, der höchsten türkischen Fußballliga, größtenteils aus räumlicher Entfernung

1

Die Forschung ist Teil des Forschungsprojekts FREE – Football Research in an

2

Zu Derbys wird daher die viel kritisierte Praxis angewandt, keine Auswärtsfans zuzu-

3

Schmidt-Lauber, »Der zwölfte Mann«, 421.

Enlarged Europe, gefördert im 7. Rahmenprogramm der Europäischen Kommission. lassen. Vgl. Yılmaz, Despite protests. 4

Vgl. z.B. King, Football fandom and post-national identity, 427.

5

Vgl. Sandvoss, Jeux sans frontières?, 89.

252 | NINA SZOGS

an. Dadurch werden Fernseher, Beamer und Computer zu zentralen Hilfsmitteln in der Fankultur. Fahrten in die Istanbuler Stadien oder zu Auswärtsspielen der Europa und Champions League in verschiedenen europäischen Städten sind seltene Highlights. Kneipen und Wohnzimmer sind somit die zentralen Fußballorte im Alltag vieler Fans. In der folgenden Analyse konzentriere ich mich deshalb auf eine Fenerbahçe-Fankneipe in Wien, in der regelmäßig die Spiele der Süper Lig übertragen werden.

E MOTIONALE P RAXEN

UND

R AUMBEDEUTUNGEN

Zu Beginn meiner Feldforschung stellten sich mir, wie vielen anderen Feldforscher_innen auch, verschiedene methodische Schwierigkeiten in den Weg. Im Folgenden möchte ich zwei dieser Hürden näher betrachten, da sie sich als feldspezifische und damit aussagekräftige Phänomene für meine Forschung erwiesen haben. Als besonders wichtig für die Reflexion meines Feldzugangs ist dabei die Analyse der im Feld dominanten Performance der Emotionen sowie deren sinnliche Erfahrbarkeit für die Feldforscherin. Emotionen/Körper/Sinne, hier in dieser Form dargestellt, da sie nicht getrennt voneinander gedacht werden können, sind essentielle Bestandteile der Feldforschungspraxis. Für den Erkenntnisgewinn ist es somit zentral, Emotionen/Körper/Sinne »als integralen Bestandteil unseres methodologischen Instrumentariums zu erkennen und zu nutzen und aus dieser Perspektive wiederum die Rolle der Sinne in Kommunikation und kultureller Praxis mitzubedenken«6. So hängt auch die erste Hürde mit dem wohl zentralsten Element des FanSeins zusammen: dem Ausdruck der Liebe zum Verein.7 Die Emotionalität der Fans beeinflusste den Verlauf der Forschung in den ersten Monaten sehr stark. Die Körperlichkeiten, mit denen die Emotionen ihren sinnlich wahrnehmbaren Ausdruck fanden, ließen mich überfordert, steif und gehemmt daneben sitzen. Mike S. Schäfer verdeutlicht mit Bezug auf Émile Durkheim die gemeinschaftsbildende Wirkung des kollektiven, ritualisierten Ausdrucks der Liebe zum Fanobjekt.8 Ich empfand jedoch keine Liebe für das Fanobjekt Fenerbahऊe, noch kannte oder verstand ich die Regeln des Rituals9 der körperlichen Aufführung der

6

Bendix, Was über das Auge hinausgeht, 72.

7

Vgl. Schäfer, Fans und Emotionen, 109.

8

Vgl. ebd., 115, 125.

9

Zur kollektivierenden Wirkung von emotionalen Ritualen im Fußball siehe z.B. Bromberger, Fussball als Weltsicht und als Ritual, 292.

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DER

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Emotionen und konnte somit nicht Teil des Kollektivs werden. Die erste Hürde stellten somit die performativen Emotionen der Fans dar, die Neulingen kaum eine Chance der spontanen Teilhabe ließen. Die zweite Hürde, die gleichzeitig die Idee zu diesem Beitrag lieferte, stellte meine zunächst stark eingeschränkte Mobilität innerhalb der FenerbahऊeFankneipe dar. Über mehrere Monate erhielt ich keinen Zugang zu Plätzen im Raucherraum der Lokalität. Der Raucherraum war jedoch der Ort, wo sich viele Fans aufhielten und ich gern teilnehmend beobachten wollte. Warum mir der Zugang zu den Plätzen zunächst verwehrt wurde, konnte ich anfangs weder nachvollziehen, noch konnte ich die weitere Entwicklung dieses Problems abschätzen. In der folgenden Auseinandersetzung werde ich mich deshalb raumanalytisch mit dieser Hürde beschäftigen. Ich konzentriere mich auf diese beiden Hürden, da die Überwindung der emotional/körperlich/sinnlichen Hürde letztlich auch zur Überwindung der räumlichen Hürde beigetragen hat. Im Folgenden erörtere ich zunächst die verschiedenen emotionalen Ebenen im Feld und ihre Auswirkungen auf den Verlauf meiner Forschung. Anschließend beschäftige ich mich mit den Wechselwirkungen zwischen Raum, Objekten und Personen. Mithilfe von Beispielen aus dem Feld zeige ich auf, wie der Prozess der Überwindung beider Hürden einen Erkenntnisgewinn darstellen kann. Die Analyse dieser feldspezifischen Probleme dient dazu, das Verständnis des Feldes zu fördern, Aussagen darüber zu treffen sowie die erhobenen Daten besser kontextualisieren zu können. Insbesondere geht es dabei auch um die kritische Reflexion meiner Rolle im Feld, die wiederum durch die Analyse einer Key Emotional Episode10 besprochen wird.

E MOTIONEN /K ÖRPER /S INNE NUR

FÜR

E TABLIERTE 11?

Die Kneipe besteht aus zwei Räumen, einem Nichtraucher- und einem Raucherraum (siehe Skizze). Der Eingang und die Bar sowie zwei Fernseher befinden sich im Nichtraucherraum. Im Raucherraum gibt es die Möglichkeit, eine große Leinwand herunterzulassen.

10 Begriff von Berger, Assessing the relevance and effects of »key emotional episodes«. 11 In Anlehnung an Elias/Scotson, Etablierte und Außenseiter.

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Abbildung 1: Skizze der Kneipe

Quelle: Nina Szogs

Die Kneipe ist tagsüber ein Café und abends finden in ihr häufig Konzerte statt. An den Wochenenden sowie zu europäischen Spielen unter der Woche wird sie außerdem zu einer Fußballkneipe. Die soziale Raumkonstruktion dieses Ortes ist somit sehr wandelbar und zu verschiedenen Zeiten gelten an das jeweilige Event angepasste soziale und emotionale Regeln. In Anlehnung an Gertrud Lehnerts Ausführungen über Raum und Gefühl12 lässt sich über Fußballorte sagen, dass sie von den Fans zu bedeutungstragenden Räumen gemacht werden. Gleichzeitig wirken sich diese Raumkonstruktionen auf die Konstruktion von Emotionen und deren spezifische körperlich-sinnliche Inszenierung aus. Die der Analyse zugrunde liegende Kneipe ist also – wie jede andere – ein Ort, der durch verschiedene Raumkonzeptionen überlagert wird und somit auch emotional unterschiedlich besetzt werden kann.13 Deshalb ist es entscheidend für das Verständnis des Feldes, Raumbedeutungen und ihre sinnlich-emotionalen Erfahrbarkeiten und Zuschreibungen zu hinterfragen.14 Für die Fenerbahçe-Fans ist die Kneipe nicht nur ein Raum, in dem sie auf einer großen Leinwand das Spiel anschauen und laut agieren können, sondern auch ein Raum, in dem sie Freunde treffen und in einer Fangemeinschaft Emotionen teilen können. Für mich war die Kneipe anfangs ein wissenschaftlich besetzter Raum, der Nervosität und Unsicherheit hinsichtlich des Fortschreitens meiner Forschung auslöste. Monique Scheer erörtert am Beispiel emotionaler Praxen im Protestantismus, dass Emotionen nicht ausschließlich im Inneren einer Person stattfinden, sondern

12 Vgl. Lehnert, Raum und Gefühl, 11. 13 Vgl. ebd., 12. 14 Vgl. Pink, Sensory Ethnography, 25.

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ebenso nach außen getragen werden.15 Mike S. Schäfer führt aus, dass nach außen getragene Emotionen in wenigen Bereichen des Lebens so legitim und meist sogar ausdrücklich gefordert seien wie im Fußball.16 Fußballfans, so auch die Fans in der Fenerbahऊe-Kneipe, handeln also emotional und drücken die verschiedenen emotionalen Zustände mithilfe des gesamten Körpers aus. Freude über ein Tor wird mit Jubelschreien und mit lauten Freudenrufen gefeiert. Es wird dabei aufgesprungen, die Hände werden in die Höhe gestreckt, es wird mit dem Nachbarn abgeklatscht und sich gegenseitig umarmt. Vor einem entscheidenden Elfmeter drückt sich die Anspannung in Schwitzen und Händeraufen aus. Bei einem Gegentor in stiller Trauer. Entscheidet der Schiedsrichter nicht nach dem Gusto der Fans, werden Flüche, Buhrufe und Todeswünsche durch den Raum geschickt und dies gern begleitet mit gleichzeitigem Aufspringen und wildem Gestikulieren. Bei ganz besonderen Toren, wie bei Derbys oder Spielen auf europäischer Ebene, wandelt sich ein Raum angespannter Stille innerhalb einer Sekunde in einen Raum explodierender, nach außen getragener, körperlich aufgeführter und damit sinnlich wahrnehmbarer Emotionen. Diese Emotionen/ Körperlichkeiten/Sinne sind als inkorporierte Praxis17 zu verstehen und zu analysieren, die habitualisiert und Teil kultureller Praxen sind.18 Mit Blick auf Norbert Elias‘ Ausführungen über die Affektkontrolle in modernen Gesellschaften betont auch Mike S. Schäfer, dass Fußball zwar einen Raum für nach außen getragene Emotionen schaffe, die Art und Weise, wie Emotionen ausgedrückt werden, aber auch im Fußball nicht befreit von sozialen Normen sei.19 Auch in der Fenerbahçe-Kneipe gab es eine »angestrebte Emotionalität«20, die jedoch erlernt werden kann. Es treten also vielleicht als freier empfundene Regeln für die Verkörperung der Emotionen in Kraft; dies passiert aber keineswegs in einem regelfreien Raum. So sind emotionale Praxen unter Fans vielleicht besser zu verstehen, wenn man dem Fußballraum keine Sonderrolle zuschreibt, sondern ihn als gewöhnlichen Teil des gesellschaftlichen Lebens liest, in dem die Kontrolle der Emotionen bzw. die »Selbstzwänge«21 eine »genauere Regelung der Trieb- und Affektäußerungen nach einem differen-

15 Vgl. Scheer, Protestantisch fühlen lernen, 182. 16 Vgl. Schäfer, Fans und Emotionen, 118. 17 Vgl. Scheer, Are emotions a kind of practice, 209. 18 Vgl. Bendix, Introduction, 7. 19 Vgl. Schäfer, Fans und Emotionen, 121. 20 Scheer, Protestantisch fühlen lernen, 180. 21 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 342.

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zierten, der gesellschaftlichen Lage entsprechenden Schema hin«22 bewirken. In der Fenerbahऊe-Kneipe gab es klare Regeln, wie und wann geschimpft werden durfte: Schreien war erlaubt, heftiges Fluchen hingegen nicht. Laute Jubelschreie während des Spiels ohne einen ›legitimen‹ Anlass, wie etwa eine Torchance, wurden mit Blicken gestraft. Wenn ich mit meinen Interviewpartner_innen Spiele anschaute, stieß ich somit gleich an mehrere emotionale und körperliche Grenzen. Da ich die Fans in der Kneipe erst seit Kurzem kannte, war ich mit den sozialen Regeln, die an dem Ort herrschen, nicht vertraut. Dies äußerte sich in Verunsicherung und »SchamAngst«23, da ich durch ein Fehlverhalten im Feld befürchtete, meine ohnehin schon geringe Akzeptanz noch weiter zu schmälern. Gleichzeitig konnte ich nicht die gleiche Emotionalität und Körperlichkeit aufbringen, da ich mit dem Fanobjekt, in diesem Falle Fenerbahçe, in keiner »intensiven emotionalen sozialen Beziehung«24 verbunden war. Dabei ging es mir nicht um ein going native, sondern um ganz praktische Fragen hinsichtlich des Feldzugangs und des Verständnisses meines Feldes. So schreibt auch Rosita Henry zur emotionalen Involviertheit der Forscher_innen: »I argue that by drawing us into performance mode, moments of intense emotional engagement in the field can lead to important ethnographic insights.«25 Das Bild des vor Emotionen berstenden Fußballfans ist allerdings sehr einseitig. Wenn ich in Interviews fragte, was denn einen guten Fan ausmache, fielen immer wieder bestimmte Kategorien: Liebe, Hingabe, Mitfiebern, Mitjubeln etc. In der Praxis wurde eine mit allen Sinnen wahrnehmbare Performance der Fanliebe verlangt. Aber in der Fenerbahçe-Kneipe gab es viele Fans, die nicht mit rudernden Armen schreiend die Spiele verfolgten. Diese sah ich jedoch zunächst nicht, da ich mich wiederum auf meine Sinne verließ. Einen ›echten Fan‹ musste man, so dachte ich, nicht nur sehen, sondern auch hören (Jubelrufe und Beschimpfungen), spüren (Anrempeln beim Aufspringen, Umarmungen bei Toren) und manchmal auch riechen können, z.B. wenn das Fan-Trikot nicht gewaschen wird, solange Fenerbahçe sich in einer Gewinnserie befindet. Meine Vorstellung ›legitimer‹ Fußballfans, die ich für meine Forschung als relevant erachtete, entsprach eben jenen Fans, die laut und auffallend körperlich agierten. Somit fasste ich eine sinnlich erfahrbare Emotionalität als dominante Praxis auf, der es sich geschlechtsunabhängig anzupassen galt. Durch diese Ansprüche, die

22 Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 342. 23 Ebd., 409. 24 Schäfer, Fans und Emotionen, 115. 25 Henry, Gifts of grief, 535.

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ich an die Emotionalität der Fans in der Kneipe stellte, versäumte ich zunächst, mit den Leuten in meiner nächsten Nähe zu sprechen. Stattdessen war ich die ersten Wochen damit beschäftigt, Zugang zum viel frequentierten Raucherraum zu erlangen, in dem ich anfangs keinen Platz bekam. Währenddessen saßen neben mir im Nichtraucherraum viele Fenerbahऊe-Fans, besonders auch ältere Männer, die ohne große emotionale Ausbrüche Fußball schauten und sich als interessante Interviewpartner herausstellten. Da ich sie aber weder hörte, noch spürte, noch roch, sah ich sie auch nicht. Die Frage nach der Performativität der Emotionalität während des Fußballschauens kann also möglicherweise auch eine des Alters sein. Während sich ältere Männer gern im Nichtraucherraum vor einem Fernseher sammelten, um »in Ruhe schauen zu können«26, so waren jüngere Männer und Frauen (ca. 18–35 Jahre) – weibliche Fans waren unter jungen Fußballbegeisterten sehr viel stärker vertreten – eher im Raucherraum versammelt. Die Gründe für die vermeintliche aber dominante Attraktivität des Raucherraums werden folgend raumanalytisch skizziert.

H IERARCHIEN

IM

F USSBALLRAUM

Im nächsten Schritt widme ich mich der zweiten Hürde: meiner eingeschränkten Mobilität in der Fenerbahçe-Kneipe. Als Einführung dient ein Ausschnitt aus meinem Feldtagebuch vom 08.11.2012, meinem ersten Besuch in der betreffenden Kneipe. »Europa League, Fenerbahऊe vs. Limassol, Beginn: 19:00 Uhr: Es ist eine eher kleine, längliche Kneipe mit einem Raucher- und einem Nichtraucherraum, die durch eine Glastür voneinander getrennt sind. Wir, ein Kollege und ich, wollen in den Raucherbereich gehen, kommen aber nicht mehr hinein, da man reservieren muss, so sagen uns die Kellner. Weiter wird uns mitgeteilt, dass der Bereich dort nur für Leute sei, die das Spiel sehen wollen. Wir sagen, dass wir auch das Spiel sehen wollen. Wir werden aber wieder mit dem Argument abgewiesen, dass alle Plätze belegt seien. Schließlich wird im Nichtraucherraum ein Platz für uns frei und wir setzen uns an einen Tisch, von dem aus wir gute Sicht auf den einen der beiden kleinen Fernseher an der Wand im Nichtraucherraum haben. Es ist nicht mehr lange, vielleicht noch eine Viertelstunde, bis zum Spiel. In dem großen Raucherraum wird von einem der Kellner, der sich später als Besitzer herausstellt, der Fernseher abgenommen, die Leinwand heruntergefahren und der Beamer angeschaltet, so sehe ich durch die Glastür.

26 Feldnotiz vom 14.04.2013.

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Nach Ende des Spiels unterhalte ich mich mit dem Kellner, nicht mit dem Besitzer, über meine Forschung. Das Interesse des Kellners ist geweckt. Er fragt mich danach, wie lange die Forschung denn gehe und gibt mir seine Adresse und Telefonnummer. Er ruft mich später noch mal zu sich, reserviert mir für die nächsten Spiele zwei Plätze im Raucherraum und stellt mich dem Besitzer vor.«

Als ich beim nächsten Spiel wieder in die Kneipe ging und den Kellner vom letzten Mal, der der Hauptkellner in der Kneipe zum Zeitpunkt meiner Feldforschung war, nach meinen reservierten Plätzen fragte, wurde mir ein Platz im Nichtraucherraum zugewiesen. Ich protestierte und sagte, dass ich doch für den großen Raucherraum mit der Leinwand reserviert hätte. Die Antwort darauf lautete, dass es dort voll sei, und ich wurde auf die Plätze im Nichtraucherraum verwiesen. Die nächsten Male fand ich mich dann mit der Situation ab und blieb im Nichtraucherraum. Irgendwann positionierte ich mich an der Bar auf einem Hocker. Trotz dieser recht harschen Zurückweisung gleich zu Beginn meines Feldaufenthaltes ging ich immer wieder über mehrere Monate in die Kneipe, da ich herausfinden wollte, was oder wen es benötigt, um im Raucherraum Platz nehmen zu können. Nicht zuletzt war ich auf dieses Feld angewiesen, da eine erneute Suche nach einem Fußballort viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Diese erste Begegnung hatte mich anfangs jedoch stark verunsichert. Als Konsequenz war der »Ausdruck von dem Bild, das sich der Forscher von dem Bild macht, das sich die designierten Forschungsobjekte vom Forscher machen«27, dass ich mich extrem vorsichtig im Raum bewegte und Grenzen besonders stark wahrnahm. Dies führte zu (sinnlichen) Irritationen, so wurde ich mir meines Körpers immer wieder unangenehm bewusst. Wie sollte ich sitzen? Wem die Hand geben und wen mit Küsschen begrüßen? Sollte ich laut mitrufen oder würde dies als anbiedernd empfunden werden? Letztlich saß ich mehr oder weniger gelähmt daneben und wollte unsichtbar, unhörbar und unspürbar sein. Was ist das Besondere am Raucherraum? Im Raucherraum ging es nicht ausschließlich darum, dass dort geraucht werden konnte, auch wenn dies von vielen Besucher_innen gern angenommen wurde. Im Raucherraum saßen die Fans, die ihre Emotionen, meiner damaligen Meinung nach, am effektivsten nach außen trugen und sich daher am ehesten als ›passende‹ Fans für meine Forschung etablierten. Zudem hatte man dort die beste Sicht, da eine große Leinwand am Ende des Raumes zu Spielbeginn heruntergelassen wurde. Der Raum musste also auch allein aufgrund der guten Sicht der bessere Raum sein. Die Leinwand ist in der Objekthierarchie ganz oben anzusiedeln. Martina Löw definiert den so-

27 Lindner, Die Angst des Forschers vor dem Feld, 54.

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zialen Raum als »eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern«28. Dinge und Personen gehen demnach in einem Raum eine Beziehung ein und konstituieren den Raum unterschiedlich. So bestimmt die Leinwand die Sitzordnung: Alle drehen sich in ihre Richtung und die Stühle sind in Richtung der Leinwand aufgestellt, sodass Unterhaltungen und andere Interaktionen mit den Tischnachbar_innen eingeschränkt werden. Objekte haben somit Teil an der Raumkonstruktion.29 Dies hat dann wiederum direkte Auswirkungen auf die Bedeutung der sozialen Hierarchien der Personen, die die Kneipe besuchen. Je nach Status der Person oder der Gruppe, nebst der Schnelligkeit der Reservierung, werden die attraktivsten Plätze, die mit der besten Sicht, verteilt. Je mobiler die Leute im Raum sind, je weniger Grenzen also für sie im Raum gelten und desto mehr ›Sehen-Dürfen‹ ihnen zugestanden wird, desto höher ist ihr Status. Um mit Michel de Certeau zu sprechen, wird diese Kneipe also »durch die Transformationen verändert, die sich aus den aufeinanderfolgenden Kontexten ergeben«30. Durch Beobachtungen und Gespräche wurde schnell klar, dass enge Freund_innen sowie Verwandte und ›echte Fans‹ Vorrang bei der Sitzplatzwahl haben. Ein ›echter Fan‹ ist jemand, der seinen Verein liebt, der loyal ist, ihn unterstützt und genau mitverfolgt, was passiert, so wurde mir in einem späteren Interview vom Hauptkellner erklärt. Wer wo hindarf, bestimmen der Besitzer und der Hauptkellner, die beiden Personen, die ich bei meinem ersten Besuch getroffen habe. Sie sind die Schlüsselfiguren in diesem sozialen Raum. Ich nahm also fortan an der Bar Platz, in unmittelbarer räumlicher Nähe zu dem Besitzer und dem Hauptkellner. So war ich in einer zentralen Position, konnte mit ihnen sprechen und sie konnten mich ansprechen, wann sie wollten und Zeit fanden. Irgendwann war der Barhocker dann auch ›mein‹ Hocker und wurde für mich freigemacht, sobald ich kam. Meine Mobilität im Raum war aber nach wie vor sehr eingeschränkt. Ein ›echter Fan‹ konnte ich so schnell nicht werden. Dennoch musste ich die beiden Schlüsselfiguren von meinem ernsten Interesse am türkischen Fußball und seinen Wiener Fans überzeugen, wenn ich in der Kneipe mobil teilnehmend beobachten wollte. Ein Punkt, der von Anfang an Skepsis erzeugte, war, wieso ich mich als Deutsche in Österreich gerade für türkischen Fußball interessierte. Ich konnte noch so oft sagen, dass ich herausfinden möchte, wie das Fansein auf Entfernung funktioniert, die Skepsis blieb auch noch nach vielen Besuchen. Mir fehlte die Eintrittskarte, da ich keinerlei

28 Löw, Raumsoziologie, 154. 29 Vgl. ebd., 155. 30 Certeau, Praktiken im Raum, 345.

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Bezug zu türkischem Fußball hatte, und ich bewegte mich damit im Feld als Außenseiterin. Victoria Schwenzer und Nicole Selmer beschreiben am Beispiel eines Interviews mit einem Galatasaray-Fan den »stark emotionalen innerfamiliären Bezug«31 des Fanseins. In meinen Interviews wird die Liebe zu Fenerbahऊe und zu Galatasaray immer wieder mit Fragen nach Heimat und Familie in Verbindung gebracht. Mir fehlte dieser Bezug und ich konnte ihn auch nicht herstellen. Mit der Zeit gab es jedoch immer mehr Gesprächsthemen, die zu meiner Akzeptanz im Raum beitrugen bzw. wodurch ich eine Beziehung zu den Kellnern aufbauen konnte. Eines dieser Schlüsselereignisse war meine Fahrt zum Champions-League-Spiel von Schalke gegen Galatasaray in Gelsenkirchen im März 2013. Als ich zurückkam, war dies ein großes Thema: »Nina war beim Gala-Spiel auf Schalke«32. Ein weiterer Faktor war das Voranschreiten meines eigenen Fanobjekts, Borussia Dortmund, in der Champions League. Wir fachsimpelten also nun auch häufiger über die Spielweise Dortmunds. Ich war zwar kein Fenerbahऊe-Fan, konnte aber scheinbar die Loyalität zu einem Verein nachvollziehen und reagierte emotional. Almut Sülzle macht deutlich, dass forschende Fußballfans häufig mit Scheuklappen ins Feld gehen.33 Ich stimme ihr zu, soweit es die Erforschung des eigenen Vereins oder des eigenen Fußballumfeldes betrifft. Eine generelle Fußballbegeisterung sowie eine emotionale Bindung zu einem Fanobjekt stellten sich in meinem Feld jedoch als Eintrittskarte heraus. So ereignete sich dann auch bald bei einem Liga-Spiel im April der Durchbruch, der meine Mobilität im Raum und damit auch meinen sozialen Status in der Kneipe erhöhte. Ich hatte wieder vorn an der Bar auf ›meinem‹ Hocker Platz genommen, als der Besitzer hinter die Bar eilte, um sich noch ein Getränk zu holen. Er saß mit seinen Freunden immer ganz vorne in einer Sesselecke im Raucherraum. Nachdem wir uns kurz unterhalten hatten, fragte er mich, ob ich nicht mit nach vorne auf die Sessel kommen wolle. Ich bejahte sofort und eilte mit nach vorne auf die begehrtesten Plätze mit der besten Sicht, wo ich dann auch seinen Freunden vorgestellt wurde. Durch diese ausdrückliche Aufforderung durch den Besitzer, nach vorne auf die Sessel zu kommen, hatte ich die Möglichkeit, mich freier im Raum bewegen zu können und mehr Leute anzusprechen, da ich durch eine der Schlüsselfiguren des Feldes dazu qualifiziert worden war. Das vergrößerte meinen Zugang zum und meine Einsicht ins Feld.

31 Schwenzer/Selmer, Fans und Migration, 401. 32 Feldnotiz vom 26.04.2013. 33 Vgl. Sülzle, Fußball, Frauen, Männlichkeiten, 36.

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Gleichzeitig half mir mein eigener doch recht langwieriger Weg in den Raucherraum, zu verstehen, wie die Machtstrukturen und sozialen Regeln in der Kneipe funktionieren. Dieses feldspezifische Problem bzw. diese feldspezifischen Regeln ließen Rückschlüsse darauf zu, welchen Status andere Personen im Raum hatten. Wer waren die Neulinge? Wer waren alte Hasen? Ende April traf ich mich dann mit dem Besitzer und seinen Freunden, um das Dortmund-Spiel gegen Real Madrid im Rahmen der Champions League anzuschauen. Hier war ich nun diejenige, die wegen des wichtigen Spiels aufgeregt war und schwitzte, während die anderen mich kritisch beäugten. Ich war plötzlich in einer Weise sehbar, hörbar und spürbar, wie ich es sonst nicht gewesen war. Während dieses Spiels ereignete sich eine sogenannte Key Emotional Episode, an der die Verhandlungen meiner Rolle im Feld deutlich werden.

KEE.

EINE

›P IEFKE ‹ UND

TÜRKISCHER

F USSBALL

Key Emotional Episodes (KEE) sind, nach Peter Berger, Momente im Feld, in denen Feldforschende unbeabsichtigt auf eine bestimmte Art und Weise emotional reagieren, die meist nicht konform mit den emotionalen Regeln ist, die in der beforschten Gruppe gelten. Als Folge kann er oder sie aus den Reaktionen jener etwas über die Normen und Werte der Gruppe erfahren. Peter Berger betont, dass dies an den Reaktionen der Beforschten festzumachen sei und nicht an den Emotionen der Forschenden selbst. Außerdem solle man beachten, wann genau diese KEE in der Feldforschung auftrete und welche Folgen sie für die Integration und die Rolle der Feldforscher_innen habe.34 Einer der Gründe für meinen anfangs niedrigen Status in der Gruppe war einerseits die Skepsis gegenüber meinem Interesse an türkischem Fußball und seinen Fans sowie, andererseits, meinen Absichten als Privatperson und Forscherin. Häufig wurde meine deutsche Herkunft thematisiert und gerne wurde ich, wenn auch meist liebevoll, so dennoch herabsetzend, als ›Piefke‹, mit dem verballhornenden Ausdruck für Deutsche in Österreich, betitelt. Dass mein Interesse selten ist und daher als seltsam wahrgenommen wurde, wurde mir auch außerhalb der Kneipe im Forschungsfeld immer wieder gespiegelt. So fragte mich ein Interviewpartner gleich am Anfang der Forschung im Sommer 2012, ob ich als Schülerin von türkischen Jungs gemobbt worden sei und dies mit dieser Forschung irgendwie aufarbeiten wolle. Diese Frage machte deutlich, dass mein

34 Vgl. Berger, Assessing the relevance and effects of »key emotional episodes«, 150– 157.

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Interesse durchaus exotisch und daher mit Vorsicht zu genießen zu sein schien und dass es irgendeinen Grund für meine Motivation geben müsse, der nichts mit Fußball zu tun hat. Meine Anwesenheit im Feld wurde versucht zu normalisieren und zu rationalisieren. Am eindrucksvollsten wurde dies in einer Situation deutlich, die sich während des Spiels von Real Madrid gegen Borussia Dortmund ereignete und die ich an einem kurzen Ausschnitt aus meinem Feldtagebuch vom 30.04.2013 einführen möchte. »Champions League, Real Madrid vs. Borussia Dortmund, Beginn: 20:45 Uhr: Der Besitzer und ich haben uns beim letzten Mal, am letzten Donnerstag, dazu verabredet, das Dortmund-Spiel gemeinsam zu schauen, als ich gefragt hatte, ob er auch die anderen europäischen Spiele zeigen würde. Ich komme an und es ist wenig los. Es sind noch ca. zehn Minuten bis zum Anpfiff. Der Bruder des Besitzers ist da und sonst keiner, den ich kenne. Dann sehe ich den jungen Kellner, aber nicht den Besitzer. Ich frage den Bruder, ob sie das Spiel zeigen würden. Er bejaht. Wir scherzen darüber, dass ich mich heute hinsetzen könne, wo ich wolle, da ja überall Platz sei. Ich wähle also den Raucherraum und einen Tisch möglichst nah am Bildschirm. Der Besitzer taucht schließlich auf und setzt sich zu mir, fragt, ob ich nervös sei. Ich bejahe. Nach ein paar Minuten kommen Freunde von ihm, sie bereden etwas und fragen, ob sie sich hierhin setzen können. Der Besitzer antwortet in Bezug auf mich, ja klar, sie gehört dazu. Am Ende der zweiten Halbzeit wird es überraschenderweise doch noch knapp für Dortmund und ich schimpfe immer wieder laut über die Spielweise der Dortmunder. Ich schimpfe abwechselnd, relativ harmlos, auf viele verschiedene Spieler. Ausrufe wie ›Lauf endlich, du Penner!‹ gehören zu den schlimmeren Beschimpfungen. Aus diesem Grund kann ich anfangs auch nicht verstehen, was der genaue Anlass für die folgende Situation ist. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, auf welchen Spieler ich zu dem Zeitpunkt geschimpft habe. Doch plötzlich habe ich die volle Aufmerksamkeit des Besitzers und seiner Freunde. Als direkte Reaktion auf mein verbales, vereinzelt mit Schimpfwörtern gespicktes ›Antreiben‹ der Spieler, fangen sie an, besonders der Besitzer, darüber ›Witze‹ zu machen, dass ich eine Rassistin sei. Und haha, wie witzig, da sitzt jetzt Nina, die Rassistin, mit lauter Türken am Tisch. Das Gelächter darüber geht noch eine Weile. Ich bin entsetzt und überlege, ob ich irgendetwas gesagt habe, was man als rassistisch deuten könnte. Mir fällt nichts ein, außer dass ich natürlich auf alle Dortmunder Spieler geschimpft habe, auch die, die nicht aus Deutschland kommen oder den gerne zitierten ›Migrationshintergrund‹ haben. Ich weiß nicht recht, wie ich reagieren soll und lache schließlich mit. Das Thema ist dann schnell wieder vom Tisch, als etwas auf dem Spielfeld passiert.«

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Ich bezeichne dies als Key Emotional Episode, weil meine Emotionalität gegen Ende des Spiels bzw. das Schimpfen auf verschiedene Spieler, als rassistisch gedeutet wurde. Auch wenn dies als scheinbar scherzhaft und schmunzelnd vermittelt wurde, verdeutlichte es doch umso mehr, wie unüblich diese Situation besonders für den Besitzer zu sein schien, sodass sie mit einem ironisierenden Kommentar bedacht werden musste. Gleich auf mehreren Ebenen war ich in dieser Situation ein ›Fremdkörper‹. Zunächst war meine überschäumende Emotionalität ungewohnt, da ich sonst eher beobachtend daneben saß. Ich veränderte also auf einmal mein Verhalten und überschritt die Grenzen meiner Rolle. Weiterhin wurde deutlich, dass ich in dieser Situation keineswegs nur als ein weiterer Fußballfan an diesem Tisch saß, sondern besonders auch als ›NichtTürkin‹. Dass ich eine Ausländerin in Österreich bin, spielt zwar in der Kneipe immer wieder eine Rolle, war in diesem Falle aber nebensächlich. Viel wichtiger war es, wofür ich stehe, nämlich für eine westeuropäische Mehrheit. Gleichzeitig versuchte ich, eben nicht dem Klischee der ignoranten Deutschen zu entsprechen sowie auf gar keinen Fall eine Rassistin zu sein. So verhedderte ich mich beispielsweise immer wieder in umständlichen Umschreibungen, wie »Ich suche Fans der Süper Lig in Wien.«, die dann schlicht mit »Also, du meinst türkische Fans.«35 zusammengefasst wurden. Mich also gerade als Rassistin zu bezeichnen, kann durchaus als eine humorvolle Veralberung und Verspottung meines unbeholfenen Versuchs, stets politisch korrekt zu sein, verstanden werden. Gleichzeitig verdeutlicht diese Situation aber auch ihre Selbstwahrnehmung als Personen, denen Rassismus begegnen kann, und ist wahrscheinlich auch zurückzuführen auf die konkreten Rassismuserfahrungen, wie sie teils in meinen Interviews geschildert wurden. Auf meine Integration ins Feld hatte der gesamte Abend eher positive Auswirkungen. So wurde ich nach dem Spiel immer öfter auf die Sessel nach vorn im Raucherraum eingeladen und bekam große Hilfe bei der Planung von Stadionbesuchen in der Türkei. Ich bin ins Feld gegangen, um ›Fans auf Entfernung‹ zu untersuchen, also in räumlicher Entfernung zu ihrem Club. Gegenstand des Interesses wurden dann im Forschungsverlauf Galatasaray- und Fenerbahऊe-Fans. Anfangs ging ich ins Feld und vermied Bezeichnungen wie ›türkische Fans‹, da sie keineswegs die Pluralität der Untersuchungsgruppe wiedergeben und da es hier, zumindest zunächst, nicht um die Analyse der Konstruktion nationaler Zugehörigkeiten ging, sondern von Club-Fanidentitäten. Dass diese beiden Ebenen häufig eng miteinander verwoben sind, schließe ich damit aber nicht aus. Dariuš Zifonun,

35 Feldnotiz vom 02.05.2013.

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der in Anlehnung an Benedict Andersons »imagined communities«36 die Bezeichnung »imagined diversities« benutzt, verdeutlicht, wie die Pluralität der Teilzugehörigkeiten eines Individuums, in seinem Falle der Mitglieder des FC Hochstätt Türkspor, (ethnische) Selbstzuschreibungen auflösen kann.37 Dies verhält sich ebenso in meinem Feld. Mehrfachzugehörigkeiten zu verschiedenen sozialen Gruppen und Identitäten (Fan, links/konservativ, Türk_in, Österreicher_in, Wiener_in, Sportler_in, Schüler_in, Frau/Mann etc.) durchziehen die Interviews. Dabei sind aber nichtsdestotrotz Eigenbezeichnungen wie ›türkischer Fan‹ omnipräsent. Die Selbstwahrnehmung als türkisch speziell im Fußballkontext, die im Wechselspiel mit Fremdzuschreibungen konstruiert wird38, ist ein wichtiger Teil der Konstruktion der Fanidentität der Galatasaray- und Fenerbahçe-Fans in der Wiener Kneipe und deshalb auch der Analyse dieses Feldes, da die »processes of selfing/othering«39 zwischen meinen Interaktionspartner_innen und mir nur so verstanden werden können. Hier soll jedoch auch kurz vermerkt sein, dass die Konstruktion der Fanidentitäten auch durchaus anders verlaufen kann, wenn es sich z.B. um linke, antinationale Fangruppen handelt. So finden die Selbstzuschreibungen einer anderen Fangruppe der Süper Lig in Wien explizit außerhalb nationaler Zugehörigkeiten statt und sind Teil einer Nationalismuskritik.

S CHLUSSBEMERKUNGEN Abschließend bleibt anzumerken, dass es sich bei der Fenerbahçe-Kneipe keineswegs um einen Raum handelt, der sich bezüglich der weit verbreiteten Phänomene Sexismus, Homophobie, Nationalismus und Rassismus im Fußball von anderen Fußballorten40 stark unterscheidet. In der Fenerbahçe-Kneipe gab es vereinzelt Aussprüche wie ›Schwuchtel‹ (ibne) und in Interviews war es durchaus möglich, sich von der gegnerischen Mannschaft mit dem Argument abzugrenzen, dass Fenerbahçe im Gegensatz zu Galatasaray nicht so viele ›Zigeuner‹ und Kurden als Fans habe. Zudem war von Beginn der Forschung an

36 Anderson, Imagined Communities. 37 Vgl. Zifonun, Imagined Diversities, 54. 38 Vgl. z.B. Hall, Ethnizität, 92. 39 Baumann, Grammars of Identity/Alterity, 19. 40 Vgl. hierzu eine Auseinandersetzung zu Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im deutschen Fußball von Behn/Schwenzer, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, 23.

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die Frage nach den Rollenvorstellungen von Mann und Frau ein wichtiger Punkt. In der Fenerbahऊe-Kneipe schauten sich zwar meist ebenso viele Frauen Fußball an wie Männer und bestimmten an Lautstärke und Emotionalität das Bild der Kneipe entscheidend mit. Nichtsdestotrotz war es für meinen generellen Zugang zu Fankulturen in Wien entscheidend, ob mein geschlechtlich konstruierter Körper in seiner Performativität41 nun weiblich oder männlich bestimmt ist. Dadurch, dass ich eine Frau bin, erhielt ich keinen oder nur selten Zugang zu Orten, an denen sich ausschließlich Männer Fußball anschauen. Die Frage nach dem Geschlecht und der Herkunft der Forscherin bestimmen in starkem Ausmaß die Daten, die sie gewinnen kann, mit und sind daher ein wichtiger Aspekt bei der Analyse ihrer Rolle im Feld und der Interpretation und Kontextualisierung der gewonnenen Daten.42 Die Konzentration auf einen konkreten Ort und zwei Hürden in meinem Forschungsverlauf hatte das Ziel, den Erkenntnisgewinn zweier feldspezifischer Probleme herauszuarbeiten. Zunächst wurde die Rolle der Emotionen/Körper/ Sinne im Forschungsverlauf kritisch hinterfragt und damit verdeutlicht, dass die Erwartungshaltungen an eine bestimmte körperlich zum Ausdruck gebrachte Emotionalität und sinnliche Erfahrbarkeit eines Fans den Forschungsblick einschränken können. Außerdem stellte sich die Frage, ob es bei der Erforschung von Fankulturen nötig sei, eine gewisse Begeisterung und Emotionalität aufzubringen, die wiederum die Forscherin als Fan sichtbar, hörbar und spürbar macht, um Zugang zum Feld erhalten zu können. Die inkorporierte Praxis des Fanseins mit ihren Regeln und Grenzen kann zwar erlernt werden, machte aber eine spontane Teilnahme nur schwer möglich. Gleichzeitig war eine Identifikation mit dem Fanobjekt auf die im Feld dominante Weise durch Familie und Freund_innen nicht gegeben, was die Interaktionspartner_innen meinem Interesse gegenüber skeptisch sein ließ. Die Key Emotional Episode weist daraufhin, dass meine Akzeptanz auch deshalb so schwierig war, da mein Interesse an türkischem Fußball und seinen Fans als jemand, der keinen familiären Bezug zu ihm hat, eher selten ist. Die KEE ermöglichte somit Einsichten über die Selbstwahrnehmung der Beforschten und über deren daraus resultierende Bedenken gegenüber den Absichten der Forscherin. So wurde schließlich meine Loyalität zu einem deutschen Verein, neben den Auswärtsfahrten zu europäischen Spielen, Teil der Eintrittskarte ins Feld (bzw. in den Raucherraum), da ich dadurch mein ernsthaftes Interesse an Fußball und auch speziell an türkischem Fußball belegen konnte. Die Überwindung der

41 Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 200. 42 Vgl. Haraway, Situated Knowledges.

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emotionalen/körperlichen/sinnlichen Hürde, die beispielhaft für das Erreichen einer Teilhabe im Forschungsfeld steht, folgte auch die Überwindung der Hürde im Raum. Mein sozialer Status im Feld kann anhand der Raumanalyse abgelesen werden: Mit der Akzeptanz im Feld wurde ich mobil in der Fenerbahçe-Kneipe und konnte besser mit den Leuten in Kontakt treten, jedoch blieb ich immer in Abhängigkeit der beiden Schlüsselfiguren. Gleichzeitig können anhand einer Raumanalyse der Fenerbahçe-Kneipe erste Aussagen darüber getroffen werden, welchen sozialen Status andere Personen im Raum innehaben. Mit dem mapping der sozialen Hierarchien können somit die Machthierarchien zwischen den einzelnen Interaktionspartner_innen und deren kulturelles Kapital im sozialen Raum43 herausgearbeitet werden. Dies kann jedoch immer nur ein erster Schritt sein, da andere Faktoren über die Sitzplatzwahl mitbestimmen.

L ITERATUR Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York: Verso. Baumann, Gerd (2004): Grammars of Identity/Alterity. A Structural Approach, in: Gerd Baumann/André Gingrich (Hrsg.): Grammars of Identity/Alterity. A Structural Approach, New York/Oxford: Berghahn, 18–50. Behn, Sabine/Schwenzer, Victoria (2006): Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus im Zuschauerverhalten und Entwicklung von Gegenstrategien, in: Gunter A. Pilz [u.a.] (Hrsg.): Wandlungen des Zuschauerverhaltens im Profifußball, Bonn: Bundesinstitut für Sportwissenschaft, 320–456. Bendix, Regina (2005): Introduction. Ear to Ear, Nose to Nose, Skin to Skin. The Senses in Comparative Ethnographic Perspective, in: Etnofoor 18 (1), 3–14. Bendix, Regina (2006): Was über das Auge hinausgeht. Zur Rolle der Sinne in der ethnographischen Forschung, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 102 (1), 71–84. Berger, Peter (2009): Assessing the relevance and effects of »key emotional episodes« for the fieldwork process, in: Peter Berger [u.a.] (Hrsg.): Feldforschung. Ethnologische Zugänge zu sozialen Wirklichkeiten, Berlin: Weißensee, 149–175.

43 Vgl. Bourdieu, Sozialer Raum, 358.

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Bourdieu, Pierre (2006): Sozialer Raum, symbolischer Raum, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 354–368. Bromberger, Christian (2003): Fussball als Weltsicht und als Ritual, in: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 285–301. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Certeau, Michel de (2006): Praktiken im Raum, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 343–353. Elias, Norbert/Scotson, John L. (1993): Etablierte und Außenseiter, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Elias, Norbert (1997): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Wandlungen der Gesellschaft: Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Band 2, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hall, Stuart (1999): Ethnizität. Identität und Differenz, in: Jan Engelmann (Hrsg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt am Main/New York: Campus, 83–98. Haraway, Donna (1988): Situated Knowledges. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies 14 (3), 575–599. Henry, Rosita (2012): Gifts of grief. Performative ethnography and the revelatory potential of emotion, in: Qualitative Research 12 (5), 528–539. King, Anthony (2000): Football fandom and post-national identity in the New Europe, in: British Journal of Sociology 51 (3), 419–442. Lehnert, Gertrud (2011): Raum und Gefühl, in: Gertrud Lehnert (Hrsg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung, Bielefeld: Transcript, 9–25. Lindner, Rolf (1981): Die Angst des Forschers vor dem Feld. Überlegungen zur teilnehmenden Beobachtung als Interaktionsprozeß, in: Zeitschrift für Volkskunde 77 (1), 51–66. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Pink, Sarah (2009): Doing Sensory Ethnography, London [u.a.]: Sage. Sandvoss, Cornel (2012): Jeux sans frontières? Europeanisation and the erosion of national categories in European club football competition, in: Politique Européenne 36 (1), 77–101.

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Schäfer, Mike S. (2010): Fans und Emotionen, in: Jochen Roose/Mike S. Schäfer/Thomas Schmidt-Lux (Hrsg.): Fans. Soziologische Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag, 109–132. Scheer, Monique (2012): Are emotions a kind of practice (and is that what makes them have a history)? A Bourdieuian approach to understand emotion, in: History and Theory 51, 193–220. Scheer, Monique (2012): Protestantisch fühlen lernen. Überlegungen zur emotionalen Praxis der Innerlichkeit, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15, 179–193. Schmidt-Lauber, Brigitta (2009): »Der zwölfte Mann«. Die Europäische Ethnologie im Feld der Fußballfans, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 112 (4), 417–450. Schwenzer, Victoria/Selmer, Nicole (2010): Fans und Migration, in: Jochen Roose/Mike S. Schäfer/Thomas Schmidt-Lux (Hrsg.): Fans. Soziologische Perspektiven, Wiesbaden: VS Verlag, 387–413. Sülzle, Almut (2011): Fußball, Frauen, Männlichkeiten. Eine ethnographische Studie im Fanblock, Frankfurt: Campus. Yılmaz, Çetin Cem (2012): Despite protests, derby ban on visiting fans is here to stay, in: Hürriyet Daily News, 11. Dezember 2013, online verfügbar unter: http://www.hurriyetdailynews.com/despite-protests-derby-ban-on-visitingfans-is-here-to-stay.aspx?pageID=238&nID=36555&NewsCatID=444, letzter Zugriff am 28.11.2013. Zifonun, Dariuš (2008): Imagined Diversities. Migrantenmilieus in der Fußballwelt, in: Gabriele Klein/Michael Meuser (Hrsg.): Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs, Bielefeld: Transcript, 43–57.

New York City ›Die Stadt spüren‹ als Zugang zum Feld S IMONE E GGER

»Instead of perfume, I prefer the changing scents of my experiences in the city to permeate my day. When I heard about CB I Hate Perfume’s scent library, where one can linger, pressing one’s nose into the tops of hundreds of glass vials containing scents of seasons, memories, daily tasks, even emotions, it seemed I had found my perfume mecca.«1 Mit diesen Worten beginnt ein Beitrag über eine besondere Galerie in Williamsburg, New York. Als Taxifahrer kennt Christopher Bruson die Stadt in ihrer ganzen Vielfalt und ist im Laufe seines Lebens doch zahllosen Menschen begegnet, deren reichhaltige Parfums alle Eindrücke in der Umgebung überlagert haben. Die Fülle städtischer Gerüche geht angesichts der komponierten Düfte – nicht nur im Taxi, dem für New York so signifikanten Yellow Cab – oft vollständig in einer Essenz aus Rosenblüten, Jasmin und Maiglöckchen auf. In der Wahrnehmung verschwinden damit aber auch die Quellen dieser Gerüche, wie etwa die Autos auf den Straßen, überquellende Mülleimer, Coffee Shops mit duftenden Kuchen, rauchende Gullideckel, China-Restaurants, dampfende Waschsalons und vieles mehr, was all die Ausdünstungen und Aromen hervorbringt, die die Ästhetik einer Großstadt in ihrer Diversität erst ausmachen. Bruson hatte daher die Idee, Gerüche aus seinem städtischen Umfeld zu sammeln und für alle Interessierten frei zugänglich auszustellen. Der frühere Taxifahrer eröffnete die CB I Hate Perfume’s scent library. Die Bandbreite seiner Kollektion ist enorm, es geht aber ganz offenkundig nicht um die Einteilung der einzelnen Stoffe in wertende Qualitäten wie angenehm blumig oder übel

1

Van Dusen, Smell, k.A.

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stinkend. Der Fokus richtet sich auf die sinnliche Erfahrung der Millionenstadt und die Komplexität ihrer ästhetischen Eigenschaften.

ÄSTHETISCHE Q UALITÄTEN DES U RBANEN Welche Gerüche stehen für eine Weltstadt wie New York? Kann man die Befindlichkeiten städtischer Räume und ihrer Bewohner_innen riechen oder überhaupt sinnlich erfahren? Welche Rolle spielen Gefühle und Gestimmtheiten im Alltag und damit auch im Forschungsprozess? Wie lässt sich eine Stadt unter Berücksichtigung ihrer ästhetischen Qualitäten empirisch erforschen? Kann man sich überhaupt mit einer Stadt befassen, ohne auf ihre Atmosphären einzugehen? Oder wie Mirko Zardini, Direktor und leitender Kurator des Canadian Centre for Architecture (CCA) in Montreal, es formuliert: »Is it possible to combine the different approaches to contemporary urbanism with a ›sensorial urbanism‹, capable of offering a broader understanding of urban settings, interested in describing the character and atmosphere of places, and aiming to contribute to a new definition of public space?«2 Die New Yorker Autorin Caitlin van Dusen hat Bruson besucht und berichtet auf ihrem Blog Sense & the City von dessen einmaliger Bibliothek.3 Bruson hat nicht nur Gerüche geordnet und Alltägliches in Fläschchen abgefüllt, sondern auch in Rubriken unterteilt. Seinen Eindrücken stellt er Impressionen von Schriftsteller_innen gegenüber. Zudem hat er Situationen in speziellen Duftnoten zusammengefasst. »Scents from this library are combined into the ready-to-wear perfumes that line the opposite wall, with names like ›In the Summer Kitchen‹, ›Gathering Apples‹, and ›Burning Leaves‹. These fit into existential categories, like ›Experience‹, ›Secret History‹, ›Reinvention‹, and ›Metamorphosis‹.«4 Das Augenmerk dieses Artikels liegt auf den Ästhetiken und Atmosphären einer Stadt und deren Bedeutung im Kontext kulturwissenschaftlicher Analysen. Exemplarisch soll es um die Lebenswelten von New York City gehen. Die gerasterten Straßenzüge und in den Himmel ragenden Wolkenkratzer, die Menschen, die darin arbeiten und wohnen, ihr Denken und Handeln, sind einmal ganz konkret an der Ostküste der USA zu verorten. NYC aber ist vor allen Dingen als das Paradigma einer modernen Großstadt zu verstehen. Als Metapher wieder und wieder zitiert, wird nicht nur der physische Raum permanent repro-

2

Zardini, Toward a sensorial urbanism, 25.

3

Vgl. Van Dusen, Smell.

4

Ebd.

N EW Y ORK CITY

| 271

duziert, interpretiert und mit den unterschiedlichsten Vorstellungen überschrieben. New York ist ein gewaltiger Resonanzkörper und dient zugleich als Projektionsfläche für den immerwährenden Traum, eines Tages doch noch das große Glück zu machen. Empire State of Mind nennen zum Beispiel der Rapper Jay-Z und die Sängerin Alicia Keys, die beide in New York geboren sind, die Stadt, in der alles möglich scheint. »In New York, concrete jungle where dreams are made, oh / There's nothing you can't do, now you're in New York / These streets will make you feel brand new / Big lights will inspire you, let's hear it for New York / New York, New York«,5 heißt es im Refrain. Musik ist eine Kunstform und ästhetische Äußerung, in diesem Fall wurde der Track noch dazu in eben der Stadt produziert und thematisiert charakteristische Merkmale und Zuschreibungen. Auch wenn nicht alle die Anspielungen auf lokale Besonderheiten verstehen, ist Empire State of Mind für Menschen weltweit zu einer Hymne geworden. Beschworen wird die beflügelnde Gestimmtheit, die eine_n in der Stadt, die niemals schläft, ergreift und leiblich spüren lässt, wie man sich selbst zu dieser außergewöhnlichen Umgebung verhält. Das Gefühl, die Stadt derart intensiv wahrzunehmen, drückt eine_n aber nicht nach unten, sondern hebt das eigene Befinden auf ungekannte Weise. Allein die Anwesenheit, das Da-Sein in New York, einer Stadt mit dieser Ausstrahlung, wirkt inspirierend, zu der Deutung kommen nicht nur Jay-Z und Alicia Keys. Der Journalist Klaus Brinkbäumer skizziert die Atmosphäre der Stadt folgendermaßen: »New York ist Leidenschaft. Was Besucher mitreißt in New York, das ist das Tempo, das ist die Kraft; jede und jeder, alle, die hier leben, wollen etwas tun oder werden, sie haben eine Idee, sie sind begeistert von irgendetwas. New York ist größer als seine Klischees, da diese Stadt zu jedem Image ein Gegenbild findet, und nur eines ist New York niemals: lethargisch. Diese Stadt gibt dem Reisenden das Gefühl, dass er im Mittelpunkt der Welt angekommen ist, das hier ist das Zentrum, hier geschieht es.«6

D IMENSIONEN

DER

S TADT

Die Skyline von New York City ist weltbekannt. Hochhaus reiht sich an Hochhaus, eine Etage folgt auf die nächste. Kaum überschaubar ist die Zahl an Stockwerken, Lichtern, spiegelnden Fenstern und Fassaden, die das typische Bild von Manhattan ausmachen. Aus der Vogelperspektive gleichen die Straßen

5

Jay Z, Empire State of Mind Lyrics, k.A.

6

Brinkbäumer, Amerikas Weltwunder, 40–42.

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einem Häusermeer, das, von Wasser umschlossen, im Norden vom Grün des Central Park unterbrochen wird. Eine Stadt aber ist nicht einfach als Summe ihrer Teile zu begreifen. Der Stadtforscher Lutz Musner gibt zu bedenken: »Die symbolische und lebensweltliche Wirksamkeit von Stadtlandschaften als territorial ausgeformte Agenturen der Vergesellschaftung, der Arbeit, der Reproduktion, der politischen Hegemonie und der Repräsentation der sozialen Ordnung erklärt sich aus der engen Verzahnung von materieller Kultur und diskursiven Praktiken. Stadtlandschaften sind nämlich ein Doppeltes: Sie sind eine verräumlichte, verdinglichte und architektonisch gefasste Lebenswelt, und sie sind Konstellationen von Zeichen und Narrationen, die aus einem baulichen Gebilde und einer sozialräumlichen Konfiguration erst einen gelebten, mit Emotionen, Phantasien und Bedeutungen versehenen Handlungskontext entstehen lassen.« 7

Die Zahl ihrer Bewohner_innen, Fußgängerüberwege und Leuchtreklamen sagt etwas über die physische Ausdehnung, aber noch nichts über das Eigene, das Eigentliche, das Besondere, die Art, wie eine Stadt ist oder empfunden wird, aus. »Das Verstehen der Stadt als gelebtem Raum hat stets zwei Seiten«, meint der Geograph Jürgen Hasse, »[d]ie eine setzt sich mit der Logik der Objekte auseinander und die andere mit der Logik des individuellen wie kollektivsubjektiven Erlebens«8. Der Stadtanthropologe Roger Sanjek setzt sich mit New York auseinander und betrachtet globale Transformationsprozesse im lokalen Raum. Sein Feld ist Elmhurst Corona, ein Viertel, das sich durch die Heterogenität der dort ansässigen Bevölkerung auszeichnet. Bei seiner Beschäftigung mit der Stadt orientiert sich Sanjek am Vorgehen von Jane Jacobs.9 Die populäre Aktivistin hat in den 1960er-Jahren nicht nur mit ihrem Standardwerk The Death and Life of Great American Cities in Nordamerika und Europa für Furore gesorgt. Die Krise der Städte in den 1960er und 1970er-Jahren hing insbesondere mit der Modernisierung und ihren Nebenfolgen zusammen und betraf existentielle Fragen des urbanen Lebens. Jane Jacobs hat sich gerade in konkreten Situationen positioniert und öffentlich gegen die Interessen des New Yorker Stadtplaners Edward Moses argumentiert. Roger Sanjek spricht die Ebenen an, von denen die Stadtexpertin bei ihrer Analyse ausgegangen ist.

7

Musner, Geschmack von Wien, 51.

8

Hasse, Stadt als Raum von Atmosphären, 319.

9

Vgl. Sanjek, Future of us all.

N EW Y ORK CITY

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»Jacobs distinguished three levels of urban existence: ›the city as a whole‹, in which people find jobs, visit museums, support baseball teams, and vote for mayor; ›the street neighborhood‹ of immediate daily interaction; and ›the district‹, which ›mediate[s] between the (…) inherently politically powerless street neighborhood and the inherently powerful city as a whole‹.«10

Das District Level umfasst politische Bündnisse, religiöse Gemeinschaften, bürgerschaftliche Vereinigungen und andere Gruppen, deren Akteur_innen meist einer gebildeten Mittelschicht zuzuordnen sind. Jane Jacobs zählt ebenfalls zu diesem Milieu und hat selbst auf diesem Level agiert. 1934 war sie in die Stadt gekommen und hatte die Zeit nach der Arbeit damit verbracht, Gegenden und Plätze, Menschen, ihre Freizeitaktivitäten, Läden und Geschäfte zu erkunden. Einer ihrer ersten Artikel, den sie als Journalistin verfasst hat, beschäftigt sich mit einem Blumenmarkt. Von Lieferungen in den Morgenstunden bis hin zu den Kolorierungen der Blüten zeichnet Jane Jacobs nicht nur den Ablauf, sondern auch das Sortiment in allen Einzelheiten nach. Eine andere Story thematisiert den Diamantenhandel.11 Weil sie sich als Reporterin in den Straßen bewegte und mit den Leuten vor Ort in Kontakt kam, erfuhr sie auch von den Problemen. Jane Jacobs erschloss sich NYC als teilnehmende Beobachterin, ihre Beiträge sind dichte Beschreibungen städtischer Lebenswelten. In ihrem populär gewordenen Band verweist sie auf die Bedeutung eines empirischen Zugangs, um ein Verständnis für die Stadt zu entwickeln. »So in this book we shall start, if only in a small way, adventuring in the real world, ourselves. The way to get at what goes on in the seemingly mysterious and perverse behavior of cities is, I think, to look closely, and with as little previous expectation as is possible, at the most ordinary scenes and events, and attempt to see what they mean and whether any threads of principle emerge among them.«12

Auch Caitlin van Dusen verknüpft ihre Eindrücke in der CB I Hate Perfume’s scent library mit eigenen Erfahrungen und persönlichen Bezügen zu New York: »I decided to dip my nose into the ›Clean‹ section, which contained a manageable number of bottles. A brief quote from Colette introduced the collection: ›That sugary smell of new blue cottons.‹ The scent ›Eucalyptus Leaf‹ brought me straight to the Tenth Street Baths’ sinus-clearing steam room. ›White Camphor‹ was like the inside of your grandparents’

10 Jacobs, Death and Life, 2. 11 Vgl. Flint, Wrestling with Moses, 4–13. 12 Jacobs, Death and Life, 13.

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medicine cabinet. I had expected sweat and floor cleanser in ›Locker Room‹ but instead got the mingled fragrances of shampoos and deodorants. ›Clean Sheets‹ evinced just that: downy, pillowy, inviting, and even suggested a breeze through a screen window.«13

ÄSTHETIK

UND

ATMOSPHÄRE

Die Philosophen Wolfgang Welsch und Gernot Böhme proklamieren eine neue Ästhetik, die sie als allgemeine Wahrnehmungslehre verstehen. Dieser Ansatz kann auch den kulturwissenschaftlichen Zugang zum Feld wesentlich bereichern. Böhme spricht sich grundlegend für ein Umdenken auf dem Gebiet der Ästhetik aus, als Gegenstand einer philosophischen Anthropologie soll Ästhetik allgemein in den Blick genommen und nicht mehr auf Kategorien wie Schönheit und Stilvermögen begrenzt werden.14 Wolfgang Welsch fordert analog eine Öffnung der Thematik. »Wer den Begriff des Ästhetischen exklusiv an die Provinz Kunst binden und seine Grenze gegenüber dem Alltag und der Lebenswelt dichtmachen will, betreibt ästhetiktheoretischen Provinzialismus.«15 Eine solch determinierende Auffassung aber wird, wie Welsch darlegt, letztlich weder der Kunst noch der Ästhetik gerecht. Trotz oder vielleicht sogar wegen seiner Vieldeutigkeit ist der Ästhetikbegriff schließlich überaus leistungsfähig, und dabei muss die Idee noch nicht einmal auf ein zentrales Moment herunter gebrochen werden, damit sowohl in einem übergeordneten Zusammenhang als auch in einzelnen und in durchaus unterschiedlichen Feldern von Ästhetik die Rede sein kann. Wohl ist es schwieriger, ein solch weites Konzept anzunehmen, aber nur so kann man der Komplexität des Ästhetischen tatsächlich entsprechen. Es geht um Atmosphären, Gefühle, um sinnliches Empfinden, leibliches Spüren und vieles mehr. Die Kunst ist eine besonders bedeutende Provinz der Ästhetik, aber eben nicht ihre einzige Domäne. »Die heutige Aktualität des Ästhetischen resultiert gerade daraus, daß die konventionelle Gleichsetzung von Ästhetik und Kunst unhaltbar geworden ist und andere Dimensionen des Ausdrucks in den Vordergrund gerückt sind.«16 In ihrem Band Ästhetische Orte und Zeichen denkt die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus über den Zusammenhang von ästhetischer Wahrnehmung und ethnographischer Forschung nach. In Auseinandersetzung mit Texten von

13 Van Dusen, Smell. 14 Vgl. Böhme, Architektur und Atmosphäre, 32. 15 Welsch, Das Ästhetische, 30. 16 Ebd., 32.

N EW Y ORK CITY

| 275

Walter Benjamin, Richard Sennett, Wolfgang Welsch, Gernot Böhme und anderen Wissenschaftler_innen, die sich mit Atmosphären befasst haben, stellt sich Ina-Maria Greverus die Frage, auf welche Weise die Anthropologie mit der ästhetischen Ausweitung des Blicks umgehen kann. Sie beschäftigt vor allem, wie sich eine kritisch reflektierende Haltung mit dem Wissen um die Herstellung von ästhetischen Qualitäten verknüpfen lässt. Um zum viel beschworenen amerikanischen Traum zurückzukommen: die Tatsache, dass das Leben in einer Metropole wie New York hart und für viele ein täglicher Kampf ums Überleben ist, steht in der Regel auf einem anderen Blatt. Die Mietpreise sind in den letzten Jahren weiter in die Höhe geschnellt. New York ist einer der teuersten Immobilienmärkte der Welt. Wie das Musikmagazin Rolling Stone berichtet, hat der bereits erwähnte Musiker Jay-Z seine Kindheit und Jugend als Sohn einer allein erziehenden Mutter in einem sozial geförderten Wohnbau in Brooklyn verbracht. Heute gilt er als der weltweit bestverdienende Rapper.17 Der Sound transportiert also auch eine Erfolgsgeschichte, die vor dem Hintergrund der Stadt besonders eindrucksvoll erscheint. Atmosphären, meint Ina-Maria Greverus, werden nicht nur konsumorientiert produziert oder schweben wertfrei im Raum. Die Wahrnehmung von Ästhetiken bereichert einen empirischen Zugang, gerade weil darin Sinndeutungen und Vorstellungen enthalten sind. Die Kulturanthropologin spricht in dem Kontext von einer »ästhetischen Evokation«18. Nicht nur die Intention des Hervorrufens und der Hervorrufenden, die Suche nach Überlagerungen und Prozessen der Verschiebung und Verdrängung, um einige Aspekte anzusprechen, sondern insbesondere auch die Reflexion der eigenen Empfindungen als Forscher_in unter Akteur_innen im Feld wird mit der Beachtung von ästhetischen Qualitäten angesprochen. »Atmosphäre wurde als Grundtatsache menschlicher Wahrnehmung deutlich, nämlich der Wahrnehmung, in der der Mensch durch sein Befinden zugleich spürt, wo er sich befindet. So gesehen sind Atmosphären etwas, was das menschliche In-der-Welt-Sein im Ganzen bestimmt, also seine Beziehung zu Umgebungen, zu anderen Menschen, zu Dingen und Kunstwerken.«19

Die beschriebene Beschäftigung mit ästhetischen Qualitäten ist aber keineswegs selbstverständlich, ihr

17 Vgl. Rolling Stone, Jay Z Biography. 18 Greverus, Ästhetische Orte und Zeichen, 107. 19 Böhme, Architektur und Atmosphäre, 105 [Hervorhebung im Original].

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»[…] steht die Vermittlung von ›rationalen‹ Erfahrungen gegenüber, die scheinbar unser westliches Wissenschaftsverständnis prägen und uns heute in jene Repräsentationskrise gestürzt haben, in der wir verzweifelt nach neuen – und vielleicht ›ehrlicheren‹ – Textualisierungsmöglichkeiten unserer Erfahrungen als Wissenschaftler in einem sozialen und kulturellen Feld suchen.«20

Ausgehend von dieser Überlegung scheint es unabdingbar zu ermitteln, was ich spüre und wie ich damit im Rahmen der Untersuchung und nicht zuletzt bei der Produktion eines Textes, sei es nun ein Film oder ein Buch, mit diesem Wissen umgehe. Wie aber kann ich eine Stadt als Forscher_in erfahren? Um sich der Stadt und den Menschen, die in ihr leben, zu nähern, gibt es eine Fülle ausgiebig erprobter quantitativer und qualitativer Methoden. Aus einem kulturwissenschaftlichen Blickwinkel sind es vor allem Gespräche, Beobachtungen, Medienanalysen und Recherchen in Archiven, mit denen Erkenntnisse zu gewinnen sind. Das, was eine Stadt und zumal eine Großstadt eigentlich ausmacht, ist jedoch nicht allein über statistisch nachweisbare Daten, sondern auch über Atmosphären und ästhetische Qualitäten, über Gerüche und Befindlichkeiten zu erfassen. Um sich diese Dimensionen bewusst zu machen, muss man das eigene Spüren ernst nehmen. Mitunter wird es notwendig, das geplante Vorgehen ad acta zu legen und sich auf Gestimmtheiten im Feld einzulassen. Jürgen Hasse verweist auf den Phänomenologen Hermann Schmitz, der davon ausgeht, dass man eine Atmosphäre mit einem Mal, also als ganzheitlichen Charakter antizipiert und nicht »als Endprodukt einer kognitiven Rekonstruktion zuvor in der Wahrnehmung isolierter Elemente. So sprechen wir zu Recht von der Atmosphäre eines Platzes, eines Marktes – aber eben auch von der Atmosphäre einer Stadt.«21

S INNLICHE W AHRNEHMUNG

ALS METHODISCHE

P RAXIS

»Ich bin Homer, der blinde Bruder. Ich habe mein Augenlicht nicht auf einmal verloren, es war, wie im Kino, ein langsames Ausblenden. Als man mir sagte, was da vor sich ging, wollte ich es messen […]. In jenem Winter stellte ich mich an den See im Central Park, wo alle Schlittschuh liefen, und prüfte jeden Tag, was ich sehen konnte und was nicht. Zuerst verschwanden die Häuser am Central Park West […].«22

20 Greverus, Ästhetische Orte und Zeichen, 108. 21 Hasse, Stadt als Raum von Atmosphären, 106. 22 Doctorow, Homer and Langley, 7.

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Homer, einer der beiden Protagonisten in E.L. Doctorows Geschichte vom eigentümlichen Leben zweier Brüder in New York, konzentriert sich nun mehr auf das Hören. Auch als Forscher_innen nutzen wir unsere Sinne, um ein Feld auszuloten. Gewöhnlich sind wir fokussiert auf das Sehen, die Entscheidung für diese Art der Erkenntnis setzen wir gewissermaßen unhinterfragt voraus. Meist ohne darüber nachzudenken, hören wir Geräusche und Stimmen. Das gesprochene Wort gilt ebenso als zentrale Empfindung. Die Gänsehaut, die zu spüren ist, wenn wir das Gegenüber als unangenehm empfinden oder auf eine Erzählung reagieren, findet oft weitaus weniger Beachtung. Auch wenn alle Sinne zur Verfügung stehen, kommt dem Sehen und Hören im Alltag wie im Forschungsprozess besondere Aufmerksamkeit zu. Anders als Homer verlegt man sich in der Regel nicht einfach auf einen anderen Sinn, aber das Beispiel macht deutlich, wie wichtig die eigene Wahrnehmung auch im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit einem Forschungsgegenstand ist. In ihrer Dichte und Heterogenität ist die Großstadt ein Ort von außergewöhnlich komplexer ästhetischer Qualität. Im städtischen Raum überlagern sich nicht nur Bilder und Gerüche. Die sprichwörtlichen Lichter der Großstadt kommen in den Sinn, Geräusche, Klänge, Töne, das Hupen der Autos, Motoren, Klimaanlagen, die immer und überall zu hören sind. »Die pragmatische Trennung unseres Wahrnehmungssystems in fünf Sinne ist nicht selbstverständlich, wenn Wahrnehmung immer die gleichzeitig multisensorische Erfassung der Wirklichkeit bedeutet. Enge oder Belebtheit einer Straße zu fühlen, resultiert nicht aus der einfachen Addition fünf unterschiedlicher Sinneseindrücke, sondern ist ein komplexer Gesamteindruck, der subjektive Empfindungen einschließt«23

heißt es in der Einleitung eines Artikels, der die Ergebnisse zusammenfasst, die im Rahmen des Studienprojekts Sensing the Street am Berliner Institut für Europäische Ethnologie unter der Leitung von Rolf Lindner gewonnen wurden.24 Gerade wenn man sich in einer Stadt bewegt, wenn man rennt oder geht, am Tag oder in der Nacht, im Sommer oder im Winter, im Zentrum oder an der Peripherie unterwegs ist, verändern sich Atmosphären. Dabei verschiebt sich die Wahrnehmung, und das Empfinden wird geschärft. Einen Weg gehen, ist aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive nicht nur ein Akt, der uns voran bringt. Einen Weg gehen, meint empirisch auch nach links und rechts zu schauen, zu sehen, wo man läuft, zu fühlen, wo man ist. Vergleichbares mag der Soziologe

23 Hiebsch/Schlüter/Willkomm, Sensing the street, 35 [Hervorhebung im Original]. 24 Ebd. [Hervorhebung im Original].

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Robert Ezra Park mit seiner Parole Nosing around im Sinn gehabt haben. Man kann die Stadt und mehr noch sich selbst spüren, wenn man sich darin bewegt. Die Relation des eigenen Leibs zum Raum wird sinnlich erfahrbar, und zugleich formt und formatiert sich der Körper im Austausch mit der umgebenden Stadt. Ein Text, der sich mit der sinnlichen Wahrnehmung von New York beschäftigt, kommt nicht umhin über die Gestaltung des Raumes nachzudenken. Am Exempel der gebauten Form lässt sich zeigen, wie facettenreich ästhetische Qualitäten in Bezug auf städtische Räume zu verstehen sind. Wie fühlt man sich in einem Meer von Wolkenkratzern? Welsch und Böhme lenken den Blick in diesem Kontext auch auf das Herstellen oder Zustandekommen von ästhetischen Qualitäten, was sie prozesshaft auffassen. Neben dem Empfinden spielt die Produktion von Atmosphären eine zentrale Rolle. Am Beispiel der Architektur sticht besonders signifikant ins Auge, wie die Gestimmtheit von Menschen beeinflusst werden kann. Dieser Gedanke entspricht nicht zuletzt der Annahme, dass physische Räume immer auch soziale Räume und damit relativ zu sehen sind. Gebaute Räume stellen unterschiedliche Kapitalsorten25 zur Schau. Das Seagram Building in New York etwa repräsentiert den ökonomischen Erfolg seines Besitzers, seinen Einfluss und seine Position. Die Architekten Ludwig Mies van der Rohe und Philipp Johnson hatten den Auftrag erhalten, zwischen der 52sten und der 53sten Straße ein Hochhaus zu errichten, das eben das vermitteln soll. »In der Tat ist, was man wahrnimmt sehr stark von der Wahrnehmungssozialisation und auch von der jeweiligen Handlungssituation abhängig«, stellt Böhme fest und fächert auf diese Weise die ganze Vielfalt des Ästhetischen auf, »[t]rotzdem geht das Spüren von Atmosphären niemals verloren. Es tritt vielleicht nicht ins Bewußtsein, aber wirkt sich doch auf die Befindlichkeit aus. [...] Architektur ist gerade insofern ästhetische Arbeit, als damit immer auch Räume einer bestimmten Stimmungsqualität, als damit Atmosphären geschaffen werden. Gebäude, Innenräume, Plätze, Einkaufscenter, Flughäfen, städtische Räume wie Kulturlandschaften können erhebend sein, bedrückend, hell, kalt, gemütlich, feierlich, sachlich; sie können eine abweisende oder einladende, eine autoritative oder auch eine familiäre Atmosphäre ausstrahlen. Der Besucher und Benutzer, der Kunde, der Patient werden von diesen Atmosphären angeweht oder ergriffen. Der Architekt aber erzeugt sie, mehr oder weniger bewußt. […] Als ästhetischem Arbeiter, als Praktiker ist das jedem Architekten selbstverständlich. […] Das, was der Philosoph demgegenüber in Erinnerung zu bringen hätte, ist, daß es niemals bloß um

25 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede.

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die Gestaltung eines Gegenstandes geht, sondern immer zugleich um die Schaffung der Bedingungen seines Erscheinens.«26

Eine Stadt gleicht einem engmaschigen Gewebe. Ihr politisches System, ihre Ökonomie, die Organisation ihrer Bewohner_innen machen ein solches Geflecht ebenso aus wie ihre sinnlichen Qualitäten und Atmosphären. Diese Facetten sind nicht voneinander zu trennen.

ATMOSPHÄREN

ALS

P ARAMETER

DER

ANALYSE

»Wer biographische Texte hört oder liest«, meint der Kulturwissenschaftler Albrecht Lehmann, »wird bemerken, wie die Erzähler engagiert davon sprechen, dass sie noch nach Jahrzehnten eine bestimmte Situation genau ›vor Augen‹ haben, die beteiligten Personen, die räumliche Umgebung, die erlebten Gefühle und Stimmungen«.27Was in der Vergangenheit vielleicht nur unterbewusst wahrgenommen wurde, wird in der Erinnerung zum wesentlichen Aspekt. »Alles, was ohne eine herausgehobene Stimmung abläuft, interessiert das Gedächtnis nicht. Stimmungen gehören zu den Grundlagen des Erinnerns und Erzählens.«28Wie der Historiker Lutz Niethammer verdeutlicht, spielen ästhetische Qualitäten in Gesprächen über historische Ereignisse eine zentrale Rolle. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel im Hinblick auf New York sind die Terroranschläge vom 11. September 2001. Auch außerhalb der Stadt gibt es kaum jemanden, der heute nicht weiß, was sie oder er an jenem Tag getan hat. Am Memorial Day einige Jahre später lassen sich unterschiedliche Formen der Erinnerung beobachten. Ein Soldat sagt zu ein paar Bauarbeitern, dass er stolz auf ihre Arbeit ist. Eine Frau mit Rollkoffer beschwert sich bei einer Gruppe von Polizisten, dass sie aufgrund der Absperrungen rund um Ground Zero nicht in ihr Appartement kann. Als sie weggegangen ist, wirft einer seine Wasserflasche zu Boden und merkt an, dass sie sich ruhig beschweren soll, es ist ja nur der 11. September. Was glaubt diese Frau eigentlich? »In unserem Zusammenhang heißt dies, daß aus Erinnerungsinterviews für historische Zwecke gerade jene Interviewpassagen dokumentiert und interpretiert werden sollten, in denen sich das Subjekt entweder besonders vielschichtig oder so äußert, daß eine Grund-

26 Böhme, Atmosphäre, 97. 27 Lehmann, Reden über Erfahrung, 70. 28 Ebd.

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schicht durchscheint, was in aller Regel nicht in den diskursiven Partien des Interviews der Fall ist, sondern in den eingestreuten, geformten und ästhetisch wahrnehmbaren Geschichten. Wenn sie wegen Ihrer Komplexität nur verstehend und spurenlesend interpretiert werden können, so eröffnen sie dem Leser, der von anderen sozio-kulturellen Vorrausetzungen ausgeht, deshalb weil sie eine ästhetische Einheit bilden, einen Ansatzpunkt zur dissentierenden Interpretation.«29

Gerade in Interviews und Gesprächen sind ästhetische Qualitäten von zentraler Bedeutung, ohne dass wir uns darüber Gedanken machen. Eine Sache wird als schön empfunden, ein Mensch als unangenehm beschrieben, ein Ort als paradiesisch wahrgenommen. Daneben sind es vor allem Situationen und Ereignisse, die unser Leben und ebenso unsere Eindrücke im Forschungsprozess bestimmen. In Brooklyn wusste ich einmal nicht mehr weiter. Der Ort, zu dem ich wollte, das Brooklyn Museum, war laut Stadtplan gar nicht weit weg, wo ich jetzt aber hinlaufen sollte, blieb mir rätselhaft. Am Info-Schalter erklärte mir ein Mitarbeiter der New Yorker U-Bahn, dass ich doch am besten noch eine Station mit der kreuzenden Linie fahren soll. Die Frau, die neben mir wartete, nahm mich kurzerhand mit dorthin. Sie hatte wohl meine Orientierungslosigkeit bemerkt. Während wir die Treppe hochstiegen, kamen wir ins Gespräch, weit entfernt von touristischen Attraktionen, wunderte sie sich nun doch, was ich denn hier mache und wo ich eigentlich herkomme. Auf meine Antwort hin, schaute sie mich mit großen Augen an und fragte, ob ich denn überhaupt keine Angst hätte, hier zu sein. Wir waren bereits im Zug, es war gegen Mittag, die Sonne schien. Nach uns waren viele Kinder eingestiegen. Ich schüttelte den Kopf, nein, ich habe keine Angst, und unsere Unterhaltung ging weiter. Offenbar war mit meiner Antwort alles geklärt. Die Frau arbeitete als Erzieherin in einer Vorschule, wie ich erfuhr, überlegte aber, weiter zu studieren. Wir sprachen über Ausbildungswege und Universitäten, dann musste ich aussteigen. Mit der Frage nach der Angst hatte sie meine Vorurteile und meine Haltung, mein Wissen und mein Empfinden abgefragt. Noch immer bin ich mir nicht ganz sicher, was sie gemeint hat, aber ich habe verstanden, dass meine Antwort auf ihre Frage die Gestimmtheit zwischen uns ganz wesentlich beeinflusst hat. Wenngleich Welsch und Böhme den Begriff der Ästhetik von der Kunst abkoppeln, um ihn breiter zu verstehen, ist auch die Kunst weiter ein Thema, das mit dem ästhetischen Empfinden zu tun hat. Künstler_innen thematisieren ihren Blick auf die Stadt in Gestalt von Bildern, Performances oder Musik. Mit diesen Perspektiven setzt sich in erster Linie die Kunstgeschichte auseinander, die Stadt

29 Niethammer, Deutschland danach, 533.

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als akademischer Gegenstand muss wie ein kubistisches Gemälde erst aus den Splittern diverser Disziplinen zusammengesetzt werden. Die Karriere des Malers Jean-Michel Basquiat ist nicht von seinem Aufwachsen in New York zu trennen. Die Beschäftigung mit seiner Biographie mag auch eine kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Stadt bereichern. Begonnen hat Basquiat als GraffitiArtist in New York, bevor er neben Andy Warhol und Keith Harring zu einem der Pop Art Künstler der 1980er-Jahre aufstieg. In seinen Bildern und Objekten sieht er die Menschen und die Stadt. »Das ›Feld‹ oder das ›Dort-Sein‹ verbindet den Künstler und Interpreten mit dem Wissenschaftler und Interpreten in einem ästhetischen Zwischenraum, der grenzgängerisch offen ist, Aura und Spur und Dialog findet und vermittelt«.30 Umgekehrt lässt sich daraus ein Zugang zur Kunst ableiten, der von der Stadt, in der die Kunst stattfindet, gedacht wird. In New York geht es um Künstler_innen und deren Lebenswelten, wie sie etwa die Soziologin Sharon Zukin in Loft Living beschrieben hat. Es geht zudem um Inhalte und Perspektiven und nicht zuletzt um die Rolle von Museen, die ihrerseits mit Kunst umgehen und für die Stadt als Ganzes stehen. Neben dem Museum of Modern Art oder dem Guggenheim Museum, gibt es eine große Zahl an Galerien, die die Kunststadt New York repräsentieren. Und auch auf diesem Gebiet werden fortwährend Positionen ausgehandelt. Die freie Szene bezieht oft andere Standpunkte als die Kurator_innen etablierter Häuser. Und noch eine Facette spielt in dem Zusammenhang eine Rolle. »In Manhattan wird über den Markt lokal produzierte Kunst zur globalen Kunst. Dies ändert sich auch nicht grundlegend, als in den letzten Jahren mehr und mehr Künstler, die aus aller Welt nach New York kommen, zunehmend einen Wohnsitz in ihren Heimatländern behalten.«31 Eine ästhetisch sensibilisierte Herangehensweise an das Feld kann eine ganze Reihe von Quellen und Materialien auftun, die in eine Kulturanalyse der Stadt einfließen können. Die Auseinandersetzung mit der Mode, Romanen, Comics, Fotos oder darstellenden Künsten wie dem Tanz macht vielleicht auf Momente aufmerksam, die sich sonst gar nicht erschlossen hätten.32

E THNOGRAPHISCHE

UND ÄSTHETISCHE

T EXTE

Über New York wissen viele Menschen etwas, auch wenn sie noch niemals dort gewesen sind. Zahllose Filme und Serien vermitteln eine Idee der Stadt. Als

30 Greverus, Ästhetische Orte und Zeichen, 109. 31 Scherer, Das vermessene Paradies, 13f. 32 Vgl. Lindner, Vom Wesen der Kulturanalyse.

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Dr. Heathcliff Huxtable hat Bill Cosby in den 1980er bis 1990er-Jahren weltweit Millionen von Fernsehzuschauer_innen eine Vorstellung vom Leben in New York geboten. Die Serie ist folgendermaßen angelegt: Eine schwarze Familie lebt in einem typischen Brownstone House in Manhattan, der Vater ist Arzt, die selbstverständlich berufstätige Mutter ist als Anwältin tätig. Das skizzierte Bild hat zu dem Zeitpunkt nicht unbedingt den Realitäten in New York entsprochen, die Rollen waren nicht gerade gesellschaftlicher Konsens, aber Cosby und seine Produktionsfirma haben mit etwas gespielt, das nicht nur die Situation der Huxtables in der Sitcom erklären kann. Allein der amerikanische Traum kann solche Karrieren zulassen, auch wenn er für die meisten ein Traum bleibt. New York aber ist der Ort, an dem dieser Traum Wirklichkeit werden kann. Auch dieses Gefühl lässt sich interpretieren. Der Gründungsmythos der USA verbindet sich mit der kulturellen Textur eines der bedeutendsten ökonomischen Zentren der Welt. Der Kulturwissenschaftler Rolf Lindner nimmt an, dass sich »[a]lle Strategien der Inszenierung, Repräsentation und Rekodierung (…) an den Kriterien der Plausibilität, das heißt der Vorstellbarkeit und Glaubwürdigkeit von ›Aussagen‹ zu orientieren [haben], die mit dem Imaginären verbunden sind«33. Das Imaginäre ist als eine Art städtische Tiefengrammatik zu begreifen, wie sie Lindner als Stadthabitus beschreibt. Im Laufe der Zeit bildet eine Stadt eigene Dispositionen aus, die manches nahe legen und anderes unwahrscheinlich wirken lassen. New York war immer Handelsmetropole und Hafenstadt, die verschiedensten Menschen sind in Manhattan zusammengekommen und haben sich trotz aller Krisen immer wieder Innovationen ausgedacht. Mit der Cosby Show wurde in den 1980er-Jahren ausgelotet, wie die Gesellschaft auch aussehen kann. In dieser Serie haben Cliff Huxtable und seine Familie gezeigt, womit sie tagtäglich in New York beschäftigt sind und gleichzeitig demonstriert, was in dieser Stadt machbar ist.34 Damit nehmen sie ein Gefühl vorweg, das Jay-Z und Alicia Keys einige Jahrzehnte später leben und besingen. I love NY, Ich liebe New York, lautet einer der bekanntesten Slogans der Welt. In den späten 1970er-Jahren startete die Stadt New York eine Kampagne, um für mehr Rücksicht zu werben. Das Wort Love in dem charakteristischen Schriftzug aus schwarzen Buchstaben wird durch ein rotes Herz ersetzt. Das Herzliche ergänzt den Slogan und gibt dem Satz und der Stadt eine emotionale Komponente. Das Herz soll das Herz von Bewohner_innen und Besucher_innen ansprechen. Machtverhältnisse können ebenfalls ästhetisch wirksam werden und Befindlichkeiten zu nachhaltigen Veränderungen in der Machtverteilung führen.

33 Lindner, Textur, imaginaire, Habitus, 87. 34 Vgl. O’Connor, Review/Television.

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Was im täglichen Leben – bewusst oder unbewusst – angewandt wird, kann im Rahmen einer Untersuchung sowohl als Zugang als auch in der Reflexion zu einer Öffnung des Blicks führen und das Verstehen befördern. Mirko Zardini erläutert, warum diese Erweiterung der Perspektive in der Gegenwart aus seiner Sicht unabdingbar ist: »At a moment when sensory marketing, purveyors of the experience economy, and the practices of multi-sensory design, not to mention the crucial investigations of contemporary artists, seem to be devoting so much attention to sensorial experience, it is paradoxical to find that the urban environment remains untouched by this sort of consideration.«35

Ein ästhetischer Zugang vermag die Stadtforschung zu bereichern und den Realitäten eines solchen Gegenstands tatsächlich näher zu bringen. Auch aus einer ethnographischen Perspektive sind Sinneseindrücke – etwa in der Beschreibung einer Situation – von zentraler Bedeutung. Die Narration einer kulturwissenschaftlichen Untersuchung lebt in vielen Fällen davon, dass sich Leser_innen in die beschriebenen Lebenswelten hineinversetzen können. Damit unterscheidet sich eine Studie vielleicht gar nicht so sehr von anderen Formen des Schreibens und der Literatur. Marc Grossmann hat ein Buch herausgebracht, die Kultrezepte eines New Yorkers. Die Großeltern des Autors sind aus Russland nach NYC gekommen, Grossmann selbst verbringt heute die meiste Zeit in Paris, wo er als New Yorker etwas Besonderes ist. Die amerikanische Stadt, seine Heimatstadt, definiert sich aus seiner Sicht vor allem in der Vielfalt ihrer Speisen und Gerichte, »diese Mischung aus griechischen Lokalen, jüdischen Lebensmittelgeschäften, dem alten Chinatown, amerikanischem Junkfood, der gesunden amerikanischen Küche und vielen anderen Dingen, die diesen Schmelztiegel ausmachen«36. Wie der Autor des Kochbuchs schreibt, sehnt er sich manchmal nach Käsekuchen und all den anderen »Zutaten, die man braucht, um sich in dieser Stadt heimisch zu fühlen«37. Multisensory: New York City Shoeshine lautet eine weitere Überschrift auf Caitlin van Dusens Blog. »It’s the aftermath of the New Year’s snowstorm, and in annual Sense & the City tradition, I need to cleanse my senses for the year ahead. This year’s mission: a genuine

35 Zardini, Toward a sensorial urbanism, 23. 36 Grossmann, New York, Vorwort. 37 Ebd.

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New York City shoeshine for the boots that have taken me on so many adventures across the five boroughs. These boots, about twelve years old, have been resoled and restitched countless times. In this city, walking is a sense in its own right, and shoes need regular cleansing for the rigors of sidewalks and subways.«38

Das U-Bahn System verbindet Punkte an der Oberfläche von New York und ist doch eine eigene Welt. Mit der Metro Card, die in den 1990er-Jahren eingeführt worden ist, fahren Millionen von Menschen zur Arbeit oder nach Hause, zu Freund_innen, der Familie oder dem Einkauf in die Stadt. Im Untergrund spielen Bands, Musiker_innen treten auf, wer gut genug ist, entscheidet die Verwaltung der Stadt. In den Waggons lassen Klimaanlagen die Fahrgäste beinah frieren. Dafür ist die Luft an den Bahnsteigen stickig und heiß. Eine Frau hat ihren CDPlayer zwischen Gleisen aufgebaut und singt den Wartenden ihre Songs vor. Ihre Stimme erinnert tatsächlich an die großen Souldiven, der Verkauf floriert, bis sie anfängt zu husten. Im Zwischengeschoss der Linien spielt eine Funk-Band. Das Ästhetische kann sich sowohl auf den Zugang zum Feld als auch auf die Dimensionen einer Stadt beziehen. Die Bandbreite reicht von Gefühlen, Sinnen und Emotionen über Stimmungen und Befindlichkeiten bis hin zu Wahrnehmung und Ausdruck von Architektur und Kunst. Das Einbeziehen dieser Qualitäten macht eine dichte Beschreibung erst möglich und vermag der Stadt in ihrer Komplexität tatsächlich nahe zu kommen. »And what can beat the synchronicity of sounds, smells, and the ritualized motions of an in-person shoeshine in a subway tunnel on a dreary city afternoon – all for about the price of subway ride.«39

L ITERATUR Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Böhme, Gernot (2006): Architektur und Atmosphäre, München: Wilhelm Fink Verlag. Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik an der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Brinkbäumer, Klaus (2011): Amerikas Weltwunder, in: Merian New York, 40–44. Doctorow, E.L. (2012): Homer und Langley. Frankfurt am Main: Fischer.

38 Van Dusen, Multisensory, k.A. 39 Ebd.

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Flint, Anthony (2011): Wrestling with Moses. How Jane Jacobs Took On New York’s Master Builder and Transformed the American City, New York: Random House. Greverus, Ina-Maria (2005): Ästhetische Orte und Zeichen. Wege zu einer ästhetischen Anthropologie, Münster: LIT Verlag. Grossmann, Marc (2013): New York. Die Kultrezepte, München: Christian. Hasse, Jürgen (2008): Die Stadt als Raum von Atmosphären. Zur Differenzierung von Atmosphären und Stimmungen, in: Die alte Stadt 35 (2), 103–116. Hiebsch, Maria Elisabeth/Schlüter, Fritz/Willkomm, Judith (2009): Sensing the Street. Eine sinnliche Ethnographie der Großstadt, in: Sandra Maria Geschke (Hrsg.): Straße als kultureller Aktionsraum. Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Wiesbaden: VS Verlag, 31–57. Jacobs, Jane (1992): The Death and Life of Great American Cities, New York: Vintage Books. Jay Z (2013): Empire State of Mind Lyrics, online verfügbar unter: http://www. metrolyrics.com/empire-state-of-mind-lyrics-jayz.html, letzter Zugriff am 22.01.2014. Lehmann, Albrecht (2007): Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens, Berlin: Dietrich Reimer Verlag. Lindner, Rolf (2008): Textur, imaginaire, Habitus. Schlüsselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hrsg.): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt am Main/New York: Campus, 83–94. Lindner, Rolf (2003): Vom Wesen der Kulturanalyse, in: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2), 177–188. Musner, Lutz (2009): Der Geschmack von Wien, Frankfurt am Main/New York: Campus. Niethammer, Lutz (1999): Deutschland danach. Postfaschistische Gesellschaft und nationales Gedächtnis, hrsg. v. Ulrich Herbert und Dirk van Laak, Bonn: Dietz. O’Connor, John (1992): Review/Television; Last 'Cosby' Episode Brings the Huxtables A Happy Ending, in: New York Times, 30. April 1992, online verfügbar unter: http://www.nytimes.com/1992/04/30/news/review-televisionlast-cosby-episode-brings-the-huxtables-a-happy-ending.html, letzter Zugriff am 21.01.2014. Rolling Stone (2014): Jay Z Biography, online verfügbar unter: http://www.rollingstone.com/music/artists/jay-z/biography, letzter Zugriff am 20.01.2014.

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Sanjek, Roger (1998): The future of us all. Race and Neighborhood Politics in New York City, Ithaca/London: Cornell University Press. Scherer, Bernd M. (2007): Das vermessene Paradies. Annäherungen an New York, in: Bernd M. Scherer/Detlef Diederichsen (Hrsg.): NYC. Das vermessene Paradies. Positionen zu New York, Berlin: Theater der Zeit, 8–15. Van Dusen, Caitlin (2013): SMELL: CB I Hate Perfume, online verfügbar unter: http://citylore-senseandthecity.blogspot.de/search/label/smell, letzter Zugriff am 16.01.2014. Van Dusen, Caitlin (2014): MULTISENSORY: New York City shoeshine, online verfügbar unter: http://citylore.org/urban-culture/sense-the-city-blog/?utm_ source=blog-0114&utm_campaign=blog-0114&utm_medium=email, letzter Zugriff am 16. Januar 2014. Welsch, Wolfgang (1993): Das Ästhetische – Eine Schlüsselkategorie unserer Zeit? in: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Die Aktualität des Ästhetischen, München: Wilhelm Fink Verlag, 13–47. Zardini, Mirko (2005): Toward a sensorial urbanism, in: Mirko Zardini (Hrsg.): Sense of the City. An Alternate Approach to Urbanism, Québec: Lars Mueller Publishers, 17–25. Zukin, Sharon (1989): Loft Living. Culture and Capital in Urban Change, New Brunswick: Rutgers University Press.

Sustaining a dynamic pause Serendipitous knowledge of an ensounded body P OLINA T ŠERKASSOVA »Contemporary music is not the music of the future, nor the music of the past, but simply music present with us: this moment, now, this now moment.« JOHN CAGE

This chapter is neither about music although the ethnographic material presented here derives from my experience as an anthropologist and as a performing musician nor does it deal with the discussion of contemporary music. It rather concerns the present and the ability to hear in the present and to perceive the environment as what Tim Ingold calls an »ensounded« body, which turns out to be not as obvious as it seems (Ingold 2011: 139). It also concerns the ways in which – through the change of rhythm – the listener’s perception can also change, opening the doorway for new ways of engaging with the environment and with the process of hearing. The ethnographic material that follows is based on the performers’ experience at an open-air concert in the city centre of Bursa, Turkey, emphasising a more conscious and purposeful recognition of the ways in which we can gain sudden sensory realisations. Besides, intending to invoke the idea of serendipity as a sudden and lucky discovery through a kind of intuitive logic, this chapter considers the emotional states of vulnerability and sheer astonishment of a researcher as the important premises for the gaining of serendipitous understandings. It focuses on how such lived experiential understandings can be transformed into an ethnographic text without losing sight of the sensory and

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emotional involvement. My aim is to show how serendipity can be considered as a point of departure for the interpretation of ethnographic data. Firstly, I will briefly address serendipity in the context of anthropology. As the narrative of my ethnographic example unravels, I will focus on the differences of perceiving the city sonic environment as a disturbing ›noise‹ during a concert and will describe the way in which musicians can play against the city sounds instead of playing alongside of them. Then, I will explain the idea of a dynamic pause and how the change of a rhythm can act as an impetus for an altered relation with the environment. Finally, I will address the process of interpretation of ethnographic material and return to the premises of serendipitous knowledge which, as I argue, can be establised as a methodological aim.

S ERENDIPITOUS

KNOWLEDGE

The word serendipity derives from an old Persian story about the three princes of Serendip who were travelling through many countries. On their way, they made a series of observations and discovered things they had not particularly been searching for. However, it was not before 1754 that the word serendipity was coined by Horace Walpole and became part of the English vocabulary. Horace Walpole wrote that the princes made discoveries by ›accident and sagacity‹, defining the meaning of the term by referring solely to a lucky discovery without searching, which is also the most common use of the word nowadays. Conversely, in his article in the book Serendipity and Anthropolgoical Research (Hazan/Hertzog 2012), Ugo Fabietti suggests that the readers tend to overlook the other element of Walpole’s interpretation of such a discovery, which is sagacity. Fabietti, on the other hand, emphasises that serendipity is based on sagacity and a certain intuitive logic of abduction (Fabietti 2012: 19). This includes the acts of reasoning and focusing such as the ability to draw creative connections, which may lead to gaining intuitive realisations. In the introduction to the same book, the editors advocate that discussing serendipity in terms of anthropology does not derive from the sole intention to reveal that the practice of doing an ethnographic research is akin to a sequence of unexpected discoveries. They rather agree that anthropology as a discipline now also encounters various changes as the ethnographers have to navigate their ways through the playgrounds of the constantly changing ›globally‹ contextualised world. The authors appeal to the often neglected aspect of a serendipitous encounter during fieldwork, assuming a certain way of perceiving the world in the present and relating to it. This perspective includes embracing the uncertain-

S USTAINING

A DYNAMIC PAUSE

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ties and openness to multiple possibilities, which creates doubt and calls for revaluation of the existing knowledge (Hazan/Hertzog 2012: 2–3). In her comparison of managerial and research models of knowledge creation, Marilyn Strathern similarly states that »research itself is an engine for turning diverse uncertainties into epistemological ones, for seeing gaps in information, and for creating the very premises of doubt on which knowledge-seeking rests« (Strathern 2006: 193; original emphasis). Referring to the recent fascination with the term creativity in an anthropological context, it is possible to ask along the lines of Isabelle Rivoal and Noel Salazar whether serendipity is a new word to replace the word creativity in the social sciences which are often regarded as a prerogative of the ›soft‹ sciences (Rivoal/Salazar 2013: 182). However, in this paper, I refer to serendipity as an independent term indicating a certain ability to perceive and relate to the world through attentive presence and a kind of intuitive logic. Thus, I am rather interested in concentrating on a certain kind of knowledge that can become serendipitously accessible through a person’s openness to the sensory realisations, hence creating new ways of engaging with the environment. In what follows, I will present an ethnographic example which invites readers to reflect upon how we transmit and interpret the raw ethnographic material from a lived ›reality‹ and turn it into a self-sufficient textual ›reality‹, i.e. ethnography. Taking serendipity as a starting point, I will show how a short description of our sensory experience can be understood anthropologically. The ethnographic example I want to refer to was a situation that took place in September 2012 during one of my short field trips to Turkey where I did my research on teaching and performing Sufi music and whirling practices. As a performing musician, I attended workshops, concert series and participated in rehearsals with local musicians in Istanbul. However, some months before I departed for my fieldwork, our music ensemble from my hometown had been invited to play at a festival in Bursa, western Turkey, and to give concerts on three successive evenings. Excited about this unexpected invitation but not expecting much from such a short trip, I was surprised how this short fieldtrip provided me with experiential realisations for my research. But what was more important, it helped me to narrativise and locate sudden sensorial realisations through serendipity as a research tool. As in the story of the three princes of Serendip, I had not deliberately been looking for what I then encountered but thanks to an astonishing occurance, my perception of the environment was altered and made me more attuned to the perception of an ensounded body.

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P LAYING

AGAINST THE CITY SOUNDS

We landed in Istanbul in early September – four musicians with our costumes and fragile instruments which were all brought directly to Bursa to the location of the music festival. It had to be a short trip with three performances each taking place at 9 o’clock in the evening on an open-air stage which was erected at the square in the city centre. Playing outside was nothing new for us and as usually, we prepared our concert programme with the songs and tunes assembled in such a succession that it would create an unbroken emotional experience for the listeners. However, we had to take into account the environment and get used to its peculiarities such as the sweltering heat at daytime during the rehearsals and strong wind at night during the concerts. It was already dark when we started to play. The square where we performed was at three sides bordered by roads with busy traffic so that the stage and the seats for the audience were virtually embedded in the bustling city sounds. Acoustically, it was a striking and provocative environment to play in, something totally contrary to the decently de-voiced environment of a concert hall. Here, the busy city space with its particular atmosphere, its gusty wind smelling of gasoline and food, circulating along the street corridors was accompanied by the sound of dozens of overwhelming voices, noises and reverberations. We had to perform with microphones, which artificially amplified the sounds of our music in an attempt to outvoice other sounds of the surroundings. As it turned out, such a dense sonic environment meant a serious challenge for the stage sound engineers whose task was to make the performers heard – if not by themselves, then at least by the audience in the square. Competing with the city sounds, they turned up the volume of the loudspeakers. But the surroundings continuously responded with dozens of sounds, some amplified, some distorted by the acoustics of the city space. Moreover, during some of our songs, the sonic environment grew even more saturated due to sirens of ambulance and police cars whose ›cries‹ did not last long creating rather short but importunate splashes of sound1. Generally focused on playing, we could not name each sound we heard or imagined to hear. As our fiddle player, Johanna, said after the performance: »It was all too noisy, but in some

1

I deliberately do not want to use the word ›soundscape‹ which is slowly becoming a buzz word not only in anthropology but also in architecture, art and various studies of aural culture (Ingold 2011: 136). I see the moral value of the concept as merely multiplying other ›scapes‹, and prefer avoiding it when speaking about a constellation of sounds and physical circumstances that compose an experiential sonic event.

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moments I could even hear the crackling of oil under the spits with meat from the nearby kebab stalls. No, for sure I didn’t hear them really but in all this messiness, once I noticed a kebab place I had the feeling that I could also hear the crackling of oil ...« (field note from September 12th, 2012). For a musician listening to such a seething sonic environment, the experience of the environment became emotionally intertwined with the previous experiences in a way that it exaggerated the sounds which were barely, if at all, audible to the ear, but which were heard by focusing one‘s attention randomly. Nevertheless, on the whole, the relation with the environment created for the audience of the performance was one of competition attempting to outvoice the sonic city space which sounded back with cars and generators, multiplied through the whole sensorium and the perception of luminescent lights and street shadows, sirens and claxons, people and food, wind and air. So all in all, when we came to the stage in order to play, we unwittingly entered a certain power struggle over the listeners’ attention and ears. The stage sound engineers’ somewhat hostile attitude towards the surrounding sounds reinforced the gap between the unwanted and unpredictable city ›noise‹ and our structured and planned ›music.‹ I will once more refer to the idea of noise later but for now, I want to emphasise that even before the beginning of the concert, a certain hierarchy of sounds had been established by the participants of the concert dividing the sounds into wanted (e.g. soloist, sound amplifier, drum, melody, fiddle, applause) and unwanted (e.g. siren of an ambulance car, traffic, wind, cries of the snack sellers). The sound engineers tried to mute the ›unwanted sounds‹ for the listeners’ ears by amplifying the ›wanted‹ or musical sounds. This sound hierarchy seemed rather uncomfortable, tiresome and even wrong for us musicians as we were subconsciously looking for other ways of relating to that environment. There is a common understanding which, according to John Cage, for most of the people separates the notions of music, sounds and noise. In this hierarchy, music is regarded as the most structured and appealing to emotions whereas ›noise‹ usually refers to an unwanted, unmusical sound or to any loud sound and any disturbance in signalling systems (Schafer 1977: 182). In this regard, Murray Schafer speaks of »noise pollution« and by doing so, traffic and industrial sounds are placed in an analogous relation to environment pollution categorised as dirty, contaminating and destroying nature (ibid.). In contrast, Brandon Labelle describes noise as a »deviating sonority« which grants an opportunity for meeting the other (Labelle 2010: 61). However, the most relevant characterisation of sound to me is John Cage’s attitude towards music which for him is valid for any kind of sound including noises. As he says in one of his interviews,

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»Whereas I love sounds, just as they are, and I have no need for them to be anything more« (Cage, 1991). This relates to any sound, for instance the sound of traffic. For John Cage, sound has a performative value, »When I hear traffic ... I have the feeling that sound is acting, and I love the activity of sound ...« (ibid.). For me, a concert or performance can be regarded as an active process of engagement of different actors and media. It can be viewed as a conversation with the audience and the environment also including the listeners, the air and the wind, the light and the colours, the sounds and the whole amalgamation of different media and reverberations produced by these media. However, I would like to develop this idea even further and suggest viewing a performance as a certain openness concurrent to the environment, to the changes of rhythms and to the serendipitous knowledge of ensounded bodies; this means the bodies which perceive themselves as in-sound and in-rhythm. In Henri Lefebvre’s work on Rhythmanalysis, he says that there are rhythms produced by the surrounding environment which, if perceived and acknowledged, can disclose new ways of relating to the »simultaneity of the present« and our perception of the surroundings (Lefebvre 2004: 17). Our sensory experience and our concert in the city centre of Bursa were woven of many rhythms which in total created a polyrhythm which the audience took part in as in a conversation. Such a conversation always has a certain rhythm compiled of many embedded rhythms. On the basic level, each of our songs had its particular rhythm. Prior to our performance, we constructed our concert programme in a way that we thought would be an emotional sonic and sensory experience for the listeners. We intended to guide their emotions with our music towards certain conditions and experiences, thus taking an expressively authoritarian role by consciously manipulating different rhythms. Following Henri Lefebvre’s ideas, such basic inner rhythms of separate songs can be compared to the »garlands of rhythms« produced by the body which, according to Lefebvre, can be either in harmony, eurhythmy or disturbed and ailing, i.e. arrhythmy (Lefebvre 2004: 20). For instance, each of our songs was followed by the audience’s applause before the next tune would start, which created a rhythmical sequence. Both we and the audience entered this general rhythm as if it was a game with incontestable rules and became used to the rhythm by embodying it and reproducing it: They did through clapping and we through playing. Thus, the rhythm was a temporal emotionally and bodily co-created practice which included the musicians, the audience and the environment although the relation with the latter was rather exclusive at the beginning, as we regarded it as noise. As follows from the next subchapter, rhythms can be

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manipulated, sometimes unwittingly, causing a change in the way we perceive and relate to the world.

T HE

DYNAMIC PAUSE CHANGING THE RHYTHM

In one of her articles on conversation with a landscape, Katrin Lund writes that a change in the rhythm of walking also alters the relationship with the surroundings. The co-author of this article, Margaret Willson, experiences the environment through walking and at first connects to it by mapping it in her mind whereas the bodily technique of walking makes her aware of what is far away and what is close to her (Lund/Willson 2012: 99). She walks with a group of hikers in the icy mountains in the north of Iceland experiencing the surroundings as an amalgamation of physical objects she sees and the memories from her former hiking experiences. However, her rhythm of walking breaks as Willson slips on a snowy talus and falls, careening down the icy slope towards a boulder field seriously jeopardising her life. As another hiker from the group saves her life, she begins to sense the environment in a different way. Now the surroundings are mapped with her emotions, which creates a perception in which »what is far and what is near melts in with walking in a sensual and bodily art« (Lund/Willson 2012: 99). Thus, an accident or any unexpected occurance which changes a rhythm can be viewed as a gateway to an altered state of experiencing and relating to the environment. Back at the concert in Bursa, we were approaching the end of our programme with a certain rhythm. Then, suddenly after finishing one of the songs, just when a wave of applause faded away and we were getting ready to play the next tune, we heard a new loud and distinct sound. It was a call for prayer from a nearby minaret of a mosque. This new sound had a vocal melody with its own pitch, musical phrases, breathing and rhythm; and it was immediately followed by the echoing calls for prayer from other mosques. Intertwined with each other’s and with other sounds, the calls for prayer were a separate sound and at the same time a part of the city environment. They were emerging out of it and fading into it. Somehow, it naturally created a pause in the succession of our concert. We stood abashed onstage hesitating, asking ourselves whether to continue playing or not. I intuitively felt that we should not interrupt the calls for prayer and rather stay quiet waiting for their sounds to end. So, there we stood idle, half-blinded by the brightness of floodlights all pointing at us. For me as a performing musician, this forced pause felt like this:

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… like leaving half a page blank where one expects to see a printed text. For a reader, this may seem like a sudden change of rhythm, incongruous and disorienting as one is not doing what one is expected to do. Therefore, the pause becomes a dynamic pause, the presumable emptiness of which is filled with tension. Standing onstage, I could physically feel the audience’s attention directed at us; it felt even more blinding than the lights probably because, as musicians, we were not used to being idle onstage, not doing anything, not playing anything. But there we were, standing still by the microphones, not making any sound while the call from the minaret continued. The uncomfortable feeling of both confusion and excitement grew in me and in the other musicians. The tension grew because we were not doing what we were expected to. It had already lasted for several minutes, which felt like an eternity. As the situation became more and more discomforting, our fiddle player, Johanna, came closer to me and, trying to do it inaudibly for the public, whispered into my ear, »Shall we just go away and come back when it is finished?« (field note from September 12th, 2012). But something in me said, »No – we stay and wait as long as it takes«. Meanwhile, the people in the audience seemed to become more vivid and curious about what we were going to do in that situation. As the call for prayer continued, the sounds of the city space gained a new quality – they became not the unwanted cacophony of the accidental sonic

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frequencies which had to be outvoiced by the sounds of our music despotically amplified through the loudspeakers. Rather, the sounds of the city space suddenly appeared as a rhythmical orchestra of ensounded bodies. As Tim Ingold writes about how the wind is embodied in the construction of persons affected by it, he reminds us that actually the body is in the wind, not the other way round, so that the body is »enwinded«, whereas the wind is not embodied. Hence, he establishes a connection to sound and the bodies which are in sound proposing that we should conceive of our bodies as »ensounded« when we sing, hum, whistle or speak. He likens the body to a kite in the sky, describing the ensounded body as launched into sound. (Ingold 2011: 139). Therefore, the act of perceiving sounds and being influenced by them, which may seem natural, is in fact a faculty of our perception to relate to the sonic environment in an inclusive way in which the body becomes aware of how and in what way it is ensounded by the environment. Thus, once we stopped playing and interrupted the succession of our performance, we allowed our accentuated senses to immerse us in the sonic environment of the city. This helped us acknowledge the new relations which the ensounded bodies have with the world. Although the amplifiers and loudspeakers were still there and we were the ones who played music for the audience, our perspective had changed. Therefore, as the call for prayer started and after some lingering moments of astonishment and abashment, we found ourselves in a new relation with the environment. Our attitude changed from one of domination and struggle to one of playing along with the city sounds. We suddenly acknowledged ourselves as ensounded bodies within new kinds of relations with the environment. We opened ourselves to listening to the environment in a rather John Cageean way – it was like opening a window in the concert hall facing the construction site in order to let the sounds of the construction works enter the sonic space of a concert hall. By allowing the sounds of the city to enter our concert, we changed the rules of the performance, playing along the sound of the city, not against it. At that moment, I realised that the call for prayer had only accentuated this by breaking the rhythm of our concert. At long last, some minutes later, the call for prayer suddenly finished, fading out from the fabric of the sonic environment of the city. Standing on the front stage, we waited for another moment to make sure that this was not the end of only a musical phrase or a sentence but of the whole piece. After exchanging excited glances with each other and as if driven by our performers’ instincts, we came closer to the microphones to start playing the next song of our programme. However, another unexpected thing happened – there was a hurricane of applause.

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It was a long and intense applause, a climax of the tension arising during the dynamic pause, and an invitation to enter the sonic space with a different rhythm. Taken slightly aback by such a boisterous reaction, at first we stood still, none of us bowing as none of us felt that the audience was clapping because of us. Standing on the stage in the city centre of Bursa, we found the most obvious and simple reaction was to join the audience’s clapping. After each concert, there is always a feeling of a shared sensory experience, which of course varies every time but which binds together the members of the ensemble, the listeners and the environment through a newly established emotional bond. Likewise, the practice of reading the current chapter or the whole book also provides a shared experience for the readers. After our performance in Bursa had ended, we shared some friendly hugs and thanked each other as we usually do. While we were packing our instruments and leaving the stage, some people from the audience approached us to express their gratitude. I heard our percussionist, Dana, standing near me talking with a Turkish couple. Later, she said that the man had told her that they had particularly liked the ›song‹ with the ezan (Turkish for ›call for prayer‹) saying that they had perceived those moments as part of our concert. It was interesting to hear that someone would call this interruption of a concert’s rhythm a song acknowledging the change in the perception during the dynamic pause when a new relation with the sonic environment of the city was formed. That way, we had all become part of a shared sensory experience in which the sonic space of the town suddenly was not regarded as inimical noise but was acknowledged and related to. As I am going to argue in the next passages, the aspiration towards gaining such serendipitous knowledge of an ensounded body can be seen as a methodological research tool.

I NTERPRETING

HEARING

As Michael Jackson writes, anthropological understanding is mostly expounded as a language game in which we allocate semiotic values to bodily practices. However, if we switch our focus to acquiring social and practical skills without plunging directly into symbolic analysis, it opens a passage for a different, emphatic understanding (Jackson 1983: 339–340). This is the kind of notion that I want to highlight in my ethnographic account as a musician performing in the sonic city space of Bursa. When interpretation takes place and when we do not problematise the ways in which we gain understanding, there is a risk of a merely symbolic interpreta-

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tion. Here is a hypothetical example of the most simple reductive logic following my ethnographic example: »When the audience saw that the musicians decided not to play during the call for prayer, people started to applaud because they wanted to express their gratitude. They recognised the musicians’ behaviour (who did not interfere during the call for prayer) as respectful towards their culture, religion and traditions.« With such an interpretation, the situation is presented as accidental neglecting to mention and problematise the process by which such understanding was acquired. Furthermore, such an interpretation is does not take into account the body knowledge and the emotional relations of the musicians with the environment. Similarly, in one of his accounts, Michael Jackson refers to girls’ initiation rites in Sierra Leone and shows how erroneous the process of translating the ritual movements into words of an ethnographic textual ›reality‹ can be. When he started putting the movements of Kuranko dancers into words after having witnessed a ritual dance by borrowing his interpretative model from the structural study of myth, the acts and the expressiveness of the dancers were reduced to words and assigned meanings grounded in the previous systems of knowledge. Jackson himself found such analytical procedure absurd and regretted this interpretative logic as »human beings do not necessarily act from opinions or employ epistemological criteria in finding meaning for their actions« (Jackson 1983: 332). Likewise, it is unnecessary to search for the accordance between their rites and the existent systematic theories of knowledge. Jackson was looking for the script and the director of the rite without accepting the idea that the dance indeed had no interpretation for the Kuranko people. Correspondingly, one can start interpreting the applause of the audience in Bursa as a purely logical and analytical behaviour: The people in the audience might certainly have wanted to express their gratitude because the musicians respected their traditions and did not interrupt the call for prayer – that is why they started clapping. But by choosing this interpretation, one disregards the whole body of a shared sensory experience. I find it important not to follow the lines of reductive ideas of knowledge but to emphasise the importance of articulating shared sonic experience as a new way to establish a relation to the environment. Therefore, by choosing the simplified logic of ethnographic interpretation, we often neglect the sensory experience and the body knowledge. We also omit the experience of sound itself. As Ingold mentions in his essay Rethinking the animate, reanimating thought, when painters paint something that is traditionally called a ›landscape‹, they do not try to depict the earth and the sky separately. They rather try to grasp the amalgamation of the earth and the sky in the eye of

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the observer, which is possible due to the experience of light. Ingold writes that the painters’ aim is not to grasp objects and lines and not the ability to see these objects but rather to recreate the »sheer astonishment of that experience, namely, of being able to see« (Ingold 2011: 74, original emphasis). It is equally important to welcome the sheer ability of being able to hear as ensounded bodies in our methodologies as it is invaluable to acknowledge these sonic experiences as sensory knowledge in our interpretations. As in my ethnographic example, a change of a rhythm becomes a transmitter of the serendipitous knowledge and enables new emotional relations with the environment. The realisation I gained after the dynamic pause in our concert was a serendipitous one arising from a certain state of perception that I had suddenly entered. It allowed me and those who shared this experience to listen not against but alongside the city environment. Although, as it was mentioned at the beginnig of this paper, a certain accidental character is often attributed to serendipity, I rather propose concentrating on a particular aspect of serendipity – which is also advocated by several anthropologists –, namely that serendipity must be contextualised as a research tool. It is not sufficient to merely state how observation takes place (Rivoal/Salazar 2013: 6). During ethnographic research, anthropologists often experience uncertainty, astonishment and vulnerability. Their fieldwork becomes mapped with their emotions and experiential realisations. Such emotional involvement in the field can be understood as research tool. For me, it felt uncomfortable and unfamiliar to be idle onstage when the rhythm of our concert was disrupted by the call for prayer. Thus, only when all my senses became more acute – I was confused because I was not doing what I was expected to do – I felt a particular openness to the surroundings and to the experience of sound. Such emotional experiences of astonishment and vulnerability are doorways for a different relation to the world, not to the world which is given, which is already there, like a fixed concert programme and which fits into the existing categorisation grid of my previous experiences, but rather to a world which Tim Ingold describes as inceptive, emerging, changing and touching the actual (Ingold 2000: 113). My own vulnerability as a performer was a key for having this perception of the world which offered astonishment and which led to a serendipitous understanding of the environment. The dynamic pause during our performance due to the call for prayer and our abashment gave us a chance to experience the astonishment of being able to hear.

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I NSTEAD

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OF A CONCLUSION

One of the aims of this chapter was to invite the readers to reflect upon the ways in which we obtain sensory realisations. It is important to start questioning ourselves about how we actually make what is usually called ›lucky and sudden discoveries‹ and how we open ourselves to serendipitous knowledge. Gaining certain understandings is often referred to in an incidental manner without problematising the ways in which they are acquired. However, set as a methodological goal, the emotional involvement with the environment through the openness to the states of vulnerability, astonishment and the receptiveness to sensory encounters can lead to a more conscious and purposeful recognition of the ways in which we gain knowledge during our ethnographic practices. I argued that by tuning ourselves to listening to the different rhythms and their interactions as well as to the breaks and silences, we can become more aware of how and why we gain certain body knowledge. Consequently, one can aspire to become a rhythmanalyst or at least to perceive like a rhythmanalyst who uses all his or her senses and »thinks with his body«, who draws on his or her breathing and does not neglect that different emotional states have rhythms embedded in our bodies and the surroundings (Lefebvre 2004: 21). Likewise, one can propose that for musicians and composers, it could also be an aim to not only transmit and objectify sounds through music but also to grasp and convey to the listeners the sheer astonishment of being able to hear. Such shared experiences invite others to enter this state of abashment and vulnerability, the state of openness to the world in formation – as it happened to us in Bursa.

R EFERENCES Cage, John (1991): John Cage on Silence, 2 Feb 1991, New York, http://www.youtube.com/watch?v=pcHnL7aS64Y, accessed 14 Jan 2014. Fabietti, Ugo (2012): Errancy in Ethnography and Theory. On the Meaning and Role of ›Discovery‹ in Anthropological Research, in: Haim Hazan/Esther Hertzog (eds.): Serendipity in Anthropological Research. The Nomadic Turn, Farnham: Ashgate, 15–30. Hazan, Haim/Hertzog, Esther (2012): Introduction. Towards a Nomadic Turn in Anthropology, in: Haim Hazan/Esther Hertzog (eds.): Serendipity in Anthropological Research. The Nomadic Turn, Farnham: Ashgate, 1–9. Ingold, Tim (2011): Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description, London: Routledge.

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Ingold, Tim (2000): The Perception of the Environment. Essays on Livelyhood, Dwelling and Skill, London: Routledge. Jackson, Michael (1983): Knowledge of the Body, in: Man 18 (2), 327–345. Labelle, Brandon. (2010): Acoustic Territories. Sound Culture and Everyday Life, New York: Continuum. Lefebvre, Henri (2004): Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life, New York: Continuum. Lund, Katrín Anna/Willson, Margaret (2012): Slipping into Landscape, in: Karl Benediktsson/Katrín Anna Lund (eds.): Conversations with Landscape, Farnham: Ashgate, 97–108. Rivoal, Isabelle/Salazar, Noel B. (2013): Contemporary Ethnographic Practice and the Value of Serendipity, in: Social Anthropology 21 (2), 178–185. Schafer, Murray R. (1977): The soundscape. Our Sonic Environment and the Tuning of the World, Rochester, VT: Destiny Books. Strathern, Marilyn (2006): A Community of Critics? Thoughts on New Knowledge, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 12 (1), 191– 209.

(T)Raumerfahrungen des Körpers Von Aktionsräumen und machtvollem Zeigen E LISA R IEGER »… an diesem ›Nullpunkt des Seins […], der nicht nichts ist‹, wie Merleau-Ponty betont, schlägt ein Seiendes in ein anderes Seiendes um – beispielsweise ein blühender Baum in einen Früchte tragenden Baum oder ein gefällter Baum in ein totes Stück Holz. Es geschieht also beileibe nicht nichts, jedoch ein Seiendes erreicht nicht erst durch den Überstieg zu seinem ideenhaften Sein sein eigentliches Sein, vielmehr kommt es bereits in diesem offenen Bereich des Zwischen durch die metabolé des Übergangs im Sein selbst je und je in sein Eigenes.« ASTRID NETTLING

(T) RAUMERFAHRUNGEN Die Entscheidung, ob es sich um eine Traum- bzw. Raumerfahrung handelt, ist im Alltag wesentlich dadurch bestimmt, was gemeinhin mit Wirklichkeit, Authentizität und wachem Bewusstsein sowie Reaktionsfreudigkeit bzw. -fähigkeit dessen konnotiert und kulturell verhandelt ist. (T)Raumerfahrungen markieren demnach Übergänge und Grenzverschiebungen von Wirklichkeitsauffassungen, die jeweils unterschiedlich in Kulturen ausgehandelt und mit

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differenzierenden Bewertungen versehen werden.1 Durch dieses soziale und gemeinschaftliche Verfügen über Aneignungspraktiken der umgebenden Welt wurde von Generation zu Generation ein kulturelles Bedeutungsgewebe etabliert, das im 21. Jahrhundert den irrealen Traum von einer realen Raumerfahrung unterscheidet. Der Traum, der Wahn und der Aberglaube gehören heute dagegen einem Unbewussten der Kultur an, wie Utz Jeggle in seinem Beitrag zu sogenannten Unterwelten der Kultur meint. Beeinflusst von Reden über Bewusstseinskulturen, die präventiv ein Burnout oder (mentale) Überlastungsgefühle vermeiden helfen sollen, sehen sich Akteur_innen gegenwärtig im Alltag von Optimierungsratschlägen insbesondere einer Effizienz steigernden Ratgeberliteratur und Konsumkultur verfolgt, die vor allem eines favorisieren: den Körper und seine sinnliche (T)Raumerfahrung. Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts damit immer fester verknüpfte Rede über ein Selbst2 impliziert begleitend eine kulturelle Bedeutungs-Bewegung, welche, wie Foucault dies einmal beschrieb, einen Rückzug auf den Körper nach sich zog und immer noch zieht.3 Die allmähliche Entlastung von körperlicher Arbeit in der flüssig gewordenen Moderne, so Zygmunt Baumann, bewirkt zweierlei. Neben chaotischen und manchmal unübersichtlich gewordenen Verhältnissen, die durch ein Aufbrechen althergebrachter – auch familiärer – Strukturen eine zunehmende Konfliktfähigkeit evozieren, wie Elisabeth Katschnig-Fasch dies für die Gegenwart konstatierte4, entstehen nunmehr Raumerlebnisse, die sich gewissermaßen durch eine ›bewusste und totale‹ Materialisierung auszeichnen. Augenblickliche Körperpraktiken schreiben mit dem Körper immer auch den Leib und ein Selbst in seiner Präsenz und seinem Gewahrsein als eine ›Ich-Identität‹ fest. Sie sind Ausdruck gegenwärtiger Aneignungspraktiken von Welt, die zunehmend bewusster erfahren werden möchten, obwohl sie – oder besser – gerade weil sie mit neuer Komplexität und

1

Vgl. dazu die kulturtheoretischen Reflexionen zu den Rändern des sozialen Raumes in Rolshoven, Der Rand des Raumes bzw. den Hinweis auf die Wirkmächtigkeit des Übergangs auch als Brücke im interkulturellen Vergleich westlicher und östlicher Denkräume von Astrid Nettling im selben Band.

2

Vgl. hierzu die 2005 in den USA erschienene BBC Dokumentation The Century of the Self von Adam Curtis online z.B. seit 2010 einsehbar unter www.youtube.com.

3

Vgl. beispielsweise die Wellen von Neuverhandlungen des Körpers, die besonders seit den 1970er-Jahren einem ca. 10-jährigen periodischen Zyklus zu gehorchen scheinen, welcher von Fitness über Wellness bis hin zu einem Ereignis- und Erfahrungstrend zu reichen scheint.

4

Vgl. Katschnig-Fasch, Zur Einleitung, 17f.

(T)R AUMERFAHRUNGEN DES K ÖRPERS

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Unübersichtlichkeit kontrastiert sind.5 Dem Bestreben nach Orientierung im Raumerleben soll im folgenden Beitrag nachgegangen werden. Dieses verweist sowohl auf Auswirkungen verstärkter Integration von vermeintlich subjektzentrierten Körperpraktiken im Alltag, als auch auf Stimmungen und Zeitbefindlichkeiten, die, wie noch zu zeigen sein wird, vor allem im Zusammenhang mit einem spezifischen Raumerleben verstehbar werden. Die Frage nach möglichen Konsequenzen einer Ethnographie der Sinne steht dabei stets im Hintergrund. Neukonzeptionen von Ethnographien der Sinne nehmen historisch-polarisierende Konzeptionen von Körper und Leib auf und diskutieren diese erneut. Das bisher weniger explizit Gemachte in sozusagen herkömmlichen Forschungen wird in dieser neuen Ausrichtung versucht zu erfassen und zu vermitteln. Durch die Betonung eines um die sinnliche Dimension verfeinerten empirischen Zugangs zu Forschenden und Forschungsfeld, der eine verstärkte Aufmerksamkeit auf Nicht-Sichtbares bzw. Nicht-Beobachtbares lenkt und zudem den Fokus auf eine Bewusstmachung der übrigen Sinne in der Forschungsinteraktion legt, wird jedoch gerade das begrifflich erfasst, was bisher unbegreiflich belassen werden konnte. Damit einher geht der aufklärerische Wunsch nach Transparenz, wie Susanne Hauser ausführt: »Das Durchsichtigwerden der Welt und ihre darauf mögliche Einrichtung für menschliche Zwecke ist ein Ziel, das als Impuls der erkenntnistheoretischen Anstrengung und jeglicher darauf gegründeter Forschung zugrunde liegt. Das bezieht sich auf das forschende Eindringen in die Struktur der Materie, auf das immer weiter reichende Durchsichtigwerden des Raumes in der Astronomie wie auf das Durchschaubarwerden sozialer Verhältnisse, des menschlichen Körpers, der menschlichen Psyche, der Sprache.«6

Die Forderung nach Einbeziehung und Offenlegung sinnlicher Eindrücke in der Forschungssituation vermag zwar die jeweilige Forschung in der Vermittlung auf die Forschenden zentriert konkreter machen, sie schreibt aber auch fest, was flüchtig-beweglich, damit veränderlich, vielleicht sogar reversibel bleiben konnte und durfte. In diesem Sinne möchte ich unter einer ›totalen‹ Materialisierung das Transparentwerden von Forschungssituationen verstehen, das – der Zeit

5

Vgl. hierzu Marshall McLuhan, der 1961 in seinem berühmten Aufsatz Im Sensorium der fünf Sinne eine Rückläufigkeit der übersichtlichen Linearität konstatiert und deren Ursachen zu ergründen versucht.

6

Hauser, Transparenzen, 143.

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zwar angemessen – allerdings auch mit Vorsicht zu genießen ist. Ein Festschreiben und eine Totalität erzeugende Legitimation einer Forschung, welche sinnliche Erfahrungen einbeziehen müsste, erzielte dann genau den gegenteiligen Effekt. Der Körper_Leib7 wäre zunehmend in seiner Ganzheit als Ressource von Wissen in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen gefordert. Seine Aufmerksamkeitsleistung wäre intentional auf Sinneseindrücke gerichtet, die den mit den Sinnen jeweiligen Raumerfahrungen in ihrem unspezifischen Atmosphärencharakter vielleicht weniger gerecht würden, als sie es bisher, ohne so spezifisch ausgerichtete Aufmerksamkeit war. Die Stimmung des Feldes und jene geteilte Raumerfahrung zwischen Forscher_innen und Beforschten im Feld war bereits zuvor in den einzelnen Forschungen präsent, auch dann, wenn sie nicht intentional bedacht wurde. Die Konsequenzen eines solchen Vorgehens sollen anhand Elisabeth Strökers phänomenologischen Konzepts des gelebten Raumes veranschaulicht werden. Ihr Konzept soll in weiterer Folge dazu dienen, die spezifische Gestimmtheit – anhand eines Beispiels aus dem Arbeitsalltag verbunden mit einem wenig positiven Raumempfinden einer meiner Gesprächspartner – zu beleuchten.

G ESTIMMTER R AUM , AKTIONSRAUM ANSCHAUUNGSRAUM

UND

In ihrem 1965 erschienen Werk einer Phänomenologie des gelebten Raumes unterteilt Elisabeth Ströker jenen in einen ›gestimmten Raum‹ einen ›Aktionsraum‹ und einen ›Anschauungsraum‹.8 Der gestimmte Raum ist für sie verbunden mit der Schwierigkeit, diesen zu erfassen. Dieser Raum »steht […] diesseits der Bestimmung von Zahl und Quantität, hat […] seine eigentliche Charakteristik darin, Qualität, Ausdrucksfülle zu sein.«9 Diese Raumerfahrung geht mit einem ›Atmosphärischen‹10 einher, das jegliche begriffliche Fixierun-

7

Der Begriff ›Körper_Leib‹ nimmt Bezug auf die Erläuterungen in der Einleitung dieses Bandes, deren zufolge ein Markieren der graphischen Lücke eine Betonung der Zwischenräume von historisch erwachsener Schrift, Wort und Bedeutung des Phänomens Körper_Leib erreichen möchte.

8

Vgl. Ströker, Phänomenologie des gelebten Raumes.

9

Ebd., 223.

10 Susanne Hauser bemerkt in diesem Zusammenhang, dass in der »Charakterisierung des gestimmten Raumes auf spätere Auffassungen von Atmosphären« bereits verwiesen ist. Hauser, Körper, Leib und Raum, 196.

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gen von Oppositionellem, wie einer Subjekt-versus-Objekt- bzw. Innen-versusAußen-Gegenüberstellung verweigert. Der ›gestimmte Raum‹ ist, so die Philosophin, von einer »ursprünglichen, nichthintergehbaren Verbundenheit von Leibsubjekt und Raum«11 charakterisiert. Der Zugang zu ihm erfolgt über seine Fülle an Sinn und Bedeutung für das gestimmte phänomenologische Wesen, welches keine fixierbare Stelle im Raum einnimmt. Dieser gelebte Raum kann demnach nicht Gegenstand rationalen Erkennens werden, da er in der dichotomen Vorstellung eines Erkennens von Objekten oder Subjekten, die als äußerlich konzipiert sind, bereits mit dem Subjekt verschmolzen ist. Im Unterschied zu Maurice Merleau-Pontys Raumkonzeption, welcher von einem leiblichen Weltbezug ausgeht, ist Elisabeth Strökers Vorschlag jener, dass sie dem atmosphärischen Erleben ihres gestimmten Raumes noch zwei weitere Konzeptionen eines gelebten Raumes zur Seite stellt. Im ›Aktionsraum‹ stellt Elisabeth Ströker ein weiteres Raumerleben vor, das vor allem die Richtungsweisung der Handlungen betont. »Dem Richtungsbegriff sind allgemein zwei Bestimmungen eigentümlich. Richtung setzt zunächst unterscheidbare Gebiete voraus, fixierbare Orte, Stellen, ein Hier und Dort; […] Ferner schließt sie die Möglichkeit der Bewegung ein«12. In Letzterem ist damit eine gerichtete, orientierte Bewegung gemeint, welche Bezugspunkte benötigt. Für dieses Konzept eignet sich ein Leibsubjekt, welches als »Ausgangspunkt zielgerichteter Tätigkeiten, als Einheit der Sinne […] Bezugspunkt der sinnlichen Anschauung«13 ist. Während die reine Anschauung den dritten gelebten Raum konstituiert, betont der Aktionsraum, dass ein Leibsubjekt nicht nur Bezugspunkt, sondern auch Ausgangspunkt der Handlung ist. Die Unterscheidung eines Hier und Dort im Aktionsraum zeigt seine wesentlich inhomogene Charakteristik. Hier und Dort sind nicht gleichwertig, denn das Hier bildet das Zentrum der Handlung. »Diese Bestimmtheit gehört ihm konstitutiv zu; sie kann nicht aufgehoben werden, ohne daß der Aktionsraum – ohne daß das handelnde Subjekt selbst vernichtet würde.«14 Der ›Anschauungsraum‹ wiederum ist jenes Raumerfahren, welches ebenso ein Leibsubjekt als Bezugspunkt hat, jedoch die permanent bewegende Handlung, zum Stillstand bringt. In diesem Raumerfahren herrscht

11 Ströker, Phänomenologie des gelebten Raumes, 223. 12 Ebd., 228. 13 Ebd. 14 Ebd., 233.

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»die pure Wahrnehmung [...] in ihr erstarrt das Verfügbare des beweglichen Umgangs zum ruhenden, isolierten Objekt. Seiner Verfügbarkeitseigenschaften beraubt, wird es seiner funktionalen Zusammenhänge entrissen, der Entwurf wird durchkreuzt, der Aktionsraum sinkt zusammen. In Sicht tritt der reine Anschauungsraum. – «15

Mit dieser Unterscheidung von Raumerleben sind Aspekte benannt, welche versuchen, die Vielfältigkeit von menschlichen Raumerfahrungen und Raumgestaltungen zu beschreiben. Das Transparentmachen wandelt dabei immer an der Grenze des Schon-Sichtbaren und Erst-Sichtbar-Werdens und erzeugt weitere Dichotomien, welche, wie Susanne Hauser ausführt, seit den 1960erJahren für ein Drittes zwischen Zweien oder für ein Nicht-Identisches plädieren lässt und damit eine Philosophie der Unschärfe favorisiert.16 Ein intentionaler Gebrauch der Sinne in kulturwissenschaftlichen Forschungen stellt somit den Körper_Leib im Alltag als Bezugspunkt eines sozialen Aktionsraumes her, der im Gegensatz zum gestimmten Raum weniger das Erleben von Qualität und von Ausdrucksfülle fokussiert, als vielmehr die Messbarkeit, Richtung und Orientierung in den Vordergrund rückt. Aber sind die Forschungsfelder so unübersichtlich geworden, dass sie heute nach einer Orientierung und Messbarkeit gestimmter Räume verlangen? Ist nicht die Einbindung der Forderung einer Reflexion der Sinne in der Feldforschung bzw. die Erforschung und Offenlegung der bisher implizit gebliebenen Sinneseindrücke vielmehr eine Reaktion auf soziokulturelle Verhältnisse des Raumerlebens? Sind womöglich sozioökonomische Prozesse einer stärker wahrnehmbaren Funktionalität im Alltag Grundlage dieser erneuten wissenschaftlichen Befragung von Wahrnehmung und Körper_Leibern?

M AGNETISCHE Z ENTRIK Im Alltag begegnen uns Menschen, deren Körper_Leiber Zentrum ihrer gerichteten Handlungen sind. Das Subjekt konstituiert sich im Alltag als Zentrum, als ›Ich‹ in seinem Aktionsraum, das sein jeweiliges Gegenüber – ob Mensch, Tier oder Ding – wahrnimmt. Es vermeint Kontrolle über den eigenen Körper zu haben, steht einmal mehr, dann wieder weniger im Dialog mit seinem Sein als

15 Ströker, Phänomenologie des gelebten Raumes, 232. 16 Vgl. Hauser, Transparenzen.

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Leib17 und versucht seine Handlungen bestmöglich (ein) zu setzen. An die alltägliche Wahrnehmung seiner es umgebenden Welt wurden innerhalb der letzten 25 Jahre allerdings neue Anforderungen gestellt. Technische Errungenschaften, wie Streckenverkürzungen durch Eisenbahn oder Flugzeug bzw. Internet18, erlauben einen insgesamt schnelleren sozialen Austausch. Ein Gefühl von Stress, auch wider besseren Wissens, dass nämlich Lebensqualität und Beschleunigung nur schwer vereinbar wären, gesellt sich im Alltag immer wieder gern hinzu. Konsequenterweise beginnen solche zentrierten Körper_Leiber dann zu hetzen; sie fuchteln und zetern mit ihren Gliedmaßen unkoordiniert herum, laufen von einem Punkt zum nächsten und werden immer griesgrämiger im Bearbeiten einer Anfrage nach der anderen. Ein Anderer oder ein Anderes, das plötzlich aufhört Dort – und damit überschaubar und auf Distanz – zu sein, will gehört, gesehen und/oder berührt werden. Diesem Dort des Aktionsraums geht langsam, aber immer häufiger, der Zwischenraum zum Zentrum verloren. Wie ein Magnet ist der/die/das Andere plötzlich da, ist Hier, klebt förmlich am eigenen Körper_Leib und damit am Zentrum des Aktionsraumes und hört solange nicht mehr auf präsent zu sein, bis es/sie/er ihre oder seine volle Aufmerksamkeit erhält. Meine Gesprächspartner_innen arbeiten beide mit Menschen, deren Wünsche und Anfragen sie entgegennehmen und bearbeiten. Sie befinden sich dabei fast immer in einer Face-to-face-Situation. Im Bereich des Kundenservice tätig, gehört es zu ihren Aufgaben, ihren Kund_innen so gut als möglich zu helfen und diese zufrieden zu stellen.19 In ihrer Arbeit begegnet ihnen deshalb ein breites Spektrum menschlicher Gestimmtheiten. Klagen, Unzufriedenheit, Wünsche, Ungeduld, Misstrauen oder Neugier bestimmen den Alltag ihres Arbeitslebens mit. Die Interaktionen, in denen sich meine Gesprächs-

17 Diese Differenzierung von Körper und Leib nimmt auf die philosophische Diskussion eines Körper-Habens und Leib-Seins Bezug. Vgl. hierzu Lindemann, Verkörperung des Sozialen. 18 Vgl. hierzu Wolfgang Schivelbuschs Ausführungen zu Eisenbahnraum und Eisenbahnzeit von 1977, der den Verlust des Zwischenraums durch zeitliche Streckenverkürzung als mächtige Verflüchtigung im Zuge einer impressionistischen Bewegung sieht, sowie Paul Virilios Konzeption einer Dromologie, einer Theorie, welche jeweilige Beschleunigungsrevolutionen berücksichtigt und schließlich in einen ›rasenden Stillstand‹ überführt. Vgl. Morisch, Virilio: Geschwindigkeit ist Macht. 19 Die folgenden Interviewausschnitte entstanden im Rahmen meines Dissertationsprojekts, das sich mit tibetisch-buddhistischer Meditationserfahrung beschäftigt und ein Sich-Zeit-Nehmen als temporäre Aus-Zeit aus dem gesellschaftlichen Spiel konzipiert.

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partner_innen mit den Kund_innen befinden, sind zudem meist auf eine kurze Zeitspanne begrenzt. Die Kund_innen tragen ihr Anliegen vor, in der Hoffnung, dass sie die Situation auch bald wieder verlassen können. Das ergibt schließlich einen Punkt weniger auf gedachten oder gemachten To-Do-Listen; für Beratung dagegen bleibt von beiden Seiten oftmals kaum Zeit. Dies frustriert sowohl meine Gesprächspartner_innen wie deren Kund_innen, da der Begegnungsraum auf ein Minimum reduziert ist und der Aktionsraum zeitlich so funktionalisiert ist, dass kaum noch Aufmerksamkeit für gestimmte Räume oder, wie Gernot Böhme später definieren wird, für das Wahrnehmen von Atmosphären übrig bleibt. Ein funktionales Raumerleben, das eine Streckenverkürzung und Optimierung jeglicher HandlungsSpielräume zur Basis nimmt, verdichtet in erster Linie und lässt zusehends das Gefühl von Handlungsfreiheit verschwinden. Zugleich steigt die Annahme eines Zentrums, eines ›Ichs‹, ohne dessen distribuierende und organisierende, weil ständig orientierende und Platz zuweisende, Tätigkeit die ganze Welt zusammenbrechen würde. Dies führt unweigerlich zu einem neuen Raumerleben. Scheinbar alles, strömt auf eine_n ein, versucht eine_n zu erdrücken oder zu überfluten. Ein Gesprächspartner empfand es als überaus belastend, diesen Gefühlen ausgesetzt zu sein. Weit davon entfernt, das Empfinden als Burnout zu bezeichnen, was ihm auch sehr wichtig schien, begab er sich in psychotherapeutische und medikamentöse Behandlung, die ihm half seinen Handlungsspielraum wieder zurückzugewinnen. Was aber war passiert? Nichts Außergewöhnliches würde man meinen, lediglich die Konfrontation eines Arbeitsalltags, der gekoppelt war mit zunehmender Verantwortungsübertragung, die ein ›Einwohnen in die Welt‹ mit sich bringen konnte. Konkret war er zum damaligen Zeitpunkt dabei für sich und seine Partnerin ein Haus zu bauen, mit ihr sogenannte langfristige Entscheidungen zu treffen und zudem dem väterlichen Wunsch nachgekommen, das aufgebaute Familienunternehmen zu übernehmen. Diese Belastungen hatten zur Folge, dass er Nächte wach lag und – obwohl hundemüde – das Gefühl eines Dort seiner ›Umgebung‹ nicht mehr erreichte. Langsam griff dieses Raumerleben seine Substanz an, er verlor Gewicht, die Wangen wurden fahl und er war zunehmend abgespannt, so sehr machte ihm seine Welt zu schaffen. Begleitend zu seiner medikamentösen und therapeutischen Behandlung übte er sich nachts, wenn er nicht schlafen konnte darin, seinen Körper_Leib, der permanent unter Spannung stand, zu entlasten. Mithilfe diverser Entspannungstechniken wie progressiver Muskelentspannung nach Jacobson, Nachtspaziergängen und Autogenem Training versuchte er so, seinen Körper_Leib wieder an eine Gestimmtheit zu gewöhnen, welche ihn aus dem Zentrum holte und die Dinge wieder auf Distanz brachte. Zum Zeitpunkt

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unseres Gesprächs kämpfte er nach wie vor um einen tiefen, lang anhaltenden Schlaf, selbst wenn er bereits viele Fortschritte gemacht hatte. Er drückte sein damaliges Erleben wie folgt aus: »I try to reduce stress and restlessness, and to find back into my own me, if I lost it. This works, when there is enough time. If it was a heavy day, and over seven to eight hours stress was set up, then I am not good enough to cope with it easily. It depends on the disruption, which comes into my life«20

Mit den im Zitat angesprochenen Brüchen meinte er vor allem unerwartete Ereignisse, die gerade im Zuge eines Hausbaus immer wieder auftreten können. Einmal fallen angekündigte Bauarbeiter aus, ein andermal treten bei Grabungen Probleme auf, die ein kalkuliertes und vielleicht lange durchdachtes Vorgehen zunichte machten. Deutlich wird aus der obigen Gesprächssequenz auch, dass hier das Gefühl eines vertrauten Ichs abhanden gekommenen zu sein scheint. Ein fremdes Ich hat Besitz von der Person ergriffen, nicht jedoch im Sinne von Besessenheit, vielmehr als magnetische Zentrierung verstanden, welche durch permanentes Funktionieren im Aktionsraum, durch andauernde Bewegung und Anspannung, einem gestimmten Raum und damit einer De-Zentrierung keinen Platz mehr zugesteht. Der Körper_Leib als Bezugspunkt und Ausgangspunkt von Handlungen wird zentral, wohingegen die Qualität von Raumerfahrungen und ihre Ausdrucksfülle, welche im Sinne des gestimmten Raumes einwohnt und nicht mehr unterscheidet, temporär verloren scheint. Zum alltäglichen Wohlbefinden scheint es jedoch ebenso zu gehören, dieses gestimmte Raumerleben einnehmen zu können, zumindest zwischen gestimmtem Raumerfahren, Aktionsraum oder purer Anschauung in Ruhe wählen zu können. Der anschließende Abschnitt versucht nun die Methoden, mit denen das Gefühl von Handlungsmacht wiedergewonnen werden kann, unter die Lupe zu nehmen. Wie kommt man dazu, einem funktionalen Aktionsraum zu entfliehen?

V ERZAUBERUNGEN – E XZENTRIK

DER

ANSCHAUUNG

Mittel zu einer Wiederverzauberung des Alltags und damit zu einer Rückgewinnung eines erweiterten Handlungsspielraumes sind meinen Gesprächspartner_innen Entspannungstechniken wie Autogenes Training, die bereits

20 Interview mit Thomas und Sandrine vom 16.01.2011; die Namen der Gesprächspartner_innen wurden durchwegs geändert.

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erwähnte Muskelentspannung oder Meditationsanweisungen, welche sie als Akteur_innen ihres Aktionsraumes in Ruhe und Bewegungslosigkeit versetzen. Dadurch üben sie sich und ihre Körper_Leiber in purer Wahrnehmung und in einer beobachtenden Haltung ein. Das Eintreten in diesen Erfahrungsraum beschreibt Thomas wie folgt: »[...] it is a retreat from the reality of the surrounding world, the universe gets smaller and shifts into me. I even lose the perception of my limbs, arms and legs. Therefore it is a shift into a spiritual level. (…) it does not feel unpleasant.«21

Durch das Eintreten in dieses Raumerleben erfährt Thomas eine Spannungsauflösung, welche den anstrengenden Tag vergessen lässt. Die damit einhergehende Entgrenzungserfahrung wird als angenehm empfunden und scheint in zunehmendem Maße die Entlastung von körper_leiblicher Anspannung zu fördern. Dieser Anspannungsverlust geht mit einer Reduktion und einem Kleiner-Werden des bedachten und gelebten Raumes einher. Ein Rückzug auf sich selbst, auf eine pure Anschauung in Ruhe vermag schließlich, sich selbst zu übersteigen und sich im Erleben zu ›transzendieren‹. Dem Gefühl einer funktionalen Beziehung des Körper_Leibs auf Anderes im Alltag folgt der Verlust dieser körper_leiblichen Wahrnehmung, der einen Übergang und seine ihm innewohnende Kraft bewusst macht, und damit Veränderung auch in der Wahrnehmung erst ermöglicht. Bei regelmäßiger Praxis, erzählt mir mein Gesprächspartner weiter, gelingt ihm zudem eine gewisse Stabilität dieses Erlebens einer Anschauung. Konsequenterweise beschreibt er sein Wahrnehmen in der Arbeitssituation wie folgt: »[...] my surrounding does not bring me on tempo anymore. Having stress, I am functioning too fast. I work at my own tempo, not in the tempo, that the surrounding forces me to do.«22

Die Exzentrische Kraft vermag ein Erleben von A-Funktionalität, von Zwischenraum und Anschauung, ohne Zweckbestimmung und Ziel zu erreichen – ein Raumzeiterleben, das vielen im Alltag immer mehr verwehrt zu sein scheint. Die Betonung intentionalen Wahrnehmens, Denkens und Handelns mag ökonomischen Interessen einer gesellschaftlichen Lebenszeitgestaltung zwar entspre-

21 Interview mit Thomas und Sandrine vom 16.01.2011. 22 Ebd.

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chen, verweist aber auch auf ein Verlieren gelebter Raumerfahrungen, welchen Qualität und Sinn-Fülle zugeschrieben werden kann. Zudem betont Christa Kamleithner die historische Veränderlichkeit sinnlichen Wahrnehmens, welche immer auch durch Veränderungen von Nähe- und Distanzverhältnissen mitbestimmt werden.23 Im verlorenen Handlungsspielraum drückt sich nunmehr vor allem eine Polarisierung aus, welche ein Außen, ein Anderes konstituiert, das wiederum ein Selbst zwingt, etwas zu tun. Verdichtete Handlungsspielräume erzeugen bei Überlastung damit unweigerlich Aggressionen gegenüber der Mitwelt. Die begrenzten Aufmerksamkeitsressourcen müssen im Fall meines Gesprächspartners neu bedacht werden. Der Sog, den die Gestimmtheiten seiner Mitwelt entfaltet, lässt ihn nur zu leicht vergessen, dass auch er über Wahlmöglichkeiten des Raumerfahrens verfügt. Diese Wahlmöglichkeiten sieht Pierre Bourdieu jedoch stets begrenzt. In seiner Konstitution eines sozialen Raumes, löst er sich zwar ebenso von einem topologischen Raum, wie es Elisabeth Ströker in Anlehnung an phänomenologische Raumkonzeptionen tut, dennoch ist sein Raum durchaus physischer und statischer gedacht. Die jeweiligen Kapitalsorten und Kämpfe um Deutungsmacht, Ansehen und Einfluss verhelfen den Akteur_innen zu ihren sozialen Positionierungen im Raum. Das Feld der Macht ist demnach stets mit dem Raum verwoben.24 Es ist der Raum »der Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Kapitalsorten oder, genauer gesagt, zwischen Akteuren, die in ausreichendem Maße mit einer der verschiedenen Kapitalsorten versehen sind, um gegebenenfalls das entsprechende Feld beherrschen zu können, und deren Kämpfe immer dann an Intensität zunehmen, [...] wenn das im Feld bestehende Gleichgewicht zwischen jenen Instanzen bedroht ist, deren spezifische Aufgabe die Reproduktion des Feldes der Macht ist.«25

Die Herrschaftswirkung ist darin stets in ein komplexes Netz von überkreuzenden Zwängen verwoben, in welchem sich Akteur_innen im gesellschaftlichen Spiel befinden. Eine phänomenologische exzentrische Kraft der Anschauung und des Verschmelzens bzw. des Einwohnens scheint dennoch bezüglich (mentaler) Überlastungsgefühle eine wichtige Wirkung entfalten zu können. Wahrnehmungen einer auf Kalkül, Interesse und Schnelligkeit ausgerichteten Alltagsgestaltung dagegen erzeugen langfristige vertragliche Bindun-

23 Vgl. Kamleithner, Geschichte der Sinne, 136f. 24 Vgl. Bourdieu, Sozialer Raum, Symbolischer Raum, 362f. 25 Bourdieu, Sozialer Raum und Macht, 51.

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gen und Abhängigkeiten, die einerseits eine Kultur des Subjekts stabilisieren, andererseits jedoch die Maschen der Macht enger ziehen. Wie wohl dies keine Lösung gesellschaftlicher Problemlagen darstellt, helfen Entspannungstechniken, die eine Transzendenz des Subjekts forcieren bzw. die Einstimmung auf Verschmelzungsräume, in denen auch kulturell Unbewusstes oder nicht mehr Bewusstes gelebt werden kann, einer funktionalen Lebenszeitgestaltung zu entrinnen. Läuft uns etwa die Zeit für dieses Andere davon? Oder handelt es sich bei diesen Grenzverschiebungen um ein Immer-weiter-weg-Drängen von Einwohnungs- und Verschmelzungssituationen? Worin liegt schließlich der Reiz im Darstellen und Zeigen eines aufklärerischen Paradigmas? Der letzte Abschnitt hebt deshalb die Raumerfahrungen des Alltags noch einmal auf eine Metaebene, um einerseits die Forderung einer Ethnographie der Sinne mit Blick auf ein wissenschaftliches Erkenntnisparadigma zu hinterfragen sowie die räumlichen Grenzverschiebungen, welche sich in dieser Forderung ergeben, zu beleuchten.

M ACHTVOLLES Z EIGEN Wie Mario Erdheim in seinem Artikel Die Wissenschaft, das Irrationale und die Aggression beschreibt, lassen sich auch innerhalb der Wissenschaft Tendenzen ausmachen, die an den Grenzverschiebungen hinsichtlich dessen, was als irrational, fremd oder als anders angesehen wird, mitwirken. Nietzsche zitierend, dass bereits in jedem Erkennen-Wollen ein Tropfen Grausamkeit, in jedem Tiefund Gründlich-Nehmen Gewalt herrsche, spricht Erdheim von der totalen Gewalt im wissenschaftlichen Feld, der man sich unterwirft, um mit Objektivierungen, Kategorisierungen oder Distanzierungen Erkenntnis zu erlangen.26 Im Zusammenspiel der vier von ihm ausgemachten Tendenzen entstünde so das Irrationale, als wissenschaftliches Aushandeln von (noch) Unerklärbarem und Unerkanntem. Die entfremdende Tendenz gehe mit Herrschaftsansprüchen und der Legitimation von Gewaltausübung einer Gruppe über die andere einher, während eine verwertende Tendenz vor allem die Instrumentalisierung der Vernunft zum Ziel habe, welche weiterhin eine Natur beherrschen helfe und als Produkt eine Spaltung von Denken und Fühlen, Geist und Körper bzw. vom Objektivitätsbegriff der Wissenschaft bewirke.27 Als dritte Tendenz hebt Erdheim eine idealisierende Tendenz hervor, die besonders den ›subjektiven Faktor‹, der in

26 Vgl. Erdheim, Wissenschaft, 509f. 27 Ebd.

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den bisherigen Tendenzen ausgeschlossen wurde, idealisiert und in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Sozusagen als Feindseligkeit gegenüber der eigenen Verstandesleistung sei diese Tendenz oft begleitet von einem elitären Gehabe und Geheimniskrämerei. Die verstehende Tendenz jedoch sei schließlich dazu in der Lage, eine Brücke zur Fremd- und Andersartigkeit zu schlagen, die jegliche Form der Gewalt ausschließe. Subjektivität sei nicht idealisiert, vielmehr zeichne sie sich durch praktische Alltäglichkeit aus.28 Diesen vier Tendenzen sei jedoch gemein, dass sie hinsichtlich der Aggression als einer Wurzel des Irrationalen, keine zufriedenstellende Lösung anbieten können. Während Aggression in der ersten abgespalten und in der zweiten Tendenz verharmlost würde, da selbst dort noch ihre Nützlichkeit zu entdecken versucht würde, mythologisiere die dritte nicht selten und entrücke damit aus dem Alltäglichen. Erdheim kommt zum Schluss, dass auch die verstehende Tendenz der Wissenschaft hier an ihre Grenzen stößt; er plädiert für ein Überschreiten und Hineinwagen in die Aggression, um schließlich Verständnis zu bewirken.29 Welches Irrationale wird schließlich im Zugang einer Ethnographie der Sinne erzeugt? Handelt es sich um Erdheims dritte idealisierende Tendenz einer Subjektivierung, welche ihre Aggression und Enttäuschung vor allem als Feindseligkeit gegen die eigene Verstandesleistung sichtbar macht? Wohin verlaufen sich die neu gefundenen und diskursiv hergestellten Normalitätsdiskurse einer empirischen Kulturwissenschaft, welche die Zentrik eines Körper_Leibs forciert oder die Erforschung von Atmosphären zum Forschungsgegenstand erhebt? Sind es nicht vielmehr Fragen der Neuverhandlung von Objektivität und Subjektivität, die sich auch hinsichtlich einer interdisziplinären Wahrnehmungsforschung aufdrängen? Fragen von Ressourcenverteilung, wie sie stets in das körper_leibliche Erleben hinein verlagert, in Zusammenhang mit Fragen nach sozialer Zeitgestaltung und gesellschaftlicher Spielgestaltung einhergehen? Sinnliches Erleben in Forschungssituationen birgt Risiken mit sich. Nicht nur sind sinnliche Eindrücke nur schwierig intersubjektiv nachvollziehbar, sie sind zudem starker Veränderlichkeit unterworfen. Je nach Gestimmtheit erscheint einem einmal die Situation als angenehm, dann wieder als unangenehm oder gar neutral. Durch diese Charakteristik können sinnliche Impressionen des Feldes machtvolle Wegweiser im Forschungsprozess werden, sie bleiben jedoch stets auf einen Körper_Leib zentriert und verfestigen dadurch zunehmend einen funk-

28 Vgl. Erdheim, Wissenschaft, 509f. 29 Vgl. ebd., 512f.

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tionellen Aktionsraum. Nimmt jener gegenüber dem Anschauungsraum oder dem gestimmten Raum jedoch einen zu großen Erfahrungsraum ein, verführt eine permanente Ungleichheit im relationalen Verhältnis von Mensch und seiner Umgebung dazu, Hierarchien zu reproduzieren, welche in eine höchst unangenehme Zentrik verfallen lassen kann. Das machtvolle Zeigen von Feldforschungsatmosphären und dem Erleben von gestimmten Räumen gilt es demnach, wohl zu überlegen, da ihnen im Anspruch diese transparent zu machen, nicht nur ein sogenannter objektivierender Zugang zugrunde liegt, dem durch eine programmatische Ethnographie der Sinne ja zu entkommen gelegen war, sondern auch sichtbar wird, was bisher unbegreiflich bleiben durfte. Im Unerkannten liegt letztlich das Glück der Unverfügbarkeit. Eine weitere wissenschaftliche Grenzverschiebung von Raumerfahrungen in Richtung eines orientierenden, funktionalisierenden Aktionsraumes, welcher Sinnesdaten vergleicht, abwägt und hinsichtlich der Situation reflektiert, schreibt fest, zeigt bisher Implizites und de-legitimiert schließlich das Erleben eines Anschauungsraums bzw. eines gestimmten Raums. Die Erforschung einer totalen Materialität hat jedoch bisher immer wieder auch zu neuen Unschärfen geführt.

L ITERATUR Baumann, Zygmunt (2000): Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2006 [1989]): Sozialer Raum, symbolischer Raum, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 354–368. Bourdieu, Pierre (1998): Symbolischer Raum und Feld der Macht, in: ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 48–52. Erdheim, Mario (1981): Die Wissenschaft, das Irrationale und die Aggression, in: Hans Peter Duerr (Hrsg.) Der Wissenschaftler und das Irrationale. Bd.1. Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, Frankfurt am Main: Syndikat, 505–517. Hauser, Susanne (2003): Transparenzen. Ein Essay, in: Johanna Rolshoven (Hrsg.): Hexen, Wiedergänger, Sans-Papiers. Kulturtheoretische Reflexionen zu den Rändern des sozialen Raumes, Marburg: Jonas Verlag, 143–156. Hauser, Susanne (2011): Architekturwissen – Körper, Leib und Raum. Einführung, in: Susanne Hauser/Christa Kamleithner/Roland Meyer (Hrsg.):

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wissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd.1. Zur Ästhetik des sozialen Raumes, Bielefeld: Transcript, 223–235.

Autorinnen und Autoren

Arantes, Lydia Maria, studierte das Orchesterinstrument Oboe in Adelaide (Australien), Graz und Würzburg, sowie Kulturanthropologie in Graz. Sie arbeitet derzeit an ihrer Dissertation Verstrickungen. Kulturanthropologische Perspektiven auf das Stricken zwischen ästhetischer Wissenskultur und symbolischer Praxis (Arbeitstitel), welche u.a. von der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz mit einem Stipendium gefördert wurde. Bonz, Jochen, ist Assistent am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. Seine Interessensschwerpunkte sind die Kulturtheorie, die Pop- und Fankulturforschung, die sonische Ethnografie, die Ethnopsychoanalyse und die ethnografische Methode im Allgemeinen. Am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz bietet er eine Interpretationsgruppe für Feldforscher_innen (Deutungswerkstatt) an. Wichtigste Veröffentlichungen: Subjekte des Tracks (2008); Das Kulturelle (2011). Mehr unter: www.jochenbonz.de Egger, Simone, hat Europäische Ethnologie, Ethnologie und Kunstgeschichte studiert. Im Rahmen ihrer Magisterarbeit ist sie dem ›Phänomen Wiesntracht‹ nachgegangen. Seit 2007 ist Simone Egger am Institut für

Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig. Ihre Dissertation ist 2013 unter dem Titel München wird moderner. Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren erschienen. 2014 hat sie den Band Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden veröffentlicht. Eisch-Angus, Katharina, ist Professorin am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz, Österreich. In ihrer Beschäftigung mit dem Ethnographieren alltäglicher Nahwelten, der Kulturanthropologie von

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Grenze, Gedächtnis, Erfahrung und Erzählen sowie mit der künstlerischen Forschung setzt sie sich stets auch mit methodischen Fragen von Feldforschung, Ethnopsychoanalyse und Kultursemiotik auseinander. Gegenwärtig forscht und schreibt sie zur gouvernementalen Alltagskultur der Sicherheit schwerpunktmäßig in Großbritannien. Gebke, Julia, nach ihrem Studium der Geschichte und Romanistik an der RuhrUniversität Bochum und ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dorothea Nolde an der Universität Bremen arbeitet Julia Gebke zurzeit am Zentrum für Wissenschaftsgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz unter der Leitung von Prof. Simone De Angelis. Sie schreibt an ihrer Dissertation Unreines Blut? Eine Untersuchung der ›limpieza de sangre‹ aus körper- und medizingeschichtlicher Perspektive. Kleinmann, Sarah, Jg. 1981, ist Promotionsstipendiatin der Hans-BöcklerStiftung und forscht am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen zur musealen Repräsentation nationalsozialistischer Täterinnen und Täter. Kubes, Tanja Angela, hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Ethnologie, Soziologie, Psychologie und Interkulturelle Kommunikation studiert. Sie ist Stipendiatin und assoziierte Wissenschaftlerin der Nachwuchsforschungsgruppe Gender-Studies der Universität Vechta und lehrt an den Universitäten Vechta und München Soziologie und Ethnologie. Leder Mackley, Kerstin, is a Research Associate at the School of Social, Political and Geographical Sciences, Loughborough University, UK. Her research interests include domestic energy consumption, material culture, and the wider study of media and emerging technologies in everyday life. Panenka, Petra, hat Ethnologie sowie Religionswissenschaft und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studiert. Ihre Dissertation wird von Prof. Dr. Bettina Beer an der Universität Luzern betreut. Sie interessiert sich innerhalb der Ethnologie der Ernährung vor allem für die Koch- und Esspraktiken in Verbindung mit der Anthropologie der Sinne. Ihr regionaler Schwerpunkt ist Mesoamerika, wo sie gefördert durch die Stiftung für Archäologie und Ethnologie insgesamt 14 Monate forschte.

A UTORINNEN

UND

A UTOREN

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Pink, Sarah, is Professor of Design and Media Ethnography at RMIT University in Australia, and Professor of Applied Social and Cultural Analysis at Halmstad University in Sweden. Her research is interdisciplinary and includes a focus on digital media and technologies in everyday life, future-making and the relationship between ethnography and design. Her recent books include Situating Everyday Life (2012) and Advances in Visual Methodology (2012). Her book Doing Visual Ethnography was published in its 3rd edition in 2013, and the 2nd edition of her book Doing Sensory Ethnography will be published in 2015 Reimers, Inga, ist Kulturanthropologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Studiengang Kultur der Metropole an der HafenCity Universität Hamburg. Sie promoviert im Rahmen des Graduiertenkollegs Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und Performative Künste. Rieger, Elisa, hat Germanistik sowie Volkskunde und Kulturanthropologie in Graz und Turku/ǖbo studiert. Derzeit ist sie Stipendiatin der Geisteswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Graz. In ihrer Dissertation setzt sie sich mit dem Thema der ›Auszeit‹, insbesondere mit Leere-Erfahrungen am Beispiel buddhistischer Meditation im lokalen Raum Graz auseinander. Schlüter, Fritz, studierte Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und war an verschiedenen Forschungs- und Ausstellungsprojekten beteiligt, u.a. Sensing the Street. Eine Straße in Berlin (2005-2007), Listening. Die Stadt als Klanglandschaft (Hamburg 2010/11), BERLIN-ɆɂɇɋɄ. Unvergessene Lebensgeschichten (2011), KiezKulturNetz. Soundmap Soldiner Kiez (Berlin 2012–2014). Für die historisch-didaktische Materialsammlung Sound des Jahrhunderts (Berlin 2013) steuerte er zehn aktuelle Field Recordings bei. Schnädelbach, Sandra, ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 626 Ästhetik im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der FU Berlin. Ihr Dissertationsprojekt zum Thema Urteilsgefühl – Gefühlsurteil. Konzepte juristischer Rationalität und Emotionalität 1870–1933 (Arbeitstitel) ist zudem am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin (Bereich Geschichte der Gefühle) angesiedelt. Szogs, Nina, ist Projektmitarbeiterin im interdisziplinären EU-Projekt FREE – Football Research in an Enlarged Europe am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. In ihrem Dissertationsprojekt Migrating Football Fan Identities beschäftigt sie sich ethnographisch mit der Frage, wie sich der

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transnationale Fußballfanalltag von Galatasaray- und Fenerbahçe-Fans in Wien konstituiert und welche Bedeutungszuschreibungen das Fan-Sein in einem Mobilitäts- und Migrationskontext erhält. Tšerkassova, Polina, is anthropologist and musician based in Tallinn, Estonia. In 2013–2014 she did fieldwork in Turkey. Her research concentrates on the collaborative intimacy of sonic and kinetic spaces of Sufi whirling and music practices. She is working on sensory and sonic ethnographies. As a musician she created music for performances and is interested in rare or experimental instruments. Polina Tšerkassova is currently a PhD candidate and a lecturer in the department of Social and Cultural Anthropology in Tallinn University. Uhlig, Mirko, geb. 1981. Studium der Volkskunde, Ethnologie sowie Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (VSWG) an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (2001–2008); wissenschaftliches Volontariat in der Abteilung Volkskunde des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte Bonn (2008–2010); derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Fach Kulturanthropologie/ Volkskunde). Willkomm, Judith, studierte Europäische Ethnologie und Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit Oktober 2012 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg Locating Media an der Universität Siegen. In ihrem Promotionsprojekt untersucht sie die aufkommende Bedeutung von Medientechnologien in den Feldwissenschaften am Beispiel der Bioakustik. Mit ihrer interdisziplinären Studie verbindet sie praxistheoretische Ansätze mit ethnografischen Methoden und medienwissenschaftlichen Perspektiven. Willner, Sarah, hat in Tübingen Empirische Kulturwissenschaft und Amerikanistik studiert. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Living History. Reenacted Prehistory between Research and Popular Performance am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen.

Edition Kulturwissenschaft Regula Valérie Burri, Kerstin Evert, Sibylle Peters, Esther Pilkington, Gesa Ziemer (Hg.) Versammlung und Teilhabe Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste Mai 2014, 344 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2681-0

Rainer Guldin Politische Landschaften Zum Verhältnis von Raum und nationaler Identität Oktober 2014, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2818-0

Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven Januar 2015, ca. 360 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Kulturwissenschaft Inga Klein, Sonja Windmüller (Hg.) Kultur der Ökonomie Zur Materialität und Performanz des Wirtschaftlichen September 2014, 308 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2460-1

Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Februar 2015, ca. 190 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2200-3

Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8

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Edition Kulturwissenschaft Michael Bachmann, Asta Vonderau (Hg.) Europa – Spiel ohne Grenzen? Zur künstlerischen und kulturellen Praxis eines politischen Projekts März 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2737-4

Brage Bei der Wieden Mensch und Schwan Kulturhistorische Perspektiven zur Wahrnehmung von Tieren September 2014, 332 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2877-7

Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Februar 2015, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0

Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne 2013, 370 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1835-8

Christian Grüny, Matteo Nanni (Hg.) Rhythmus – Balance – Metrum Formen raumzeitlicher Organisation in den Künsten Oktober 2014, 214 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2546-2

Elisabeth Gülich, Gabriele Lucius-Hoene, Stefan Pfänder, Elke Schumann (Hg.) Wiedererzählen Formen und Funktionen einer kulturellen Praxis Mai 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2851-7

Nikolas Immer, Mareen van Marwyck (Hg.) Ästhetischer Heroismus Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden 2013, 462 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2253-9

Yuichi Kimura, Thomas Pekar (Hg.) Kulturkontakte Szenen und Modelle in japanisch-deutschen Kontexten Januar 2015, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2739-8

Alfrun Kliems Der Underground, die Wende und die Stadt Poetiken des Urbanen in Ostmitteleuropa Dezember 2014, ca. 372 Seiten, kart., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2574-5

Eva Kreissl (Hg.) Kulturtechnik Aberglaube Zwischen Aufklärung und Spiritualität. Strategien zur Rationalisierung des Zufalls 2013, 584 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2110-5

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