Ethnographie nach der »Krise der Repräsentation«: Versuche in Anlehnung an Paul Rabinow und Bruno Latour. Skizzen einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen [1. Aufl.] 9783839417270

Die Debatte um die »Krise der Repräsentation« hat in der Sozialforschung deutliche Spuren hinterlassen. In der Reflexion

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Ethnographie nach der »Krise der Repräsentation«: Versuche in Anlehnung an Paul Rabinow und Bruno Latour. Skizzen einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen [1. Aufl.]
 9783839417270

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Zur Geschichte und Anlage der Untersuchung
Hypermedial ethnographieren
Krise der Repräsentation
Anleihen bei Bruno Latour und Paul Rabinow
Eine dichte Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie
Ausrufung einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen
Ethnographie und die Krise der Repräsentation
Ethnographie als Methode
Wissenschaft und Narration
Writing Culture Critique
Experimentelle Ethnographien
Beyond Writing Culture
Ethnographie „nach der Krise“
Hypermedial ethnographieren
Ethnographie jenseits der Krise. Zum begrifflichen Instrumentarium von Paul Rabinow und Bruno Latour
Werk
Paul Rabinow – Die Moderne und das Zeitgenössische
Wie man Menschen studiert
Normen und Formen
Die Fabrikation der Zukunft
Bruno Latour – Philosophie ethnographisch
„First of all a philosopher”
Regimes of Enunciation
Fallgruben historischer Analyse und die Geschichtlichkeit der Dinge
Die Dezentrierung des Menschen – Akteure und Aktanten
Übersetzungen und Netzwerke
Technische Projekte
Nie modern gewesen
Riskante Objekte
Experimentelle Metaphysik
Das Ding und die Kritik
Werkzeuge
Gegenstände, Geschichte und Gegenwart
Formen und Ereignisse
Exkurs: Geschichte – Archäologie und Genealogie bei Foucault
Archäologie
Genealogie
Das Zeitgenössische
Problematisierungen
Assemblage
Indeterministische Geschichte
Haltungen und Handlungen – Nominalistische Sensibilität
Modus der Sezession
Daedalia und Design
Agency
Propositionen und Artikulationen
Methode: Meditation und Myopie
Hypermediale Ethnographie
Anfangen
Versammeln
Formen
Übersetzen
Verhandeln
Black boxing
Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen
Die dreifache Berücksichtigung der Frage der Repräsentation
Zur Darstellung eines „Neuen Mediums“ als sozio-technische Relation
Agnostizismus und religiöse Vergegenwärtigung
Zum Existenzmodus pädagogisch-didaktischen Wissens
Anthropologie und die Leere der verschwundenen Kultur
Regeln und Prozesse
Pädagogische Anthropologie nach dem ‚Tode des Menschen‘
Literaturverzeichnis

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Claudia Lemke Ethnographie nach der »Krise der Repräsentation«

Pädagogik

Claudia Lemke (Dr.) ist Anthropologin, Erziehungswissenschaftlerin und Lehrerin an der Albert-Schweitzer-Schule in Hamburg. Ihr Interesse gilt dem Versuch, pädagogische Anthropologie zeitgenössisch zu fassen und zu einem Neuentwurf humanistischer Bildung in Theorie und Praxis beizutragen.

Claudia Lemke

Ethnographie nach der »Krise der Repräsentation« Versuche in Anlehnung an Paul Rabinow und Bruno Latour. Skizzen einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Claudia Lemke Satz: Dietrich Lemke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1727-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 9 Zur Geschichte und Anlage der Untersuchung | 9 Hypermedial ethnographieren | 10 Krise der Repräsentation | 12 Anleihen bei Bruno Latour und Paul Rabinow | 16 Eine dichte Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie | 21 Ausrufung einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen | 24

Ethnographie und die Krise der Repräsentation |

33

Ethnographie als Methode | 33 Wissenschaft und Narration | 36 Writing Culture Critique | 45 Experimentelle Ethnographien | 49 Beyond Writing Culture | 54 Ethnographie „nach der Krise“ | 58 Hypermedial ethnographieren | 70

Ethnographie jenseits der Krise |

79

Zum begrifflichen Instrumentarium von Paul Rabinow und Bruno Latour Werk | 81 Paul Rabinow – Die Moderne und das Zeitgenössische | 81 Wie man Menschen studiert | 83 Normen und Formen | 85 Die Fabrikation der Zukunft | 87 Bruno Latour – Philosophie ethnographisch | 88

„First of all a philosopher” | 92 Regimes of Enunciation | 94 Fallgruben historischer Analyse und die Geschichtlichkeit der Dinge | 96 Die Dezentrierung des Menschen – Akteure und Aktanten | 99 Übersetzungen und Netzwerke | 103 Technische Projekte | 109 Nie modern gewesen | 111 Riskante Objekte | 114 Experimentelle Metaphysik | 117 Das Ding und die Kritik | 118

Werkzeuge | 122 Gegenstände, Geschichte und Gegenwart | 122 Formen und Ereignisse | 125 Exkurs: Geschichte – Archäologie und Genealogie bei Foucault | 128 Archäologie | 128 Genealogie | 131

Das Zeitgenössische | 136 Problematisierungen | 138 Assemblage | 142 Indeterministische Geschichte | 148 Haltungen und Handlungen – Nominalistische Sensibilität | 150 Modus der Sezession | 154 Daedalia und Design | 156 Agency | 160 Propositionen und Artikulationen | 163 Methode: Meditation und Myopie | 165

Hypermediale Ethnographie |

181

Anfangen | 183 Versammeln | 190 Formen | 197 Übersetzen | 207 Verhandeln | 217 Black boxing | 223

Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen | 233 Die dreifache Berücksichtigung der Frage der Repräsentation | 234 Zur Darstellung eines „Neuen Mediums“ als sozio-technische Relation | 242 Agnostizismus und religiöse Vergegenwärtigung | 247 Zum Existenzmodus pädagogisch-didaktischen Wissens | 253 Anthropologie und die Leere der verschwundenen Kultur | 258 Regeln und Prozesse | 264 Pädagogische Anthropologie nach dem ‚Tode des Menschen‘ | 273

Literaturverzeichnis |

281

Einleitung

Zur Geschichte und Anlage der Untersuchung Vom Versuch hypermedial zu ethnographieren zum Entwurf einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen in Anlehnung an Bruno Latour Der Titel dieser Untersuchung beschreibt einen Weg, der im Jahr 2001 begann, als Stephan Münte-Goussar und ich die Aufgabe der Dokumentation des Modellprojekts sense&cyber übernahmen. sense&cyber wurde im Rahmen des Bund-Länderkommission Programms mit dem Titel Kulturelle Bildung im Medienzeitalter zwischen 2000 und 2003 an vier Jugendkunstschulen in Niedersachsen durchgeführt. Dabei ging es um die Erprobung der Integration sog. ‚Neuer Medien‘ in die kunstpädagogische Praxis. Im Kontext der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts entwickelten Torsten Meyer, Stephan Münte-Goussar und ich als wissenschaftliche Begleiter unter der Leitung von Karl-Josef Pazzini eine Forschungs- und Darstellungsmethode, der wir den Namen ‚Hypermediale Ethnographie‘ gaben, und die 2003 als Buch mit beiliegender DVD-Rom im transcript Verlag herauskam. Für unseren Ansatz war es damals wichtig, die Darstellungsfrage nicht außer Acht zu lassen. Dabei spielte die Relation zwischen Wirklichkeit und ihrer Repräsentation für uns nicht nur eine Rolle, weil wir es mit Kunst und Medien zu tun hatten, sondern auch, weil Stephan Münte-Goussar und ich uns bei der Dokumentation für einen Zugang aus der Sozial- bzw. Kulturanthropologie entschieden hatten, der Ethnographie nämlich, womit wir die Frage der Repräsentation nicht außer Acht lassen konnten und wollten. Die in der englischsprachigen Kultur- bzw. Sozialanthropologie in den Achtzigerjahren geführte Debatte um die ‚Krise der Repräsentation‘ und eine mögliche neumediale Antwort auf viele in dieser Debatte aufgetauchten Fragen motivierte unsere Suche nach einem sozialwissenschaftlichen Zugang pädagogischer Forschung, der nicht auf der Vorstellung von einer vorgängigen, mit sich selbst identischen, evidenten Wirklichkeit und ihrer nachträglichen objektiven Darstellung basieren würde. Die ‚Hypermediale Ethnographie‘ zeigt viele forschungspraktische ‚neumediale‘ Wege auf, die die in der Debatte um die ‚Krise der Repräsentation‘ aufgeworfenen Fragen berücksichtigen, dennoch hält sie weder auf der Ebene der Anwendbarkeit, noch auf der Ebene einer Berücksichtigung komplexer

10 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ erkenntnispraktischer Fragestellungen den ursprünglich an sie gestellten Erwartungen stand. Diese Untersuchung ist motiviert von der Frage, wie man es hätte besser machen können, der Frage, mit welchen Mitteln, mit welchem (begrifflichen) Instrumentarium sich eine philosophisch informierte, gewissenhafte Form der Sozialforschung im Bereich des Pädagogischen entwerfen ließe. Diese Untersuchung ist nicht nur eine Reflektion einer Forschungsmethode, sondern entwickelt aus den Ansätzen Paul Rabinows und Bruno Latours einen begrifflichen Werkzeugkasten, um das erneut zu versuchen, was beim ersten Mal nicht so recht geklappt hat, nämlich einen ethnographischen Zugang zu entwickeln, der sich gleichzeitig auf dreifache Weise um ‚Repräsentation‘ sorgt: Erstens im Hinblick auf die erkenntnispraktisch- und forschungstheoretische Frage, wie repräsentiere ich die Dinge, ohne die ‚Wirklichkeitsproblematik‘ außer Acht zu lassen. Zweitens in Bezug auf die politische Frage, wer für wen oder was spricht, und drittens im Hinblick auf die ontologische Frage, mit welchen Entitäten, mit welchen ‚Wesen‘, wir es zu tun haben. In Anlehnung an Latours Vorhaben, ethnographisch zu philosophieren, gestaltet sich die letzte Etappe des Weges, der hier beschritten wird, als Versuch, aus dem winzigen sternförmigen Beobachtungspunkt (Oligoptikum) der ‚Hypermedialen Ethnographie‘ die Fäden zu spannen, die das Territorium einer neu und anders verstandenen Pädagogischen Anthropologie aufzuspannen vermögen. In Anlehnung an einen Terminus von Rabinow wird hier der Versuch unternommen, über die Reflektion einer Forschungsführung (Ethos) zur Formulierung einer Forschungsrationalität (Logos) zu gelangen und eine Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen ins Leben zu rufen.

Hypermedial ethnographieren Die Debatte um die ‚Krise der Repräsentation‘ hatte, wie wir als wissenschaftliche Begleiter des Projekts sense&cyber im Jahr 2001 fanden, zu Recht das Machtgefälle zwischen Beobachteten und Beobachtern und die Inanspruchnahme der Interpretationshoheit durch Letztere kritisiert. Wir wollten eine ‚dichte Beschreibung‘ der Geschehnisse an den Kunstschulen erstellen, die demokratisch, kollaborativ, polyvokal, multiperspektivisch dem User als Reader/Writer das Interpretieren und Sinnmachen überlässt. Für unsere ‚Hypermediale Ethnographie‘ sollte es nicht nur einen Autoren geben, der inskribiert, der Ereignisse auf-, ein- und beschreibt, der auf der Basis von Versatzstücken einzelner Beobachtungen typisiert und generalisiert, um letztlich mit einer schlüssigen Interpretation aufzuwarten, an der sich zukünftiges Handeln orientieren könnte. Die ‚Forschungsobjekte’ sollten vielmehr zu den Forschungsprozess mitgestaltenden ‚Subjekten’ werden. Sie

EINLEITUNG | 11 sollten genauso wie wir an der Inskription, Deskription und Interpretation teilhaben. Für diese Kollaboration standen zwei Instrumente zur Verfügung. Erstens ein offener sogenannter ‚networked-system’ Hypertext, eine für alle Projektmitarbeiter offene Online-Datenbank, die zur Einsicht, Kommentierung und Bearbeitung des bereits gesammelten und digitalisierten Materials, zum Einstellen von eigenem Material und generellen Austausch zur Verfügung stand, und zweitens der als Teil der Abschlussdokumentation vorliegende read-only hypertext. Die Kollaboration mit den Kunstschulleuten sollte sich hier auch darin zeigen, dass sie Gelegenheit bekommen sollten, selbst eigene Lesepfade, eigene Ordnungen des in der Datenbank gesammelten Materials anzulegen. Das war aufwändig und hat nicht alle Teilnehmer begeistert. Zu Anfang des Projekts versprach eine hypermediale Form der Ethnographie das in der Debatte um die ‚Krise der Repräsentation‘ beschworene ‚Juxtapositioning‘, das Neben- und Übereinanderstellen verschiedener Quellen, Texte, Bilder etc., geradezu zu verkörpern und Hypertext quasi von selbst die dort eingeforderten Eigenschaften zeitgemäßer Ethnographien zu garantieren. Hypertext war für uns ohne Frage ‚multi-perspektivisch‘, ‚multi-semiotisch‘, ‚multi-sited‘ und ‚polyvokal‘. Und so machten wir uns zum Ende der Projekte an den Kunstschulen daran, das von uns gesammelte Material zu digitalisieren, in eine Datenbank einzupflegen und uns Namen für die Datenhäppchen und Datencluster und unterschiedliche Ordnungsschemata zu überlegen. Gleichzeitig entstand eine Textdokumentation mit 398 Verweisen auf das Material sowie ein Film, dessen voice-over im Buch abgedruckt ist. Diese zwei Interpretationen können, wenn man sie auf der DVD-Rom findet, einen Weg durch das Material weisen. Insgesamt besteht die ‚Hypermediale Ethnographie‘ als Programm auf einer DVDROM aus über 600 Datenclustern, die aus maximal fünf Dateien unterschiedlicher Formate zusammengestellt sind. Dort finden sich Text- Bild und Videodateien. Das digitalisierte Videomaterial hat insgesamt eine Länge von knapp über 60 Stunden. Die ursprüngliche Idee, man könne aus dem digitalen ‚Material‘ alles Mögliche formen, wie auch aus einem Klumpen Lehm alle möglichen Geschöpfe entstehen können, ging in unserer ‚Hypermedialen Ethnographie‘ nicht auf. Der Haufen digitalisierter Schnipsel mit für Außenstehende obskuren Namen lässt sich, auch wenn viele Möglichkeiten des Ordnens bestehen, so gut wie gar nicht in kohärente Formen bringen. Sich selber als User, als Reader/ Writer, ein kohärentes Bild zu machen und mit Hilfe des Materialarchivs und der unterschiedlichen Ordnungsschemata einen Eindruck von dem Ablauf eines der Projekte zu verschaffen oder andere Bedeutungszusammenhänge mit Hilfe der ‚Hypermedialen Ethnographie‘ herzustellen, ist so gut wie unmöglich.

12 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Wir dachten, die Heterogenität der bezeugten Situationen würde sich mit Hilfe dieses riesigen Materialpools irgendwie von selbst zeigen. Damit tappten wir in die gleiche erkenntnistheoretische Falle wie viele Ethnographen, bzw. Hypermedia Aktivisten, die von dem Glauben beseelt sind, sie müssen nur vom Geschehen zurücktreten, damit es sich selbst zeige. Diese Art, sich selber zum Verschwinden zu bringen, ist eine Abszenz, die als Omnipräsenz wirkt. Darin sind wir dann nur Sprachrohr dessen, was bereits evident ist. Die Idee aber, dass die Welt mit sich selbst identisch ist und nur den omnipräsenten Repräsentanten braucht, um ihre Botschaften den Jüngern ins LaptopFeldtagebuch zu diktieren, ist Ausdruck einer wohl bekannten Abbildthematik, die weit hinter die Debatte um die ‚Krise der Repräsentation‘ zurückfällt. Nach Abschluss unseres Versuchs, hypermedial zu ethnographieren, stellte sich mir die Frage, ob es denn überhaupt prinzipiell möglich sein kann, die Themen, die in der Debatte um die ‚Krise der Repräsentation‘ erörtert wurden, in der pädagogischen Forschung praktisch zu berücksichtigen, neumedial oder nicht. Für mich war zum Ende des Projekts die Frage weiter offen, wie sich Sozialforschung im Bereich der Pädagogik gestalten ließe, ohne die ‚Wirklichkeitsproblematik‘ außer Acht zu lassen. Um dieser Frage nachzugehen, ging ich zurück zur Debatte um die ‚Krise der Repräsentation‘. Die hier vorliegende Untersuchung beginnt mit einem panoptisch gestalteten Blick zurück auf diese Debatte, die die ethnographische Forschung nachhaltig geprägt hat.

Krise der Repräsentation In den letzten zwanzig Jahren sind in vielen unterschiedlichen Feldern sozialwissenschaftlicher Forschung auf ethnographischen Untersuchungen basierende Texte entstanden. Was als ‚Königsweg‘ der Ethnologie bzw. Sozial- oder Kultur-Anthropologie1 galt und von den ‚harten‘ Sozialwissenschaften als zu ungenau und nicht repräsentativ verschmäht wurde, findet nunmehr Anwendung und zunehmend mehr Fürsprecher in diversen wissenschaftlichen

1 | Die Traditionen der Ethnologie, Sozial- und Kulturanthropologie unterscheiden sich. Im Folgenden wird der Einfachheit halber in Anlehnung an die britische und US-amerikanische Tradition von „der Anthropologie“ als intellektuellem Feld die Rede sein. Zur Geschichte der Disziplinen siehe z.B.: Thomas, C. Patterson (2001): A Social History of Anthropology in the United States. Oxford, New York. K.E. Müller (1998): „Geschichte der Ethnologie“. In: H. Fischer (Hg.) (1998): Ethnologie. Einführung und Überblick. Dietrich Reimer Verlag, Berlin. 21-51. G.W. Stocking Jr. (1995): After Tylor. British Social Anthropology, 1888-1951. University of Wisconsin Press, Madison. Jean Copans, Jean Jamin (Hg.) (1978): Aux origines de l‘anthropologie fancaise. Les Mémoirés de la Société des Observateurs de l’homme en l’an VIII. Le Sycomore, Paris.

EINLEITUNG | 13 Disziplinen auch im deutschsprachigen Bereich. Die Ethnographie, die im neunzehnten Jahrhundert als Beschreibung ‚fremder‘ und ‚exotischer‘ Kulturen ihren Anfang nahm, ist längst „aus den Tropen heimgekehrt“.2 Im englischsprachigen Raum greift sie in der Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaft auf über fünfzigjährige Traditionen zurück und ist auch außerhalb dieser Bereiche in einer Breite von Anwendungsgebieten zu finden, die von der Wissenschaftsforschung über Kriminalistik, Sportwissenschaft und Marketing bis zur Theologie reichen. Mittlerweile erfreut sich die Ethnographie auch in der deutschen Erziehungswissenschaft wachsender Beliebtheit, obwohl ein ethnographischer Zugang im deutschsprachigen Bereich im Kontext wissenschaftlicher Begleitungen von öffentlich finanzierten Großprojekten keineswegs mit Selbstverständlichkeit akzeptiert wird. In den Neunzehnhundertachtzigerjahren wurde der Diskurs um die Ethnographie und die ethnographische Praxis durch eine Debatte geschüttelt, die als Krise der Repräsentation in die Geschichte eingegangen ist. Diese Debatte wurde beeinflusst durch die Rezeption der Schriften von Theoretikern wie beispielsweise Edward Said, Jacques Derrida, Michel Foucault und Jacques Lacan im Bereich der Anthropologie.3 ‚Alte Fragen‘ erhielten neuen Impetus: Der moralischen Frage, mit welchem Recht die westliche Wissenschaft den ‚Rest der Welt‘ fixiert, kam die Vermutung hinzu, dass ethnographierend tätig zu sein, nur dazu diene, existierende Machtasymmetrien zu zementieren. Vor dem Hintergrund des Vorwurfs des Ethnozentrismus in der Trennung von Sprache und Schrift erschien das Motiv der ‚Rettung aussterbender Kulturen‘, sprich: Der Rettung vor dem Vergessen durch die Verschriftlichung, suspekt. Die Frage des ‚Warum‘ ethnographischer Tätigkeit rückte in ein anderes Licht, ging es doch lange nicht mehr um die Feststellung anthropologischer Konstanten, die Suche nach dem Wesen des Menschen oder nach den Ursprüngen seiner Verhaltensweisen. Die grundsätzliche Frage, ob eine Beschreibung ‚der Anderen‘ überhaupt möglich sei, wenn doch die Beschreibung ‚den Anderen‘ erst hervorbringe, war dabei am Rande der methodischen Fragen des ‚Wie‘ ethnographischen Tuns nicht zu überhören. Die Debatte um die Krise der Repräsentation brachte nicht nur eine Fülle von Literatur über die Problematik ethnographischer Texte hervor, sondern beeinflusste viele konkrete Forschungsvor-

2 | Bruno Latour (1998): „Die Anthropologie kehrt aus den Tropen zurück.“ In: Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 134-138. 3 | G.E. Marcus (2002): „Interdisciplinary ferment“. In: George E. Marcus. „Beyond Malinowski and After Writing Culture; on the Future of Cultural Anthropology and the Predicament of Ethnography.“ Swiss Anthropology online Journal (2002), 16.02.05, 3.

14 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ haben und löste einen „Trend des Experimentierens“ aus.4 Ausgehend von der interpretativen Anthropologie Geertzscher Prägung, die mit ihrer Betonung der zentralen Stellung der Narration den Weg dafür bereitete, sich en détail der Textproduktion zu widmen, machten sich Ethnographen daran, die Konventionen des „ethnographischen Realismus“ zu unterwandern bzw. sie zu erweitern.5 Fragen textlicher Autorität, des ‚Wer spricht?‘, standen bei Versuchen im Vordergrund, Forschungsvorhaben als Kollaborationen mit den zu beforschenden ‚Anderen’ zu gestalten. Stichworte wie Dialog, Gespräch, Austausch und Partizipation prägen die Debatte um die Krise der Repräsentation. Der auktoriale Erzählstil, bei dem der Autor über den Dingen steht und souverän den Weg durch das zu interpretierende Material weist, weicht einer Darstellungsweise, die sich durch ‚Juxtapositioning‘ (Collage, Montage, Assemblage), durch die Gegenüber- und Zusammenstellung verschiedener Stimmen im Text, bemüht, der Polyphonie der bezeugten Situationen Rechnung zu tragen. Statt ‚Großsubjekte‘ zu beschwören, wie Malinowski dies beispielsweise tat (‚der Eingeborene aus Trobriand‘), sind die von der Debatte um die Krise der Repräsentation beeinflussten Ethnographien als Versuche zu lesen, der Singularität der bezeugten Situationen gerecht zu werden und die beforschten Anderen nicht in eine fiktive Vorzeit oder A-Historizität zu versetzen. Diese Ethnographien sind nicht von einer ‚nekrospektiven Melancholie‘ geprägt, die vermeintlich verlorene ganze und heile Welten betrauert. Sie sind keine Versuche, ‚untergehende‘ Lebensweisen in der Schrift zu fixieren, und begründen ihre Autorität nicht im Rettungsgedanken. Sie sind vielmehr als Versuche zu verstehen, ethnographische Autorität anders zu fassen, um andere Lesarten möglich zu machen. Im Zentrum stehen nun Prozesse des Aushandelns gemeinsamer Visionen von Realität und polyphone Texte, die für andere Interpretationen als die der Ethnographen offen sind. Die ‚Felder‘ dieser ethnographischen Entwürfe sind nicht mehr homogen und überschaubar. Mit der Wandlung ethnographischer Gegenstände nach der ‚Heimkehr aus den Tropen‘ findet sich eine breiter werdende Akzeptanz dafür, dass dem Studium der Randbereiche, bei dem den Ethnographen die Rolle der Advokaten der beschriebenen Minderheiten zukommt, dem komplexeren Unterfangen weichen müsste, sich den zentralen Wahrheitsproduktionsmechanismen des ‚Westens‘ zu widmen. Die ‚Felder‘ ethnographischer Forschung sind damit nicht mehr geographisch einzugrenzen. Die Positionen der Akteure sind mobil und vielfältig. Will man ihre Handlungen nachvollziehen, bedarf es einer ‚multi-sited ethnography‘ (Marcus), einer

4 | G.E. Marcus, D. Cushman (1982): „Ethnographies as Texts.“ In: Annual Review of Anthropology, 1982, Vol. 11:25-96, 25. 5 | Ebd. 29.

EINLEITUNG | 15 Ethnographie, die vielfältige raum-zeitliche Zusammensetzungen (juxtapositionings) untersucht. Das Feld als autonomer Ort mit festen raum-zeitlichen Grenzen, als Heimat einer homogenen Kultur, in die die Ethnographen als Fremde zu Besuch kommen, hat sich aufgelöst. Marcus spricht von einem „Aufbrechen“ der Gegenstände ethnographischer Forschung, was eine inderdisziplinär ausgelegte Anthropologie nötig mache.6 Damit ginge eine Umgestaltung anthropologischen Wissens und seiner Rezeption einher. Das Aufbrechen des traditionellen ‚mise-en-scene‘ ethnographischer Forschung ist auch durch eine andere Art der Zusammenarbeit zwischen Forschern und Beforschten bedingt. Ethnographische Wissensproduktion nach der Krise der Repräsentation ist kollaborativ. Diese Kollaboration verändert das traditionelle anthropologische Setting. Die Ethnographen sind nun nicht mehr nur ‚teilnehmende Beobachter‘, sondern auf vielfältige Weise in das Geschehen involviert. Sie werden zu eigenständigen Akteuren im Feld, zum Subjekt der Pläne anderer, zur Figur in den Texten anderer etc. Sie sind intensiver in das Geschehen einbezogen und haben damit eine breiter gestreute Verantwortung. Die beständige Reflexion des eigenen Tuns soll sicherstellen, dass diesen diversen Verantwortungen adäquat nachgekommen wird. Vielen dieser Aspekte wurde in der Realisation der im vierten Kapitel dicht beschriebenen Hypermedialen Ethnographie Rechnung getragen. Dabei verstellte unser Enthusiasmus gegenüber den neumedialen Möglichkeiten, kollaborativ zu forschen und mit Hilfe von Hypertext als Verkörperung eines Juxtapositioning Prinzips quasi automatisch ‚multi-perspektivisch‘, ‚multi-sited‘, ‚multisemiotisch‘ und ‚polyvokal‘ vorzugehen, den Blick für einige grundlegende Probleme. Jene nämlich, die viele der Versuche begleiten, die Genre-Konventionen in Reaktion auf die Krise der Repräsentation zu verändern: Das widersprüchliche Bestreben, jenseits der Repräsentation die ultimative Repräsentation zu finden. Der Gedanke, sich einem vereinheitlichenden Logos zu entziehen, geht dabei mit der Wiedereinführung ober- oder unterhalb der Repräsentation liegender Wahrheitsinstanzen einher. Bei vielen dieser Versuche, die Krise der Repräsentation in der ethnographischen Praxis zu berücksichtigen, werden die dort problematisierten Aspekte des Essentialismus, der A-Historizität und der Entpolitisierung ethnographischer Beschreibungen unter der Hand wieder eingeführt. Dies geschieht, wie im zweiten Kapitel ausgeführt, bereits bei Geertz, der trotz beständiger Betonung der Konstruiertheit anthropologischer Kategorien dabei blieb, dass es Ziel ethnographischer Forschung sein müsse, die „informelle Logik des tatsächlichen Lebens“ „über die Schulter“ der Informanten zu lesen.7 Eine Abwendung vom holistischen Kulturbegriff Geertzscher Prägung und eine Hin6 | Marcus (2002). 8. 7 | Geertz (1975 [1973]). 17.

16 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ wendung zur Frage der Produktion und Reproduktion von Kategorien wie ‚Kultur‘, ‚Mensch‘, ‚Leben‘ usw. findet sich in den Ansätzen Bruno Latours und Paul Rabinows. Ihnen ist das dritte Kapitel dieser Untersuchung gewidmet.

Anleihen bei Bruno Latour und Paul Rabinow Paul Rabinow und Bruno Latour wenden sich vom ethnographischen Holismus, von verborgenen Wesenheiten, vom Kulturalismus und Exotismus ab und den im Erscheinen begriffenen Kategorien und Vernunftformen zu. Die Einsicht, dass Anthropologen sich beim Schreiben literarischer Konventionen bedienten, beschwöre noch keine Krise herauf, schreibt Rabinow in seinem Beitrag zur Debatte um die Krise der Repräsentation.8 Sein Bemühen gilt der Formulierung einer kontemporären Anthropologie, die sich den emergenten Konfigurationen des ‚Menschen’ und des ‚Lebens’ zuwendet. Als privilegierten Schauplatz dieser Rekonfigurationen beschäftigt sich Rabinow seit über zehn Jahren mit der Biotechnologie-Industrie. Sowohl Rabinow als auch Latour stellen begriffliche Werkzeuge zusammen, um einen anderen Modus ethnograpischer Forschung in Gang zu setzen. Ihren ‚Werken’ und ihren ‚Werkzeugen’ ist das dritte Kapitel gewidmet. Hier wird die begriffliche Ausrüstung (equipment) zusammengestellt, die sich im vierten Kapitel in einer Haltung, einem Ethos, in einem Forschungsvorgehen niederschlägt. Die Krise der Repräsentation, schreibt Bruno Latour, ergab sich aus einem „Missverständnis“, der Idee nämlich, es könne direkte, transparente Wege geben zwischen den Dingen und den Wörtern. Verblendet vom Traum der Unmittelbarkeit, der Reinheit der Information ohne Transformation (was er als „double click Information“ bezeichnet),9 werde weder die Arbeit der Repräsentation der Dinge durch Wissenschaftler noch die der Repräsentation der Menschen durch Politiker verständlich. Eine Krise der Repräsentation zu beklagen, komme einer Beschwerde über ein Modem gleich, das nicht in der Lage sei, aus dem Internet bestellten Kaffee zu kochen.10 Die epistemologische Fragestellung – können unsere Repräsentationen mit einiger Gewissheit stabile Merkmale der Welt draußen einfangen? - sieht er als Teil einer „modernistischen Übereinkunft“,11 deren Inventar es zu ersetzen gilt. Eine Epistemologie geprägt

8 | Rabinow, (1993 [1986]). 172. 9 | Bruno Latour (1999b): „On recalling ANT“. In: J. Law, J. Hassard (Hg.): Actor Network Theory and After. Blackwell Publishing, Oxford. 15-26. 15. 10 | Latour, Bruno (2002): What if we talked politics a little? www.ensmp.fr/latour/Articles83%2 POLITIQUES.html, 13/11/2002 11 | Bruno Latour (2002): Die Hoffnung der Pandora. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 23.

EINLEITUNG | 17 von der Vorstellung eines isolierten, vereinzelten „Geistes-im-Gefäß“, der auf seine Außenwelt schaue, von der er völlig abgeschnitten sei, während er gleichzeitig Gewissheit aus dem fragilen Gewebe von Worten herauszuziehen versuche, das sich über einem Abgrund zwischen Rede und Dingen spinne, sei so unplausibel, dass sie sich nicht länger halten ließe.12 Der Debatte um die Krise der Repräsentation hält er entgegen, dass wir nicht weniger Repräsentation bräuchten, sondern mehr. Latour stellt sich in den Dienst der „Kollektive“ menschlicher und nicht-menschlicher Wesen, denn Letztere seien bisher von den Sozialwissenschaften „sorgfältig herausrepräsentiert“ worden.13 Bruno Latour, der seine akademische Laufbahn in der Philosophie begann und als Wissenschaftsforscher und Soziologe fortsetzte, hält die Ethnographie für die Nachzeichnung der Bewegungen eines Kollektivs für besonders geeignet. Die Anthropologie ist für ihn diejenige Disziplin, die Natur, Politik, Ökonomie und Religion gleichzeitig behandelt, weshalb er ihr in seinem Projekt eine zentrale Stellung zuweist. Die Experimentelle Anthropologie, die Latour vorschlägt, unterscheidet sich jedoch grundlegend von herkömmlichen Anthropologieentwürfen. In ihrem Multikulturalismus war Letztere auf einen Mononaturalismus angewiesen. Der „voreilig vereinigten Natur“ standen „voreilig fragmentierte inkommensurable Kulturen“ gegenüber.14 Latour gibt die Vorstellung „der Natur“ als Einheit, repräsentiert durch „die Wissenschaft“, auf, was für die Anthropologie Folgen hat, denn wenn „die Natur aus dem Spiel ist,“ gibt es „keine ‚anderen’ und kein ‚wir’“ mehr.15 Um sich der Erkundung Latours „gemeinsamer Welt (Kosmos)“ zu widmen, muss die Anthropologie ‚symmetrisch’ werden und sich gleichermaßen den menschlichen und nicht-menschlichen Dingen widmen. Latours Ansatz findet in der stark von ihm geprägten Actor-Network-Theory in diversen akademischen Feldern Anwendung. Paul Rabinow ist in der englischsprachigen Anthropologie einer derjenigen, die sich am intensivsten darum bemühen, ethnographische Forschung ‚jenseits’ der Krise der Repräsentation zu formulieren und die Anthropologie als Disziplin gegenwartsorientiert neu zu konfigurieren. Rabinows Anthropologie des Zeitgenössischen ist Teil eines im Vergleich zu Bruno Latour zunächst bescheidener erscheinenden Projekts. Ihm geht es darum zu verstehen, mit welchen emergenten Formen von Vernunft, mit welchen im Erscheinen begriffenen Figuren von Anthropos, wir es gegenwärtig zu tun haben. Bereits in

12 | Ebd. 363. 13 | Ebd. 236. 14 | Ebd. 293. 15 | Bruno Latour (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 66.

18 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ seinem Beitrag zur Debatte aus den Neunzehnhundertachtzigerjahren weist Rabinow über die Krise der Repräsentation hinaus.16 Dort stellt er fest, dass es nicht darum gehen könne, Repräsentation zu verteufeln und einen „umgekehrten Essentialismus einzuführen“.17 Dabei warnt der in Deutschland durch sein gemeinsam mit Hubert Dreyfus verfasstes Buch über Michel Foucault18 bekannt gewordene Anthropologe vor der „historischen Verflachung“ eines „post-modernen“ Pastiche.19 Erkenntnis versteht Rabinow nicht als akkurate Repräsentation im Sinne Descartes als inneren Raum, in dem sich Abbilder der äußeren Welt sammeln. Er betont, dass eine Ablehnung der Erkenntnistheorie nicht bedeute, Wahrheit, Vernunft oder Urteilskriterien abzulehnen. Mit Ian Hacking weist er darauf hin, dass das, was gängiger Weise als „Wahrheit“ aufgefasst werde, abhängig sei von vorangegangenen historischen Ereignissen, dem Aufkommen eines Denkstils über Wahrheit und Falschheit, der erst die Kriterien festlege, nach denen eine Aussage als wahr oder falsch eingeordnet würde. Unterschiedliche historische Konzeptionen von Wahrheit und Falschheit seien keine Frage des Subjektivismus, sondern stellten historische und soziale Tatbestände dar. Eine in diesem Sinne verstandene Wissenschaft bliebe objektiv, da die Argumentationsstile, derer wir uns bedienten, festlegten, was als Objektivität gelte. Das, was Foucault das ‚Regime‘ von Wahrheit und Falschheit genannt habe, bilde sowohl Bestandteil als auch Resultat historischer Praktiken.20 Rabinows Anthropologie des Zeitgenössischen orientiert sich stark an Foucaults ‚Gegenwartsdiagnostik.‘ Mit dem späten Foucault wendet er sich vom Begriff der Epoche ab und gibt insgesamt sein Projekt als bescheideneres aus. Anthropologen hätten nicht das „Rüstzeug“, sich mit langfristigen historischen Konstellationen wie Foucaults Problematisierungen zu befassen.21 Die von Foucault untersuchte „griechische Problematisierung der Lüste und der Freiheit“ oder „die neuzeitliche Problematisierung von Leben und Regierbarkeit“ hätten

16 | Paul Rabinow (1986): „Representations Are Social Facts: Modernity and Post-Modernity in Anthropology.“ In: Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press. 234-262; übersetzt in: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 158-200. 17 | Ebd. 169. 18 | Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow (1994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Beltz Verlag, Weinheim. 19 | Rabinow (1986): 181. 20 | Ebd. 162f. 21 | Carlo Caduff, Tobias Rees (2004a): „Anthropologie des Zeitgenössischen. Ein Gespräch mit Paul Rabinow.“ In: Dieselben (Hg.): Paul Rabinow. Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 56-65, 58.

EINLEITUNG | 19 Jahrhunderte überdauert.22 Rabinows Anthropologie des Zeitgenössischen, die er auch Anthropologie des Aktuellen oder auch Anthropologie der jüngsten Vergangenheit und nahen Zukunft nennt, macht eine andere Art der Forschung notwendig, die nicht wie Foucaults Analysen mit der Entstehung einer spezifischen diskursiven Formation, eines Dispositivs, endet. Rabinow führt den Begriff der Assemblage ein, als sich ereignende Form, die sich in der Zukunft entweder in einem Dispositiv verdichtet oder zerfällt. Assenblages generieren Neues und formen sich ständig um. Sie bezeichnen das Vorübergehende, das noch nicht in abgeschlossener Form Bestehende. Mit seiner Anthropologie des Zeitgenössischen versucht Rabinow, das begriffliche Werkzeug zur Verfügung zu stellen, sich den in Bewegung befindlichen Formen anzunähern, die Assenblages als „vorübergehende Manifestationen“ zu erforschen.23 Während Rabinows 1989 erschienene Studie French Modern24 noch eine Genealogie im Sinne Foucaults darstellte, widmet er sich in den letzten drei Büchern25 den „fortwährenden Ereignissen“ einer im Werden begriffenen Form.26 Die Form des Anthropos, bei der es darum schwerpunktmäßig geht, entsteht zwischen Biotechnologiefirmen und Patentämtern, staatlichen Aufsichtsbehörden und Gerichten, die über die Rechte an genetischem Material zu entscheiden haben. Rabinows Interesse gilt dem „Leben“, seiner „Kommerzialisierung und Technologisierung“ im Kontext 22 | Paul Rabinow (2004): „Von der Rekonstruktion zur Problematisierung“. In: C. Caduff, T. Rees (Hg.): Paul Rabinow. Was ist Anthropologie. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 23-29. 23 | C. Caduff, T. Rees (2004): „Einleitung: Anthropos plus Logos. Zum Projekt einer Anthropologie der Vernunft“. In: Dieselben: Paul Rabinow. Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 7-29. 28. 24 | Paul Rabinow (1989): French Modern. Norms and Forms of the Social Environment. University of Chicago Press. 25 | Vgl. Paul Rabinow (1996): Making PCR. A Story of Biotechnology. Chicago. Hier geht es um die Entwicklung der Polymerasen-Kettenreaktion. Einem Verfahren zur Vervielfältigung genetischen Materials. Vgl. Paul Rabinow (1999): French DNA. Trouble in Purgatory. University of Chicago Press. Hier widmet sich Rabinow einem Projekt zur Erforschung der genetischen Grundlagen von Diabetis und der Entwicklung von Therapieformen. Ein Projekt, das in Kooperation eines staatlich finanzierten französischen schlagen dürfe, scheiterte die Zusammenarbeit. Vgl. Instituts und einer privatwirtschaftlichen kalifornischen Biotechnologiefirma stattfinden sollte. An den Fragen, wem das genetische Material, das als Basis dienen sollte, gehöre, und wer daraus Profit Paul Rabinow, Talia Dan-Cohan (2005): A Machine to Make a Future. Biotech Chronicles. Princeton University Press. Hier widmen sich die Autoren in ausführlichen Interviews mit den Angestellten dem Funktionieren einer Biotechnologiefirma, die genetisches Material im Hinblick auf bestimmte Krankheitsbilder zum Zweck der Entwicklung angepasster diagnostischer und therapeutischer Verfahren (und deren Patentierung) untersucht. 26 | Carlo Caduff, Tobias Rees (2004): „Einleitung: Anthropos plus Logos. Zum Projekt einer Anthropologie der Vernunft“. In: Dieselben: Paul Rabinow. Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 7-29. 28.

20 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ der Biotechnologie. In diesem Kontext werde „heute reformuliert“, „was in der westlichen Welt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg relativ stabil als ‚Körper‘, ‚Gesellschaft‘ und ‚Ethik‘ etabliert wurde“.27 Wie im dritten Kapitel dieser Untersuchung in Auseinandersetzung mit Foucaults und Rabinows Geschichtsbegriff deutlich wird, scheint es eines weiteren Mechanismus zu bedürfen als die von Rabinow eingesetzte Hinwendung zu den Assenblages. Denn so, wie sie bei Rabinow gefasst sind, schränken sie den Gegenstandsbereich seiner Anthropologie des Zeitgenössischen so sehr ein, dass sie nicht ohne weitere ‚begriffliche Werkzeuge‘ in eine Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen übersetzt werden können. Darüber hinaus ist Rabinows Begriff der Assenblages so schwammig, dass er forschungspraktisch konsequenzlos bleibt. Rabinows Zeitgenössisches bedarf einer Latourschen Wendung, um für eine Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen fruchtbar gemacht zu werden. Mit Latours begrifflichem Werkzeug eröffnet sich die Möglichkeit, den Modus des Zeitgenössischen methodisch zu erfassen. Die Darstellung dessen, was in der Sphäre des Sozio-Technischen Dauer für sich herzustellen vermag, ist ein zentrales Element einer von Latour inspirierten ethnographischen Vorgehensweise. Während Zeit bei Rabinow nicht dem von ihm propagierten Prinzip der nominalistischen Sensibilität unterliegt und in einer Sphäre für sich immer gleich in ihrer Linearität existiert, ist Zeit bei Latour nicht unabhängig von den Dingen zu sehen. Dort hat buchstäblich jedes Ding seine Zeit, und es kann betrachtet werden, durch welche Handlungen Dinge in Existenz gehalten werden, wie sie Dauer für sich herstellen. Zeit selbst tritt damit in den Bereich der Geschichte ein. Latours Begriff der technischen Vermittlung und seine Aufteilung von Vermittlern in Mediators, Instanzen, die Veränderung bewirken, und Intermediaries, solche die als Durchgangsstationen fungieren, macht es möglich, die „Sensibilität“ gegenüber verwendeten Kategorien, die Rabinow fordert, ernst zu nehmen und Veränderungen en détail zu verfolgen. Während Rabinows Ansatz durch die großen Formationen, die Problematisierungen und Dispositive, die im Hintergrund der Assenblages präsent bleiben, beschränkt ist, erlaubt Latours ‚indeterministische Geschichte‘ eine „kurzsichtige“ Hinwendung zur Gegenwart. Diese „myopische“ Vorgehensweise schildert Latour en détail in seiner 2006 erschienen Einleitung zu Akteur-Netzwerk-Theorie.28 Sie wird im vierten Kapitel dieser Untersuchung zur Anwendung kommen. Latours ethnographische Vorgehensweise erlaubt es, auch scheinbar insignifikante Praxen ernst zu nehmen und sie als winzige aber elementare Beobachtungs-

27 | Rabinow zitiert in ebd. 25. 28 | Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press.

EINLEITUNG | 21 punkte (Oligoptiken) heranzuziehen, von denen aus die Bewegungen verfolgt werden können, die Entitäten, die ‚Subjekte’ und ‚Objekte’ in Existenz halten.

Eine dichte Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie Als genau so ein kleiner aber elementarer Beobachtungspunkt stellt sich an dieser Stelle die Hypermediale Ethnographie dar. Das vierte Kapitel ist ihrer dichten Beschreibung gewidmet. Diese dichte Beschreibung wendet sich in dreifacher Weise der Frage der Repräsentation zu. Dort wird erstens der ‚Wirklichkeitsproblematik’ Rechnung getragen und eine Form der Ethnographie erprobt, die sich an den Begriffen Latours orientiert, um ‚jenseits’ der Krise der Repräsentation Wege aufzuzeigen, die sich nicht von dem Anspruch der Objektivität und Wissenschaftlichkeit verabschieden. Dort wird zweitens der Frage der Repräsentation insofern nachgegangen, als die Mechanismen untersucht werden, wie Entitäten, wie zum Beispiel das didaktische Objekt Neue Medien, in Existenz gehalten werden. Drittens wird an dieser Stelle die Frage der Repräsentation in ihrer politischen Spielart wichtig, wenn danach geforscht wird, wer an welcher Stelle für wen oder was spricht. Diese dichte Beschreibung orientiert sich an Latours begrifflichem Werkzeug. Viele Aspekte der Krise der Repräsentation sind in ähnlicher Form in Debatten um die Neuen Medien wiederzufinden. Auch hier geht es um epistemologische, politische und semiotisch-konstruktivistische Fragestellungen in Bezug auf Repräsentation im weitesten Sinne. Auch hier tauchen die Stichworte Kollaboration, Partizipation, Dialog auf, u.a. verbunden mit der Vorstellung, über das Internet neue Formen einer aktiven zivilgesellschaftlichen politischen Öffentlichkeit entwickeln zu können. Ebenso finden sich die Stichworte Collage, Montage, Assemblage wieder, auch in Zusammenhang mit der Erwartung, mit und durch die Neuen Medien Formen zu finden, die eine adäquatere Reflexion komplexer werdender Selbst- und Weltverhältnisse erlauben. Vielerorts dienen die Neuen Medien als Reservoir diverser utopischer Vorstellungen. Zu diesen Vorstellungen zählt der Gedanke, dass die Neuen Medien durch ihre Struktur quasi von selbst positivistisch-reduktive Vorstellungen von Repräsentation als Abbild der Wahrheit verbieten, und dass über die Mittel eines erweiterten fortschreitenden Austauschs über hypermediale Darstellungsformen Repräsentationen selbst als soziale Konstruktionen immer wieder in ihrer Kontingenz erscheinen. Die Suche nach der ‚idealen Form’, die sich in vielen Beiträgen zur Debatte um die Krise der Repräsentation zeigt, findet ihr Pendant

22 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ im utopisch ausgerichteten Diskurs um die Neuen Medien, der technikdeterministisch diese idealen Formen zu finden verspricht. Bei den diversen Parallelen ist es erstaunlich, dass es zwischen den ‚Diskursfeldern‘ um die Neuen Medien und die Krise der Repräsentation in der Ethnographie wenig Überschneidungen gibt.29 Obwohl die Ethnographie bei der Erforschung von chat rooms und cyber communities eine große Popularität besitzt,30 bleiben die Formen, in denen diese Ethnographien erscheinen, vielfach den Traditionen des Genres verhaftet.31 In einigen Fällen folgen diese Ethnographien, selbst wenn sie als Hypertexte herauskommen, den Konventionen des ‚ethnographischen Realismus‘, ohne die kritischen Fragen der Repräsentation, die die Debatten um die Neuen Medien und die Ethnographie gleichermaßen aufgeworfen haben, zu berücksichtigen. Der von Marcus und Cushman in den Achtzigerjahren beschriebene „Trend des Experimentierens“ hat sich nicht auf ein Experimentieren mit anderen Datenträgern ausgeweitet.32 Die Beispiele eines solchen Experimentierens sind nach wie vor spärlich gesät, und die Debatten um das ‚Wie‘ ethnographischen Schreibens sind nur von wenigen Autoren auf die Konstruktion von Hypertexten ausgeweitet worden.33 Die dichte Beschreibung des im Rahmen von sence&cyber unternommenen Versuchs hypermedial zu ethnographieren, kann einen kleinen Beitrag zu dieser Debatte leisten. Beeinflusst von der Krise der Repräsentation sollte die Hypermediale Ethnographie mit Hilfe neu-medialer Technologien die Fallen einer naiv verstandenen dichten Beschreibung vermeiden helfen. Durch nicht-lineare Darstellungsweisen, durch die Mechanismen von Collage und Montage, sollte auf die Multiperspektivität, Polyvokalität und Heteroglossie aufmerksam gemacht werden, die die vielfältigen ‚sites‘ des untersuchten Feldes kennzeichneten. Die Hypermediale Ethnographie sollte mehr Partizipation und Verantwortung für den Verlauf und die Darstellung der Forschung von Sei29 | Das prominenteste Beispiel für eine Überschneidung und Fortführung dieser beiden Diskurse ist Donna Haraway, die sich in ihrem groß angelegten Entwurf einer Kulturgeschichte des Hyperkapitalismus ausführlich der Narration widmet und die „cyborg anthropologist“ in ihrer Erzählung als Zeugin einsetzt. D. J. Haraway (1997): Modest_Witness@second_Millenium.FemaleMan©Meets_OncoMouse™; Feminism and Technoscience. Routledge, New York. 30 | Siehe: Winfried Marotzki et al.: „Qualitative Internetforschung.“ In: Marotzki et al. ZBBS, Heft 2, 2001. 31 | Dies gilt für Hakken/Andrews (1993); Zurawski (2000) aber auch für Baym (1999); Hine (2000) und Miller/Slater (2000). 32 | G.E. Marcus, D. Cushman, D. (1982): „Ethnographies as Texts.“ In: Annual Review of Anthropology, 1982, Vol. 11:25-96, 25. 33 | Siehe z.B.: Anderson (1999); Goldman-Segall (1998); Harris, et al. (2005); Hine (2000); Howard (2002).

EINLEITUNG | 23 ten der ‚Beforschten‘ möglich machen. Als DVD-ROM mit diversen und auf unterschiedliche Art und Weise von den beteiligten Parteien mit Verweisen versehene Ton-, Bild- und Textdokumente sollte die Hypermediale Ethnographie die neu-medialen Möglichkeiten eines kollaborativen Vorgehens ausschöpfen. Die Datensammlung war über ein Internetforum vor Abschluss der Dokumentation allen beteiligten Parteien zugänglich und konnte bearbeitet und kommentiert werden. Als ‚wissenschaftliche Begleiter‘ des Projekts sense&cyber verbanden wir die Grundproblematik der Debatte um die Krise der Repräsentation, nämlich die Suche nach einer adäquateren Repräsentation einer ‚Wahrheit‘, die sich ‚hinter’ einer naiven Repräsentation verberge, mit einem den Debatten um die Neuen Medien inhärenten Technikdeterminismus. Wie im vierten Kapitel dieser Untersuchung beschrieben, verstellte der im Namen einer adäquateren Repräsentation betriebene technische Aufwand den Blick für die praktischen Fragen der Repräsentation. Dies führte zu einer Unachtsamkeit gegenüber den eigenen Wahrheitsproduktionsmechanismen und gegenüber den Dingen, die es dicht zu beschreiben galt. Darüber hinaus verursachte diese Vernachlässigung der praktischen Fragen der Repräsentation eine Vernachlässigung des Vorhabens einer kollaborativen Wissensproduktion. Die Kollaboration, die die Hypermediale Ethnographie ermöglichen sollte, machte vor der pädagogisch-didaktischen Wissensproduktion Halt. Nichts ist schwerer als einfach zu beschreiben, schreibt Latour in seiner 2006 erschienenen Einführung zur Actor Network Theory, in der er dieses einfache Beschreiben beschreibt.34 Die englische Abkürzung für Actor Network Theory ANT, wie Ameise, schreibt Latour, sei sehr passend für die Form der Sozialforschung, die er und seine Mitstreiter seit 30 Jahren betrieben. Sie käme einer detailversessenen, emsigen, kollektiven, spurenschnüffelnden, kurzsichtigen Ameisenart sehr nahe. Ein gewisses Maß an Kurzsichtigkeit, an Myopie, schreibt Latour Ende der 90er Jahre, sei dringend nötig, um den (damals noch herrschenden) Hype um Neue Medien entgegen zu treten. Die dichte Beschreibung der Hpyermedialen Ethnographie ist der Versuch, mich auf kurzsichtige Ameisenart in Latours‚Scientifiction‘ zu üben. Im Gegensatz zur Science Fiction, wo die Wissenschaft zur Fiktion wird, beschreibt die ‚Scientifiction‘ bei Latour den Prozess, bei dem fiktive Elemente eingesetzt werden, die zur Verwissenschaftlichung einer Darstellung beitragen. Eine Form der Fiktion, die die Objektivität erhöht. In meiner dichten Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie kommen vier verschiedene diskursive Modi vor, die ineinander verwoben sind. Als roter Faden dient ein fiktiver Dialog zwischen einem Erziehungswissenschaftler und seiner Hilfskraft, die sich mit der Hypermedialen Ethnographie 34 | Latour, Bruno (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press.

24 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ als Programm auf einer DVD-ROM auseinandersetzen. Dieser Dialog ist fiktiv, da es die beiden Figuren ‚real’ nicht gibt. Die Reaktionen des Programms haben aber tatsächlich so stattgefunden. Diese Form des Darstellens löste hier forschungspraktisch ein zentrales Problem, nämlich das, wie man ein Programm repräsentiert. Aus der Schöpferperspektive hätte eine Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie vielleicht ähnlich einem Handbuchtext geklungen, in dem die gezielt programmierten Wirkungsweisen des Programms gepriesen worden wären. Der Dialog scheint das sozio-technische Interface zwischen Benutzer und Programm wesentlich dichter zu beschreiben. Er zeigt auf, was passiert, wenn sich zwei User daran machen, das Programm zu erkunden. Es ging mir hier nicht um eine Vorgängigkeit des schöpfenden Subjekts in einer Interaktion mit einem technischen Objekt, auch nicht anders herum um die Beherrschung des Menschen durch die Technik, sondern um das, was gleichzeitig in dieser sozio-technischen Sphäre passiert. Diese Darstellung der Gleichzeitigkeit dessen, was in Zeitgenossenschaft entsteht, ist ein zentrales Element, das die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen von Latour aufgreift. Die ‚Hypermediale Ethnographie‘ dient hier als Oligoptikum im Sinne Latours, als winziger sternförmiger Beobachtungspunkt, von dem aus die Spuren der Bewegungen verfolgt werden können, die Entitäten, die „Subjekte“ und „Objekte“ in Existenz halten. Das Oligoptikum ist bei Latour als Gegenentwurf zum Panoptikum zu finden. Im Panoptikum Benthams, das bei Foucault vorkommt, ist eine totale Überwachung möglich. Dem Größenwahn auf der Beobachter-Seite steht in dieser Konstellation die Paranoia des Beobachteten gegenüber. Oligoptiken dagegen lassen keinen Überblick auf das große Ganze zu. Sie sind klein, „konkret und erforschbar“, sie machen robuste, aber extrem schmale Ansichten möglich. Dieser Gegenentwurf zur sogenannten ‚god’s eye perspective‘ klassischer sozialwissenschaftlicher Zugänge ist Teil des Latourschen Projekts einer anderen Art der Forschung, der die klassische Trennungsline zwischen dem großen Ganzen ‚der Gesellschaft’, zwischen der Makroperspektive, und den kleinen mikrosoziologischen Praxen verwischt. Die dichte Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie ist ein bescheidener Versuch, diese andere Art der Forschung im Bereich der Erziehungswissenschaft zu erproben. Vom Oligoptikon der Hypermedialen Ethnographie aus werden im letzten Teil dieser Untersuchung die Fäden gespannt, die sich als Umrisse des Entwurfs einer Pädagogischen Antrophologie des Zeitgenössischen zeigen.

EINLEITUNG | 25

Ausrufung einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen Im fünften und letzten Kapitel dieser Untersuchung wird der Versuch, mit den Begriffen Latours zu ethnographieren, reflektiert. Diese Reflektion gestaltet sich als Konvokation, als Ins-Leben-Rufen eines Logos, einer Forschungsrationalität, der ich den Namen Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen gegeben habe. Mit Hilfe der Begriffe Rabinows und Latours habe ich im dritten Kapitel versucht, eine Haltung, einen Ethos zu formulieren, der im vierten Kapitel in der praktischen Übung einer anderen Art ethnographischen Schreibens seinen Niederschlag findet. Die Umwandlung von Logos in Ethos schreibt Rabinow, gehe nicht ohne Pathos. Es gelte, diesem Pathos einen Platz in der Forschung einzuräumen. Dieses Pathos findet im vierten Kapitel seine Form in einer dreifachen Sorge: Erstens in der Sorge um die Wirklichkeit, die sich in dem Versuch niederschlägt, bei Anerkennung der Repräsentationsproblematik, geeignete Formen und Wege zu finden, ethnographische Forschung objektiv und wissenschaftlich zu gestalten. Im Kontext der dichten Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie schlug sich diese Sorge in der Suche nach dem geeigneten begrifflichen Werkzeug nieder und mündete in dem Versuch einer ethnographischen Form im Sinne Latours Scientifiction. Zweitens in der Sorge um die Beschaffenheit der Wesen, die in den beschriebenen Praxen vergegenwärtigt werden. Im vierten Kapitel wurde dabei besonderes Augenmerk auf die Frage gerichtet, wie die Neuen Medien als pädagogisch-didaktisches Wissensobjekt in Existenz gehalten werden. Die dritte Sorge betrifft die der ‚demokratischen Sozialisation‘ des Wissens. Hier geht es um die Frage, wer an welcher Stelle wen oder was repräsentiert. Im Kontext der Hypermedialen Ethnographie ist dieser Punkt von besonderer Relevanz an der Stelle, an der sich die ethnographische Offenheit und kollaborative Wissensproduktion nicht in eine kollaborativ gestaltete pädagogischdidaktische Wissensproduktion überführen ließ. Die Sorge um die Wirklichkeit betrifft die Frage der Repräsentation im Kontext der Wissenschaften, die Sorge um die Beschaffenheit der Wesen betrifft die Frage der Repräsentation in ihrer philosophischen Spielart, und die Sorge um die demokratische Sozialisation der Wissensdinge betrifft die Frage der Repräsentation in ihrer politischen Variante. Diese drei Aspekte spannen das Territorium einer mit Latour verstandenen Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen auf. Als Forschungsmodus ist die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen zunächst geprägt von einer gewissen Bescheidenheit. Die sternförmi-

26 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ gen Beobachtungspunkte (Oligoptiken), die Latour beschreibt, sind winzig klein und mögen insignifikant erscheinen. Im Folgen der Spuren der Akteure werden jedoch die Entitäten und Kategorien deutlich, die über diese kleinen elementaren Beobachtungspunkte hinausgehen. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen beschreibt mit dieser Herangehensweise eine umgekehrte Forschungsrichtung im Vergleich zu jenen pädagogisch anthropologischen Ansätzen, die ausgehend von der Beschreibung menschlicher Wesenheiten pädagogisch-didaktischem Handeln Orientierung verleihen wollen. Im Modus des Forschens, der die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen kennzeichnet, ist eine Zurückhaltung bezüglich der eigenen Kategorien zentral und Offenheit und Respekt gefragt vor den Kategorien, denen die Ethnographin im Rahmen der Forschung begegnet. Erst diese Offenheit ermöglicht es, die relevanten Fragen im Prozess des Forschens formulieren zu können. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen beschäftigt sich mit der Frage, wie die Entitäten, Kategorien oder ‚Wesen‘ im Bereich der Pädagogik und Didaktik in Existenz gehalten werden. Dies gilt sowohl für ‚Subjekte‘, ‚Kinder‘, ‚Menschen‘, ‚Pädagogen‘, ‚Künstler‘ etc. aber auch für ‚Objekte‘ wie die Hypermediale Ethnographie oder die ‚Neuen Medien‘. Beeinflusst von Latours Objektphilosophie richtet sich die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen gegen die Vernachlässigung der Dinge in pädagogisch-didaktischen Kontexten. Dies findet seinen Niederschlag in der ethnographischen Forschung im pädagogisch-didaktischen Bereich. Wie im 4. Kapitel demonstriert, führt dieser Weg weg vom Versuch, Relationen zwischen Ursachen und Wirkungen festzustellen, hin zu dichten Beschreibungen sozio-technischer Gefüge. Der Forschungsmodus der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen ist weder im herkömmlichen Sinne historisch noch im herkömmlichen Sinne sozialwissenschaftlich. Zeit und Gesellschaft werden hier nicht als präexistent vorausgesetzt. Vielmehr gilt es aufzuzeigen, auf welche Weise Zeit und Gesellschaft innerhalb sozio-technischer Gefüge konfiguriert werden. Dieses Interesse an den ‚Wesen’ und den ‚Kategorien‘ macht die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen zum philosophischen Projekt. Sie fragt nach spezifischen Formen des Seins, nach den Existenzmodi pädagogisch-didaktischen Wissens. Diese Frage kam in der Untersuchung im vierten Kapitel durch mehrere kleine Details zum Vorschein. So fiel auf, dass den ‚Experten’ eine elementare Rolle im pädagogisch-didaktischen Sinnstiftungsprozess zugewiesen wurde. Sie waren dafür zuständig, die Zukunftsfähigkeit pädagogisch-didaktischer Gegenstände, in unserem Falle, die der Neuen Medien, zu garantieren, und zwar schon vor der Durchführung der Projekte. Die dichte Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie deutet auf einen spezifischen Existenzmodus

EINLEITUNG | 27 pädagogisch-didaktischer Dinge. Dieser ist durch eine intrinsische Stabilität (Trägheit), Zukunftsfähigkeit und Sinnhaftigkeit gekennzeichnet. Pädagogisch-didaktische Dinge können diese drei Eigenschaften nicht selbst zu produzieren. Sie müssen von außen, von Experten und Expertisen, garantiert werden. Dieses Einholen der Garantien von außen kennzeichnet den didaktischen ‚Spin‘, den doppelten ‚Dreh‘, der pädagogisch-didaktische Dinge in Existenz hält. Sowohl das Wissen über ‚Kinder‘ oder ‚Menschen‘ als auch das über die zu vermittelnden Gegenstände, die didaktischen Inhalte, muss beständig von außerhalb pädagogisch-didaktischer Übersetzungsketten eingeholt, erneuert und vergegenwärtigt werden. Die Vermittlung zwischen ‚Subjekt’ und ‚Objekt‘ als Schnittmenge dieses doppelten Kreises wird dabei in pädagogisch-didaktischen Settings ebenso umkreist. Diese eigenwillige Bewegung kennzeichnet den Existenzmodus pädagogisch-didaktischer Dinge. Eine Konzentration auf den Bereich der Vermittlung, auf Medien, Methoden und Techniken, um ‚Stoff‘ zu vermitteln, greift deshalb zu kurz, weil sie die Vergegenwärtigungspraxen vernachlässigt, die pädagogisch-didaktische Dinge in Existenz halten. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen nimmt mit ihrer Hinwendung zur Frage pädagogisch-didaktischer Ontologien die philosophischen Implikationen der Didaktik ernst. Sie wendet sich gegen einen pädagogisch-didaktischen Technizismus und widmet sich der Frage, welche Wesen (‚Subjekte‘ und ‚Objekte‘) in pädagogisch-didaktischen Settings vergegenwärtigt werden, welche Botschaften erneuert und wie Menschen und Dinge im didaktischen ‚Spin‘ in Bewegung geraten. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen wendet sich der Frage der Repräsentation in ihrer politischen Spielart zu und fragt danach, wer an welcher Stelle und wie für wen oder was spricht, wer pädagogisch-didaktische Dinge repräsentiert, wer an den Verhandlungen beteiligt ist, die sie hervorbringen, wie diese Verhandlungen gestaltet sind und welche Verfahren dabei eingehalten werden. Sie bemüht sich darum, Widerspruch von Seiten der ‚Subjekte‘ und der ‚Objekte‘ zu ermöglichen und pädagogisch-didaktisches Wissen demokratisch zu sozialisieren. Im vierten Kapitel wird deutlich, dass die Kollaboration, die Multiperspektivität und Polyvokalität, die die ethnographische Wissensproduktion der Hypermedialen Ethnographie prägen sollte, sich nicht auf die pädagogischdidaktische Wissensproduktion erweiterte. Wie im fünften Kapitel erörtert, ist dies nicht einer prinzipiellen Unvereinbarkeit von Prozessorientierung und normativen Setzungen zuzurechnen, sondern einer praktischen Vernachlässigung des politischen Aspekts der Frage der Repräsentation. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen ist als umfassende Anthropologisierung des Pädagogischen zu verstehen. Sie zieht sich dabei nicht auf eine Beobachterrolle zurück, sondern beteiligt sich an den Re-Konfigura-

28 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ tionen der ‚Moderne‘, des ‚Menschen‘, der ‚Pädagogik‘, der ‚Didaktik‘, der ‚Ethnographie‘ und der ‚Anthropologie‘. Sie ist dem Latourschen Motto verpflichtet: „There is no innovation without representation.“35 Die Innovation, die ein Re-Design pädagogischer Forschung und ein Re-Design pädagogischer Anthropologie im Anschluss an Latour ausmacht, ist ihre dreifache Berücksichtigung der Frage der Repräsentation. Eine dreifache Sorge, die sich mit einem von Latour herangezogenem Stich aus dem 18. Jahrhundert illustrieren lässt.36 In einer Rede, die Bruno Latour Ende 2009 in Berlin hielt, beschrieb er diese Szene ungefähr wie folgt: Wir haben hier einen Künstler, der vielleicht die Nacht über an der Fertigstellung seiner Skulptur gearbeitet hat, und nun kommt er morgens herein und kriegt einen wahnsinnigen Schreck, weicht vor dem Geschöpf zurück und denkt, ‚Oh Gott, was ist das denn.‘ Das Geschöpf ist ebenfalls von der Begegnung nicht sehr begeistert und distanziert sich mit ähnlicher Geste. Das Geschöpf lebt, die Skulptur ist fertig, bereit für ein Eigenleben auf irgendeinem Marktplatz. Bei der Betrachtung der ‚Hypermedialen Ethnographie‘ habe ich mich auf ähnliche Weise erschrocken. Nach dem Motto ‚Oh Gott, welch Monster.‘ So ein Erschrecken ist manchmal nötig, um die Antriebskraft zu entwickeln, anderswo hin zu gelangen. Wobei die Frage hier offen bleibt, ob die ‚Hypermediale Ethnographie‘ wirklich ein Geschöpf geworden oder ein eher unbehauener Klotz geblieben ist. In dieser hier dargestellten Geste liegt die Möglichkeit, einen Topos anthropologischer Forschung, nämlich die Reflektion anders zu gestalten. Hier trifft nicht ein kalter Blick auf einen fixen Gegenstand. Hier wird der Blick erwidert. Hier ist fraglich, was Subjekt ist und was Objekt. In dem Modus der Forschung, den ich hiermit illustrieren möchte, ist keine losgelöste Betrachtung möglich. Hier ist ein Dabei- und Darinsein illustriert. Keine pathosfreie Sphäre, sondern eine gegenseitiger Affiziertheit. Ein künstliches Selbstbefremden ist hier nicht erforderlich, denn das Ganze ist schon befremdlich genug. Auch ist hier keine Kritik illustriert, denn um Kritik zu üben, müsste man erst einmal aus dieser Sphäre der Gegenseitigkeit austreten. Mal austreten ist hier nicht möglich. Das muss man aushalten können. Wer spricht hier für wen? Jupiter ist ja schließlich der Schöpfer aller Schöpfer. Da wird die Frage, wer ursprünglich wen ins Leben gerufen hat, schwierig. Hier haben wir es nicht mit einer ‚herrschaftlichen Verfügung eines Subjekts über eine manipulierbare Objekt-Masse‘ zu tun, sondern mit einer Form von Reziprozität, mit einer hin und her gespannten Beziehung. Diese Beziehung, 35 | Latour (1998a). 3. 36 | Latour, Bruno (2002): Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Merve Verlag Berlin. 35.

EINLEITUNG | 29 die hier im Raume steht, bildet die Sphäre des Sozio-technischen. Akteure und Artefakte sind hier, wie Latour in diversen Studien demonstriert hat, in einem gemeinsamen Prozess gegenseitiger Produktion vereint. Wichtig ist für Latour die „demokratische Sozialisation“ der ins Leben gerufenen Geschöpfe. Viktor Frankenstein hätte sein Monster nicht allein lassen dürfen, schreibt er an einer Stelle.37 Dieser Ruf, sich den Seinsweisen, den Existenzmodi, den ‚Wesen‘ zuzuwenden, ist ein zentrales Element in Latours Anthropologieentwurf. Es ist ein Ruf, sich den Anthropogenesen und Anthropotechniken zu widmen, und von diesen wimmelt es im Bereich von Bildung und Erziehung, von Pädagogik und Didaktik.

Stich von J.B. Oudry. In: Jean de La Fontaine, Fables Choisies, Paris 1756 Der Stich des Jupiter und seines Bildhauers auf Seite 21 stammt aus dem 18 Jahrhundert, in dem sich die Anthropologie als spezifische Form einer Wissenschaft vom Menschen herauszuentwickeln begann. Es bedurfte eines gewissen, ‚Außersichseins‘ des Menschen, um zum Objekt einer Wissenschaft werden zu können. Bei Plessner ist von einer ‚exzentrischen Positionalität’ die Rede. Dieses ‚Außersichsein‘, dieser Mensch als Gottgemachte Maschine, als Puppe, als Monster bevölkert, wie Sloterdijk, erwähnt, die romantische Literatur.38 Darunter auch Mary Shelleys Frankenstein. Die Moderne Faszination

37 | Latour, Bruno (2007d), 10f. 38 | Sloterdijk, Peter (2009): Du musst dein Leben ändern. Suhrkamp Verlag 563.

30 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ mit der Anthropomimesis lebt in einer Angst weiter, der wir auch im Rahmen des Projekts sense&cyber begegneten. Der Angst nämlich, dass uns die kognitionsmimetischen Maschinen Namens Computer unsere Seele nehmen könnten. Dass in seinem Angesicht unsere Sinnlichkeit, unsere Natürlichkeit, unser Leben auf dem Spiel stehen. Vor dem Hintergrund dieser sozio-technischen Relation ist der Gedanke zwar insofern abwegig, als dass er die Macht, die üblicherweise auf der Subjektseite zu finden ist, auf die Objektseite verschiebt. Die Fragen, wo aber nun die Beseelung in dieser sozio-technischen Sphäre stattfindet, und wie, sind dabei allerdings Wert, im Rahmen einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen weiter verfolgt zu werden. Sloterdijk betont, dass eine „neuere Theorie des Menschen“ nicht vorstellbar sei, ohne die „Suggestion“, „dass die Statue lebt, dass sie womöglich von unberechenbaren Intentionen erfüllt ist, dass sie sich auf die Menschen zubewegt.“39 Wir, schreibt Latour, können es uns nicht wie Viktor Frankenstein leisten, unsere anthropogenetischen Versuchsergebnisse unbegleitet zu lassen.40 Dieser Aufforderung, die Monster, die wir schaffen, selbst wenn es sich dabei nur um Forschungsaufstellungen, wie der ‚Hypermedialen Ethnographie’ handelt, zu sozialisieren, sollte sich keine disziplinäre Gemeinschaft, auch nicht und insbesondere nicht die Erziehungswissenschaft entziehen. Das von mir konturierte Territorium einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen mündet nicht in einer Begriffsklärung. Das wäre den dort formulierten Propositionen gegenläufig. Der Anthropologiebegriff wird dort nicht fixiert. Er bleibt mit Latour gesprochen ‚haarig’. Anthropologie erscheint im letzten Teil meiner Arbeit als großer und grober Umriss eines Feldes. In Zusammensetzung als Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen ist dort das Wissensfeld gemeint, in dem gefragt wird, wie pädagogisch/didaktische Subjekte und Objekte in Existenz, d.h. in der Zeit gehalten werden. Es ist eine Anthropologie, die den Menschen nicht unabhängig von seinen Artefakten betrachtet, und die sich der Anthropogenese und den Anthropotechniken von Bildung und Erziehung widmet. Sie ist mit Latour verstanden ein spezifischer Schauplatz ethnographischer Philosophie. Ihre Beschäftigung mit den spezifischen Existenzmodi pädagogisch-didaktischer ‚Wesen‘ macht sie zu einem Bestandteil einer positiven Anthropologie. Diese positive Anthropologie ist Teil der Latourschen Diplomatie, denn für ihn ist die gemeinsame Welt nicht ohne große diplomatische Anstrengungen zu haben. Der Frage der Zusammensetzung, schreibt Latour, können wir uns nicht ent-

39 | Ebd. 564. 40 | Latour, Bruno (2007d): „´It‘s the development, stupid!` or How to Modernize Modernization.“ www. bruno-latour.fr/articles/article107NORDHAUSSHELLENBERGER.pdf. 10f.

EINLEITUNG | 31 ziehen.41 Das gilt für ihn für die Philosophie genauso wie für die Politik. Um zu wissen, wofür es sich, wie Latour pathetisch sagt, zu kämpfen lohnt, müssen wir uns der Frage zuwenden, welche Wesen in der Zeit gehalten werden, und wie wir gedenken, diese Wesen zu sozialisieren. Den Rahmen, um ein solches Projekt im Bereich der Bildung und Erziehung und ihrer Wissenschaft anzugehen, könnte eine Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen bilden, nur wird es sehr viel mehr der Ameisenarbeit bedürfen als dies im Kontext dieser bescheidenen Untersuchung möglich war, um der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen als Wissensding Dauer zu verleihen.

41 | Latour, Bruno (2007): “The recall of modernity.“ `Cultural Studies Review. Vol.13, No. 1. March 2007. 11-30, 15.

Ethnographie und die Krise der Repräsentation

Ethnographie als Methode Die Ethnographie unterscheidet sich grundlegend von anderen sozialwissenschaftlichen Forschungs- und Darstellungsweisen. Zu den Eigenarten der Ethnographie als Methode zählt zunächst die Tatsache, dass ihr wichtige Merkmale einer wissenschaftlichen Methode fehlen. Gegenüber den an naturwissenschaftlichen Prinzipien orientierten sogenannten ‚harten’ sozialwissenschaftlichen Methoden spielt für ethnographische Vorgehensweisen weder Wiederholbarkeit, Überprüfbarkeit noch eine Kontrolle über alle am Erkenntnisprozess beteiligten Variablen eine Rolle. Im Gegenteil ist der „Kontrollverlust über die Bedingungen des Erkenntnisprozesses” für den Forschungsprozess „methodisch notwendig”.1 Für die Ethnographie ist „Reaktivität” kein den „Objektivitätsbemühungen bedrohender Horror”, sondern ihr „modus vivendi”.2 Ethnographierend tätig zu sein heißt, vielfältige Beobachtungen und heterogene Erfahrungen in den Forschungsprozess zu integrieren, anstatt sie von vornherein durch die Verwendung kontrollierter Selektionsinstrumente auszuschließen. Ethnographien basieren nicht auf standardisierten Forschungsdesigns. Vielmehr erfolgt der erste Gang ins Feld ohne Hypothesen und vorgefertigte Fragenkataloge. Die Ausgangsfrage ist dabei offen, „scheinbar trivial” und „unmethodisch”, nach Geertz ein einfaches „What the hell is going on?”3 Zu den Eigenarten ethnographischer Forschung zählt das Primat der ‚teilnehmenden Beobachtung’. Um von dem, was vor sich geht, eine Vorstellung zu bekommen, ist die Präsenz im Feld erforderlich. Erst mit der daraus resultierenden zunehmenden Einsicht in die unausgesprochenen Regeln der beobachteten Abläufe und die Verflechtungen der unterschiedlichen Aktivitäten und Akteure werden sukzessive thematische Festlegungen getroffen, nach denen weitere relevante Beobachtungssituationen ausgewählt werden. Bei der Auswahl von Fragen und Themen ist dabei eine Haltung

1 | Stefan Hirschauer, Klaus Amann (1997): „Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm.” In: Stefan Hirschauer, Klaus Amann (Hg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 7-52, 17. 2 | Ebd. 3 | Zitiert in ebd., 20.

34 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ ‚ethnographischer Offenheit’ gefragt, um zu verhindern, dass eine zu frühe Festlegung dazu führt, an den wirklich relevanten Themen vorbei zu forschen’. Im Falle der Ethnographie, bemerken Hirschauer und Amman, diktiere nicht die „Logik der Forschung” die Verhaltens- und Beobachtungsweisen der ForscherInnen, vielmehr erfordere die „komplexe Pragmatik des Erfahrungsfeldes” eine „Orientierung”, an dessen „gelebter Ordentlichkeit”.4 In diesem Sinne sei die Ethnographie keine „kanonisierbare und anwendbare ‚Methode‘, sondern eine „opportunistische und feldspezifische Erkenntnisstrategie.” 5 Diese Besonderheiten ethnographischer Forschung haben Auswirkungen auf ihre Darstellungsweisen. Die ethnographischen Monographien Bronislaw Malinowskis, Franz Boas oder Raymond Firths beispielsweise zeichnen sich nicht zuletzt durch ihre erzählerischen Qualitäten aus. Die zentrale Stellung des Narrativen ermöglicht der Ethnographie auf besondere Weise, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass „soziale Tatsachen” (Durkheim), wie Bruno Latour betont, immer gleichzeitig real, sozial und narrativ sind.6 Dem Aspekt der Narration ist von Ethnographen und denen, die über die Ethnographie schreiben, immer wieder besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Dabei zählt die Intensität der Debatten um das ‚Wie’ ethnographischen Schreibens und ihr Rückbezug auf die Ethnographie selbst zu ihren Eigenheiten. Einflüsse aus der Philosophie, der Literaturtheorie und der Soziologie auf die Anthropologie gingen immer den Weg über die Ethnographie. Die ‚aus den Tropen heimgekehrte’ Ethnographie greift auf eine Geschichte vielfältiger und differenzierter Reflexion zurück. Eine dieser Debatten um das ‚Wie’ ethnographischen Tuns wurde in den Achtzigerjahren unter dem Stichwort Krise der Repräsentation geführt und wird auch als Writing Culture Critique bezeichnet. Diese Bezeichnung ist einer Veröffentlichung zu verdanken, die diese Debatte entscheidend geprägt hat. Der von James Clifford und George E. Marcus 1986 herausgegebene Sammelband trägt den Titel Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography.7 Er sollte dazu beitragen, „to reinterpret cultural

4 | Ebd. 5 | Ebd. 6 | Bruno Latour. (1998): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main. 15. 7 | J. Clifford, G. Marcus (Hg.) (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press, Berkeley. 1986. Drei Texte aus diesem Band sind 1993 in deutscher Übersetzung erschienen. In: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg): „Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation.” Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main; Paul Rabinow: „Repräsentationen sind soziale Tatsachen. Moderne und Postmoderne in der Anthropologie.” 158-200. James Clifford: „Über ethnographische Allegorie.” 200-240; und Talal Asad: „Übersetzen zwischen Kulturen. Ein Konzept der britischen Sozialanthropologie.” 300-335

WRITING CULTURE CRITIQUE | 35 anthropology’s recent past and to open up its future possibilities.” Clifford Geertz Ansatz interpretativer Anthropologie und sein Konzept der ‚dichten Beschreibung’ gerieten dabei, wie im Folgenden noch deutlich werden wird, immer wieder in den Fokus der Debatte. Die Krise der Repräsentation, betont Geertz, sei weder ein neues noch ein von Anthropologen erfundenes Thema. In einer Replik auf Stephen Tylers Aufsatz in Writing Culture8 schreibt Geertz: „[…] his argument reflects a recognition, increasingly widespread, that ‘telling like it is’ is hardly more adequate a slogan for ethnography than for philosophy since Wittgenstein (or Gadamer), history since Collingwood (or Ricoeur), literature since Auerbach (or Barthes), painting since Gombrich (or Goodman), politics since Foucault (or Skinner), or physics since Kuhn (or Hesse). Whether or not paradox will locate it, there fairly clearly is a problem.”9 Das Problem der Krise der Repräsentation war zwar nicht neu, neu war aber die Bereitschaft, es als Problem anzuerkennen. Diese Bereitschaft löste in der anglophonen Anthropologie eine systematische und umfassende Selbstreflexion aus, die, wie Berg und Fuchs betonen, eine über das Fach hinausgehende Resonanz bewirkte.10 Paul Rabinow spricht von einer „semiotisch-dekonstruktivistischen Wende” in der Anthropologie, die der interpretativen folgte.11 Ob von „Wenden” die Rede sein kann, oder ob es sich um kontinuierliche Veränderungen in der Diskurslandschaft handelt, sei dahin gestellt. Von Interesse ist an dieser Stelle die Frage des ‚Wie‘ ethnographischen Tuns vor dem Hintergrund der Debatte um die Krise der Repräsentation (Writing Culture Critique). Die im Rahmen von sense&cyber entwickelte Hypermediale Ethnographie war als eine mögliche forschungspraktische Antwort auf diese Frage gedacht. Ihre Entwicklung ist Thema im vierten Kapitel. An dieser Stelle ist es zunächst sinnvoll, kurz auf die ‚interpretative Anthropologie’, ihren Wegbereiter Bronislaw Malinowski und ihren

8 | Stephen Tyler (1986): „Post-Modern Ethnography: From Document of the Occult to Occult Document.” In: J. Clifford, G.E. Marcus (Hg.) (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press, Berkeley. 122-139. 9 | Clifford Geertz (1988): Works and Lives: The Anthropologist as Author. Standford University Press, London. 137. 10 | Martin Fuchs, Eberhard Berg (1993): „Vorwort.” In: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 7-10, 10. 11 | Paul Rabinow (1993): „Repräsentationen sind soziale Tatsachen. Moderne und Postmoderne in der Anthropologie.” In: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 158-199.

36 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ prominentesten Vertreter Clifford Geertz einzugehen, denn die Writing Culture Critique baut auf der ‚interpretativen Anthropologie’ Geertzscher Prägung auf.

Wissenschaft und Narration Zentral für die diversen Ansätze, die sich hinter dem Label ‚interpretative Anthropologie‘ verbergen, ist die Rolle der Ethnographie. Während es den ‚Lehnstuhl-Anthropologen‘ im 19. Jahrhundert, die sich in erster Linie auf ‚Daten‘ von Reisenden, Missionaren, kolonialen Administratoren etc. stützten, um evolutionsgeschichtliche Klassifikationen, um Ursprünge moderner Verhaltensweisen, Institutionen, Rituale und Gewohnheiten und um Verallgemeinerungen über das Wesen des Menschen ging, begann sich im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts das Interesse britischer und USamerikanischer Anthropologen zu wandeln. Der gelebte Alltag der ‚Anderen‘ interessierte mehr als eine Sammlung spektakulärer Riten und Gebräuche. Zeitgenössische Verhältnisse ‚fremder Völker’ rückten in den Fokus. Damit verbunden war eine Abkehr von einer Vorgehensweise, bei der die Sammlung von ‚Daten‘ und ihre Interpretation separat von einander stattfanden. Bronislaw Malinowski wird, wenn nicht als „Begründer der Ethnographie”,12 so doch zumindest als „Symbolfigur eines neuen Ansatzes”13 gehandelt, eines Ansatzes, der auf der Integration von Empirie und Theorie basiert. In Abgrenzung zu den ‚Lehnstuhl Anthropologen‘ beharrte Malinowski auf „genuine scholarship based on real experience” und etablierte mit seinen „principles of method” die Feldarbeit als Standard ethnographischer Forschung.14 Von der „teilnehmenden Beobachtung” im Feld erhoffte sich Malinowski eine neutralere, akkuratere Darstellung der Verhältnisse, als dies von den nicht-professionellen Ethnographen in den Kolonien zu erwarten gewesen war. Der Erwerb der fremden Sprache und das persönliche Involviertsein in das tägliche Geschehen fernab von der eigenen Welt des Ethno-

12 | Vgl. James Urry (1984): „A history of field methods.” In: R.F. Ellen (ed.) (1984): Ethnographic Research. Academic Press, London. 36-61. Urry betont „[…] all Malinowski’s principles and goals had been realized before 1914.” ebd. 49. Als „Begründer der Ethnographie” werden in US-Amerika auch der Lehrer Franz Boas und Adolf Bastian genannt. Siehe z.B. The Columbia Encyclopedia. Columbia University Press, New York. 62004. 4502. 13 | Martin Fuchs, Eberhard Berg (1993): „Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation.” In: Martin Fuchs, Eberhard Berg. (Hg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 11-108, 27. 14 | Bronislaw Malinowski (1953 [1922]): Argonauts of the Western Pacific. An Account of Native Enterprise and Adventure in the Achipelagoes of Melanesian New Guinea. Routledge, London. 6ff.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 37 graphen sollte ein Mehr an Objektivität garantieren. Dabei ging es Malinowski nicht zuletzt um eine Anerkennung der Ethnographie als Wissenschaft: „[…] cultural anthropology need not be a jumble of slogans or labels, a factory of impressionistic shortcuts, or guess–work reconstructions. Cultural anthropology is a social science – I almost feel tempted to say, the science among social studies. […] Finally forced directly to resort to the living sources of human reality, the anthropologist was first to develop methods of sociological field-work.”15 Die Ziele der Systematisierung sollten dabei genauso bedient werden, wie der Anspruch, die beobachtete Kultur als lebendiges, sich veränderndes Gefüge aus der Perspektive des ,teilnehmenden Beobachters’ darzustellen: „We shall have to follow two lines of approach: on the one hand we must state with as much precision as possible the principles of social organization, the rules of tribal law and custom; the leading ideas, magical, technological, and scientific, of the natives. On the other hand we shall try to remain in touch with a living people, to keep before our eyes a clear picture of the setting and scenery.”16 In seiner Monographie Argonauts of the Western Pacific schafft Malinowski ein plastisches Bild der Trobriander. „He sees man in the round, not in the flat”, wie James Frazer feststellte.17 Malinowski hatte damit den erzählerischen Aspekt ethnographischer Darstellungen rehabilitiert, ohne ihre ‚Wissenschaftlichkeit‘ dabei aufs Spiel zu setzen. Krabbery beschreibt diese „neue Dimension” der Ethnographie wie folgt: „Malinowski as ‚the chronicler and spokesman of the Trobrianders‘ gave ethnography a dimension it had hitherto lacked: actuality of relationships and richness of content. Instead of a nondescript field where anonymous informants provided genealogies, recounted their folk-tales, stated the norms and apparently conformed to them, we become familiar with the Trobriands and its shaded villages, the changing aspect of its gardens through the seasons, its decorated yam houses, and canoes drawn up on the beach or moored in Kiriwina lagoon. We come to know the inhabitants, not as paid and perhaps bored informants, but as actors in a changing scene, as individuals who co-operate, quarrel, cheat, compromise, give generously, contradict one another (and also Malinowski on occasion), diverge from the rules, pay the penalty or some-

15 | Bronislaw Malinowski (1983 [1936]): Preface in Firth, Raymond: We, the Tikopia: A Sociological Study of Kinship in Primitive Polynesia. Stanford University Press California. XXI-XXV, XXV. 16 | Bronislaw Malinowski (1935): Coral Gardens and Their Magic. A Study of the Methods of Tilling the Soil and of Agricultural Rites in the Trobriand Islands. Vol. I. American Book Company, New York. 4. 17 | Zitiert in: Phyllis Kabbery (1975): „Malinowski‘s Contribution to Fieldwork Methods and the Writing of Ethnography.” In Raymond Firth (ed.) (1975): Man and Culture: An Evaluation of the Work of Bronislaw Malinowski. Humanities Press, New York. 71- 91, 71.

38 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ times avoid it. In short, we are always aware of the context of the situation in which Malinowski made his generalizations; and with him we trace the intricacies of multiple interrelationships.” 18 Gerade durch den Stil der Erzählung erscheint der beschriebene Kontext lebendig, was zur ‚Wissenschaftlichkeit‘ Malinowskis Ethnographien beiträgt. Lowie betont, dass es letztlich Malinowskis Stil gewesen sei, der sein Publikum vom Wert seiner Methoden überzeugt habe. Dabei habe ihm sein „ungewöhnlicher Sinn für das Literarische” geholfen, ein „Bild aus Fleisch und Blut” zu entwerfen.19 In der Tradition Malinowskis sind die Ethnographien der Gegenwart Resultate geleisteter Feldarbeit. Ihre Autorität beruht nach wie vor auf dem ‚Ich war dort‘, auf dem Bezeugen tatsächlicher Geschehnisse, auf der Präsenz der ForscherInnen im Feld. Es gehört zu den Traditionen des „ethnographischen Realismus,”20 dieser Betonung der Präsenz im Feld eine Abwesenheit der AutorInnen in den resultierenden Texten folgen zu lassen. Ebenso zählt dazu, Verallgemeinerungen auf der Basis von Versatzstücken einzelner Beobachtungen vorzunehmen. Trotz der Krise der Repräsentation haben sich diese Merkmale im Kern nicht verändert, dennoch hat es seit Malinowski fundamentale Verschiebungen in der ethnographischen Praxis gegeben. Dies ist auch der Tatsache zuzuschreiben, dass sich die ‚vormodernen Anderen‘ als Gegenstand ethnographischer Forschung nicht mehr leicht finden lassen. Der Exotismus und moralische Humanismus, der die Ethnographien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts prägte, ist einem Zugang gewichen, der sich auf die Phänomene alltäglichen Lebens konzentriert. Der noch von Malinowski artikulierte große Anspruch, die Vermittlung fremder Perspektiven möge der Selbsterkenntnis dienen und zu mehr Toleranz unter den Menschen führen,21 ist bescheideneren Ansprüchen gewichen, die sich auf die Erkenntnis von partikularen Wirkungszusammenhängen sozialer Phänomene beziehen. Während sich die „Singularität der konkreten Menschen” in der Monographie Malinowskis in „ein Großsubjekt” („der Eingeborene aus Trobriand”) auflöst, scheut die ‚aus den Tropen heimgekehrte‘ Anthropologie vor derartigen Generalisierungen zurück.22 Die Monographie als „geschlosse-

18 | Ebd. 19 | James Urry (1984): „A history of field methods.” In: R.F. Ellen (ed.) (1984): Ethnographic Research. London Academic Press, London. 36-61, 49. 20 | Marcus und Cushman sehen Malinowski als zentrale Figur in der Etablierung des „ethnographischen Realismus” als Genre, dessen Konventionen sie beschreiben und dem sie einen „current trend in experimentation” gegenüber stellen; siehe G.E. Marcus, D. Cushman (1982): „Ethnographies as Texts” In: Annual Review of Anthropology. Vol. 11. 25-96, 29. 21 | Martin Fuchs, Eberhard Berg (1993): „Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation.” In: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 11-108, 29ff. 22 | Ebd. 36.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 39 ne Darstellung einzelner Lebensformen”23 ist aus der Mode gekommen.24 Dem Modell des „Anthropologen als Held”,25 als „skrupulösen Repräsentanten der Fakten”,26 ist das des Forschers gewichen, der über seine Konstruktionen reflektiert und sich bemüht, die Objekte ethnographischer Beobachtung zu den den Forschungsprozess aktiv mitgestaltenden Subjekten werden zu lassen. Dies ist auch auf den Einfluss der Positivismuskritik in der Anthropologie in den Sechzigerjahren zurückzuführen und der damit einhergehenden stärkeren Rolle der Narration und den veränderten Mechanismen der Interpretation. Mit den Veränderungen ethnographischen Schreibens und Theoretisierens in den Sechzigerjahren ist untrennbar der Name Clifford Geertz verbunden, auf dessen interpretativer Anthropologie die Writing Culture Critique aufbaut. Fabian weist darauf hin, Geertz habe nicht mit seinen Schülern darin übereingestimmt, dass die Ethnographie überhaupt einer radikalen Kritik bedurfte. Geertz hätte sich nicht auf die politische Debatte zwischen den kritischen und den konventionell-wissenschaftlichen Zugängen in der Anthropologie eingelassen. Dennoch hätten seine Texte diejenigen, die gegen den Szientismus antraten, mit gewichtigen Argumenten ausgestattet.27 In seinem Schlüsseltext „Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture” weist er immer wieder auf die Konstruiertheit wissenschaftlicher Fakten hin: „[…] what we call our data are really our own constructions of other people’s constructions of what they and their compatriots are up to […]”28 und: „[…] cultural analysis 23 | Ebd. 40. 24 | Damit einhergehend auch die Tradition, Verbindungen diverser Bereiche herzustellen, welche in der Darstellung Latours für die heutige Anthropologie einen zentralen Stellenwert haben sollte: „Bei den fremden Kollektiven hatte die Anthropologie keine Probleme, alles gleichzeitig zu behandeln. Denn jeder Ethnologe ist in der Lage, in einer einzigen Monographie alles unterzubringen, was zu dem untersuchten Kollektiv gehört: die Kräfte, die im Spiel sind: die Machtverteilung zwischen Menschen, Göttern und anderen Wesen; die Verständigungsverfahren; die Verbindungen zwischen Religion und Macht; die Ahnenwelt, die Kosmologie, das Eigentumsrecht und die Taxonomien von Pflanzen und Tieren. […] Gäbe es eine Anthropologie der modernen Welt, so hätte sie in gleicher Weise zu beschreiben, wie die verschiedenen Bereiche unserer Regierungsform organisiert sind, einschließlich dem der Natur und der exakten Wissenschaften; sie hätte zu erklären, wie und warum diese Bereiche sich trennen, aber auch die vielfältigen Arrangements zu beschreiben, die sie wieder zusammenführen.” (Bruno Latour (2002): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Fischer, Frankfurt am Main. 23f.). 25 | Susan Sontag (1970): „The Anthropologist as Hero.” In E.N. and T. Hayes, eds. (1970): Claude LéviStrauss The Anthropologist as Hero. MIT Press, Cambridge, Mass. 184-196. 26 | Bruno Latour (1998): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 42. 27 | Johannes Fabian in einer Replik auf Schankmann. In: Current Anthropology 25:3, 1984: 273. 28 | Clifford Geertz (1975 [1973]): „Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture”. In: The Interpretation of Cultures. Basic Books, London. 3-33, 9.

40 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ is (or should be) guessing at meanings, assessing the guesses, and drawing explanatory conclusions form the better guesses, not discovering the Continent of Meaning and mapping out its bodiless landscape.”29 Und: „In short, anthropological writings are themselves interpretations, and second and third order ones to boot. (By definition, only a ‘native‘ makes first order ones: it is his culture.). They are thus fictions: fictions, in the sense that they are ‘something made,‘ ‘something fashioned‘ - the original meaning of fictio - not that they are false, unfactual, or merely ‘as if’ thought experiments.”30 Obwohl Geertz die „Unvermeidbarkeit der Fiktionalisierung” betont, verfolgt er diesen Gedanken nicht,31 sondern gerät durch ihn in eine Rechtfertigungsposition gegenüber den sogenannten ‚harten Wissenschaften’. So verwahrt er sich gegen „sociological aestheticism”32 und behauptet: „Nothing will discredit a semiotic approach to culture more quickly than allowing it to drift into a combination of intuitionism and alchemy, no matter how elegantly the intuitions are expressed or how modern the alchemy is made to look.”33 Bei dem Versuch, die Kriterien festzulegen, nach denen gute von schlechten Interpretationen unterschieden werden können, bleibt Geertz wie oft vage. Eine gute Interpretation würde zum „Herzen der Sache” führen.34 Was genau man sich darunter vorzustellen hat, erläutert Geertz nicht.35 Auch sein Konzept der „Inskription” („Dichte Beschreibung”) bleibt in einem Widerspruch zwischen dem Aspekt der Konstruktion und dem „Herzen der Sache” verstrickt. Ethnographie oder, wie Geertz formuliert, „doing ethnography” würde sich nicht über Methoden definieren, sondern darüber, was für eine Art „intellectual effort”

29 | Ebd. 20. 30 | Ebd. 15. 31 | Rabinow zufolge bedurfte es James Cliffords „Metaposition”, um die „tatsächliche Wucht” des Gedankens der „Unvermeidbarkeit der Fiktionalisierung” vor Augen zu führen. Paul Rabinow (1993): „Repräsentationen sind soziale Tatsachen. Moderne und Postmoderne in der Anthropologie.” In: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 158-199. 171. 32 | Geertz. 30. 33 | Ebd. 34 | „A good interpretation of anything – a poem, a person, a history, a ritual, an institution, a society – takes us into the heart of that of which it is the interpretation. When it does not do that, but leads us instead somewhere else – into an admiration of its own elegance, of its author’s cleverness, or of the beauties of Euclidean order – it may have its intrinsic charms; but it is something else than what the task at hand […] calls for.” Geertz. ebd. 18. 35 | Vgl. Paul Schankman (1984): „The Thick and the Thin: On the Interpretive Theoretical Program of Clifford Geertz.” In: Current Anthropology. University of Chicago Press, Chicago. 25(3): 261-270.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 41 sie sei, nämlich: „An elaborate venture in […] ‘thick description‘.”36 Geertz viel zitierte „dichte Beschreibung” ist also nicht einfach als ‚Technik’ zu verstehen, die in der Darstellung ethnographischen Materials zur Anwendung kommt. In Anlehnung an Ricoeur beschreibt Geertz seine „dichte Beschreibung” als Inskription: „The ethnographer „inscribes” social discourse; he writes it down. In so doing, he turns it from a passing event, which exists only in its own moment of occurrence, into an account, which exists in its inscriptions and can be reconsulted.” 37 Geertz rückt damit den Akt des Schreibens (Inskription als Ein- und Niederschreiben) in das Zentrum ethnographischen Tuns, ohne dabei das Primat der Feldarbeit aufzugeben. Dem Anthropologen kommt dabei die Aufgabe zu, „fremde Lebens- und Weltentwürfe”38 schriftlich zu fixieren, um sie dem „menschlichen Diskursuniversum”39 einzuverleiben. Es geht Geertz nicht um eine einfache Beschreibung menschlichen Verhaltens, sondern um die Erschließung der „informellen Logik des tatsächlichen Lebens”, die aus sozialen Handlungen abzulesen sei.40 Geertz bemüht sich nicht, seine Vorstellung von Inskription und Interpretation konkreter zu erläutern. Zum Thema Inskription und der Frage, was das Schreiben fixiert, zitiert er Ricoeur: „Not the event of speaking, but the „said” of speaking, where we understand by the „said” of speaking that intentional exteriorization constitutive of the aim of discourse thanks to which the sagen – the saying – wants to become Aus-sage – the enunciation, the enunciated. In short, what we write is the noema [„thought”, „content,”„gist”] of the speaking. It is the meaning of the speech event, not the event as event.”41 Bei der Konzentration auf das „noema”, auf den Inhalt, Gehalt oder Gedanken der Aussage, treten die situativen Bezüge genauso in den Hintergrund wie die Intentionen der Sprecher. Es bleibt offen, wo und wie sich das „noema” zeigt. Inskription, das Einschreiben bzw. Festschreiben der Bedeutung eines Ereignisses ist bei Geertz demzufolge nicht mit Machtmechanismen verbunden. Das „noema” kann sich jedem erschließen. Bedeutung und Kultur als „dargestelltes, ausagiertes Dokument” begreift Geertz als „öffentlich”.42 Der Vorgang der Inskription erscheint als Akt der Übersetzung ‚objektiv’ vorhan-

36 | Ebd. 6. 37 | Ebd. 19. 38 | Martin Fuchs, Eberhard Berg (1993). 44. 39 | „[…] the aim of anthropology is the enlargement of the universe of human discourse.” Geertz (1975 [1973]). 14. 40 | Geertz (1975 [1973]). 17. 41 | Ebd. 19. 42 | „Culture is public because meaning is”, Geertz. ebd. 12.

42 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ dener Bedeutungen in die (Schrift)sprache. Obwohl Geertz expressis verbis den Gedanken einer Wirklichkeit vor der Sprache und vor jeder Interpretation ablehnt, ist er doch im Konzept der Inskription (und damit der „dichten Beschreibung”) implizit. Das Konzept der Inskription legt entgegen Geertz eigenen Beteuerungen den Gedanken nahe, dass es ein originäres, noch nicht bereits eingeschriebenes Ereignis, gebe. Hier setzt auch James Cliffords Kritik an: „The very noting of an event presupposes a prior inscription. […] A ritual, for example, when its normal course is recounted by a knowledgeable authority, is not a „passing event.” Nor is a genealogy. They are already inscribed. The same is true of everything paradoxically called „oral literature.” A myth recited and taken down, a spell or a song recorded in writing or on tape – these involve processes of transcription and explicit translation.”43 Dem Akt der Inskription und dem der Deskription wird als Abkehr vom historischen tatsächlichen Geschehen, laut James Clifford, bei Geertz und dem „mainstream” der interpretativen Anthropologie gegenüber dem der Transkription zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dies hat zur Folge, dass der für Geertz zentrale Aktorbezug verloren geht. In Geertz Essay „Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight”,44 dem als Beispiel für Geertz theoretische Proklamationen viel Aufmerksamkeit und Kritik zuteil wurde, ist die Stimme seiner Informanten nicht zu hören. Es wird nicht deutlich, mit Hilfe welcher Aussagen Geertz zu seinen Interpretationen gelangt. In seiner Darstellung „verwischt” er seine Interpretationsleistung „bis zu Unkenntlichkeit” mit den Interpretationen, die er angeblich von seinen Informanten erhalten hat.45 Scholte beschreibt diesen Mechanismus als Stilmerkmal der „dichten Beschreibung” und spricht in Anlehnung an Tedlock von einer „Knebel-Regel”, die die Stimme der „Eingeborenen” verstummen lässt. „The actual knowledge-constitutive process remains hidden in the narrative style of thick description […] Thick description is in a certain sense ‚a gag rule on native discourse‘.”46 In diesem Schema behält der Anthropologe die Distanz zu seinen Forschungsobjekten und beansprucht die endgültige Interpretationshoheit für sich. Geertz liest den Hahnenkampf „über die Schulter”47 der Balinesen, um Kenntnis darüber zu erlangen, „what

43 | James Clifford (1990): „Notes on (Field)notes”. In: Roger Sanjek (ed.) (1990): Fieldnotes. The Makings of Anthropology. Cornell University Press, Leuven. 47-71, 57. 44 | Clifford Geertz (1975 [1973]): „Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight”. In: Clifford Geertz. The Interpretation of Cultures: Selected Essays. Basic Books, London. 412-453. 45 | Berg/Fuchs in Anlehnung an Crapanzano. Berg/Fuchs (1993). 56. 46 | Bob Scholte (1986): „The Charmed Circle of Geertz’s Hermeneutics. A Neo-Marxist Critique.” In: Critique of Anthropology, London. 1986 (VI Nr. 1). 5-15, 11 f. 47 | Geertz, ebd. 452.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 43 being a Balinese ‚is really like‘”.48 Hahnenkämpfe werden bei Geertz zu Kunstwerken, mit Hilfe derer sich die Balinesen etwas über sich selbst erzählen: „Psychologically an Aesopian representation of the ideal/demonic, rather narcissistic, male self, sociologically it is an equally Aesopian representation of the complex fields of tension set up by the controlled, muted, ceremonial, but for all that deeply felt, interaction of those selves in the context of everyday life. The cocks may be surrogates for their owners‘ personalities, animal mirrors of psychic form, but the cockfight is – or more exactly, deliberately is made to be - a simulation of the social matrix, the involved system of cross-cutting, overlapping, highly corporate groups – villages, kingroups, irrigation societies, temple congregations, ‘castes’ – in which its devotees live.”49 Geertz Interesse gilt den symbolischen Bedeutungen kultureller Texte, nicht wie sie produziert und reproduziert werden. Weder auf der Ebene von Kultur als Text noch auf der Ebene der ethnographischen Textproduktion interessieren Geertz die Fragen, wer zu welchem Zeitpunkt mit welchen historisch/ politischen Beweggründen an der Textproduktion beteiligt ist. Dies hat ihm den Vorwurf der politischen Blindheit eingehandelt. „Power and repression do not figure in Geertz’s Anthropology”, bemerkt Austin-Broos,50 und Scholte beschreibt Geertz Vorhaben als „misguided effort to insulate anthropological theories from historical contingencies and cultural diversity.”51 Geertz würde komplexe Prozesse vergegenständlichen und Akteure und deren Handlungsmotivationen vernachlässigen.52 Roseberry führt dies auf die Metapher des Textes zurück. Kultur als Text zu begreifen, würde Phänomene einfrieren und sie von Handlungsbezügen abtrennen.53 Auch Amman kritisiert Geertz statischen Kulturbegriff, den er in einer Ausweitung der Text- und Textinterpretationsmetapher begründet sieht.54 Eine differenziertere Kritik findet sich bei Berg und Fuchs, die den Gedanken von Kultur als Text nicht von vornherein ablehnen, sondern vielmehr das Problem darin sehen, dass sich bei Geertz ein statisches Textverständnis zeige, und dass es seine „Handhabung der semio-

48 | Geertz, ebd. 417. 49 | Geertz, ebd. 436. 50 | Diane Austin-Broos (1984): „Clifford Geertz: culture, sociology and historicism. ”In: Diane AustinBroos (Hg.) (1984): Creating Culture. Allen and Unwin, London. 142-279, 157. 51 | Scholte, ebd, 6. 52 | Ebd. 53 | William Roseberry (1982): „Balinese Cockfights and the Seduction of Anthropology.” In: Social Research 49 (9), New York. 1982. 1013-1028. 54 | Klaus Aman (1997): „Ethnographie jenseits von Kulturdeutung. Über Geigespielen und Molekularbiologie.” In: Stefan Hirschauer, Klaus Amann (Hg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt am Main. 298-333, 303.

44 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ tischen Interpretation” sei, die eine „Rückkehr zum holistischen Kulturbegriff” bedeute.55 Die „Substantialisierung des Textbegriffes” bei Geertz werde seinem eigenen Anspruch nicht gerecht, die „Fähigkeiten zur Selbstauslegung von Seiten der Gesellschaftsangehörigen ernst zu nehmen” und letztlich den „objektivistischen Zugriff der älteren Ethnologie fortsetzen.”56 Geertz Projekt ist auch insofern nicht von seinen Vorgängern zu unterscheiden, als es auch ihm um Aussagen über die Conditio Humana geht. Der Hahnenkampf ist für ihn ein Beispiel für die zentrale Stellung symbolischer Handlungen und ein Ausdruck dafür, mit welchen Mitteln und mit welcher Dringlichkeit sich die Menschen etwas über sich selbst erzählen wollen, obwohl sie sich dieser Dimension ihrer Handlung gar nicht bewusst sind.57 Geertz wird den von ihm geweckten Erwartungen bezüglich einer neuen Art von ethnographischer Repräsentation nicht gerecht. Obwohl er schreibt, „[…] the line between mode of representation and substantive content is as undrawable in cultural analysis as it is in painting […]”58, scheint das Projekt seiner ‚dichten Beschreibung’ gerade darin zu liegen, diese Linie zu ziehen und den Inhalt (das „noema”) zu fixieren. Obwohl Geertz den Gedanken einer Wirklichkeit vor jeder Interpretation explizit ablehnt, lebt er in seiner Suche nach der wahren Lesart fort. Als Geertz bedeutendster Beitrag über die Ethnographie und die Anthropologie hinaus gilt jedoch seine Anerkennung der Rolle der Narration, die die positivistische Annahme, dass lediglich auf der Basis pre-existenter Evidenzen interpretiert werden könnte, als naiv entlarvt.59 Hier setzen die Kritiker des Geertzschen Writing Culture Konzepts an. Ihnen 55 | Berg/Fuchs, ebd. 63. 56 | Ebd. 59. 57 | Geertz hebt diese Bedeutung und Dringlichkeit auch durch die Verwendung des Konzepts des Deep Play von Bentham hervor. Einem Spiel, bei dem die Einsätze so hoch sind, dass sich eine Beteiligung nicht rational rechtfertigen lässt. Bei Geertz ist es die menschliche Eigenschaft, nach Bedeutung suchen zu müssen, die sie das Risiko eines ökonomischen Verlusts eingehen lässt, wenn ein Überschuss an Bedeutung dafür zu haben ist:” It is in large part because the marginal disutility of loss is so great at the higher levels of betting that to engage in such betting is to lay one’s public self, allusively and metaphorically, through the medium of one’s cock, on the line. And though to a Benthamite this might seem merely to increase the irrationality of the enterprise that much further, to the Balinese what it mainly increases is the meaningfulness of it all. And as (to follow Weber rather than Bentham) the imposition of meaning on life is the major end and primary condition of human existence, that access of significance more than compensates for the economic costs involved.” Clifford Geertz (1975): „Deep Play: Notes on the Balinese Cockfight” In: Clifford Geertz, (Hg.) (1975 [1973]): The Interpretation of Cultures. Selected Essays. Basic Books, London. 412-453, 434. 58 | Clifford Geertz (1975 [1973]): „Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture”. In: The Interpretation of Cultures. Basic Books, London. 3-33. 16. 59 | Scholte (1986). 8.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 45 geht Geertz nicht weit genug, wenn es darum geht, den Aspekt der Narration wirklich ernst zu nehmen.

Writing Culture Critique Ein zentrales Merkmal der Writing Culture Critique ist die Betonung narrrativer Strategien und rhetorischer Mittel ethnographischer Texte. Ihren Namen verdankt die Debatte einer Aufsatzsammlung, die infolge eines im April 1984 gehaltenen „advanced seminars” an der School of American Research in Santa Fe, New Mexico, herausgegeben wurde.60 1993 erschienen drei der im Writing Culture Band veröffentlichten Aufsätze in deutscher Übersetzung.61 Der im englischsprachigen Bereich weit verzweigten Debatte stehen nur vereinzelte Beiträge in deutscher Sprache gegenüber.62 Im Folgenden soll diese Debatte anhand einiger zentraler Texte grob skizziert werden. In ihrem Schlüsseltext „Ethnographies as Texts” beschreiben Marcus und Cushman die Genre-Konventionen des „ethnographischen Realismus”.63 In Anlehnung an die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts steht der Terminus „Realismus” für einen Modus des Schreibens, bei dem es um die systematische Repräsentation einer Welt geht, die dem Leser komplett und real erscheinen soll. Jede analytische Aufmerksamkeit aufs Detail ist dabei dem Ziel untergeordnet, soziale und kulturelle Totalitäten entstehen zu lassen. Als Basis der Autorität des Ethnographen und der Überzeugungskraft des Textes, tatsächlich die Realität widerzuspiegeln, dient die Erfahrung aus erster Hand, das ‚Dagewesensein’ des Ethnographen im Feld. Es gehört zu den Konventionen des Genres, die Autorität mit einer ‚arrival story’, (wie sie auch bei Geertz „Balinesischem Hahnenkampf” zu 60 | James Clifford, George E. Marcus (eds.) (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press, Berkeley. 1986. 61 | Talal Asad (1993): „Übersetzen zwischen Kulturen. Ein Konzept der britischen Sozialanthropologie.” In: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 300-335. James Clifford (1993): „Über ethnographische Autorität”. In: Fuchs ebd. 200-240. P. Rabinow (1993): „Repräsentationen sind soziale Tatsachen. Moderne und Postmoderne in der Anthropologie”. In: Fuchs ebd. 158-200. 62 | Vgl.: Stefan Hirschauer, Klaus Amann (Hg.) (1997): Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. Vgl. auch Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. Und: Bernhard Waldenfels (1999): Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 63 | G.E. Marcus, D. Cushman (1982): „Ethnographies as Texts” In: Annual Review of Anthropology, 1982, Vol. 11:25-96.

46 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ finden ist), zu etablieren, um sodann die erste Person aus dem Text verschwinden zu lassen und sie durch einen auktorialen Erzähler (omniscient narrator) zu ersetzen. Diese Strategie ermöglicht die Trennung zwischen den Fakten und ihrer Gewinnung und trägt zum Wahren des Scheins wissenschaftlicher Objektivität bei.64 Zu den von Marcus und Cushman beschriebenen Konventionen zählt die Zusammenfassung heterogener Gruppen zu „common denominator people”.65 Diese „Zusammenfassung” zu einer „composite creation” mit einheitlichem Charakter und geteilten Verhaltensweisen dient der Etablierung und Legitimierung des Forschungsobjekts und hat zur Folge, dass Individuen nur selten (z.B. in eingestreuten Fallbeispielen) oder gar nicht im Text erscheinen. Kennzeichnend für den Stil ethnographisch-realistischer Reportagen sind Marcus und Cushmann zufolge nicht die während der Feldforschung gesammelten Details, nicht partikulare, situationsspezifische Handlungen oder Äußerungen, sondern Generalisierungen und Typisierungen: „The particulars of whatever was being investigated (rituals, marriage practices, forms of political organization, etc) were seldom presented in their individuality, but rather were teased into a statement of typicality (a typical ritual, a typical marriage practice, a typical village council, etc.).”66 Bei einer solchen Gewichtung können einzelne Ereignisse oder Äußerungen einzelner Informanten nicht mehr vom Leser zurückverfolgt werden. Die Transparenz der Konstruktion sozialer Tatsachen wird zugunsten der Herstellung von „Authentizität” aufgegeben. Thornton beschreibt die „Imagination von Ganzheiten” als „rhetorischen Imperativ” der Ethnographie.67 Die Rhetorik des „ethnographischen Holismus” beziehe sich immer auf „verborgene Wesenheiten”, auf „tieferliegende Bilder von Ganzheiten”, die weder der Erfahrung des Autors noch der seiner Protagonisten unmittelbar zugänglich seien.68 Diese Bilder würden allein in der Imagination des Autors, seiner Informanten und seiner Leser existieren. Sie wären die „existentielle Fiktion” des ethnographischen Texts.

64 | Zum Thema der ethnographischen Autorenschaft/Autorität siehe auch den Schlüsseltext von James Clifford (1988): „On Ethnographic Authority”. In: Ders. The Predicament of Culture. Harvard University Press, Cambridge. 21-54. 65 | Ebd. 32. 66 | G.E. Marcus, D. Cushman (1982): „Ethnographies as Texts” In: Annual Review of Anthropology. 1982, Vol. 11:25-96, 35. 67 | Robert J. Thornton (1993 [1988]): „Die Rhetorik des ethnographischen Holismus.” In: Martin Fuchs, Eberhard Berg, (Hg.) (1993): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 240-268, 241. 68 | Ebd. 247.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 47 Die Fiktion dieser Ganzheiten garantiere die „Faktizität des ‚Faktums.‘”69 Um den beobachteten Anderen ein einheitliches „authentisches” Äußeres zu geben, bedarf es nicht nur der Generalisierungen und Typisierungen, sondern ebenfalls einer bestimmten Zeitlichkeit. Typisch ist nur das, was die Zeit überdauert. Bei Clifford heißt es: „Authenticity […] is produced by removing objects and customs from their current historical situation – a present-becoming-future.”70 Die ‚historische Situation’ der Beobachteten ist in dieser Konstellation eine andere als die der Beobachter. Sie agieren nicht in der gleichen Zeit, sie stehen sich nicht als Zeitgenossen gegenüber. Die „anderen” werden in eine fiktive Vor-Zeit versetzt, sie werden „petrifiziert”, um so als Objekte der Wissenschaft zu dienen. Die interaktive Basis des Erkenntnisprozesses wird somit negiert. Fabian schreibt: „The absence of the Other from our Time has been his mode of presence in our discourse – as an object and a victim.”71 In den klassischen ethnographischen Erzählungen werden‚die Anderen’ auch insofern zu Opfern, als dass ihrer vermeintlich authentischen gemeinsamen Kultur ein Überleben in der Moderne abgesprochen wird. Clifford vergleicht die Struktur dieser Erzählungen mit denen der Pastorale.72 In beiden Fällen geht es um die Fiktion überschaubarer Gemeinschaften („knowable communities”)73, die in eine imaginäre Vor-Zeit versetzt werden. In beiden Fällen geht es um den Verlust heiler Welten, den Verlust des Garten Eden. In beiden Fällen können diese Erzählungen mit einer kritischen Nostalgie einhergehen, die die verlorene Welt in ihren Werten preist und die Gegenwart als korrupt und entfremdet darstellt. Clifford beschreibt die klassische Ethnographie daher als „redemptive metahistorical narrative”, als eine Erzählung, die fiktive verlorene Vergangenheiten durch das Fixieren in der Schrift vor dem endgültigen Untergang retten soll und dabei tatsächliche historische Gegebenheiten außer Acht lässt. Allein die Inszenierung der Passage vom gesprochenen Wort zum ethnographischen Text sei ein Ausdruck einer Repräsentationspraxis, die Clifford „salvage ethnography”74

69 | Ebd. 70 | James Clifford (1988): „On Collecting Art and Culture.” In: James Clifford. The Predicament of Culture: 20th Century Ethnography, Literature and Art. Harvard University Press, London. 215-249, 228. 71 | Johannes Fabian (1983): Time and the Other. How Anthropology Makes its Object. University of Columbia Press, New York. 154. 72 | Vgl. Renato Rosaldo (1986): „From the Door of His Tent: The Fieldworker and the Inquisitor.” In: James Clifford, George E. Marcus (Hg.) (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press, London. 77-98. 73 | James Clifford (1986): „On Ethnographic Allegory.” In: James Clifford, George E. Marcus (Hg.) (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press, London. 98-122, 114. 74 | Ebd. 112.

48 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ nennt, wobei er betont, dass jeder Text, der vorgibt Erfahrungen zu übersetzen, den Aspekt der Rettung impliziert: „Since antiquity the story of a passage from the oral/aural into writing has been a complex and charged one. Every ethnography enacts such a movement, and this is one source of the peculiar authority that finds both rescue and irretrievable loss – a kind of death in life – in the making of texts from events and dialogues. Words and deeds are transient (and authentic), writing endures (as supplementarity and artifice). The text embalms the event as it extends its „meaning.” Since Socrates‘ refusal to write, itself powerfully written by Plato, a profound ambivalence toward the passage from oral to literate has characterized Western thinking. And much of the power and pathos of ethnography derives from the fact that it has situated its practice within this crucial transition. The fieldworker presides over, and controls in some degree, the making of a text out of life. His or her descriptions and interpretations become part of the „consultable record of what man has said” ... The text is a record of something enunciated, in a past. The structure, if not the thematic content, of pastoral is repeated.”75 Obwohl es Clifford zufolge unmöglich ist, die Ethnographie von den Allegorien der Rettung gänzlich zu befreien, ist er davon überzeugt, dass Ethnographien, die ihren Fokus weg von der Geertzschen Inskription und Deskription hin auf Transkription und Dialog richten, dazu beitragen, die auf dem Aspekt der Rettung basierende Autorität der ForscherInnen zu dezentrieren und andere Lesarten zuzulassen.76 Clifford fordert eine Anerkennung der Allegorie, welche unausweichlich die politischen und ethischen Dimensionen der Forschungsvorhaben ins Spiel bringen würde. Eine solche Anerkennung würde das Schreiben und das Lesen von Ethnographien auf potentiell fruchtbare Weise komplizieren.77 Ein erhöhtes Problembewusstsein im Hinblick auf Allegorien, auf narrative Mechanismen allgemein, müsse einhergehen mit einem verstärkten Bemühen von Seiten der Ethnographen und denen, die Ethnographien rezipieren, für ihre Konstruktionen Verantwortung zu übernehmen: „[…] a recognition of allegory requires that as readers and writers of ethnographies, we struggle to confront and take responsibility for our systematic constructions of others and of ourselves through others. This recognition need not ultimately lead to an ironic position – though it must contend with profound ironies. If we are condemned to tell stories we cannot control, may we not, at least, tell stories we believe to be true.”78

75 | Ebd. 115f. 76 | Vgl. James Clifford, James (1990): „Notes on (Field)notes”. In Sanjek, Roger (ed.): Fieldnotes. The Makings of Anthropology, Cornell University Press, 47-71. 77 | James Clifford (1986): „On Ethnographic Allegory.” In: James Clifford, George E. Marcus (Hg.) (1986): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press, London. 98-122, 120. 78 | Ebd. 121.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 49

Experimentelle Ethnographien In den frühen Achtzigerjahren machen Marcus und Cushman einen „Trend des Experimentierens” mit Formen ethnographischen Schreibens aus, den sie als „philosophisch informierte Reaktion auf die Genre Konventionen des ethnographischen Realismus” beschreiben.79 Als zentrale gemeinsame Eigenschaft dieser neuen Formen beschreiben sie die Integration einer Reflexion über das „Wie des Schreibens”: „The major characteristic shared by experimental ethnographies is that they integrate, within their interpretations, an explicit epistemological concern for how they have constructed such interpretations and how they are representing them textually as objective discourse about subjects among whom research was conducted.”80 Diese Selbstreflexivität sei nicht nur eine methodologisch orientierte Nacherzählung der Bedingungen und Erfahrungen der Feldarbeit und unterscheide sich grundlegend vom Subjektivismus „bekennender” Feldforschungsberichte. Sie reiche von sehr expliziten Erörterungen über das Verhältnis zwischen der Form des Textes und der Art der Interpretation (hier wird Renato Rosaldos Ilongot Headhunting aus 1980 als ein Beispiel genannt) über eingestreute Abhandlungen zu Interpretationsproblemen (hier wird u.a. Annette B. Weiners Women of Value Men of Renown (1976) erwähnt) bis hin zu diffuseren erkenntnistheoretischen Belangen, die aus den neuen Formen der Präsentation des Materials hervorgingen (unter den genannten Beispielen findet sich hier Vincent Crapenzanos Tuhami: Portrait of a Moroccan aus 1980).81 Ziel dieser ‚Selbstreflextion’ ist nicht die Fokussierung auf den Erzähler, sondern eher umgekehrt die Rücknahme der Erzählpersönlichkeit durch das Aufzeigen ihrer Situiertheit und Konstruiertheit. Die ‚Außenperspektive’ auf den Forscher soll dabei den partizipatorischen Aspekt in der Repräsentation der Anderen stärker hervorheben. In seinem Schlüsseltext „On Ethnographic Authority” bemüht sich Clifford, dem alten Bild des Ethnographen als Textinterpreten oder Kritiker, der souverän und aus sicherer Distanz widerspenstige Bedeutungen zähmt, um sie auf eine einzige kohärente Intention zurückzuführen, ein anderes gegenüberzustellen.82 Clifford rückt von der Textmetapher ab und plädiert für ein „diskursi79 | Marcus, G.E.; Cushman, D. (1982): „Ethnographies as Texts” In: Annual Review of Anthropology. 1982, Vol. 11:25-96, 25. 80 | Ebd. 81 | Ebd. 26. 82 | James Clifford (1988): „On Ethnographic Authority.” In: James Clifford. The Predicament of Culture: 20th Century Ethnography, Literature and Art. Harvard University Press, London. 21-54. Übersetzt in Martin

50 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ ves Modell ethnographischer Praxis.”83 Ein solches Modell würde die Aspekte zurück bringen, die in „autoritativen Ethnographien” ausgeblendet würden, nämlich die „dialogischen” und „situationsbedingten” Aspekte ethnographischer Interpretation.84 Als Beispiel für eine Ethnographie „im Modus des Diskurses” nennt Clifford Paul Rabinows Reflections of Fieldwork in Morocco (1977), bei der es sich um die Darstellung einer spezifischen Forschungssituation handelt. Auch Jeanne Favret-Saadas Les mots, la mort, les sorts (1977) lobt Clifford in diesem Zusammenhang, da die Autorin zeige, dass das Ereignis des Gesprächs der Ethnographin immer eine spezifische Position im Gewebe der vielfältigen Beziehungen zuweise. Im Kraftfeld diskursiver Positionierungen, in der beweglichen Matrix von Beziehungen, gebe es keinen neutralen Standpunkt, resümiert Clifford.85 Auf seiner Suche nach „radikal polyphonen” Darstellungsweisen beschreibt er mehrere Formen der „Auflösung monologischer Autorität.”86 In einiger Länge widmet sich Clifford dialogisch aufgebauten Ethnographien.87 Insbesondere bei Dwyer und Crapanzano zeige sich Ethnographie als Prozess des Aushandelns einer gemeinsamen Vision von Realität. Crapanzanos Portrait of a Moroccan würde in der Darstellung keine scharfe Trennung zwischen einem interpretierenden Selbst und einem Text gewordenen Anderen zulassen. Das Modell des Dialogs, lobt Clifford, würde genau jene Elemente hervorheben, die Ricoer aus seinem Modell des Textes ausschließen musste, nämlich situative und intersubjektive Bezüge.88 Dennoch scheint das Modell des Dialogs Cliffords Vorstellung einer radikalen Polyphonie nicht gerecht zu werden. Schließlich seien Ethnographien, die als Dialog inszeniert wären, letztlich doch nur „Repräsentationen von Dialog.” Es fände also lediglich eine Verschiebung aber keine Auslöschung monologischer Autorität statt.89 Gleiches gelte für eine weitere Strategie der polyphoneren Gestaltung ethnographischer Texte, der Verwendung vieler, umfangreicher Zitate. Clifford betont, dass es zunehmend üblicher werde,

Fuchs, Eberhard Berg (Hg.) (1997): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 109-158. 83 | James Clifford (1988): „On Ethnographic Authority.” In: James Clifford. The Predicament of Culture: 20th Century Ethnography, Literature and Art. Harvard University Press, London. 21-54, 41. 84 | Ebd. 40. 85 | Ebd. 42. 86 | Ebd. 52. 87 | Hier finden u.a. Marjorie Shostaks Nisa. The life and Words of a !Kung Woman (1983), Vincent Crapanzanos Tuhami – Portrait of a Moroccan (1980); University of Chicago Press, Chicago; und Kevin Dweyers Moroccan Dialogues (1982) Erwähnung. 88 | Ebd. 42f. 89 | Ebd. 43.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 51 die Kollaboration, die gemeinsame Produktion ethnographischen Wissens, in der Darstellung durch regelmäßige und lange Zitate zu betonten (als Beispiel nennt er June Nashs We Eat the Mines, the Mines Eat Us (1979)).90 Als eigenständige Texte und in hinreichender Länge transkribiert hätten die Aussagen der Informanten Bedeutung in Begriffen, die anders wären als die des Ethnographen. Auf diese Weise, lobt Clifford, würde die Heteroglossie die Ethnographie befallen. Diese Heteroglossie sei jedoch (wie Bakhtins Konzept der Polyphonie, wenn auf Fiktion beschränkt) lediglich eine „domestizierte”, die die ethnographische Autorität lediglich verlagere. Zitate würden immer vom Zitierenden arrangiert und dienten in der Regel als Beispiele oder Beweise zur Unterstützung der Thesen des Autors. Jenseits des Zitierens stellt sich Clifford eine radikalere Polyphonie vor, die den Informanten und den Ethnographen mehrere Stimmen zubilligen würde. Auch dies, räumt Clifford ein, würde jedoch die ethnographische Autorität nur verschieben, denn die „endgültige virtuose Orchestrierung” aller dargestellten Diskurse läge schließlich wieder bei einem einzelnen Autor.91 Obwohl Clifford Beispiele für Ethnographien nennt, bei denen die Zusammenarbeit nicht vor der Texterstellung aufhört (Birds of My Kalam Country von Ralph Bulmer und Ian Majnep (1977) und Piman Shamanism von Donald M. Bahr und Juan Gregorio (1974)), hält er seine Vorstellung einer echten Vielstimmigkeit für utopisch. Letztere bestünde aus einer alternierenden Schreibstrategie, bei der alle Beteiligten zu Wort kommen, und zwar nicht nur als unabhängige Sprecher, sondern als Verfasser und Mitherausgeber. Eine solche Form ethnographischen Schreibens hält er aus zwei Gründen für utopisch. Erstens, weil es in der Regel der antreibenden Kraft des Forschungsinteresses eines Ethnographen bedürfe, der letzten Endes eine leitende herausgeberische Position einnehme, was einer Art „giving voice” gleich käme, welche die autoritative Haltung nicht überwinde. Zweitens, weil die bloße Idee einer Mehrfachautorenschaft die tiefe westliche Identifikation einer textlichen Ordnung mit der Intention eines Autoren in Frage stelle.92 Marcus und Cushman betonen, dass Ethnographie verstanden als Dialog quasi automatisch zum Mechanismus des „Juxtapositioning”, des Zusammenfügens und Gegeneinanderstellens unterschiedlicher Versatzstücke, gelangen muss. Dies Zusammenfügen unterschiedlicher Fragmente dürfe allerdings nicht den sozialen Kontext, aus dem sie stammen, außer Acht lassen:

90 | Ebd. 50. 91 | Ebd. 51. 92 | Ebd. 42f.

52 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ „Juxtaposition, thus, becomes one important component of interpretive anthropology, envisioned as dialogue. But it is not juxtaposition of concepts or categories, isolated from their social contexts. Lacan, and others, have pointed out that in a conversation between two people, there is always at least a third, that is, the mediation of the embedded or unconscious cultural structures in language, terminologies, non-verbal codes of behaviour, and assumptions about what constitutes the imaginary, real and symbolic. These structures that mediate communication are the object of ethnographic analysis framed in terms of the dialogue metaphor.”93 Auch Tyler betont, dass eine „postmoderne Ethnographie” fragmentarisch sein müsse. Das Leben im Feld sei „fragmentarisches Leben und keinesfalls um die geläufigen ethnologischen Versatzstücke Verwandtschaft, Ökonomie und Religion herum organisiert.”94 Obwohl Tylers Schreiben selbst nicht fragmentarisch ist, gibt er sich als Advokat fragmentarischer Darstellungsformen, als könnten sie vor epistemologischen Fehlschlüssen schützen: „Die Fragmente eines Rebus oder einer Collage sind nie, was sie zu sein scheinen, sie sind weder die direkte Repräsentation einer vorgängigen Totalität noch bloße Substitute von Erscheinungen-für-Realia wie im üblichen Sinn von Mimesis. Sie sind Real-Modelle, nicht Modelle des Realen, Simulakra, die Reales erzeugen, sie nähern sich keiner Wirklichkeit an, sondern sind die einzige uns gegebene Wirklichkeit. Analog zu den Modellen des Universums sind sie keine Kopien, sondern Mittel, um über ein Universum zu sprechen, das weder präsentiert noch repräsentiert werden kann. Das Universum kennt nur eine allegorische Interpretation innerhalb der Märchenwelt der Wissenschaft, sein Modell ist ein Mittel für neuerliche allegoresis.”95 Ein wichtiger Aspekt des „juxtapositioning” für Clifford ist die Tatsache, dass sich die Lesarten durch die Zusammenstellung mehrerer Texte vervielfachen. So gestaltete Ethnographien würden sich nicht länger an einen einzigen Lesertyp wenden und die Tatsache widerspiegeln, dass ein „ethnographisches Bewusstsein” nicht mehr als Monopol bestimmter westlicher Kulturen und sozialer Schichten gesehen werden kann. Polyphone Texte seien vor allem für nicht eigens beabsichtigte Interpretationen offen. Lesende Trobriander könnten Malinowskis Deutungen langweilig finden, während sie seine Beispiele und ausführlichen Transkriptionen nach wie vor für evokativ halten könnten.96

93 | G.E. Marcus, D. Cushman (1982): „Ethnographies as Texts” In: Annual Review of Anthropology, 1982, Vol. 11:25-96, 31. 94 | Stephen Tyler (1991 [1987]): Ethnographie, Diskurs und Rhetorik in der postmodernen Welt. Trickster Verlag, München. 200. 95 | Ebd. 34. 96 | Ebd. 52.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 53 Die Erzählungen Cliffords, Tylers, Marcus und Fischers und Marcus und Cushmans (hier könnten weitere „Vertreter” der Writing Culture Critique genannt werden) zeichnen sich durch mehrere gemeinsame Merkmale aus. Sie sind alle geprägt von einem euphorischen Ton bezüglich neuer Formen der Darstellung. Alle sind angelegt als Fortschrittsgeschichten ethnographischen Schreibens, bei denen dialogische und polyphone Textualität als vorläufiger Höhepunkt erscheint. In unterschiedlichen Mischungen sind die Texte mit deskriptiven und präskriptiven Anteilen versehen, und mit unterschiedlichem theoretischen Aufwand und Anspruch - getragen von unterschiedlichen Graden missionarischen Eifers (letzterer scheint im Falle Tylers proportional zum Ersteren, extrem ausgeprägt) - werden die ethischen, moralischen und politischen Gründe für die Abkehr von herkömmlichen Erzählungen dargelegt. Allen gemein ist, dass sie sich in ihrer Form und ihrem Stil nicht von herkömmlichen Erzählungen unterscheiden und keine der Merkmale aufweisen, die sie als fortgeschritten anpreisen. Sie sind an keiner Stelle selbst-reflexiv, sie sind nicht dialogisch angelegt und zeichnen sich nicht durch „juxtapositioning” oder durch eine fragmentarische Darstellung aus. Im Gegenteil ist die Stimme eines Autors zu vernehmen (dies gilt auch für die Texte von Marcus und Fischer und Marcus und Cushman) der systematisch und kohärent eine Entwicklung beschreibt, um diese Beschreibung in den Dienst einer Anpreisung gewisser diskursiver und rhetorischer Formen zu stellen. Allen gemein ist auch das widersprüchliche Bestreben, weg von Repräsentation hin zu einer adäquateren Darstellung zu gelangen, als gäbe es jenseits der Repräsentation die ultimative Repräsentation, der man sich anzunähren moralisch verpflichtet fühlt. Auch Tylers Prinzip der Evokation ist in diesen Widerspruch eingeschlossen: „Da die postmoderne Ethnographie weiß, daß ihr Sinn nicht in ihr selbst, sondern in einem Verstehen liegt, für das sie nichts als ein zu verzehrendes Fragment ist, kümmert sie sich nicht länger um „Repräsentation”. Evokation wird so zum Schlüsselwort für das Verständnis ihrer spezifischen Differenz, denn ein Diskurs, der evoziert, repräsentiert nichts, selbst dann nicht, wenn er einer Repräsentation unterworfen wird. Sofern Evokation notwendig nonrepräsentational ist, kann sie nicht mehr als bloße Zeichenfunktion aufgefaßt werden, sie ist weder „Symbol für” noch „symbolisiert” sie, was sie evoziert. Dergestalt hintergeht der postmoderne Text die repräsentationale Funktion des Zeichens, er hat alle Last der Substitution abgeworfen, auch die Last der „Absenzen” und „Differenzen” des Grammatologen. Der postmoderne Text ist kein Anwesen, das ein Ab-wesen ins Sein ruft, er ist das Werden dessen, was weder an-west noch ab-west, denn die Evokation ist nicht die Verkettung von Differenzen der Zeit und des Ortes, in der das Eine evoziert und das Andere evoziert wird. Die Evokation ist eine Einheit, einfaches Werden oder Prozeß […]”97

97 | Stephen Tyler (1991 [1987]): Ethnographie, Diskurs und Rhetorik in der postmodernen Welt. Trickster Verlag, München. 198.

54 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Tyler begreift jeden Akt der „Repräsentation” als einen „Akt politischer Unterdrückung”98 und sieht sein Konzept der Evokation als einen „Fortschritt in Richtung einer Wiederherstellung der ursprünglichen Präsenz des Anderen außerhalb jenes Textes […], der sie re-präsentiert.”99 Die aufgeregte Suche nach einem Ausweg aus der Repräsentation ist kennzeichnend für die ‚postmodernen’ Ausprägungen der Debatte um die Krise der Repräsentation und um Hypertext. Der Versuch, sich einem vereinheitlichenden Logos zu entziehen, geht dabei einher mit der Wiedereinführung unter- oder oberhalb der Repräsentationen liegender Wahrheitsinstanzen. Am Beispiel Tylers wird dabei deutlich, welche „blinde Flecken” bei einer solchen Anstrengung, nichts zu repräsentieren, entstehen. Ein Ethnograph, der lediglich der „Evokation” verpflichtet ist, macht sich im Sinne Haraways nicht schmutzig.100 Er nimmt eine Position über den Dingen ein, was eine genauere Betrachtung, was, unter welchen Bedingungen, für wen als wahr oder falsch gilt, und wie der Ethnograph in diesen Verflechtungen positioniert ist, hinfällig macht.

Beyond Writing Culture Paul Rabinow macht auch unter methodisch-methodologischen Gesichtspunkten deutlich, welche Optionen entstehen, wenn Repräsentationen nicht per se verteufelt, sondern vielmehr als „soziale Tatsachen” gesehen werden. Rabinows Beitrag „Representations Are Social Facts: Modernity and PostModernity in Anthropology” im Writing Culture Band,101 weist in diesem Punkt über die Debatte hinaus. Rabinow setzt bei einer Kritik James Cliffords an. Im Rückgriff auf dessen deskriptive Kategorien untersucht er (nach eigenen Angaben Clifford im Café gegenübersitzend) dessen Texte.102 Ungeachtet der Tatsache, dass Clifford das Geertzsche Prinzip der Inskription ablehne, mache 98 | Stephen Tyler (1993): „Zum „Be-Abschreiben” als „Sprechen für”. Ein Kommentar.” In: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 288-296, 288. 99 | Ebd. 289. 100 | Donna Haraway (1995): „Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive.” In: C. Hammer, I. Stieß (1995): Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Campus Verlag, Frankfurt am Main. 101 | Paul Rabinow (1986): „Representations Are Social Facts: Modernity and Post- Modernity in Anthropology.” In: Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. University of California Press, Berkeley. 234-262. 102 | Paul Rabinow (1993 [1986]): „Repräsentationen sind soziale Tatsachen. Moderne und Postmoderne in der Anthropologie.” In: Martin Fuchs, Eberhard Berg (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 158-200, 169f.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 55 er sich als Ethnograph der Ethnographen ans Werk, die frühen und heutigen Anthropologen als seine „Eingeborenen” zu inskribieren. Durch die Beschaffenheit des „Feldes” sei Cliffords Projekt im Vergleich zu dem Geertz stärker kontrolliert und parasitär, betont Rabinow.103 Während Geertz den Balinesen zuschreibe, den Hahnenkampf als kulturellen Text auszulegen, behaupte Clifford, Anthropologen hätten mit Texten experimentiert, ob sie es wussten oder nicht. Während Geertzens interpretative Anthropologie Gefahr laufe, die „Dämonen des Exotismus” zu beschwören,” laufe die textualistisch/dekonstruktive Strategie Cliffords Gefahr, fortlaufend „intelligente Ordnungssysteme” für die Texte anderer einzuführen und so zu tun, als wäre der Rest der Welt ebenfalls darum bemüht.104 Cliffords Interpretationsraster, das die Unterdrückung des Dialogischen hervorhebe, drohe die Geschichte des anthropologischen Schreibens als „lockeres Vorwärtsschreiten zu dialogischer und polyphoner Textualität” darzustellen.105 Rabinow betont, die Behauptung, dass diese Formen den Sieg davon trügen, sei empirisch zweifelhaft und zitiert Rosaldo: „Die Truppen folgen nicht nach.”106 Auch sei die Tatsache, dass Clifford bei allem Anpreisen dialogischer Formen selbst nicht in diesem Modus schreibt, keineswegs trivial. Clifford begründe mit der Rede von der Unvermeidlichkeit des Dialogs seine Autorität als „offene”. Dies sei letztlich ein „Kunstgriff” ähnlich dem bei Geertz vorzufindenden, der der „Selbstbezüglichkeit” lediglich seine Reverenz erweisen würde.107 Clifford lese, klassifiziere, beschreibe Absichten und lege einen Kanon fest, wobei er sein eigenes Schreiben und seine eigne Situation dabei nicht untersuche. Rabinow betont, dass dies seine Einsichten keineswegs hinfällig mache und lobt bei aller Kritik die Stimme Cliffords aus der Bibliothek als „heilsam”. Eine „Metaposition” wäre nötig gewesen, um den Geertzschen Gedanken der „Unvermeidlichkeit der Fiktionalisierung” den nötigen Impetus zu verleihen.108 Die Inkonsequenz oder Ambivalenz, die sich bei Clifford auftut, interpretiert Rabinow nicht als Ausdruck einer „schöpferischen Spannung”, sondern als Zeichen dafür, dass Clifford sich „dans le vrai” des spezifischen Diskurses, den er mit Jameson als „post-modern” bezeichnet, befinde.109 In seinem Beitrag zu Writing Culture zieht Rabinow Jameson’s „Postmodernism and Consumer Society” (1983) für die Bestimmung des Platzes des gegenwärtigen anthropologischen und metaanthropologischen Schreibens

103 104 105 106 107 108 109

| Ebd. 170. | Ebd. 171. | Ebd. 174. | Ebd. 175. | Ebd. 173. | Ebd. 171. | Ebd. 177.

56 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ zu Rate.110 Jamesons historische Lokalisierung des Post-Modernismus als Gegenreaktion zum Modernismus eröffne die Möglichkeit, Veränderungen der Form der Repräsentation innerhalb des Kontextes westlicher Entwicklungen zu erörtern. Über die Definition Lyotards (das Ende der Metaerzählungen) hinaus definiere Jameson das „Pastische” als zentrales Merkmal des PostModernismus. Jamesons Pastische ähnelt dem bereits besprochenen Prinzip des „juxtapositioning” und wird von Rabinow als Durcheinanderwerfen von Elementen, als stilistische Heterogenität, beschrieben. Wichtig sei dabei, dass im Unterschied zum Pastische der Modernisten, dieses Durcheinanderwerfen nicht auf der Basis „relativ gefestigter Identiäten” oder „relativ gefestigter linguistischer Normen” stattfände.111 Während die Kraft moderner Kritik aus der Spannung zwischen stilistischen Experimenten und strengen bürgerlichen Normen resultiere, bliebe dem post-modernen Pastische nur die Option, „tote Stilformen zu imitieren”. Das Pastische als „Scheitern des Neuen”, als „Gefangensein in der Vergangenheit,” befinde sich jenseits von Historismus, jenseits von Entfremdung und Relativismus.112 Als „indirekt auf etwas anspielende und schwer fassbare Plagiierung älterer Handlungsabfolgen” sei das Pastische geprägt von einem Stil, den Rabinow als „rétro” bzeichnet.113 Kennzeichnend für diesen Stil sei die Inflationierung von Metabezügen, die letztlich die Aussage verflache und den Gehalt leere. Der post-moderne Ansatz, kritisiert Rabinow, sehe sein Hauptproblem in der strategischen Wahl von Repräsentationen der Repräsentationen: „Interpretative Anthropologen beschäftigen sich mit dem Problem der Repräsentationen der Repräsentationen der Anderen, Historiker und Metakritiker der Anthropologie mit der Klassifizierung, Kanonisierung und „Bereitstellung” der Repräsentationen der Repräsentationen der Repräsentationen. Die historische Verflachung, wie sie sich im Pastische und der Nostalgie-Filme zeigt, kehrt wieder in der metaethnographischen Verflachung, die alle Kulturen der Welt zu Praktikern von Textualität macht. Die Einzelheiten dieser Erzählungen sind präzis, die Bilder enthalten reiche und vielfältige Assoziationen, die Neutralität ist beispielhaft und der Stil rétro.”114 Bei seiner harschen Kritik an seinen Kollegen, die im gleichen Band veröffentlichten (insbesondere an Clifford), beeilt sich Rabinow klarzustellen, dass es nicht darum gehen könne, zu „älteren Formen unreflektierter Repräsentation” zurückzukehren. Dennoch beschwöre die Einsicht, dass sich Anthropologen

110 111 112 113 114

| Ebd. | Ebd. 180. | Ebd. | Ebd. | Ebd. 181.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 57 beim Schreiben literarischer Konventionen bedienten, keine Krise herauf.115 Nüchtern stellt er fest, dass Dichtung und Wissenschaft komplementäre Begriffe darstellen und dass, in der „Vergegenwärtigung des fiktionalen […] Charakters anthropologischen Schreibens und bei der Einbeziehung der ihm eigentümlichen Produktionsweisen” Fortschritte gemacht worden seien.116 Das Wissen um Stil und Rhetorik bei der Erstellung anthropologischer Texte könne dazu beitragen, andere phantasievollerer Arten zu schreiben und ihrer genauer gewahr zu werden. Es könne nicht darum gehen, „Repräsentation” zu verteufeln und einen „umgekehrten Essentialismus” einzuführen. Repräsentationen bildeten keine „Sphäre sui generis”, sondern verliehen Lebenswelten, zu deren Gestaltung sie beitrügen, einen Sinn und differierten entsprechend ihrer Funktionen.117 In seinem Beitrag zur Writing Culture Critique bestimmt Rabinow seine Position „Jenseits der Erkenntnistheorie”.118 Er übernimmt Rortys Kritik der Epistemologie und erweitert diese um Foucaults Konzept der Wahrheitsregime. Erkenntnis versteht er dabei mit Rorty nicht als akkurate Repräsentation im Sinne Descartes als inneren Raum, in dem sich Abbilder der äußeren Welt sammeln.119 Dabei betont Rabinow, dass eine Ablehnung der Erkenntnistheorie nicht bedeute, Wahrheit, Vernunft oder Urteilskriterien abzulehnen. Mit Hakking weist er darauf hin, dass das, was gängiger Weise als „Wahrheit” aufgefasst werde, abhängig sei von vorangegangenen historischen Ereignissen, dem Aufkommen eines Denkstils über Wahrheit und Falschheit, der erst die Kriterien festlege, nach denen eine Aussage als wahr oder falsch eingeordnet werde. Unterschiedliche historische Konzeptionen von Wahrheit und Falschheit seien keine Frage des Subjektivismus, sondern stellten historische und soziale Tatbestände dar. Eine in diesem Sinne verstandene Wissenschaft bliebe objektiv, da die Argumentationsstile, derer wir uns bedienten, festlegten, was als Objektivität gelte. Das was Foucault das Regime von Wahrheit und Falschheit genannt habe, bilde sowohl Bestandteil als auch Resultat historischer Praktiken. Die von Rabinow 1986 formulierten Gedanken sind in seinen ethnographischen Projekten wiederzufinden,120 die er immer auch methodisch/metho-

115 | Ebd. 172. 116 | Ebd. 117 | Ebd. 191. 118 | Ebd. 158. 119 | Ebd. 161. 120 | Siehe hierzu: Paul Rabinow (1989): French Modern. Norms and Forms of the Social Enrironment. Cambridge University Press. Paul Rabinow (1996): Making PCR. A Story of Biotechnology. University of Chicago Press. Paul Rabinow (1999): French DNA. Trouble in Purgatory. University of Chicago Press.

58 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ dologisch reflektiert.121 Seine Reflektionen stellt Rabinow in den Dienst einer Entwicklung eines „begrifflichen Werkzeugkasten[s],” der als „Ausgangspunkt” dafür dienen soll, einen „experimentellen Modus in den Geisteswissenschaften” in Gang zu setzen.122 Einen vorläufigen Höhepunkt finden diese Überlegungen in den 2008 erschienenen „dialogues” Paul Rabinows mit George E. Marcus, James D. Faubion und Tobias Rees.123 Diesen Überlegungen Rabinows ‚jenseits’ der Debatte um die Krise der Repräsentation gehe ich ausführlicher im dritten Kapitel nach.

Ethnographie „nach der Krise” Die Writing Culture Critique legt mit ihrer Beschwörung einer ‚Trendwende’ eine Unterteilung der ethnographischen Textproduktion in ein Vor- und Nach der Krise der Repräsentation nahe. An dieser Stelle widme ich mich nicht der Frage, inwieweit eine Wende empirisch zu belegen ist und ob die „Truppen nachfolgten”.124 Auch den Fragen, inwieweit es überhaupt gerechtfertigt ist, von einer Debatte zu sprechen, wenn die darunter zusammengefassten Positionen und verfolgten Projekte derartig vielfältig sind, ob ein solcher Fokus nicht der Fülle und Heterogenität ethnographischer Ansätze außerhalb des Umfelds der Debatte (die sich oftmals mit ähnlichen Problemen befassen) Unrecht tut, und ob die Darstellung eines ‚Danach’ nicht ein zu kurz greifendes Bild ethnographischer Geschichte als Fortschritt hin zu polyphoneren Formen des Schreibens zeichnet, gehe ich im Folgenden nicht weiter nach. Auch nicht den in diesem Kontext ebenfalls relevanten Fragen, inwieweit die Festschreibung eines Kanons ‚neuer’ ethnographischer Literatur sinnvoll ist, und ob explizite Unternehmungen zur Einführung neuer „Paradigmen” wissenschafts-

121 | Siehe hierzu u.a. : Paul Rabinow (1977): Reflections on Fieldwork in Morocco. University of California Press, Berkeley. Paul Rabinow (1999): „American moderns: On sciences and scientists.” In: G. Marcus (Hg.) (1999): Critical Anthropology Now: Unexpected Contexts, Shifting Constituencies, Changing Agenda. School of American Research Press, Santa Fe. Siehe hierzu auch die Aufssatzsammlungen in: Carlo Caduff, Tobias Rees (Hg.) (2004). Paul Rabinow. Was ist Anthropologie? Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main und Carlo Caduff, Tobias Rees (Hg.) (2004a): Paul Rabinow. Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 122 | Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie. Herausgegeben und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt. 9. 123 | Paul Rabinow, et al. (2008): Designs for an Anthropology of the Contemporary. Duke University Press, Durham. 124 | Rabinow (1997). 175.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 59 politisch zweckmäßig sein könnten125. An dieser Stelle dient die grobe Zusammenfassung der Merkmale ethnographischer Forschung ‚nach der Krise’ der Erläuterung der Probleme, die wir mit der Hypermedialen Ethnographie forschungs- und darstellungspraktisch angegangen sind. Die wesentlichen Unterschiede zwischen den Merkmalen ‚traditioneller’ ethnographischer Forschung und jenen ‚nach der Krise’ beziehen sich auf die Gegenstände ethnographischer Zugänge, die Beschaffenheit der ‚Felder’, die Art und Weise der ‚Feldarbeit’, die Rolle der ForscherInnen und die Formen der Präsentation. Zunächst zu den Gegenständen ethnographischer Forschung: Die globalen, ‚globalisierten’, ‚postkolonialen’, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse haben dazu beigetragen, dass sich ethnographische ‚single site’ Observationen, die autochthone Minderheiten in isolierter Ganzheit betrachten, nicht mehr anbieten. Zur Wandlung der Gegenstände ethnographischer Untersuchung hat, wie oben beschrieben, gleichermaßen eine Wissenschaftspolitik beigetragen, die mit der Krise der Repräsentation im Programm auf eine Aufgabe der Trennung zwischen ‚Modernen’ und ‚NichtModernen’ hinausläuft und das ‚Weltsystem’ zu berücksichtigen mahnt. Die traditionell mit den ‚Nicht-Modernen’ beschäftigten Anthropologen, die auf Welten spezialisiert waren, in denen sich Natur und Gesellschaft, Zeichen und Dinge nicht leicht voneinander trennen ließen, beschränkten sich nach der „Rückkehr aus den Tropen”, wie Haraway betont, auf Untersuchungen der Bereiche unserer „modernen Welt”, bei denen diese „Vermischungen” zu überdauern schienen, „nämlich im Wahnsinn, in Kindern, Tieren, Volkskultur und Frauenkörpern”.126 Latour bemerkt, dass es exzellente anthropologische Feldforschung gebe, „über die Volksmedizin, die Hexerei in der Bocage (FavretSaada 1977), das Leben der Bauern im Schatten der Kernkraftwerke (Zonabed 1989), die Vorstellungen gewöhnlicher Menschen von technischen Risiken (Douglas 1983), etc.”127, dennoch könne die kritische Distanz, die durch das Studium der „Ränder” und „Brüche”, des „Jenseits der Rationalität” zustande komme, nur dadurch bestehen bleiben, dass die Frage der Natur, die bei ihm

125 | Marcus z.B. spricht sich für die Einführung eines „alternativen Paradigmas” ethnographischer Forschung aus. Das „experimentelles” Vorgehen in der ethnographischen Forschung würde sich auf „second projects” und weiterführende Projekte bereits arrivierter Wissenschaftler beschränken. Die Einführung eines „neuen Paradigmas” könne ein „experimentelles” Vorgehen als Standardpraxis etablieren und ein solches auch für Qualifikationsarbeiten zulassen. Die mit der Verbreiterung der Felder einhergehende „Krise der Rezeption” mache es notwendig, der Bildung einer „community” nachzuhelfen, die innerhalb der Disziplin eine kritische Interpretation und Evaluation „experimenteller” Ethnographien in Gang bringen könnte. (Marcus 2002). 126 | Haraway zitiert in Latour (1998). 134. 127 | Latour, ebd. 135.

60 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ als Frage der Wissenschaft erscheint, nicht gestellt werde. Die Beschränkung der „aus den Tropen heimgekehrten” Anthropologie auf die Randbereiche bedeutet für Latour den Verlust „hart erkämpfter Vorteile” der Anthropologie.128 Diese Vorteile sieht Latour in der Untersuchung „totaler sozialer Tatsachen” (Mauss), die einen Einblick in die Sphären der Ökonomie, der Epistemologie, der Religion, der sozialen und politischen Organisation etc. nötig machten: „Bei fremden Kollektiven hatte die Anthropologie keine Probleme, alles gleichzeitig zu behandeln. Denn jeder Ethnologe ist in der Lage, in einer einzigen Monographie alles unterzubringen, was zu dem untersuchten Kollektiv gehört: die Kräfte, die im Spiel sind; die Machtverteilung zwischen Menschen, Göttern und anderen Wesen; die Verständigungsverfahren; die Verbindungen zwischen Religion und Macht; die Ahnenwelt, die Kosmologie, das Eigentumsrecht und die Taxonomien von Pflanzen und Tieren.[…] Gäbe es eine Anthropologie der modernen Welt, so hätte sie in gleicher Weise zu beschreiben, wie die verschiedenen Bereiche unserer Regierungsform organisiert sind, einschließlich dem der Natur und der exakten Wissenschaften; sie hätte zu erklären, wie und warum diese Bereiche sich trennen, aber auch die vielfältigen Arrangements zu beschreiben, die sie wieder zusammenführen. Der Ethnologe unserer Welt müsste sich an den gemeinsamen Ort versetzen, wo die Rollen, Aktionen und Kompetenzen verteilt werden, durch die dieses oder jenes Wesen als belebt oder unbelebt, ein anderes als Rechtssubjekt, wieder ein anderes als bewusstseinsbegabt, mechanisch, unbewusst oder unzurechnungsfähig definiert wird. Er müsste vergleichen, wie Materie, Recht, Bewusstsein, Tierseele jeweils definiert oder nicht definiert werden, ohne dabei von der modernen Metaphysik auszugehen. All dies definiert die „Verfassung” der modernen Welt.”129 Hier ist Latours anthropologischer Ansatz in nuce beschrieben. Er ist für die im fünften Kapitel ausformulierte Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen zentral und wird im vierten Kapitel dieser Arbeit methodisch konkretisiert. Die von Latour geforderte Öffnung der Gegenstandsbereiche ethnographischer Forschung ist trotz ihrer Vervielfältigung und Umsetzung in diversen akademischen Bereichen einschließlich der Erziehungswissenschaft nicht im großen Stil erfolgt. Dennoch verbreitet sich die Einsicht, dass das Studium der Randbereiche, bei dem der Ethnograph als Sprachrohr unterdrückter Minderheiten agiert, einem komplexeren Unterfangen weichen müsse und dem ‚Aufbrechen’ ethnographischer Objekte und Subjekte Rechnung getragen werden sollte. Appadurais „scapes” Modell130 und Haraway’s „cyborg”131 berücksichtigen die Tatsache, dass das, was als „Ort” gilt, sozial verhandelt wird. Interessant wird dann die Frage, wie ‚Ränder’ zu solchen werden. Die Aufgabe einer einfachen Identitätspolitik und die

128 | Ebd. 129 | Latour, ebd. 23f. 130 | Siehe Arjun Appadurai (1996): Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization. University of Minnesota Press, Mineapolis. 131 | Siehe hierzu Lemke/Schäfer (2001).

WRITING CULTURE CRITIQUE | 61 Anerkennung der Tatsache, dass die Positionen der Akteure im Feld mobil und vielfältig sind, hat ein einfaches ‚Sprechen für’ oder ein dem dialogischen Modell entstammtes „Antworten der ‚Natives‘”132 unmöglich gemacht. Die Ethnographie ‚nach der Krise’ verliert ihre „perspective of the subaltern”, die Perspektive der „Untergeordneten”, schreibt Marcus.133 Marcus lobt Haraway und Latour dafür, die Dimensionen der Ethnographie erweitert zu haben. Insbesondere Haraway mit ihrer „Cyborg Anthropologin” hätte Ethnographen angeregt, die Gegenstände ihrer Betrachtungen unter dem Gesichtspunkt ihrer vielfältigen raum-zeitlichen Zusammensetzungen („juxtapositionings”) zu untersuchen. Marcus beschreibt einen methodischen Wandel in Folge der Krise der Repräsentation, der weg führt von der Betrachtung einzelner Felder („sites”) hin zu einer„multi-sited ethnography”134, einer Ethnographie, die vielfältige Felder, vielfältige Raum-Zeit-Konstellationen, berücksichtigt. Die Vervielfältigung der Felder sei dabei nicht zu verstehen als einfache Addition der Forschungsschauplätze bei gleichbleibender Fragestellung oder als Bereitstellung von Vergleichsmaterial im Sinne einer einheitlichen Deutung. Die Vervielfältigung der Felder erweitere vielmehr das, was ethnographisch „im Bild” sei, und trage den komplexen Verflechtungen zwischen Globalem und Lokalem Rechnung. Sie trage dazu bei, ökonomische, epistemologische, religiöse, politisch-soziale Zusammenhänge als interne Mechanismen aufzuzeigen, die die Positionierungen der Akteure auf unterschiedlichste Art und Weise beeinflussen: „This [multi-sited] mode defines for itself an object of study that cannot be accounted for ethnographically by remaining focused on a single site of intensive investigation. It develops instead a strategy or design of research that acknowledges macrotheoretical concepts and narratives of the world system but does not rely on them for the contextual architecture framing a set of subjects. This mobile ethnography takes unexpected trajectories in tracing a cultural formation across and within multiple sites of activity that destabilize the distinction, for example, between lifeworld and system, by which much ethnography has been conceived. Just as this mode investigates and ethnographically constructs the lifeworlds of variously situated subjects, it also ethnographically constructs aspects of the system itself through the associations and connections it suggests among sites.”135 Insbesondere in interdisziplinären Arenen wie „media studies, feminist studies, science and technology studies, cultural studies” etc. würde dieser „neue Modus” ethnographischer Forschung zum Zuge kommen. Interdisziplinarität, stellt Marcus fest, sei ein zentrales Merkmal dieser Form der Ethnographie. Ein Folgen der Objekte, Subjekte, Diskurse, Geschichten, Metaphern etc.

132 133 134 135

| Marcus (2002). 9. | Marcus (2002). 101f. | Marcus (2002). | Marcus (2002). 96.

62 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ in ihre spezifischen „sites” ginge mit einem Überschreiten disziplinärer Grenzen einher.136 Die Beispiele, die Marcus nennt, machen klar, dass ein ‚Aufbrechen’ der Gegenstände ethnographischer Forschung Kollaborationen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen nötig macht und damit auch die Rezeption ethnographischer Texte diversifiziert wird.137 Marcus spricht von einer Umgestaltung anthropologischen Wissens und seiner Rezeption. Der Aufbruch des traditionellen „mise-en-scene” ethnographischer Forschung ginge dabei über das lang ersehnte „natives speaking back” weit hinaus. Die Krise der Repräsentation hat dazu beigetragen, dass sich das, was in der Tradition Malinowskis als Feld galt, radikal geändert hat. Das Feld hat keine harten raum-zeitlichen Grenzen mehr, es ist kein ‚autonomer’ Ort mehr, an dem ‚autonome’ Kulturen zu finden sind, die der ‚von draußen’ kommende Ethnograph beobachtet und schriftlich fixiert, um sie vor dem Untergang zu bewahren. Bei zunehmender Überschneidung der Welten, der Ethnographen und der ‚Ureinwohner’ bricht die „moralische Ökonomie” der Rettungserzählung zusammen. Die Anerkennung, dass wir in einer Welt leben, hat profunde politische, wissenschaftspolitische, methodisch/methodologische Auswirkungen. 138 Sie macht es schwer, politische, epistemologische und konkret forschungsbezogene Machtkonstellationen auszuklammern. Repräsentationen von Raum in den traditionellen Sozialwissenschaften, betonen Gupta und Ferguson, verließen sich nach wie vor auf Konzepte der Trennung, der Brüche und Disjunktionen. Die Annahme, dass Raum in autonome Orte einzuteilen sei, habe die Macht der Topographie ausgemacht, erfolgreich die Topographie der Macht zu verdecken.139 Das Feld ist keines mehr, in das der Ethnograph von außen eindringt. Es ist ein gemeinsam geteilter, ungeteilter „mutually referenced” Raum. D.h., der Ethnograph kann sich genauso wenig seiner Raum-Zeit-Gebundenheit, seiner Situiertheit entledigen, wie dies für seine ‚Objekte’ der Fall ist. Es bedarf der gemeinsamen und wiederholten Verhandlung raum-zeitlicher Positionen. Erst diese Verhandlungen etablieren im Forschungsprozess die ‚sites’, die Schauplätze, die das Feld zusammensetzen. Das Feld entsteht also im Zuge der Feldarbeit und kann erst in Retrospektive als solches identifiziert werden.

136 | Marcus (2002). 8. 137 | Als Beispiele nennt Marcus (1995, 102 f.) u.a. Featherstones Global Culture (1990), Glicks Forschung über Transnationalität und Migration (1990, 1992), Latours Pasteurization of France (1988), Lash und Friedmans Modernity and Identity (1992), Rabinows Vorarbeiten zu Making PCR (1995). An anderer Stelle (Marcus 2002) erwähnt er Martins Flexible Bodies (1994) und Rabinows French DNA (1999). 138 | Vgl. Latour 139 | Akhil Gupta, James Ferguson (1992): „Beyond „Culture: Space, Identity, and the Politics of Difference.” In: Cultural Anthropology. 7:1, 6-24, 8.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 63 Bevor ich auf die Auswirkungen der Krise der Repräsentation auf die Feldarbeit zu sprechen komme, möchte ich noch kurz erwähnen, dass die hier skizzierten Ansätze schlecht mit einem Projekt der „Befremdung der Eigenen Kultur”140 im Sinne einer artifiziellen Distanzierung oder einer „Erneuerung des Befremdens” vereinbar sind. Es kann weder eine „künstliche Dummheit”141 geben, mit der die Situiertheit oder „Standortgebundenheit”142 überwunden werden kann, noch scheint es mit den hier verhandelten Ansätzen vereinbar, diese „Standortgebundenheit” methodisch zu kontrollieren und eine „methodische Fremdheitshaltung” zu kultivieren,143 denn es sind genau jene Momente der Positionierung, der Standortbestimmung, die in Relation zu den „Beforschten” oftmals vom Ethnographen unbemerkt oder unkontrolliert den Forschungsprozess bestimmen, ihm eine neue Richtung geben und das Feld konturieren. Die Situiertheit wird hier verstanden als forschungskonstitutives Element und nicht nur als Objekt retrospektiver Reflexion. Die Folgen der Krise der Repräsentation sind für die Feldarbeit am gravierendsten, schreibt Marcus.144 Innerhalb der Debatte hätte dies jedoch nicht die rechte Anerkennung gefunden. Die Writing Culture Critique hätte ironischer Weise sogar dazu beigetragen, das traditionelle Model der Feldarbeit aufrecht zu erhalten. Marcus zufolge steht eine intensive Debatte um die veränderten Bedingungen der Feldarbeit noch aus. Neue Modelle hätten sich aus pragmatischen Lösungsversuchen konkreter Forschungsprobleme ergeben,145 eine methodologische Diskussion aber fehle. Er spricht sich für einen erneuten Blick auf die Auswirkungen der Krise der Repräsentation auf methodologische Probleme aus. Statt der Fokussierung auf Narration bedürfe es der Fokussierung auf den Prozess der Feldarbeit. Marcus stellt die berechtigte Frage, inwieweit die Krise der Repräsentation das ethnographische „Setting” beeinträchtigt. Dieses „Setting” verlässt sich auf fixe Subjektpositionen, auf klar getrennte Räume und einen fixen zeitlichen Forschungsablauf. Die Erfahrungen des Anthropologen, der eine begrenzte Zeit im Feld verbringt, bilden dabei die Basis der außerhalb des Feldes verfassten ethnographischen Monographie.

140 | Vgl.: Hirschauer/ Amann (1997). 141 | Hitzler zitiert in J. Schulze-Krüdener, W. Vogelsang: „Feldforschung bei jugendlichen Medien- und Brauchkulturen. Zur Forschungspraxis lebensweltlicher Ethnographie.” In: ZBBS Heft I/2002, 41-63, 69. 142 | In Anlehnung an Karl Mannheim zitiert in R. Bohnensack, A.M. Nohl. „Ethnisierung und Differenzerfahrung.” In ZBBS Heft 1/2001, 15-36, 31. 143 | Wie beispielsweise vorgeschlagen von Bohnensack/Nohl (2001). 144 | Marcus (2002). 1. 145 | Als Beispiele nennt er hier u.a.: H. Gusterson (1998): Nuclear Rites: A Wapons Laboratory at the End of the Cold War. University of California Press, Berkeley und D. Holmes (2000): Integral Europe: Fast-Capitalism, Multicultrualism, Neofascism. Princeton University Press, 2000. s. Marcus (2002). 2.

64 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Der von außen kommende Anthropologe dringt in ein Geflecht von Beziehungen ein und erfährt so die Bedeutungen von Institutionen, Beziehungen und Praktiken, die den Gegenstand seiner Forschung ausmachen. Ohne die Erfahrung im Feld ist der Ethnograph kein Ethnograph. Feldarbeit ist der „rite of passage”, der Durchgangsritus, ohne den der Zugang zu akademischen Posten innerhalb der Disziplin der Anthropologie bzw. Ethnologie verschlossen bleibt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass eine groß angelegte Diskussion um die Feldarbeit in der Disziplin erst langsam in Gang kommt. Rajni Palriwala betont, wie wichtig eine solche Diskussion für das sei, was sie „anti-koloniale Ethnographie” nennt.146 Dabei könne es nicht darum gehen, Feldarbeit komplett über Bord zu werfen. Ganz im Gegenteil sei eine „Methodologie intensiver Feldarbeit” von Nöten. Dabei ginge es um eine erhöhte Konzentration auf die verschiedenen Beziehungen, die die Feldarbeit konstituieren. Diese Beziehungen sollten dabei über die herkömmlichen Vorstellungen hinaus betrachtet werden, nicht nur im Sinne „anthropologischer Erfahrung” und ihrer Ingredienzen „Rapport” und „Empathie”, sondern damit verbunden auch als historisch situierte soziale Erfahrung als Ausgangspunkt „anti-kolonialer” Darstellungen.147 Bei einer Neubestimmung der Feldarbeit muss es auch Marcus zufolge um eine verstärkte Einbeziehung der Konstruktionsmechanismen des Feldes gehen. Er bedient sich der Methapher des „tracking”, des Folgens in seiner Beschreibung mehrerer Modi der Konstruktion, nämlich, „Follow the People”, „Follow the Thing”, „Follow the Metaphor”, „Follow the Plot, Story, Allegory”, „Follow the Life or Biography” und „Follow the Conflict”.148 Als wichtigsten Aspekt der sich verändernden Feldarbeit und als einen, der potentiell den Rahmen des anthropologischen ‚Settings’ sprengt, nennt Marcus den der Kollaboration: „What is potentially at stake here is a revival of some of the more radical implications for method of the Writing Culture Critique, but now it is not so much a question of experiment in writing ethnographic texts as experiments in the design of fieldwork. Take, for example, the key trope of collaboration in the Writing Culture Critique and in this multi-sited formulation. In the Writing Culture Critique, collaboration was a powerful critical configuration of anthropologist-subject relations in the classic setting of fieldwork, but that critique did not break the frame of that setting or its purposes. But collaboration in this evolving multi-sited space of fieldwork does potentially break the boundary between the ethnographic productions of the anthropologist and the counterpart cultural productions and representations of the collaborators

146 | Rajni Palriwala (2005): „Fieldwork in a post-colonial anthropology. Experience and the comparative.” In: European Association of Social Anthropologists, UK. Social Anthropology. 13, 2, 151-170. 147 | Ebd. 155. 148 | Marcus (1995). 105f.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 65 with whom the anthropological project is fully complicit. This raises substantial questions for the value and forms of disciplinary knowledge that an alternative paradigm of ethnography might legitimately offer.”149 Marcus geht hier davon aus, dass die Teilhabe des Ethnographen und seiner Subjekte an‚einer’Welt das anthropologische‚Setting’ potentiell sprengt. Er setzt hier offenbar voraus, dass es einer absoluten Differenz bedarf, um dieses ‚Setting’ aufrecht zu erhalten.150 Geht man davon aus, dass Differenz, auch vor der Krise der Repräsentation und per se relational ist, besteht kein Grund, das ‚Setting’ per se und seine Mitte, seinen Mittler, die Feldarbeit in Frage zu stellen. Der Aspekt der Kollaboration könnte dabei das traditionelle ‚Setting’ auf gewinnbringende Weise (wie bereits im Rahmen der Writing Culture Critique vorgeschlagen) neu konfigurieren. Dabei geht es nicht darum, Differenzen auszulöschen oder artifiziell herzustellen, sondern das komplexe Geflecht der Relationen im Forschungsprozess zur Darstellung zu bringen und deutlich zu machen, wo und in welche Richtung welche Differenzen den Gang der Feldarbeit bestimmten. Lassiter zufolge ist u.a. dank der Schriften von Marcus der Aspekt der Kollaboration dabei, im Zentrum anthropologischer Forschung anzukommen.151 Lassiter beschreibt ein „kollaboratives setting” wie folgt: „Collaborative research involves the side-by-side work of all parties in a mutually beneficial research program. All parties are equal partners in the enterprise, participating in the development of the research design and in other major aspects of the program as well, working together toward a common goal. Collaborative research involves more than „giving back” in the form of advocacy and attention to social needs. Only in the collaborative model is there a full give and take, where at every step of the research knowledge and expertise is shared. In collaborative research, the local community will define its needs, and will seek experts both within and without to develop research programs and action plans. In the process of undertaking research on such community-defined needs, outside researchers may very well encounter knowledge that is of interest to anthropological theory. However, attention to such interests, or publication about them, must itself be developed within the collaborative framework, and may have to be set aside if they are not of equal concern to all the collaborators. In collaborative research, local experts work side by side with outside researchers, with a fully dialogic exchange of knowledge (that would not, of course, preclude conventional forms of training).”152 Lassiters Modell „kollaborativer Ethnographie” beschränkt sich dabei nicht nur auf die Feldarbeit, sondern beinhaltet ebenso das gemeinsame Verfassen aus der Feldarbeit resultierender Texte. Obwohl Lassiter berechtigter Weise

149 | Marcus (2002). 7. 150 | Ebd. 151 | Luke, „Eric” Lassiter (2005): „Collaborative Ethnography and Public Anthropology.” In: Current Anthropology 46:1, February 2005. 83-106. 152 | Ebd. 84.

66 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ darauf hinweist, dass Feldarbeit sich „schon immer” auf Zusammenarbeit verlassen musste,153 bringt diese Betonung der Kollaboration auf allen Ebenen das herkömmliche ‚Setting’ insofern durcheinander, als dass der neutrale Beobachter nur noch punktuell auftritt. Die Rollen der Forscher vervielfältigen sich und damit die Aufgaben und Erfordernisse der Feldarbeit. Die Krise der Repräsentation hat zu einem veränderten Verständnis der Rollen des Ethnographen beigetragen. Er ist nicht mehr nur Planer, ‚teilnehmender Beobachter’ und Verfasser, sondern auch eigenständiger Akteur im Feld, Subjekt der Pläne anderer, Beobachteter, Figur in den Texten anderer etc. Die diversen ‚sites’ des Feldes mit ihren jeweils anderen Öffentlichkeiten erfordern vom Ethnographen immer wieder andere Rollen und Positionierungen. Er ist im Geschehen intensiver involviert, hat mehr und unterschiedlich geartete Verantwortung gegenüber den Personen, mit denen und über die er forscht, und er hat nicht mehr die Möglichkeit, sich auf ‚neutrales Terrain’ zurückzuziehen, denn ‚die Wissenschaft’ ist selbst eine Assemblage von ‚sites’, die es im Hinblick auf ihre Berührungspunkte mit dem ‚Gegenstand’ ethnographisch zu untersuchen gilt. Dabei sind die unterschiedlichen Verpflichtungen, die sich ergeben können, durchaus nicht immer einfach miteinander zu vereinbaren. Aus den unterschiedlichen Positionen können Interessenkonflikte entstehen, denen nicht durch einen Rückzug aus dem Geschehen begegnet werden kann. Immer wieder werden mit den Akteuren im Feld die Positionen neu verhandelt werden müssen. Marcus betont, dass die Bedingungen einer „multi-sited” Ethnographie mit ihren beweglichen Positionen in Bezug auf die „Subjekte” und „andere aktive Diskurse” in einem Feld, das sich mit dem der ForscherInnen überschneide, eine andere Vorstellung ethnographischen Tuns entwickeln würde, die über „just ethnography” hinausginge und sogar in selbst ernannten a-politischen ForscherInnen einen Sinn für „Aktivismus” hervorbringen würde.154 Dieser von Marcus benannte „circumstantial activism” bezieht sich ebenso auf methodisch/methodologische Fragestellungen. Sie werden nicht außerhalb der Positionierungen im Feld verhandelt, sondern sind in sie eingebettet: „The conventional „how-to” methodological questions of social science seem to be thoroughly embedded in or merged with the political-ethical discourse of self-identification developed by the ethnographer in multi-sited research. The movement among sites (and levels of society) lends a character of activism to such an investigation. This is not (necessarily) the traditional self-defined activist role claimed by the left-liberal scholar for his or her work. That is, it is not the activism claimed in relation to affiliation with a particular social movement outside academia or the domain of research, nor is it the academic claim to an imagined vanguard role for a particular style of writing or scholarship with reference to a posited ongoing politics in a society or 153 | Ebd. 85f. 154 | Marcus (1995). 113f.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 67 culture at a specific historic moment. Rather, is it activism quite specific and circumstantial to the conditions of doing multi-sited research itself. It is a playing out in practice of the feminist slogan of the political as personal, but in this case it is the political as synonymous with the professional persona and, within the latter, what used to be discussed in a clinical way as the methodological.”155 Das, was bei Marcus mit dem Terminus „activism” mit Pathos daher kommt, findet sich in zunächst nüchterner erscheinender Form bei Rabinow unter der Bezeichnung „circumstantial integration”.156 Im Anschluss an Weber und Foucault geht es Rabinow dabei um die Frage der Ethik, um die Einbeziehung des Aspekts der „Lebensführung”. In gewissem Sinne ist die „circumstancial integration” eine Art ‚Forschungsführung’, bei der der Versuch unternommen wird, die Ziele der ‚Kollaborateure’ in den eigenen Verhaltensmustern („patterns of conduct”) zu berücksichtigen. „According to Weber, science does three things. It ‚contributes to the technology of controlling life by calculating external objects as well as man’s activities. [It] contributes methods of thinking, the tools and training for thought. [It] helps us to gain clarity’ (1946a:150-51). The demand of self-clarification places the issue of Lebensführung, or life-regulation, at center stage both as an object of study and as an ethical problem. It is precisely these issues that Michel Foucault’s analytic of ethics was grappling with as well. Foucault (1984:355) defines the ‚telos’ of ethical activity as ‚[t]hat activity in which one finds the self. An action is not only moral in itself, in its singularity; it is also moral in its circumstantial integration and by virtue of the place it occupies in a pattern of conduct.’ The key terms are ‚circumstantial integration’ and the ‚place it occupies in a pattern of conduct.’ These terms are uncannily close to and simultaneously far from ‚technical efficiency’ and ‚worldview.’”157 An dieser Stelle geht es um die Transformation von Logos zu Ethos. Einem bei Rabinow immer wiederkehrenden Thema, denn neben der Entwicklung eines „begrifflichen Werkzeugkastens”, der dazu dienen soll, einen „neuen Modus in den Geisteswissenschaften” zu etablieren, hat er sich zum Ziel gesetzt, die „Beziehungen, Verknüpfungen und Verwerfungen zwischen Logos und Ethos sichtbar und für sich und andere verfügbar zu machen”, was hieße, „diese Beziehungen sowohl zum Bestandteil der Forschung selbst als auch zum Bestandteil eines

155 | Marcus (1995). 113. 156 | Paul Rabinow (1999): „American moderns: On sciences and scientists.” In: G. Marcus (ed.) Critical Anthropology Now: Unexpected Contexts, Shifiting Constituencies, Changing Agenda, School of American Research Press, Santa Fe. 305-335, 331. 157 | Ebd.

68 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Lebens zu machen.”158 Das Pathos, was bei den Verbindungen zwischen Logos und Ethos unweigerlich entstünde, gelte es einzubeziehen.159 Die oben beschriebenen Merkmale ethnographischer Forschung ‚nach der Krise’ wirken sich auf die Formen ihrer Präsentationen aus. Viele der von Marcus und Fischer beschriebenen experimentellen Ansätze schließen ein Experimentieren mit den Formen der Darstellung ein. Von dialogisch ausgerichteten Ethnographien über assoziativ lyrische bis hin zu vielstimmig fragmentarisch angelegten Texten lassen sich heute diverse Formen der Präsentation finden, ganz zu schweigen von den unterschiedlichsten Formen ethnographischer Filme, die u.a. der breiten Rezeption der Krise der Repräsentation in der visuellen Anthropologie zu verdanken sind. Die lebhaften Diskussionen um ethnographischen Film in den Achtziger- und Neunzigerjahren waren immer auch methodologisch ausgerichtet und bezogen die Auswirkungen von technologischen Veränderungen, vom Wachszylinder bis zum Video mit ein. Diese Diskussionen haben sich jedoch nicht systematisch auf den digitalen Bereich ausgedehnt. Dicks et al. zufolge haben Ethnographen und andere qualitativ Forschende das Potential digitaler Technologien noch nicht ausgeschöpft.160 Die zur Verfügung stehenden neuen Technologien würden in der Regel dazu verwendet, herkömmliche Forschung mit ihren limitierten Strategien zu replizieren, anstatt die Möglichkeiten neuer Technologien für den Forschungs- und Darstellungsprozess auszuloten.161 Sie sprechen von einer „pressing need for a systematic and critical review of the methodological implications of computer applications”.162 Dem Mangel an kritischer Reflektion bezüglich der methodisch/methodologischen Auswirkungen von ‚Computeranwendungen’ steht Ende der Neunzigerjahre, Anfang der Zweitausenderjahre ein gesteigertes Interesse an der Ethnographie zur Untersuchung des ‚cyberspace’ gegenüber.163 Die Ethnographie, so scheint es, wird in vielen dieser Studien herangezogen, um ‚cyberspace’, um ‚internet communities’, MUDs (Multiple User Domains), MOOs (MUD ObjectOriented) etc. als kulturelle Gesamtheiten darzustellen und somit als Gegen-

158 | Rabinow (2004). 20. 159 | Ebd. 160 | Bella Dicks, Bruce Mason, Amanda Coffey, Paul A. Atkinson (2005): Qualitative Research and Hypermedia: Ethnography for the Digital Age. New Technologies for Social Research Series. Sage Publications, London. 7. 161 | Ebd. 162 | Ebd. 8. 163 | Siehe hierzu Escobar (1994), Hakken (1999), Hine (2000); Hine (2005); Lindlif/Schatzer (1998), Miller/Slater (2000); Sachs (1995), Suchman (2001).

WRITING CULTURE CRITIQUE | 69 stand anthropologischer und/oder soziologischer Forschung zu legitimieren.164 Die Suche nach Gemeinsamkeiten und Identitäten steht hier vielfach im Vordergrund und nicht das Bemühen, Darstellungen zu finden, die der ‚Hybridität’ und der Beweglichkeit der Untersuchungsgegenstände Rechnung tragen könnten. Bezüge zur Debatte um die Krise der Repräsentation, in der es um eine Suche nach einer der Plastizität der Dinge und Worte gerecht werdenden Darstellung geht, oder ein Bemühen, ethnographische Forschung in diesem Sinne methodisch/methodologisch zu erweitern, finden sich dort wenig.165 Im Jahr 2001, als Stephan Münte-Goussar und ich daran gingen, unser Vorhaben hypermedial zu ethnographieren forschungspraktisch zu konkretisierten, hielt die Literatur wenig Orientierungsmöglichkeiten bereit. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist der bereits 1988 erschienene Artikel von Alan Howard, in dem er das „revolutionäre” Potential neumedialer Technologien für die Ethnographie beschreibt, noch bevor die technischen Möglichkeiten zur Umsetzung seiner Ideen etabliert waren.166 Wegweisend für uns waren zwei Artikel, die sich mit den methodisch/methodologischen Aspekten eines hypermedialen Ethnographierens im Anschluss an die Debatte um die Krise der Repräsentation auseinandersetzen: Kevin Taylor Andersons 1999 erschienener Artikel „Ethnographic Hypermedia: Transcending Thick Descriptions” und Bruce Masons und Bella Dicks ebenfalls 1999 erschienener Artikel „The Digital Ethnographer”.167 Mason und Dicks sprechen von einer „Konvergenz” der Ethnographie nach der Krise („’post-paradigm’ Ethnography”), in deren Zentrum „multi-perspectivism” und „intertextuality” stünden mit den hypermedialen Möglichkeiten des Internet und multimedialen CD-ROMs.168 Überzeugt von dieser „Konvergenz” verstanden wir die im Rahmen von sense&cyber entworfene Hypermediale Ethnographie als Versuch, mit Hilfe der Neuen Medien einige praktische Antworten auf viele durch die Krise der Repräsentation aufgeworfenen Fragen zu finden.

164 | Siehe hierzu: Gourgey/Smith (1996) und Thompson et al. (1998). 165 | Vgl. Miller/Slater (2000). 166 | Alan Howard (1988): „Hypermedia and the Future of Ethnography.” In: Cultural Anthropology. Vol. 3, No. 3. August 1988, 304-315. 167 | Anderson, Kevin, Taylor (1999): „Ethnographic Hypermedia: Transcending Thick Descriptions.” Visual Anthropology Forum. http://cc.joensuu.fi/sights/kevin.htm. 11.12.2001. Mason, Bruce; Dicks, Bella (1999): „The Digital Ethnographer”. In: Issue Six: Research Methodology Online. http://www.cybersociology.com/files/6_1_virtualethnographer.html. 20.04.09 168 | Bruce Mason, Bella Dicks (1999): „The Digital Ethnographer”. In: Issue Six: Research Methodology Online. http://www.cybersociology.com/files/6_1_virtualethnographer.html. 20.04.09.

70 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“

Hypermedial ethnographieren Unter der Überschrift „Die Krise merken” beschreibt Stephan Münte-Goussar unser Vorhaben als Versuch, der Debatte um die „Krise der Repräsentation” forschungspraktisch Rechnung zu tragen, im „Eingeständnis, dass es nicht darum gehen kann, die Wirklichkeit abzubilden.”169 Er spricht davon, den „Akt der Repräsentation der Praxis der anderen – in unserem Falle der Kunstschulmacher – […] selber” als „soziale Praxis” zu verstehen, die nicht einfach „zurückholt, was die anderen gemacht haben, sondern die dieses Machen erst macht.”170 Dabei sollten die „Repräsentationsmöglichkeiten und auch Probleme Neuer Medien” im Kontext ethnographischer Darstellungsfragen ausgelotet werden.171 Die Möglichkeiten, neumediale Antworten auf ethnographische Forschungs- und Darstellungsprobleme zu finden, erschienen uns dabei zahlreich und vielfältig. Zwei zentrale Aspekte prägten dabei unser Vorgehen: Erstens ein kollaborativ gestalteter Forschungsprozess und zweitens eine der Vielfältigkeit der verschiedenen Personen, Positionen und Praxen gerecht werdende Darstellung. Stephan Münte-Goussar und ich ergänzten 2001, acht Monate nach Projektbeginn, das Team der ‚wissenschaftlichen Begleitung.’ Zu diesem Zeitpunkt waren Karl-Josef Pazzini und Torsten Meyer bereits in diversen unterschiedlichen Rollen im Projekt sense&cyber involviert. Als Autor der Expertise, die dem BLK Programm Kulturelle Bildung im Medienzeitalter zugrunde lag, in dessen Rahmen das Projekt sense&cyber durchgeführt wurde, und als Leiter des Teams der ‚wissenschaftlichen Begleitung’ hatte Karl-Josef Pazzini eine Doppelrolle inne, die er in einem seiner Beiträge zur abschließenden Veröffentlichung reflektiert.172 Durch die Organisation von Fachforen, durch Vorträge und Diskussionen im Rahmen dieser Foren war Karl-Josef Pazzini inhaltlich und beratend tätig. Gleiches galt für Torsten Meyer, der vor dem Zeitpunkt, an dem Stephan Münte-Goussar und ich zum Team stießen, in vielfacher Weise inhaltlich gestaltend und beratend aktiv war. Diese Rolle behielt er auch bei, als Stephan Münte-Goussar und ich 2001 die Aufgabe der Dokumentation des Projekts sense&cyber übernahmen. Ab August 2001 reisten Stephan Münte-Goussar und ich mit einer digitalen Videokamera von einer Kunstschule zur anderen, 169 | S. Münte-Goussar (2003): „Hypermediale Ethnographie.” In: C. Lemke, Th. Meyer, S. Münte-Goussar, K.-J. Pazzini; Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen eV. (Hg.): sense&cyber – Kunst, Medien, Pädagogik, transcript Verlag, Bielefeld. 77-90, 80. 170 | Ebd. 171 | Ebd. 81. 172 | Karl- Josef Pazzini (2003): „Expertise existiert nicht. Es sei denn als angewandte.” In: C. Lemke et al. (Hg.): sense&cyber – Kunst, Medien, Pädagogik, transcript Verlag, Bielefeld. 265-271.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 71 um das Geschehen dort zu dokumentieren. Dabei war vertraglich festgelegt, dass Stephan Münte-Goussar für den ‚digitalen’ Teil der Dokumentation zuständig sein sollte und ich für den ‚schriftlichen’. Diese Trennung erwies sich allerdings nicht als praktikabel. Wir - wenn im Folgenden von ‚wir’ die Rede ist, bezieht sich dieses ‚wir’, wenn nicht anders vermerkt, auf Stephan Münte-Goussar und mich - gingen mit ‚ethnographischer Offenheit’ ins Feld, ohne Hypothesen und vorgefertigte Fragenkataloge. Die Genre-Konventionen des ethnographischen Realismus wollten wir dabei mit Hilfe der Neuen Medien problematisieren und hypermedial Wege finden, die durch die Debatte um die Krise der Repräsentation virulent gewordene Frage nach der Wirklichkeit nicht zu vernachlässigen. Das Dilemma der gleichzeitigen Anwesenheit im ‚Feld’ und Abwesenheit vom ‚eigentlichen’ Geschehen sollte deutlich werden in einem Versuch, auf die ethnographischen Konstruktionsmechanismen, die „knowledge constitutive processes” aufmerksam zu machen.173 Darüberhinaus sollte unserer Anwesenheit im Feld nicht, wie dies bei ‚traditionellen Ethnographien’ der Fall war, eine Abwesenheit vom Bericht folgen. Wir waren ‚drin’ in unserer Ethnographie. Dies sollte u.a. durch ein ironisches Zitat der ‚arrival story’ deutlich werden. Bei jeder Reise filmten wir unsere Ankunft. Durch die ständige Wiederholung eines Ankommens an jeweils anderem Ort, sollte auch auf die diversen Schauplätze, die diversen Felder aufmerksam gemacht werden, die sich einer vereinheitlichenden Deskription ähnlicher Praxen widersetzten. „Multi-sitedness” schien unserer Aufgabe inhärent, die darin bestand, die Projektpraxis an vier niedersächsischen Kunstschulen in Aurich, Hannover, Meppen und Oldenburg und den Austausch der involvierten Institutionen über diese Praxis, der anlässlich von sogenannten Fach- und Modellforen an unterschiedlichen Orten stattfand, zu dokumentieren. Aber nicht nur eine Addition der Schauplätze sollte das Unterfangen als „multi-sited” im Sinne Marcus gestalten.174 Vielmehr waren wir davon überzeugt, dass die Hypertextstruktur der Neuen Medien in ihrer „Multi-Linearität”175, „Multi-Direktionalität”176, „MultiVocalität”177, „Multi-Semiotik”178 und „Multi-Dimensionalität”179 diese „MultiSitedness”180 generieren würde.

173 | Bob Scholte (1986) „The Charmed Circle of Geertz`s Hermeneutics. A Neo-Marxist Critique.” Critique of Anthropology. Vol. 6; Nr. 1, 5-15.6. 174 | Ebd. 175 | Mason/Dicks (1999). 176 | Ebd. 177 | Anderson (1999). 178 | Mason/Dicks (1999). 179 | Anderson (1999). 180 | Marcus (2002). 96.

72 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Angesteckt vom euphorischen Ton in Bezug auf neue Formen der Darstellung, der sowohl die Debatte um die Krise der Repräsentation als auch die Diskussionen um die Neuen Medien in den Neunzehnhundertneuzigerjahren prägte,181 glaubten wir, der Heterogenität der im Rahmen von sense&cyber zusammengefassten Aktivitäten und der „Polyvokalität”182 der beobachteten Situationen multimedial besser gerecht werden zu können. Dies schien uns im Sinne Marcus nahe liegend. Nach der Krise der Repräsentation, schreibt er, ginge es darum, sich von der Vorstellung der Ethnographie als einem Text, als Genre oder einer bestimmten Form des Wissens zu verabschieden und sie als Sammlung diverser Texte und Textsorten zu verstehen.183 Im Rahmen der Debatte fiel wiederholt das Stichwort ‚juxtapositioning’. Ein Zusammenfügen und Gegeneinanderstellen unterschiedlicher Versatzstücke als Merkmal einer „dialogisch” verstandenen Ethnographie.184 Durch ‚juxtapositioning’ sollte den vielfältigen raum-zeitlichen Zusammensetzungen Rechnung getragen werden, die sich einem vereinheitlichenden Blick widersetzen. ‚Juxtapositioning’ sollte eine „mobile” Ethnographie möglich machen, die beim Folgen „kulturelle[r] Formationen” unerwartete Richtungen einschlagen könne.185 Eine Ethnographie, die durch ‚juxtapositioning’ der Unmöglichkeit der Trennung von Globalem und Lokalem, von „Lebenswelt” und „System” Rechnung trägt. Hypertext schien uns just jene Form des ‚juxtapositionings’ zu verkörpern. Obwohl der Begriff Hypertext auch auf solche Dokumente, die unterschiedliche mediale Formate einbeziehen, angewendet wird,186 entschlossen wir uns, von einer hypermedialen Ethnographie zu sprechen, um zu betonen, dass es sich dabei um eine Form des Hypertext handelt, die mehrere mediale Formate beinhaltet. Dabei orientierten wir uns auch an Andersons Artikel „Transcending thick descriptions”. Dort heißt es: „Essentially, hypermedia is a non-linear multi-media document. By its inclusion of data stored by using the more traditional technologies of representation (film and text for example), in a user-directed, non-linear publication, hypermedia creates a fresh, user-driven means for reading and writing culture. The non-linear format enables the user to access information from multiple points of entry and navigate through this information by their own directives and particular interests. What the reader is essentially entering into is a multi-dimensional ethnography that can include fieldnotes, various methodologically-informed analyses, citations, footnotes, film and video sequences, photographs, audio recordings, and recorded music. Access to imagery and sound, as well as the ability to read the author’s fieldnotes, analyses, and theoretical goals,

181 182 183 184 185 186

| Vgl. Kapitel 3 „cyberbole” | Anderson (1999). | Marcus (2002). 10. | Marcus/Cushman (1982). 31. | Marcus (2002). 96. | Vgl. Jacob Nielsen (1997), zitiert in Mason/Dicks (1999).

WRITING CULTURE CRITIQUE | 73 may empower the reader/viewer to take a more critical approach in their assessment of the researcher’s methodology and analysis. This would enable the user to form their own analysis and re-presentation of the data for comparison with the author’s analysis and representation of the same data.”187 Wie Anderson waren auch wir überzeugt von dem transformatorischen Potential hypermedialer Darstellungsweisen in Bezug auf die im Kontext der Debatte um die Krise der Repräsentation erörterten Themen der Autorschaft und Interpretationshoheiten. Es sollte nicht nur einen Autoren geben, der inskribiert, der Ereignisse auf, ein- und beschreibt, der auf der Basis von Versatzstücken einzelner Beobachtungen typisiert und generalisiert, um letztlich mit einer schlüssigen Interpretation aufzuwarten, an der sich zukünftiges Handeln orientieren könnte. Die ‚Forschungsobjekte’ sollten vielmehr zu den den Forschungsprozess mitgestaltenden ‚Subjekten’ werden. Sie sollten genauso wie wir an der Inskription, Deskription und Interpretation teilhaben. Für diese Kollaboration standen zwei Instrumente zur Verfügung. Erstens, der als Teil der Abschlussdokumentation vorliegende „read-only” Hypertext auf DVDROM und ein offener „networked-system” Hypertext als online-Datenbank, die von allen Beteiligten zur Einsicht, Kommentierung und Bearbeitung des gesammelten Materials, zum Einstellen von eigenem Material und generellem Austausch genutzt werden konnte.188 Multiple Autorenschaft, ‚Heteroglossie’ und ‚Polyphonie’ schienen durch die hypermedialen Instrumente garantiert. Darüber hinaus erhofften wir uns, eine größere Transparenz unserer eigenen Konstruktionsleistungen erreichen zu können. Eine Interpretation, die mit dem ‚Rohmaterial’ aus dem Feld verlinked ist, kann vom Leser per Mausklick nachvollzogen werden. Davon erhofften wir uns, die Interpretationsarbeit, die Konstruktionsleistungen der Ethnographen, sichtbar machen zu können. Mit Mason und Dicks waren wir überzeugt davon, dass eine hypermediale Form uns als Autoren und auch den Lesern eine größere Interpretationsfreiheit garantieren würde. Bei Mason und Dicks heißt es: „Hypertext opens up particular kinds of authoring innovations, such as the linking together of data, analysis and interpretation in the same medium, and the juxtapositioning of materials in written, visual and aural forms. A new multi-semiotic ethnography is becoming possible through digital technologies […] Hypermedia potentially allows the ethnographer to produce more ‚writerly’ texts. Firstly, hypermedia

187 | Ebd. 2. 188 | Bei Landow 1994 wird die Unterscheidung von „read-only hypertext” und „networked systems” oder „networked textuality” hervorgehoben. Während bei ersteren der User/Leser nur durch die Zusammenstellung eigener Lesepfade zum Autoren würde, könne der Leser im zweiten Fall tatsächlich zum Autor werden und aus eigens eingestellten Versatzstücken seine eigenen Hypertexte zusammenstellen. Nur „networkedsystem” Hypertexte brächten den „wreader” hervor. Eine Mischung zwischen Autor und LeserIn.

74 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ offers the possibility of creating all kinds of multiple links between both the data assembled and the interpretative texts which comment upon these data (Howard, 1988). Different types of interpretation can be accommodated, so that both the voices of participants and the author’s commentary can be more creatively integrated. […] the very accessibility and proximity of the data texts may open up channels for innovative interpretation and reinterpretation. […] there is [also] the provision for readers to trace their own paths through these chains of links. As soon as one introduces multiple links into a hypertextual document (rather than merely having a linear sequential link from one ‚page’ to the next), the author can no longer control how a reader will progress through the environment created, and which directions s/he will choose to pursue. Associations and lines of enquiry can thereby emerge in the act of reading that may not be predicted in advance by the author. Although there is nothing inherent to the provision of multiple pathways or trails in ethnographic hypermedia environments that will push the reader into constructing pathways of their own, the presentation of interlinking avenues of enquiry and the facility for switching among them aims to encourage readers to approach the ethnographic environment as a shifting matrix of connections rather than a fixed grid of self-contained narratives.”189 Um die Fragen, wie sich in unserer Forschungspraxis die hier erwähnten „authoring innovations” zeigten, und ob dabei ein „more writerly account” entstehen konnte, geht es im vierten Kapitel dieser Untersuchung. Andersons und weniger stark Masons und Dicks Ausführungen zum hypermedialen Ethnographieren sind von einem euphorischen Technikdeterminismus gepägt, der sich in unserer Haltung zu Beginn des Projektes ebenfalls zeigte. Bei ihnen wie bei uns findet sich ein Echo der „galaktischen Medientheorien”190 von den Ansätzen Marschall McLuhans, Jean Baudrillard, Paul Virilios, Vilèm Flussers bis zu denen ihrer Exegeten Lev Manovich und Stephen Johnson. Wir waren überzeugt davon, mit Hilfe Neuer Medien ‚alte‘ Konstellationen ‚transzendieren‘ zu können, wie es auch Anderson in seinem Titel „Transcending Thick Description”191 nahe legt, und glaubten darüber hinaus, mit unserer Herangehensweise der ‚postgutembergschen‘ Ordnung unserer Zeit besser gerecht zu werden.192 Marshall McLuhan hatte bereits in den Sechzigerjahren, noch bevor von ‚Hypertext’ die Rede war und bevor das Internet das Licht der Öffentlichkeit erblickt hatte, versucht, eine Art des Schreibens zu entwickeln, die er einer über die „Buchdruck-Kultur” hinausgewachsenen Wissenschaft für angemes-

189 | Mason/Dicks (1999). 190 | Genosko (1999). 41. 191 | Anderson (1999). 192 | Ein Glaube, der mit Noble als Ausdruck einer inzwischen weit verbreiteten „Technospiritualität” gelesen werden könnte. David F. Noble (1999): The Religion of Technology: The Divinity of Man and the Spirit of Invention. Penguin Books, New York.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 75 sen hielt.193 McLuhan sah die Prinzipien der Uniformität, Linearität und Kontinuität, die das Verständnis von Wissenschaft prägten, als Ausdruck einer typographischen Ordnung, die es zu überwinden galt. Ihm schwebte ein anderes Verständnis von Wissenschaft und wissenschaftlicher Darstellung vor. Die 1951 erschienene „mechanische Braut” sollte dem Leser vielfache Einstiegsmöglichkeiten bieten, um mit den fließbandartigen Kontinuitäten des mechanischen Zeitalters zu brechen.194 Seine 1962 erstmals erschienene „Gutenberggalaxis” ist ebenfalls als Mosaik angelegt.195 Es ginge ihm nicht darum, einen fixen „Standpunkt” zur Erzeugung von Einsichten einzunehmen, sondern vielmehr darum, sich an dem aus der Chemie stammenden Begriff des „Interface” zu orientieren. Das „Interface” als Wechselwirkung von Substanzen” beschreibe einen Prozess gegenseitiger Reizung. In Kunst und Literatur, betont McLuhan, entspreche das genau jenem parataktischen Verfahren eines unverbundenen Nebeneinanderstellens. Dieses Verfahren entspreche eher der „natürlichen Form der Konversation oder des Dialogs als der eines schriftlichen Diskurses.”196 Die Mosaikform sei Ausdruck eines ständigen Mitmachens, nicht die eines distanzierten Standpunktes.197 McLuhans Schriften sind durch einen „verführerischen” Technikutopismus geprägt.198 Die phonetische Schrift und ihre Folgetechnologien hätten den „Verlust des Gedächtnisses” einen „psychischen Rückzug” und den „Niedergang der sinnlichen Wahrnehmung und angemessener sozialer Reaktionen” mit sich gebracht.199 In dem Bild, das er zeichnet, sind jedoch die Tage des „historischen”, des „alphabetisierten” Menschen, gezählt.200 Denn die elektronischen Medien hätten das Potential, viele dieser negativen Entwicklungen wieder umzukehren und zu einem gesunden ganzheitlichen „Tribalism” im „globalen Dorf” zurückzuführen.201 Gary Genosko beschreibt den religiösen Aspekt im Werk des Katholiken McLuhan.202 Tatsächlich kommen einem McLuhans Erzählungen bekannt vor. Sie handeln von Erlösung. Sie geben Hoffnung und beschwören ein Jenseits weltlichen Leidens, gesetzt den Fall, wir verstehen es, die richtige Haltung einzunehmen und mit den Wellen zu surfen, statt sich ihnen in

193 194 195 196 197 198 199 200 201 202

| Marshall McLuhan (1995 [1965]): Die magischen Kanäle. Verlag der Kunst, Dresden. 32. | M. Baltes, F. Böhler et al. (Hg.) (1989): Der McLuhan Reader. Bollmann Verlag Mannheim, 13f. | Marshall McLuhan (1995 [1962]): The Gutenberg Galaxy. University of Toronto Press. | McLuhan in Baltes et al., ebd. 87. | McLuhan in Baltes et al., ebd. 321. | Gary Genosko (1999): McLuhan and Baudrillard. The Masters of Implosion. Routledge, New York. 45. | McLuahn in Baltes et al., ebd. 69. | Ebd. | Marshall McLuhan (1995 [1962]): The Gutenberg Galaxy. University of Toronto Press. | Gary Genosko (1999): McLuhan and Baudrillard. The Masters of Implosion. Routledge, London.

76 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ den Weg zu stemmen.203 Wie bei einem Korkenzieherstrudel im Meer, schicksalhaft und unabwendbar, zieht der mediale Datenstrom in McLuhans Darstellung den Menschen (man) hinaus in unbekannte Weiten, um ihn letztlich, sollte er sich nicht beim sinnlosen Dagegenhalten verausgabt haben, wieder dort auszuspucken, wo er eingestiegen ist. McLuhan bemüht die Topoi des Primitivismus204 und präsentiert einen utopischen Endpunkt, der mit einem imaginierten Ursprungsort identisch ist. Bei McLuhan stellt sich dieser Anfangs- und Endpunkt, diese verheißungsvolle Zukunft und glorifizierte Vergangenheit, als „taktiles Universum” dar, in dem „die ganze Menschheit zu unsrer eigenen Haut”205 wird. Eine ganze, eine heile Welt, in die man nur gelangt, wenn man die richtige Haltung annimmt. In seiner„Gutenberg Galaxie” ginge es ihm darum zu zeigen, warum der alphabetisierte Mensch seinen Existenzmodus „desakralisieren” musste, schreibt McLuhan.206 Das elektrische Zeitalter hingegen führe wieder zu einer mythischen oder kollektiven Dimension menschlicher Erfahrung,207 zu einem Zusammenschluss der gesamten menschlichen Familie in einem einzigen„globalen Stamm”208. Hier findet die von Noble beschriebene„TechnoEschatology” ihren Ausdruck. Er beschreibt eine „Technologiereligion,” die nach der Erfüllung des millenaristischen Versprechens strebt und die Menschheit in seinen originalen Gott-gleichen Zustand der Perfektion zurückführen will. Auch Jean Baudrillards dystopisch gewendeter „mcluhanisme” ist von einem nostalgischen Blick zurück, von einer „nekrospektiven Melancholie” geprägt, wie er das Phänomen (allerdings nicht unter Bezugnahme auf die eigene Position) selbst nennt.209 Einer fiktiven prähistorischen Zeit voller Bedeutungszusammenhänge wird eine durch die Medien hervorgebrachte Jetzt-Zeit gegenübergestellt, ohne Zeit, ohne Raum, ohne Subjekte, sozialen Zusammenhalt oder Politik, geprägt vom Terrorismus unter der absoluten Herrschaft der Zeichen.210 Bei Virillio, der in seinem technologistischen Medienpessimismus Baudrillard in nichts nachsteht, ist ein durchgehendes Thema ein durch mediale Be203 | Auf einer Doppelseite aus Das Medium ist Massage ist eine Fotomontage zu sehen, auf der Marshall McLuhan im Anzug mit Hut und Aktentasche auf einem Surfbrett beim Wellenreiten abgebildet ist. M. Baltes et al. (Hg) (1997): Der McLuhan-Reader. Bollman Verlag, Braunschweig. 163. 204 | Siehe Genosko (1999): „The ‚Tribes‘ of the Global Village”. In: Ders.: McLuhan and Baudrillard. The Masters of Implosion. Routledge, London & New York. 106-111. 205 | M. Baltes et al. (Hg.) (1997): Der McLuhan-Reader. Bollmann Verlag, Braunschweig. 126. 206 | Marshall McLuhan (1995 [1962]): The Gutenberg Galaxy. University of Toronto Press, 69. 207 | Ebd. 269. 208 | Ebd. 8. 209 | Genosko ebd. 8. 210 | Jean Baudrillard (1991 [1976]): Der Symbolische Tausch und der Tod. Matthes und Seitz. München. Jean Baudrillard (1983): In the Shadow of Silent Majorities. Semiotext(e). New York. Jean Baudrillard (1990): Das Jahr 2000 findet nicht statt. Merve Verlag, Berlin. Jean Baudrillard (1993): The Transperancy of Evil. Verso, London.

WRITING CULTURE CRITIQUE | 77 schleunigung hervorgerufenes Verschwinden vertrauter raum-zeitlicher Ordnungen211, und bei Flusser geht es um den Versuch, durch die „Kultivierung der Medien” Rettung herbeizuführen. 212 Eine Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Prämissen dieser Theorien fand im Rahmen des Projekts nicht statt. Erst in Retrospektive erscheint es widersprüchlich, die „im medientheoretischen Gewand” daher kommenden „alten Transzendentalphilosophien”,213 die sich durch „klassische erkenntnistheoretische Konstellationen”214 auszeichnen, mit der Vorstellung zu kombinieren, dass die Neuen Medien just jene Theorien „verkörpern”,215 die die tradierten Sicht-weisen von ‚Repräsentation’ revolutionieren und die ‚klassische Erkenntnistheorie’ unterminieren. Die Bemühungen, Subjekte zu dezentrieren, Objekte in ihrer opaken Plastizität erscheinen zu lassen, Autorschaft neu zu konfigurieren etc., die hinter den Versuchen hypermedialen Ethnographierens standen, fanden vor der Kulisse einer reifizierten, totalisierten Einheit Neue Medien statt. Die Technologie ist dort der Hauptakteur, das Supersubjekt. Diese Art des Technologismus ist in abgeschwächter Weise in der Debatte um die Krise der Repräsentation zu finden. Hier wird, wie Marcus es beschreibt, übersehen, dass „die Form” letztlich „keine Garantien” bietet.216 Unsere Forschungspraxis wurde von den ‚galaktischen‘ Medientheorien und der Debatte um die Krise der Repräsentation geformt. Ein Rückschluss, den diese Praxis im Hinblick auf eine theoretische Neuorientierung zulässt, ist der, dass unsere Fokussierung auf die Form dazu führte, dass genau jene Aspekte zu kurz kamen, die die Hypermediale Ethnographie besonders auszeichnen sollten. Die ‚Dichte‘ der Beschreibung, die Kollaboration zwischen Forschern und Beforschten und die besondere Aufmerksamkeit auf die Komplexität der beforschten Situationen und Dinge. Im vierten Kapitel dieser Studie wird der Versuch unternommen, eine dichte Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie zu gestalten, die diese Aspekte nicht vernachlässigt. Dazu bedarf es eines begrifflichen Instrumentariums,

211 | Paul Virilio (2000): The Information Bomb. Verso, London. 212 | Vilèm Flusser (1997): Medienkultur. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main. Kultivierung der Medien. 213 | Vgl. Alice Lagaay, David Lauer (2004): ”Medientheorien aus philosophischer Sicht.” In: Dieselben (Hg.): Medientheorien. Eine philosophische Einführung. Campus Verlag, Frankfurt am Main. 7-31. 25. 214 | Elisabeth von Samssonow; Éric Alliez (1999): „Einleitung” In: Dieselben (Hg.): Telenoia. Kritik der virtuellen Bilder. Turia und Kant, Wien. 7-13. 11. 215 | Bergermann (1999). 216 | Marcus (2002).

78 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ das dem Grundthema der Debatte um die Krise der Repräsentation, nämlich der wechselseitigen Bedingtheit von Dingen und Wörtern, Rechnung trägt, ohne dabei an den Formen ‚hängen zu bleiben’. Bei der Suche nach diesem begrifflichen Instrumentarium ‚jenseits’ der Krise der Repräsentation, bin ich, wie bereits angekündigt, bei den Ansätzen Paul Rabinows und Bruno Latours gelandet, um die es im Folgenden geht.

Ethnographie jenseits der Krise Zum begrifflichen Instrumentarium von Paul Rabinow und Bruno Latour

Paul Rabinow und Bruno Latour zählen zu jenen Denkern der Gegenwart, die den totalisierenden Kategorien ‚Natur‘, ‚Kultur‘, ‚Gesellschaft‘ ein analytisches Instrumentarium entgegenstellen, das der Erforschung emergenter, singulärer Ereignisse besser Rechnung trägt. Beiden geht es darum, „begriffliche Werkzeuge“1 zur Verfügung zu stellen, die es erlauben, „die Wirklichkeit, in der wir leben, in ihrer Bewegung zu erfassen“.2 Latour und Rabinow sind nicht die einzigen Wissenschaftler, die sich in dieser Richtung engagieren3, an dieser Stelle aber sind sie aus mehreren Gründen von besonderem Interesse: Die Ansätze Rabinows und Latours lassen sich in Kontinuität mit der Krise der Repräsentation als ein ‚Darüberhinaus‘ lesen. Ihre experimentellen ethnographischen Ansätze sind im Hinblick auf die Frage bedeutsam, wie sich ‚Sozial‘-Forschung ‚jenseits der Krise‘ gestalten könnte. Um einen neuen Modus der Forschung zu initiieren, stellen beide begriffliche Instrumentarien zur Verfügung, die dazu einladen, sich auf eine andere Art ans Denken zu machen. An dieser Stelle möchte ich ihrer Einladung folgen und ihre Begriffe aufgreifen, um im vierten Kapitel zu versuchen, das Vorhaben ‚hypermedial‘ zu ethnographieren im Rahmen des Projekts sense&cyber durch die Brille dieses neuen, dieses anderen Modus, zu sehen. Wesentlich sind die Ansätze Paul Rabinows und Bruno Latours auch deshalb, weil sie daran gehen, ihre Forschungsformen als Ausdruck einer neu und anders erscheinenden Anthropologie darzustellen, einer zeitgenössischen Anthropologie, die andere Mischungsverhältnisse

1 | Eine von Rabinow stammende Begriffskombination. Auch hier betont er die Verbindung zu Foucault und erwähnt Foucaults Aussage, seine Bücher sollten als „Werkzeugkästen“ aufgefasst werden, aus denen man herausgreifen könne, was nützlich und hilfreich sei, um „die Angriffe auf die herrschenden Machtsysteme zu forcieren“. Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie? (Hg.) und übersetzt von Carlo Caduff, Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 65. 2 | Tobias Rees über Paul Rabinow in: Tobias Rees (2004): „Nachwort.“ In: Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie? Hg. und übersetzt von Carlo Caduff, Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch, 164-168. 167. 3 | Rabinow erwähnt in diesem Zusammenhang u.a. Hans-Jörg Rheinberger (Rabinow [1999]: 181), bei Rees erscheint Donna Haraway, (Rees [2004]: 166) und bei Latour all jene, die zur Entwicklung des begrifflichen Instrumentariums der ANT beigetragen haben, wie z.B. Michel Callon, John Law, Annemarie Mol, Leigh Star, Isabelle Stengers u. a. Latour (1998). 2.

80 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ zwischen Theorie und Praxis in Gang setzt, als die, die standardmäßig aus der Sozialforschung im Bereich der Erziehungswissenschaft zu finden sind. Damit bieten die Ansätze von Paul Rabinow und Bruno Latour für die Erziehungswissenschaft die doppelte Chance einer Neuentdeckung der Anthropologie nach dem viel zitierten ‚Tode des Menschen‘. Erstens bieten sie einen Rahmen, in dem die für die Erziehungswissenschaft zentrale Frage nach dem Menschen und in Erweiterung mit Latour die ebenso zentrale Frage nach den Dingen neu gestellt werden kann, und zweitens bietet sie konkrete Vorschläge für eine andere empirische Praxis. Mir geht es im Folgenden nicht darum, die Herangehensweisen beider Wissenschaftler im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede systematisch zu befragen. Auch geht es mir nicht um eine Kritik der Ansätze Latours und Rabinows. Vielmehr möchte ich selbst einen „begrifflichen Werkzeugkasten“ zusammenstellen, der es mir erlaubt, mit einem anderen analytischen Instrumentarium erneut über die Hypermediale Ethnographie nachzudenken. Ich möchte an dieser Stelle versuchen, durch die Aneignung der Begriffe Rabinows und Latours eine andere Haltung, einen andern Ethos, eine andere Forschungsführung zu entwickeln. Diese Aneignung ist eine Transformation, bei der weder die „Werkzeuge“ noch ich selbst als Subjekt eines Bildungsprozesses unbetroffen bleiben. Beide Seiten werden durch diesen Prozess in Mit-Leidenschaft gezogen. Eine Mit-Leidenschaft, die als Pathos, wie Rabinow betont, die Umwandlung von Logos in Ethos begleitet. Das Medium, durch das sich Logos in Ethos umwandelt, durch das sich eine Vernunftform in eine Haltung, in eine Art und Weise sich zu verhalten, zu handeln umwandelt, ist, wie Rabinow mit Foucault formuliert, das „Equipment“, der „begriffliche Werkzeugkasten.4 Es bedarf der Übung, um durch dieses Equipment“ zu einer anderen Art des Handelns zu gelangen. In diesem vielleicht etwas ungewöhnlichen Sinne ist die ‚Anwendung‘ der Begriffe zu verstehen, die im vierten Kapitel folgt, als eine Art Übung, die das hier zusammegestellte begriffliche „Equipment“ im Handeln verankert. Im fünften Kapitel wird dann der Versuch unternommen, dieses Ethos wieder in einen Logos, in eine „–logie“ zu überführen, nämlich in eine Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen. Bei der Entwicklung ihrer Begriffe gehen Rabinow und Latour sehr unterschiedlich vor. Rabinow hält seine ethnographischen Studien weitgehend von den Begriffen frei, die an dieser Stelle für mein Projekt relevant sind, und stellt sie im Rahmen dreier in Buchform vorliegenden Aufsatzsammlungen bereit, die sich als philosophische ‚Methodenreflektion‘ lesen. Die Schwierigkeit be-

4 | Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie. Herausgegeben und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 7.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 81 steht hier darin, Rabinows „begriffliche Werkzeuge“ mit seinen Ethnographien zusammen zu denken. Bruno Latours Begriffsentwicklung findet innerhalb seiner ethnographischen Studien statt. Will man sich Latours begriffliche Werkzeuge aneignen, so kommt man um die Lektüre, insbesondere seiner frühen Studien, nicht herum. Latours Studien sind zum Verständnis seiner Begriffe und zum Begreifen seines groß angelegten sowohl empirischen als auch philosophischen und politischen Projekts wichtig. Latours Oevre ist breiter als das Rabinows, sein Begriffsarsenal wechselhafter, größer und vielfältiger. Nur in der Auseinandersetzung mit Latours Gesamtprojekt erhalten seine wechselhaften Begriffe ihre Konturen. Um den unterschiedlichen Herangehensweisen beider Wissenschaftler Rechnung zu tragen, stelle ich ihre Begriffe in zwei unterschiedlichen diskursiven Modi dar. Erstens im Rahmen ihres „Werks“ und zweitens als Sammlung von „Werkzeugen“. Ich werde das „Werk“ Rabinows zunächst sehr grob chronologisch anhand der Publikationen skizzieren und seine Begriffe danach genauer unter die Lupe nehmen. Die Mehrzahl der Latourschen Begriffe taucht dagegen bereits bei dem Versuch einer ebenso groben und skizzenhaften Übersicht über sein „Werk“ auf. In der Zusammenstellung der „Werkzeuge“ greife ich einzelne Begriffe beider Autoren zu bestimmten Themen heraus. Dieser Zugriff erlaubt es, ihre Begriffe plastischer und schillernder erscheinen zu lassen, dadurch, dass sie vom Denken des jeweils anderen her beleuchtet werden.

Werk Paul Rabinow – Die Moderne und das Zeitgenössische In seiner Arbeit ginge es immer wieder um die Frage der Moderne als Problem, schreibt der 1944 geborene und in New York aufgewachsene Anthropologe Paul Rabinow.5 Die Moderne als ein Problem für jene, die in ihren diversen Formen zu Leben versuchten, und ein Problem für jene, die moderne Projekte des Wissens und der Macht voranzutreiben oder aber sich ihnen zu widersetzen strebten. Begleitet werden diese Fragen von der Suche nach geeigneten Begriffen und Zugriffen um ihnen nachzugehen. Seit über zehn Jahren entwikkelt Rabinow analytische Instrumente, die dazu dienen, den emergenten Normen und Formen in der Biotechnologie nachzuspüren. Sein Ansatz ist dem Zeitgenössischen gewidmet und der doppelten Aufgabe, die „jüngste Vergan-

5 | http://ls.berkeley.edu/dept/anth/rabinow.html

82 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ genheit mit der nahen Zukunft in Verbindung zu bringen und die nahe Zukunft mit der jüngsten Vergangenheit“.6 Rabinows akademische Laufbahn erscheint recht gradlinig. B.A., M.A. und Ph.D. macht er an der University of Chicago. Zwischen dem B.A. und dem M.A. verbringt er ein Jahr an der École Practique des Hautes Études in Paris. Immer wieder wird in Rabinows Laufbahn Frankreich und die französische Sprache wichtig, so auch während seiner im Rahmen der Dissertation durchgeführten Feldarbeit in Marokko. Während Rabinows Betreuer, Clifford Geertz, in der Stadt Sefrou forschte, bestand seine Aufgabe darin, die Stammesgebiete im mittleren Atlas Gebirge um Sefrou herum zu studieren. Seine Feldarbeit in Marokko resultierte in zwei Buchpublikationen. In seiner Dissertation Symbolic Domination: Cultural Form and Historical Change in Morocco (1975) widmet sich Rabinow der Frage des Einflusses ‚der Moderne‘ in Form der durch das Koloniale und Post-Koloniale Regime entstandenen Veränderungen auf die Strukuren einer dörflichen Gemeinschaft.7 Die zweite Veröffentlichung, Reflections of Fieldwork in Morocco (1977), wurde breiter rezipiert und ins Japanische und Französische übersetzt.8 Die Fragen der Gestaltung von Feldarbeit und der Generierung ethnographischen Wissens, um die es in Rabinows Erfahrungsbericht geht, hatten Einfluss auf die Debatte um die Krise der Repräsentation.9 In seinem Vorwort schreibt er, dass er versuche, den „double bind“ zu brechen, der die Anthropologie in der Vergangenheit geprägt habe.10 Die Tatsache nämlich, dass man erst durch die Erfahrung der Feldforschung zum Anthropologen werde, dass man jedoch nur einer bliebe, wenn just jene Erfahrung in der Ethnographie ausgeblendet würde, um den objektiven Daten Platz zu machen. Dieser „Diskontinuität“ setzt er seine Reflections entgegen.11 Sein Text sei als Versuch der Objektivierung des wissenden Subjekts („objectification of the knowing subject“) zu verstehen und nicht als intime Beichte.12 Es ging ihm um die Reflektion der praktischen und objektiven Bedingungen seiner eigenen Wissensproduktion.13 Zentral in Rabinows Reflections ist das Verhältnis zwischen dem

6 | www.anthropos-lab.net 7 | Paul Rabinow (1975): Symbolic Domination: Cultural Form and Historical Change in Morocco. University of Chicago Press, Chicago. 8 | Paul Rabinow (1977): Reflections of Fieldwork in Morocco. Berkeley. 9 | Vgl. Kapitel 1 10 | Ebd. 4f. 11 | Ebd. 12 | Im Nachwort zu Reflections setzt Pierre Bourdieu Rabinows Vorhaben von den vielen als „confessional“ bezeichneten Ethnographien ab. Ebd. 163. Vgl. hierzu: J. van Maanen (1988): Tales of the Field: On Writing Ethnography.University Of Chicago Press, Chicago. 13 | Ebd. 164.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 83 Anthropologen und seinen Informanten. Er macht deutlich, wie die Informanten den Anthropologen observieren, ihn testen, für ihre Zwecke einsetzen, sich darum bemühen, ihre eigenen Konzepte, Ideen, Werte etc. in eine ihm verständliche Form zu bringen. Anthropologische Analyse, resümiert Rabinow, müsse zwei Fakten berücksichtigen, erstens die eigene Situiertheit, die das Fragen und die Art und Weise bestimme, wie wir die Welt zu verstehen und zu erleben suchen, und zweitens die Situiertheit der ‚Anderen‘. Anthropologische Information wäre immer doppelt ‚vermittelt‘. Durch die Anwesenheit des Anthropologen und durch die Reflektion zweiter Ordnung, die von den Informanten verlangt werde.14 Rabinows Aufenthalt in Marokko folgten Anstellungen als Associate Professor in Anthropologie am Richmond College, City University of New York und an der University of California in Berkeley. Seit 1983 ist er Professor für Anthropologie in Berkeley.

Wie man Menschen studiert Rabinows Publikationen über Marokko folgte 1979 ein Reader mit dem Titel Interpretative Social Sciences und 1982 das mit Hubert L. Dreyfus verfasste Buch über Michel Foucault: Michel Foucault: Beyond Sturcturalism and Hermeneutics.15 Ein Buch darüber, wie es in der Einleitung heißt, „wie man Menschen studiert, und was man daraus lernt“.16 Beyond Structuralism and Hermeneutics ist in fünf Sprachen und diversen Auflagen erschienen und ist sein am breitesten rezipierter Text, mit dem er sich als Foucault-Experte weltweit einen Namen machte. Sehr von Foucault geprägt und auch ihm gewidmet ist das 1998 erschienene French Modern.17 Eine genealogische Untersuchung moderner französischer Städteplanung, die er als eine Art der Fortsetzung foucaultscher Bemühungen darstellt, moderne bio-politische Machtkonstellationen zu kartieren. Foucault sei, bevor er starb, dabei gewesen, Marx Analyse des Kapitals und Webers Analyse der Bürokratie eine Untersuchung der Biomacht als drittes Standbein der Moderne hinzuzufügen.18 Rabinow versteht seine eigene Studie als ethnographische Untersuchung der Moderne als Ver-

14 | Ebd.150f. 15 | Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow (1982): Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics. With an Afterword by and an Interview with Michel Foucault. Chicago. 16 | Ebd. 14. 17 | Paul Rabinow (1998): French Modern. Norms and Forms of the Social Environment. Chicago. 18 | Ebd. 6.

84 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ nunftform, als eine „Anthropologie der Moderne“.19 Ihn interessiert, wie die „Praktiker“ der Moderne, die „technicians of general Ideas“, ihre Vorstellungen vom Menschen, vom menschlichen Zusammenleben, vom ‚guten Leben‘ in konkreten städteplanerischen Projekten umsetzen.20 Vor der Folie konkreter Ereignisse wie der Cholera Epidemie erscheinen das Soziale und die soziale Wohlfahrt als konkrete Gebiete der Beschreibung und Einflussnahme. Sein Buch könnte als „Ethnographie französischer pragmatischer philosophischer Anthropologie“ verstanden werden, schreibt Rabinow, oder als „Feldarbeit in Philosophie“; es sei der Versuch, zum Verständnis der Moderne beizutragen.21 Rabinows sehr detailreiche Beschreibung, in der viele Techniker allgemeiner Ideen aus diversen Bereichen der Wissenschaft, der Architektur, der Politik und Administration durch historische Dokumente zu Wort kommen, bleibt vorläufig die letzte historische Rekonstruktion, in der genealogisch diverse Elemente einer historischen Großformation zusammengesammelt werden. Nach French Modern wendet sich Rabinow der Gegenwart zu. Sein Untersuchungsfeld ist nicht mehr die Gesellschaft in der Moderne, sondern das Leben. Seit über 10 Jahren verfolgt er den in der Biotechnologie und Genforschung emergenten Konstellationen von bios und zoe. Die Praktiker der Vernunft, die er ins Visier nimmt, sind Wissenschaftler und Manager, die noch am Leben sind, was den Vorteil hat, dass Rabinow sie interviewen kann. So gerät ein Aspekt in den Vordergrund, der für Rabinow eine zentrale Stellung hat, nämlich die Verbindung zwischen Arbeit und Leben, zwischen der Wissenschaft der Wissenschaftler und ihrer Lebens- und Forschungsführung. Statt „französisches, modernes Pathos“ gerät hier „amerikanischer moderner Ethos“ in den Fokus. In seiner 1996 erschienenen Studie Making PCR22 widmet sich Rabinow der Entdeckung der Polymerasen Kettenreaktion, die die Vervielfältigung genetischen Materials erlaubt, als Ereignis.23 En détail untersucht er die Konstellationen, die zu diesem Ereignis führten, inklusive der Streitigkeiten der Wissenschaftler um die genauen Anteile am Hervorbringen von PCR. Dabei sind für Rabinow auch die Lebensführung der Wissenschaftler, die Verbindungen zwischen ihren ‚privaten‘, ‚persönlichen‘ Einstellungen und politischen Überzeugungen mit ihrer beruflichen Tätigkeit von Interesse. Ihre Lebensführung als Forschungsführung interessiert ihn, ihr Ethos. Ein Ethos, das er als „American

19 | Ebd. 7. 20 | Ebd. 9. 21 | Ebd. 16. 22 | Paul Rabinow (1996): Making PCR. A Story of Biotechnology. University of Chicago Press, Chicago. 23 | Zur Entstehungsgeschichte von Making PCR vgl.: Paul Rabinow (1999): „American Moderns. On Sciences and Scientists.“ In: George E. Marcus (Hg.): Critical Anthropology Now. Unexpected Contexts, Shifting Constituencies, Changing Agendas. School of American Research Press, Santa Fe. 305-335.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 85 modern“ bezeichnet.24 Making PCR ist ein Beispiel der Wissensarbeitsforschung, die Rabinow in Anlehnung an Weber und Foucault formuliert. Die konzeptuellen, technischen, experimentellen und vom Management hervorgerufenen Veränderungen, die zur Hervorbringung von PCR führten, beschreibt Rabinow mit Levi-Strauss als bricolage, als Zusammenspiel unterschiedlichster Elemente, in denen ein „mouvement incident“, eine zufällige Bewegung, den nötigen Impetus liefert, um etwas in Erscheinung zu bringen.25

Normen und Formen 1999 veröffentlichte Rabinow French DNA, eine Studie über die gescheiterte Zusammenarbeit zweier Genforschungsinstitute, eines französischen, teils staatlichen, teils von einer Patientenvereinigung (AFM) finanzierten und eines amerikanischen privatwirtschaftlichen. Ein Scheitern, das bei Rabinow als Zusammenstoß von „französischem modernen Pathos“ und „amerikanischem modernen Ethos“ dargestellt wird. Im Vorwort verabschiedet sich Rabinow dezidiert von der Epoche als Kategorie der Analyse und beschreibt sein Vorhaben in Erweiterung aber auch Abgrenzung zu Foucault. Foucault hätte das Aufkommen einer normalisierenden Gesellschaft als zentrales Kriterium der Moderne seiner Biomacht zugeschrieben. Heute gelte es jedoch, diesen Gedanken vor dem Hintergrund einer Infragestellung dessen, was Leben bedeutet, was bios in biopower bedeuten könnte, neu zu fassen: „That the new genomic knowledges will form assemblages with social and political networks is clear: precisely how changes in bios will interact with old and new forms of power relations is open to question, and the evolution must be observed and analysed. A pressing challenge is to find and/or invent means of doing so.“26 Diese Suche nach den Mitteln der Erforschung emergenter Normen und Formen durchzieht Paul Rabinows akademisches Schaffen. Im Nachwort zu French DNA widmet er sich dieser Frage erneut unter der Überschrift „Anthropology of the Contemporary.“ French DNA sei nicht als „Geschichte der Gegenwart“ zu verstehen. Die „Geschichte der Gegenwart“, wie Foucault sie in Überwachen und Strafen entwarf, wäre weder „properly historical nor sociological nor ethnographic“.27 Sein eigenes Bestreben sei es, Figuren oder Bewegungen

24 | Vgl. hierzu Paul Rabinow (1995): „Reflections of Fieldwork in Alameda.“ In: Marcus, George, E. (Hg.): Technoscientific Imaginaries. Conversations, Profiles, And Memoirs. Late Editions. Cultural Studies for the End of the Century. University of Chicago Press. Chicago. 155-177 und Paul Rabinow (1999). 25 | Ebd. 169. 26 | Paul Rabinow (1999): French DNA, University of Chicago Press, Chicago. 15. 27 | Ebd. 171.

86 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ von jenen Organisationen zu befreien, die ihnen vorausgehen und ihnen nachfolgen, und ihnen zu erlauben, in unerwartete Richtungen zu gehen oder mit einander unvorhersehbare Beziehungen einzugehen. In Anlehnung an Deleuze, formuliert Rabinow, identifiziere seine Methode jene Kräfte und Potentiale, deren Ursprünge und Resultate nicht unabhängig von den offenen und notwendigerweise unvollständigen Serien ihrer Erscheinungen, ihrer Aktualisierungen spezifiziert werden können.28 French DNA gehe daher nicht von Totalitäten, formalen Systemen, umfassenden Feldern, Epochen, Weltanschauungen und universellen Subjekten aus. Sein starkes Plädoyer für eine Zurückhaltung bei der Verwendung erklärender Kategorien, für eine „nominalistische Sensibilität“, wie er es an anderer Stelle nennt, scheint im Epilog von French Modern allerdings deplaziert, denn in keinem anderen seiner Bücher sind seine eigenen Kategorien so problematisch wie in diesem. Das „Französische moderne Pathos“, das Rabinow ausführlich in French Modern beschreibt, wird hier zur Kategorie, die der des „Amerikanischen modernen Ethos“ (entwickelt in Making PCR) gegenübersteht und das Scheitern der Zusammenarbeit der beiden Biotechnologiefirmen begründen hilft. „The French Situation“, „The French System“ oder einfach „France“ steht hier „The American Situation“, „The American Context“, „the Americans“ gegenüber.29 Das „amerikanische moderne Ethos,“ das er den Wissenschaftlern und Managern zuschreibt, erscheint dabei wesentlich ‚cooler‘ als das verstaubte „französische moderne Pathos“. Vor diesem Hintergrund gelesen erscheint die Kritik Latours, Rabinow habe sich daran gemacht, den französischen Wissenschaftsphilosophen George Canguillehm „zu amerikanisieren“, in einem anderen Licht, denn dieses „Amerikanisieren“ versteht Latour wohl mit Rabinow als eine Befreiung Canguillehms (analog zu der Foucaults) vom verstaubten „französischen modernen Pathos“. Eine Befreiung, die Rabinow Bruno Latour allerdings nicht gönnt, denn Rabinow bezichtigt auch Latour, das verstaubte „moderne französischen Pathos“ an den Tag zu legen. Während der Recherche zu French DNA bestand zwischen Latour und Rabinow Kontakt. Das Centre de Sociologie de l’Innovation, an dem Latour zu der Zeit arbeitete, zeigte sich Rabinow gegenüber „gastfreundlich“.30 Allerdings hätte Rabinow es vorgezogen, während und nach der Feldarbeit Distanz zu wahren, um seine Schlüsse unbeeinflusst zu ziehen.31 French DNA unterscheidet sich konzeptionell wesentlich von den bisherigen Forschungsvorhaben Rabinows und ist aufgrund der von ihm dort vorgenommen Generalisierun-

28 29 30 31

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Ebd. 174. Vgl. ebd. 78, 80,81, 87, 114. Ebd. 6. Ebd.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 87 gen sehr problematisch. Das Dilemma des Buches ist, dass sich Rabinow auf die Festlegung zweier unterschiedlicher wissenschaftlicher Kulturen versteift, einer französischen und einer amerikanischen, deren Existenz er dann nachzuweisen versucht. Im Sinne Latours, ein tautologisches Unterfangen.32

Die Fabrikation der Zukunft In seiner 2005 erschienenen Biotech-Chronik A Machine to Make a Future experimentiert Rabinow erneut mit der Form. Für die Fortführung seiner Beobachtungen bei der Biotechnologiefirma Celera Diagnostics, die bereits in Making PCR im Mittelpunkt stand, engagiert er eine Ko-Autorin als Beobachterin des Beobachters, die Studentin Talia Dan-Cohen. Es entsteht eine dichte Collage aus Interviewtranskripten und Beschreibungen, die die konkrete Arbeit bei Celera Diagnostics in den Blick nehmen. Hier sind, ähnlich wie bei Making PCR, die Bedingungen von Interesse, wie Neues im Feld der Biotechnologie entsteht, welche Bedingungen, welche Versuchsanordnungen zu Ereignissen führen, die andere Ereignisse an anderer Stelle in Gang zu setzen in der Lage sind. Dabei geht es nicht einfach um experimentelle Anordnungen, die Antworten generieren, sondern um „Versuche als Transportmittel zur Materialisierung von Fragen.“ Experimente, schreibt Rabinow in Anlehnung an Jacob und Rheinberger, würden Antworten auf Fragen liefern, die man vor dem Experiment noch nicht hätte formulieren können.33 Rabinows Suche nach den emergenten Normen und Formen, nach Ereignissen, zu denen es Fragen noch zu formulieren gilt, findet auch in der von ihm mit ins Leben gerufenen Anthropology of the Contemporary Research Collaboratory statt.34 In diesem Rahmen widmet er sich zur Zeit dem Feld der synthetischen Biologie (ein Forschungsgebiet, in dem Biologen, Chemiker und Ingenieure Organismen ‚entwerfen‘, die in der Natur nicht vorkommen) und dem Gebiet der biologischen Sicherheitsforschung. Rabinows Forschung war stets

32 | Vor dem Hintergrund, dass Rabinows Anträge auf Drittmittel für die Erforschung der Zusammenarbeit der beiden Biotechnologieinstitute mit der Begründung abgelehnt worden sind, dass es keine signifikanten als kulturell zu bezeichnenden Unterschiede bei der Erforschung genetischen Materials gebe, wird Rabinows Festhalten an den unterschiedlichen wissenschaftlichen Kulturen nachvollziehbar. Vgl. Hierzu: Paul Rabinow (1999): „American Moderns. On Sciences and Scientists.“ In: George E. Marcus (Hg.): Critical Anthropology Now. Unexpected Contexts, Shifting Constituencies, Changing Agendas. School of American Research Press, Santa Fe. 305-335, 332. 33 | Paul Rabinow, Talia Dan-Cohan (2005): A Mashine to Make a Future. Biotech Chronicles. Princeton University Press, Princeton N.J. 4. 34 | http://anthropos-lab.net.

88 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ begleitet von einer methodisch und philosophisch motivierten Suche nach „begrifflichen Werkzeugen“, die der Aufgabe des Nachspürens emergenter Formen und Normen gewachsen sein könnten. Eine Ausführung dieser Begriffe findet sich in den Büchern Essays on the Anthropology of Reason (1996) und Anthropos Today: Reflections on Modern Equipment (2003).35 Übersetzt und mit Vorwort bzw. Nachwort und Interviews ergänzt haben Carlo Caduff und Tobias Rees diese beiden Bücher 2004 herausgebracht.36 Diese sowie die 2008 erschienene Aufsatzsammlung Marking Time. On the Anthropology of the Contemporary dienen als meine Hauptresourcen beim Zusammensammeln Rabinows begrifflichen Werkzeugs.37

Bruno Latour – Philosophie ethnographisch Bruno Latours Spektrum der Betätigungsfelder ist breiter als jenes Rabinows, sein Oevre ist umfangreicher, er hat mehr publiziert und ist wesentlich breiter rezipiert worden als Rabinow. Seit Mitte der Neunzigerjahre ist Latour so etwas wie ein ‚Popstar‘. Anhänger finden sich in diversen akademischen Feldern. Im deutschsprachigen Bereich konzentriert sich die Rezeption Latours auf die Wissenschafts- und Technikforschung,38 die Soziologie,39 die Umweltsoziologie,40 die Kultur- und Kommunikationsforschung41 und die Organisa35 | Paul Rabinow (1996): Essays on the Anthropology of Reason. Princeton University Press, Princeton NJ. 36 | Paul Rabinow (2004): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Übersetzt und hg. von C. Caduff, T. Rees. Suhrkamp Taschenbuch; und Paul Rabinow (2004a): Was ist Anthropologie? Hg. und übersetzt von Caduff, Carlo; Rees, Tobias. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 37 | Für eine ausführliche Gesamtschau Rabinows Werk vgl. C. Caduff, T. Rees (2004): „Einleitung: Anthropos plus Logos. Zum Projekt einer Anthropologie der Vernunft.“ In: Paul Rabinow: Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Übersetzt und hg. von C. Caduff, T. Rees. Suhrkamp, Frankfurt. 7-28. Ein Lebenslauf Rabinows siehe unter: http://s.berkeley.edu/dep/anth/PRCV.WEB.pdf. 38 | Vgl. hierzu: Arno Bammé (2008): Wissenschaft im Wandel. Bruno Latour als Symptom. Marburg. 39 | Vgl. hierzu: Markus Holzinger (2004): Natur als sozialer Akteur. Realismus und Konstruktivismus in der Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Leske&Budrich, Opladen; und G. Kneer, M. Schroer, E. Schüttpelz (Hg.) (2008): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main und Uwe Schimank (2002): „Die unmögliche Trennung von Natur und Gesellschaft – Bruno Latours Diagnose der Selbsttäuschung der Moderne.“ In: U. Schimank und U. Volkmann (Hg.): Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Leske&Budrich, Opladen. 157-169. 40 | Vgl: Martin Voss, Birgit Peuker (Hg.) (2006): Verschwindet die Natur? Akteur-Netzwerk Theorie in der Umweltsoziologischen Diskussion. transcript Verlag, Bielefeld. 41 | Vgl. A. Belliger, D. Krieger (Hg.) (2006): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-NetzwerkTheorie. transcript Verlag, Bielefeld; und Matthias Wieser (2004): „Inmitten der Dinge. Zum Verhältnis von

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 89 tionsforschung.42 Die von Bruno Latour, Michel Callon, John Law und vielen anderen kontinuierlich mit- und umgestaltete Actor-Network-Theory findet unabhängig von der Rezeption Latourscher Texte weite Verbreitung. Latour wurde 1947 geboren und ist im Burgund als Sohn einer Weinbauerfamilie aufgewachsen. Sein akademischer Werdegang erscheint zunächst nicht so gradlinig wie der Rabinows. Er begann in der Philosophie, arbeitete in der Anthropologie, dann in der Soziologie und in der Wissenschafts- und Technikforschung. Von 1982 bis 2006 war er Professor am Centre de Sociologie l’Innovation an der Ecole Nationale Supérieure des Mines. Er war u.a. Gastprofessor an der University of California, San Diego, an der London School of Economics und im History of Science Department in Harvard. Seit 2007 ist er Professor am Centre de Sociologie des Organisation (CSO) des Institut d‘Études Politiques de Paris (Sciences Po). Latours Betätigungs- und Themenfelder sind vielfältig. Von der Bibelexegese über Feldforschung an der Elfenbeinküste, ethnographischen Studien in USamerikanischen Biotechnologielaboren, Arbeiten zu Pasteurs Microben, zur „Moderne“,43 zu einer automatisierten U-Bahn, die nie in Betrieb genommen wurde,44 zur politischen Philosophie und Ökologie,45 zu den Fragen der Verhältnisse zwischen Wörtern und Dingen in der Wissenschaft,46 zum Conseil d’Etat,47 zur Religion48 bis hin zur Tätigkeit als Kurator zweier großer Ausstellungen am sozialen Praktiken und Artefakten.“ In: Karl H. Hörning, Julia Reuter (2004): Doing Culture: Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. transcript Verlag, Bielefeld. 92-108; und N. Degele, T. Simms (2004): „Bruno Latour: Post-Konstruktivismus pur.“ In: M. Hofmann, T. Korta und S. Niekisch (Hg.): Culture Club. Klassiker der Kulturtheorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 259-275. 42 | G. Ortmann, J. Sydow, K. Türk (Hg.) (2000): Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden. 43 | Bruno Latour (1991): Nous n’avons jamais été modernes- essai d’anthropologie symétrique. La Découverte. Paris. Deutsch von Gustav Roßler: (1995): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Akademie Verlag, Berlin. 44 | Bruno Latour (1992): Aramis ou l’amour des techniques. La Découverte. Paris. Engl. von Catherine Porter: (1996): Aramis or the Love of Technology. Harvard University Press, Cambridge MA, London. 45 | Bruno Latour (1999): Politiques de la nature. Comment faire entrer les science en démocratie. Éditions La Découverte. Paris. Deutsch von G. Roßler (2002): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 46 | Bruno Latour (1999a): Pandora’s Hope: An Essay on the Reality of Science Studies. Harvard University Press. Deutsch von Gustav Roßler (2000): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 47 | Eine Institution, die es vergleichbar in Deutschland nicht gibt. Einerseits hat dieses Gremium die Aufgaben eines obersten Verwaltungsgerichts, und andererseits berät es die Regierung und prüft Gesetzesentwürfe, bevor sie dem Kabinett vorgelegt werden. Bruno Latour (2002a): La Fabrique du droit. Une ethnographie du Conseil d’Etat. La Découverte, Paris. 48 | Bruno Latour (2002b): Jublier ou les troument de la parole religieuse. Les Empecheurs-Le Seuil, Paris.

90 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe in Zusammenarbeit mit Peter Weibel.49 Sein Gesamtprojekt ist sowohl ein philosophisches als auch ein empirisches als auch ein politisches. „I have changed continuously my topics, my field sites, my style, my concepts and my vocabulary,“50 schreibt Latour. Seine Begriffe befinden sich in Bewegung. Dies macht die Einschränkung und Auswahl geeigneter Begriffe für mein Projekt insofern schwierig, als dass sich das Zusammensammeln der Begriffe, will man sie in der Latourschen Beweglichkeit begreifen, nicht mit der Lektüre dreier Bücher bewerkstelligen lässt, zumal Latour das eigene Vorgehen, die eigenen ‚methodischen‘ Begriffe in allen seinen Untersuchungen mit zum Thema macht. Da hilft es, dass Latour stets darum bemüht ist, sein Denken ‚zugänglich‘ zu machen. Das beginnt damit, dass er die Mehrzahl der von ihm in diversen Zeitschriften und Büchern veröffentlichten Artikel auf seiner hompage zum download zur Verfügung stellt. Er fasst im Parlament der Dinge die Hauptargumente „für den eiligen Leser“ zusammen51 und stellt an zwei Stellen ein Glossar zur Verfügung.52 Das Bemühen,‚zugänglich‘ zu bleiben, drückt sich auch in seinem Stil aus. Latours Texte sind nicht didaktisierend, wirken aber streckenweise programmatisch und polemisch. Immer wieder stellt Latour ähnliche Sachverhalte in anderen Kontexten, mit anderen Bildern und anderen Begriffen dar. Er macht sein Interesse an Forschungsthemen transparent und stellt sie in Zusammenhang mit vergangenen Forschungsvorhaben. All dies trägt dazu bei, dass seine Arbeit trotz der vielen scheinbar heterogenen Themen und seinem umfangreichen, wechselnden begrifflichen Instrumentarium konsistenter und weniger sprunghaft erscheint als die Rabinows. Latours Suche erscheint klarer und zielgerichteter. Paul Rabinow arbeitet sich immer wieder an Foucault ab. Scheinbar getrieben von der Idee foucaultscher als Foucault selber seine Projekte anzugehen, gelingt es ihm nicht, der foucaultschen Aporetik zu entkommen. Dass er vor diesem Hintergrund Latour vorwirft, er erkenne keinen ‚geistigen Vater‘ an, ist nachvollziehbar.53 Latour formuliert seine Suche nicht als Fortführung des Denkens eines anderen. Er setzt sich jedoch sehr intensiv mit dem Denken anderer auseinander.

49 | Latour, B.; Weibel P. (2002c): Iconoclash- Image-making in Science, Religion and Art. ZKM Karlsruhe. MIT Press, Cambridge MA, London. Und: Bruno Latour, P. Weibel (2005): Making Things Public. Atmospheres of Democracy. ZKM, Karlsruhe. MIT Press, Cambridge MA, London. 50 | Bruno Latour (1998): „For Bloor and Beyond. A reply to David Bloor’s ‚Anti Latour’“. In: Studies in History and Philosophy of Science. www.bruno-latour.fr/poparticles/poparticle/p075.html. 51 | Bruno Latour (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 302-307. 52 | Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 372f. 53 | Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie. Hg. und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 162.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 91 Latour hat viele ‚geistige Väter‘ und auch ‚Brüder‘ und ‚Schwestern‘. Was Erstere anbetrifft, so behandelt er sie, ähnlich wie Gilles Deleuze dies tat, und reproduziert jene Aspekte ihrer Arbeit, die für seine Suche hilfreich sind.54 Eine Parallele zwischen Gilles Deleuze und Bruno Latour besteht auch in der Auswahl ‚geistiger Väter‘. Dazu zählen u.a. Baruch Spinzoa, Georg Wilhelm Leibniz, John Dewey, Gabriel Tarde und Alfred North Whitehead. Was die ‚Brüder‘ und ‚Schwestern‘ anbetrifft, so weist Latour (und hier unterscheidet er sich sowohl von Deleuze als auch von Rabinow) immer wieder auf die Zusammenarbeit hin und macht ihren Einfluss auf die von ihm allein verfassten Texte deutlich. Viele seiner Bücher sind seinen ‚Kollegen‘ gewidmet.55 Immer wieder macht er klar, dass er sein Projekt nicht als individuelles versteht, sondern im Sinne Stengers als „kosmopolitisches“, als gemeinsames Arbeiten an der Zusammensetzung einer gemeinsamen Welt.56 Graham Harman, der 2009 Latours Werk erstmals als philosophisches vorstellt, bezeichnet ihn als denjenigen Philosophen der Gegenwart, den man sich am schwierigsten ohne Freunde vorstellen könne. Latours „hunger for collaboration“ sei „the only attitude consistent with his vision of how actors operate.“57

54 | Latours und Deleuzes Herangehensweisen gehen in die gleiche Richtung, sind jedoch keineswegs identisch. Seine Generation, schreibt Deleuze, sei von der Geschichte der Philosophie „ermordet worden.“ Im eigenen Namen zu sprechen, wurde vor dem Hintergrund der großen Namen der ‚geistigen Väter‘, mit denen man sich ausgiebig beschäftigen musste, unmöglich. Vor diesem Hintergrund erklärt sich Deleuzes initiale Herangehensweise an einige dieser ‚geistigen Väter‘: Die Geschichte der Philosophie sei „von hinten“ zu nehmen, schreibt er: „Ich stelle mir vor, hinter den Rücken eines Autors zu gelangen und ihm ein Kind zu machen, das sein eigenes und trotzdem monströs wäre. Es ist sehr wichtig, dass es sein eigenes ist, weil es nötig ist, dass der Autor wirklich all das sagt, was ich ihn sagen lasse. Aber es war auch wichtig, dass das Kind monströs ist, weil er alle Arten von Dezentrierung [...] durchlaufen musste, die mir beliebten.“ (Gilles Deleuze: Kleine Schriften. Merve Verlag, Berlin. 12). Dieses Vorgehen machte zwar für Deleuze bei Nietzsche Halt, sein Buch über Kant ist davon geprägt. (Gilles Deleuze (1990): Kants kritische Philosophie. Merve Verlag, Berlin.) Ein „Buch über einen Feind“, wie Deleuze betont. Latour würde sicher nicht auf die Idee kommen, in dieser Form ein Buch über einen „Feind“ zu verfassen. Bei den Texten, die er über ‚seine Freunde‘ verfasst, ist er gewissenhaft und gründlich auf eine gute Wiederholung aus, die den „level of fecundity“ des gesamten Trajekts des behandelten Materials erhöhen hilft. (Bruno Latour (2009): The migration of the aura, or how to explore the original through ist facsimiles. www.bruno-latour.fr/articles/ article/108-ADAM-FACSIMILES-AL-BL.pdf). 55 | Science in Action ist Michel Callon gewidmet; The Pasteurization of France ist Michel Serres gewidmet; Das Parlament der Dinge ist Isabelle Stengers gewidmet; Die Hoffung der Pandora ist Shirley Sturm, Donna Haraway und Steve Glickman gewidmet. 56 | Vgl. zur Kosmopolitik, Latour (2001), 292. 57 | Graham Harman (2009): Prince of Networks: Bruno Latour and Metaphysics. Re.Press, Melbourne.

92 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“

„First of all a philosopher” „We find ourselves in a buzzing world, amid a democracy of fellow creatures; whereas, under some disguise or other, orthodox philosophy can only introduce us to solitary substances, each enjoying an illusory experience.“ Whitehead.58 Latour macht wiederholt deutlich, dass ihn eine „orthodoxe“ Philosophie nicht interessiert. Er spricht von ihr als seltsamer Philosophie, die irgendwann im 17. Jahrhundert aufkam und es unmöglich machte, „to let reality return to our speech.“59 Immer wieder macht Latour auf die Problematik der Trennung zwischen Wörtern und Dingen, zwischen Geist und Materie aufmerksam. Die Erkenntnistheorie, die diese Trennung zum Zweck der Brückenbildung aufrecht erhält, ist für Latour, genau wie für Rabinow, passé. Bei Latour ist diese Abkehr keine Abkehr von der Philosophie schlechthin, sondern erfolgt vielmehr aus der Philosophie heraus, wie er in seinem Vortrag mit dem Titel „Coming out as Philosopher“ anlässlich der Verleihung des Sigfried Unseld Preises 2008 deutlich macht.60 Bereits in seinem 1986 erschienenen Nachwort zur zweiten Auflage zu Laboratory Life wendet sich Latour gegen das „philosophy bashing“ in den Sozialwissenschaften.61 Sowohl Rabinow als auch Latour geht es darum, die „Beweglichkeit der Bilder vor dem Versuch ihrer Fixierung zu retten“62 und methodisch dem „Prinzip der Bewegung“ Rechnung zu tragen.63 Dabei unterscheiden sich beide darin, wie dies geschehen kann. Rabinow plädiert dafür, der „allgegenwärtigen Forderung nach einem Weltbild zu widerstehen.“64 Latour wirft er vor, eines zu entwerfen. Bezogen auf Wir sind nie modern gewesen kritisiert er (ganz im Sinne des von ihm beschriebenem „französischen modernen Pathos“) Latours „missionarischen“ und „didaktischen“ Eifer, der mit der Generierung seines „Weltbildes“ einherginge. Ein Fernhalten von „Weltbildern“ passt nicht zum Latourschen Denken. Die Ächtung der großen Erzählungen wäre nicht sehr wirk-

58 | Alfred North Whitehead zitiert in: Bruno Latour (2008a): „Spinoza Lecture I. Nature At The CrossRoads: In: Ebd. What ist he Style of Matters of Concern? , Amsterdam. 8-25. 59 | Ebd. 60 | Eine in gewisser Weise spinozistische Abkehr mit dem beständigen Verweis auf Immanenz. 61 | Bruno Latour, Steve Woolgar (1986): „Postscript to the Second Edition.“ In: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Sage Publications, London. 273-286, 281. 62 | Bruno Latour (2002d): Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (Hg.). Merve Verlag, Berlin. 5. 63 | Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie. Hg. und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 162. 64 | Ebd. 107.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 93 sam, schreibt er, denn ganz gleich, wie überzeugt wir von der radikalen Vielfalt der Existenz wären, würden wir doch „in unserem Hinterkopf“ alles wieder unterderhand in einem „einzigen kleinen Bündel“ zusammenfassen.65 Um die Unmöglichkeit der Abstinenz von „Weltbildern“ dreht sich auch die von Weibel und Latour kuratierte Ausstellung Iconoclash.66 Ein „Weltbild“ wird bei Paul Rabinow trotz der Formulierung seiner Anthropologie geleugnet. Dies macht die Lektüre streckenweise recht anstrengend. Dagegen wirkt Latours offensives „coming out“ (trotz oder gar wegen des „französischen modernen Pathos“) erfrischend und unterhaltsam. Jahrelang, schreibt Latour, hätte er sein „großes Projekt“ sorgsam bedeckt gehalten. Seinen Vortrag 2008 anlässlich der Verleihung des Siegfried Unseld Preises in Frankfurt überschreibt er dann mit „coming out as a philosopher“. Er sei, räumt er ein, wohl kein „professioneller“ aber dennoch „first of all a philosopher“.67 Trotz der diversen Bereiche, in denen er gearbeitet hätte, wären seine Intentionen die gleichen geblieben.68 Bereits in einem Interview in 1990 beschreibt er, dass er sein Interesse an Philosophie, Theologie und Anthropologie von Anfang an als „the same thing“ begriff: „I was trying to account for the various ways in which truth is built.“69 Was auf ersten Blick eklektisch erscheinen mag, erhält bei genauerem Hinsehen einen Zusammenhalt, der Paul Rabinows Suche (trotz der stetigen Wiederkehr zu Foucault) im Vergleich erratisch erscheinen lässt. In dem von Latour 2008 gehaltenen Vortrag findet sich eine lineare Erzählung des latourschen Schaffens, in der er darlegt, von welchen philosophischen Fragen seine Forschung über die Jahre motiviert war. In seinem „portray of myself as a philosopher“ erscheint der Zusammenhang seines gesamten „intellektuellen Projekts.“70 Dieser Zusammenhang stellt die Beweglichkeit Latours begrifflichen Arsenals sicher. Seine zielgerichtete Suche verhindert, dass er sich an einzelnen Begriffen ‚aufhängt‘. Die Plastizität latourscher Begriffe ist, wie unten deutlich werden wird, überaus nützlich, denn sobald eines seiner begrifflichen Werkzeuge entweder durch zu starre Grenzen dem Den-

65 | Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.260. 66 | Bruno Latour (2002d): Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (Hg.). Merve Verlag, Berlin. 67 | Bruno Latour (2008): Coming Out as a Philosopher. Acceptance speech for the third Siegfried Unseld Prize. www.bruno-latour.fr/articles/article/114-UNSELD-PREIS.pdf. 68 | Ebd. 2. 69 | Hugh T. Crawford (1993): „An Interview with Bruno Latour.“ Interview conducted in October 1990. Configurations No 1, 1993. 274-268. 70 | Bruno Latour (2008): Coming Out as a Philosopher. Acceptance speech for the third Siegfried Unseld Prize. www.bruno-latour.fr/articles/article/114-UNSELD-PREIS.pdf. 2.

94 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ ken nicht mehr weiterhelfen kann, oder es ‚zerrinnt‘, nicht mehr zu fassen ist, kann ein anderer, verwandter Begriff zu Rate gezogen werden. Latours Begriffe setzen das Denken in Bewegung und ermöglichen, es in Bewegung zu halten. Die Voraussetzung dafür ist, eine grobe Skizze seines Gesamtprojekts ‚im Hinterkopf‘ zu behalten. Im Folgenden geht es um eine solche sehr grobe Skizze.

Regimes of Enunciation Als seine erste prägende akademische Station beschreibt Latour die Bibelexegese von Rudolf Bultman, die er unter Anleitung seines Mentors, dem französischen Übersetzer Rudolf Bultmans, André Malet, kennen lernte. In seinem 1921 erschienenen Hauptwerk, Die synoptische Tradition, widmet sich Bultman der Suche nach den authentischen aramäischen Sätzen des Neuen Testaments. Bultmans radikale Exegese hätte auf ihn nicht den Effekt gehabt, seinen robusten Satz von Sicherheiten, den er sich als guter Katholik im bürgerlichen Burgund angeeignet hatte, zu verätzen. Im Gegenteil hätte er Bultman so gelesen, dass nur durch die langen Linien ständiger Erfindungen, Veränderung und Übersetzungen die Wahrheitsbedingungen der Botschaft („gospel“) zu finden wären, vorausgesetzt, die Erfindungen wären in der richtigen „Tonart“ („the right key“) und könnten die Botschaft auf die richtige Art und Weise erneuern.71 Bereits hier ist der fundamentale Aspekt der Übersetzungsketten in der Produktion von Wissen, von Wahrheit herausgearbeitet. In seiner Doktorarbeit in der Philosophie wendet sich Latour dem Autor Charles Péguy zu und der Frage der Wiederholungen der „Botschaft“. Der Frage nämlich, welche Wiederholungen „richtige“ oder „falsche“ wären. Eine Frage, der sich zu gleicher Zeit u.a. auch unter kurzer Zuhilfename Péguys, Gilles Deleuze in seiner Doktorarbeit Differenz und Wiederholung widmet. Im Gegensatz zu Differenz und Wiederholung, schreibt Latour, sei seine Doktorarbeit nur von Ratten und Mäusen gelesen worden.72 Nichtsdestotrotz hat sie Latours Verständnis von ‚Geschichte‘ und ‚Gegenwart‘ geprägt. An vielen Stellen in seinem weiteren Werk erwähnt er Pèguy dort, wo es um den Zeitbegriff geht.73 Für ein Verständnis Latourscher Begriffe, insbesondere

71 | Ebd. 3. 72 | Bruno Latour (2008): Coming Out as a Philosopher. Acceptance speech for the third Siegfried Unseld Prize. www.bruno-latour.fr/articles/article/114-UNSELD-PREIS.pdf. 3. 73 | Siehe hierzu: Henning Schmidgen: „Die Materialität der Dinge? Bruno Latour und die Wissenschaftsgeschichte.“ In: G. Kneer, M. Schroer, E. Schüttpelz E. (Hg.) (2008): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 15-47. 20.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 95 jenen der „Moderne“, „Postmoderne“ und „A-Moderne“, die in Wir sind nie modern gewesen auftauchen, ist es wichtig, diese frühe Auseinandersetzung mit dem Zeitbegriff in die Betrachtung mit einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund greift beispielsweise Rabinows Kritik, Latour habe ein epochales Geschichtsverständnis, zu kurz.74 Seine Arbeit über Péguy schrieb Latour an der Elfenbeinküste zu Ende, wo er im Rahmen seines Zivildienstes für das französische Forschungsinstitut ORSTOM arbeitete. Hier lernte er ethnographisches Arbeiten „the proper way, by doing it.“75 Für ORSTOM sollte er herausfinden, warum es den „black executives“ schwerfiel, sich dem modernen industriellen Leben anzupassen. Die angebliche Unfähigkeit junger Technikstudenten, dreidimensional zu sehen, galt als Ausdruck eines fundamentalen kognitiven Unterschieds, der eine vermeintliche Trennung zwischen wissenschaftlichem und vorwissenschaftlichem Denken markierte. Latour stellt fest, dass Schüler technisches Zeichnen lernten, ohne jemals mit den Objekten, die sie zeichnen sollten, in Berührung gekommen zu sein. Eine einfache „soziale Erklärung“, die Zweifel an der gesamten Literatur zum Thema kognitiver Unterschiede aufkommen ließ.76 Was wäre, wenn es keine „Great Divide“ zwischen „scientific“ und „pre-scientific reasoning“ gäbe? Getrieben von der Frage, was mit dieser „großen Trennung“ passieren würde, wenn die gleichen Methoden, die Bauern der Elfenbeinküste zu studieren, angewandt würden, um ‚angesehene Wissenschaftler‘ („first-rate scientists“) zu studieren, entwickelte sich Latours nächstes Forschungsvorhaben. Gemeinsam mit Steve Woolgar wurde er am Salk Institute in Kalifornien ethnographisch tätig, einer Biotechnologiefirma, die sich der endokrinologischen Erforschung von Releasing-Hormonen widmet. 1979 erschien Laboratory Life als eine der ersten Studien über die täglichen Aktivitäten von Wissenschaftlern in „their natural habitat“.77 Latour ging es darum, die „immense Komplexität wissenschaftlicher Praxis in ihrer exegetischen Dimension“ zu erfassen.78 Seine Aufmerksamkeit galt den Aspekten des Lesens und Schreibens, der Visualisie-

74 | Paul Rabinow (2004): „Was ist Anthropologie.“ Hg. und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 113. 75 | Hugh T. Crawford (1993): „An Interview with Bruno Latour.“ Interview conducted in October 1990. Configurations No 1, 1993. 274-268. 76 | Bruno Latour, Steve Woolgar (1986): „Postscript to the Second Edition.“ In: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Sage Publications, London. 273-286, 274. 77 | Ebd. 78 | Bruno Latour (2008): “Coming Out as a Philosopher.” Acceptance speech for the third Siegfried Unseld Prize. www.bruno-latour.fr/articles/article/114-UNSELD-PREIS.pdf. 3.

96 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ rungsmechanismen, der kollektiven Arbeit der Interpretation „schwer erkennbarer Spuren“. Diese Inskriptionen interessierten ihn, denn genau wie in der Arbeit der Bibelexegese konnte „Wahrheit“ hier nur durch die Reduktion der Durchgangsstationen (intermediaries) und das Vermehren der Vermittlungsschritte (mediaries) entstehen. Die Voraussetzung hierfür, wie bei der Bibelexegese, schien ihm dabei ebenfalls ein „Netzwerk der Übersetzung“ und der richtige Modus der Wiederholung: „the key, the mode or the regime in which concepts are made to spread.“79 Damit hatte er eine Methode entwickelt, die verschiedene Arten der Wahrheitsproduktion, verschiedene regimes of enunciation, vergleichbar machte.

Fallgruben historischer Analyse und die Geschichtlichkeit der Dinge Während sich Paul Rabinow mit seiner Hinwendung zu Foucault von ethnographischen Begriffen abwendet, begründet Latour die Hinwendung zur Ethnographie in Laboratory Life auch damit, durch sie die „pitfalls of historical analysis“ vermeiden zu können.80 Auf dem Weg von einer einfachen Aussage zum wissenschaftlichen Faktum ginge der Aspekt der Zeit verloren, schreibt Latour. Eine zeitlich situierte Aussage werde von den Umständen ihrer Entstehung abgekoppelt erst zum Faktum, das dann in einen größeren Wissenskorpus eingegliedert werden könnte, auf den andere zugreifen könnten. Die Geschichtsschreibung der Fakten sei daher von der grundlegenden Schwierigkeit begleitet, dass sie die Geschichte von etwas zu schreiben versuche, was per definitionem alle geschichtliche Referenz verloren habe. Es gebe einen entscheidenden Unterschied zwischen einer umstrittenen Aussage und der folgenden (oder vorausgehenden) Akzeptanz dieser Aussage als etabliertes Faktum. Wissenschaftshistoriker würden diesen Prozess, diese Metamorphose, in der Regel vom Faktum her rückwärts aufrollen. Diese Vorgehensweise mache es jedoch schwer, jene Situationen zu erkennen, wo es keinen Pfad gebe. In den meisten Fällen würde die historische Rekonstruktion den Prozess der Verhärtung, durch den eine Aussage zum Faktum werde, nicht zu fassen bekommen.81 Gerade dieser Prozess steht für Latour jedoch im Vordergrund. Die Frage

79 | Ebd. 80 | Bruno Latour, Steve Woolgar (1986): Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Sage Publications, London. 107. 81 | Ebd. 105f.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 97 nämlich, „how a fact aquires its character“.82 Hier unterscheidet sich Latours Herangehensweise von der Paul Rabinows, denn während bei Rabinow die Suche nach Neuem, die Suche nach den Fragen, die es zu formulieren gilt, sein Projekt treibt und er aus dieser Richtung bei den „Fakten“ landet, ist die Richtung bei Latour genau umgekehrt. Sein Interesse beginnt bei der Entstehung von Fakten. Bei ihm geht es um die Emergenz von Wissensdingen als Ereignis. Der historischen Analyse misstraut Latour deshalb, weil sie dem Ereignis nicht adäquat Rechnung tragen kann, weil sie in seinem Sinne nicht historisch genug ist: „We do not attempt to produce a precise chronology of events in the field, nor to determine what ‘really happened’. Nor do we attempt an historical exposition of the development of the speciality of ‘releasing factors’ [jene Releasing-Hormone des Hypothalsmus, die im Zentrum der Forschung des Salk Institue standen]. Instead our concern is to demonstrate how a hard fact can be sociologically deconstructed. With this somewhat lame historical interest we hope to provide an enriched study of the past which avoids some of the basic contradictions […] characteristic of much history of science.”83 Die „Anthropologie der Wissenschaften“, die Woolgar und Latour in Laboratory Life beschreiben, unterscheidet sich von der Wissenschaftsgeschichte. Ihr geht es nicht darum zu erzählen, wie es wirklich gewesen ist, sondern darum, den vorläufigen Charakter des präsentierten empirischen Materials zu betonen. Es ginge ihnen darum, den „craft-character“, den Handwerks-Charakter wissenschaftlichen Arbeitens herauszustellen.84 Der Vorteil dieser Herangehensweise sei, dass der Anthropologe die ‚Gesellschaft‘, die er studiere, nicht kenne und nicht wisse, wo die Grenzen zwischen den Bereichen des Technischen, des Sozialen, des Wissenschaftlichen, des Natürlichen etc. zu ziehen seien. Diese zusätzliche Freiheit, mit der die Arbeit im Labor beschrieben werden könne, sei sehr viel mehr wert als eine künstliche Distanz zu den Beobachteten. Diese Art ethnographischer Offenheit sei sehr hilfreich, wenn die Zusammensetzung der zu untersuchenden ‚Gesellschaft‘ nicht feststünde, wenn das Entstehen der Fakten, der Dinge, der Assoziationen im Zentrum des Interesses stünde. Dieser Zugang sei kompatibel mit einer engen Zusammenarbeit mit den beobachteten Wissenschaftlern und Ingenieuren. Von der herkömmlichen Ethnographie hätten Latour und Woolgar das Arbeitsprinzip der „uncertainty“, nicht aber den Exotismus übernommen.85 Diese „uncertainty“, die Roßler in Anlehnung an den von Latour

82 | Bruno Latour, Steve Woolgar (1986): „Postscript to the Second Edition.“ In: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Sage Publications, London. 273-286, 278. 83 | Bruno Latour, Steve Woolgar (1986): Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Sage Publications, London. 107. 84 | Ebd. 277. 85 | Ebd. 279.

98 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ erwähnten Zusammenhang mit dem Unbestimmtheitsprinzip (Unschärfe-Relation) mit „Unbestimmtheit“86 übersetzt, ist der Ausgangspunkt der Latourschen Herangehensweise, die er mit Michel Callon und vielen anderen im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie zu formulieren suchte. Ein Unterfangen, das viele Stadien durchlief und bis heute anhält.87 Das Bekenntnis zur Unbestimmtheit geht einher mit der Weigerung, ein Ereignis in seiner Interpretation auf erklärende Faktoren, wie beispielsweise dem ‚sozialen Kontext‘ oder der ‚historischen Situation‘, zu reduzieren. Im zweiten Teil zu Latours 1984 erstmals erschienenen Buch Les microbes: guerre et paix suivi de irréductions, widmet sich Latour dem Problem der „Reduktion“ und der Frage der Zeit.88 In diesem, „Irréduction“ überschriebenen, einzig dezidiert philosophischem Text89 beschreibt er seine Ausgangsfrage. Er wolle wissen, heißt es in der Einführung, wie Wissen und Macht aussehen würden, wenn keine prinzipielle Unterscheidung zwischen Kraft („force“) und Vernunft („reason“) angenommen würde. Vorannahmen über existierende Kräfte, ihre Ausgestaltungen und ihre Verhältnisse will Latour beiseite lassen. Sein Ziel ist es, die Dinge von den Reduktionen zu befreien: „to set things irreduced and free.“90 Sein erstes „Prinzip der Irreduktion“ lautet: „Nothing is, by itself, either reducible or irreducible to anything else.“91 Weil nichts für sich reduzierbar oder nicht-reduzierbar in Bezug auf irgend etwas anderes sei, müssten Entitäten getestet, gezählt und gemessen werden. Latour geht es um „trials of force“, um das Testen der Stärke. Sein Ausgangspunkt wäre das Verb „to try“. Real ist für Latour das, was diesen „trials of force“ widersteht, wobei für ihn widerstehen (to resist) kein privilegierter Terminus ist, genauso gut könne man sagen „gerinnen“, „falten“, „verdecken“, „schärfen“, 86 | Bruno Latour (2007): Übersetzt von Gustav Roßler: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 42. 87 | 1992 schreiben Callon und Latour „we have taken ten years to document, quanitify, justify, and argue it [Actor-Network-Theory]“ und führen Callon, Law und Rip 1986, Callon, Courtial und Lavernge 1989 und Callon, Laredo und Rabeharisoa 1992 als Referenzen an. Michel Callon, Bruno Latour (1992): „Don’t Throw the Baby Out with the Bath School! A Reply to Collins and Yearly.“ In: Pickering, Andrew (Hg.): Science As Practice And Culture. University of Chicago Press. 343-396. 362. 88 | Bruno Latour (1984): Les microbes: guerre et paix suivi de irrèductions. Éditions A.M. Métailié, Paris. Bruno Latour (1993 [1988]): The Pasteurization of France. Translated by Alan Sheridan and John Law. First Harvard University Press paperback edition. 89 | Harman bezeichnet diesen Text als „gateway to the rest of his philosophy“, obwohl sich Latour später von einigen dort zu findenden Aphorismen distanziert hätte. Vgl. Graham Harman (2009): Prince of Networks: Bruno Latour and Metaphysics. Re.Press, Melbourne.12. 90 | Bruno Latour (1993 [1988]): The Pasteurization of France. Translated by Alan Sheridan and John Law. First Harvard University Press paperback edition. Cambridge, MA.154. 91 | Ebd. 158.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 99 „rutschen“.92 Das Reale sei nicht als ein Ding unter anderen zu verstehen, sondern als Messkurve des Widerstandes (gradient of resistance). Objektivität ist, wie Latour an anderer Stelle betont, dann gegeben, wenn die Dinge in einer experimentellen Anordnung die Gelegenheit bekommen sich zu widersetzen (to object).93 Nur durch die wiederholte Widerständigkeit des Milchsäureferments im Experiment kann es sich als biologisch, als lebendig artikulieren. Die Michsäuregärung muss sich in gewisser Weise erhalten, muss selber handeln, um ins Leben gerufen (enunciated) zu werden.94 Zeit ist bei Latour eine „entfernte Konsequenz der Akteure“ („distant consequence of actors“), die versuchen, in einem trial of force zu bestehen und einen fait accompli zu schaffen, der nicht reversibel ist.95 Um Zeit wird zwischen den Akteuren gerungen. Dauerhaftigkeit herzustellen ist, wie Latour in seinen Studien immer wieder detailliert beschrieben hat, sowohl für menschliche Akteure (wie Pasteur) als auch für nicht-menschliche (wie die Mikroben) ein kostspieliges, aufwändiges, viele Akteure involvierendes Geschäft. Sowohl Zeit als auch Raum sind bei Latour nicht als Rahmen eigengesetzlicher Entitäten (entelechies) zu sehen, sondern als etwas, was aus dem Zusammentreffen zweier Aktanten resultiert.96 Diese ‚irreduktionistische‘ Sicht öffnet den Blick für die Geschichtlichkeit der Dinge.

Die Dezentrierung des Menschen – Akteure und Aktanten Collins und Yearly stellen fest, dass die methodische Gleichbehandlung von Menschen und Dingen bereits in Laboratory Life durch die Erweiterung des Bloorschen Symmetriebegriffs angelegt ist, die Latours und die unter dem Label Akteur-Netzwerk-Theorie zusammengefassten Arbeiten gleichermaßen kennzeichnet. Der Wissenschaftsforscher David Bloor forderte unter dem Begriff der Symmetrie die methodische Gleichbehandlung dessen, was unter Wis-

92 | Ebd. 159. 93 | Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press. 125. 94 | In diesem Sinne wird „das Milchsäureferment nicht von Pasteur, sondern vom Ferment erfunden“, vgl.: Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandora. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 150. Vgl. auch ebd. 160: „Pasteur autorisiert die Hefe, in ihrem Namen zu sprechen. Wer Autor des gesamten Prozesses ist und wer die Autorität im Text hat, sind offene Fragen, da Figuren und Autoren Glaubwürdigkeiten austauschen.“ 95 | Ebd. 165. 96 | Ebd.

100 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ senschaftlern konsensuell als wahre Aussagen über die natürliche Welt und dessen, was allgemein als falsche Aussagen anerkannt wird. Statt sich nur mit jenen Erkenntnissen zu befassen, die sich aus gegenwärtiger Perspektive als wahr darstellen, sollten ebenso jene untersucht werden, die sich als falsch erwiesen hätten. Statt bei den wahren Aussagen anzusetzen, könnte so die Grenze zwischen wahren und falschen Aussagen zum Thema werden.97 Latour schreibt, dass Bloors Symmetrieprinzip wichtig gewesen sei, um der in der französischen Wissenschaftsforschung in den Neunzehnhundertachtzigerjahren vorherrschenden „whiggish history“ etwas entgegenzusetzen.98 Einer Geschichte also, die mit den Bewertungsmaßstäben der Gegenwart nur Interesse an erfolgreichen wissenschaftlichen ‚Entdeckungen‘ zeigt. Die getrieben ist von den Heldentaten großer Männer, die gegen alle Widerstände den Fortschritt sicher zu stellen vermögen.99 Im bereits erwähnten 1984 erschienenem Le microbe: guerre et paix (übersetzt als The Pasteurization of France) stößt Latour den französischen Nationalhelden Luis Pasteur vom Thron der „whiggish history“. Hier erweitert Latour Bloors Symmetrieprinzip und untersucht parallel Wissenschaft und Gesellschaft, Menschen und Dinge. Während Bloors symmetrische Behandlung der wahren und der falschen Wissenschaft ein Mensch-zentriertes Universum bräuchte, würde die French school den Menschen aus seiner Schlüsselstellung vertreiben, betonen Collins und Yearly.100 Die Frage, wie Menschen Dinge durch die Wissenschaft repräsentierten, erführe bei „den Franzosen“ eine „semiotische Ausweitung.“ Bei ihnen würde einem Blatt Papier „agency“ (Handlungsfähigkeit) zugesprochen. Hier hätte die Repräsentation kein Zentrum mehr, und es stelle sich vielmehr die Frage, „how anything can represent anything else.“101 Den Briten Collins, Yearly und auch Bloor geht diese „Auswei97 | H.M Collins, S. Yearley (1992): „Epistemological Chicken.“ In: Pickering, Andrew (Hg.): Science As Practice And Culture. University of Chicago Press, Chicago. 301-326, 302. 98 | „[…] I feel entirely in David‘s debt. His symmetry principle, his Strong Program, allowed me and many colleagues in France to escape from the utter domination of the French epistemologists who had carried out, until then, a thoroughly whiggish history of science that had made impossible for them to profit from the new anglo-american history of science, then in full bloom. As a tool to unlock the situation created by French epistemologists who had made a career of treating true knowledge and false belief differentially, David‘s position is still, in my view, unmatched.“ Bruno Latour (1998): „For Bloor and Beyond - a reply to David Bloor‘s ‚Anti-Latour.’“ Erschienen in: Studies in History & Philosophy of Science. 1999. http:// www.bruno-latour.fr/poparticles/poparticle/p075.html. 1. 99 | Vgl. hierzu: John A. Schuster (1995): „The Problem of ‚Whig History“ in the History of Science.“ In: The Scientific Revolution: An Introduction to the History & Philosophy of Science. Sydney: School of History and Philosophy of Science UNSW. http://hist-phil.arts.unsw.edu.au/lib/staff/schuster_john/schuster_john_ scirev_03.pdf. 100 | Ebd. 310f. 101 | Ebd.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 101 tung des Symmetrieprinzips“ zu weit.102 Latour hingegen wirft ihnen vor, die philosophische Chance der Wissenschaftsforschung nicht erkannt zu haben.103 Collins, Yearly und Bloor würden die „kantsche Trennung“ zwischen Dingenan-sich und Menschen-unter-sich aufrecht erhalten.104 Sie gingen epistemologische Fragen an, ohne sich gleichzeitig den Fragen der Ontologie zu widmen. Wissenschaftliche Unternehmungen seien fundamental mis-repräsentiert, wenn man versuche, die Welt von den Interpretationen der Wissenschaftler getrennt zu sehen. Jeder Wissenschaftler, der dieser Bezeichnung wert sei, hätte die Akteure, mit denen er zu tun gehabt hätte, re-definiert.105 In der Hoffnung der Pandora schreibt Latour: „Als wäre es der Inbegriff des gesunden Menschenverstands, werden wir von Wissenschaftsphilosophen

immer wieder daran erinnert, dass wir nie epistemologische Fragestellungen (unsere Repräsentationen von der Welt) und ontologische Fragestellungen (wie die Welt in Wirklichkeit ist) durcheinander bringen dürfen. Befolgten wir den Ratschlag, so könnten wir keine wissenschaftliche Aktivität mehr verstehen, denn gerade mit der Vermengung dieser beiden angeblich getrennten Bereiche sind Wissenschaftler die meiste Zeit beschäftigt.“106 Die Wahl sei einfach, schildert Latour: Entweder man pendle zwischen zwei „absurdities“ (‚Natur‘ und ‚Kultur‘) oder man bemühe sich um eine Neuverteilung der Rollen der Akteure, die er, um zu betonen, dass es sich dabei nicht nur um Menschen handelt, auch als Aktanten bezeichnet. Der Punkt sei ein methodologischer.107 Das empirische Programm Callons und Latours gehe nicht davon aus, dass Menschen und Artefakte genau das gleiche seien oder radikal voneinander verschieden. Diese Frage bleibe offen. Weder soziale Beziehungen noch Dinge könnten getrennt voneinander als solche „geschaut“ werden. Dokumentiert werden könnten aber die Bahnen, die Trajekte der netzwerkzeichnenden Stellvertreter, der Behauptungen und der Fertigkeiten.108 Es ginge darum, Natur und Gesellschaft als „twin results“ einer Aktivität zu verstehen, die sie unter den Begriffen „network-building“, „collective things“, „quasiobjects“ oder „trials of force“ zu beschreiben versucht hätten. Das Symmetrieprinzip, das er und Callon vorschlügen, sei nicht als Wechsel zwischen „natural realism“ und „social realism“ zu verstehen. Das soziale Leben sei ohne die Par-

102 103 104 105 106 107 108

| Vgl. H.M. Collins, S. Yearley (1992) und David Bloor (1999). | Bruno Latour (1998). 6. | Michel Callon, Bruno Latour (1992).366. | Bruno Latour (1998). 6f. | Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt am Main. 111f. | Michel Callon, Bruno Latour (1992). 356. | Ebd. 351.

102 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ tizipation von Nicht-Menschen und besonders von Maschinen und Artefakten nicht zu denken. Soziale Beziehungen seien durch Hunderte von Entitäten vermittelt.109 Es ginge darum, die ganze Bandbreite der Entitäten in Anschlag zu bringen, von den „reinen“ sozialen Beziehungen zu den „einfachen“ Dingen, ohne das eine oder das andere der beiden Extreme zu bevorzugen.110 Die Richtung der Wissenschaftsforschung, für die sich Latour als „Stifthalter“ („penholder“) versteht,111 habe dazu beigetragen, Begriffe zu entwickeln, die ein Denken und Forschen jenseits des Great Divide zwischen Wörtern und Dingen möglich mache. Der Wechsel im Vokabular von „actor“ („Akteur“) zu „actant“ („Aktant“), von „social relations“ („sozialen Beziehungen“) zu „actor-network“ („Akteur-Netzwerk“), von „interaction“ („Interaktion“) zu „translation“ („Übersetzung“), von „discovery“ (Entdeckung) zu „negotiation“ („Verhandlung“), von „proof“ („Beweis“) und „data“ („Daten“) zu „immutable mobiles“ („unveränderliche mobile Elemente“) und von „social roles“ („sozialen Rollen“) zu „inscriptions“ („Einschreibungen“) und „delegation“ („Vertretung“)112 trügen dazu bei, die Dinge nicht an sich, sondern (mit Whitehead) „inter-se“113 beschreiben zu können. Das, was der Pragmatist William James konzeptionell versucht hätte, würden die Science and Technology Studies empirisch tun, behauptet Latour. James hätte die Epistemologen alter Prägung auf die Schippe genommen, als er beschrieb, wie sie eine Schlucht zwischen die Welt und die Wörter gehauen hätten, um dann keinen anderen Weg mehr zu sehen, den Abgrund zu überbrücken, außer mit einem „salto mortale“. James Idee der Wahrheit ließe kein Zwischenglied, keine Verschiebung, keine Verwandlung (Transition) aus. Latour sagt von sich, dass er wohl derjenige innerhalb der Science and Technology Studies sei, der für dieses empirische Unterfangen, die Transitions beobachtbar, realistisch und dokumentierbar zu machen, die meisten Begriffe zur Verfügung gestellt habe. In einer weiteren Liste führt er u.a. folgende auf: „Inscription, translation, trials, mediation, black-boxing, historicity of things.“114 In der Debatte um die Erweiterung des Bloorschen Symmetriebegriffs ging es zentral um die Begriffe Agent, Akteur und Aktant. In einem späteren Text nimmt Latour dazu unter Zuhilfenahme eines seiner viel zitierten Beispiele vom „Mann mit der Waffe“ noch einmal Stellung und betont, dass es sich bei

109 | Ebd. 359. 110 | Ebd. 358. 111 | Bruno Latour (1998). 2. 112 | Michel Callon, Bruno Latour (1992). 356. 113 | Bruno Latour (2008): „Spinoza Lecture One: Nature At the Cross-Roads: The Bifurcation of Nature and its End.“ In: Bruno Latour: What is the style of matters of Concern? Van Gorcum, Amsterdam. 7-25, 22. 114 | Bruno Latour (1998): ‚For Bloor and Beyond – a reply to David Bloor’s ‚Anti-Latour’.“ Erschienen in: Studies in History & Philosophy of Science. http:77www.bruno-latour.fr/poparticles/poparticle/p075.html. 2.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 103 der Gleichbehandlung von Menschen und Dingen nicht um einen simplen Anthropomorphismus handelt: „Weil es im Falle von nicht-menschlichen Wesen doch ziemlich ungewöhnlich klingt, von Agenten zu sprechen, sagen wir hier besser Aktant. Der Ausdruck stammt aus der Semiotik, wo er jedes Wesen bezeichnet, das in einer Szene auftritt, solange es nicht bereits eine figurative oder nicht-figurative Rolle (wie ein„Bürger“ oder eine „Schusswaffe“) zugeschrieben bekommen hat. Warum ist diese Nuance so wichtig? Weil ich in meiner Geschichte hier den Mann mit der Waffe in der Hand beispielsweise mit „einer Klasse arbeitsloser Herumtreiber“ ersetzen könnte, womit ich den individuellen Agenten in einen kollektiven übersetze. Ich könnte auch von „unbewussten Motiven sprechen“, womit ich ihn in einen sub-individuellen Agenten übersetzt hätte. Die Waffe wiederum könnte ich in meiner Geschichte von einem singulären Objekt in ein Kollektiv übersetzen, in eine Institution oder ein kommerzielles Netzwerk, dann würde ich sie bezeichnen als das, was „die Waffenbesitzer-Lobby in die Hände unverdächtiger Kinder legt.“ Schließlich könnte ich eine Waffe auch als „die über eine Feder und einen Schlagbolzen vermittelte Einwirkung eines Abzugshahns auf eine Patrone“ definieren, was die Übersetzung in eine Abfolge mechanischer Ursachen und Wirkungen wäre. […] Ein einzelner Aktant kann viele ganz verschiedene „aktantiale“ Gestalten annehmen, und umgekehrt kann eben auch ein Akteur ganz verschiedene „akteuriale“ Rollen einnehmen. Das gilt auch für Ziele und Funktionen, wobei Ziele gewöhnlich eher mit nicht-menschlichen Entitäten assoziiert werden. Und doch können beide als Handlungsprogramme beschreiben werden, was ein sehr nützlicher Begriff ist, solange es nicht zu einer Zuschreibung menschlicher Ziele oder nicht-menschlicher Funktionen gekommen ist.“115 Latour hebt hervor, dass seine Beispiele der Symmetrie von Akteur und Aktant dazu „zwingen“, die Dichotomie von Subjekt und Objekt aufzugeben. Die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt sei dem Verständnis von Techniken und dem Verständnis von Gesellschaften im Wege.116 Die begriffliche Trennung von Akteuren und Aktanten, die er an dieser Stelle vornimmt, hält er jedoch nicht konsequent durch, läuft sie doch wieder auf eine Trennung zwischen Subjekten und Objekten hinaus. Vielmehr setzt er in vielen späteren Texten voraus, dass mit Akteuren auch Nicht-Menschen gemeint sind.

Übersetzungen und Netzwerke Paul Rabinows 1989 erschienener Text French Modern. Norms and Forms of the Social Environment ist zwar sehr viel umfangreicher als Bruno Latours Le microbe: guerre et paix, sie sind aber in gewisser Weise miteinander vergleichbar.117

115 | Bruno Latour (1998a): „Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie, Genealogie.“ In: Rammert, Werner (Hg.): Technik und Sozialtheorie. Campus Verlag, Frankfurt am Main. 29-83, 35f. 116 | Ebd. 117 | Bruno Latour (1984): Les microbes: guerre et paix suivi de irrèductions. Éditions A.M. Métailié, Paris.

104 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Beide bringen Menschen und Dinge auf ungewohnte Weise miteinander in Verbindung, und beide hätten in einer großen Klammer der ‚Mentalitätsgeschichte‘ Platz. Bei genauerer Lektüre werden jedoch die fundamentalen Unterschiede in den Herangehensweisen klar. Bei Paul Rabinow wird die Realisation einer Intention eines Technikers allgemeiner Ideen als Ausdruck einer bestimmten (und zu bestimmenden) Vernunftform verfolgt. Bei Latour stehen dagegen die Verschiebungen, die Übersetzungen, die Verhandlungen und das Kräftemessen im Vordergrund, wenn zwei Entitäten zum Akteur werden. Latour zeigt den „drift of intentions“, die Verschiebung der Intentionen auch am Beispiel der Zusammenarbeit der „Pasteurians“ mit den „Hygenistis“.118 Die Pasteurianer übersetzten die Intentionen der Hygieniker, indem sie ihre Projekte übernahmen und ihnen etwas hinzufügten, was beide Bewegungen stärkte, nämlich, das Wissen über „contaigous ferment“.119 Die „Pasteurians“ brauchten die „Hygenists“, um ihre Wissenschaft „exakt“ werden zu lassen.120 Sie agieren als Verteiler, sie erhöhen das öffentliche Interesse und garantieren damit die Förderung weiterer Experimente. Das Interesse der Pasteurianer wandelt sich, und es werden Experimente an Tieren durchgeführt. Bakterielle Ansteckung ‚entsteht‘ und auch das Wissen darum, dass Virulenz und Krankheitsverläufe durch die Lebensbedingungen der Tiere beeinflusst werden können.121 Dies war die alles entscheidende Argumentationshilfe für die Hygieniker in ihrem Kampf mit den Administratoren. Sehr anschaulich macht Latour deutlich, dass eine Intention oder ein „explicit interest“122 hier nicht als treibende Kraft das Geschehen bestimmt. Vielmehr werden die Übersetzungsprozesse deutlich, die in den Verflechtungen der Assoziationen stattfinden. Es wird klar, wie die Grenzen verschwimmen zwischen jenen, die die Rekrutierung (enrolement) zu interessierender Parteien vornehmen und jenen, die sich rekrutieren lassen. In Science in Action widmet Latour ein ganzes Kapitel den unterschiedlichen Übersetzungsmechanismen. Latours 1987 erschienenes Buch Science in Action ist Michel Callon als Resultat einer sieben Jahre andauernden Diskussion gewidmet. Hier sind viele der Begriffe, die Latours Werk (und ANT) prägen, en détail und anhand empirischen Materials ausgearbeitet.123 Wieder steht im Zentrum seines Interesses

118 | Bruno Latour (1993 [1988]): The Pasteurization of France. Translated by Alan Sheridan and John Law. First Harvard University Press paperback edition. Cambridge, MA. 34f. 119 | Ebd. 63. 120 | Ebd. 59. 121 | Ebd. 62f. 122 | Bruno Latour (1987). 118. 123 | Bruno Latour (1987): Science in Action. How to Follow Scientists and Engineers Through Society. Harvard University Press, Cambridge, MA.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 105 die Frage der Entstehung eines Wissensdings als Ereignis. Was braucht es, damit ein „durable whole“ entsteht?124 Welche Kollektive und welche Kontroversen „verursachen“ Natur?125 Methodisch geht es darum, die Wege nachzuzeichnen, die von einer Aussage zu einem Fakt führen, von einer Idee zu einer Maschine. Im Zentrum stehen dabei die kollektiven Prozesse, die Inskriptionen, die Übersetzungen, Bezugnahmen, Verweise, Transformationen, die in der Entstehung einer black box münden. Als Begriff aus der Kybernetik bezeichnet die black box ein Gerät, dessen Zusammensetzung, dessen Mechanismen man nicht zu kennen braucht. Wissen muss man lediglich die Art des Input und des Output. Wichtig bei einer black box ist, dass sie funktioniert.126 Im Sinne Latours sind nicht nur Maschinen, sondern auch Fakten und Aussagen, deren Prämissen nicht angezweifelt werden, black boxes. Eine kausale Erklärung kann ebenfalls als black box für alle weiteren auf sie aufbauenden Argumentationen fungieren.127 Wie bei all seinen Begriffen beschreibt Latour auch hier die Gefahr, die black box als zu statisch und geschlossen zu begreifen und damit der Beweglichkeit der Wissensdinge nicht gerecht zu werden. Bereits 1981 bieten Callon und Latour einen alternativen Begriff an (chreods), den Latour jedoch nicht weiter verwendet.128 Der Begriff der Übersetzung bleibt bei Callon, Latour und für die Akteur-Netzwerk-Theorie insgesamt zentral. In Science in Action beschreibt Latour sein Modell der Übersetzung, das er im Kontrast zum Diffusionsmodell („model of diffusion“) beschreibt. Während im Diffussionsmodell fertige Einheiten lediglich ihre Anlaufstellen, ihre Adressaten oder die Art ihrer Artikulation ändern, ist im Model der Übersetzung alles in Bewegung. Am Kontrast der beiden „Modelle“ macht er unterschiedliche methodische Zugänge deutlich. Im „Diffusionsmodell“ gebe es wenige Zentren und Labore, die neue Dinge und neue Überzeugungen „ausspucken“, die dann frei durch Köpfe und Hände flottierten und die Welt mit ihren Vervielfältigungen bevölkerten.129 Nach diesem Modell wird das Verhalten der Menschen durch die Ausbreitung von Fak-

124 | Ebd. 123. 125 | Ebd. 99. 126 | Ebd. 3. 127 | Ebd. 204. 128 | „If the expression ‚black box’ is too rigid to describe the forces which shut off the stacks of boxes, and keep them hermetically sealed and obscure, another metaphor is possible, one Hobbes might have used had he read Waddington. In the first moments of fertilization all cells are alike. But soon an epigenic landscape takes form where causes are cut out which tend to be irreversible; these are called ‚chreods’.“ Michel Callon, Bruno Latour (1981): „Unscrewing the big Leviathan: how actors macro-structure reality and how sociologists help them to do so.“ In: K. Knorr-Cetina, A.V. Cicourel.: Advances in social theory and methodology. Toward an integration of micro- and macro-sociologies. Routledge, London. 277-304. 285. 129 | Latour (1987). 133.

106 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ ten und Maschinen verursacht. Dieses Modell bewirke einen technischen Determinismus und parallel dazu einen wissenschaftlichen Determinismus. Bei diesem Modell „springe“ beispielsweise der Dieselmotor aus eigener Kraft „an den Hals der Verbraucher“, das Polonium der Curies befruchte „die Hirne der Akademischen Welt“, kurz, die Fakten und Dinge hätten eine vis inertia, eine „Kraft der Trägheit“, sie seien in der Lage, sich ohne menschliches Zutun fortzubewegen und, „noch fantastischer“, schienen sie sogar ganz ohne Menschen bereits existiert zu haben.130 Maschinen, Fakten und Dinge, die sich selbst reproduzieren und Ideen, die Ideen gebären, entstünden unter dem „Diffusionsmodell“, welches in der Ideengeschichte und in der Wissenschafts- und Technikgeschichte vorherrsche. Das Diffusionsmodell zeichne eine gestrichelte Linie nach, einen Pfad, der einer „Idee“ zu folgen hätte, woraufhin Gruppen, die der Idee widersprächen, eingeführt würden, sollte sich die Idee nicht weit oder schnell genug ausbreiten. Mit dieser Erfindung könne beides, das Prinzip der inertia, der „Trägheit“, und die fantastische Kraft, die die Dinge ins Leben katapultiere, erhalten und die gigantische Größe der großen Männer und Frauen beibehalten werden, die dem Ganzen das Momentum verliehen. Bei den „Diffusionisten“ würden passive soziale Gruppen wegen ihrer eigenen Unbeweglichkeit die Reise der Ideen verlangsamen oder den Einbruch von Techniken absorbieren. Anders gesagt, würde das Diffusionsmodell die Gesellschaft entwerfen, um die unregelmäßige Ausbreitung der Ideen und Maschinen zu erklären. In diesem Modell sei Gesellschaft lediglich ein Medium des Widerstandes, durch das Ideen und Maschinen reisen. Latour nennt wieder den Dieselmotor, um sein Argument zu untermauern. Der Dieselmotor, der im Diffusionsmodell durch Diesel das richtige Momentum erhielt, um seinen Siegeszug durch die entwickelten Länder anzutreten, würde in „unterentwickelten Ländern“ aufgrund des Widerstandes, der Passivität oder der Ignoranz der örtlichen Kultur in einem Dock vor sich hinrosten. Im Diffusionsmodell, schreibt Latour, würden „Gesellschaft“ oder „soziale Faktoren“ erst am Ende des Trajekts erscheinen, wenn etwas daneben ginge.131 Anhand des Dieselmotors illustriert Latour die Unterschiede zwischen dem Diffusionsmodell und dem Modell der Übersetzung. Beim Folgen der Übersetzungen von der Zeichnung zum Prototyp und weiteren Prototypen, denen nichts folgte, bis zur Entwicklung eines anderen Prototyps, dem die ersten „Typen“ folgten, bis zur Serienproduktion unterschiedlicher „Sub-Typen“ werde klar, dass die Zahl der Kopien nicht von allein steigen würde, sondern „bezahlt“ werden müsste; „bezahlt werden“ nicht nur im Sinne höherer Investitionen in das Projekt, sondern im Sinne einer Erhöhung der Übersetzungen, der zu rekrutierenden Parteinen, der zu interes130 | Ebd. 131 | Latour (1987): 136.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 107 sierenden Akteure. Zweitens ging die größere Anzahl der Kopien und der Menschen, die daran interessiert waren, mit einer grundlegenden Veränderung des Designs und des Funktionsprinzips des Motors einher. Der Motor veränderte sich so sehr, dass nicht mehr vom gleichen Motor die Rede sein kann. Durch die Übersetzungen und Transformationen des Motors entstand ein Disput darüber, wessen Motor es war. Das Übersetzungsmodell unterscheidet sich jedoch nicht nur vom Diffusionsmodell bis zur Entstehung einer black box, in diesem Fall bis zur Entstehung eines verkäuflichen Dieselmotors. Vielmehr liegt für Latour das Schicksal der Fakten und Maschinen in den Händen späterer Nutzer.132 Die black box bewegt sich im Raum und wird mit der Zeit „beständig“ (durable) nur durch die Aktivitäten vieler Menschen. Wenn keiner sich ihr zuwendet, fällt sie auseinander, egal wie viele Menschen sich ihr vorher gewidmet haben mögen. Die Art und Weise jedoch, wie sich die Menschen der black box widmen, die „Typen“ und die Qualifikationen werden sich ändern: Erfinder wie Diesel, Ingenieure, Mechaniker, Verkäufer und vielleicht zum Schluss „ignorante Konsumenten“. Es müsse also immer Menschen geben, die die Objekte bewegen, es würden jedoch nicht immer die gleichen sein, betont Latour.133 Latours Übersetzungsmodell erlaubt es, den Transformationen zu folgen, die Objekte und Ideen in Existenz halten. Übersetzungen sind in diesem Sinne keine Kausalitätstransporte, die erklären könnten, warum eine Technik, ein Faktum oder eine Idee in einer sozialen Gruppe ein gewisses Verhalten auslöst, sondern vielmehr die Mechanismen, die zwei Aktanten dazu bringen zu ko-existieren.134 Folgt man den Übersetzungen in empirischen Untersuchungen, entsteht dabei ein Netzwerk. Im Gegensatz zu den Begriffen der „Interaktion“ oder der „sozialen Rollen“ geht es bei Latours Netzwerken und Übersetzungen um die Veränderung der Entitäten im Prozess des Handelns. „Interaktion“ impliziert zwei stabile Einheiten, die durch Handeln verbunden sind, aber dabei nicht ihre Einheit, ihre Form oder Identität verlieren. Bei den „sozialen Rollen“ sind ebenso Essenzen im Spiel, die von den Rollen überdeckt werden, jedoch vom Handeln unberührt bleiben. Der Übersetzungsbegriff beziehe sich auf die Verschiebungen durch andere Akteure, betont Latour, ohne deren Vermittlung keine Handlung stattfinden würde.135 Eine Einteilung in „äußere Bedingungen“ in einen makrosoziologischen Kontext und lokale mikrosoziologisch zu untersuchende Handlungen wird mit den Begriffen der Übersetzungen

132 | Ebd. 59. 133 | Latour (1987): 137. 134 | Vgl. hierzu: Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press. 108. 135 | Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandora. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 381.

108 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ und der Netzwerke, wie Collins und Latour bereits 1981 ausführen, hinfällig.136 In Science in Action beschreibt Latour den Nutzen des Übersetzungsbegriffs wie folgt: „It should now be clear why I used the word translation. In addition to its linguistic meaning (relating versions in one language to versions in another one) it has also a geometric meaning (moving from one place to another): Translating interests means at once offering new interpretations of these interests and channeling people in different directions. ‚Take your revenge’ is made to mean ‚write a letter’; ‚build a new car’ is made to really mean ‚study one pore of an electrode’. The results of such renderings are a slow movement from one place to another. The main advantage of such a slow mobilization is that particular issues (like that of the science budget or of the one-pore model) are now solidly tied to much larger ones (the survival of the country, the future of cars) so well tied indeed that threatening the former is tantamount to threatening the latter. Subtly woven and carefully thrown, this very fine net can be very useful at keeping groups in its meshes.”137 Die „meshes“, die Maschen der Latourschen Netzwerke, sind weder bildlich noch ontologisch zu verstehen. Auch hier geht es ihm wieder um eine methodische Frage. Zum Netzwerkbegriff, der, wie Latour beschreibt, seinen und die Zugänge seiner ANT-Mitstreiter seit 25 Jahren begleitet und zu dem er sich abwechselnd affirmativ, ablehnend, kritisch und zum Schluss wieder positiv äußert, sagt Latour in Reassembling the Social bestechend einfach: Ein Netzwerk sei ein Konzept, nicht ein Ding dort draußen. Es sei ein Werkzeug, um dabei zu helfen, etwas zu beschreiben und nicht das, was es gelte zu beschreiben. Es hätte das gleiche Verhältnis zum zu behandelnden Thema wie ein Flächenraster beim perspektivischen Zeichnen. Erst müsse man die Linien ziehen, die einem erlaubten, ein dreidimensionales Objekt auf ein flaches Stück Leinen zu projizieren. Sie seien jedoch nicht das, was es zu malen gelte.138 Das Netzwerk versteht Latour als „benchmark of literary quality“, als Maßstab einer gelungenen Darstellung.139

136 | Michel Callon, Bruno Latour (1981): „Unscrewing the big Leviathan: how actors macro-structure reality and how sociologists help them to do so.“ In: K. Knorr-Cetina, A.V. Cicourel: Advances in social theory and methodology. Toward an integration of micro- and macro-sociologies. Routledge, London. 277-304. 137 | Latour (1987): 117. 138 | Latour (2005): 131. 139 | Ebd.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 109

Technische Projekte Dem Aspekt der Darstellung widmet sich Latour in seinem 1992 erstmals erschienenen Buch über die Entwicklung eines Nahverkehrszuges mit dem Namen Aramis, der durch Abrufbarkeit und kleine Waggons den öffentlichen Nahverkehr individualisiert hätte.140 Das Projekt gedieh 20 Jahre lang bis zur Herstellung eines Prototyps und wurde dann eingestellt. Die Régie Autonome des Transport Parisiens (RATP), die an der Entwicklung beteiligt war, beauftragte Latour damit herauszufinden, warum Aramis scheiterte. Für sein Buch wählt er eine Form, die nicht mit seinen vorherigen Experimenten wissenschaftlichen/ethnographischen Schreibens vergleichbar ist. Für Aramis erfindet er ein „hybrid genre“ ein Genre, von dem er sich erhofft, die „Fusion“ zweier „getrennter Universen“, das der Technik und das der Kultur, zu bewerkstelligen.141 Dieses „hybrid genre“ nennt Latour scientifiction, und sein Ziel ist es, Aramis als technologischem Ding besser Rechnung tragen zu können. Ein technologisches Projekt, betont Latour, ist Fiktion, denn zu Beginn einer Entwicklung, in der Projektphase, existiere es noch nicht. Diese Tautologie befreie die Analyse der Technologien von der Last, die die Analyse der Wissenschaften beschwere. Keiner würde behaupten, es hätte den Dieselmotor vor Diesel gegeben, während die Venus immer bereits da gewesen sein soll, bereits vor Galileo.142 Der Beobachter von Technologien müsse sehr vorsichtig vorgehen und nicht zu hastig zwischen Zeichen und Dingen, zwischen Projekten und Objekten, zwischen Fiktion und Realität unterscheiden.143 Nur eine Fiktion, die Realität gewinnt oder verliert, könne den Ingenieuren gerecht werden. Eine Fiktion mit einer variablen Geometrie müsse erfunden werden, um die Variationen eines technologischen Projekts zu verfolgen, das das Potential hätte, ein Objekt zu werden. Diese variable Geometrie gestaltet Latour mit Hilfe mehrerer „diskursiver Modi“, die durch unterschiedliche Schriftarten voneinander zu unterscheiden sind. Interview-fragmente und Auszüge aus Dokumenten werden durch einen fiktiven Dialog in eine Erzählung verwoben. Dieser Dialog findet zwischen einem jungen Studenten, der Ingenieur werden will, und seinem Professor, einem Soziologen der École des Mines, der sein Anleiter ist, statt. Darüber hinaus gibt es noch zwei weitere „diskursive Modi“. Einen unsichtbaren Erzähler, der wortgetreue Berichte von Interviews beisteuert, und die Stimme 140 | Bruno Latour (1992): Aramis ou l’amour des techniques. La Découverte. Paris. Englisch (1996): Aramis or the Love of Technology. Harvard University Press, Cambridge, MA. 141 | Bruno Latour (1996): Aramis or the Love of Technology. Preface, VIII. Harvard University Press, Cambridge, MA. 142 | Ebd. 23. 143 | Ebd. 24.

110 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ von Aramis selbst. „Mysteriöse Stimmen“, wie Latour betont, die von Zeit zu Zeit erklingen (an neun Stellen im Buch),144 und die sich der Privilegien der „prosopopoeia“145 bedienten und Aramis erlaubten zu sprechen. Alles in seinem Buch sei wahr, betont Latour, aber nichts darin würde plausibel erscheinen, denn die Wissenschaft und Technologie, auf die es sich berufe, würde kontrovers und offen bleiben.146 Einen von Latour festgelegten technikhistorischen Rahmen gibt es nicht. Die zeitliche Rahmung wird von den Interviewpartnern festgelegt, die in ihren Schilderungen nicht auf Ereignisse vor 1965 zurückgreifen. Aramis erscheint als Kette von Übersetzungen (chain of translation), und es wird deutlich, dass es als technisches Projekt nicht durch Können und Beherrschung eines Gegenstandes, nicht durch Transparenz, Autonomie und Effizienz gekennzeichnet war. Aramis, betont Latour, hätte nicht die „mythischen Qualitäten“, die technischen Gegenständen zugeschrieben würden, die in Freiheit im „klaren Licht der res extensa schweben“ dürften.147 Im Gegenteil seien technische Projekte auch nach der Realisierung immer dem Risiko ausgesetzt wieder zu verschwinden.148 Die Tatsache, dass Aramis noch vor seiner Inbetriebnahme gescheitert ist, kann nach der Lektüre des Buches nicht mehr im Sinne eines voraussehbaren Mangels des Dings selbst oder eines politischen Unwillens oder einer administrativen Unfähigkeit interpretiert werden. Vielmehr wird deutlich, wie sehr die involvierten Parteien sich in der Projektphase immer wieder auf die der eigenen Projekterfahrung eigentlich widersprechenden Autonomie des Gegenstandes verließen und aufgrund der Überzeugung von der Eigenwirkung von Aramis Geld aus dem Fenster geworfen wurde, statt intensivere Verhandlungen (negotiations) zwischen den interessierten Parteien in Gang zu setzen. 2008 beschreibt Latour Aramis im Kontext seines Werks. Die detaillierte Untersuchung eines technischen Dings erscheint hier als Teil des Projekts eines systematischen Vergleichs unterschiedlicher Modi der Wahrheitsproduktion,

144 | Bruno Latour (1996): Aramis or the Love of Technology. Harvard University Press, Cambridge, MA. 55, 59, 63, 81, 123, 157, 201, 249 und 295.. 145 | „A prosopopoeia (Greek: προσωποποιία) is a rhetorical device in which a speaker or writer communicates to the audience by speaking as another person or object. The term literally derives from the Greek roots meaning „a face, a person, to make“. Prosopopoeiae are used mostly to give another perspective on the action being described. For example, in Cicero‘s Pro Caelio, Cicero speaks as Appius Claudius Caecus, a stern old man. This serves to give the „ancient“ perspective on the actions of the plaintiff.“ […]http:// en.wikipedia.org/wiki/Prosopopoeia. Deutsch: Prosopopöie, auch Personendichtung. 146 | Latour (1996): VIII. 147 | Bruno Latour (2008): Coming Out as a Philosopher. Acceptance speech for the third Siegfried Unseld Prize. www.bruno-latour.fr/articles/article/114-UNSELD-PREIS.pdf 5. 148 | Ebd.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 111 unterschiedlicher regimes of enunciation. Nun, schreibt er, hätte er drei unterschiedliche Schlüssel für drei unterschiedliche Existenzmodi, einen für die Religion, einen für die Wissenschaft und einen für die Technik.149 Latours Scientifiction und der in ihr enthaltene fiktive Dialog machen Aramis zu einer leichten und überraschenden Lektüre, einer Art einführendem Tutorium in das latoursche Denken. Aramis, schreibt Latour 2008, sei „my favourite work to this day.“150 Er fügt hinzu, dass er nicht als Essay schreibender Philosoph missverstanden werden will, und es scheint durch, wie ernst er sein Projekt des „empirischen Philosophierens“ nimmt. Als umfangreichste Feldstudie beschreibt er La Fabrique Du Droit, das Resultat einer fünf Jahre andauernden ethnographischen Untersuchung des Conseil d’Etat.151 Einer Institution, die die Aufgaben eines obersten Verwaltungsgerichts wahrnimmt und außerdem die Regierung berät und Gesetzentwürfe prüft.

Nie modern gewesen Parallel zu seinem großen Projekt des Vergleichs der unterschiedlichen Existenzmodi beschäftigt sich Latour mit der Moderne. Daraus resultiert sein bis heute meist verkauftes und in 23 Sprachen übersetztes Buch Wir sind nie modern gewesen.152 Ein Essay, das im Vergleich zu seinen anderen bis dato veröffentlichten Büchern mit wenig ethnographischem Material auskommt. Wir sind nie modern gewesen ist eine Polemik, die oft und aus guten Gründen kritisiert worden ist. Auch Paul Rabinows Kritik an Wir sind nie modern gewesen ist nicht unberechtigt: „Seiner Ontologie zufolge haben alle Dinge (ob Mensch oder nicht) schon immer dasselbe getan. Das Sein ist und war seit jeher ein strategisches Netzwerk aus Wegen und Mitteln. In Wir sind nie modern gewesen hält Latour fest: ‚Alle Naturen/Kulturen gleichen sich darin, dass sie gleichzeitig menschliche, göttliche und nicht-menschliche Wesen konstruieren [...] Wenn es etwas gibt, das wir alle gleichermaßen tun, so ist es die gleichzeitige Konstruktion unserer Menschenkollektive und der sie umgebenden nicht-menschlichen Wesen. […] Die Unterschiede sind ziemlich groß, aber es sind nur solche der Größenordnung […]

149 | Ebd. 150 | Ebd. 151 | Vgl. hierzu: www.bruno-latour.fr/livres/chrono.html. 152 | Bruno Latour (1991): Nous n’avons jamai été modernes – essai d’anthropologieque symétrique. La Découverte, Paris. Übersetzt von Gustav Roßler: (2002 [1998]): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main.

112 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Abgesehen von ihrer Größenordnung ähneln sich alle Kollektive.‘ Heute haben wir [Latour zufolge] diese Metaphysik endlich im Griff und können fortan fröhlich mobilisieren.“153 Paul Rabinow tut Latour jedoch Unrecht, wenn er anhand dieser Passagen aus Wir sind nie modern gewesen Latours „Ontologie“ und „Metaphysik“, kurz sein gesamtes philosophisches Projekt, ablehnt. Worum aber geht es in Wir sind nie modern gewesen? Genau wie Rabinow kehrte Latour ‚aus den Tropen heim‘, und genau wie Rabinow ist er bemüht, die Anthropologie für die zentralen Aspekte des Lebens im ‚Westen‘ zum Einsatz zu bringen. Das Nachdenken über die Anthropologie der Modernen, schreibt Latour, sei für ihn ein altes Projekt. Wir sind nie modern gewesen sei jedoch auch eine Reaktion auf die Science Wars154, auf die für Latour in ihrer Vehemenz unerwartete Attacke, die ihn als Feind und Kritiker der Wissenschaften darstelle. Die absolute Schere zwischen dem, was er dachte, er gemacht habe (nämlich eine realistische Beschreibung der Fähigkeit wissenschaftlicher Netzwerke, Objektivität zu produzieren) und dem, was ihm vorgeworfen würde (eine Zurückweisung des Anspruchs der Wissenschaft, eine natürliche objektive Welt der Fakten zu repräsentieren), habe ihn nach dem Grund suchen lassen, warum die „Modernisierungs-Front“, der er in Afrika und in Kalifornien begegnet sei, so vehement ihre universellen Werte verteidigen würde und warum es ‚den Modernen‘ so schwer zu fallen schien, sich positiv zu definieren.155 In Wir sind nie modern gewesen, in diesem Entwurf einer symmetrischen Anthropologie, sucht Latour Antworten auf Fragen, die sein Projekt seit den frühen Veröffentlichungen begleiten. Der Frage beispielsweise, warum sich die Wissenschaftler vom Salk Institut in Kalifornien nicht mit dem gleichen begrifflichen Instrumentarium untersuchen ließen wie die Bauern an der Elfenbeinküste. Alles, was er in zwei Jahren Feldarbeit in Abidjan gelernt hätte, schien ihm nach zwei Tagen im Salk Insitut unbrauchbar, schreibt Latour 2007.156 Man käme nicht weit mit Ritualen, Mythen und Symbolen in einem Labor. Latour mutmaßt, dass unter „tropischer Hitze“ die „Missverständlichkeit“, die „Schwäche“ und die „Albernheit“ anthropologischer Erklärungen übersehen würde, die in den klimatisierten Laboren in Kalifornien deutlich zu Tage getreten sei-

153 | Paul Rabinow (2004a): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Übersetzt und Herausgegeben von C. Caduff, T. Rees. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 102. 154 | In den science wars der Neunzehnhundertneunzigerjahre stritten Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler um die Deutungshoheit über die „Welt da draußen“. Anlass war die Verwendung von Forschungsmitteln und ein Juxartikel in der Zeitschrift Social Text, der sich gegen die „linken Postmodernen französischer Provenienz“ richtete. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/science_war. 155 | Latour (2008), 4f. 156 | Latour (2007a): „The Recall of Modernity.“ Cultural Studies Review. Vol. 13. No. 1. March 2007. 11-30. 14.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 113 en.157 Das würde nicht bedeuten, dass es schwierig gewesen wäre, die Wissenschaften zu studieren, im Gegenteil, wie er und seine Kollegen gezeigt hätten, sei dies nicht schwer gewesen. Das Problem liege vielmehr in der Schwäche der anthropologischen Kategorien. Angewendet auf die zentralen Bereiche der Wahrheitsproduktion des „Westens“ würden diese ins Auge springen. Für Latour rühren diese Schwächen von einer „unmotivierten Trennung“ zwischen einer Einheit (der der Natur) und einer Mannigfaltigkeit (der der Kulturen) her.158 Diese Trennung sei zu einfach, zu billig, zu automatisch. Sie würde die eine Einheit ohne große „Investition“ schaffen, ohne die Wissenschaften (im Plural) an dieser Einheit zu beteiligen. Andererseits würde diese „moderne Verfassung“, um die es in Wir sind nie modern gewesen geht, Vielfalt und Pluralität mit einer Kavaliersgeste an „die Kulturen“ verteilen, ohne die „Kosten zu bezahlen“159 und die Tatsache nicht berücksichtigen, dass es unmöglich sei, sich mit einer Repräsentation der Welt zufrieden zu geben, die nur eine unter vielen sei.160 2007 verteidigt Latour seine Angreifer aus den Science Wars ein stückweit. Es sei richtig, schreibt er, sich gegen einen „billigen Relativismus“ zu wehren, der Vielfalt mit so wenig Arbeit und Mühe herstellen würde. Man müsse sich gegen eine Vielfalt ohne Realität genauso zur Wehr setzen wie gegen eine „aufoktroyierte preisreduzierte Vereinheitlichung“.161 Die wissenschaftliche und politische Arbeit der Umverteilung von Einheiten und Vielheiten begreift Latour bis heute als zentrale, aktuelle Aufgabe. Seine Symmetrische Anthropologie und die Aufstellung miteinander vergleichbarer Existenzmodi oder regimes of enunciation sind Teil einer „positiven Bestimmung“ der Moderne, einer modernen Infraphysik und der Suche nach nichtmodernen, den aktuellen Problemen gerecht werdenden Formen der Forschung und der Politik, die bis heute sein Werk bestimmt. Modern sind wir deshalb nie gewesen, schreibt Latour, weil es die Natur als Einheit, die die herkömmliche Anthropologie braucht, um darauf ihren Multikulturalismus zu begründen, nie gegeben hat. Die symmetrische Anthropologie, die Latour in Wir sind nie modern gewesen entwirft, muss sich gleichermaßen der Vielfalt der Kulturen und der Naturen widmen. Sie widmet sich den Übersetzungen und Netzwerken und vermag es so, der modernen Verfassung zu entkommen,162

157 | Ebd. 158 | Ebd. 159 | Auch hier ist es nützlich sich daran zu erinnern, dass Latour unter „Kosten“ nicht nur Geld versteht, sondern die Anzahl der Vermittlungen, der interessierten und miteinander verhandelnden Parteien. 160 | Ebd. 15. 161 | Ebd. 18. 162 | Vgl. Latour (2001). 299: „Verfassung (constitution), der aus dem Bereich des Rechts und der Politikwissenschaft entlehnte Begriff erhält hier eine umfassendere metaphysische Bedeutung, denn er

114 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ einer Verfassung, die die Repräsentation der Dinge von der der Menschen trennt, einer Verfassung, die an der Oberfläche die Praktiken der Reinigung zwischen Natur und Kultur, Menschen und Dingen vornimmt, während sich unter der Oberfläche die Hybriden ausbreiten. Die Symmetrische Anthropologie habe sich sowohl den Reinigungspraktiken als auch der Übersetzungsarbeit zu widmen.163

Riskante Objekte Wir sind nie modern gewesen beschreibt Latour als Teil seines Projekts, Gesellschaft und Natur neu zu denken. Das Projekt, Gesellschaft neu zu denken, sei er mit Michel Callon und vielen anderen in der Entwicklung der Actor-NetworkTheory angegangen, wie er bemerkt, einige Zeit, bevor ihm klar wurde, dass Gabriel Tarde zu Beginn der Soziologie ähnliches vorhatte. Die Aufgabe, die Natur neu zu denken, sei schwerer, betont Latour, denn sie erfordere nicht nur eine neue Philosophie, sondern, und dies habe ihn zunächst überrascht, auch eine neue Politik.164 1999 erscheinen zwei Bücher, Politiques de la nature (Das Parlament der Dinge),165 und die Aufsatzsammlung Pandora’s Hope (Die Hoffnung der Pandora).166 Im Parlament der Dinge versucht sich Latour an einer Neudefinition des Politischen unter Verzicht auf ‚die Natur‘. Latours Neuentwurf politischer Philosophie richtet sich dezidiert an ökologische Bewegungen.167 Er fordert „die Ökologiebewegung“ auf, sich nicht nur auf dem „politischen Schachbrett“ neu zu positionieren, sondern seine Linien neu zu ziehen,

bezeichnet die Verteilung der Wesen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Wesen, zwischen Subjekten und Objekten sowie die jeweilige Form von Macht, Redemöglichkeit, Mandat, Willen, die ihnen zugesprochen wird. Im Unterschied zum Begriff der ‚Kultur‘ bezieht sich der Begriff der ‚Verfassung‘ ebenso auf Dinge wie auf Personen; im Unterschied zum dem der ‚Struktur‘ signalisiert er den gewollten, ausdrücklichen, ausgearbeiteten Charakter dieser Einteilung. Um die Gegensätze zu dramatisieren, stellen wir der ‚alten‘ modernen Verfassung die ‚neue‘ Verfassung der politischen Ökologie gegenüber und dem Ancien Régime die Republik (siehe auch experimentelle Metaphysik).“ 163 | Latour (2002). 20. 164 | Latour (2008). 6. 165 | Latour (1999): Politiques de la nature. Éditions La Découverte & Syros, Paris. Übersetzt von Gustav Roßler (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie der Moderne. Edition Zweite Moderne Herausgegeben von Ulrich Beck. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 166 | Latour (1999a): “Pandora’s Hope. Essays on the Reality of Science Studies.” Harvard University Press, Cambridge, MA. Übersetzt von Gustav Roßler (2000): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 167 | Latour (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie der Moderne. Edition Zweite Moderne Herausgegeben von Ulrich Beck. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 47.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 115 die Spielregeln neu zu definieren und die Figuren neu zu gestalten.168 Die ‚klassische Definition‘ der Natur, auf die sich die ökologischen Bewegungen noch beriefen, verdamme die Politik zur Ohnmacht.169 Natur werde nur erkannt mittels der Wissenschaften. Sie würde „geformt durch ein Arsenal von Instrumenten, definiert durch die Dolmetscherleistung von Spezialisten, unterschiedlichen Disziplinen und Protokollen, registriert in Datenbanken und erst mittels Anerkennung durch wissenschaftliche Gesellschaften zum Argument.“170 „Die Ökologie“ habe keinen direkten Zugang zur Natur, darauf deute bereits ihr Name. Wie alle wissenschaftlichen Disziplinen sei sie eine „-logie“. Auch hinter der Bezeichnung Wissenschaften verberge sich bereits eine „recht komplexe Mischung von Beweisen und Beweisarbeitern, eine Gelehrtenrepublik, ein wissenschaftliches Gemeinwesen, das als Dritter in allen Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft fungiert.“171 Die ökologischen Bewegungen hätten diesen Dritten außer Acht gelassen und die Wissenschaften als einen „Spiegel der Welt“ behandelt. In der ökologischen Literatur würden nach wie vor Natur und Wissenschaft als Synonyme gelten.172 Auch der „europäischen Linken“ schlägt Latour vor, sich nicht länger auf „die Wissenschaft“ als Basis politischer Entscheidungsfindung zu verlassen.173 Eine linke Partei, schreibt er, habe auf der Seite der Komplikationen gegen die schönen Vereinfachungen (beautiful simplifications) und die schnellen Abkürzungen der Rechten zu stehen.174 In der unmittelbaren Vergangenheit, in der „Zeit der Modernisierung“ (times of modernization) wäre Vereinfachung die Forderung des Tages gewesen. Objekte hätten produziert werden können, die keine unerwarteten Konsequenzen hatten und die ältere Objekte für immer und zum Besseren zu ersetzen in der Lage gewesen wären. Die Idee wäre gewesen, die Kontroversen und Dispute durch ein Mehr an Wissenschaft und Technologie zu verringern. Es hätte einen besten Weg gegeben, ein ökonomisches Optimum, eine effizienteste Lösung und Mittel für Zwecke.175 Wir hätten es jedoch mit einem ganz anderen Spielfeld (playing field) zu tun, denn was auch immer wir jetzt täten, wir würden die

168 | Ebd. 14. 169 | Ebd. 42. 170 | Ebd. 12. 171 | Ebd. 172 | Ebd. 173 | Bruno Latour (1998c): „Ein Ding ist ein Thing – a (philosophical) Platform for a Left (European) Party.“ A paper presented in Köln to the meeting on the „Innovation in Sciene, Technolgy and Politics“ organized by the Friedrich Ebert Stiftung. May 1998. http://www.bruno-latour.fr/poparticles/poparticle/ p076.html. 08/09 174 | Ebd. 2. 175 | Ebd.

116 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ unerwarteten Konsequenzen erwarten. Diese vielen Konsequenzen, Risiken und unbeabsichtigten Effekte würden von den Objekten als „feedback“ zurückkommen. Wir würden eine Revolte der Mittel erleben.176 Das Unerwartete für die Linke sei, dass Wissenschaft und Technik die Diskussion nicht vereinfachen. Im Gegenteil, statt politische Brände zu löschen, würden sie politische, ethische und ökologische Kontroversen befeuern.177 Vor dem Hintergrund der Forschungsgegenstände, denen sich Latour und auch Rabinow in den letzten zehn Jahren gewidmet haben, erscheint dieser Gedanke plausibel. Besonders mit der Genforschung und in der „synthetic biology“ haben Wesen die öffentliche Arena betreten, deren zukünftige Konsequenzen nicht vorhersehbar sind. Aber auch an den erneuten Debatten zur Atommüllentlagerung wird deutlich, was Latour mit einer „Revolte der Mittel“ meinen könnte und welche politische Notwendigkeit besteht, Objekte nicht als „risikolos“, als abgeschlossen und kontrollierbar zu begreifen. Wie Latour im Parlament der Dinge darlegt, lähmt der „modernistische Objekttyp“ politisches Handeln.178 Der Vervielfältigung „haariger Objekte“, jener Objekte, die keine festen Umrisse hätten, keine klar definierten Wesenheiten, keine scharfen Trennungen aufwiesen zwischen einem harten Kern und ihrer Umgebung; der Vervielfältigung jener „zerzausten Wesen, die Rhizome und Netzwerke formen“, die sich nicht in eine natürliche Welt eingrenzen lassen, die sich nicht naturalisieren lassen,179 müsse mit einem anderen Politikmodell begegnet werden. Bei dem Politikmodell, das ihm mit Isabel Stengers vorschwebt, ist Politik nicht mehr als Spiel der Mächte und Interessen zu verstehen, sondern als Prozess der Zusammensetzung der gemeinsamen Welt, die nicht bereits da ist oder „auf einen Schlag eingerichtet werden kann“, sondern die sich nach und nach in unterschiedlichen Assoziationen und Netzwerken zusammensetzt.180 Das Kollektiv der „Kosmopolitik“ sei nicht das große Ganze, in dem menschliche Natur und nicht-soziale Natur sich endlich versöhnen und neu kombiniert fänden. Das „Kollektiv“ sei gerade das, was eine Versammlung von Natur und Gesellschaft verweigere.181 Es könne nicht gesagt werden, ob es nur ein einziges Kollektiv gebe, oder unzählige, es ginge lediglich darum, einen Begriff zu entwickeln, der eine andere politische Philosophie zu kennzeichnen in der Lage sei, bei dem es nicht mehr „zwei Attraktoren“ gebe, der eine, „der die Einheit in Form der Natur“ herstelle und der andere, „der die Vielheit in Form von Gesellschaf-

176 177 178 179 180 181

| Ebd. | Ebd. | Bruno Latour (2001): 38. | Ebd. 40. | Ebd. 285. | Ebd. 81.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 117 ten“ bewahre. Das Kollektiv bedeute „alles“ aber nicht „zwei getrennt“.182 Indem man sich für das Kollektiv interessiere, greife man die Frage, wie eine Versammlung einberufen werden könne, bei Null auf.183

Experimentelle Metaphysik Der traditionellen Lösung, die der Natur eine politische Rolle zuwies, der traditionellen Methaphysik, setzt Latour eine experimentelle Metaphysik entgegen. Wir hätten gar nicht mehr die Wahl, Metaphysik zu betreiben oder nicht, sondern lediglich die Wahl, entweder auf die „alte Metaphysik,“ der er den bewusst paradoxen Ausdruck „Metaphysik der Natur“ gibt, zurückzukommen oder experimentelle Metaphysik zu betreiben. Durch letztere könne verfolgt werden, wie das Problem der Umverteilung zwischen gemeinsamer Welt und partikularen Welten, ein Problem, das man „ein für allemal gelöst glaubte“, sich wieder aufs Neue stellen würde, und wie andere Lösungen gefunden würden, als die des „Mononaturalismus und seine[r] verheerende[n] Folgeerscheinung, de[s] Multikulturalismus“.184 Wichtig ist Latour, dass sich diese experimentelle Metaphysik von „der Metaphysik der Philosophenkammer“ unterscheidet.185 Es ginge nicht darum, die „alte Metaphysik der Objekte und Subjekte“ durch eine „reichere“ Vision des Universums, in der „Menschen und Dinge als Poeten“ sprächen, zu ersetzten, sondern darum, das „Problem der Wortergreifung offenzuhalten“.186 Die experimentelle Metaphysik widme sich der Erforschung dessen, woraus sich die „gemeinsame Welt“ zusammensetze,187 der Erforschung dessen, wie sich „die Welt im Singular“ gestalte.188 Traditionellerweise werde Metaphysik als das definiert, was hinter oder über der Physik stünde, wobei eine Aufteilung in „primäre“ und „sekundäre Qualitäten“ vorausgesetzt werde. Diese traditionelle Aufteilung in der Philosophie trenne den „Stoff“, aus dem die Welt bestünde, wie etwa „Elementarteilchen, Atome, Gene, Neuronen etc.“ von „Repräsentationen“ wie „Farben, Töne, Empfindungen etc.“189 „Primäre Qualitäten“ seien unsichtbar, dafür wirklich und könnten nicht subjektiv erlebt werden. „Sekundäre Qualitäten“ seien sichtbar, könnten subjektiv erlebt wer-

182 183 184 185 186 187 188 189

| Ebd. 89. | Ebd. | Ebd. 172. | Ebd. | Ebd. 101. | Ebd. 287. | Ebd. 288. | Ebd. 297.

118 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ den und wären aber unwesentlich. Diese Einteilung wäre eine „voreilige Lösung“ des Problems der Zusammensetzung einer „gemeinsamen Welt“, der die experimentelle Metaphysik ihr Vorgehen entgegenhielte.190 Experimentelle Metaphysik betreiben heißt also, sich der Frage zu widmen, wie „die Welt im Singular“ „in aller Form“ bzw. in einem „ordentlichen Verfahren“ zusammensetzt.191 Die Experimentelle Metaphysik macht somit die politischen Prozesse sichtbar, durch die der Kosmos in einem lebbaren Ganzen versammelt wird. Sehr eindrücklich beschreibt Graham Harman in seinem Buch über Latour als Philosophen die „Verpflichtung zur Demokratie“ („commitment to democracy“), die der Latourschen „metaphysischen Position“ innewohnt.192 Die Beschäftigung mit der politischen Philosophie im Parlament der Dinge erscheint deshalb nicht als abrupter Themenwechsel in Latours Werk, sondern als nachzuvollziehende Konsequenz seiner gesamten bisherigen Arbeit.

Das Ding und die Kritik Die Erfordernisse der Formulierung einer experimentellen Metaphysik, einer alternativen „Verfassung“, eines anderen Politikmodells, stelle ein klassisches „bootstrapping“ Problem193 dar, schildert Latour, denn damit eine experimentelle Metaphysik die „Willkür des Schiedsspruches der Natur“ ersetzen könne, müsse zunächst „eine Art Mindestausstattung“, ein „metaphysisches Existenzminimum“, definiert werden, das die Einberufung des Kollektivs überhaupt erst möglich mache.194 Es ist genau dieses bootstrapping Problem, das Paul Rabinow und andere Kritiker dazu verleitet, Latours Großprojekt von vorne herein abzulehnen. Die Formulierung eines „metaphysischen Existenzminimums“ und die Formulierung eines „Weltbildes“ ist problematisch. Verbunden mit Latours an vielen Stellen polemischem Stil könnte man meinen, er würde wirklich festlegen wollen, wie die Welt „schon immer“195 gewesen ist und mit einem modernistischen Gestus den Aufbruch in ein a-modernes Zeitalter beschwören. An einigen Stellen ist dies verbunden mit

190 | Ebd. 191 | Mit den aus den Bereichen des Rechts und der Verwaltung stammenden Begriffen „in aller Form“ und „ordentlichem Verfahren“ („due process“) betont Latour den „rechtlichen“ Status der Dinge und weist auf die Verwebung der Bereiche „de facto“ und „de jure“ hin. Vgl. Latour (2001): 296. 192 | Graham Harman (2009): Prince of Networks: Bruno Latour and Metaphysics. Re.Press, Melbourne. 88f. 193 | Petitio principii, auch Zirkelschluss. 194 | Latour (1991). 91. 195 | Paul Rabinow, ob. cit.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 119 der Glorifizierung einer fiktiven Vergangenheit, in die es sich zurückzukehren lohnt. Seit Wir sind nie modern gewesen erscheinen Latours Texte zunehmend programmatisch. In seinem 2007 auf Deutsch erschienenen Aufsatz Elend der Kritik heißt es über das Ding wie folgt: „Was die Etymologie des Wortes Ding – thing, chose, causa, res, aitia – geheimnisvoll als eine Art fabelhafter und mythischer Vergangenheit für uns bewahrt hatte, ist jetzt vor aller Augen zu unserer gewöhnlichsten Gegenwart geworden. Die Dinge werden wieder versammelt.“196 Wie immer bei Latour lohnt es sich weiter zu lesen, denn schon auf der nächsten Seite schränkt er diese Aussage wieder ein und bremst das ‚modernistische Pathos‘ aus: „Diese Versammlungen sind auch nicht auf die Gegenwart beschränkt, als ob erst neuerdings Gegenstände wieder so offenkundig zu Dingen geworden wären. Jeden Tag helfen uns die Wissenschaftshistoriker zu erkennen, in welchem Ausmaß wir nie modern gewesen sind, weil sie dabei sind, die einstigen Tatsachen in all ihren Bestandteilen zu revidieren.“197 Im Elend der Kritik, aus dem diese Zitate stammen, plädiert Latour für eine Form der Kritik, die nicht zerstört, sondern die das zu Kritisierende als etwas aufwändig Konstruiertes und Zerbrechliches ansieht, das der „Pflege und Vorsicht“ bedarf.198 Wenn man Dinge nicht als harte Tatsachen, als matters of fact, sondern als haarige matters of concern, als Dinge, die uns angehen sehe, dann müsse sich die Aufgabe der Kritiker ändern. Es könne nicht mehr darum gehen, den vermeintlich naiven Gläubigen den Boden unter den Füßen wegzuziehen, sondern jenen,‚die es angehe‘, Arenen zu bieten, wo sie sich versammeln können.199 Die mit Peter Weibel 2001 kuratierte Ausstellung Iconoclash beschreibt Latour als eine „Überprüfung des kritischen Geistes, eine Pause in der Kritik, eine Besinnung über den Drang zur Entlarvung, zur vorschnellen Zuschreibung eines naiven Glaubens“.200 „Bilderstürmer“ zu sein, schreibt Latour, gelte unter Intellektuellen als „höchste Tugend“. „Zerstörung, Auslöschung und Verunstaltung“ seien der „letzte Prüfstein,“ um „den eigenen kritischen Scharfsinn“ unter Beweis zu stellen.201 Der „Hammer der Ikonoklasten“, schreibt Latour, schiene aber immer daneben zu schlagen und etwas anderes zerstört zu haben, das nach geschehener Tat äußerst wichtig geworden sei. Darüber hinaus hätten

196 | Bruno Latour (2007b): Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Diaphanes, Zürich u. Berlin. 31. 197 | Ebd. 32. 198 | Ebd. 55. 199 | Ebd. 200 | Bruno Latour (2002d): Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (Hg.). Merve Verlag, Berlin.. 41. 201 | Ebd. 10.

120 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ „die Zerstörer von Bildern“, die „ ,Theoklasten‘, Ikonoklasten, und ‚Ideoklasten‘“ zur gleichen Zeit eine „sagenhafte Menge neuer Bilder, frischer Ikonen und erneuter Mittler“ produziert.202 Wie, fragt Latour, lässt sich die „fabelhafte Vermehrung von Bildern“, die unsere „Kulturen voller Medien“ hervorbrächten, mit den Forderungen nach einer „an-ikonischen Gesellschaft, Religion und Wissenschaft“ in Verbindung bringen.203 Die von Paul Rabinow vorgeschlagene Zurückhaltung in Bezug auf die Produktion von Weltbildern ist in diesem Sinne eine Forderung nach einer an-ikonischen Philosophie, der die Vorstellung zugrunde liegt, ohne jegliches (Welt-) Bild „reiner, besser und schneller“ Zugang zur „Wahrheit“ zu erlangen.204 Eine an-ikonische Wissenschaft kann es bei Latour dagegen nicht geben. Das 2. Gebot, schreibt er, ließe sich nicht befolgen. Der ikonoklastischen Bewegung der Zerstörung und neu-Produktion von (Welt-)Bildern setzt Latour den Iconoclash entgegen, der die Ambiguität der Bilderverehrung und Bilderzerstörung aufzeigt. Die „Hand am Werk“ zu zeigen, ist für Latour keine ikonoklastische Geste. Wie er wiederholt im Rahmen seiner Replik auf die Kritik, er würde die Wissenschaft auf soziale Konstruktion reduzieren, betont hat, ist für ihn das Aufzeigen der „Hand am Werk“ in den Laboratorien, den Entwicklungsbüros der Ingenieure, in den Gerichten oder im brasilianischen Regenwald, keine ‚Zerstörung der Wissenschaft‘, sondern im Gegenteil eine Wertschätzung:

„Wie aber, wenn Hände tatsächlich unerlässlich wären, um Wahrheit zu erreichen, Objektivität hervorzubringen, Gottheiten zu fabrizieren? Was würde geschehen, wenn durch die Aussage, ein Bild sei von Menschenhand geschaffen, man seinen Wahrheitsanspruch erhöhte, anstatt ihn herabzusetzen? Dann wäre die kritische Stimmung am Ende, wäre Schluss mit dem Anti-Fetischismus. Dann könnten wir sagen – entgegen dem kritischen Drang – dass je mehr Menschen am Werk gezeigt werden, desto besser ihr Begreifen von Realität, Heiligkeit, Verehrung. Dass je mehr Bilder, Vermittlungen, Vermittler, Ikonen vervielfacht und offen fabriziert, explizit und öffentlich konstruiert werden, wir umso mehr Respekt für ihr Vermögen haben, Wahrheit und Heiligkeit zu bewillkommnen, zu versammeln, zu sammeln (religere ist eine der Etymologien für das Wort Religion).“205 In der Form der Kunstausstellung erschließt Latour einen weiteren Versammlungsort, eine weitere Arena, in der er seine Propositionen206 auf andere Art als

202 | Ebd. 12. 203 | Ebd. 19. 204 | Ebd. 9. 205 | Ebd. 18. 206 | Der Begriff Propositionen wird bei Latour in seinen Bedeutungen verschoben. Vgl. Latour, (2001) 297: „Proposition (seltener auch: Vorschlag): Die übliche Bedeutung dieses Wortes in der Sprachphilosophie bezeichnet eine Aussage, die wahr oder falsch sein kann. Hier wird es in einem metaphysischen Sinn verwendet, jedoch nicht um ein Wesen der Welt oder eine sprachliche Form zu bezeichnen, sondern eine

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 121 im universitären Bereich zur Disposition stellt. Er erhöht damit die Zahl der Schauplätze, die Vervielfältigungs- und Ausbreitungsmöglichkeiten, die Übersetzungsoptionen, die seiner experimentellen Metaphysik eine größere Chance auf Dauerhaftigkeit bieten können. Die matters of concern, die Dinge, die uns etwas angehen, (auch Latours experimentelle Metaphysik) brauchen Foren des öffentlichen Versammelns. Mit Peter Weibel und über einhundert Künstlern und Autoren macht Latour sich in seiner zweiten Ausstellung mit dem Titel Making Things Public. Atmospheres of Democracy am Zentrum für Kunst und Medienkultur in Karlsruhe 2005 Gedanken über die Formen öffentlicher Zusammenkünfte. Dabei steht das Ding im Mittelpunkt. Latour verweist auf die Etymologie des Begriffs und erinnert an seine Bedeutung als bestimmter Typ der Versammlung. 207 Das isländische Althing war ein runder Platz unter freiem Himmel, an dem die „Thingmänner“ des ganzen Landes sich in regelmäßigen Abständen versammelten. An vielen Orten in Nordeuropa wären die Steinumkreisungen der Thingstätten noch sichtbar. Es lohne sich, diese alte Bedeutung des Dings zu reaktivieren, schreibt Latour im Katalogtext zur Ausstellung, denn sie würde daran erinnern, dass die Versammlungen nie abgehalten wurden, weil man sich einig war oder ähnlich aussah, weil man sich gut fühlen wollte oder sozial kompatibel wäre, oder weil man zusammenwachsen wollte, sondern weil spaltende matters of concern, die Menschen an einem neutralen isolierten Ort zusammenbrachten, um zu irgend einer Art provisorischer (Un-) Einigung („(dis-)agreement“) zu gelangen. Das Ding bezeichne dabei sowohl jene, die es etwas anging, als auch den Grund der Sorge. Zurück zu den Dingen ist daher Latours Slogan, und er schlägt den Neologismus „Dingpolitik“ als Ersatz für „Realpolitik“ vor, denn letzterer mangele es an Realismus. Die Realpolitik würde erst realistisch werden, wenn sie sich nicht mehr nur der Repräsentation der Menschen verpflichtet fühle, sondern gleichermaßen, der der Dinge. Sie müsse sich nicht nur auf die bestehenden Kanäle konzentrieren, sondern all jene Ansammlungen berücksichtigen, die auf der Suche nach einer rechtmäßigen Form wären, und die „Realpolitik“ müsse sich, um „Dingpolitik“ werden zu können, von der „Obsession“ eines sukzessiven Zeitmodells lö-

Assoziation von Menschen und nicht-menschlichen Wesen, bevor diese zu einem vollwertigen Mitglied des Kollektivs, zu einer instituierten Wesenheit, wird. Eine Proposition ist weder wahr noch falsch, sondern gut oder schlecht artikuliert. Im Gegensatz zu Aussagen betonen Propositionen die Dynamik des Kollektivs auf der Suche nach der guten Artikulation, dem guten Kosmos. Zur Vermeidung von Wiederholungen ist manchmal auch von Entitäten oder Dingen die Rede. 207 | Bruno Latour (2005a): „From Realpolitik to Dingpolitik or How to Make Things Public.“ In: B. Latour, P. Weibel: Making Things Public. Atmospheres of Democracy. ZKM, Karlsruhe. MIT Press, Cambridge MA, London. 14-41, 23.

122 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ sen.208 Making Things Public zeigt Latours „quest for composition“, sein Bestreben, die Zahl der Foren zu erhöhen, Ding-Parlamente zu schaffen, in denen Verhandlungen stattfinden können.209 Mag man doch zunächst am Pathos und an der Polemik Latours Anstoß nehmen, so wird spätestens durch die Ausstellungen klar, dass die matters of concern, die Dinge, die uns angehen, ihre Foren brauchen, und dass ohne Sorge, d.h. ohne Pathos weder Versammlungen, noch Verhandlungen stattfinden. Dinge sind nicht rein zu halten von Pathos und Wissenschaft, auch nicht von Ideologie. Dies macht Latour auf eindrucksvolle Weise immer wieder deutlich. Sein begriffliches Instrumentarium zielt darauf ab, andere Mischungsverhältnisse zwischen Menschen und Dingen, zwischen Epistemologie und Ontologie und zwischen Politik und Wissenschaft in Gang zu setzen. In seinem 2005 erschienenen Buch Reassembling the Social betritt er mit diesem begrifflichen Instrumentarium die Arena der Soziologie und bietet einen Tardschen Neuentwurf in Form einer Einführung in die Akteur-Netzwerk Theorie. Hier wird das Prinzip der Irreduktion in seinen praktischen Konsequenzen deutlich. Schritt für Schritt erläutert Latour, wie sich der Forschungsprozess im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie und im Kontrast zu herkömmlichen soziologischen Methoden gestaltet. Um diesen Text wird es unten noch gehen.

Werkzeuge Gegenstände, Geschichte und Gegenwart Die Gegenstände der Untersuchungen Rabinows und Latours weisen Überschneidungen auf. Beide befassen sich mit biopolitischen Themen: Rabinow u.a. in French Modern, Latour u.a. in Pasteurization of France; beide haben ein Interesse an Biotechnologie und Genforschung, Rabinow in Making PCR und A Machine to Make A Future und in seinen Aufsätzen zum Human Genom Projekt, Latour u.a. in Laboratory Life, Science in Action, und beide interessieren die Verflechtungen von Akteuren in der Entstehung neuer Wissensdinge, wobei Rabinows Interesse besonders den Verflechtungen von Industrie und Wissenschaft in der Biotechnologie gilt. Bei Latour und Rabinow steht die Moderne’ und ein mögliches ‚Darüberhinaus’ im Zentrum ihrer Tätigkeit. Beide formulieren ihre Projekte in Abgrenzung zu so genannten ‚postmodernen’ Positionen und stellen ihre Begriffe in den Dienst einer erhöhten Wissenschaftlichkeit und Objektivität. Die von Latour und Rabinow formulierten Anthropologieentwür208 | Ebd. 41. 209 | Ebd.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 123 fe gehen über die Grenzen bestehender Ansätze hinaus und formulieren ethnographische Herangehensweisen, die mit den ‚traditionellen‘ nur noch eine entfernte Verwandtschaft aufzeigen. Rabinow schreibt, seine Begriffe sollten dazu dienen, eine adäquate narrative Form zu finden, wie dem „unaufhaltsam anwachsenden Informationsberg“ Rechnung getragen werden könne und wie sich dieses Wissen in eine „Lebensführung“ eingliedern ließe.210 Latour würde sicher nicht von einem „anwachsenden Informationsberg“ sprechen - Information ist für ihn Transformation -, wohl aber von der Vermehrung der Wissensdinge, und seine Sorge, die an dieser Stelle vielleicht der Sorge Rabinows ähnelt, gilt der Vermehrung der den Dingen ko-temporären Versammlungen. Während sich die „Lebensführung“, von der Rabinow spricht, in seinen ethnographischen Studien als Untersuchung der „Forschungsführung“ einzelner Wissenschaftler zeigt, geht es bei Latour um die Einberufung der Kollektive als vielgestaltige, Menschen und Dinge umfassende Versammlungen. Das Bemühen, grob gesagt, wissenschaftliche Erkenntnisse, insbesondere der Biowissenschaften, der Gentechnik, Genomik, Post-Genomik und synthetischer Biologie ‚unter die Leute zu bringen’, teilen beide. Diese Gemeinsamkeiten können jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass sich das ‚Werk’ und die ‚Werkzeuge’ Latours und Rabinows grundlegend unterscheiden. Wie bereits erwähnt, liegt ein bedeutender Unterschied im Umfang der ‚Werke’. Die Gegenstände, mit denen sich Latour im Laufe seiner Karriere befasst hat, sind vielfältiger. Neben den oben erwähnten Forschungsfeldern liegen von Latour in Buchform ethnographische Studien im Bereich der Technik, des Rechts und der Religion vor, darüber hinaus eine Studie über Paris211 und die oben erwähnten Ausstellungsprojekte und schließlich eine Reihe von Büchern, in denen er sich mit politischer Philosophie, der Moderne und der Neuformulierung der Soziologie befasst. Bei der Lektüre Rabinows entsteht der Eindruck, dass die Einschränkung seiner Forschungsgegenstände auf eine dezidierte von ihm vorgenommene Auswahl zurückzuführen ist. Immer wieder widmet er sich der Frage, wie für die von ihm formulierte Anthropologie der Gegenwart relevante Gegenstandsbereiche identifiziert werden können. Diese Frage ist bei Rabinow verbunden mit einem im positiven Sinne interpretierten modernistischen Gestus: der Suche nach Neuem. Mit Rabinow sind wir genötigt, uns den Fragen zu widmen; Was ist gerade am Entstehen? Welche Ereignisse sind bedeutsam für die Bildung neuer Normen? Und: Wo werden alte Formen neu gewendet? Als Anthropologe und als Anhänger Foucaults beschränkt Rabinow diese Fragen auf den Menschen und sein Leben.

210 | Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie. Herausgegeben und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 7. 211 | Bruno Latour (1998b): Paris ville invisible. Les Empêcheurs de penser en rond & La Découverte, Paris.

124 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Rabinows Bemühen gilt der Lokalisierung gegenwärtiger über den „historischen Augenblick“212 hinausreichenden Vernunftformen. Im Gegensatz und in gewisser Weise als fortführende Erweiterung der Foucaultschen „Geschichte der Gegenwart“ bemüht sich Rabinow um „eine Diagnose der ‚unmittelbaren Vergangenheit und nahen Zukunft.’“213 Seine Untersuchungsgegenstände müssen diesbezüglich Auskunft geben. Bei Latour spielt das Gegenwärtige eine ebenso große Rolle, wird aber komplett anders gefasst. In all seinen Untersuchungen bemüht er sich, die Dinge in ihrer Zeitgenossenschaft erscheinen zu lassen. „Die Natur“, „das Soziale“ und „die Zeit“ gehen dabei den Dingen nicht voraus, sondern sind ihnen ko-temporär. Latours Begriffe im Kontext von Geschichte und Gegenwart kreisen um das Ding. Rabinow hingegen fasst seine Position in einem Weber Zitat zusammen: „Nicht die ‚sachlichen’ Zusammenhänge der ‚Dinge’, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde (...).“214 Für Bruno Latour kann ‚Zeit’ nicht unabhängig von den Dingen gefasst werden. Jedes Ding hat bei ihm buchstäblich seine Zeit. Dies hat Konsequenzen für die Art seiner Vorgehensweise. Durch die Aufhebung einer als linear verstandenen Geschichte öffnen sich nun auch im herkömmlichen Sinne ‚historische Ereignisse’ einer Experimentellen Anthropologie. Mit Latours bereits in seiner Dissertation ausgearbeiteten Haltung zur Zeit löst er gleich mehrere fundamentale Probleme, die Rabinows Ansatz, trotz seiner Bemühungen über Foucault hinausgehend eine der Gegenwart adäquatere Forschungsführung zu entwickeln, begleiten. Erstens das Problem, dass er trotz allen Bemühens, die Gegenwart als Anthropologe ins Visier zu bekommen, ihr spätestens zum Datum der Veröffentlichung der eigenen Untersuchung hinterherhinkt und nur ‚Retrospektiven’ zu liefern vermag.215 Und zweitens das Problem, unabhängig von einem zu betrachtenden Ding, ex nihilo bestimmen zu müssen, was Gegenwart ist, und wodurch sich das Zeitgenössische auszeichnet. Dieses zweite Problem hat unmittelbaren Einfluss auf jene Gegenstände, die er der Untersuchung durch den Anthropologen des Zeitgenössischen für würdig hält. Die Suche nach dem Gegenwärtigen („contemporary“) wird dadurch zu einer Suche nach dem Zeitgemäßen, und das Urteil, das darunter fällt, obliegt dabei dem Anthropologen. Rabinows Ansatz legt nahe, dass die Biotechnologie der zentrale Ort ist, an dem das menschliche Leben gegenwärtig neu konfiguriert wird und dass sich der Anthropologe des Zeitgenössischen jenen „technicians of general ideas“ widmen sollte, die an den Schalthebeln dieser Neuformatierung sitzen. In den von To-

212 213 214 215

| Max Weber zitiert in ebd. 118. | Ebd. 130. | Ebd. 43. | Vgl. hierzu Rabinow (2008): 33-50. „Adjacency“. „[...] being a bit late might well be timely“ […] 50.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 125 bias Rees in Buchform zusammengestellten Transkripten mehrerer Gespräche zwischen ihm, Paul Rabinow, George Marcus und James Faubion wird die Frage erörtert, inwieweit Rabinows Ansatz das Themengebiet seiner Anthropologie des Zeitgenössischen zu sehr einschränkt. Hier betont Rabinow, dass er sich zwar auf „technicians of general ideas“ in seiner Arbeit konzentriere, aber nicht ausschließlich. Näher geht er dort nicht auf das Thema ein. Dass für ihn die Biotechnologie das zu untersuchende Feld ist, macht Rabinow in seiner Anthropologie der Vernunft deutlich. Dort heißt es: „Meine Forschungsstrategie besteht darin, mich auf die Praktiken des Lebens zu konzentrieren, die gegenwärtig das bedeutendste Feld von Macht und Wissen bilden. Es ist nahe liegend, die Untersuchung dieser Entwicklung mit dem amerikanischen Humangenom-Projekt zu beginnen.“216

Formen und Ereignisse Es scheint tatsächlich so, dass Paul Rabinow nicht jede Art von Ereignis der Untersuchung für würdig hält. Für ihn scheinen nur jene Ereignisse wirkliche Ereignisse zu sein, die er mit einer „postdisziplinaren Rationalität“ in Verbindung bringen kann.217 „Zweifellos“, schreibt Rabinow, würden „jederzeit eine Vielzahl von Ereignissen“ stattfinden. „Von Zeit zu Zeit“ würden sich jedoch „neue Formen“ entfalten, die „etwas Besonderes“ an sich hätten und die „bereits vorhandene Akteure, Dinge und Institutionen“ in einen „neuen Existenzmodus“ heben würden. Es würden sich „mehr oder weniger plötzlich“ „mannigfaltige Möglichkeiten“ eröffnen. Diese Art der Ereignisse ließe sich jedoch nicht ohne weiteres und immer auf die involvierten Elemente reduzieren, die „repräsentativ für eine Epoche“ seien, es fehle aber an ‚adäquaten Mitteln‘, um „das Ereignis neuer Formen als einzigartige und mächtige Singularitäten zu fassen.“218 Diese Mittel versucht Rabinow mit den im Rahmen seiner Anthropologie des Zeitgenössischen entwickelten Begriffe bereit zu stellen. An dieser Stelle wird deutlich, dass Rabinow Ereignisse in zwei unterschiedliche Kategorien einteilt. Erstens jene, die sich relativ unbedeutend auf „die involvierten Elemente“ reduzieren lassen, und zweitens solche, die nicht zu reduzieren sind.219 Die zwei Formen der Ereignisse scheinen einen unterschiedlichen ontologischen Status zu haben. Die einen vermögen „Akteure, Dinge

216 | Paul Rabinow (2004a): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Übersetzt und Herausgegeben von C. Caduff, T. Rees. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 131. 217 | Ebd. 129. 218 | Ebd. 115. 219 | Ebd.

126 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ und Institutionen in einen neuen Existensmodus“ zu versetzen, während die anderen dazu nicht in der Lage sind. Hier zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zu Latours Herangehensweise. Bei Latour sind alle Ereignisse gleich würdig, als Singularitäten betrachtet zu werden, und kein Ereignis lässt sich auf irgendwelche „involvierten Elemente“ reduzieren, seien sie nun „repräsentativ“ für „Epoche“, „Natur“, „Gesellschaft“, „Geschichte“ oder sonst etwas. Das Prinzip der Irreduktion gilt bei Latour für alle Ereignisse, für alle Akteure. In French Modern beschreibt Rabinow die Cholera Epidemie als ein Ereignis, das neue Formen notwendig machte, und in dieser Genealogie, die Rabinow mit French Modern vorlegt, wird seine Nähe zu Foucault deutlich. Diese Nähe bleibt trotz Rabinows Hinwendung zur Jetzt-Zeit mit Hilfe des Begriffs der Assemblage bestehen. Die Abwendung vom Begriff der Epoche vollzieht er mit Foucault: „In seinem Essay ‚Was ist Aufklärung?’ bemühte er sich, einen neue philosophische Beziehung zur Gegenwart zu schaffen: eine Beziehung, die die Welt nicht mittels des analytischen Rasters der Epoche zu begreifen sucht, sondern mittels einer bestimmten Forschungspraxis, die auf einem Ethos der Gegenwartsorientierung, der Kontingenz und der Formgebung beruht. Vielleicht liegt heute ein zentraler Aspekt dieser Aufforderung ein modernes Ethos zu formulieren im Nachdenken darüber, wie man sich zur Frage des anthropos verhalten soll. Eine solche Aufgabe stellt Philosophen und Anthropologen vor unterschiedliche Herausforderungen. Doch wie immer man sich der Frage auch nähern mag: Was wäre, wenn wir die jüngsten Veränderungen in den logoi von Arbeit, Leben und Sprache nicht als einen epochalen Wandel begreifen würden, sondern als fragmentarische und bereichsspezifische Veränderungen, die nicht nur an und für sich zu Problemen führen, sondern auch angesichts des Versuchs, die Formen zu verstehen, die anthropos gegenwärtig annimmt?“220 Die Epoche als historische Formation lehnt Rabinow ab, dennoch sind in seinem Denken zwar bewegliche aber dennoch historische Formationen zentral, wie sich anhand der Begriffe der Problematisierung, Assemblage und Dispositiv ablesen lässt.221 Ihn wegen seines Festhaltens an historischen Formationen allerdings in die Nähe traditioneller Geschichtsschreibung oder gar einer „whiggish history“ zu rücken, wird ihm jedoch nicht gerecht. Im Gegenteil: Mit Foucault setzt sich Rabinow von den herkömmlichen Formen der Geschichtsschreibung ab. Weder „das traditionelle Narrativ der großen Männer und ihrer großen Taten“ noch eine in uniforme Begriffe und standardisierte narrative Formen gefasste Geschichte der longue durée sei im Interesse Foucaults, betont Ra-

220 | Paul Rabinow (2004a): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Übersetzt und Herausgegeben von C. Caduff, T. Rees. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 35. 221 | Siehe Seite 139 ff.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 127 binow.222 Ihm sei es um eine „Erweiterung der Perspektiven“ gegangen und um eine „neue Aufmerksamkeit gegenüber der Singularität von Ereignissen“, darum, „Singularität da zum Vorschein [zu] bringen, wo man geneigt ist, eine historische Konstante, ein unmittelbares anthropologisches Merkmal oder eine Evidenz, die sich allen in gleicher Weise aufdrängt, zu erkennen.“ Ereignisse, betont Rabinow mit Foucault, bedeuten einen „Bruch in der Selbstverständlichkeit der Dinge“. Es sei beispielsweise „keineswegs ‚natürlich’, dass Verrückte als Geisteskranke betrachtet“ worden wären. Die „Etablierung dieser Selbstverständlichkeit“ sei ebenfalls als Ereignis zu sehen. Um diese „Art von Ereignissen“ zu verstehen, bedürfe es einer gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber den vielfältigen Ursachen, die dabei involviert seien. Sei ein Ereignis wie die „Geburt des modernen Gefängnisses“ einmal „identifiziert,“ gelte es, die „Anzahl und Vielfältigkeit der Elemente, die in die Analyse eingeführt werden, systematisch zu erweitern und so den Forschungsbereich auszudehnen.“223 Geschichte sieht Rabinow mit Foucault nicht als „sinnvolles Ganzes“. Die „deutsche Idee der Geschichte“ als „Totalität“ liege „heute in Trümmern“.224 Die Wende von Foucaults Geschichte der Gegenwart zur Anthropologie des Zeitgenössischen, die Rabinow aus dem Foucaultschen Denken heraus vollziehen will, hat zwei problematische Effekte. Einerseits erbt sie die Widersprüche der Foucaultschen Historiographie, und andererseits bringt sie einen Foucault mit amerikanischem Ethos hervor. Rabinows Foucault wird mit Hilfe der Deutschen Kant und Weber amerikanisiert. Er wird zum rationalen vernünftigen Aufklärer. Rabinow verabschiedet sich vom Foucault der großen Würfe, von seinem „Blick aus der Ferne“225, seinem Mut zur Lücke und seiner Unzurechenbarkeit. Rabinow versucht Foucault für sein Projekt der Anthropologie des Zeitgenössischen handhabbar zu machen. Dabei reduziert er das Foucaultsche Interesse an Subjektivierungsprozessen in seinen Studien auf eine Beschäftigung mit der Weberschen „Wissenschaft als Beruf“ und verwischt mit seinen Assemblagen die Konturen historischer Formationen so stark, dass sie keinen heuristischen Wert mehr haben oder, wie in A Machine to Make a Future, gar nicht mehr erkennbar sind. Die Art und Weise, wie Foucault bei Rabinow erscheint, kann hier nicht en détail erörtert werden. Der folgende kurze Exkurs zu Foucaults Geschichtsbegriff soll an dieser Stelle lediglich die Problematik des Foucaultschen Erbes kurz beleuchten.

222 | Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie. Herausgegeben und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 55. 223 | Ebd. 224 | Paul Rabinow (2004a): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Übersetzt und Herausgegeben von C. Caduff, T. Rees. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 63. 225 | Ebd.74.

128 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“

Exkurs: Geschichte – Archäologie und Genealogie bei Foucault „Was sind wir heute? Was ist dieses ‚Heute’, in dem wir leben? Eine solche diagnostische Arbeit war für Nietzsche mit einer Wühlarbeit unter den eigenen Füßen verbunden; er wollte ja feststellen, wie sich sein Universum aus Denken, Diskurs, Kultur einst konstituiert hat. Mir schient, dass Nietzsche der Philosophie einen neuen Gegenstand geliefert hat, der etwas in Vergessenheit geblieben ist […]“226 Die Geschichte hat einen zentralen Platz in Foucaults Philosophie, wie der von ihm selbst gewählte Titel seines Lehrstuhls am Collége de France, den er von 1970 bis zu seinem Tod 1984 innehatte, illustriert: Geschichte der Denksysteme. Die traditionelle Geschichtswissenschaft interessierte ihn dabei genauso wenig, wie eine herkömmliche Geschichte der Philosophie, die „philosophische Ereignisse“ wie den „Tod Gottes“ innerhalb der Grenzen der eigenen Disziplin zu beschreiben sucht.227 Vielmehr ging es ihm um die Verkettung solcher Ereignisse mit anderen zeitgenössischen Ereignissen, wie beispielsweise die Verkettung Kantscher Ideen mit dem „Verschwinden der allgemeinen Grammatik“ oder der „Idee der Arbeit als Quelle des Reichtums anstelle der Natur“ oder der „Geburt des Asyls“, der „Geburt der Klinik“ etc.228 Dreyfus und Rabinow zufolge ist Foucaults Arbeit während der Siebzigerjahre eine „anhaltende und weithin erfolgreiche Anstrengung zur Entwicklung einer neuen Methode“.229 Die Archäologie und Genealogie sind entscheidende Eckpunkte in dieser „Anstrengung“. Bereits während der Sechzigerjahre bei seiner Beschäftigung mit der Analyse der Humanwissenschaften bemüht sich Foucault um die Entwicklung seiner „archäologischen Methode“.

Archäologie In seinem Text L‘archäologie du savoir von 1969230 beschreibt Foucault die Unterschiede seiner Methode zur herkömmlichen Geschichtswissenschaft. Im Gegensatz zur traditionellen Geschichtsschreibung versuche die Archäologie

226 | Foucault zitiert in: Pravu Mazumdar (1998): „Über Foucault.“ In: Sloterdijk, Peter (Hg.): Foucault. Ausgewählt und vorgestellt von Parvu Mazumdar. Philosophie Jetzt! Diederichs, München. 15-82, 60. 227 | Ebd. 228 | Ebd. 229 | H.L. Dreyfus, P. Rabinow (1994): Michel Foucault - Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Beltz Verlag, Weinheim. 12. 230 | Michel Foucault (1997): Archäologie des Wissens, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 129 nicht Kontinuitäten aufzuzeigen, sondern Diskontinuitäten, Brüche, Schwellen und Grenzen.231 Die kontinuierliche Geschichte sei das „unerlässliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts“232. Sie sei die „Garantie, dass alles, was ihm entgangen ist, ihm wiedergegeben werden kann.“233 Geschichte in Foucaults Sinne ist jedoch nicht dazu da, Entwicklungslinien aufzuzeigen, um der Gegenwart einen Sinn zu geben. In seinem Verständnis fragt sie nicht nach Werden und Ursprung. Die Archäologie habe vielmehr die Infragestellung von Teleologien und Totalitäten zum Ziel.234 Der Archäologie ginge es nicht darum, eine Folge von zerstreuten Ereignissen Kohärenz zu verleihen, in dem man sie auf ein einheitliches organisatorisches Prinzip, wie z.B. „Entwicklung“ oder „Evolution“ bezieht.235 Die Geschichte auf ein lineares Schema, eine Kette von kausal bedingten Ereignissen, zu reduzieren, werde ihr nicht gerecht.“236 Die Archäologie solle Dokumente, die als Zeichen für etwas anderes stehen, zu Monumenten transformieren und als„stumme kontextlose Gegenstände“ beschreiben.237 „Der Archäologe untersucht stumme Aussagen und vermeidet es somit, in die von ihm beschriebene ernsthafte Suche nach Wahrheit und Bedeutung verwickelt zu werden. Wir haben gesehen, dass die Archäologie ,nicht mehr und nicht weniger [ist] als eine erneute Schreibung: das heißt in der aufrecht erhaltenen Form der Äußerlichkeit eine regulierte Transformation dessen, was bereits geschrieben worden ist.“238 Als zentrales Monument der Archäologie Foucaults gilt der Diskurs.239 Bei der Archäologie handle es sich um die „systematische Beschreibung eines Diskurses als Objekt“.240 Diskurse sind hier nicht als Gesamtheiten von Zeichen gemeint, sondern als „Regel gehorchenden Praktiken“.241 Ziel der Archäologie sei es, das Feld zu untersuchen, in dem diese auftreten, und das „Spiel der Regeln‘“242 zu beleuchten, denen das Feld unterworfen ist.

231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242

| Ebd. 12f. | Ebd. 23. | Ebd. | Ebd. 28. | Ebd. 34. | Ebd. 17. | Ebd. 15. | Dreyfus/ Rabinow (1994): 111. | Foucault (1997): 198. | Ebd. 200. | Ebd. 198. | Ebd.

130 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ „Eine Menge von Aussagen nicht als die geschlossene und übervolle Totalität einer Bedeutung zu beschreiben, sondern eine lückenhafte und zerstückelte Figur; eine Menge von Aussagen nicht als in Bezug zur Innerlichkeit einer Absicht, eines Gedankens oder eines Subjekts zu beschreiben, sondern gemäß der Streuung einer Äußerlichkeit; einer Menge von Aussagen zu beschreiben, nicht um darin den Augenblick oder die Spuren des Ursprungs wiederzufinden, sondern die spezifischen Formen einer Häufung, bedeutet gewiss nicht das Hervorbringen einer Interpretation, die Entdeckung einer Fundierung, die Freilegung von Gründungsakten. Es bedeutet auch nicht die Entscheidung über eine Rationalität oder das Durchlaufen einer Teleologie, sondern die Feststellung dessen, was ich gerne als eine Positivität bezeichnen würde. Eine diskursive Formation zu analysieren, heißt also, eine Menge von sprachlichen Performanzen auf der Ebene der Aussagen und der Form der Positivität, von der sie charakterisiert werden, zu behandeln; oder kürzer: es heißt den Typ von Positivität eines Diskurses zu definieren.“243 Nicht nur diskursive Praktiken/Aussagen sind bei Foucault Positivitäten, sondern auch nicht-diskursive Praktiken/“Sichtbarkeiten“.244 „Auch der Ausdruck besitzt eine Form und einen Inhalt“, kommentiert Deleuze. Das Strafrecht und die „Delinquenz“ seien Gegenstand von Aussagen. Genauso wie das Strafrecht als Aussageform ein Feld der Sagbarkeit definiere, definiere das Gefängnis als Inhaltsform einen Ort der Sichtbarkeit.245 Die Priorität liegt in der Archäologie des Wissens jedoch eindeutig auf Seiten der diskursiven Praktiken. Diese produzieren die Objekte, über die sie sprechen, kreieren somit „Wahnsinn“ und „Delinquenz“ und die Institutionen der Psychiatrie und des Strafvollzuges, die letztlich deren Aufrechterhaltung dienen. Wie Dreyfus und Rabinow deutlich machen, sind die Diskursformationen und ihre Regelsysteme problematische Aspekte in Foucaults Geschichtsverständnis. Während Strukturalisten wie Levy-Strauss und Chomsky ihre Transformationsregeln letztlich auf „die im Gehirn wirksamen physikalischen Gesetze“246 zurückführen, bleibt Foucault mit seiner Insistenz auf Historizität dieser Weg verschlossen. Da die Diskurspraktiken als autonom verstanden werden, kann nicht nach den Faktoren gesucht werden, die sie von außen lenken. Habermas beschreibt dieses Dilemma wie folgt: „Dieser vollständig autonom gewordene, von Kontextbeschränkungen und Funktionsbedingungen abgelöste, also die zugrundeliegenden Praktiken steuernde Diskurs ist freilich mit einer konzeptionellen Schwierigkeit behaftet. Als fundamental gelten die archäologisch zugänglichen Regeln, die die jeweilige Diskurspraxis ermöglichen. Diese Regeln können aber einen Diskurs nur in den Bedingungen seiner Möglichkeit verständlich machen; sie reichen nicht hin, um die Diskurspraxis in ihrem tatsächlichen

243 244 245 246

| Ebd. 182. | Gilles Deleuze (1987): Foucault. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 69. | Ebd. | Dreyfus/Rabinow (1994): 108.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 131 Funktionieren zu erklären. Es gibt ja keine Regeln, die ihre eigene Anwendung regeln könnten. Ein regelgeleiteter Diskurs kann nicht selber den Kontext regeln, in den er eingelassen ist.“247 Dreyfus und Rabinow zufolge lösen sich viele Probleme in Foucaults Methode mit der Aufgabe seiner „semistrukturalistische[n] Behauptung“, dem „Diskurs komme eine Art Priorität zu, die es ihm ermögliche, nichtdiskursive Beziehungen zu benutzen.“248 Diese Aufgabe vollzieht Foucault in der Genealogie.

Genealogie Nach seiner Studie Archäologie des Wissens lässt Foucault das Bemühen um die Entwicklung einer Diskurstheorie recht abrupt fallen und nimmt Nietzsches Genealogie als Ausgangspunkt zur Entfaltung einer Methode, die es ihm ermöglicht, „das Verhältnis von Wahrheit, Theorie, Werten und den gesellschaftlichen Institutionen und Praktiken, aus denen sie hervorgehen, zu thematisieren.“249 Diese Methode lenkt seinen Blick in besonderer Weise auf das Verhältnis der Macht und des Körpers zu den Humanwissenschaften. Die archäologische Methode wird dabei jedoch nicht verworfen. Wie Dreyfus und Rabinow erläutern, gibt es bei Foucault keine vor- oder nacharchäologischen oder -genealogischen Phasen. Die Archäologie diene vielmehr als Technik der Genealogie. Genealogie stelle sich der traditionellen historischen Methode entgegen; ihr Ziel sei es, „die Einmaligkeit der Ereignisse unter Verzicht auf eine monotone Finalität ausfindig zu machen.“250 „Für den Genealogen gibt es keine feststehenden Wesenheiten, keine tiefer liegenden Gesetze, keine metaphysischen Finalitäten. Genealogie spürt Diskontinuitäten auf, wo andere kontinuierliche Entwicklung fanden. Sie findet Wiederkünfte und Spiel, wo andere Fortschritt und Ernst fanden. Sie verzeichnet die Vergangenheit der Menschheit, um die feierlichen Hymnen des Fortschritts zu demaskieren. Die Genealogie meidet die Suche nach Tiefe. Stattdessen sucht sie die Oberflächen der Ereignisse, kleine Details, geringe Verschiebungen und subtile Konturen. Sie hält sich fern von der Tiefgründigkeit der großen Denker, die unsere Tradition hervorgebracht und verehrt hat; ihr Erzfeind ist Plato“.251

247 | Jürgen Habermas (1993): „Vernunftkritische Entlarvung der Humanwissenschaften: Foucault.“ In: Ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 279-313, 315. 248 | Dreyfus/Rabinow (1994). 92. 249 | Ebd. 20f. 250 | Michel Foucault (1987):„Nietzsche, die Genealogie, die Historie.“ In: Von der Subversion des Wissens. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 69-91, 83. 251 | Dreyfus/Rabinow (1994): 135.

132 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Viele der Prämissen in Foucaults Geschichtsverständnis, die in der Archäologie auftauchen, sind in dem 1971 erschienenen Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie, wiederzufinden: Die Ablehnung eines metaphysischen Ursprungs, der Verzicht auf jedes Absolute und die Absage an Kontinuitäten: „Die ‚wirkliche’ Historie stützt sich im Gegensatz zu der der Historiker auf keine Konstanz: nichts am Menschen - auch nicht sein Leib - ist so fest, um auch die anderen Menschen verstehen und sich in ihnen wiedererkennen zu können. Alles, woran man sich anlehnt, um sich der Geschichte zuzuwenden und sie in ihrer Totalität zu erfassen, alles, was sie als eine geduldige und kontinuierliche Bewegung erscheinen lässt, muss systematisch zerbrochen werden. Das tröstliche Spiel der Wiedererkennungen ist zu sprengen. Wissen bedeutet auch im historischen Bereich nicht ‚wiederfinden’, und vor allem nicht‚ uns wiederfinden’.“252 In Anlehnung an Nietzsche konzentriert sich Foucault auf „Herkunft“ und „Entstehung“ statt auf „Ursprung“. Foucault zufolge ist es Aufgabe des Genealogen, den Vorrang der Ursprünge, der unveränderlichen Wahrheiten, zu zerstören. Er sucht die Doktrinen von Entwicklung und Fortschritt zu zerstören.253 Dort, wo Identität und Kohärenz erfunden werden, solle der Genealoge auf die Suche nach den „unzähligen Anfängen“ gehen. Eine Analyse der „Herkunft“ führe zur „Auflösung des Ichs“ und ließe „an den Orten und Plätzen seiner leeren Synthese, tausend verlorene Ereignisse wimmeln“.254 Die Erforschung der Herkunft liefere keine Sicherheiten, kein unbewegliches Fundament, sondern zerteile, was man für eins hielte und zeige Heterogenität, dort wo Kohärenz erwartet würde.255 Foucault beschreibt den „Leib“ als den „Ort der Herkunft“. Die Genealogie stünde als Analyse der Herkunft dort, wo sich „Leib und Geschichte verschränken“.256 Ihre Aufgabe sei es zu zeigen, „wie der Leib von der Geschichte durchdrungen ist und wie die Geschichte am Leib nagt.“ Die Genealogie beschäftige sich mit „Entstehung“ im Sinne eines „Auftauchens“ nicht im Sinne eines End- bzw. Anfangspunktes. Dabei würde den Genealogen das Feld interessieren, in dem ein Netz von Kräften etwas entstehen ließe. Dieses Feld bezeichnet Foucault als „NichtOrt“ und „leeres Zwischen“: „Niemand ist verantwortlich für eine Entstehung, niemand kann sich ihrer rühmen; sie geschieht in einem leeren Zwischen.“257

252 253 254 255 256 257

| Foucault (1987): 80. | Ebd. 137. | Foucault (1987): 37. | Ebd. 74. | Ebd. 75. | Foucault (1987): 77.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 133 In dem 1975 erstmals erschienenem Überwachen und Strafen unternimmt Foucault die „Genealogie des heutigen Wissenschaft/Justitz-Komplexes“.258 Er betont hier, dass „konkrete Strafsysteme“ als gesellschaftliche Ereignisse“ weder durch die „juristischen Apparate“ der Gesellschaft noch durch ihre „ethischen Grundentscheidungen“ hinreichend erklärt werden können.259 Es gelte, diese in ihr „Funktionsfeld“ einzuordnen, welches nicht ausschließlich die Sanktionierung von Verbrechen beinhalte.260 Es ginge um den produktiven Effekt von Machtausübung: „Es ist zu zeigen, daß die Strafmaßnahmen nicht einfach ,negative‘ Mechanismen sind, die einschränken, verhindern, ausschließen, unterdrücken: sondern dass sie an eine Reihe positiver und nutzbringender Effekte geknüpft sind, welche sie befördern - in diesem Sinne kann man sagen, dass die gesetzlichen Strafen zwar zur Sanktionierung der Vergehen bestimmt sind, die Definition der Vergehen und deren Verfolgung aber wiederum dazu dienen, die Strafmechanismen in Gang zu halten.“261 Ziel der Genealogie ist es u.a., verschiedene Unterwerfungssysteme aufzuzeigen und auf deren Gefahren hinzuweisen. Die Genealogie orte „die Gefahr und den Punkt, an dem das ihr zugrundeliegende Wirklichkeitsverständnis eingeführt wurde.“262 Die „wirkliche Historie“, wie Foucault sie nennt, solle nicht von der „Geburt der Wahrheit und Werte erzählen“, sondern eine „Differentialerkenntnis der Energien und Ohnmachten, der Höhen und Zusammenbrüche, der Gifte und Gegengifte“ sein:263 „Eine ganze (theologische oder rationalistische) Tradition der Geschichtsschreibung möchte das einzelne Ereignis in eine ideale Kontinuität verflüchtigen: in eine teleologische Bewegung oder in eine natürliche Verkettung. Die „wirkliche“ Historie lässt das Ereignis in seiner einschneidenden Einzigkeit hervortreten. Mit Ereignis ist nicht eine Entscheidung, ein Vertrag, eine Regierungszeit oder eine Schlacht gemeint, sondern die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses, der Sturz einer Macht, die Umfunktionierung einer Sprache und ihre Verwendung gegen die bisherigen Sprecher, die Schwächung, die Vergiftung einer Herrschaft durch sie selbst, das maskierte Auftreten einer anderen Herrschaft. Die Kräfte im Spiel der Geschichte gehorchen weder einer Bestimmung noch einer Mechanik, sondern dem Zufall des Kampfes.“264

258 | Michel Foucault (1994): Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses. Suhrkamp Taschenbuchverlag, Baden-Baden. 34. 259 | Ebd. 35. 260 | Ebd. 261 | Ebd. 262 | Dreyfus/Rabinow. 303. 263 | Foucault (1987). 82. 264 | Foucault (1994). 34.

134 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Slotterdijk bemerkt, dass es Foucault in einer „ungeheuren Sichtungsarbeit“ in den „Aktenkellern der psychiatrischen Anstalten, der Asyle, der Kliniken und später auch der Gefängnisse“ gelungen sei, „auch in dem Grau der Verwaltungssprachen vergangener Epochen den Blitz des Ereignisses wahrzunehmen.“265 Foucaults „ereignisphilosophische ‚Grundlagen’-forschung“266 kann an dieser Stelle nicht adäquat gewürdigt werden. Auch können jene Parallelen zwischen der Herangehensweise Latours und Foucaults, wie zum Beispiel ihr Interesse an Positivitäten, am Abschreiten von Oberflächen, an Kräfteverhältnissen und an einer Form der Kritik, die, wie Foucault in seinem Spätwerk schreibt, „nicht versucht zu richten“,267 hier nicht herausgearbeitet werden. An dieser Stelle geht es um die in Rabinows Konzeption einer Anthropologie des Zeitgenössischen fortlebende Problematik der „wirklichen Historie“, die keine Geschichte sein will, die sich scheinbar selbst erklärenden „Formationen“ - auch wenn sie keine Epochen mehr sind - und um den problematischen Status von Wahrheit und Wirklichkeit. Obwohl die „wirkliche Historie“ Foucaults keiner Teleologie gehorcht, keinem vereinheitlichenden Sinn und Zweck dient, keiner Richtung folgt und kein Ziel hat, beschwört er ihre Sinnhaftigkeit: „Der Genealoge braucht die Historie, um die Chimäre des Ursprungs zu vertreiben.“268 Und: „Wir brauchen ein Geschichtsbewusstsein, um uns bewusst zu werden, kraft welcher Mechanismen wir zu Gefangenen unserer Geschichte geworden sind.“269 Zweifelsohne spricht Foucault hier von der „wirklichen Geschichte“, die er aufdeckt, denn eine Geschichte, die nicht „wirklich“ ist, kann kaum Gefangene nehmen. Auch wenn er von „dem Europäer“ als „anonymen Mischmenschen“ spricht, der nicht weiß, wer er ist, und der „die Geschichte“ bräuchte, damit sie ihm eine „Identität“ gebe, ist anzunehmen, dass er seine „wirkliche Historie“ meint. Mit der Konzentration auf jene Ereignisse, die eine „Umkehr des Kräfteverhältnisses“ bedeuten, kreiert er eine umgekehrte Teleologie, die an keiner Stelle erörtert wird. Statt dem „Prinzip der Wahrheit“ abzuschwören, sei Foucault damit beschäftigt, Wahrheiten zu produzieren, kritisiert Baudrillard. „In short, Foucault’s discourse is no truer than any other. No, its strength and its seduction are in the analysis which unwinds the subtle meanderings of its object, describing it with a tactile and tactical exactness, where seduction feeds analytical force and where language itself gives birth to the operation

265 | Peter Sloterdijk (1998): „Vorbemerkung“ In: Foucault. Ausgewählt und vorgestellt von Parvu Mazumdar. Diederichs, München. 9-13, 11. 266 | ebd.12. 267 | Foucault zitiert in: Mazumdar; Pravu (1998): „Über Foucault.“ In: Sloterdijk, Peter (Hg.): Foucault. Ausgewählt und vorgestellt von Parvu Mazumdar. Philosophie Jetzt! Diederichs, München. 15-82, 54. 268 | Foucault (1987): 73. 269 | Foucault (1994a): „Das Subjekt und die Macht.“ In: Dreyfus/ Rabinow ob. cit., 241-261, 244.

RABINOW UND LATOUR: WERK UND WERKZEUGE | 135 of new powers. Such also is the operation of myth, right down to the symbolic effectiveness described by Levi-Strauss. Foucault’s is not therefore a discourse of truth but a mythic discourse in the strong sense of the word, and I secretly believe that it has no illusions about the effect of truth it produces. That, by the way is what is missing in those who follow in Foucault’s footsteps and pass right by this mythic arrangement to end up with the truth, nothing but the truth.”270 Die Gefahr als Archäologe/Genealoge in Foucaults Sinne bei der ,Wahrheit und nichts als der Wahrheit’ zu landen, ist in der Tat gegeben, denn erstens muss der Genealoge dem Untersuchungsobjekt, um es als solches zu isolieren, eine Bedeutung zuweisen, zweitens muss sich der Genealoge aus der Zeit herausnehmen, um es von außen betrachten zu können, und drittens ist er gehalten, eine nahtlose Geschichte dessen zu erzählen, was er aufgedeckt hat.271 Obwohl Foucault beteuert, die Genealogie diene dazu, Wahrheiten zu zerstören, kommt sie selbst aber nicht ohne „Wahrheitseffekt“ aus. Dreyfus und Rabinow sprechen von einer „Tendenz, seine eigene Auffassung als eine darzustellen, die Bedeutung hat und Wahrheitsansprüche stellt.“272 Mit Baudrillard ist anzunehmen, dass Foucault keinerlei Illusionen über den „Wahrheitseffekt“ seiner Aussagen hatte. Baudrillards Vermutung, dass Foucaults Anhänger den mythischen Aspekt der Foucaultschen Historiographie umschiffen und direkt bei „der Wahrheit“ und „nichts als der Wahrheit“ landen, lässt sich auf Rabinow ausdehnen. Bei dem Versuch Foucault zu einem rationalen, vernünftigen, aufklärerischen Denker zu machen, gehen jene Aspekte verloren, die Foucaults Zugang so attraktiv und einzigartig machen. Von einer „Tonart“ spricht Mazumdar, der „Tonart eines neuen Diskurses,“ dessen „Rumpf die Wissenschaft und dessen Kopf die Literatur“ sei. Ein Diskurs, der zugleich Tatsachen finde und erfinde, sie arrangiere und als objects trouvés in neuen Diskursen einbette. Dieser foucaultsche Diskurs ist nicht zu domestizieren, seine Kunst nicht in die Form eines Rezepts zu pressen. Auch wenn diese Kunst, wie in der Kritik Sartres anklingt, eher mit der Zauberlaterne betört statt mit großem Kino aufzuwarten: „Was Foucault uns bietet, ist […] eine Geologie: die Reihe sukzessiver Schichten, die unseren ‚Boden’ bilden. Jede dieser Schichten definiert die Bedingungen der Möglichkeit einer bestimmten Denkweise, die im Laufe einer bestimmten Periode triumphiert hat. Aber Foucault erklärt uns nicht, was ja das Interessanteste wäre: nämlich wie jedes Denken von diesen Bedingungen aus strukturiert wird und wie die Menschen von einem Denken zum anderen übergehen. Dazu müsste er die Praxis ins Spiel bringen, also die Geschichte, und eben das lehnt er ab. Seine Perspektive bleibt zwar historisch. Er unterscheidet

270 | Jean Baudrillard (1987); „Forget Foucault“. Semiotext(e), New York. 10. 271 | Dreyfus/Rabinow, ebd. 121f. 272 | Jean Bauldrillard, ebd. 9.

136 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ zwischen Epochen, eine vorher und eine nachher. Aber er ersetzt das Kino durch die laterna magica, die Bewegung durch eine Abfolge von Unbewegtheiten.“273 Foucault weist diese Kritik mit dem Hinweis auf seine Absage an Kontinuitäten zurück, jedoch bleibt die Frage des „Bodens“ offen. Die Schichten (auch wenn sie nicht als Epochen gefasst werden) bilden als Bedingung der Möglichkeit einer bestimmten Denkweise, den transzendentalen Grund des Foucaultschen Geschichtsverständnisses, der seine Aporetik ausmacht. Auch nachdem Foucault nicht mehr von Epochen spricht, gibt es einen Grund, auf den die Ereignisse zurückgeführt werden können. Einen Grund, der selbst der Historisierung entzogen bleibt und die Bedingung der Möglichkeit für Foucaults Archäologie und Genealogie darstellt. Aus der Warte seiner irreduktionistischen Philosophie erscheint Latour der Zugang Foucaults als „mit Kant befrachtet“.274 Bei Foucault sind die Èpisteme jene grundlegenden Strukturen, auf die die Phänomene reduziert werden können. Was bei Kant die Vernunft ist, sind bei Foucault die Èpisteme. Auch Foucaults Abwendung von den Epochen ändert nichts an der Kantschen „Befrachtung“ seines Geschichtsbildes. Selbst dort, wo die Formen kleiner und beweglicher werden wie auch in Rabinows Assemblagen, bleiben sie als grundlegende Muster, als Bedingungen der Möglichkeit, Archäologie und Genealogie zu betreiben, problematisch. Obwohl Rabinow Foucault mit einem wohlwollenden Gestus in Kants Nähe rückt, wird sich Foucaults Aporetik nicht durch weit reichende Zugeständnisse an die Vernunft auflösen lassen. Foucault lässt sich nicht zur Vernunft bringen. Zum Glück.

Das Zeitgenössische Foucaults „Geschichte der Gegenwart“ zeichne sich durch eine „eindeutige und unverhohlene Gegenwartsorientierung“ aus, schreiben Dreyfus und Rabinow. Foucaults Ansatz beginne in „expliziter und selbstreflektierter Weise mit der Diagnose der gegenwärtigen Situation.“ Ausgehend von „akuten Anzeichen“ - etwa eines minutiösen Machtrituals oder einer politischen Körpertechnologie - versuche er zu zeigen, wo diese aufgekommen seien, Gestalt angenommen und Bedeutung erlangt haben.275 Caduff und Rees bemerken, 273 | Sartre zitiert in: Pravu Mazumdar (1998): „Über Foucault.“ In: Sloterdijk, Peter (Hg.): Foucault. Ausgewählt und vorgestellt von Parvu Mazumdar. Philosophie Jetzt! Diederichs, München. 50. 274 | Bruno Latour (1998): „For Bloor and Beyond - a reply to David Bloor’s ‚Anti-Latour.’“ Erschienen in: Studies in History & Philosophy of Science. http://www.bruno-Latour.fr/poparticles/poparticle/p075.html. 3. 275 | Dreyfus/Rabinow (1994). 148.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 137 dass Foucaults Genealogien trotz des Titels Geschichte der Gegenwart „nur selten“ in die „unmittelbare Gegenwart“ hinein gereicht hätten. Foucault ließe seine Analysen in der Vergangenheit enden, und zwar dort, wo er glaube, sich das Dispositiv, in dem wir jetzt leben, formiert habe. Rabinow, schreiben seine Übersetzer, würde seine Anthropologie des Zeitgenössischen vom genealogischen „auf die Vergangenheit gerichteten und die Gegenwart nur andeutenden“ Vorhaben abgrenzen.276 Der „Fokus auf das Zeitgenössische“ weise auf „ein anderes Forschungsfeld hin“ und bedürfe eines anderen methodischen Zugriffs.277 Rabinow selbst sagt, es gelte, sich von der „Geschichte der Gegenwart“ abzuwenden und der „Diagnose der ‚unmittelbaren Vergangenheit und nahen Zukunft’“ zu widmen. Dieser Herausforderung hätten sich Anthropologen heute zu stellen.278 Es gelte Mittel zu finden, die es ermöglichen, nahe an diversen currenten Praktiken (im Feld des Wissens, der Ethik und der Politik) zu bleiben. Es müsse eine Haltung der Einsicht und Nähe zu diesen Praktiken eingenommen werden, um gegenwärtige Probleme und Risiken präziser und besser formulieren zu können: „An anthropology of the contemporary thus faces the challenge of finding a means to remain close to diverse current practices producing knowledge, ethics, and politics, while adopting an attitude of discernment and adjacency in regard to them, thereby providing a space for a more precise and better formulation of contemporary problems and risks.“279 In seinem 2008 erschienenem Buch Marking Time unterscheidet Rabinow zwei Bedeutungen des Wortes „contemporary“ („zeitgenössisch“, „gegenwärtig“).280 Die erste beziehe sich auf den Aspekt der Gleichzeitigkeit: „’existing or occuring at, or dating from, the same period of time as something or somebody else.’“281 Als Beispiel nennt er die Zeitgenossenschaft von Cicero und Caesar und Thelonious Monk und John Coltrane. Diese erste Bedeutung der Zeitgenossenschaft habe lediglich eine zeitliche („temporal“) jedoch keine historische („historical“) Konnotation. Die zweite Bedeutung des Wortes beziehe sich auf einen der Moderne zuzuordnenden Stil: „’distinctively modern in style’ as in ‚a variety of favorite contemporary styles.“282 Sie habe eine „kuriose“ („curious“) historische Konnotation. Einerseits könne das Gegenwärtige als das Moderne gelten, und andererseits könne das Gegenwärtige vom Modernen als

276 277 278 279 280 281 282

| Caduff/Rees (2004), 24f. | Caduff/Rees (2004). 28. | Rabinow (2004). 130. | Rabinow (2008). 29. | Ebd. 1f. | Ebd. | Ebd.

138 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ verschieden aufgefasst werden.283 Letzteres ist für Rabinows Projekt zentral. Jene zeitlichen Markierungen, die auf ein jenseits der Moderne als historischer Formation hinweisen. In diesem Sinne erscheint das Gegenwärtige bei Rabinow als ‚bewegliches Verhältnis‘: „The contemporary is a moving ratio of modernity, moving through the recent past and near future in a (nonlinear) space that gauges modernity as an ethos already becoming historical.“284 Diese Aufteilung des Kontemporären in zwei unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche ist analog zu Rabinows Zweiteilung der Ereignisse. Ereignisse, wie oben erwähnt, die sich ‚nur ereignen’, nichts Neues zu generieren in der Lage sind, reihen sich dann lediglich „temporal“, nicht in der Lage zur Geschichte zu werden, nebeneinander wie Zeitgenossen, die der pure Zufall gleichzeitig in die Welt geworfen hat. Die bedeutungsvollen Ereignisse, die ‚Geschichte’ zu machen in der Lage sind, sind jene, die den Gegenstandsbereich der Anthropologie des Zeitgenössischen bei Rabinow ausmachen sollen. Dieses Bild des doppelten Ereignisses, des zweifachen Kontemporären ist problematisch. An keiner Stelle findet sich bei Rabinow eine Erörterung, wie sich das Ereignis erster Form und das dazugehörige Zeitgenössische zum Zeitgenössischen und Ereignis zweiter Art verhalten. Laufen Erstere als bewegte Kulisse oder Hintergrundfilm, während sich vorne das ‚wirklich’ Zeitgenössische abspielt? Diese Frage bleibt bei Rabinow offen, denn für ihn ist nur das ‚wirklich’ Zeitgenössische der Rede wert.

Problematisierungen In Was ist Anthropologie beschreibt Rabinow das ‚wirklich’ Zeitgenössische im Kontext von Foucaults Problematisierungen. „Historische Ereignisse“ ließen sich „in begrifflich und praktische Probleme verwandeln“, schreibt Rabinow und zitiert Foucault, der darauf hinweist, dass ein „Handlungsbereich oder ein Verhalten“ erst dann zum „Gegenstand des Nachdenkens“ werden kann, wenn „eine gewisse Zahl von Faktoren dieses Verhalten oder diesen Handlungsbereich haben unsicher werden lassen.“285 Erst wenn „fraglose Gegebenheiten“286 zu Problematisierungen werden, werden sie also der Reflektion und der Sphäre der ‚wirklichen’ Geschichte bzw. des ‚wirklichen’ Zeitgenössischen zugänglich. An gleicher Stelle zitiert Rabinow Foucault erneut:

283 | Ebd. 2. 284 | Ebd. 285 | Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie. Hg. und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 61. 286 | Ebd.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 139 „Angesichts einer Reihe von Schwierigkeiten lassen sich verschiedene Antworten geben. Und meistens geschieht das auch. Was es zu verstehen gilt, ist, was diese unterschiedlichen Antworten zugleich möglich macht […] Dieses Auffassen einer Gegebenheit als Frage, die Umwandlung einer Reihe von Hindernissen und Schwierigkeiten in ein Problem, auf das sich unterschiedliche Lösungsvorschläge als Antwort vorschlagen lassen, macht den entscheidenden Punkt der Problematisierung und der spezifischen Arbeit des Denkens aus.“287 Eine Problematisierung ließe sich „als eine Art historische und soziale Situation begreifen,“ schreibt Rabinow. Sie sei „durchtränkt“ vom „relationalen Spiel von wahr und falsch“ und „von Machtbeziehungen gesättigt“.288 Was Foucault mit den Problematisierungen zu fassen suche, ließe sich als eine Situation begreifen, die weder „bloß das Produkt sozialer und historischer Konstruktion“ sei noch „Zielscheibe einer Dekonstruktion“.289 Problematisierungen würden auf einen „Raum bedingter Kontingenz“ verweisen, der in Bezug auf eine Situation entstünde, die „sich durchaus als real erweist, dennoch aber nicht fix oder statisch ist.“290 Dieser Raum werde von „zueinander in Beziehung stehenden Vektoren“, wie u.a. „ökonomischen Bedingungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Akteuren“ konstituiert.291 Wie sich die Anthropologie des Zeitgenössischen zu den Problematisierungen verhält, wird bei Rabinow widersprüchlich dargestellt. Einerseits erscheinen sie grundlegend und wichtig, und andererseits fallen sie aus dem Gegenstandsbereich der Anthropologie des Zeitgenössischen heraus. Unter der Überschrift „Anthropologie des Aktuellen“ heißt es bei Rabinow: „Ich habe meine Forschungen als ‚Anthropologie des Zeitgenössischen’, als ‚Anthropologie des Aktuellen’ sowie als ‚Anthropologie der jüngsten Vergangenheit und der nahen Zukunft’ bezeichnet. Die wesentlichen Erkenntnisgegenstände dieser Forschungen (Problematisierungen, Dispositive, Assemblages) bewegen sich in unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen. Den Problematisierungen kommt der weiteste Horizont – im Sinne ihrer vielfältigen und unterschiedlichen Bereiche – zu. Sie sind am beständigsten. Problematisierungen gehen aus einer umfangreichen Ansammlung konvergierender, ökonomischer, diskursiver, politischer, umweltbedingter usw. Elemente hervor. Solch ein Hervorgehen ist ein Ereignis. Die griechische Problematisierung der Lüste und der Freiheit etwa oder die neuzeitliche Problematisierung von Leben und

287 | Foucault zitiert in ebd. 62. 288 | Rabinow (2004). 41. 289 | Ebd. 290 | Ebd. 291 | Paul Rabinow (2004a): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Übersetzt und Herausgegeben von Caduff, C.; Rees, T. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 41.

140 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Regierbarkeit überdauerten Jahrhunderte. Ihr In-Erscheinung-Treten sowie ihre Artikulation sind ein lange währendes Ereignis, das selbst Ereignisse anderer Größenverhältnisse wiederum in Bewegung setzt.“292 In einem Interview schreibt Rabinow, er glaube nicht, dass „wir sehr viel über Problematisierungen wissen.“ Es sei „durchaus möglich“, dass sich gerade eine neue Problematisierung entfalte, es könne aber auch sein, dass sich eine alte Problematisierung im Wandel befände. Die Aufgabe bestünde jedoch darin, die „Elemente zu identifizieren und gründlicher darüber nachzudenken, als wir dies heute tun“.293 „Ganz grundsätzlich“, sagt Rabinow, stünden „Biomacht“ und „Biopolitik“ heute im Zentrum294, wobei der Begriff der „Biomacht“ erst noch erforscht und erarbeitet werden müsse.295 Auf die Frage von Carlo Caduff und Tobias Rees, ob es denn überhaupt möglich sei, eine Anthropologie der Problematisierungen zu betreiben, da ihre Identifikation eine langfristige historische Perspektive voraussetze, antwortet Rabinow, Anthropologen verfügten nicht über das „richtige Rüstzeug“, um sich den Problematisierungen zu widmen.296 Für die Problematisierungen sind bei Rabinow die Philosophen zuständig. Der „Blick aus der Ferne“,297 den, wie Rabinow an anderer Stelle erwähnt, Foucault von Nietzsche übernahm, ist den Anthropologen nicht vergönnt. Hier haben wir es mit zwei wohlbekannten Topoi zu tun. Mit der Abgeschiedenheit der Philosophenkammer und dem Exotismus der Anthropologie mit ihrem Dilemma, weg zu müssen, um dabei sein zu dürfen. In den Begriffen Latours kommen hier die Merkmale eines ancien régime, einer Alten Verfassung zum Tragen, deren Gründungsmythos das Höhlengleichnis ist.298 Zentrales Element dieser Verfassung ist eine Aufteilung des öffentlichen Lebens in zwei Kammern. Die erste entspricht Platons unterirdischer Höhle. Hier sind die Menschen von Kindheit an so festgebunden, dass sie weder ihre Köpfe noch ihre Körper bewegen können und so nur auf die ihnen gegenüber liegende Höhlenwand blicken können. Zwischen ihnen und einem Feuer, das hinter ihnen brennt, werden Gegenstände vorbei getragen. Ihre Schatten zeigen sich an der Höhlenwand. Sprechen die Träger der Gegenstände, hallt es von der Gegenwand zurück, als sprächen die Gegenstände selbst. In der Höhle werden Schatten gedeutet und benannt, als handele es

292 | Ebd. 71. 293 | Rabinow (2004a). 58. 294 | Ebd. 57. 295 | Ebd. 58. 296 | Rabinow (2004a). 58. 297 | Ebd. 74. 298 | Bruno Latour (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 22f.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 141 sich um die wahre Welt. Die aber befindet sich im Höhlengleichnis in der Sonne außerhalb der Höhle. Diese zweite Kammer ist frei von Menschen und ihren Streitigkeiten; eine Welt nicht-menschlicher Entitäten, die die Vorstellungskraft der Menschen übersteigt. In der ersten Kammer sitzen die sprechenden Menschen verstrickt in Fiktionen, in der zweiten Kammer die sprachlose wahre Welt. Will der Philosoph/Wissenschaftler die Wahrheit schauen, so muss er sich der Welt des Sozialen dort unten entreißen. Obwohl sich der Himmel der Ideen und die Hölle des Sozialen nach diesem Schema absolut und nicht nur relativ von einander unterscheiden, schafft die heroische Figur des Philosophen/ Wissenschaftlers es nicht nur aus der Höhle hinaus, sondern auch, bewaffnet mit der höheren Erkenntnis, wieder in die Höhle hinein, um die jeglicher Realität beraubten Menschen dort unten zu belehren. Diese auserwählten Experten, schreibt Latour, seien mit der „fabelhaftesten je erfundenen politischen Fähigkeit“ gerüstet: Sie seien in der Lage, „die stumme Welt zum Sprechen zu bringen, die Wahrheit zu sagen, ohne dass darüber diskutiert zu werden bräuchte.“299 Sie könnten „endlose Debatten durch eine unbestreitbare Form von Autorität […] beenden, die sich von den Dingen selbst herleitet.“300 Der Höhlenmythos begründe eine „einäugige“ politische Philosophie, mit der eine Infokusnahme der Verbindungen zwischen Gesellschaft und Wissenschaft nicht möglich sei. Politik habe sich nach der Macht der Dinge zu richten. Unfähig „vernünftig, moralisch und wissend“ zu werden, sei die soziale Welt nach diesem Schema auf ihre Rettung durch „die Wissenschaft“ angewiesen. All dies käme einer „Erniedrigung der Politik“ gleich, die Latour in seinem komplexen Projekt zu revidieren sucht.301 Um Politik in Latours Sinne zu ermöglichen, ist es zunächst nötig, „die Höhle zu verlassen“, oder besser noch, wie er zu bedenken gibt, gar nicht erst in sie hinein zu geraten.302 Bei Rabinow erblickt der Philosoph das Licht außerhalb der Höhle während sich der Anthropologe unten bei den Menschen tummelt. Wahrscheinlich ist er einer der Schattenmacher. Empirie und Metaphysik haben in diesem Modell nichts miteinander zu tun. In Latours experimenteller Metaphysik ist dies anders, sie ermöglicht ein Dabeisein im Sinne eines gleichzeitigen Handelns sowohl beim Philosophieren als auch in den Laboren, in den Büros der Ingenieure oder in den Räumen einer Kunstschule. Sie macht dem Exotismus der Ferne den Garaus und gibt der Anthropologie eine neue Chance.

299 300 301 302

| Ebd. 27. | Ebd. | Ebd. 25. | Ebd. 30.

142 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“

Assemblage In Rabinows Verständnis sind Anthropologen nicht für Problematisierungen, wohl aber für Assemblagen zuständig. Den Begriff, schreibt Rabinow, habe er von Deleuze übernommen, um ihn in Making PCR als „Forschungswerkzeug“ einzusetzen. Dabei merkt er an, dass Deleuzes Begriffe „allerdings immer schwierig“ seien, wolle man „eine empirische Arbeit in Angriff nehmen.“303 Der Begriff der Assemblagen bei Rabinow bleibt ebenfalls schwierig und ist kaum als „begriffliches Werkzeug“ zu identifizieren. In Making PCR erörtert Rabinow seine Vorgehensweise in zwei Absätzen, und der Begriff der Assemblage kommt dort nicht vor. Making PCR erscheint als lineare Geschichte einer Firma (Cetus Cooperation) gesprenkelt mit Interviews von Managern und Wissenschaftlern, die u.a. dazu angehalten werden, ihre gegenwärtige berufliche Position und Haltung zu ihrer Arbeit aus ihrem Werdegang heraus zu schildern, über etwaiges politisches Engagement zu sprechen und die Verbindung ihres Lebens ‚außerhalb’ der Wissenschaft zum Leben ‚innerhalb’ der ‚Wissensarbeit’ herzustellen. Ebenfalls linear erzählt wird dort die Entstehung der Polymerasen-Kettenreaktion (PCR) von Kary Mullis erster Idee bis zur Entwicklung einer verlässlichen Methode zur Vervielfältigung von DNA-Abschnitten. Im Unterschied zu French Modern, in dem Foucaults genealogische Vorgehensweise deutliche Spuren hinterlässt, wird bei der Lektüre von Making PCR nicht deutlich, welche ‚Wissensarbeit’, welche immense philosophische, soziologische und anthropologische Methodenreflektion ihr voraus gegangen sind. Als bedürfe Making PCR der Rechtfertigung, bemerken Caduff und Rees, dass das Ereignis der ‚Geburt’ der PCR selbst als Assemblage, als Form des Zeitgenössischen, gesehen werden könne. Wie die Assemblagen auch weise die PCR „über sich selbst hinaus“.304 Sie sei mehr als die „Möglichkeiten ihrer Anwendung“.305 PCR sei „weniger ein Ereignis, das eine neue Form notwendig“ mache, wie dies die Cholera Epidemie in French Modern getan habe, als ein „fortwährendes Ereignis einer im Werden begriffenen Form.“306 Der Gegenstand selbst wird hier als „Ausdruck“ des von Rabinow geschilderten „pragmatischen, der Gegenwart offen zugewandten (modernen amerikanischen) Ethos“ beschrieben.307 An dieser Stelle lesen sich Caduff und Rees so, als bemühten sie sich um eine Rechtfertigung, warum in Making PCR ‚nur’ ein Ereignis beschrieben wird und keine „Formen“ vorkommen. Hier erklärt der Gegenstand PCR scheinbar aus 303 304 305 306 307

| Rabinow (2004a). 58. | Caduff/Rees (2004). 22. | Ebd. | Ebd. | Ebd.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 143 sich selbst heraus nicht nur die Tatsache, dass er untersucht wird, sondern auch die Art der Untersuchung. Hier stellt sich die Frage, warum es der Rechtfertigung bedarf, dass in Making PCR keine „Formen“ (außer der, die das Ereignis der Entstehung von PCR angeblich selbst verkörpert) vorkommen. Es scheint so, als stünde Rabinows Interesse an den „Formen“ in Verbindung mit dem Aspekt der Verallgemeinerbarkeit. Im Schlussteil zu Making PCR schreibt er, er könne nicht sagen, wie „typisch“ das, was er beschreibe, sei. Er könne nicht sagen, wie viele Männer, wie die von ihm interviewten White und Mullis, es „dort draußen“ gebe. Sein Argument habe nichts mit Nummern zu tun, heißt es dort, als sehe er sich genötigt, seine ‚dichte’ Beschreibung der ‚Geburt’ der PCR als singulärem Ereignis schon im Vorfeld vor jenen Kritikern zu verteidigen, die singuläre Ereignisse nur als Repräsentanten historischer Formationen für untersuchungswürdig halten. Hier zeigt sich Rabinows Anspruch an die eigene Arbeit. In French DNA, seiner 1999 Making PCR folgenden Studie, geht es dann um das „Zusammenspiel von Form und Ereignis“,308 das er mit Hilfe seiner Assemblage als methodischen Zugriff auf das Zeitgenössische fassen will. Unter der Überschrift „Gegenstand: Formen/Ereignisse“ („Object: Forms/ Events“) beschreibt er sein Projekt wie folgt: „French DNA is not about Culture in the sense that Clifford Geertz, Marshall Sahlins, or Claude Lévi-Strauss have so brilliantly developed it. Nor is it about Society as Pierre Bourdieu or Anthony Giddens or Jürgen Habermas have so profoundly theorized it. French DNA contains no totalities, formal systems, encompassing fields, epochs, worldviews, universal subjects. Nor does it even contain Theory in the traditional sense of the term that would make the empirical material into a case study, an example, a testing ground. It is not about Globalization or Postmodernity or the Background Practices. So what is it about? In order to begin to answer that question, I turn (again) to the work of Michel Foucault: ‚It is easily believed that a culture is more attached to its values than its forms. The latter, it seems, can be readily modified, abandoned, reworked: only meaning is profoundly anchored. […].’ Foucault was discussing avant-garde music, but the distinction is illuminating as well for the story at hand. The form created in the United States called (somewhat imprecisely) the biotechnology industry has aroused a riptide of affect in France that goes well beyond Niezsche’s diagnosis of ressentiment and the will to ‚spiritual revenge’ […] The reaction is linked to a combat of forms. As an ethnographer, who had accepted [the] challenge to be a ‚philosophic observer,’ my task was to identify the crystallization of value judgments around new forms […]“309 Dort geht es also um zwei unterschiedliche Reaktionen auf eine neue „Form“ (hier betitelt „biotechnology industry“), die sich - wiederum gefasst als Formen - gegenseitig bekämpfen („to combat“). Zunächst zur ersten Form: Die „Biotechnologie Industrie“ ist für Rabinow ein Ausdruck einer zeitgenössischen 308 | Ebd. 23. 309 | Rabinow (1999). 175.

144 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ „Form“, und damit trägt sie die Merkmale einer Assemblage und lässt sich auch in diesem Modus untersuchen. Sie mischt Altes und Neues auf eine noch nicht dagewesene Art, und was aus ihr wird, bleibt offen. Sie geht aus einer relativ stabilen Formation hervor, deren Beginn Rabinow nach dem ersten Weltkrieg ansetzt und die für die „westlichen Länder“ eine Ordnung etabliert habe, die „Körper, Gesellschaft und Ethik“ und ihre Beziehungen untereinander geregelt habe. Heute würden die Zusammensetzungen (Assemblagen) dieser alten Ordnung disaggregiert und sich neu und anders zusammenfügen. Die „Biotechnologie Industrie“ ist bei Rabinow ein Agent dieser neuen sich gerade formierenden Assemblage. Kennzeichnend für sie ist auch eine Neuverteilung der Regulationsaufgaben, die bisher unter staatlicher Kontrolle waren. Die „Biotechnologie Industrie“ ist für Rabinow stellvertretend für einen Wandel der Formen der Wissensgenerierung in Bezug auf den Körper und das Leben, die mit dem großen kommerziellen Engagement in der „Biotechnologie Industrie“ zunehmend mehr außerhalb staatlicher Institutionen organisiert wird. Der Gegenstand von French DNA ist die kommerzielle Zusammenarbeit zwischen einem amerikanischem Biotechnologie-Unternehmen (Millenium Pharmaceuticals, Inc.) und dem größten französischen Genforschungsinstitut, dem Centre d’Etude du Polymorphisme Humain, das partiell vom Staat finanziert mit der Patientenorganisation AFM (Association Francaise Contre les Myopathies310) zusammenarbeitete. Ihr stand ein großer Pool von Blutproben zur Verfügung: „French DNA“. Ziel der Zusammenarbeit der Unternehmen war die Identifizierung der für Diabetes zuständigen Gene und die Entwicklung einer genetischen Therapie mit Hilfe eines oralen Antidiabetikums. Über die für das amerikanische Unternehmen zentrale Frage der Patentierung der identifizierten Gene entstand ein Disput, der das Projekt scheitern ließ. Rabinow erklärt dieses Scheitern mit einen Kampf („combat“) zweier Formen, nämlich einer französischen und einer amerikanischen, die er als typische „Reaktionen“ im Sinne von Werturteilen („value judgements“) auf die „neue Form“ der „Biotechnologie Industrie“ auslegt.311 Obwohl er sich von Kultur als Kategorie abwendet, kreiert er hier nationale Wissenschafts/Industrie-Kulturen, die sich klar von einander abgrenzen.312 Die Franzosen sind dabei pathetisch, sie spiritualisieren genetisches Material und schreiben ihm eine Nationalität zu.313 Sie wollen alles im voraus planen mit strikt zugeteilten Rollen, sind misstrauisch, pessimistisch und kulturell geprägt,

310 | Einer Patientenorganisation, die durch mehrere „Généthon“ (mit Hilfe des staatlichen Fernsehens organisierten Spendenaktion) zu einer reichen und mächtigen Lobbygruppe aufgestiegen war. 311 | Rabinow, ob cit. 312 | Vgl. z.B. „distinctively French forms“, ebd. 81. 313 | Ebd. 125f.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 145 schlecht über andere zu reden.314 Die Amerikaner sind dagegen bei Rabinow die progressiven Macher. Sie sind vernünftig, rational, grundlegend ehrlich und vertrauenswürdig.315 Sie begreifen DNA als einfache Matrix und gehorchen den Gesetzen rationalen Handelns, nach denen sie auch ihre Ergebnisse patentieren lassen müssen, damit sie weiter forschen können für das Wohl der Menschheit. Alles an ihnen erscheint bei Rabinow ‚cool’, selbst wie sie angezogen sind, was Rabinow an einer Stelle en détail beschreibt. Auch hier kommt der französische Mitarbeiter denkbar schlecht weg. Er habe hervorgehoben, schreibt Rabinow, von seiner Frau angezogen worden zu sein, und das Plastikteil, an dem der Preis befestigt war, habe aus seinem Hemd geragt.316 Der ‚Kampf’ zwischen Franzosen und Amerikanern, den Rabinow hier inszeniert, erscheint als Ansammlung von Ressentiments gegen ‚die Franzosen’, verpackt in pseudo-foucaultsche Erklärungen typisch französischen Verhaltens. Typisch amerikanisches Verhalten wird dort nicht mit ‚historischen Erklärungen’ versehen. Die an dieser Stelle beschriebenen Formen, nämlich des „Französischen Pathos“ und des „Amerikanischen Ethos“ scheinen wenig geeignet, um an ihnen das Funktionieren des begrifflichen Werkzeugs, der Assemblage abzulesen. Was also ist eine Assemblage? „Meine jüngsten Forschungen bezogen sich primär auf Assemblages. Assemblages sind sekundäre Matrizen, aus denen heraus sich Dispositive zu entwickeln vermögen, die sich alsdann stabilisieren oder transformieren. Zu Problematisierungen stehen Assemblages in einem Abhängigkeitsverhältnis kontingenter Art. Was die Größenverhältnisse angeht, liegen sie zwischen Problematisierungen und Dispositiven; in ihrem Funktionsmodus unterscheiden sie sich von beiden. Es handelt sich um einen spezifischen Typus einer experimentellen Matrix, die sich aus heterogenen Elementen, Techniken und Begriffen zusammenfügt. Assemblages sind noch keine experimentellen Systeme, mittels welcher sich Variationen kontrolliert generieren, messen und beobachten lassen. Sie sind vergleichsweise liquide und überquellend, und ihre Halbwertzeit beläuft sich eher auf Jahre oder Jahrzehnte denn auf Jahrhunderte. Folglich ist die Zeitlichkeit von Assemblages qualitativ verschieden, sowohl von jener der Problematisierungen als auch von jener der Dispositive.“317 Hier erscheinen die Assemblagen nicht als formative Eigenschaften zeitgenössischer Ereignisse oder als „Politik des Kontemporären“,318 sondern als makrosoziologische Dimension, die die mikrosoziologische Konzentration auf das einzelne Ereignis rechtfertigt. In Latours ereignisphilosophischen Ansatz

314 | Rabinow zufolge gibt es eine französische Tradition der délation, der Denunzierung, ebd. 141. 315 | Vgl. S. 119 316 | Vgl. S. 121 317 | Rabinow, Paul (2004): Was ist Anthropologie. Herausgegeben und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 72. 318 | Vgl. Rabinow (1999). 11.

146 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ bedarf es einer solchen Rechtfertigung nicht. Im Gegenteil macht es bei ihm keinen Sinn, Formen von Ereignissen zu trennen: „There is never much sense in distinguishing the individual and the context, the limited point of view and the unlimited panorama, the perspective and that which is seen to have no perspective.“319 Oder an anderer Stelle: „Structure slides along its narrow sheath of traces.“320 Diesen Spuren gilt es bei Latour zu folgen, den Verbindungslinien zwischen Akteuren, ohne von einem Ereignis zu einer Form zu springen. Die Sprünge von Mikrobeobachtungen zum macrosoziologischen Kontext sind für ihn zu einfach, zu ‚billig’. Denn bei Latour gilt es, den ‚Preis zu zahlen’ und en détail zu zeigen, mit welchen Verbindungen, welchen Handlungen, welchen Übersetzungen ‚Micorakteure’ ihre Welt ‚macrostrukturieren‘.321 In seiner Einführung zur Akteur-Netzwerk-Theorie gibt er den Rat, dass, wenn jemand von einem „System“, einem „Globalen Merkmal“, einer „Struktur“, einer „Gesellschaft“, einem „Imperium“, einer „Weltökonomie“, einer „Organisation“ spricht, zu fragen, „in welchem Gebäude?“ „In welchem Büro?“ „Durch welchen Korridor ist es erreichbar?“ „Welchen Kollegen wurde es vorgelesen?“ „Wie wurde es zusammengestellt?“322 Kein Akteur sei kleiner oder größer als ein anderer, außer durch die Anzahl seiner Verknüpfungen. Diese seien aber gerade Gegenstand der Untersuchung. Sie vorher als gegeben vorauszusetzen bedeute, von Kräfteverhältnissen und Machtbeziehungen auszugehen, die es erst zu untersuchen gelte. Sie vonvornherein vorauszusetzen, käme einer Affirmation von Machtverhältnissen gleich. Bereits 1981 schreiben er und Michel Callon: „There are of course macro-actors and micro-actors, but the difference between them is brought about by power relations and the constructions of networks that will elude analysis if we presume a priori that macroactors are bigger than or superior to micro-actors. These power relations and translation processes reappear more clearly if we follow Hobbes in his strange assumption that all actors are isomorphic. Isomorphic does not mean that all actors have the same size but that a priori there is no way to decide the size since it is the consequence of a long struggle. The best way to understand this is to consider actors as networks. Two

319 | Bruno Latour (1998b): Paris ville invisible. Les Empêcheurs de penser en rond & La Découverte (avec Emilie Hermant). 11. 320 | Ebd. 321 | Vgl: Michel Callon, Bruno Laotur (1981): „Unscrewing the big Leviathan: how actors macro-structure reality and how sociologists help them to do so.“ In: Knorr-Cetina, K.; Cicourel, A.V.: Advances in social theory and methodology. Toward an integration of micro- and macro-sociologies. Routledge, London. 277-304. 322 | Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press, Oxford. 183.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 147 networks may have the same shape although one is almost limited to a point and the other extends all over the country, exactly like the sovereign can be one among the others and the personification of all the others […] The latter is ‚merely a man’, the former is, as we say, a ‚great man’. Too often sociologists – just like politicians or the man in the street – change their framework of analysis depending on whether they are tackling a macro-actor or a micro-actor, the Leviathan or a social interaction, the culture or individual roles. By changing the framework of analysis while this is under way they confirm the power relations, giving aid to the winner and giving the losers the ‚vae victis.’”323 Rabinows Behauptung, die „Biotechnologie-Industrie“ sei eine „Form“ (Assemblage), die Aspekte einer alten Ordnung aufgreift und in neue Beziehungen setzt, kommt in diesem Verständnis einer Reifikation der „Biotechnologie-Industrie“ gleich, die ihre Macht als gegeben voraussetzt, statt zu untersuchen, wo und wie sich gegebenenfalls Kräfteverhältnisse zeigen, die vermögen, eine solche Form zum Vorschein zu bringen. Dadurch, dass Rabinow die „Biotechnologie-Industrie“ als „zeitgenössische Form“ bereits als gegeben voraussetzt, bleibt dann nur noch die Untersuchung, warum diese „zeitgenössische Form“ in ihrer Artikulation der von Rabinow untersuchten Kooperation zwischen „den Franzosen“ und „Amerikanern“ scheitert. In seiner Inszenierung ist die unvernünftige Kultur der Franzosen Schuld daran, dass eine vernünftige zeitgenössische Form („Biotechnologie-Industrie“) daran gehindert wird, ein Medikament auszuspucken. Durch Rabinows Fokussierung auf Formen bleibt ihm das Zeitgenössische im Sinne Latours als Gegenstand der Forschung verschlossen. Rabinows Setzung der Formen ( „Biotechnologie-Industrie“, „Französisches modernes Pathos“, „Amerikanischer Ethos“) verstellt den Blick für das Ereignis. Statt dem Ereignis dieser Kooperation seine Zeitgenossen zur Seite zu stellen, bemüht Rabinow die Geschichte, um „französisches Verhalten“ zu erklären. Eine neue, womöglich ‚zeitgemäßere’ Form der Sozialforschung, legt er in French DNA nicht vor. Weder die Problematisierungen noch die Assemblagen scheinen sich als begriffliche Werkzeuge zu eignen, um Ereignissen gerecht zu werden. Rabinows über die Moderne hinausweisender Begriff des Zeitgenössischen ist insofern hinderlich, als er zu einer Festlegung von Formen führt, die es erst danach zu verifizieren gilt. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen, für die ich hier geeignete Begriffe zusammensammele, wird sich in Bezug auf den Gegenstandsbereich Geschichte und Gegenwart an Latour orientieren, um nicht in die

323 | Michel Callon, Bruno Latour (1981): „Unscrewing the big Leviathan: how actors macro-structure reality and how sociologists help them to do so.“ In: Knorr-Cetina, K.; Cicourel, A.V.: Advances in social theory and methodology. Toward an integration of micro- and macro-sociologies. Routledge, London. 277-304, 280.

148 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Falle der Formen zu tappen. Dadurch kann die vor dem Hintergrund Latours Zeitverständnisses unsinnige Frage vermieden werden, ob es denn überhaupt im Bereich der Pädagogik Formen gibt, die Rabinows Kriterium des Zeitgenössischen entsprechen, und wer die „Praktiker des Zeitgenössischen“ dann sein könnten.

Indeterministische Geschichte Latours irreduktionistische Heuristik verzichtet auf präexistente Formen als erklärende Faktoren von Handlungen. Das, was es zu erklären gilt, kann nicht auf bereits Erklärtes reduziert werden. Die herkömmliche Soziologie, die Latour „Soziologie des Sozialen“ nennt, verwechsele das Explanandum mit dem Explanans. Gäbe es das Soziale als vorgängige Entität, so bedürfte es keiner Soziologie mehr, die sich bemüht herauszufinden, was soziale Zusammenhänge sind. Es sei tautologisch, Haltbarkeit, Solidität und Trägheit, derer es bedarf, um ein Phänomen als solches erkennen zu können, zurückzuführen auf Haltbarkeit, Solidität und Trägheit der Gesellschaft selbst. Das Soziale würde sich dann aus sich selbst heraus generieren.324 Ein solcher „Tautologieverzicht“325 prägt Latours irreduktionistische Heuristik. Latour betont jedoch, dass es „albern und pedantisch“ sei, ganz auf Kategorien wie „’IBM’, ‘France’, ‘Maori Culture’, ‘Upward Mobility’, ‘Totalitarianism’, ‘Socialization’, ‘lower-middle class’, ‘political context’, ‘social capital downsizing’, ‘social construction’, ‘individual agent’, ‘unconscious drives’, ‘peer pressure’ etc.“ zu verzichten. Wichtig sei ein Verzicht dort, wo sich Innovationen häufen, wo Gruppenzugehörigkeiten unsicher sind, wenn die Bandbreite der Entitäten, die es zu berücksichtigen gilt, fluktuiert, und wenn es um das Nachzeichnen neuer Assoziationen geht.326 Schüttelpelz spricht davon, dass „die Akteur-Netzwerk-Theorie für ihre Wissenschafts-, Technik- und Mediengeschichte die „erste genuin indeterministische Heuristik“ entwickelt habe, die „in ihrer Anwendung den Wunsch einer technikdeterministischen Mediengeschichte aushebelt.“327 Schüttelpelz unterstützt damit Thielmanns These, dass sich Latours Ansatz für den Versuch eines Neudenkens der Medientheorie jenseits „traditioneller Mediendiffusions-

324 | Latour (2005) 67. 325 | Ingo Schulz-Schaeffer (2008): „Technik in heterogener Assoziation. Vier Konzeptionen der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Technik im Werk Latours.“ In: G. Kneer, M. Schroer, E. Schüttelpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 108-149, 108. 326 | Latour (2005). 11. 327 | Schüttelpelz. 239.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 149 modelle“ besonders eignet.328 Vormals „determinierende Faktoren“, schreibt Schüttelpelz, würden als „Übersetzungsfaktoren“ auflösbar und „als Effekt von vorgängigen Verkettungen integrierbar.“329 ANT mache es möglich, Geschichte und Gegenwart gleichermaßen indeterministisch zu behandeln, anstatt von einer determinierten Geschichte und einer „ergebnisoffenen“ und „unterdeterminierten“ Gegenwart auszugehen.330 Latours Konzept des Zeitgenössischen, als das, was gleichzeitig passiert, macht es möglich, nicht nur den aktuellen, sondern auch den vergangenen Ereignissen ihre Zeitgenossen beiseite zu stellen. Die Art der Zeitgenossenschaft ist bei Latour eine radikal andere als bei Rabinow. Bei Latour ist sie ein Instrument der Öffnung, während es bei Rabinow eine Festlegung darstellt. „Retrospektiven“, die an die Skopophilie der alten Philosophenkammer erinnern, gibt es bei Latour nicht. Das was im vierten Kapitel folgt, soll in diesem Sinne weniger als ein ‚Blick zurück’ (außerhalb der platonischen Höhle) auf das tatsächlich Geschehene verstanden werden, sondern als eine elaborierte Konstruktion, die dadurch zeitgenössisch wird, dass sie die Ereignisse in Zeitgenossenschaft zu anderen Ereignissen darstellt und Verknüpfungen und Verbindungen schafft zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Eine Untersuchung, die nicht die Formen als gegeben hernimmt, um dann menschliche Reaktionen auf sie zu konstruieren. In Latours zwanzigseitiger Buchbesprechung zu der von Reviel Netz 2003 veröffentlichten Studie zur Entwicklung der Deduktion in der griechischen Mathematik331 wird deutlich, dass eine Anthropologie des Zeitgenössischen nach Latours Verständnis sowohl ‚geschichtliche’ als auch ‚aktuelle’ Ereignisse zum Gegenstand hat. Durch die genaue Betrachtung „intellektueller Technologien“, wie dem Diagramm und der mathematischen Sprache, beschreibt Netz die Formung („formation“) der Deduktion. Netz liefere keine „soziale Konstruktion der Mathematik“ vor dem ökonomischen Hintergrund des alten Griechenland, schreibt Latour, sondern eine Fülle an Material zu den ko-temporären „intellektuellen Technologien“ („intellectual technologies“),332 wie etwas

328 | Tristan Thielmann (2008): „Der ETAK Navigator. Tour de Latour durch die Mediengeschichte der Autonavigationssysteme.“ In: G. Kneer, M. Schroer, E. Schüttelpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt am Main. 180-218, 180. 329 | Schüttelpelz, 239 330 | Schüttelpelz. 240.. 331 | Bruno Latour (2006): „The Netz-Works of Greek Deductions. A review of Reviel Netz. (2003). The Shaping of Deduction in Greek Mathematics: A Study in Cognitive History.“ Cambridge University Press, Cambridge MA. Published in Social Studies of Science. www.bruno-latour.fr/articles/article/104-NETZSSofS.pdf. 332 | Ebd. 3.

150 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ einem anderen „de-monstriert“ wurde, wie etwas „gezeigt“ wurde, wie etwas „verschriftlicht“ („to letter something“) wurde, wie Zustimmung in Abwesenheit der Adressaten „gewonnen“ werden konnte oder wie eine Überzeugung „geteilt“ werden konnte. Netz liefere eine erstaunliche Fülle an Material über eine verschwundene Praxis. Was erneut beweise, dass Praxis nicht etwas sei, was de visu observiert werde, sondern vielmehr ein „explanatory paradigm“, ein „Erklärungsmuster“, ein „genre“, wie Latour betont, das von „toten Dokumenten“ aus fernen Zeiten genauso viel zu gewinnen vermöge wie aus Beobachtungen vor Ort.333 Die Bedeutungen, die Netz aus Papyrus und Pergament extrahiere, seien so verblüffend, wie die der Paleo-Archäologen, die aus verstreuten Flintstükken in einem Steinbruch den minutiösen Ablauf einer Serie von Handlungen rekonstruieren können, die Menschen ausgeführt haben, über die sie nichts wissen. In beiden Fällen ist eine Fülle an gesammeltem Material notwendig. Latour spricht in diesem Zusammenhang von „Materialismus“.334 Der „Materialismus“ in der Studie von Netz, die Ansammlung der Details, die sich zu einem Bild der „intellektuellen Technologien“ zusammenfügen, verhindert eine „idealistische“ Sichtweise der Deduktion. Wir hätten die Wahl, schreibt Latour an anderer Stelle, zwischen „dünnen Objekten“ („thin objects“) mit idealen Definitionen von der Materie („ideal definition of matter“) oder „dicken Objekten“ („thick objects“) mit materialistischen Definitionen der Materie („material definition of matter“).335 Wir seien in der Lage, „dünne Beschreibungen“ der idealisierten materialistischen Aspekte einer Entität zu liefern, nun gelte es, post hoc narrative dichte Beschreibungen dessen zu liefern, was ein Ding in einer Versammlung (assembly) zusammenbringt.336 Um „Assemblies“ geht es bei Latour, nicht um Assemblagen.

Haltungen und Handlungen – Nominalistische Sensibilität Die Gegenwart, schreibt Rabinow, scheine ein geeigneter Zeitpunkt zu sein, um sich von „totalisierende[n] Kategorien wie Epoche, Zivilisation, Kultur, Gesellschaft“ zu verabschieden. „Zumindest“ sei ein „Zögern, Überprüfen, Innehalten und Nachdenken“ in Anbetracht dieser Kategorien von Nöten. Die

333 334 335 336

| Ebd. | Ebd. 3. | Bruno Latour (2007c): „Can We Get Our Materialism Back, Please?“ In: Isis, 2007, 98: 138-142, 140. | Ebd. 142.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 151 „Science Studies“ hätten dazu beigetragen, neue analytische Kategorien zu entwerfen und zu testen, die sich als „nützlich“ erwiesen hätten, weil sie „das Vermögen, Sachverhalte zu begreifen, nicht nur erweitert, sondern auch erneuert“ hätten. Sie hätten es möglich gemacht, sich auf Dinge zu beziehen, die zuvor nicht hätten benannt werden können und „Wege entdeckt, um auf analytische Pseudo-Entitäten wie ‚Kultur’ oder ‚Wissenschaft’ fortan verzichten zu können.“337 Latours Akteur-Netzwerke lobt er in diesem Zusammenhang.338 Rabinow empfiehlt eine Nominalistische Sensibilität, eine Achtsamkeit gegenüber Kategorien, die er mit einem spezifischen „Modus des Modernismus“ in Zusammenhang bringt: „Sensibilität gegenüber stetem Wandel, eine gewisse Begeisterung für Veränderungen und das innere Bedürfnis, sie begreifen zu wollen und daran teilzuhaben, konstituieren einen Modus des Modernismus. Eine derartige Sensibilität gibt sich den Modus des ungetrübten Bewusstseins, dass sich das Selbstverständliche ändern kann, dass neue Entitäten erscheinen, dass unsere Praxis des Herstellens in engem Zusammenhang mit diesen Entitäten stehen; dass wir sie bezeichnen, dass wir sie gruppieren, dass wir mit ihnen experimentieren können, dass wir unterschiedliche Konturen entdecken, wenn wir Fragen und Techniken in Anschlag bringen.“339 Rabinow fordert, dass dieser Modus sich auch auf die eigene Arbeit beziehen solle. Als Teil eines umfassenden Prozesses der (Selbst-)Bildung plädiert er gegen eine Verabsolutierung eigener Kategorien und für eine beständige Arbeit an den eigenen Begriffen. Die von ihm empfohlene von Marcel Duchamp hergeleitete nominalistische Sensibilität habe nichts mit einer „Ästhetik des Geschmacks“ oder „der Erscheinung des Schönen“ zu tun, sondern sei vielmehr als „Ästhetik der Erfindung neuer Sensibilitäten, neuer Begriffe, neuer Techniken und neuer Ideen der Technik als Antwort auf jene Inkommensurabilitäten“ zu verstehen, „die unsere Praktiken in Frage stellen und unsere Beziehung zu ihnen zu einem Ereignis machen.“340 Rabinow macht klar, dass es ihm nicht um Nominalismus als Aussage über „das Wesen der Dinge“ gehe, nämlich, „es gibt nur partikuläre Dinge in der Welt und keine natürlichen Kategorien“. Vielmehr ist er am Prozess der Bildung einer Haltung interessiert, einer Sensibilität, die „sich selbst im Einklang mit einer Welt zu formen sucht, die als kontingent, gestaltbar und offen erfahren wird“.341 Die Destabilisierung von Kategorien, die Abwendung von herkömmlichen Klassifikationen und Wissenspraktiken ge-

337 338 339 340 341

| Rabinow (2004a). 11. | Ebd. | Rabinow (2004). 86. | Ebd. 86. | Ebd.

152 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ schehe nicht „zum Selbstzweck“, sondern um „mehr zu wissen“.342 Einer „Ethik der Enthüllung der inhärenten Instabilität allen Wissens“ hält Rabinow eine Ethik des Experimentierens entgegen, die in der Verantwortung stünde, Neues in einem Wissensfeld entstehen zu lassen, die sich um „gute Wissenschaft“ bemühe und die auf Objektivität und Wahrheit nicht verzichten könne: „Die Forschungsart, mit der ich mich gegenwärtig beschäftige und die ich zu benennen suche […], bezieht sich auf das Entfalten von Formen als einem Prozess und beansprucht in grundlegender Weise, etwas Wahres wahrzunehmen und auszusagen. Der Prozess, an dem mir gelegen ist, betrifft die Frage, wie „Wissensdinge“ versammelt [assembled] werden.“343 Wie bereits erwähnt, ist das „Entfalten von Formen“ in Rabinows Wissensarbeitsforschung mit gravierenden Problemen behaftet, die der von ihm formulierten, nominalistischen Sensibilität entgegen stehen. Das ‚Assembly‘ von ‚Wissensdingen‘, um das es im vierten Teil dieser Arbeit geht, läßt sich mit der von Rabinow beschriebenen nominalistischen Sensibilität verantwortungsvoller und objektiver beschreiben, wenn auf Rabinows „Formen“ verzichtet wird. Die Begriffe ‚Feldforschung‘ und ‚teilnehmende Beobachtung‘ lehnt Rabinow für seinen Zugriff ab und vermutet, dass beide ihre historische Pflicht erfüllt haben. Weder das ‚Wo‘ noch das ‚Wie‘ seiner Forschungsunternehmungen seien vom Begriff der Feldforschung richtig eingefangen. Das raum-zeitlich begrenzte Feld passe nicht zu den weder räumlich noch zeitlich homogenen Problematisierungen, Assemblagen und Dispositiven. Was die „teilnehmende Beobachtung“ anbetrifft, so sei „hinsichtlich der Beobachtung“ ein „externer Ort“ und ein „Grad der Distanz“ impliziert, der nicht angemessen und in Bezug auf die Teilnahme „irreführend“ sei, lege er doch nahe, „dass man sich in einer Art Nachahmung der Praxis der Einheimischen ergeht.“344 Rabinow wendet sich stattdessen dem deutschen Begriff „Arbeit“ zu, da er den „prozessualen Aspekt“ einfangen würde, der die Bereiche ‚Wissen und Sorge‘, ‚Selbst und Andere‘, ‚Gestalt‘ und „Hintergrund‘ umfasse. Der Begriff „Wissensarbeitsforschung“, den Rabinow vorschlägt, lässt sich letztlich sowohl auf das Objekt empirischer anthropologischer Forschung beziehen als auch auf die Tätigkeit derer, die diese Forschung durchführen.345 Rabinow fasst sein Projekt wie folgt zusammen:

342 343 344 345

| Ebd. 87. | Ebd. 106. | Ebd. | Ebd. 106f.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 153 „Die Anthropologie, die ich praktiziere, hat nicht ethnische Gruppen als primäres Forschungsobjekt. Eher […] richtet sich die Aufmerksamkeit auf eine Reihe unterschiedlicher Objekte: Problematisierungen, Dispositive, Assemblages. Diese Praxis umfasst einen Modus, der das Selbst in seiner Beziehung zu sich, zu anderen und zu Dingen in Bewegung versetzt und derart auch in Frage stellt. Die Herausforderung, die in der Frage nach der Form liegt, besteht darin, diese diversen Aspekte zusammenzufügen. Diese Herausforderung umfasst eine Praxis des Forschens in ihrer experimentellen Spielart. Sie umfasst ebenso jenen Teil der Ethnographie, den ich gerne beibehalten würde: das Schreiben. Der graphos von ethos, logos und pathos konstituiert einen privilegierten Ort der Forschung und des Experimentierens.“346 Sowohl für Rabinow als auch für Latour spielt das Experiment eine zentrale Rolle. Dabei wird es weder verstanden als freie Mischung willkürlicher Entitäten, die mehr oder minder planlosen Abläufen ausgesetzt werden, noch als Serie von Rekombinationen einer feststehenden Zutatenliste. Beim Experimentieren geht es nicht um ein Freisetzen von Potenzen, nicht um die Entdeckung von etwas, was immer schon da gewesen ist. Ein Experiment ist, wie Latour betont, immer mehr als die Summe seiner Bestandteile. Es ist ein Ereignis, bei dem etwas Neues unabhängig von der experimentellen Anordnung entsteht. Ein Experiment bringt einen Akteur hervor, der sein Umfeld verändert und seine Standfestigkeit beweisen muss. Was bei Rabinow die Selbst-Bildung des Wissenschaftlers im Prozess der Wissensarbeitsforschung ist, ist bei Latour Teil der Verwandlung aller involvierten Entitäten, auch der Wissenschaftler. Latour spricht vom Ex-peritus als ‚jemandem‘, der durch das Zutagetreten von etwas verwandelt worden ist.“347 Sowohl Pasteur als auch die Akademie und die Hefe hätten ihr gemeinsames Treffen in einem anderen Zustand wieder verlassen.348 Bringt ein Experiment nichts Neues hervor, oder kann das Hervorgebrachte nicht in ähnlichen oder anderen Konstellationen stabilisiert werden, ist das Experiment gescheitert. Das Scheitern von Experimenten ist (nicht nur) in den Naturwissenschaften an der Tagesordnung. Auch gescheiterte Experimente sind Bestandteil der Wissensfelder und haben Einfluss auf ihre Ereignisse. Im vierten Kapitel dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, im Sinne Rabinows Ethik des Experimentierens und mit einer nominalistischen Sensibilität post hoc eine materialreiche dichte Beschreibung der im Rahmen von sense&cyber entwickelten Hypermedialen Ethnographie zu konstruieren, die mit Glück etwas Neues hervorzubringen vermag.

346 | Ebd. 96. 347 | Latour (2002). 151. 348 | Ebd.

154 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“

Modus der Sezession Dem „Wissensarbeitsforscher“ empfiehlt Rabinow eine Haltung, wie sie die von ihm beschriebenen „Praktiker der Gegenwart“ zeigten. Am Beispiel des Künstlers, Gehrhard Richter, legt er dar, dass die in seinem Sinne ‚wirklich’ zeitgenössischen Akteure alte Elemente zwar auseinander nehmen und neu zusammensetzen, dass dies aber auf eine respektvolle Weise aus einer Nähe heraus geschieht. Mit Hilfe des von ihm beschriebenen „Modus der Sezession“ versucht er diese Haltung auf den Punkt zu bringen. In den Neunzehnhundertzehnerjahren habe in Deutschland und Österreich ein „erfrischend andere(r) Modus stilistischen und institutionellen Wandels“ vorgeherrscht als in Frankreich. Die „Kunstwelt in Paris“ habe im Stile eines eng verknüpften dauernd sich umkreisende(n) synergetischen Paares von zunächst vehementer Ablehnung und anschließender Kanonisierung“ funktioniert. In Paris sei die Idee einer Avantgarde mit einem jähen „Traditionsbruch“ verbunden gewesen, der nötig gewesen sei, um den „Beweis der eigenen Modernität“ zu erbringen und eine eigene, neue Tradition zu begründen. In München, Berlin und Wien habe ein anderer Modus des Wandels geherrscht. Nach dem Sezessionsmodell seien hier die Künstler aus den offiziellen Institutionen ausgestiegen, deren „im Namen der ‚Kunst’ geschlossene(r) Pakt“ ihnen zu starr erschienen sei. Die Sezession, schreibt Rabinow, wirke „innerhalb beziehungsweise parallel zu herrschenden Praktiken und Werten; Beziehungen zwischen Akademie und Avantgarde waren folglich nicht unmöglich, ganz im Gegenteil.“ Dieser Modus des Wandels würde sich durch einen „Respekt für die Tradition“ auszeichnen. Innerhalb dieses Modus wäre es möglich gewesen, „Modernist“ zu sein, „ohne zugleich auf einer tabula rasa bestehen zu müssen“. Man müsse die Vergangenheit nicht verachten, um die „Gegenwart zu erschaffen“ und umgekehrt die Gegenwart nicht verachten, „um sich auf die Vergangenheit in schöpferischer Weise zu beziehen.“349 Diese Haltung schlägt er auch den in Marking Time erstmals auftretenden „observers of the contemporary“ vor: „Once again, observers as well as the practitioners of the contemporary are not principally concerned with „the new“ or with distinguishing themselves form tradition. Rather, they are intrigued by the operations of the distinction modern/contemporary as the clustered elements and stylized configurations of the modern are observed in the process of declusterings, reconfigurations, and different stylizations or made to do so. As I have argued in Anthropos Today, this mode of observation and practice is one of secession rather than of the avant-garde or its presumed opposite, the neoconservative. Secession marks, observes, and stylizes in a recursive manner.“350 349 | Rabinow (2004). 82. 350 | Rabinow (2008). 3.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 155 In einem einundzwanzigseitigen Essay legt Rabinow mit Luhmann dar, dass es heute gelte, die Beobachtenden beim Beobachten zu beobachten.351 Die „Wissensarbeiter“, die er observiert, sind für ihn mit Luhmann Beobachter erster Ordnung. Ihre Hauptaufgabe besteht in „normalen, realistischen Versuchen, einen externen Referenten zu erfassen“ („ordinary realist attempts to grasp a referent“). Die Wissensarbeitsforscher werden so zu Beobachtern zweiter Ordnung, die das System (Beobachter-Umwelt), das von den Beobachtern erster Ordnung etabliert wurde, als ihren Referenten hernehmen und auf diese Art und Weise in der Lage sind, die „blinden Flecken“ der Beobachter erster Ordnung aufzudecken, die durch die „vollkommen legitime Willkür“ („perfectly legitimate arbitrariness“) der von ihnen ausgewählten Kategorien hervorgerufen würden. Auch den Anthropologen des Zeitgenössischen empfiehlt Rabinow den eigenen Beobachtungen - also in seinem Schema Beobachtungen zweiter Ordung - eine Beobachtung zukommen zu lassen. Ein Ansatz, den er in A Machine To Make a Future mit der Studentin Thalia Dan-Cohan als Beobachterin seiner Beobachtungen zu verwirklichen sucht. Dieses Vorgehen soll eine nominalistische Sensibilität in Bezug auf die eigenen Kategorien der Beschreibung sicher stellen: „ […] anthropologists engaged in second-order observations of first-order observers must find a way to take their own observation practice into account. The traditional attempt to do something like this, as we have seen, was to introduce a range of analytic practices aimed at identifying and neutralizing factors that distorted the observational powers of the observer. Luhmann’s analytic helps us to see that there is another way to proceed: ‚One thing the observer must avoid is wanting to see himself and the world. Only the unity of the distinguished can be observed’ (Luhmann). In accord with this maxim, anthropologists of the contemporary will find it helpful, perhaps even essential, to include a second (second-order) observer in the practice of anthropological inquiry. Such an observer would have the task to observe the (secondorder) observer observing the (first-order) observers. Such an observer would be better than technical devices such as video cameras at recording interview sessions and the like precisely because the second, second-order observer would know that she should not attempt to see herself and the world. Although the possibility of an infinite regress of higher-level observers exists logically, initial experience with the technique indicates that two observers with clearly defined functions are sufficiently powerful apparatus for the purposes at hand. This apparatus provides safeguards against a belief in the transparency of immediate history.”352 Im vierten Kapitel wird diese von Rabinow empfohlene Technik in einer durch Latour verfremdeten Spielart erprobt.

351 | Rabinow (2008): „Observation“ In: Ders. Marking Time. On the Anthropology of the Contemporary. Princeton University Press, Princeton NJ. 51-72. 352 | Ebd. 66.

156 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“

Daedalia und Design Rabinows „Modus der Sezession“ trägt Züge der oben erörterten Kritik Latours an der Kritik.353 Den „durch die Verehrung des Bilderverbots erzeugten Kreislauf von Faszination, Abstoßung, Destruktion, Sühne“ gelte es zu „überwinden“.354 Mit einem Gestus, den Rabinow mit aller Wahrscheinlichkeit in die Rubrik des ‚typischen französischen modernen Pathos’ einordnen würde, spricht Latour an einer Schule für Design in Cornwall 2008 darüber, dass es gelte, die„Revolution“ zu „revolutionieren“.355 Design sei einer der Termini, die das Wort „Revolution“ ersetzt hätten. Wenn „wir niemals modern gewesen wären“, und wenn, „als Konsequenz nunmehr matters of fact, matters of concern ersetzt hätten“, dann hätte die Beobachtung, dass die typisch modernistische Trennung zwischen Materialität auf der einen Seite und Design auf der anderen Seite dabei sei sich aufzulösen, eine gewisse Logik.356 Je mehr Objekte in Dinge verwandelt würden, je mehr matters of fact zu matters of concern würden, desto mehr würden sie durch und durch zu „Designobjekten“:357 „[…] the word ‘design’ doesn’t come at a time when there is less to do: it comes at a time when there is more to do. Infinitely more, since it is the whole fabric of life that is now concerned thanks to the ecological crisis. What no revolution has ever contemplated, namely the remaking of our collective life on earth, is to be carried through with exactly the opposite of revolutionary and modernizing attitudes. This is what renders the spirit of the time so interesting. President Mao was right after all: the revolution has to always be revolutionized. What he did not anticipate is that the new “revolutionary” energy would be taken from the set of attitudes that are hard to come by in revolutionary movements: modesty, care, precautions,

353 | Vgl.: Bruno Latour (2007b): Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Diaphanes. Zürich u. Berlin; und Bruno Latour (2004): Krieg der Welten – wie wäre es mit Frieden? Merve Verlag, Berlin. 354 | Bruno Latour (2002d): Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (Hg.). Merve Verlag, Berlin. 13. 355 | Bruno Latour (2008b): „A Cautious Prometheus? A Few Steps Toward a Philosophy of Design „(with Special Attention to Peter Sloterdijk). Keynote lecture for the Networks of Design meeting of the Design History Society, Falmouth, Cornwall, 3rd September 2008. www.bruno-latour.fr/articles/article/112-DESIGN-CORNWALL.pdf. 7. 356 | Ebd. 357 | Bruno Latour (2008b): „A Cautious Prometheus? A Few Steps Toward a Philosophy of Design „(with Special Attention to Peter Sloterdijk). Keynote lecture fort he Networks of Design meeting of the Design History Society, Falmouth, Cornwall, 3rd September 2008. www.bruno-latour.fr/articles/article/112-DESIGN-CORNWALL.pdf. 3.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 157 skills, crafts, meanings, attention to details, careful conservations, redesign, artificiality, and ever shifting transitory fashions. We have to be radically careful, or carefully radical… “358 Bescheidenheit, Achtsamkeit, Vorsicht, Geschick, Kunstfertigkeit, Aufmerksamkeit aufs Detail, behutsames Bewahren usw. als Teile eines „Satzes von Haltungen“ („set of attitudes“) sind also, wie Latour in seiner Einführung zur Akteur-Netzwerk-Theorie deutlich macht, für die Art Sozialforschung, die ihm vorschwebt, zentral.359 Wie schwer es ist, sich vom „debunking“, vom „Entlarven“, loszusagen, zeigte sich auch bei meinem Versuch der im vierten Kapitel vorgenommenen dichten Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie. Es bedurfte mehrerer Anläufe, um aus einem Modus des kritischen Rückblicks herauszufinden. Im Modus der Kritik ist es schlecht möglich, den manchmal schwer erkennbaren Verbindungen zwischen Akteuren zu folgen. Es bedarf dazu eines gewissen technischen Geschicks, das an Latours Figur des Deadalus erinnert. Den Mythos des Daedalus zieht Latour heran, um sein Verständnis von Technik zu erläutern: „Im Mythos des Daedalus weichen alle Dinge von der geraden Linie ab. Der direkte Pfad der Vernunft und der wissenschaftlichen Erkenntnisse – die Episteme – ist nicht der Pfad jedes Griechen. Das clevere technische Know-how von Daedalus ist ein Beispiel für metis, für Strategie, für die Art von Intelligenz, für die Odysseus (von dem die Ilias sagt, er sei polymetis, viellistig) berühmt war. Keine unvermittelte Handlung ist möglich, wenn wir einmal den Bereich der Ingenieure und Handwerker betreten haben. Ein daedalion ist im Griechischen etwas Gekrümmtes, von der geraden Linie Abweichendes, kunstvoll, jedoch unecht, schön und gekünstelt. Daedalus ist ein Erfinder von Apparaten: Statuen, die lebendig zu werden scheinen, Militärroboter, die über Kreta wachen, eine antike Version von Gentechnologie, die Poseidons Stier befähigte, Pasiphae mit dem Minotaurus zu schwängern – für den er das Labyrinth baute, von dem aus er, über eine andere Reihe von Maschinen, es schaffte, zu entkommen, wobei er seinen Sohn Ikarus verlor – verschmäht, unentbehrlich, kriminell, stets im Streit mit den drei Königen, die ihre Macht aus seinen Machenschaften zogen. Daedalus ist unser bestes Eponym für Technik.“ 360 Rabinows Kritik an Latour, er sei ein verkappter Heideggerianer und würde ein technisches Seins-Verständnis verabsolutieren, ist vom Standpunkt Rabinows aus nachzuvollziehen.361 Allerdings ist Technik bei Latour als

358 | Ebd. 7. 359 | Bruno Latour (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 360 | Bruno Latour (2006): „Technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie.“ In: A. Belliger, D.J. Krieger (Hg.): ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. transcript Verlag, Bielefeld. 483-528, 483f. 361 | Rabinow (2004)

158 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ „Sozio-Technik“ zu verstehen, und sein Interesse gilt auch hier wieder den Vermittlungen, die er in diesem Bereich mit dem Adjektiv „technisch“ versieht. Technik als solche existiere nicht. Es gebe nichts, was „philosophisch oder soziologisch als ein Artefakt oder ein Stück Technik“ definiert werden könne. „Sicherlich“, schreibt Latour, gebe es das Adjektiv „technisch“, das in „vielen verschiedenen Situationen“ „zu Recht“ Verwendung finde. Es sei erstaunlich, bemerkt er, dass Heideggers Interpretationen von Technik in der Philosophie als „tiefgründigste“ durchgingen. Einer der Hauptkritikpunkte Latours ist, dass Heidegger die Frage, was Vermittlung im Bereich der Technik bedeute, völlig außer Acht lasse.362 „Technische Vermittlung“ ruhe auf dem „blinden Fleck“ der Philosophie, dem Bereich nämlich, wo „Gesellschaft und Materie ihre Eigenschaften austauschen“, dem Bereich, dem Latour sein gesamtes „Werk“ gewidmet hat.363 Die von ihm untersuchten Mechanismen „technischer Vermittlung,“ wie „Umweg, Übersetzung, Delegation, Inskription und Verschiebung“ würden ein „besseres Verständnis“ erfordern, bevor man überhaupt damit beginnen könne, eine Technikphilosophie zu erarbeiten.364 In seinem 1994 erschienenen Aufsatz zur „technischen Vermittlung“ gibt sich Latour als Advokat einer Technikphilosophie, die über Heidegger hinausgeht.365 Obwohl für Heidegger Technik niemals bloß ein Instrument, ein bloßes Werkzeug gewesen sei, habe er daraus nicht den Schluss gezogen, dass Techniken Handlungen vermittelten. Bei Heidegger seien „wir“ selbst lediglich Instrumente zum Zwecke der Instrumentalisierung. Technikbesessen, aber unfähig sie zu meistern, sei der Mensch bei Heidegger in „dieses Gestell“ eingefügt, das selbst eine Form der „Entbergung“ des Seins“ sei.366 Es sei jedoch unmöglich, Technik, ihre Entwicklung und ihre Anwendung zu verstehen, wenn man davon ausginge, dass „das Vermögen von Menschen für immer festgelegt“ sei. Man wäre eine andere Person mit der Waffe in der Hand. „Sein ist Existenz,“ schreibt Latour, und „Existenz ist Handeln.“367 An anderer Stelle heißt

362 | Latour (2006). 484. 363 | Latour (2006). 497. 364 | Latour (2006). 495. 365 | Bruno Latour (1994): “On Technical Mediation – Philosophy, Sociology, Genealogy.” In: Common Knowledge 3/2. 29-64. Übersetzt in: Bruno Latour (2006): „Technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie.“ In: A. Belliger, D.J. Krieger (Hg.): ANThology: Ein einführendes Handbuch zur AkteurNetzwerk-Theorie. transcript Verlag, Bielefeld. 483-528. 366 | Latour (2006). 484. 367 | Ebd. 487.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 159 es „Substanz bedeutet Existenz, und Existenz bedeutet Verbindung.“368 Diese zunächst unvereinbar erscheinenden Setzungen werden durch Latours Neufassung der Begriffe „Substanz“ und „Wesenheit“ („Essence“) plausibel. Substanz, schreibt Latour, bezeichne das unter Eigenschaften „Darunterliegende“. Die Wissenschaftsforschung habe nicht versucht, den Begriff in Gänze hinter sich zu lassen. Vielmehr sei es darum gegangen, „einen historischen und politischen Raum zu eröffnen, in dem neu auftauchende Entitäten nach und nach mit all ihren Mitteln, all ihren Institutionen versehen werden und so allmählich ‚substantialisiert,’ dauerhaft und nachhaltig gemacht“ würden.369 Wesenheit (essence) sei ein Begriff der Metaphysik, der in seinen Texten eine politische Bedeutung erhielte. „Wesenheit“ bezeichne nicht den Beginn eines Prozesses der „Zusammensetzung“, der „Artikulation“, sondern ihr vorläufiges Ende. „Dauerhaftigkeit“ und „Unbestreitbarkeit“ würden erst durch die „Institution“ am Ende eines Prozesses hergestellt, heißt es im Glossar zum Parlament der Dinge.370 Interessant ist, dass hier „Substanz“, welches im Glossar zur Hoffnung der Pandora auftaucht, nicht erwähnt ist. Auch hier sucht man vergeblich nach einer genauen Begriffsbestimmung, die es möglich machen würde, beide Begriffe, ‚essence‘ und ‚substance‘, deutlich von einander abzusetzen. Eine solche klare Trennung wäre wohl auch nicht im Sinne des Daedalus. Heidegger habe sich geirrt, schreibt Latour, als er Technik als „vollkommen einzigartig, unüberwindlich, allgegenwärtig, überlegen, ein in unserer Mitte geborenes Monster“ beschrieb. Technik sei nicht, wie es Heidegger erschien, radikal von der poiesis verschieden:371 „Daedalus faltet, webt, plant, entwickelt, findet Lösungen, wo keine sichtbar sind, benutzt jedes zur Verfügung stehende Hilfsmittel bei Brüchen und Unwägbarkeiten in der üblichen Routine, tauscht Eigenschaften zwischen unbeweglichen, tierischen und menschlichen Materialien aus. Heidegger ist kein Daedalus: Er sieht keine Vermittlung, kein Loslassen, kein Beiseitetreten, keine poiesis in der technischen Welt, nur Vermittler, eine erschreckende Art von Vermittlern, die den Handwerker und den Ingenieur – wie alle Menschen – aufzehren, sie in zwecklose Instrumente der zwecklosen Ziele der Technik verwandeln. Falle ich der humanistischen Illusion, über die Heidegger sich lustig macht, zum Opfer, wenn ich die Vermittler vervielfache?

368 | Bruno Latour (2006b [1996]): „Sozialtheorie und die Erforschung computerisierter Arbeitsumgebungen.“ In: A. Belliger, D.J. Krieger (Hg.): ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. transcript Verlag, Bielefeld. 541. 369 | Bruno Latour (2000 [1999]): Die Hoffnung der Pandora. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main. 380. 370 | Ebd. 285-301. 371 | Latour (2006). 485.

160 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Vielleicht falle ich in die materialistische Falle, indem ich den Artefakten einen sozialen, ethischen und politischen Sittenkodex zugestehe, den sie unmöglich besitzen können. Ich glaube, dass die Technikphilosophie uns zwingt, den Standort des Humanismus neu zu bestimmen.“372 Für die im folgenden Kapitel zusammengestellte dichte Beschreibung wurden gleich mehrere entsprechend diskursive Apparaturen erfunden. Darüber hinaus waren immer dort daedalia gefragt, wo die Gefahr bestand, im gewohnten Denken, in gerader Linie, gegen eine Wand zu laufen; dort, wo ich Gefahr lief, ‚die Technik’ zu universalisieren, um zu zeigen, wie sie auf ‚die Menschen’ wirkte oder umgekehrt, wie die verallgemeinerten Haltungen ‚der Menschen’ der Anwendung ‚der Technik’ im Wege standen. Die Kunstfertigkeit des Daedalus war gefragt, um die Akteure nicht in ihren Handlungsdimensionen zu reduzieren.

Agency Wollte man sich mit Latours Werkzeugen ans Forschen machen, wäre es falsch, schreibt Schüttelpelz, dem Aspekt der „agency“, der Handlungsträgerschaft, der „Handlungsmacht“, eine Vorrangstellung einzuräumen. Eine solche Vorrangstellung wäre durch die ANT Rezeption missverstanden worden und hätte der Idee eines homogenen Begriffs von „Handlungsmacht“ und einem einfachen Handlungsbegriff Vorschub geleistet:373 „Da alle Akteure – egal, ob Personen, Artefakte oder Zeichen – Akteur-Netzwerke sind und als solche in andere Akteur-Netzwerke eintreten, scheinen sie auch eine gleichartige Kapazität – oder sogar eine gleichartige Handlungsdimension – vorauszusetzen, die allen Wünschen einer Anerkennung ihrer heterogenen, disparaten und hybriden Zusammensetzung entgeht oder sogar vorausgeht. Die Heuristik der heterogenen Zusammensetzung scheint immer wieder in die Ontologie einer homogenen Handlungsdimension aller beteiligten ‚Wesen’ umzukippen.“374 Schüttelpelz macht darauf aufmerksam, dass es sich bei Latours Handlungskonzeption keineswegs um eine homogene und einfache handelt, und weist auf die Aspekte des Pathos und der Poiesis hin:

372 | Latour (2006). 498. 373 | Schüttelpelz spricht von einem „geläufigen Missverständnis der ‚agency’-Diskussion“ (Schüttelpelz, 241) 374 | Schüttelpelz. 242f.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 161 „In der Forderung, die Handlungspotentiale, genauer die operativen Fähigkeiten von Personen, Artefakten und Zeichen gleichermaßen zu berücksichtigen, geht es bei genauerem Hinsehen keineswegs um eine ominöse, allen Größen gleichermaßen zuschreibbare Aktivität der Akteure (oder ihrer„Fixpunkte“), sondern um die bereits von Mauss betonte Fähigkeit der Operationsketten, alle von ihr koordinierten Akteure ihrer Verlaufsform anzupassen, sofern – und nur sofern – sie sich einer verbindlichen Prozedur unterziehen lassen. Die Dimension dieser Gemeinsamkeit ist nicht „Aktivität,“ und daher hat es auch keinen Sinn, sie in dieser Hinsicht fixieren zu wollen, sondern, um es mit den sehr viel präziseren vormodernen und griechischen Begriffen zu sagen: das „In-Mitleidenschaft-gezogen-Werden“ („pathos’) einer Prozedur der ‚Verfertigung’ (‚poiesis’) […]“375 Was den Aspekt der poiesis betrifft, ist dieser für Latour zentral. „Was wir Wissenschaftsforscher alle in den letzten 15 Jahren getan haben,“ betont Latour 1994, „ist, die Unterscheidung zwischen antiken Techniken (die poiesis der Handwerker) und modernen Techniken (großformatig, unmenschlich, dominierend) umzustoßen.“376 Es gebe eine „außerordentliche Kontinuität“ zwischen „Atomkraftwerken, Raketenleitsystemen, Computerchipdesigns oder Untergrundbahnautomaten und der antiken Mischung von Gesellschaft und Materie, die Ethnographen und Archäologen seit Generationen in den Kulturen Neugineas, des alten England oder des Burgund des 16. Jahrhunderts,“ bemüht gewesen wären aufzuzeigen, schreibt Latour.377 Der Unterschied zwischen den sogenannten ‚Modernen’ und den sogenannten ‚Primitiven’ liegt bei Latour nicht darin, dass Letztere in einer holistischen ‚Kultur’ leben, in der Soziales und Technisches nicht voneinander zu trennen sind, während bei den Modernen die Technik eine komplett separate Sphäre bildet, die sich in einem Spannungsverhältnis zur Sphäre des Sozialen verhält. Das Adjektiv „modern“ beschreibe keine weitere Entfernung zwischen Gesellschaft und Technik etwa im Sinne von „Entfremdung,“ sondern im Gegenteil sogar eine „vertiefte Intimität,“ eine „komplexe Verflechtung“ beider Bereiche.378 Der Begriff „sozio-technisch“ weist auf diese Verflechtung hin. Latour spricht von zwei „symmetrischen Mythen“ in Bezug auf Technik. Der „Mythos“ vom „neutralen Werkzeug“, das vollständig vom Menschen kontrolliert werden kann, und der „Mythos“ vom „autonomen Geschick der Technik“ ohne die „Chance auf menschliche Beherrschbarkeit.“379 Diesen beiden Mythen, die ihren Ausdruck in Technikhype und Technikphobie finden, setzt Latour den Weg der „technischen Vermittlung“ entgegen. Hier ändern menschliche und nicht-menschliche Akteure im Zusammentreffen ihre

375 376 377 378 379

| Schüttelpelz. 244. | Latour (2006). 504f. | Latour (2006). 505. | Latour (2006). 505. | Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandora. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 217.

162 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Handlungsprogramme, so dass keiner sein ursprüngliches Ziel erreicht. Übersetzung sei einer der Termini, den er für diese „Unbestimmtheit der Ziele“ zur Verfügung gestellt habe. Darunter verstünde er „eine Verschiebung, Drift, Vermittlung und Erfindung“, die „Schöpfung einer Verbindung, die vorher nicht da war, und durch die die beiden ursprünglichen Elemente oder Agenten in bestimmtem Maße modifiziert“ würden.380 Diese Übersetzung vollziehe sich „symmetrisch“. Beide Akteure verändern sich: „Mit der Waffe in der Hand bist du jemand anderes, und auch die Waffe ist in deiner Hand nicht mehr dieselbe. Du bist ein anderes Subjekt, weil du die Waffe hältst: die Waffe ist ein anderes Objekt, weil sie eine Beziehung zu dir unterhält. Nicht länger handelt es sich um die Waffe-im-Arsenal oder die Waffein-der-Schublade oder die Waffe-in-der-Tasche, nein jetzt ist es die Waffe-in-deiner-Hand, gerichtet auf jemanden, der um sein Leben schreit.“381 Die Symmetrie von Akteur und Aktant würde zu einer Aufgabe der Dichotomie zwischen Subjekten und Objekten führen, die einem Verständnis von Kollektiven im Wege sei. „Weder Menschen, noch Waffen töten.“ Schreibt Latour, vielmehr müsse die „Verantwortung für ein Handeln unter den verschiedenen Akteuren verteilt“ werden. Handeln, betont Latour, sei „ein Vermögen der gesamten Aktanten-Assoziation, nicht nur ihrer menschlichen Mitglieder.“382 Handeln ist für Latour Existenz: „In keinem Sinne des Wortes lässt sich von Menschen sagen, sie existierten als Menschen, sofern sie sich nicht mit dem in Umgang befinden, was sie ermächtigt und befähigt zu existieren (d.h. zu handeln).“383 Gleiches gilt bei Latour für nicht-menschliche Dinge: „Objekte, die nur als Objekte existieren, losgelöst vom kollektiven Leben, sind unbekannt, irgendwo tief vergraben. Technische Artefakte sind ebenso weit von der Effizienz entfernt wie wissenschaftliche Tatsachen vom hehren Denkmalssockel der Objektivität. Wirkliche Artefakte sind immer Teil von Institutionen – schillernd in ihrem Mischstatus als Vermittler, weit entfernte Länder und Menschen mobilisierend, bereit zu Menschen oder zu Dingen zu werden, ohne zu wissen, ob sie einer oder viele sind, ob sie eine einzige Black Box bilden oder ein Labyrinth voller Vielheiten. Eine Boing 747 fliegt nicht, es sind die Fluggesellschaften, die fliegen.“384 Institutionen haben bei Latour das Vermögen, Akteure am Leben zu halten, neue hervorzurufen und alte fallen zu lassen:

380 381 382 383 384

| Ebd. 217f. | Ebd. 218. | Ebd. 223. | Ebd. 235. | Ebd.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 163 „Zweckgerichtetes Handeln und Intentionalität mögen keine Eigenschaften von Objekten sein, aber sie sind auch keine Eigenschaften von Menschen. Sie sind Eigenschaften von Institutionen, von Apparaten, von Dispositiven, wie Foucault es genannt hat. Nur ‚Körperschaften’ können die Ausuferung der Vermittler auffangen, ihre Ausdrucksformen regulieren, die Neuverteilung von Fertigkeiten organisieren und Black Boxes schließen und schwärzen.“ 385 Der Begriff der Institution wird bei Latour in seiner Positivität verwendet. Institutionen „stellen all die Vermittlungen bereit“, die ein Akteur braucht, um existent zu bleiben.386 Sie ermöglichen die Artikulation von Propositionen.

Propositionen und Artikulationen Latour interessiert, wie Wesen in Existenz gehalten werden. Ihn interessiert, wie ein Ding durch eine Serie von Transformationen konstant gehalten wird. Das Ding ist in dieser Vorstellung nicht mehr ein „externer materieller Garant“ und „Referenz“, nicht mehr das, „worauf man mit dem Finger zeigt“.387 Die Betrachtung fixer Bezugspunkte mit Hilfe absoluter Kategorien weicht dem Folgen zirkulierender Referenz. Interessant werden dann die Mittel und Wege, durch die menschliche und nicht-menschliche Wesen in Existenz gehalten werden. Wichtig wird, wie Entitäten auf ihrem Weg durch unterschiedlichste Apparaturen, Instrumente, Laboratorien, Institutionen, Handbücher, Leitfäden etc. in Form gehalten werden. Am Beispiel von Pasteurs Milchsäureferment beschreibt Latour, wie das Durchlaufen mannigfaltiger Sphären keineswegs der Objektivität, der wahrhaften Existenz eines eigenständigen, lebendigen Milchsäureferments abträglich ist. Im Gegenteil zeigt er am Beispiel Pasteurs, dass sowohl Pasteur als auch das Milchsäureferment mit ihrer „Zirkulation“ vom Labor zu den Räumen der wissenschaftlichen Vereinigung und zurück an Realität dazu gewinnen. Es bedürfe einiger „philosophischer Arbeit“ oder, wie Latour meint, „treffender“ „Begriffsbastelei“, um zu einem Verständnis von Wissenschaftsforschung zu gelangen.388 Für Pasteurs „merkwürdigen ‚konstruktivistischen Realismus’“ bemüht sich Latour um geeignete Redefiguren.389 Bei Pasteur finden sich zwei scheinbar widersprüchliche Aussagen: „Das Ferment wurde in meinem Labor fabriziert“, und „das Ferment ist autonom gegenüber meiner Fabrikation“.390

385 386 387 388 389 390

| Ebd. | Ebd. 376. | Latour (2002), 72. | Latour (2001). 161. | Ebd. 164. | Ebd. 163.

164 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Das, was sich im Labor durch sorgfältige Arbeit, die nicht bloß in einer Kombination bereits vorhandener Teile besteht, ereignet, führt zur Unabhängigkeit einer neuen Entität, der Mikrobe. Als Redefigur, die dieser komplexen Situation genüge täte, sei keine Metapher geeignet, die sich auf dem Modell eines von den Dingen separaten Blicks oder einer von den Dingen getrennten Sprache berufe, vielmehr schlägt Latour den von Whitehead geprägten Begriff der Propositionen vor. „Propositionen sind weder Aussagen noch Dinge, noch irgendein Zwischenzustand zwischen beiden. An erster Stelle sind sie Aktanten. Pasteur, das Milchsäureferment, das Labor sind allesamt Propositionen. Was Propositionen von einander unterscheidet, ist nicht ein einziger vertikaler Abgrund zwischen Worten und Welt, sondern sind die vielen Differenzen zwischen ihnen, ohne dass sich im vorhinein wissen ließe, ob diese Unterschiede groß oder klein sind, provisorisch oder definitiv, aufhebbar oder unaufhebbar. Dies wird ja auch durch das Wort „Propositionen“ nahe gelegt. Es sind keine Positionen, keine Dinge, Substanzen oder Wesenheiten, die zu einer aus stummen Objekten bestehenden Natur gehören, und einem redseligen menschlichen Geist gegenüberstehen, sondern eben „Vor-schläge“, d.h. Gelegenheiten, die sich verschiedenen Entitäten bieten, miteinander in Kontakt zu treten. Diese Gelegenheiten zur Interaktion ermöglichen den Entitäten, ihre Definitionen im Verlauf eines Ereignisses zu verändern.“391 Latour betont, dass sich Propositionen nicht in eine Dualität einordnen lassen, sondern sich „zu einer Mannigfaltigkeit entfalten.“392 In diesem Schema stehen also nicht vernunftbegabte, intentional handelnde Subjekte geschichtslosen, sprachlosen, handlungsunfähigen Objekten gegenüber, vielmehr weist das aus der Semiotik entlehnte Wort Aktant darauf hin, dass hier auch nichtmenschliche Wesen handeln, eine Geschichte haben und in einem anderen Verhältnis zur Sprache, zur Artikulation stehen. Verstünde man die Beziehung zwischen zwei Propositionen nicht als „Korrespondenz über einem gähnenden Abgrund,“ sondern als Artikulation, betont Latour, spiele die Sprache eine vollkommen andere Rolle. Sei Artikulation nicht mehr das „Privileg eines von stummen Dingen umgebenen menschlichen Geistes“ und werde zu einer „gewöhnlichen Eigenschaft von Propositionen,“ so würden viele Arten von Entitäten an ihr teilhaben können.393 Trotz ihrer sprachlichen Herkunft bliebe die Artikulation in diesem Sinne nicht auf die Sprache beschränkt, sondern umfasse neben Worten auch „Gesten, Forschungspapiere, experimentelle Anordnungen, Instrumente, Feldforschungsstätten oder Versuche:“394

391 392 393 394

| Ebd. 171. | Latour (2002) 178. | Ebd. 172. | Ebd.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 165 „Wahrheitsgetreu über das Ferment sprechen kann Pasteur nicht deshalb, weil er in Worten dasselbe sagt, was das Ferment ist – eine unmögliche Aufgabe, denn das Wort ‚Ferment’ fermentiert nicht. Durch sein geschicktes Werken dagegen sagt er wahrhaftig etwas über das Ferment, denn er artikuliert völlig andere Beziehungen für es. Er schlägt beispielsweise vor, dass wir es als eine lebende und spezifische Entität betrachten und nicht mehr nur als nutzloses Nebenprodukt eines rein chemischen Prozesses. Im Sinne dessen, was von einer Korrespondenz-Aussage gefordert wird, wäre das ganz klar eine Täuschung oder eine Lüge, zumindest ein Vorurteil.“395 Während „Aussagen“ sich dadurch auszeichnen, dass sie eine Übereinstimmung anstreben, die sie nie erreichen können, ist es den Propositionen dienlich, über die Tatsachen hinaus zu gehen. Es geht hier nicht um Korrespondenz und Adäquation, sondern um „die Artikulation von Differenzen, die neue Phänomene sichtbar machen - in den Brüchen, die sie unterscheiden.“396 Eine Proposition kann also nicht, wie eine Aussage, wahr oder falsch sein, sondern gut oder schlecht artikuliert. Je mehr Artikulation, desto besser. In Rabinows experimenteller Anthropologie „betonen Propositionen die Dynamik des Kollektivs auf der Suche nach der guten Artikulation, dem guten Kosmos.“397

Methode: Meditation und Myopie Foucault, schreibt Rabinow, habe „die Trennung der Sorge um das Selbst vom wahrheitssuchenden Subjekt“ als „entscheidende Bruchstelle im Denken der Moderne gefasst.398 Diese Bruchstelle markiert Rabinow (in Anlehnung an Foucault) mit „der Methode“, als „Form der Erlangung von Gewissheit“, mit der eine Abspaltung der „Suche nach Wahrheit“ von der „Sorge um eine ethische Lebensführung“ stattgefunden habe.399 Bei Foucault heißt es: „Fortan wurden Methoden als Verwirklichung einer Form von Objektivität und Autonomie aufgefasst. Methoden waren insofern amoralisch, als das Subjekt der Erkenntnis sich nicht mehr in einer privilegierten ethischen Stimmung befinden musste, um die Wahrheit empfangen zu können. Die Rezeption objektiver Wahrheit wiederum zog keine notwendigen Konsequenzen bezüglich der ethischen Stimmung des

395 | Ebd. 172f. 396 | Ebd. 173. 397 | Latour (2002). 297. 398 | Paul Rabinow (2004a): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Hg. und übersetzt von C. Caduff, T. Rees, T. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 233. 399 | Paul Rabinow (2004): Was ist Anthropologie. Hg. und übersetzt von Carlo Caduff und Tobias Rees. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 15.

166 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ rezipierenden Subjekts nach sich. Die Suche nach einer Methode entspricht vielmehr der Suche nach „einer Form der Reflexivität, die eine Gewissheit zu erlangen sucht, die als Kriterium für alle Wahrheiten dient und die, von diesem fixierten Punkt aus, die Wahrheit zu einer systematischen Organisation objektiven Wissens führen kann.“400 Die „politische Rationalität“ der Moderne, bemerkt Rabinow mit Foucault, habe darin bestanden, „mittels Methode die herkömmlichen Funktionen der Meditation wettzumachen und einzubinden.“401 Foucault, schreibt Rabinow, habe Themen gewählt, um das „Feld der Meditation“ besser zu erfassen.402 Was aber ist Meditation? Die „Meditation der spätantiken Welt“ unterscheide sich grundsätzlich von der Weise, wie der Begriff in der Gegenwart Verwendung finde, schreibt Rabinow. Unter „Meditation“ ersterer Art („melete“) verstünde Foucault „das Prüfen seiner Selbst als ein Subjekt, das wirklich das denkt, was es denkt, und das dementsprechend handelt, und zwar im Hinblick auf eine Transformation des Subjektes, die dieses als ethisches Subjekt der Wahrheit“ konstituiere.403 Bei der Meditation ginge es um eine auf das Denken bezogene Übung. Das Ziel dabei war, „das Denken mit dem Ethos zu verknüpfen.“404 Die „Meditation“ als Ausdruck der Sorge um sich sei dabei „nicht bloß ein Bewusstseinszustand“ gewesen, sondern eine Tätigkeit, die ein wesentlichen Bestandteil einer umfassenden Lebensführung bildete.405 Sie sei ein „konstitutives Element einer Lebensform“ gewesen. Die „Meditation“ könne als Teil einer „umfassenden Pädagogik im Sinne der antiken paidea oder im modernen Sinn von Bildung“ gefasst werden, schreibt Rabinow.406 Diese Sorge des Selbst zeige sich als „Form der Kritik des Selbst“ und als „unendliche Selbsterforschung“, als „das Ablegen bedenklicher ebenso wie die Aneignung vorteilhafter Eigenschaften und sei als eine Form der Übung zu verstehen. Die „Meditation“ ziele nicht bloß darauf, das eigenen Wissen zu vermehren, den Ruhm zu vergrößern oder die Manieren zu verbessern, sondern darauf, als „Sorge um sich“ eine „moralische Existenz“ zu gestalten.407 Um sich dieser Arbeit am Selbst zu widmen, stand eine „Ausrüstung“, ein „Equipment“, ein „Arsenal von logoi“ zur Verfügung, ein „Werkzeugkasten“ („paraskeue“). Dieses „Equipment“ war dazu da, „praktische Zwecke zu erfüllen“, schreibt Rabinow. Die „wahren Diskurse“,

400 401 402 403 404 405 406 407

| Foucault, l’Herméneutique du sujet. 442. | Paul Rabinow (2004). 19. | Ebd. 15. | Ebd. | Ebd. | Ebd. | Ebd. | Ebd. 17.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 167 die logoi, seien weder Abstraktionen, oder „bloß diskursiv“ gewesen, sondern hätten ihre eigene „Materialität“ gehabt, ihre eigene „Konkretheit“ und „Konsistenz“. Die „Herausforderung“ habe dabei nicht so sehr darin bestanden, „diese zumeist banalen Maximen zu erlernen“, sondern sie durch Übung so zu verinnerlichen, dass sie als „spontane Form des Handelns“ zur Verfügung gestanden hätten.408 Die Entwicklung seiner Begriffe sieht Rabinow als Weg, eine „Ausrüstung“ („Equipment“, „paraskeue“) zur Verfügung zu stellen, mit deren Hilfe sich die beiden Bereiche, die „Suche nach Wahrheit“ (logos ) und die „Sorge um eine ethische Lebensführung“ (ethos) wieder in Verbindung bringen ließen. Es ginge darum, die Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, um logos in ethos zu verwandeln. In diesem Sinne versucht er, „Elemente einer modernen Methode“ zur Formulierung einer „Form moderner Meditation“ heranzuziehen.409 Im folgenden Kapitel möchte ich Rabinow beim Wort nehmen und das von Latour zur Verfügung gestellte begriffliche Equipment in der von Rabinow vorgeschlagenen Weise nutzen. In diesem Sinne kann die dichte Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie als „Meditation“ verstanden werden, als Übung, als Umwandlung von Logos in Ethos. In Latours Buch Reassembling the Social liefert er eine Einführung zur Akteur-Netzwerk-Theorie, die als „how-to book“, ein Kontrastprogramm zu Rabinows „Meditation“ darstellt.410 Es ist ein Buch dezidiert geschrieben, um jenen zu helfen sich zu orientieren, die forschend unterwegs sind. Er liefere einen „travel-guide“, und jeder der meine, es sei unehrenhaft, mit Hilfe eines „Reiseführers“ in eine Wissenschaft einführen zu wollen, sei daran erinnert, schreibt Latour, dass das „pompöse griechische Wort ‚Methode’ oder schlimmer ‚Methodologie’ nichts anderes bezeichne, als „wie man reist“ und „was es wert ist, dort zu sehen“.411 Latour schlägt vor, unter dem Banner der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zu reisen. Der „historische Name Akteur-Netzwerk-Theorie“ sei so umständlich, so verwirrend, so bedeutungslos, dass es wert sei, ihn zu behalten. Seine Abkürzung ANT („Ameise“) sei bestens geeignet, für die kurzsichtigen, arbeitsbesessenen, spurenschnüffelnden, Kollektivreisenden, die unter dem Label unterwegs seien. Eine Ameise, die für andere Ameisen schreibt, dieses Bild passe zu seinem Projekt, schreibt Latour.412 Die Kurzsichtigkeit (engl. „myopia“, fr. „myopie“), von der Latour in diesem Zusammenhang spricht, ist vielleicht besser mit Myopie übersetzt, denn Latours Myopie hat nichts mit einer Kurzsichtigkeit zu tun, im Sinne ei-

408 409 410 411 412

| Ebd. | Ebd. 19. | Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. Oxford University Press. 17. | Ebd. | Ebd. 9.

168 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ nes intentionalen Dummstellens, wie es seine methodische Entsprechung in einigen Forschungsansätzen findet, sondern es geht bei Latours Myopie um eine Methode, durch die Konzentration auf die Pfade und Verbindungen zwischen Akteuren, durch ein Zusammenkneifen der Augen, mehr zu sehen (gr. myein = [die Augen] schließen, opia= die Sicht): „Some myopia is necessary to counter-balance the hype around virtuality.“413 Es bedürfe eines gewissen Maßes an Myopie, um den Hype um Virtualität auzugleichen, betonte Latour 1998 in einer Festrede anlässlich des zehnten Geburtstages des Centre for Research into Innovation, Culture and Technology (CRICT), das sich in erster Linie mit der Erforschung der Genese und den sozialen Auswirkungen von „Informationsund Kommunikationstechnologien“ (ICTs) befasst. Zwei Jahre vor jenem Geburtstag hatte das CRICT den Auftrag zur Koordination des Programms Virtual Society? The social science of electronic technologies erhalten, was mit einem Finanzvolumen von drei Millionen Britischen Pfund zu einem der bis dato größten sozialwissenschaftlichen Programme Europas zählte.414 In seinem Beitrag zur Abschlusspublikation des Programms bemerkt sein Direktor Steve Woolgar, bekannt u.a. durch seine Koautorenschaft mit Latour im 1979 erschienen Laboratory Life,415 dass wir uns am Ende des „currenten Zyklus der extremen Formen des Hype um die Auswirkung neuer Technologien“ befänden.416 Die ersten Forschungen zu den sozialen Auswirkungen elektronischer Technologien seien von der Polarisierung zwischen engstirnigen Verdächtigungen und unkritischem Enthusiasmus gekennzeichnet gewesen. Während die positiven Bewertungen neuer Technologien für die nötige öffentliche und akademische Aufmerksamkeit wichtig gewesen wären, könne man jetzt sagen, dass diese frühe Phase auf einer größtenteils unhinterfragten Annahme technologischer Attribute beruht habe. Negative Bewertungen hätten gleichermaßen dazu tendiert, die begrenzenden und unliebsamen sozialen Konsequenzen direkt den Kapazitäten der Technologien zuzuschreiben. Beide Betrachtungsweisen hätten dazu geneigt, die Effekte der Technologien als vorhersehbar und universal darzustellen. Es sei so gewesen, als hätten Sozialwissenschaftler entweder die eine oder die andere extreme Position zum Nutzen oder Schaden der ICTs aufgesogen. Die intellektuelle Herausforderung zu einem Verständnis der sozialen Auswirkungen neuer elektronischer Technologien zu gelangen, sieht Woolgar in zweierlei Aspekten: Erstens gelte es sich der Erforschung der

413 | Bruno Latour (1998): ‘Thought Experiments in Social Science: From the Social Contract to Virtual Society? Annual Public Lecture, Brunel University, Uxbridge UK. 1. April 1998 414 | Steve Woolgar (ed.) (2002): Virtual Socitey? Technology, Cyberbole, Reality. Oxford. 415 | Bruno Latour, Steve Woolgar (1979): Laboratory Life: the Social Construction of Scientific Facts. Sage, Los Angeles, London. 416 | Steve Woolgar (2002). 22.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 169 Nutzungserfahrungen neuer Technologien zu widmen, und zweitens müsse es darum gehen, eine analytische Skepsis demgegenüber zu kultivieren, was er als „cyberbole“ bezeichnet. 417 Als von Imken geborgter Neologismus steht „cyberbole“ bei Woolgar für übertriebene Darstellungen der Kapazitäten von Cybertechnologien im Positiven wie im Negativen.418 Dabei könne es nicht darum gehen, „cyberbole“ komplett zu verteufeln, denn wolle man an den Diskussionen um neue Technologien teilnehmen, müsse man die Terminologie dieser Debatten untersuchen, ohne sich komplett von ihnen zu lösen. Moderate Bewertungen der Situation müssten gleichzeitig und auf gleicher Ebene stattfinden.419 Mit Rückgriff auf den ersten Abschnitt seines Textes beschreibt Woolgar drei Merkmale einer Forschungsrationalität mit „cyberbolischen“ Zügen. Das erste Merkmal sei „sweeping grandiloquence“, ein über alle Details hinwegfegender Großsprech, der bei dem Versuch entstünde, zusammenfassende Antworten zu sehr allgemeinen, um ‚die neuen Technologien’ herum organisierten, Fragen zu finden.420 Die Unbescheidenheit eines solchen Unterfangens sei aus den synoptischen Reden aus Journalismus, Marketing und politisch-administrativen Feldern, mit denen die akademischen Sozialwissenschaften im Dialog stünden, bestens bekannt. Unter dem Aspekt des „clumping“, der zusammenfassenden Beschreibung, der totalisierenden Darstellung, untersucht Woolgar seine Ausgangshypothese: „We are continuing to witness the burgeoning growth of new electronic information and communications technologies (ICTs) […]. These new electronic technologies have been widely regarded as the impetus for radical changes.“421 Es sei offensichtlich, dass solche Formulierungen auf einer Gleichheit der Meinungen und Effekte basierten und diese propagierten. Es gelte, solche Sätze auseinander zu nehmen („disaggregate“) und zu fragen, wer ist wir? Von welchen Leuten ist die Rede? Machen diese neuen Technologien tatsächlich einen signifikanten Unterschied? Wenn ja, für wen und wie?422 Fragen, die ein genaues Hinsehen, eine gewisse Myopie erfordern. Als zweites und mit dem ersten eng verwandtes Merkmal dieser Forschungsrationalität beschreibt Woolgar die Tendenz davon auszugehen, dass sich die Erfahrungen mit den neuen Technologien auf unproblematische Art und Weise mit generellen „macro-level trends“

417 | Er spricht von einem „spirit of analytic scepticism“ (siehe hierzu auch Woolgar (1999): ‘Analytic Scepticism’. In W.D. Dutton (ed.): Society on the Line: Information Politics in the Digital Age. Oxford University Press, Oxford. 418 | Woolgar (2002). 9. 419 | Ebd. 420 | Ebd. 6. 421 | Ebd. 1. 422 | Ebd.

170 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ verbinden ließen.423 Eine Beschäftigung mit dem „macro-level“ gebe jedoch keine Hinweise über die tatsächliche Nutzung neuer Technologien. Woolgar plädiert dafür, die Phänomene zu „disaggregieren“ und sich mit den Details zu beschäftigen.424 Als drittes Merkmal des von ihm beschriebenen Forschungsmodus nennt Woolgar selbstbewusste Deklarationen über die Effekte neuer Technologien. Diese Deklarationen seien für das Phänomen ‚neue Technologien’ konstitutiv. Wolle man sie verstehen, bedürfe es einer Untersuchung der spezifischen Netzwerk, die sich durch diese Art der Deklarationen verbinden. Die Zulieferseite elektronischer Industrien beispielsweise, die Vertreiber elektronischer Güter, Werbeagenturen und Journalisten, Kommentatoren und Analysten, Legionen von Experten und Beratern, Administratoren und Verwalter, nicht zuletzt in der Politik, die Sicherheit in Mitten all der Unsicherheit versprächen.425 In der dichten Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie im Kapitel vier geht es darum, Latours Myopie zu erproben. Eine Form der Sorgfalt beim Nachzeichnen der Verbindungen zwischen diversen Entitäten. Auch eine Form von Bescheidenheit und Enthaltsamkeit in Bezug auf synoptische Aussagen und Sprünge ins Allgemeine. Es soll also nicht der Versuch unternommen werden, Kontroversen zu lösen oder eine eigene Metaphysik zu entwickeln, vielmehr sollen die Handlungstheorien der Akteure, ihre „empirische Metaphysik“, in den Vordergrund gerückt werden.426 Dort, wo die von Woolgar beschriebene Forschungsrationalität im Kontext der im Projekt sense&cyber entwickelten Hypermedialen Ethnographie auftaucht, gilt es, nicht sie zu kritisieren, als falsch zu ‚enttarnen’ oder sie in ihrer Funktion als Repräsentation der ‚Welt dort draußen’ mit Datenmaterial zu unterfüttern, sondern sie auf ihre Produktivität hin zu befragen. Orten, an denen sich synoptische, versammelnde Aussagen häufen, wird deshalb besondere Aufmerksamkeit gewidmet, weil hier die Assoziationen von Menschen und Dingen ‚konfiguriert’ werden. An diesen Stellen tritt ‚das Soziale’ als Assoziation in Erscheinung. Hier ist es nicht länger virtuell, sondern aktuell, hier wird es konfiguriert und performiert. Die von Latour vorgeschlagene Myopie soll dabei helfen, den Spuren dieser Assoziationen zu folgen um herauszufinden, wie tatsächlich die Verteilungen, Verbindungen und Verknotungen zu und zwischen den diversen Entitäten („sense“, „cyber“, „Neue Medien“, „Computer“, „Software“, „Kunst“, „Kunstpädagogik“, „Dozentinnen“, „Schülerinnen“ etc.) im Projekt zu fassen sind. Um diese Myopie beizubehalten, wird

423 | Ebd. 6. 424 | Ebd. 7. 425 | Ebd. 8. 426 | Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press, Oxford. 56.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 171 es wichtig sein, die „Landschaft“ „flach“ zu halten.427 In einer flachen gefalteten Landschaft können ‚Makro’ und ‚Mikro’ eng beieinander liegen428 und werden bei der nun folgenden Betrachtung hoffentlich nicht zu jenem unüberwindbaren Gegensatz, der die Begleitforschung des Projekts sense&cyber prägte. Die ‚sites’, die Felder der Forschung, werden also nicht mehr in Form oder Größe voneinander zu unterscheiden sein, sondern in der Richtung der Bewegungen zwischen einander, und in dem, was transportiert wird. Bei der Reise von einer Stätte zur anderen wird es gelten, den Spuren der Differenzen zu folgen, die die Aktanten hinterlassen. Es soll im folgenden Kapitel der Versuch unternommen werden, sich auf den von Latour vorgeschlagenen, langsamen und mühevollen Prozess einzulassen, einen Prozess, der nicht umsonst von Latour und anderen ‚Vertretern’ der ANT mit der ausdauernden, emsigen, kollektiven Arbeit der Ameisen verglichen wurde429 und bei dem die „volle Rechnung der Verbindungskosten“ beglichen werden muss.430 Die Vermutung liegt nahe, dass sich bei diesem Vorgehen Rabinows „nominalistische Sensibilität“ quasi ganz von selbst einstellt. Wie Gegenstände, an die man zu dicht herantritt, ihre Konturen verlieren und sich auflösen, könnten sich auch Kategorien verändern, wie beispielsweise die des Technischen und des Sozialen. Das wird sich zeigen müssen. Auch die Hoffnung, dass die vorhandenen Berge von Daten nicht in dem Sinne „diszipliniert“ werden müssen, dass sie erdachten Kategorien untergeordnet werden, die Hoffnung, dass statt in Daten zu ertrinken, wie Latour es verspricht, man sich von ihnen treiben lassen kann („float on data“), muss sich erst noch bestätigen.431 Latour warnt, diese Art der dichten Beschreibung sei riskant und könne leicht scheitern. Darüber hinaus würde sie nach einer clichéhaften Definition von Wissenschaftlichkeit ihren Kriterien nicht entsprechen. Aus seiner Sicht sei sie jedoch sehr wohl wissenschaftlich, denn sie würde dazu dienen, so akkurat wie möglich widerspenstige Objekte durch eine künstliche Apparatur zu fassen. Ein Unterfangen, wie Latour einräumt, das auch leer ausgehen könne.432 Die von Latour vorgeschlagene Myopie macht auch vor diversen Unsicherheiten nicht Halt. Statt der Versuchung zu erliegen, über Unsicherheiten hinwegzu-

427 | “The metaphor of a flatland was simply a way for the ANT observers to clearly distinguish their job from the labor of those they follow around.“ ebd. 220. 428 | Siehe hierzu Teil 2 der Arbeit. 429 | “I was ready to drop this label [ANT] for more elaborate ones like ‚sociology of translation’, ‚actantrhyzome ontology’, ‚sociology of innovation’, and so on, until someone pointed out to me that the acronym A.N.T. was perfectly fit for a blind, myopic, workaholic, trail-sniffing, and collective traveller. An ant writing for other ants, this fits my project very well.“ ebd. 9. 430 | Ebd. 180. 431 | Ebd. 12. 432 | Ebd. 135.

172 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ sehen oder sie lösen zu wollen, rät er, sie als Ausgangspunkt, als „foundation“ zu sehen.433 In seiner Einführung zur Actor-Network-Theory (ANT), die auch und insbesondere Doktoranden dabei helfen soll, ihre empirischen Forschungsprojekte im Sinne dieses Zugriffs zu gestalten, spricht Latour von fünf „uncertainties.“434 1. „Die Beschaffenheit von Gruppen: Es existieren viele widersprüchliche Arten und Weisen, wie Akteuren Identitäten gegeben werden. 2. Die Beschaffenheit der Handlungen: In jeden Handlungsverlauf scheint eine große Vielfalt von Agenten hereinzuplatzen und die ursprünglichen Ziele zu verschieben. 3. Die Beschaffenheit von Objekten: Welche Arten von Handlungsträgern an Interaktionen beteiligt sind, scheint offen zu bleiben. 4. Die Beschaffenheit von Fakten: Die Verbindung der Naturwissenschaften mit dem Rest der Gesellschaft scheint die Quelle eines fortlaufenden Disputs. 5. Die Arten von Untersuchungen, die unter dem Etikett einer Wissenschaft des Sozialen unternommen werden, denn es ist nicht klar, in welchem Sinne Sozialwissenschaften als empirisch gelten können.“435 Latour widmet die erste Hälfte seiner Einführung zur Akteur-NetzwerkTheorie diesen fünf Unsicherheiten und stellt sie als Fundament eines von ANT motivierten Ansatz empirischer Forschung dar. Im Folgenden wird daher noch einmal kurz auf sie eingegangen.436 Zu 1: Gruppen seien keine stummen Dinge, sondern vielmehr das provisorische Produkt eines beständigen Aufruhrs, verursacht von Millionen sich widersprechender Stimmen darüber, was eine Gruppe sei, und wer zu ihr gehöre.437 Es sei nicht Aufgabe der Forscher anstelle der Beforschten das Soziale zu stabilisieren. Diese Aufgabe sei in Gänze den „Akteuren selbst“ zu überlassen.438 Es sei nicht im Sinne von ANT, sich zu Beginn der Studie auf Gruppen festzulegen. Ganz im Gegenteil, bestünde der Anfang in den Kontroversen darüber, wer zu welcher Gruppe gehöre, darin inbegriffen die Kontroversen zwischen Sozialwissenschaftlern darüber, woraus die soziale Welt bestünde.439 Die Reise, schreibt Latour, solle damit beginnen, den Spuren der Akteure zu

433 | Ebd. 47. 434 | Seine „uncertainties“ seien eine vage Anspielung auf das „uncertainty principle“, denn es sei unmöglich zu entscheiden, ob die Unsicherheit auf Seiten des Beobachters oder des beobachteten Phänomens residiere. ebd. 22. Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press, 22. 435 | Latour, ebenda, 22. Übersetzung: meine. 436 | Ausführlicher siehe Abschnitt 2 der Arbeit. 437 | Latour (2005). 31. 438 | Ebd. 30. 439 | Ebd. 29.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 173 folgen, die sie bei der Formung und Auflösung von Gruppen hinterließen. Latours Soziologie der Assoziationen geht nicht von einer präexistenten Sphäre des Sozialen aus. Die Formung und Aufrechterhaltung von Gruppen bedürfe der Arbeit. Eine Arbeit, die Spuren hinterließe. Das Soziale ist bei Latour „Objekt einer performativen Definition.“ Ohne Performanz keine Gesellschaft. Wichtig für Latours Verständnis von Soziologie ist, dass „das Soziale“ für ihn nur dann nachvollziehbar wird, wenn es modifiziert wird. Das fluide Soziale wird nur dann sichtbar, wenn es neue Assoziationen bildet. Hier werden zwei Begriffe zentral: „Mediators“ (Mediatoren)440 und „Intermediaries“ (Zwischenglieder). Während Zwischenglieder keine Veränderung der Entitäten bewirken, die sie transportieren, könne bei Mediatoren der Input nie als guter Indikator des Output gesehen werden.441 Mediatoren könnten nicht als nur eins gezählt werden. Sie könnten eins sein, oder nichts, mehrere oder unendlich viele. Ihre Spezifizität müsse in die Rechnung einbezogen werden. Mediatoren würden Bedeutung oder die Elemente, die sie transportieren, transformieren, übersetzen, modifizieren und entstellen. Die beständige Unsicherheit darüber, ob Entitäten sich als Mediatoren oder als Zwischenglieder verhalten, bezeichnet Latour als Quelle aller anderen Unsicherheiten, denen es zu folgen gilt.442 Zu 2: Handlung sei dislokal, nicht bezogen auf spezifische Orte, gestreut, bunt gemischt und vielfältig.443 Handlung sei weder transparent, noch fände sie unter der vollen Kontrolle des Bewusstseins statt, vielmehr sei Handlung als Knotenpunkt zu verstehen, als Konglomerat vieler überraschender „sets of agencies“, die es gelte langsam zu entwirren.444 Handlung werde überholt, von anderen eingenommen, übernommen. Dabei sei es wichtig, nicht all die übernehmenden Instanzen zu einer einzigen sozialen Instanz, wie z.B. „Gesellschaft“, „Kultur“, „Struktur“, „Feld“, „Individuum“ zu verschmelzen. Handlung solle eine Überraschung bleiben, ein Mediator, ein Ereignis.445 Ohne Berichte, ohne Versuche, ohne Unterschiede, ohne Transformationen, ohne Wandel eines Zustandes könne keine Aussage gemacht werden über einen gegebenen Handlungsträger, gebe es keinen feststellbaren Bezugsrahmen.446 Ein unsichtbarer Handlungsträger, der keinen Unterschied mache, keine Veränderung hervorrufe, keine Spur hinterließe und in keinen Bericht einginge,

440 441 442 443 444 445 446

| Bei Rößler übersetzt mit „Mittler“, Latour (2007). 66. | Latour (2005). 39. | Ebd. | Ebd. 60. | Ebd. 44. | Ebd. 45. | Ebd. 53.

174 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ wäre kein Handlungsträger.447 Erwähne man einen Handlungsträger, so müsse ein Bericht seiner Handlungen mitgeliefert werden und deutlich gemacht werden, welche Versuche welche Spuren er hinterlassen habe.448 Zu 3.: Zentrales Merkmal von Latours Soziologie der Assoziationen ist die Einbeziehung von Objekten. „Wir werden Entitäten als voll ausgebildete Akteure behandeln, die seit über hundert Jahren sozialer Erklärungen absichtlich von der kollektiven Existenz ausgeschlossen waren,“ beteuert Latour.449 Es gelte, die Asymmetrie zwischen der als menschlich und intentional gefassten Handlung und der als von kausalen Beziehungen geprägten materiellen Welt auszugleichen.450 Dies bedeute jedoch nicht, die Verhältnisse einfach umzudrehen. Es hieße nicht, dass die Dinge die Handlung determinieren. Eine solche Umkehr in der Richtung der Beeinflussung wäre ein Weg, um Objekte in Ursachen umzuwandeln, deren Auswirkungen durch die, nunmehr auf eine Verkettung einfacher Zwischenglieder reduzierte, menschliche Handlung transportiert würde. Es gebe mehr metaphysische Schattierungen zwischen voller Kausalität und nackter Inexistenz.451 Hielte man an der Entscheidung fest, von den Kontroversen über Akteure und Handlungsträger auszugehen, wäre „any thing“, buchstäblich jedes Ding, das einen Zustand verändere, das eine Differenz erwirke, ein Akteur, oder, sollte ihm noch keine Figuration anhaften, ein Aktant.452 Objekte hätten die Eigenschaft, sich schnell von Mediatoren in Zwischenglieder zu verwandeln. Besonders die vermittelnde Rolle technischer Dinge sei schwierig einzuschätzen, da sie dem Blackboxing unterliege. Einem Prozess, der die vereinte Produktion von Akteuren und Artefakten völlig undurchsichtig mache.453 Um insbesondere technische Dinge zum Sprechen zu bringen, um herauszufinden, welche Unterschiede sie erwirken, empfiehlt Latour fünf „tricks“.454 Erstens die Erforschung von Innovationen in der Werkstatt eines Handwerkers, im Design Department eines Ingenieurs, im Labor eines Wissenschaftlers, in den Fokusgruppen der Marktforscher, zu Hause beim User und in den vielen sozio-technischen Kontroversen. An diesen Stätten würden die Objekte durch Meetings, Pläne, Entwürfe, Regularien und Versuche ein

447 | Ebd. 448 | Ebd. 449 | Ebd, 69 (eigene Übersetzung) 450 | Ebd. 76. 451 | Ebd. 72. 452 | Ebd. 71. 453 | Bruno Latour (2006): „Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie.“ In: Belliger/ Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Aktuer-Netzwerk-Theorie. transcript Verlag, Bielefeld. 483-529, 491. 454 | Latour (2005) 79.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 175 vielgestaltiges, komplexes Leben führen. Hier erschienen sie vollkommen vermischt mit anderen, eher traditionellen sozialen Handlungsinstanzen.455 Als zweiten „Trick“ zum Sichtbarmachen der Spuren des Handelns von Objekten, beschreibt Latour Distanz. Distanz im Sinne von Zeit, wie in der Archäologie, im Sinne von Entfernung, wie in der Ethnologie oder im Sinne von Fähigkeiten und Fertigkeiten, wie dies in Lernsituationen der Fall wäre. Obwohl solche Assoziationen nicht per se Innovationen nachzeichnen würden, entstünde, zumindest für den Beobachter, die gleiche Situation der Neuheit, wenn der normale Handlungsverlauf durch seltsame, exotische, archaische oder mysteriöse Geräte unterbrochen würde. In diesen Begegnungen würden Objekte, zumindest für eine Weile, zu Mediatoren, bevor sie durch Know-How, durch Gewohnheit oder Nichtnutzung wieder verschwänden.456 Die dritte Gelegenheit, den Handlungsradius von Objekten auszuloten, entstünde bei Unfällen, Pannen und Defekten. Plötzlich würden stille Zwischenglieder sich in ausgewachsene Mediatoren verwandeln. Selbst Objekte, die eine Minute zuvor vollautomatisch, autonom und ohne menschliche Handlungsträger erschienen, wären dann mit einmal von Massen hektischer Menschen mit schwerem Gerät umzingelt. Die Columbia Space Shuttle hätte gezeigt, wie Objekte in Bruchteilen von Sekunden ihren Existensmodus komplett umkrempeln könnten.457 Eine vierte Art der Erforschung des Handlungsspektrums von Objekten sei eine historische Betrachtung. Wenn Objekte sich für immer in den Hintergrund zurückgezogen hätten, sei es möglich, wenngleich schwieriger, sie durch Archive, Dokumente, Memoiren, Sammlungen in Museen etc. wieder ins Leben zu rufen. Als letzte Möglichkeit und unter dem Vorbehalt des Scheiterns der anderen vier, erwähnt Latour, könne „the resource of fiction“ durch die Verwendung einer kontrafaktischen Geschichte, durch Gedankenexperimente oder scientifiction heutige solide Objekte in jenen fluiden Zustand zurückversetzen, der ihre Verbindungen mit Menschen aufzeige. In diesem Punkt würden Wissenschaftler von Künstlern lernen können.458 Zu 4.: Als vierte Quelle der Unbestimmtheit beschreibt Latour matters of fact (Tatsachen) versus matters of concern (von Roßler übersetzt als „umstrittene Tatsachen“)459 Zentral für Latours Vorgehen ist die symmetrische Auflösung des Sozialen und der Natur als ontische Kategorien. Für seinen Zugriff sei es wichtig, matters of fact von ihrer Reduktion durch „die Natur“ zu befreien und

455 456 457 458 459

| Ebd. 80. | Ebd. | Ebd. 81. | Ebd. 82. | Latour (2007). 151.

176 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ ebenso Objekte und Dinge von ihren „sozialen“ Erklärungen.460 Der wichtige ethische, wissenschaftliche und politische Punkt dabei wäre, dass wenn wir uns von der Welt der Fakten zu den Welten der matters of concern bewegten, wir uns nicht länger mit der Gleichgültigkeit gegenüber der Realität zufrieden geben könnten, wie sie mit den vielfachen „symbolischen“ Repräsentationen einer vermeintlich einheitlichen Natur einherginge, noch mit der vorzeitigen Vereinheitlichung, wie sie „die Natur“ bereitstelle.461 Ganz im Sinne ihrer Etymologie wären Objekte jetzt wieder Dinge geworden: Umstrittene Gegenstände virtueller Versammlungen.462 Das Ding dürfe jetzt als multiples aufgestellt werden, das durch unterschiedliche Perspektiven gefasst werden könne, bevor es möglicherweise später vereinheitlicht würde, je nach den Möglichkeiten des Kollektivs, dies zu tun.463 Das Soziale sei nirgendwo im Besonderen als ein Ding unter anderen, könne aber überall als Bewegung zirkulieren und nicht-soziale Dinge miteinander verbinden. Das Soziale als Assoziation verstanden, definiere eine neue „default position“, eine neue Standardeinstellung. Zu Beginn einer Studie sei zwar noch nicht klar, wie all die Akteure verbunden wären, klar sei aber, dass alle Akteure, die ins Feld geführt würden, miteinander dadurch verbunden sein könnten, dass sie andere zu etwas bewegten. Dies geschehe dabei nicht im Sinne eines Transports einer Kraft, die unverändert die gleiche bliebe, als eine Art treues Zwischenglied, sondern dadurch, dass Transformationen, manifestiert durch die vielen unerwarteten Ereignisse in den anderen Mediatoren, die ihnen in der Kette folgten, generiert würden.464 Wolle man die Qualitäten eines ANT-Berichts auflisten, gehöre dazu, dass Handlungsträger nicht einfach als unbestreitbare Tatsachen eingeführt würden, sondern als matters of concern, wobei der Modus ihrer Herstellung und ihrer stabilisierenden Mechanismen deutlich sichtbar sein müssten. Weiterhin sei es wichtig, die Mannigfaltigkeit nicht mit interpretativer Flexibilität zu verwechseln, oder den empirischen Zugriff dadurch als geschwächt zu sehen. Letztlich sei es wichtig, den Prozeduren Aufmerksamkeit zu schenken, durch die die Vielgestaltigkeit der Realität von der ihrer progressiven Vereinheitlichung unterschieden werden könnten.465 Zu 5.: Latour rät, die vier Unsicherheiten alle auf einmal anzugehen, wobei ihre Differenzen jeweils zu den anderen beitragen würden. Es solle so kostenreich wie nötig sein, Verbindungen zwischen den vielen Mediatoren herzu-

460 461 462 463 464 465

| Ebd. 109. | Ebd. 117. | Ebd. 119. | Ebd. 116. | Siehe hierzu, Teil 2 zum Thema „principle of irreduction“. | Ebd. 120.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 177 stellen, die jeden Schritt in Schwärmen begleiten würden. Das Unterfangen solle so reflexiv, artikuliert und ideosynkratisch sein, wie die Akteure, die in seiner Ausführung kooperieren. Es müsse in der Lage sein, Unterschiede zu registrieren und Vielgestaltigkeit zu absorbieren, und es müsse für jeden neuen Fall neu entworfen werden.466 Das scheinbar unmögliche Unterfangen, all diese Unsicherheiten auf einmal zu bewältigen, werde durch die fünfte Unsicherheit möglich. Nämlich die, über die Studie selbst. „What is an account?“ fragt Latour und widmet diese letzte Unsicherheit dem Text.467 Man müsse nicht das traditionelle Ziel der Erlangung von Objektivität aufgeben, um sich mit großer Sorgfalt der „schweren textuellen Maschinerie“ zu widmen.468 Es könne nicht darum gehen, objektive Texte in Opposition zu subjektiven anzuordnen. Ein guter Text zeichne sich dadurch aus, dass Objekte nachgezeichnet werden, die die Chance erhielten, ihrer Darstellung zu widersprechen („given the chance to object“).469 Objektivität werde hergestellt durch die Anwesenheit vieler „objectors“, nicht durch die Parodie eines objektivistischen Genre. Während Naturwissenschaftler notgedrungen wenigstens einige der vielen Eigenheiten ihrer widerspenstigen Objekte in ihre Berichte („accounts“) mit einbeziehen müssten, schien es den Soziologen alter Schule vorbehalten, das präzise Vokabular ihrer Informanten in ihrer eigenen Allzweck-Metasprache zu ersticken.470 Textberichte („textual accounts“) seien das Labor der Sozialwissenschaftler, und wenn Laborpraxis hier eine Hilfe sein könne, dann gerade wegen der Künstlichkeit des Ortes, an dem Objektivität erreicht werden könne, unter der Bedingung, dass Artefakte durch kontinuierliche und obsessive Aufmerksamkeit aufgespürt würden. 471 Ein guter Bericht würde ein Netzwerk nachzeichnen. Mit Netzwerk sei eine Kette von Handlungen gemeint, bei der jedes Element als ausgewachsener Mediator behandelt werde. Ein guter ANTBericht sei eine Erzählung oder Beschreibung oder eine Proposition, bei der alle Akteure etwas täten. Statt einfach Wirkungen zu transportieren ohne sie zu transformieren, könne jeder Punkt im Text eine Abzweigung sein, ein Ereignis oder der Ursprung einer neuen Übersetzung. Sobald Akteure nicht als Zwischenglieder, sondern als Mediatoren behandelt würden, werde die Bewegung des Sozialen sichtbar für den Leser. Durch viele textliche Erfindungen könne das Soziale wieder zur zirkulierenden Entität werden.472 Ein Text in diesem Sin-

466 467 468 469 470 471 472

| Ebd. 121. | Ebd, 122. | Ebd. 124. | Ebd. 125. | Ebd. | Ebd. 127. | Ebd. 128.

178 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ ne sei als Test zu verstehen, wieviele Akteure der Autor oder die Autorin als Mediatoren zu behandeln in der Lage wäre, und inwiefern er oder sie das Soziale vollbringen könne („achieve the social“).473 Ein Netzwerk sei also nicht als Ding da draußen zu verstehen, das ungefähr die Form miteinander verbundener Punkte hätte, wie ein Telefon-, ein Autobahn- oder ein Kanalisations-Netzwerk. Ein Netzwerk sei lediglich ein Indikator für die Qualität eines Textes über die vorliegenden Gegenstände. Es qualifiziere dessen Objektivität, das hieße, die Fähigkeit jedes Akteurs, andere Akteure dazu zu bringen, unerwartete Dinge zu tun. Ein guter Text entlocke Netzwerke von Akteuren, wenn er dem Autor erlaube, den Ensembles von Beziehungen zu folgen, die als begrenzte Anzahl von Übersetzungen definiert werden könnten.474 Das Netzwerk sei ein Werkzeug, dass dabei helfe, etwas zu beschreiben, nicht das, was es zu beschreiben gelte.475 Ein Akteur-Netzwerk Bericht sei ein „risky account“, was bedeute, dass er leicht scheitern könne und dies auch meist täte, denn er könne sich weder der Künstlichkeit des Unterfangens entledigen noch seines Anspruchs auf Genauigkeit und Wahrhaftigkeit. Noch weniger automatisch sei seine Relevanz für die Akteure selbst und die politische Bedeutung, die ihm zukommen könne.476 Auch hier plädiert Latour für Bescheidenheit. „We are not after grandeur,“ schreibt Latour, und „no scholar should find humiliating the task of sticking to description.“477 Dichte Beschreibung („thick description“) sei ein nützliches Konzept, insofern als dass es die Aufmerksamkeit aufs Detail hervorhebe. Der Begriff Dichte (thickness) solle dabei ebenfalls die Frage aufwerfen, ob genug Elemente versammelt (assembled) seien, wobei dem Wort Versammlung (assembly) politische Bedeutung beigemessen würde.478 Der Kritik, dass Beschreibung zu partikular, zu idiosynkratisch und zu lokalisiert sei, wäre zu entgegnen, dass es entgegen dem scholastischen Sprichwort, Wissenschaft nur vom Partikularen gebe. Wenn Verbindungen zwischen Feldern hergestellt würden, sollte dies durch mehr Beschreibung geschehen, nicht durch einen „free ride“ durch Allzweck-Entitäten wie Gesellschaft, Kapitalismus, Empire, Normen, Individualismus etc.. Ein guter Text solle in einem guten Leser die Reaktion hervorrufen: ‚Mehr Details bitte’.479 Es ginge nicht um Reduktion, sondern um Irreduktion, schreibt Latour, und, nur wer noch nie versucht habe, über Mediatoren, statt

473 474 475 476 477 478 479

| Ebd. 129. | Ebd. 129. | Ebd. 131. | Ebd. | Ebd. 136, 137. | Ebd. 136. | Ebd. 137.

DAS ZEITGENÖSSISCHE | 179 über Zwischenglieder zu schreiben, würde sagen, dass dies eine leichte Aufgabe sei, die dem ‚bloßen Beschreiben’ ähnele.480 Das von Latour vorgeschlagene myopische, von Unsicherheiten ausgehende Vorgehen, liest sich so als detailreiche, ausdifferenzierte „Ethnographie nach der Krise“, wie sie im ersten Teil der Arbeit unter Zuhilfenahme der vier Eckpunkte - Vervielfältigung der Gegenstände unter Beobachtung, Vervielfältigung raum-zeitlicher Konstellationen („Felder“), kollaboratives Vorgehen, Aufmerksamkeit gegenüber Darstellungsformen - skizziert wurde. Das folgende Kapitel ist der Versuch, eine ethnographische dichte Beschreibung in diesem Sinne zu gestalten.

480 | Ebd. 138.

Hypermediale Ethnographie

Im Rahmen des Modellprojekts sense&cyber entstand aus der ‚wissenschaftlichen Begleitung’ eine Vorgehensweise, die wir als Hypermediales Ethnographieren bezeichneten, und die ihren Niederschlag im 2003 veröffentlichtem Buch sense&cyber – Kunst, Medien, Pädagogik1 mit beiliegender DVD-ROM fand. Im Folgenden wird die Hypermediale Ethnographie als Form der Wissensgenerierung mit den begrifflichen Werkzeugen Latours dicht beschrieben. Diese dichte Beschreibung wendet sich auf dreifache Weise der Frage der Repräsentation zu. Erstens in dem Bemühen, die ‚Wirklichkeitsproblematik‘ anzuerkennen und Formen zu erproben, die eine im Sinne Latours objektivere und wissenschaftlichere ethnographische Praxis ermöglichen. Zweitens in der Beschäftigung mit der Darstellung, der ‚Vergegenwärtigung‘, des Inslebenrufens der Hypermedialen Ethnographie und der Neuen Medien als Wissens- und Wissensgenerierungsobjekten, und drittens in Bezug auf die Frage, ob das dort generierte Wissen ‚demokratisch sozialisiert‘ wurde, und wer an welcher Stelle für wen oder was spricht. Also: Worum handelt es sich bei der Hypermedialen Ethnographie, wie funktioniert sie, wie ist sie entstanden, wer spricht dort und für wen, welche Art von Wissen wird produziert und wie? All diesen Fragen gehe ich in diesem Kapitel nach. Der erste Aspekt der Frage der Repräsentation betrifft die Form, die dieses Experiment in einer neuen, einer anderen Art dichter Beschreibung und ethnographischer Praxis verkörpert. Hier orientiere ich mich an Latours Scientifiction2 und bediene mich vier artifizieller Apparaturen, um dadurch eine dichtere, lebendigere und objektivere Beschreibung entstehen zu lassen, als dies im herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Duktus möglich ist. Latour beschreibt seine Scientifiction als „Genre“, das unterschiedliche diskursive Modi nebeneinander stellt, die sich visuell durch unterschiedliche Schrifttypen auseinander halten lassen. Zu diesen diskursiven Modi zählen fiktive und nicht-fiktive. Wie im dritten Kapitel erläutert, sieht Latour die fiktiven Teile nicht im Widerspruch zu seinem Vorhaben, durch seine Form der Forschung mehr Objektivität zu generieren.3 Ganz im Gegenteil. In der folgenden dich1 | C. Lemke, T. Meyer, S. Münte-Goussar, K.-J. Pazzini, Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.) (2003): sense&cyber – Kunst, Medien, Pädagogik, transcript Verlag, Bielefeld. 2 | Vgl. hierzu Kapitel 3, Seite 107 f. 3 | Ebd.

182 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ ten Beschreibung dient so auch ein fiktiver Dialog als ‚roter Faden’. Ein Faden, den eine Ameise (ANT) hinter sich herzieht, wie die von Daedalus durch das Schneckengehäuse gelockte, in der von Latour an mehreren Stellen zitierten Erzählung vom König Minos, der, um Daedalus zu fangen, demjenigen Geld versprach, dem die scheinbar unlösbare Aufgabe gelingen würde, einen Faden durch ein Schneckengehäuse zu fädeln.4 Der Faden kommt hier der „kurzsichtigen“, „spurenschnüffelnden“ Ameisentätigkeit zu Gute, als die Latour eine dichte Beschreibung im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie darstellt.5 Der fiktive Dialog in dieser Untersuchung erfolgt zwischen einem Erziehungswissenschaftler und einer Lehramtsanwärterin, die seine wissenschaftliche Hilfskraft ist. Beide bemühen sich, die im Rahmen von sense&cyber entwickelte Hypermediale Ethnographie mit dem begrifflichen Instrumentarium Paul Rabinows und Bruno Latours ‚dicht’ zu beschreiben. Die Hilfskraft soll dabei die von Paul Rabinow beschriebene Aufgabe übernehmen, den Wissenschaftler beim Beobachten zu beobachten. Diese Beobachtung des Beobachters soll verhindern, dass sich die Kategorien des ersten Beobachters im Prozess der Beobachtung verfestigen und verselbständigen. Der Beobachter, in diesem Fall die Beobachterin des Beobachters, stellt damit sicher, dass die von Rabinow geforderte nominalistische Sensibilität den Ton der Untersuchung bestimmt. Dieser fiktive Dialog inszeniert eine sozio-technische Relation. Dort wird die Hypermediale Ethnographie als Computerprogramm in der Unterhaltung zweier Menschen, die sich mit dem Programm vertraut machen, dargestellt. Die Figuren sind fiktiv. Das, was dort als Austausch mit dem Programm geschildert wird, hat in dieser Untersuchung allerdings bei der Betrachtung der DVD-ROM tatsächlich so stattgefunden. Zwischen den Teilen dieses Dialog tauchen weitere Textsorten auf. Dort ist die Stimme einer Zeugin zu hören, die Anekdoten und Berichte aus der Forschungspraxis im Rahmen von sense&cyber liefert (Text in kursiver Schrift). Bei Donna Haraway, einer jener Wissenschaftstheoretikerinnen, zu der Latour seine inhaltliche Nähe wiederholt betont hat, ist die Figur der Zeugin ausgearbeitet. Im Aufkommen der Naturwissenschaft hätte der bescheidene Zeuge („modest witness“) wissenschaftlicher Experimente eine zentrale Rolle gespielt. Er hätte sich selbst zurücknehmen müssen, um unvoreingenommen für die Dinge zu sprechen. Der bescheidene Zeuge wäre spezifisch männlich und europäisch und spiele eine Hauptrolle im Emporkommen der Moderne.

4 | Bruno Latour (1998a): „Über technische Vermittlung. Philosophie, Soziologie, Genealogie.“ In: Werner Rammert (Hg.): Technik und Sozialtheorie. Campus Verlag. 29-83, 29 und Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandora. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main. 213. 5 | Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press, Oxford. 17.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 183 Wissenschaft betont Haraway braucht Zeugenschaft, und sie plädiert für eine Neufiguration, für eine Mutation des modernen bescheidenen Zeugen. Dieser mutierte bescheidene Zeuge, diese Zeugin, bringt sich nicht zum Verschwinden und insistiert auf ihrer Situiertheit.6 Die Zeugin ist im Folgenden eine weitere artifizielle, diskursive Apparatur. Ihr Bericht ist nicht fiktiv. Nicht fiktiv sind ebenfalls die in grauen Kästen dargestellten Quellen. Neben Material der Hypermedialen Ethnographie aus dem Buch und der DVD-ROM finden sich dort Manuskripte und Transskripte aus der sense&cyber Projektpraxis. Nicht fiktiv und im herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Duktus ist auch der vierte diskursive Modus. Hier spricht ein (unsichtbarer) Autor (Text in Grundschrift) und steuert Hintergründe, Zusammenfassungen und Kommentare bei.

Anfangen Hilfskraft (H.): „Wo fangen wir an?“ Erziehungswissenschaftler (E.): „In medias res,“ würde ich sagen. Inmitten der Dinge, ganz im Sinne Latours. Bei der DVD-ROM. Da steht ja selbst so schön „Hypermediale Ethnographie“ in der Mitte der Scheibe. H: „Ich hab mir das schon mal zu Hause angeguckt, das Buch mit der DVD. Aber bei mir läuft die nicht.“ E: „Kann doch gar nicht sein! Da haben sie irgendwas falsch gemacht!“ H: „Nein, nein, die lief da nicht.“ E: „Geben sie mal her. So, ich versuch das gleich mal auf meinem neuen Notebook. [Klappt den Deckel vom Laptop auf, schaltet es an und schiebt die DVD in den seitlichen Schlitz.] So. Jetzt sehen sie da das Laufwerk und doppelklicken: s&c win. Haben sie einen Mac? Dann Mac 9. So. Dann wählen sie das Verzeichnis, wo das rein soll. Naja, machen wir mal ein neues Verzeichnis. Das nennen wir s&c und sagen ok. [Pause] Oh. Meine Quicktimeversion ist inkompatibel. Einen Moment. Dann muss ich mir da noch mal ein update hochladen. H: [Packt ihren Laptop aus.] „Ich versuch das jetzt auch noch mal. Dürfte ich mal ihre DVD aus dem Buch nehmen?“ E: „Bitte. [Pause] Meine Güte. Das dauert ja wieder hier. So, jetzt noch mal: s&c windows. Verzeichnis. So, das hatten wir s&c genannt. Oh, geht nicht, das hat er schon. Ach nee, haben wir ja auch eben eingerichtet. Na gut. s&c1 dann eben. Jetzt aber […] 6 | Donna Haraway (1996): Modest_Witness@Second Millenium. FemaleMan©_Meets_OncoMouse™. Feminism and Technoscience. Routledge, London.

184 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ H: „Da läuft nix.“ E: „Was? Ihre Quicktimeversion ist inkompatibel. Version 6 oder neuer. Habe ich doch eben gemacht!“ H: „Sie haben ihn ja auch noch mal neu gestartet. Hm.“ E: „Gibt’s ja gar nicht.“ H: „Versuchen Sie es doch mal auf ihrem alten Rechner.“ E: „Nee, dass muss doch hier auch laufen. [...] So […] downloads. Wo finde ich denn hier downloads. […] ausführen […] hab ich ja alles eben schon mal gemacht […] fortsetzen […] Installation erfolgreich abgeschlossen […] Bitte lesen öffnen. Gut […] kenn’ wir ja […] fertig stellen. Möchten Sie […] Nein danke. Soll man gleich wieder was kaufen. Nicht zu fassen. So Verzeichnis s&c. Geht nicht, existiert schon. Ach ja gut, s&c2. […] Quicktime ist inkompatibel! Nein! Ich fass es nicht! Ich fahr ihn noch mal runter.“ H: „Probieren sie es doch mal auf dem alten Rechner. Der ist doch ganz neu, der Laptop, oder?“ E: „So. Wählen sie ein anderes Verzeichnis. s&c 3. So, jetzt aber. […] Installation ist abgeschlossen. Starten sie s&c von der Festplatte aus. Na bitte. Geht doch.“ [Dokument: Manuskript von Claudia Lemke zum Vortrag im Rahmen des Treffens wissenschaftlicher Begleiter in Bonn. Gustav-Stresemann Institut 3./4.9.02] Zur Entstehung der Jugendkunstschulen Im März 1967 wurde mit der Schrift ‚Jugendkunstschulen in Nordrhein-Westfalen“ das kulturpädagogische Konzept der Schulen vorgestellt. Hier ging es im Wesentlichen um die Öffnung für alle künstlerischen Medien im Kontrast zu den bestehenden Musikschulen und um die Öffnung dieser Institutionen für alle. Nach dem Prinzip ‚alle Künste für alle sozialen Schichten’ wurde 1968 die erste Jugendkunstschule in Wuppertal gegründet. Laut einer Broschüre des Bundesverbandes der Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen (BJKE) entstanden die Jungendkunstschulen als ‚Alternative zur einseitig kognitiven Bildung an Schulen, die zu wenig sinnliches Lernen vermittelten, Musik- und Kunstunterricht nur einen Lückenbüßerplatz im Fächerkanon einräumten und andere Künste wie Theater, Tanz, plastisches Gestalten gar nicht anboten.’ Ende der Siebzigerjahre breitete sich die Jugendkunstschulbewegung bundesweit aus. 1978 wurde die erste Kunstschule in Niedersachsen eröffnet, heute gibt es in Niedersachsen 46 Kunstschulen, die im Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen e.V. organisiert sind. In den anderen Bundesländern verlief die Entwicklung zunächst zögerlicher. Mittlerweile sind dem BJKE bundesweit 385 Jugendkunstschulen und kulturpädagogische Einrichtungen bekannt.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 185 Projektantrag Landesverband Im März 2000 startete der Landesverband der Jugendkunstschulen Niedersachsen seinen Beitrag zum Bund-Länder-Kommission Programm ‚Kulturelle Bildung im Medienzeitalter’ mit der These: ‚Ästhetische Kompetenz und Medienkompetenz sind Schlüsselqualifikationen’. Im ersten Antragstext heißt es: „Medienkompetenz wird nicht reduziert als sachgerechte Bedienung der (elektronischen)Werkzeuge, sondern als ästhetisch motivierter Gebrauch aller kultureller Symbolisierungen verstanden; ästhetische Kompetenz als Wahrnehmungs- und Gestaltungskompetenz. Die ausgewählten Kunstschulen – Aurich, Hannover, Oldenburg – übernehmen als ‚Konzepteigner’ für das Modellthema gleichzeitig auch Patenschaft für das Kunstschulkonzept insgesamt. Um Neues zu entwickeln, muss Bewährtes unter die Lupe genommen werden. Das heißt, nicht isoliert die Bedeutung der Neuen Medien zu erfassen, sondern auch die bisherige ästhetische Erfahrungs- und Kompetenzbildung zu reflektieren. Körper, Raum, Material, Orte und Zeiten wichtige Bezugspunkte in der Kunstschulpraxis erfahren im Kontext der elektronischen Medien neue Bedeutung. Der Projektbeitrag des Landesverbandes der Kunstschulen Niedersachsen e.V. ‚sense&cyber’ spiegelt das Wechselspiel und die Balance zwischen materiell-sinnlicher und virtueller Welt. Kunstschulen sind in diesem Forschungsprojekt die Laboratorien, in denen diese Aspekte im Theorie/Praxis Dialog mit den am Modell beteiligten Kooperationspartnern ausgetauscht werden, um neue Konzepte und Angebote für eine ästhetische Praxis im Medienzeitalter zu entwickeln.“ Die letzten Endes vier beteiligten Jugendkunstschulen bewerben sich mit entsprechenden Anträgen jährlich um die Weiterführung ihrer sense&cyber Teilprojekte. Kooperationspartner sind das Niedersächsische Landesinstitut für Fortbildung und Weiterbildung im Schulwesen (NLI) und der Bundesverband der Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen (BJKE). Wissenschaftlich begleitet wird sense&cyber seit Juni 2002 von Torsten Meyer, dem Leiter des MultiMedia Studios im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg und KarlJosef Pazzini, Professor für ästhetische Bildung im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Seit Januar 2001 ergänzen Stephan Münte-Goussar und Claudia Lemke das Team. Ein Austausch der Kooperationspartner findet in regelmäßigen Modellforen (ca. alle drei Monate) statt. Zusätzliche öffentliche Fachforen dienen der Vertiefung von Inhalten, die in der Projektpraxis relevant werden. E: „Mac Book Pro. Schönes Gerät. Wo haben sie denn den her? Darf ich mal.“ H: „Ja wirklich ein toller Rechner. Da: s&c, 4,25 Gig.“ E: „s&c Mac X.“ H: „Ja, Mac OS Zehn. Leopard gab’s da wohl noch nicht.“ E [liest]: „Leider ist ein Fehler aufgetreten. Eine Datei konnte nicht auf die Festplatte geschrieben werden. Die Installation wird beendet. Bitte starten sie das Installationsprogramm erneut.“ H: „Immer die gleiche Fehlermeldung.“

186 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ E: „Jetzt mal mit neuem Ordner. Der heißt jetzt sense&cyber. Schon vergeben. s&c1 erstellen und öffnen […] Wieder die gleiche Fehlermeldung. […] Wir schmeißen die DVD noch mal raus.“ H: „Hm, komisch, dass der das nicht lesen kann. Vielleicht ist der zu neu.“ E: „Nein. Zu neu gibt’s nicht. Natürlich können die neuen Geräte den alten Kram lesen. Nur anders herum wird’s schwierig.“ H: „Wieder die gleiche Fehlermeldung. Das wird darauf nichts. Auf meinem Mac Mini zu Hause klappt das aber, der ist so alt wie die DVD.“ E: Das kann ja eigentlich nicht sein! Nun gut. Lassen wir das. Sie können ja, wenn sie hier arbeiten wollen, das Notebook benutzen.“ Dokument: Manuskript von Claudia Lemke zum Vortrag im Rahmen des Treffens wissenschaftlicher Begleiter in Bonn, Gustav-Stresemann Institut: 3./4.9.02] Transmissionen Im Rahmen des Projekts sense&cyber geht es um die Erprobung des Einsatzes ‚neuer’ Medien in der Kunstschulpraxis. Auf vier verschiedene Arten findet an den unterschiedlichen Standorten eine Methodenreflexion in Theorie und ästhetisch-pädagogischer Praxis statt. Es geht um das Zusammenspiel von ‚neuen’ und ‚alten’ Medien als künstlerische Produktionsmittel, um deren jeweilige Möglichkeiten und Begrenzungen; es geht um die Rolle des Lehrens und Lernens in Bezug auf den Umgang mit den neuen Technologien; und schließlich um die Funktion und Gestaltung kommunikativer Netzwerke, nicht zuletzt der elektronischen. Wir erwarten, dass die Erfahrungen aus allen vier Projekten nicht nur Rückschlüsse zulassen werden in Bezug auf Methoden kultureller Bildung im Kontext neuer Medien, sondern, dass darüber hinaus Möglichkeiten und Wege aufgezeigt werden können, kulturelle Bildung unter dem Vorzeichen der Neuen Medien neu zu denken; Wege, die richtungsweisend sein können im Hinblick auf mögliche Veränderungen der institutionellen Strukturen der Kunstschulen als Bildungseinrichtungen. Von hier aus ergeben sich auch vielfältige Anregungen und/oder Irritationen für andere Bildungsinstitutionen, auch für die allgemeinbildenden Schulen. Wir erwarten nicht, dass sich die Erfahrungen der Kunstschulen ohne weiteres verallgemeinern lassen und übertragbar sind; dass es objektive Kriterien zur Messung des Erfolgs oder der Effektivität des Vorgehens in den einzelnen Projekten gebe. Versuche der gesicherten Erfassung oder Quantifizierung von Ergebnissen scheinen in dem gegebenen Zusammenhang nicht sinnvoll. Die sich an naturwissenschaftlichen Prinzipien orientierenden Methoden, die von der Existenz einer neutralen Beobachterperspektive, von Wiederholbarkeit, Überprüfbarkeit und einer Kontrolle über alle Variablen ausgehen, erscheinen in Berührung mit dem Gegenstandsbereich Kunst problematisch. Bereits Mollenhauer wies auf das schwierige Verhältnis von ästhetischer Bildung und empirischer Forschung hin und schlug in diesem Zusammenhang qualitative Forschungsmethoden vor. Die Art der Darstellung der Projekte muss, genau wie die Projekte selbst, vom Einzelnen zeugen. Diese Zeugenschaft wird zu Übertragungen führen, im engen Wortsinne: andere können affiziert und infiziert werden. Sie können verführt werden, eine ähnliche Praxis zu erproben. Sie können genötigt

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 187 werden, über ihre überkommene Praxis erneut nachzudenken. Übertragung also nicht im Sinne einer Übertragbarkeit, einer Machbarkeit an einem anderen Ort, sondern im Sinne einer ‚Transmission, die das Einzige bei anderen stimulieren kann – hin auf einen Kontakt zum Spannungsfeld von Besonderem und Allgemeinem’ (Pazzini). Besonders im Kontext Kunst scheint dies eine adäquate Vorgehensweise. Die Kunst macht die Sigularität der Wahrnehmung deutlich: Die Wirklichkeit ist eine Frage der eingenommenen Perspektive und deren Wirkung. Die Kunst lässt das Eigene als Anderes erscheinen. ‚Die Fremdheit der Welt‘ schreibt Adorno ‚ist ein Moment von Kunst, wer anders denn als Fremdes sie wahrnimmt, nimmt sie überhaupt nicht wahr.‘ Die Frage nach dem Anderen steht im Zentrum ethnographischer Feldforschung. Der aus ihr resultierende Bericht, diese ‚dichte Beschreibung‘ bedient sich der Mechanismen der Collage und Montage, um die Polyvokalität und Multiperspektivität der Situationen an den Kunstschulen wiederzugeben. Da Multimedia- und Hypertextdokumente von ihrer Struktur her besonders für eine solche Darstellung geeignet sind, wird neben der schriftlichen Dokumentation eine begleitende CD-ROM entstehen. Von einem hypertextalischen ethnographischen Bericht erhoffen wir uns, dass er eine Vielzahl von Interpretationen des gesammelten Materials zulässt. E [Sitzt vor dem Notebook]: „So. Schauen wir doch mal, was wir da finden. Exe und Doppelklick.“ H [Hat das Buch auf dem Schoß und guckt mit auf den Bildschirm des Notebooks.]: „Kennen sie das Geräusch? Das klingt doch so. Rittschesching […] Wie so eine alte Kasse, die aufgeht, wenn man den Hebel an der Seite runter macht. Und wenn die Kasse offen ist, haben sich alle Daten fein säuberlich am rechten Bildschirmrand versammelt. Lustig. Jetzt haben wir die Daten, jetzt geht es ans bezahlen […] E: „Da interpretieren sie wohl ein bisschen viel rein. Meinen sie nicht? Außerdem ist das doch eher so ein Stimmengewirr, wie bei einer großen Versammlung, wenn sich das aufbaut und dann ein Ratusch, so als ob dann die vielen Stimmen mit einem entschlossenen Papier- auf- den-Tisch-knallen ruhig gestellt werden.“ H: „Ja. Auch schön und wie findet man da jetzt was?“ E: „Wenn man über die vielen wimmeligen Wörter scrollt, bekommt man ab und zu mal eins zu fassen. Aber so lässt sich ja nichts suchen.“ H: „Probieren Sie es doch mal mit der Menüleiste da oben.“ [Dokument: Auszug aus der Einleitung von Torsten Meyer und Stephan Münte-Goussar zur Abschlussbericht sense&cyber.7 Die DVD enthält eine zwar imposant wirkende, aber doch nur fragmentarische Auswahl von ca. 600 Text-, Bild- und Video-Materialien, die im Verlauf des Projektes als Beobachtungen, Ergebnisse, Vorläufigkeiten,

7 | T. Meyer, S. Münte-Goussar (2003): „Zum Rahmen: preface&interfaces.“ In: C. Lemke, T. Meyer, et al, Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen eV. (Hg.): sense&cyber – Kunst, Medien, Pädagogik, transcript, Bielefeld. 9-16, 12f.

188 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Planungen, Erwartungen entstanden sind, zu seiner Vorbereitung beigetragen haben oder als Kommentare und Wertungen nicht nachträglich, aber gegen Ende des Projekts formuliert wurden. Diese Ansammlung von Daten lässt sich in verschiedene Ordnungen bringen. Die Benutzerschnittstelle der DVD erlaubt es, chronologisch zu sortieren um etwa einen Eindruck vom zeitlichen Verlauf des Projektgeschehens zu vermitteln. Die Materialien können geographisch sortiert werden, um zu vermitteln, wo etwas stattgefunden hat, sie können sortiert werden nach Alphabet, nach Stichworten, nach Zusammenhängen in Teilprojekten, nach beteiligten Personen usw. und sie können sortiert werden nach sechs sehr unterschiedlichen Geschichten des Geschehens, die die Materialen in jeweils unterschiedlichen thematischen Perspektiven erscheinen lassen durch Zusammenstellungen, Auslassungen, Assoziationen und Kommentare. Jede der vier am Projekt beteiligten Kunstschulen hatte so die Möglichkeit, die eigene Geschichte des Geschehens zu formulieren (vgl. die Docs „Perspektive miraculum“, ‚„Perspektive Kunst-Werk“, „Perspektive Koppelschleuse, „Perspektive Klex“ auf der DVD). Die drei anderen Geschichten werden wiederum jeweils anders - inhaltlich dramaturgisch - erzählt von Stephan Münte-Goussar (Überschau“, vgl. auch in diesem Band, 91-116). Claudia Lemke (Projektdokumentation“, vgl. auch in diesem Band, 119-240) und Torsten Meyer (Kunstpädagogik im Neuen Medium“, vgl. auch in diesem Band, 241-264), Mitarbeitern der wissenschaftlichen Begleitung.Alle Ordnungen des Materials stehen - zumindest formal - auf gleicher hierarchischer Ebene und nebeneinander. Damit ist der Versuch unternommen, das Projektgeschehen als hypermediale Narration zur Darstellung zu bringen. Nicht als die eine Geschichte, sondern als Hyper-einander von kleinen Erzählungen, großen Fragmenten, Stichwortsammlungen, Topologien, thematischen und assoziativen Knoten. E: „So. Da oben in der Menüleiste, mal gucken, meinen sie: Datei, Bearbeiten, History, Bookmarks, Suchen. Ja prima. Nach Name, Stichwort, Inhalte und Ansicht. Ein ganz schöner Sack voll: Alphabetisch, chronologisch, Geographie, Topologie, Projekte, Foren, Personen. Dann Überschau, Projektdokumentation, Kunstpädagogik im Neuen Medium, Perspektive Miraculum, Perspektive KunstWerk, Perspektive Koppelschleuse, Perspektive Klex, Buch. Schön. Klicken wir doch mal unter Ansicht auf Buch. Ist ja schön, dass man das hier auch aufschlagen kann. Hm. Da ist aber kein Buch. Ansicht Buch. Unter Ansicht Buch steht ChaosHm. Ach so, das, was man da auf dem Bildschirm sieht, heißt Chaos.“ H: „Nein halt, das kann ja nicht sein. Also da kommen jetzt Cluster aus dem Datenstreifen da rechts. Und dann wieder dieses Rittschesching Geräusch dazu, und was ist jetzt da geclustert? Sind das chaotische Cluster, oder was? Klicken sie doch da mal drauf.“ [Dokument: Auszug aus der Einleitung von Torsten Meyer und Stephan Münte-Goussar zum Abschlussbericht sens&cyber.8]

8 | Ebd., 13.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 189 Buch und DVD sind zusammenzudenken. Beide Abspieldispositive verweisen in je unterschiedlicher Form aufeinander. Es gibt Ein- und Ausgänge in beide Richtungen. Claudia Lemke verweist in ihrem Text „Projektdokumentation“ auf Materialien der DVD. Im Buch zeigen sich diese Verweise als in Klammern eingefasste Hinweise auf Weiteres. Das Interface der DVD stellt die Verweise als anklickbare Links dar. Dort kann man nicht nur lesen, dass hier Bezug auf Interview X genommen wird, sondern man kann dieses Interview als kurzen Videofilm sofort ansehen. Man kann aber auch sehen, in welchen Zusammenhängen und anderen Erzählungen dieses Interview außerdem steht. Andersherum: In der Ordnung„Topologie“ der DVD wurde unter dem Stichwort Y ein Dokument gefunden, das sich unter anderem als Bestandteil der ‚Überschau’ Stephan Münte-Goussars zu erkennen gibt. Ein Klick auf die unterschiedlichen Ordnungen darstellenden‚Karteikarte’ wechselt den Kontext und springt in die Erzählung der‚Überschau’. Noch einmal andersherum: Ein Dokument, das beim Versuch einer chronologischen Rekonstruktion des Projektgeschehens in Erscheinung getreten ist, stellt sich auf der DVD dar als Teil eines Vortrags, der auf dem Fachforum XY gehalten wurde. Der Vortrag zog sich über 45 Minuten hin. Der lesende Nachvollzug am Bildschirm wird anstrengend. Die Ordnung‚Buch’der DVD zeigt an, der Vortragstext findet sich im Buch auf Seite Z. Durch diese Art der Rezeption wird die durch die Gliederung des Buches als medientechnologisch notwendige eindeutige Sequenz von Worten, Sätzen, Abschnitten, Texten unterlaufen. Zugleich aber wird beim Wechsel ins Buch [...] eine Ordnung wieder hergestellt, temporär, der Möglichkeit nach [...] Man kann nicht übersehen, wo im Buch man sich befindet.“

E: „Wo bin ich denn jetzt?“ H [Blättert im Buch]: „Im Buch.“ E: „Nee auf der DVD.“ H: „Ja, na klar. Da sind sie im Buch. Steht doch da: Zum Rahmen: preface + interfaces. Das ist die Einleitung zum Buch. Hier, Seite neun, steht da ja auch.“ E: „Klicken wir da mal drauf. Ja, dauert ein bisschen. Prima. Also ist da dann der Anfang. Ja, sehr schön. Gucken Sie mal, da kann man auf den Rand klicken und die Seite umblättern. Runterscrollen geht auch. Ja, da haben wir doch gleich was zur Hypermedialen Ethnographie. Super. Oh. Jetzt hat er mich rausgeschmissen.“ Den Anfang macht ein Vorschlag der Projektgruppe „Innovation im Bildungswesen“ des Ausschusses für Bildungsplanung der seit 2007 aufgelösten Bund- Länder- Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) zur Einrichtung des Programms Kulturelle Bildung im Medienzeitalter (KuBiM) im Jahr 1999. Basierend auf einer Programmskizze wurde im gleichen Jahr die Förderung des Programms durch die BLK beschlossen. Ebenfalls im gleichen Jahr erschien das von der Projektgruppe in Auftrag gegebene Gutachten „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“ (im Folgenden Expertise genannt), in dem unter der Federführung Karl-Josef Pazzinis (weitere Autoren sind: Bernd Enders, Max Fuchs und Rainer Büchner) der „inhaltlich konzeptionelle Rahmen für das Programm“ festgelegt war. Im Vorwort der Projektgruppe zum Gutachten findet sich die Notiz, dass die Expertise ein „Autorenbericht mit der Funktion einer Orientierungshilfe für die

190 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Planungen einzelner Modellvorhaben“ sei und nicht „eine Bund und Länder bindende Position der Projektgruppe Innovation im Bildungswesen“ darstelle. Verpflichtend für die Länder bliebe lediglich die „Integration ihrer jeweiligen Vorhaben in die gemeinsam beschlossene Programmstruktur.“9 Das Gesamtfinanzierungsvolumen (inklusive der Mittel aus den Ländern) betrug 11,6 Millionen Euro. Ein Mitglied der Projektgruppe „Innovation im Bildungswesen“ aus dem Hessischen Kulturministerium war mit der Koordination des Programms betraut. Als Programmträger fungierte das Zentrum für Kulturforschung (ZfKf ). Es war unter anderem für die Organisation von Tagungen zu bestimmten Themen und Treffen der wissenschaftlichen Begleiter, für die Erstellung sämtlicher Außendarstellungen des Programms sowie für die Verfassung des Abschlussberichts zuständig. Neben den Verantwortlichen in den Ländergremien waren sowohl die Projektkoordinatorin aus Hessen als auch der Programmträger an der Bewilligung von Projektanträgen aus den Ländern beteiligt. Voraussetzung für die Bewilligung war, dass die Einzelprojekte wissenschaftlich begleitet wurden. Insgesamt wurden im Rahmen von KuBiM in den Jahren 2000 bis 2005, 23 Modellprojekte in 13 Bundesländern durchgeführt. Die Expertise sollte den Antragstellern und Projekteignern als „grundlegende Orientierung“ dienen.10 Sie begründet die Forschungsnotwendigkeit und umreißt den Forschungsbereich. Als Gründungsdokument für das Programm bot die Expertise eine zentrale Entscheidungsgrundlage im Hinblick auf die Auswahl zu fördernder Projekte. 11

Versammeln Stephan Münte-Goussar und ich kamen hinzu, als Torsten Meyer schon das Projekt sense&cyber an den Kunstschulen in Niedersachsen mitgestaltet hatte. Er hat bei der Formulierung der ersten Anträge und Zwischenberichte geholfen, Anregungen und Vorschläge geliefert. Die Vorhaben hatten sich an den Kunstschulen in ganz unterschiedlicher Weise entwickelt. In Oldenburg gab

9 | Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) (Hg.): Materialien zur Bildungsplanung und zur Forschungsförerung, Heft 77: „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter. Gutachten zum Programm von Prof.Dr. Karl-Josef Pazzini, Universität Hamburg“ BLK (1999). Im Folgenden: Expertise. 10 | Bundesministerium für Bildung und Forschung (2005): „Gute Bilanz: Fünf Jahre BLK-Programm Kulturelle Bildung im Medienzeitalter.“ www.bmbf.de/press/1459.php. 02.07.08. vgl. auch: Zentrum für Kulturforschung (2005): KuBim. Künste-Medien Kompetenzen. Ergebnisse des BLK-Programms „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter.“ 11 | Vgl. Expertise

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 191 es schon sehr konkrete Vorstellungen was man wie und mit welchen Geräten machen wollte, und in Meppen musste mit der Projektarbeit begonnen werden, noch bevor die Bewilligung für die Anschaffung der Rechner durch war. Das war natürlich etwas unglücklich, aber zum Schluss hatte man den Eindruck, dass das, was da in Vorbereitung auf die Anschaffung der Computer gelaufen war, viel experimenteller, viel ‚medienadäquater’ – schreckliches Wort – viel zeitgemäßer, viel eher ‚Neue Medien’ war, als das, was dann mit den teuren Macs und Photoshop oder Small Fish hinterher gemacht wurde. Torsten Meyer schien frustriert von der Zusammenarbeit mit den Kunstschulen, weil dort immer irgendwelche kleinen praktischen Fragen dominierten und die Themen, die er für wirklich wichtig hielt, und die ja auch Gegenstand der Fachforen waren, in der Praxis sonst nirgendwo auftauchten. Er hatte sich wohl erhofft, seine medienpädagogischen Ideen im Rahmen des Projekts in der Praxis zu testen. Aber die Kunstschulmacher und die Leute, die da unterrichteten ließen sich nicht hinter seinen Ideen versammeln. Einige waren anderer Meinung als er, und andere hielten Diskussionen, in denen es um Begriffe, Konzepte und Ideen ging, in Anbetracht der Handlungszwänge und der Zeitknappheit, in die die Teilnahme am Projekt sense&cyber sie außerhalb des Regelbetriebs gebracht hatte, schlicht für überflüssigen Luxus. Mit der Theorie sollten sich die von der Uni beschäftigen, war die Haltung. Nicht von allen, aber von vielen. Als Stephan Münte-Goussar und ich dazu kamen, waren die Fronten schon verhärtet. Da saßen wir dann bei unserem ersten Zusammentreffen mit den Projektleuten als Truppenverstärkung. Vielleicht stimmt das Bild nicht ganz, wir waren ja da, um Torstens Rückzug zu decken, so zu sagen. Wir sollten die Abschlussdokumentation übernehmen, und ich glaube, die Tatsache, dass er das abgab, hatte auch damit zu tun, dass sich das Projektgeschehen nicht disziplinieren ließ, sich nicht im Sinne seiner Ideen gestaltete. Unsere Einführung in das Projekt sense&cyber fand bei einer Versammlung an der Kunstschule in Aurich statt. Ein sog. Modellforum, wo sich Vertreter aller Kunstschulen mit der Vorsitzenden des Landesverbandes der Kunstschulen Niedersachsen und der wissenschaftlichen Begleitung zum Austausch trafen. Als letzter Punkt stand der Entwurf eines Fragenkatalogs auf der Tagesordnung. In der verbleibenden Zeit konnten sich die Anwesenden aber nicht auf die Fragen einigen, die sie alle gemeinsam haben sollten. Außerdem blieb die Diskussion immer wieder an den Begriffen hängen, die für das Projekt zentral waren, sense zum Beispiel und cyber. Auch hier konnte man sich nicht einigen, was das eigentlich bedeuten sollte. Beim nächsten Modellforum wurde dann Klärung angemahnt. Es sollte mit einer Stimme gesprochen werden. [Dokument: Auszug aus dem Vortragsmanuskript „Fragen und Begriffe“ von Torsten Meyer, anlässlich des Modellforums in Bremen, 24.11.00]

192 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Die erste Behauptung lautet derzeit: „Ästhetische Kompetenz und Medienkompetenz sind Schlüsselqualifikationen.“ Dass Medienkompetenz eine Schlüsselqualifikation sei, das behauptet bereits der Abschlußbericht der Enqete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft- Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“, den der Deutsche Bundestag 1998 herausgegeben hat. Zwar wird auch in diesem Mammutwerk nicht wirklich geklärt, was denn unter „Medienkompetenz“ genau zu verstehen sei (auch die Frage, was denn eine „Schlüsselqualifikation“ ist, bleibt relativ unklar). Wir können das aber dennoch vorerst als gegeben hinnehmen. Die zusätzliche Behauptung des Modellprojekts sense&cyber besteht dann darin, auch die „Ästhetische Kompetenz“ als eine solche „Schlüsselqualifikation“ zu bezeichnen. Neben der Klärung der Frage, was denn dann eigentlich „Ästhetische Kompetenz“ meint, müsste zudem das Verhältnis von „Ästhetischer Kompentenz“ und „Medienkompetenz“ definiert werden: Können beide Begriffe synomym verwendet werden? Schließen sie einander aus? Bedingt, ergänzt oder fördert das eine das andere? Diese Fragen betreffen alle in das Projekt involvierten TeilnehmerInnen unabhängig vom jeweilig vor Ort geplanten spezifischen Projektansatz. In diesen Fragenkomplex fallen auch die Begriffe, die bislang immer als Oppositionspaare in den Konzepten und Diskussionen aufgetaucht sind: sense/ cyber, analog/digital, Alte Medien/Neue Medien, Ästhetische Kompetenz/Medienkompetenz, materiellsinnlich/virtuell. Zu klären wäre – und zwar von allen teilnehmenden Institutionen gemeinsam und auf Basis spezifischer Fragestellungen des eigenen Projektansatzes – ob diese Oppositionen Sinn machen, ob die Zuweisungen, wie ich sie hier vorgegeben habe, richtig oder sinnvoll sind, was jeweils unter den Begrifflichkeiten verstanden werden soll, und in welcher „Verkleidung“ sie in den einzelnen Projektansätzen wieder auftauchen, und welche Rolle sie dort jeweils spielen. Vermutlich ist es für die Zusammenarbeit recht sinnig, hier möglichst bald eine gemeinsame Sprachbasis zu finden (wenn auch dies die vielleicht wichtigsten und zugleich schwierigsten Fragen sind und umfassend erst am Ende des Modellprojekts sinnvoll zu beantworten sind. Wenn überhaupt...). Auf eine „gemeinsame Sprachbasis“ konnte sich im Rahmen von sense&cyber nicht geeinigt werden. Torsten Meyers Bemühen, die von ihm immer wieder erwähnten Oppositionspaare in ein anderes Verhältnis zueinander zu bringen, erschien als von den Projektpraxen an den vier Institutionen separates Unterfangen. Seine Ideen stießen nicht auf das nötige Interesse. Das Interessment misslang. Die vorgegebenen Thesen wurden nicht angenommen, nicht getestet, nicht in Haltungen und Aktionen umgewandelt. Das Einschreiben (Enrolment) beteiligter KunstpädagogInnen für sein Projekt war nicht erfolgreich.12 Seine Thesen blieben, obwohl er sie im Rahmen der Tagungen wiederholt vortrug und sie auch in der Abschlussdokumentation noch einmal an mehreren Stellen mit dem Projekt in Verbindung brachte, in Latours Sinne im Rahmen von sense&cyber schlecht artikulierte Propositionen. Seine Vorschläge wurden nicht übernommen, sie konnten nicht verabreicht werden und fanden wenig Umwandlung und Weiterleben, wenige Übersetzungen in Ideen, Entwürfe und 12 | Zum Begriff der Proposition und Artikulation vgl. Seite 119.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 193 Handlungen von Seiten der ProjekteignerInnen und KunstpädagogInnen.13 So blieben die Begriffe im Zuständigkeitsbereich der ‚Theoretiker’ und damit jenseits der Praxis an den Kunstschulen und kamen nur dann zum Einsatz, wenn es darum ging, diese Praxis in offiziellen Verlautbarungen attraktiv zu verpakken. Die Theorie/Praxis Kluft war eine gut artikulierte Proposition im Rahmen des Projekts, trotz der wiederholten Vorträge der ‚Theoretiker’, die Gegenteiliges behaupteten. Die Zweifel am Schluss des obigen Zitats, ob es nicht besser gewesen wäre, zum Ende zu versuchen „die wichtigsten“ und „schwierigsten Fragen […], zu beantworten“, wenn sie denn „überhaupt“ zu beantworten seien, erscheinen in Retrospektive berechtigt. Statt am Anfang des Projekts alle Unsicherheiten14 und Unstimmigkeiten beseitigen zu wollen, hätten auf der Basis dieser Unsicherheiten, dieser unterschiedlichen Positionen und unterschiedlich gewichteten Einsätze, in einem, im Sinne Latours, diplomatischen Vorgehen, über die gesamte Projektlaufzeit, die Optionen gemeinsamen Handelns, die Artikulation gemeinsamer Interessen und die Formulierung gemeinsamer Fragen vielleicht ausgehandelt werden können. Ob ein solches Vorgehen überhaupt möglich ist, ob eine sich in diesem Sinne demokratisch gestaltende padagogisch-didaktische Wissensproduktion im Rahmen dieser Art von Projekten realisieren ließe, und wie, müsste in einem anderen Experiment getestet werden. Auf der Ebene des Programms Kulturelle Bildung im Medienzeitalter zeigte sich ebenso, wie schwierig es ist, innerhalb einer Versammlung Gemeinsamkeiten zu finden, Formen zu generieren, sich auf Fragen, Strukturen oder Vorgehensweisen zu einigen. Ganz deutlich wurde dies auf einem Treffen der Projekteigner in Bonn, bei dem es um die Festlegung einer gemeinsamen Programmstruktur ging. Nach Maßgabe der Projektgruppe ‚Innovation im Bildungswesen’ der Bund Länder Kommission war die Einordnung in eine gemeinsam beschlossene Programmstruktur Voraussetzung für die Finanzierung der Projekte. Am 12. Juni 2001 fand im ehemaligen Regierungsviertel Bonn Bad Godesberg ein Treffen der Projektleiterinnen der bis zu dem Zeitpunkt bewilligten 17 Projekte statt. Ort der Versammlung war Saal 2303 in der 23. Etage des leer gefegten ehemaligen Abgeordneten-Hochhauses „Langer Eugen“. Im Erdgeschoss des „Langen Eugen“ taten noch zwei Pförtner und auf der 23. Etage, die BLK-Geschäftsstelle ihren Dienst. Von den ungefähr 30 im Saal 2303 versammelten Personen trugen die meisten Professorentitel. Ohne Promotion waren nur wenige, darunter Torsten Meyer, Stephan Münte-Goussar und ich, die wir als wissenschaftliche Begleiter die neue 13 | Zum Begriff der Übersetzung vgl. Seite 101 ff. 14 | Zum Begriff der Unsicherheit vgl. Seite 174.

194 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Geschäftsführerin des Landesverbandes der Kunstschulen als Projekteignerin von sene&cyber nach Bonn begleitet hatten. In einer gedrängten U-förmigen Anordnung von Tischen und Stühlen saßen die Experten, die allesamt mit großen Institutionen, Universitäten oder Fachhochschulen im Rücken, langjährige Erfahrungen im Bereich ästhetische Bildung aufweisen konnten und ein Interesse an Neuen Medien hatten. Den Experten, den Repräsentanten der Kulturellen Bildung im Medienzeitalter, saßen in kurzer lockerer Reihe Regierungsvertreter und Administratoren gegenüber. Dazu zählten die Programmkoordinatorin der BLK aus dem Hessischen Kultusministerium, ein Ministerialrat vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, der Leiter des Zentrums für Kulturforschung (ZfKf), das als Programmträger eingesetzt war und zwei seiner Mitarbeiterinnen. Vorrangiges Interesse der Organisatoren bei diesem Treffen war die Suche nach einer Programmstruktur. Die bis dahin 17 bewilligten Projekte sollten zum Zweck der Programmorganisation zur sinnvollen Gestaltung von Fachtagungen und im Hinblick auf eine zum Ende des Programms vom ZfKf zu erstellende Gesamtdokumentation unter inhaltlichen Schwerpunkten in Untergruppen sortiert werden. Die Aufgabe, die die Programmorganisatoren an die versammelten Experten stellten, sich anhand der Projektinhalte in Gruppen zusammenzufinden, erwies sich als unlösbar und wurde als Zumutung empfunden. Es kam keine Einigung auf die erforderlichen drei Themenschwerpunkte zustande. Die Mitarbeiterinnen vom ZfKf versuchten es mit Fragebögen und Clusterbildung mit immer anderen vermeintlichen gemeinsamen Nennern. Ihre Bemühungen prallten immer wieder an den Experten im „U“ ab. Jedem Versuch einer Formulierung folgte ein Einwurf, eine kurze Gegenrede, ein unzufriedenes Raunen. Die Experten wollten sich keinem Zusammenfassungszwang beugen und hatten offensichtlich kein Interesse daran, sich zwecks inhaltlichen Austauschs mit anderen in Gruppen zusammenzuschließen. Als dann auch noch der Projekteigner des Hochschulprojekts aus Nordrhein-Westfalen die Expertise grundlegend infrage stellte, schien die Hoffnung auf Einigung endgültig verflogen. Seinem eloquenten Vortrag folgte betretenes Schweigen. Spätestens jetzt taten einem die Organisatorinnen leid. Nun hatte man den Regierungsvertretern auch noch die Rechtfertigungsgrundlage ihres politischen Handelns unter der geraden Stuhlreihe weggezogen. Die Stille und Leere, die die Handlungsunfähigkeit im verlassenen ‚Langen Eugen’ mit sich brachte, wurde in der Kaffeepause aufgeweicht. Nach der Pause präsentierten die Organisatorinnen ihren Strukturvorschlag. In Ermangelung einer Einigung über inhaltliche Schwerpunkte orientierten sie sich an bereits existierenden institutionellen Aufteilungen. Fortan gab es eine Gruppe für die Hochschulprojekte, eine für Schulprojekte und eine Gruppe für den außerschulischen Bereich. An dieser Stelle werden zwei Aspekte deutlich, die sich symmetrisch zueinander verhalten. Die Schwierigkeit der Gruppenbildung (achieve the social) auf der einen Seite, und die Schwierigkeit der Bildung, der Formung des Dings, um

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 195 das es geht (matter of concern)15, nämlich die Kulturelle Bildung im Medienzeitalter auf der anderen Seite. Ohne ein Zusammenfinden der Experten zu inhaltlichen Schwerpunkten schienen sich die relevanten Wissensdinge schlecht formulieren zu lassen. Die Aufgabe des ZfKf bestand u.a. darin, die in den Projekten gewonnenen Erkenntnisse bezüglich des didaktischen Umgangs mit Neuen Medien in der ästhetischen Bildung in einer Abschlussdokumentation zu bündeln. Eine Gliederung der Abschlussdokumentation nach Inhalten statt nach Institutionsformen hätte eine andere Form der Wissensgenerierung auf der Ebene des Programms bedeutet. Eine Form, die die MitarbeiterInnen des ZfKf zum Zeitpunkt der oben geschilderten Versammlung favorisierten. Die Repräsentation des Programms Kulturelle Bildung im Medienzeitalter, die dem ZfKf als Programmträger oblag, die schwerpunktmäßig nach institutionübergreifenden Inhalten ausgerichtet gewesen wäre, war nach dieser Festlegung der Struktur nach Institutionen schwierig. In diesem Zusammenhang wird der Aspekt der Repräsentation in seiner politischen Spielart wichtig. Hier wird deutlich, was Latour meint, wenn er sagt, dass Versammlungen nicht abgehalten werden, „weil wir übereinstimmen, ähnlich aussehen, uns wohl fühlen, sozial verträglich sind, uns vereinigen wollen, sondern weil wir durch Streitsachen an einem neutralen, isolierten Ort zusammengeführt worden sind, um zu irgendeiner Art von improvisierter provisorischer (Nicht)Übereinkunft zu gelangen.“16 Wir haben es mit things, mit Dingparlamenten zu tun. Versammlung ohne Ding, Politik ohne Pragmata, gibt es bei Latour nicht. Um von einem Dingparlament zu einer gut artikulierten Proposition zu gelangen, bedarf es der Diplomatie, der Zeit (due course) und ordentlicher Verfahren.17 Was aber heißt das in Bezug auf die oben genannte Situation? Es stellt sich die Frage, ob die eingesetzten Verfahren, die moderierte Diskussion, die Clusterbildung, die Abstimmung etc. genügten, und auch die Frage, ob, wenn mehr Zeit da gewesen wäre, doch noch eine Gruppenbildung nach inhaltlichen Schwerpunkten möglich gewesen wäre. Die an dieser Stelle interessanteste Frage betrifft jedoch den Aspekt der Diplomatie. Diplomatie, schreibt Latour, bietet das Know How, um den Kriegszustand zu verlassen, um „das Experiment des ‚Kollektivs über die gemeinsame Welt’ durchzuführen“.18 An anderer Stelle spricht Latour von

15 | Zum Begriff Ding und matter of concern vgl. Seite 109 f. 16 | Bruno Latour (2005b): Von der Realpolitik zur Dingpolitik. Wie man Dinge öffentlich macht. Herausgegeben vom ZKM, Karlsruhe. Merve Verlag, Berlin. 32. 17 | Vgl. Kapitel 3, Seite 99. 18 | Bruno Latour (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Edition Zweite Moderne. Ulrich Beck (Hg.). Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main. 286.

196 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ „Komposition“.19 Der Diplomat würde die Stärke und den Stand der Truppen sowie die Interessen beider Parteien kennen. Diplomatie funktioniere nur dann, wenn beide Parteien von der Notwendigkeit einer Einigung überzeugt sind, auch vor dem Hintergrund, dass ein weiterer Disput zu viel Schaden anrichten könnte. In der oben geschilderten Situation war nur einer Partei die Einigung wichtig, dem ZfKf. Ihm oblag die Repräsentation des Programms, die Zusammenfassung der Ergebnisse und die gesamte Außendarstellung. Die Repräsentation des Programms hatte keinen Einfluss auf die Tätigkeit der ProjekteignerInnen aus den Ländern. Die Darstellung ihrer Projekte besorgten die von ihnen ausgewählten wissenschaftlichen Begleiter, die bei diesem Treffen in der Mehrzahl nicht anwesend waren. Sie sahen keine Notwendigkeit, die Kosten (an dieser Stelle in erster Linie im Sinne von Zeit) einer Einigung über gemeinsame Fragen zu tragen und hatten offensichtlich keinen Bedarf und kein Interesse, sich mit anderen am Programm beteiligten Institutionen, über bereits bestehende Kontakte hinweg inhaltlich auszutauschen. So konnte es zu keiner diplomatischen Einigung kommen. Dem ZfKf gelang es in diesem Punkt nicht, die Projekteigner für die gemeinsame Sache zu gewinnen. Das Enrolment, das Einschreiben der anderen, für die eigene Sache klappte hier nicht. Das BLK Programm Kulturelle Bildung im Medienzeitalter bot den am Programm beteiligten Experten die Chance, die Artikulierung von Propositionen, die Generierung pädagogisch-didaktischen Wissens als gemeinsames Projekt zu betreiben. Es bot die Chance der Komposition. Diese Chance schien niemand nutzen zu wollen. Es mangelte an Interesse, oder anders gesagt, das Intressment funktionierte nicht. Statt sich mit den Mitarbeiterinnen des ZfKf um Verfahren zur Erreichung einer adäquaten Repräsentation zu bemühen, zogen sich die Projekteigner auf die Position der Kritiker zurück und wiesen die Vorschläge der MitarbeiterInnen des ZfKf zurück und beklagten sich über die inadäquate Repräsentation durch „die Politik“. Die Unzufriedenheit mit der Politik resultiere aus einem „Traum“ der „direkten Kommunikation“, schreibt Latour. Politische Äußerungsformen („political expression“) seien immer enttäuschend. Hier müsse man beginnen, denn im Sinne eines Transfers exakter unverformter Information über die soziale oder natürliche Welt wären politische Äußerungsformen immer komplett unzureichend. Der schlechte Ruf des Politischen verdanke sich der Vorstellung transparenter Information, die exakt, gradlinig und sinngetreu ist. Den Traum vom ehrlichen Denken, von der Nicht-Deformation, von Unmittelbarkeit, von der Abwesenheit jeglicher Vermittlungsinstanzen bezeichnet Latour als 19 | Bruno Latour (2009): „From Iconoclasm to Compositionism.“ Vortrag in den Kunst-Werken Berlin 9.10.2009.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 197 „’double-click’-Information“. In Bezug auf diese Forderung, diesen Mythos, erschienen politische Äußerungsformen immer als verdreht, hinterhältig, voller Kompromisse, untreu, manipulierend und wechselhaft.20 Die Herabwürdigung des Politischen, schreibt Latour, resultiere aus diesem Missverständnis direkter Kommunikation. Das Direkte, das Transparente und Unmittelbare, passe weder zu den komplexen wissenschaftlichen Gefügen noch zu den „trickreichen Konstruktionen“ des Politischen. Von Wissenschaftlern zu erwarten, gradlinig und ehrlich die Wahrheit zu sagen („talk straight“), „ohne Labor, Instrumente, Ausrüstung, zu prozessierende Daten, zu verfassende Artikel, zu haltende Konferenzen, zu führende Dispute, sondern unmittelbar, sofort, spontan, nackt, für alle sichtbar, ohne zu stammeln, zu stottern und zu labern“ wäre sinnlos.21 Wenn direkte, transparente Prozesse der Maßstab der Dinge wären, dann seien alle Wissenschaftler Lügner und Manipulatoren und alle Politiker korrupt. Die Krise der Repräsentation hätte nichts mit einem plötzlichen Qualitätsverlust in der Politik oder der Wissenschaft zu tun, vielmehr tauche sie jedes Mal dann auf, wenn man versuche, Praktiken mit sehr unterschiedlichen Zielen unter das Joch des Informationstransfers zu spannen.22 Vor der Folie des Mythos der „nackten Wahrheit“ ist Repräsentation immer Misrepräsentation. Darüber lässt sich leicht Unmut äußern, wie in der oben geschilderten Anekdote deutlich wird. Leichter vielleicht auch dann, wenn keine Notwendigkeit gesehen wird, sich selbst an der Zusammensetzung, an der Komposition der gemeinsamen Welt, und sei es ‚nur’ in Form eines gemeinsamen kulturpädagogischen Programms, zu beteiligen. Eine Krise der Repräsentation zu beklagen, ist weniger kostenträchtig und aufwändig, als sich gemeinsam der „Kaskade produktiver Repräsentationen“23 zuzuwenden.

Formen Für Stephan Münte-Goussar und mich war von Anfang an klar, dass wir die wissenschaftliche Begleitung ethnographisch gestalten würden. Das hieß zwar teilnehmend beobachten, aber nicht, inhaltlich irgend etwas prägen. Wir wollten uns raushalten aus der Gestaltung der Projekte und mit Videokamera, Tonbandgerät und Notizblock festhalten, was dort passiert. Das sollte eine offene

20 | Bruno Latour (2002e): What if we talked politics a little? www.ensmp.fr/latour/Articles83%20POLITIQUES.html, 13/11/2002, 3. 21 | Ebd. 22 | Ebd. 23 | Bruno Latour (2002d): Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (Hg.). Merve Verlag. Berlin. 72.

198 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ hypertextuelle Form bekommen. Wir konnten und wollten den Kunstschulleuten nicht sagen, wie sie ihren Job zu machen hatten. Wir wollten auch nicht sagen, so war das jetzt, und dies und jenes war schlecht und das war gut. Wir wollten da nichts bewerten und nichts über die Köpfe der Leute hinweg in ihre Praxis reininterpretieren. Die hypermediale Form wollten wir gemeinsam mit den Beteiligten füllen und alle zu Wort kommen lassen mit ihrer Sicht der Dinge. [Dokument: Auszug aus Claudia Lemkes „Projektdokumentation im Abschlussbericht sense&cyber. 24] „Wir sahen die beobachtende und darstellende Tätigkeit dabei nicht als Aufdeckung eines unter den Dingen versteckten Kosmos, sondern als eine Art Erstellung einer Landkarte im Abschreiten einer Landschaft […]. Eine Karte ist niemals eine Abbildung der Landschaft mit allen Bäumen, Sträuchern, Insekten etc. Die Karte gibt nicht die Wirklichkeit wieder, sondern simuliert sie. Sie gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Die Karte ist ein Simulakrum, sie ist offen, kann in all ihren Dimensionen zerlegt, umgekehrt, verschoben und verändert werden. Die Karte bringt die Welt auf eine Oberfläche, sie klemmt sie in einen geographischen Raum, der durch Koordinaten definiert ist. Berge, Flüsse und Straßen werden festgeschrieben und in Beziehung zueinander gebracht. Die Oberfläche der Karte ist nicht die Oberfläche der Landschaft. Die Karte gibt nicht die Wirklichkeit wieder, sondern simuliert sie. Sie gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Die Karte unterstützt die Verbindung von Feldern; sie ist offen, kann in all ihren Dimensionen zerlegt, umgekehrt, verschoben und verändert werden. Auf der DVD können diese Veränderungen sich anders gestalten als im Buch. Dort hat der Benutzer andere Navigationsmöglichkeiten. Auch dieser Text ist so gestaltet, dass er nicht von vorne nach hinten gelesen werden muss. Jede Überschrift bietet dabei eine Einstiegsmöglichkeit. Entstanden sind diese Überschriften, diese Koordinaten, in den drei Jahren der Projektlaufzeit. Sie sind die thematischen Knotenpunkte, die sich in den Diskussionen, den Modell- und Fachforen, bei der Beschreitung des Weges herauskristallisiert haben. Sie sind die Kategorien, nach denen das Material sortiert wurde, damit der vorliegende Text entstehen konnte. Buch und DVD werden in diesem Sinne als expressiv und artikulierend und nicht als repräsentativ für das Projektgeschehen gesehen. Unsere Darstellung ist in diesem Sinne als Konstruktion, Produktion, Präsentation zu verstehen. Als ein Sichtbarmachen. So verstanden kann die Darstellung einer Forschungspraxis mit der Kunst etwas gemeinsam haben: “Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ [Paul Klee] H: „Ich glaube, wenn sie da mit der Maus runter kommen und aus Versehen in das leere Feld klicken, schmeißt er sie aus der Ansicht Buch wieder raus.“

24 | C. Lemke (2003): „Projektdokumentation“. In: Lemke, C.; Meyer, T., Münte-Goussar, S., Pazzini, K.-J., Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.): sense&cyber. Kunst, Medien, Pädagogik. Transcript. Bielefeld. 117-240, 170.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 199 E: „Ach so. Aber wie finden wir denn jetzt die Stelle, wo die hypermediale Ethnographie erwähnt ist, wieder? Da sind ja jetzt keine Seitenzahlen. Gucken sie doch mal ins Buch.“ H [Blättert im Buch]: „Finde ich jetzt auch nicht auf die Schnelle.“ E: „Ach gucken sie mal, wenn ich hier in der Mitte auf die Seite klicke, wird die größer und wieder kleiner, wenn ich da noch mal draufklicke. Ist ja groß doch ganz gut zu lesen. Aber die Stelle mit der hypermedialen Ethnographie hab ich noch nicht.“ H: „Seite sechzehn.“ E: „Ja, das nützt mir nichts, hier sind keine Seitenzahlen.“ H: „Das ist ganz am Schluss.“ E: „Dann klick ich noch mal raus. So. Jetzt habe ich da den Anfang und klicke jetzt am Rand die letzte Seite an. Nee. Was ist das denn. Das ist nicht die letzte Seite. Ach so, das ist immer die nächste Seite, die man da bekommt. Na gut. Dann mit runterscrollen. Man, das dauert. H: „Naja, das sind ja auch acht Seiten im Buch.“ E: „Jetzt aber, hier haben wir ihn doch den Absatz zur hypermedialen Ethnographie.“ [Dokument: Auszug aus der Einleitung von Torsten Meyer und Stephan Münte-Goussar zum Abschlussbericht sense&cyber.25] „Unsere Methode des Geschichtenschreibens – wir haben sie ‚Hypermediale Ethnographie’ getauft – ist, kurz gesagt, ein Experiment, das im diskursiven Umfeld des darzustellenden Projekts problematisch gewordene Fragen nach Autorität und Authentizität mit Hilfe neuer Möglichkeiten der Darstellung, die wir durch Nutzung Neuer Medien er- oder gefunden haben, umsetzt.“ H: „Problematisch gewordene Fragen […] ?“ E: „Also hier haben wir schon mal einen Hinweis. Da können sie doch gut jetzt zu Hause weitermachen. Suchen Sie doch mal nach ‚Autorität’, und was war das andere, ‚Authentizität’. Ja und nach ‚Umfeld’. Das scheint mir doch hier eine Rolle zu spielen. Vielleicht im Sinne einer Umwelt, des Kosmos, im Sinne Latours, oder wir haben es hier mit einem epochalen Abschnitt oder eher einem Ausschnitt der Umwelt im Sinne einer Foucaultschen Problematisierung zu tun, auf die hier angespielt wird. Das scheint mir doch recht viel versprechend. Eine Forschungsmethode entwickelt in Reaktion auf eine problematisch gewordene Situation.“ H: „Medienzeitalter.“

25 | T. Meyer, S. Münte-Goussar (2003): „Zum Rahmen: preface&interfaces.“ In: C. Lemke, T. Meyer, S. Münte-Goussar, K..J. Pazzini, Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen eV. (Hg.): sense&cyber – Kunst, Medien, Pädagogik, transcript Verlag, Bielefeld.. 9-16, 16.

200 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ E: „Medienzeitalter?“ H: „Ja, das Programm hat doch ‚Medienzeitalter’ im Titel. E: „Ach ja. Naja. Da ist er dann ja schon vorgegeben der Macrokontext. Gut ja. Da kann man dann gucken, wo das herkommt und wo das hingeht […] H: [Blättert im Buch und guckt zwischendurch auf den Bildschirm]: „Aber man müsste doch erstmal mit dem Ding umgehen können. Ich weiß noch gar nicht, wie das funktioniert. Was guckt da eigentlich hinter diesen Blättern raus?“ E: „Hier gucken sie, da öffnet sich vor dem Buch ein Fenster da steht: ‚Assoziationsstruktur zum Dokument. Alphabet, Chronologie, Geologie, Topologie, Projekte, Personen, Buch.’ Ach so, die Ordnungen, die da oben in der Leiste auch sind. Kann man draufklicken.“ H [Guckt in das Buch]: „Hier, ja, Seite vierzehn, das muss die „Karteikarte“ sein […] Ja, kann man assoziieren, mit Struktur auf Karteikarte. Auch schön.“ E: „Jetzt sind da im Hintergrund andere Cluster aufgetaucht. Gucken sie mal. Geh ich mal drauf. Oh Gott, jetzt ist das Buch weg. Wo bin ich denn jetzt gelandet.“ H: „Ja, in einer anderen Ordnung wahrscheinlich. Da haben sie sich jetzt verassoziiert […]“ E: „Und wie komme ich da wieder zurück. Sehen sie einen Back Button?“ H: „Weiß ich jetzt auch nicht.“ E: „Fuchsen sie sich da mal rein. Gut. Dann haben wir’s fürs Erste.“ H: „Ja, ich dachte […]“ [Dokument: Stephan Münte-Goussar über die Hypermediale Ethnographie im Abschlussbericht sense&cyber26] „Bei [der DVD-ROM] handelt es sich um ein multimediales Materialarchiv. In dieser MaterialDatenbank finden sich Dokumente der Projektpraxis in unterschiedlicher Form, unter unterschiedlichen Perspektiven und in unterschiedlichen Genres aufgezeichnet- geglättet, denn alles ist digital: beobachtende Videosequenzen, Interview- und Diskussionsmitschnitte, Bilder, Animationen und schließlich Texte verschiedener Sorte: Zwischenberichte, Presseerklärungen, Selbstverständnisse, theoretische Abhandlungen, Resümees. Die Dokumente sind zumeist zu kleinen multimedialen Collagen zusammengestellt, den von uns so genannten Docs, deren Fragmente sich gegenseitig aus- oder auch widerlegen, kommentieren, interpretieren. Man kann das Chaos dieser Docs durch willkürliches Browsen erkunden, eigene Wege, eigene Lesepfade, vielleicht eigene Interpretationen finden. Das Material, welches die Grundlage für den Bericht darstellt, steht jedem zur Verfügung.“

26 | S. Münte-Goussar, (2003):„Hypermediale Ethnographie.“ In: C. Lemke, T. Meyer, S. Münte-Goussar, K.-J. Pazzini, Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.): sense&cyber. Kunst, Medien, Pädagogik. transcript Verlag, Bielefeld. 76 -87, 81f.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 201 Wir hatten uns große Hoffnung gemacht, dass diese hypertextuelle Form das Ganze viel kollaborativer und demokratischer gestalten würde. Nicht nur im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit unseren Untersuchungsobjekten in Anführungsstrichen, also, den Schülern, Künstlern, Kunsterziehern und Administratoren, mit denen wir es da zu tun hatten, sondern auch, was die Rezeption anbetrifft. Man sollte sich da je nach Bedarf das zusammenstellen können, was man für wichtig hält, was man für die eigene Praxis gebrauchen kann. Es ging uns nicht um zusammenfassende Deutungen und Pauschalempfehlungen. Die Vielfalt der unterschiedlichen kunstpädagogischen Umgänge mit den Neuen Medien sollte deutlich werden und den imaginierten Kunstpädagogen-Rezipienten unserer DVD als Anregung oder Stein des Anstoßes zum Nachmachen oder als Diskussionsgrundlage dienen. [Dokument: Stephan Münte-Goussar über die Hypermediale Ethnographie im Abschlussbericht sens&cyber27] Das hypermediale Archiv ermöglicht es darüber hinaus, das Material in Ordnung zu bringen – in verschiedene Ordnungen: zunächst kann man die Docs durch mehrere Ansichten deklinieren: Chronologie, Topologie, Geographie, entlang der verschiedenen Teil-Projekte oder der veranstaltende Modell- und Fach-Foren. Dabei verbleibt manchmal ein Rest, eine Ansammlung dessen, was in der jeweiligen Ordnung nicht aufgeht. Die Ordnungen bieten eine Navigation durch das Material. Diese Struktur allein stellt schon einen aufwändigen, interpretatorischen Konstruktionsakt dar. Allein ist es aber – wie man in Anspielung auf Clifford Geertz sagen könnte – nur eine dünne Beschreibung. Auf der DVD findet sich nun zudem das gesamte Buch gedoppelt. Sowohl die Überschau als auch die Projektdokumentation, die Reflexion der Kunstpädagogik im Neuen Medium und die Einspielungen. Die Texte liest man der Gewohnheit halber vielleicht lieber weiterhin im Buch. Umgekehrt kann das Buch auch als Anleitung und aufwändigere Verpackung für die DVD begriffen werden. Dann liest man die Texte am Monitor. Die Überschau funktioniert hier als Film, als bewegtes Bild und gesprochener Text. Sowohl die Überschau als auch die Projektdokumentation dienen auf der DVD als Fenster, als Interfaces zum Einstieg in das Material. Im Falle der Überschau ist diese selbst aus Material gemacht. Zudem bietet der Überschau-Film auf der DVD [Doc: Überschau] an jeder Stelle die Möglichkeit, verschiedenen Verweisen zu folgen. Man verlässt den Hauptstrang, verfolgt Seitenpfade, vertieft sich in das, was den Anlass zum Innehalten gab. Diese Verweise führen von der Narration weg. Möglicherweise hin zu anderen Ordnungen, vielleicht wieder zurück ins Buch. Ebenso enthält die Projektdokumentation Verweise auf Docs der DVD (wie in diesem und anderen Texten durch eckige Klammern markiert). Diese funktionieren auf der DVD als Links. Sie führen direkt zu den Dokumenten, auf die Bezug genommen wird. Treten diese Ordnungen also zunächst als lineare Erzählungen auf, so sind sie doch nicht zuletzt Ausgangspunkte oder besser: - linien für ein dichtes, nicht-lineares Netzwerk von Verweisungen: Sie zeigen auf das Material als Beleg, Quelle, Illustration, mal als Vertiefung, Erklärung, Ergänzung oder als Relativierung, Gegenrede,

27 | S. Münte-Goussar, S. (2003): „Hypermediale Ethnographie.“ In: C. Lemke, T. Meyer, S. Münte-Goussar, K.-J. Pazzini, Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.): sense&cyber. Kunst, Medien, Pädagogik. transcript Verlag, Bielefeld. 76 -87, 82f.

202 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Widerwort; in jedem Fall als Dokument, welches in dem jeweiligen Kontext eine spezifische Bedeutung erhält und eine bestimmte Funktion erfüllt – je nachdem, welche Knotenpunkte im Netzwerk man bereits passiert hat, eine andere. Diese Ordnungen mitsamt dem System von Verweisen sind strukturierte, interpretierende, kommentierende Lesarten des Materials, die den Leser führen – aber auch verführen, seine eigenen Assoziationsketten durch das Material zu legen. Sie sind Folien, auf denen das Material angeordnet ist. Sie sind Ansichten unter verschiedenen anderen; verschiedener WissenschaftlerInnen aus Hamburg. H [schaltet das Notebook an]: „So. Ich hab mich da jetzt mal versucht reinzufuchsen.“ E: „Ja, sehr schön.“ H: „Also, ich habe jetzt erstmal versucht, mir irgendwie einen Überblick zu verschaffen, und dann wollte ich ganz gezielt alles sammeln, was dort über die Forschungsmethode zu finden ist. [Pause] Am besten, wir fangen mit dem Film an. Also, von alleine kommt man da auch irgendwie nicht drauf, dass sich da ein Film versteckt. Das hab ich jetzt aus dem Buch, dass es da einen gibt, der „Überschau“ heißt.“ E: „Gut. Also Ansicht, „Überschau“. So, dann stehen da wieder die ganzen wimmeligen Phrasen aus diesem Streifen am rechten Bildschirmrand, und jetzt haben wir da so eine Säule in der Mitte des Bildschirms.“ H: „Gut. Passiert dann erstmal wieder nichts. Da kann man dann rüberscrollen, und dann werden die Phrasen hier größer. Gezielt da etwas heraus suchen, ist aber so gut wie unmöglich.“ E: „Versuchen wir es hier einmal, ‚Performance Digital‘. Na, voilá, da haben wir es ja. Wenn man das erst einmal so zu fassen bekommt, dass die Schrift sich da vergrößert, dann kriegt man es auch auf. Also, man sieht, wenn man da draufklickt, geht da ein Film los. In diesem Fall ist es ein voice-over clip. Da hört man die Stimme eines Erzählers und dazu erscheinen allerlei zusammengeschnittene Stills und auch Clips. Über der Stimme des Erzählers gibt es noch Hintergrundgeräusche, manchmal Musik.“ H: „So. Dann sieht man hier die Länge der Clips. Dieser hier ist fast zwei Minuten lang. So lang sind die meistens nicht. Die voice-over clips sind allerdings länger als die Interview Clips […]“ E: „Also, ich dachte, es geht hier um einen Film […] H: „Ja, ja, also, diese Ordnung Überschau funktioniert ja auch wie ein Film. Nur eben einer, der in ungefähr 80 Teile geteilt ist, die auch alle alleine angeguckt werden können.“ E: „Ja, aber das macht doch gar keinen Sinn, wenn ich da jetzt bei dem letzten Ding, wie hieß das noch, wenn ich da reinhöre, das ist doch total aus dem Kontext gerissen, da habe ich doch gar nichts von. Wo geht denn der Film los?“

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 203 [Dokument: Stephan Münte-Goussar über die Hypermediale Ethnographie im Abschlussbericht s&c.28] Das hypermediale Archiv ermöglicht es schließlich, das Material jederzeit umzuschichten, neue Kombinationen hervorzurufen – die Dinge in einem anderen Licht erscheinen zu lassen, die Ansicht zu wechseln, die Dokumente zu wenden. Ist ein einzelnes Dokument, ein Doc, ausgewählt, findet sich stets eine Karteikarte, auf der vermerkt ist, in welchen anderen Kontexten das Dokument noch eingebunden ist. Wählt man eine dieser Ordnungen aus, gruppieren sich die Dokumente entsprechend neu. Dokumente, die eben noch die Rahmung des Ausgewählten ausmachen, rücken an andere Positionen, verdichten sich zu anderen Konstellationen, gehen andere Verbindungen ein. Einzelne von ihnen verschwinden gar im Rest, im Außerordentlichen, sollen möglicherweise nicht zur Kenntnis genommen werden, weil sie die Aufrechterhaltung der Ordnung stören. Alle Ansichten verweisen auf diese Art aufeinander, bespiegeln, kommentieren, korrigieren sich gegenseitig. Keine Lesart ist für sich allein gültig. Die Gesamtheit dieser Unterordnungen von Ordnungen, des Umsortierens von Sortierungen, der Serien von Serien, der De- und Rekontextualisierung von Dokumenten, stellt den eigentlichen Bericht dar. Analyse und Repräsentation fallen hier in eins. So wie jede Führung durch das Material fragil und umwendbar ist, ist auch das letzte Wort noch nicht gesprochen. Der Bericht gibt nicht vor, durch seine vielgestaltige Form die Komplexität des Projektgeschehens doch letztlich in Gänze sagen zu können oder gar gesagt zu haben; vielmehr verweist er auf die prinzipielle Unabschließbarkeit des Diskurses und die Krise der Darstellung. Mit anderen Worten: Wir haben uns in diesem Bericht bemüht, nicht einen fixen Metastandpunkt einzunehmen, eine eindeutige, alternativlose, objektive Lesart der Wirklichkeit vorzulegen. Was bleibt, ist nicht eine oder die Geschichte des Projekts, sondern eine Sammlung von Geschichten: große und kleine Erzählungen, die aus je unterschiedlichen Perspektiven und mit je unterschiedlichem Ausgang berichten, reflektieren, Schlüsse ziehen, Ideen entwickeln und neue Perspektiven eröffnen: praktisch, theoretisch, wissenschaftlich, pädagogisch und vor allem mit Blick nicht allein aus Hamburg, sondern mit Blick aus Aurich, Hannover, Meppen und Oldenburg. Oder noch mal anders: Wir haben nicht versucht, einen eindeutigen Raum der Bedeutung zu stabilisieren, ganz im Gegenteil haben wir versucht, diesen Raum ins Wanken zu bringen, in Bewegung zu versetzen, das System der Verweisungen zu vervielfältigen – stets mit der Absicht, dabei nicht nichts zu sagen. Wir haben uns bemüht, das Problem mit der Repräsentation sicherlich nicht zu lösen, so doch als Problem ernst zu nehmen und - wenn auch nur als Ahnung – sichtbar zu machen, d.h. die Krise der Darstellung selber zur Darstellung zu bringen. H: „Ja, also Sinn macht das dann, wenn man den Film als Ganzes guckt. So, der fängt da oben an. Da muss man dann den sense&cyber Schnipsel hier zu fassen kriegen. So. Jetzt habe ich ihn und anklicken. Ne. Ich krieg ‘ne Krise. Warum funktioniert das denn jetzt nicht. Gestern ging das noch. Gucken sie mal, wenn ich hier sense&cyber zufassen bekomme und draufklicke, müsste

28 | S. Münte-Goussar (2003): „Hypermediale Ethnographie.“ In: C. Lemke, T. Meyer, S. Münte-Goussar, K.-J. Pazzini, Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.): sense&cyber. Kunst, Medien, Pädagogik. transcript Verlag, Bielefeld. 76 -87, 84f.

204 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ sich eigentlich dieses Datencluster hier aufbauen und der Film anfangen. Versteh ich nicht. Ich geh noch mal aus dem Programm raus.“ E: „Na, wenn das gestern funktioniert hat, muss es doch heute auch noch gehen.“ H: „Versteh ich nicht. Gucken sie mal. Wieder das gleiche. Aber hier, wenn man die mittendrin rausholt […]“ E: „Beenden sie noch mal, dann nehmen wir mal die DVD aus meinem Buch.“ H [schiebt die andere DVD ins Laufwerk]: „Das kann ich mir jetzt aber auch nicht erklären. Naja, ich hab sie zweimal nicht rausgeschmissen vor dem Aufmachen, aber davon geht so ein Ding doch nicht kaputt, oder? E: „Jetzt gucken sie doch mal, ob der hier läuft.“ H: „Ok. Ansicht: Überschau. Ritsching. Oberster Schnipsel ‚sense&cyber’. Und... E: „Na ein Glück. Da geht’s.“ [E & H gucken sich den ersten Clip an] E: „Da bin ich ja mal gespannt, ob er dann auch weiterläuft.“ E: „Was ist jetzt, warum ist da jetzt eine Pause?“ H: „Super, läuft weiter! Ja, also, da sind ja so ca 80 Cluster mit je einem kleinen Filmchen. Entweder ein Voice-Over Film, wo ein Erzähler was erzählt oder ein Film, wo ein Ausschnitt eines Interviews zu sehen ist. Die sind so zwischen zehn Sekunden und zwei Minuten lang. Die Voice-Over Clips sind am Längsten. Wenn die dann in dieser Reihenfolge angeguckt werden, entsteht da ein Film mit eben diesen kleinen Pausen dazwischen. Die braucht er wohl, um das zu laden. [Pause] Also, die Voice-Over Clips sind transkribiert im Buch und die Interviewclips stark gekürzt dazwischen auch. Kann man da dann nachlesen. E [hat das Notebook zu sich hingezogen]: „Mann o Mann, das ist ja schon alles ganz schön kompliziert.“ H: „Ja, alleine so einen Film zu basteln […]“ E: „Was ist das denn da hinter?“ H: „Also, da haben wir mehrere Sachen. Der Clip ist ja nur ein Bestandteil von so einem Cluster. Da gibt es hier unter dem Namen ‚Was man umsetzen kann’ einen Interviewclip, auf dem die Stimme von zwei Kursteilnehmerinnen zu hören und das zu sehen ist, was sie mit einem Animationsprogramm gestaltet haben. Und dann ist da noch ein Dokument, hier, kann man anklicken, das ist die Aufgabenstellung des Kunstpädagogen, und dann natürlich immer die Karteikarte, auf der draufsteht, in welcher Ordnung dieses Cluster auftaucht. So, diese Cluster hier, die heißen Doc, steht im Buch und die Docs, sind das was da an der Seite so wimmelt, je nach Ordnung bleibt dann ein Rest am rechten Bildschirmrand.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 205 E: „Ach so. Ja. Verstehe. Welch ein Aufwand. Und den Überblick bekommt man dann durch den Film.“ H: „Ja, also ich weiß nicht. Auf jeden Fall kann man was damit anfangen.“ E: „Wie lang ist denn der?“ H: „Naja, eineinhalb Stunden.“ E: „Ja, nein, um Gottes Willen, das ist zu lang. Dann muss ich mir das ein anderes Mal ansehen. Aber was haben sie denn beim gezielten Suchen rausbekommen?“ [Dokument: Auszug aus Torsten Meyers „Kunstpädagogik im Neuen Medium“ im Abschlussbericht s&c. 29] „Struktur, Form gewinnt die Datenbank, der Daten-Stoff der Projektgeschehnisse erst, wenn er mittels Sortier-, Filter-, Such –Anfragen formuliert wird. Auch das kann man sich in etwa vorstellen wie beim Töpfern: Die knetbare Informationsmasse wird mit geeigneten Werkzeugen in Form gebracht. Statt Modellierhölzchen haben wir z.B. eine„simple query language“ (SYL) benutzt, eine Programmiersprache zur Kommunikation mit Datenbanken. Für die Feinheiten haben wir eigene Werkzeuge erfunden: Algorithmen in PhP oder – hier - lingo oder java, mit denen wir formulieren, vor-schreiben, wo wie welche Informationspartikel dargestellt werden, welche Form also der „Materialklumpen“ annehmen soll. Im Unterschied zu einer Ton-Skulptur, die irgendwann in den Brennofen geschoben und somit dauerhaft in ihrer Form fixiert wird, bleibt eine Datenbank jedoch formbar. Das ist ihr Prinzip: Sie ist ein Potential an Formen. Sie hat keine Form, aber sie kann in alle möglichen (m.E.) Formen gebracht werden – wie ein Tonklumpen.“ H: „Also, mit dem Suchen bin ich noch nicht durch. Aber ich bin da schon an einige Grenzen gekommen. Also, ich hab jetzt gemerkt, dass man sich immer die Namen von den Clustern merken muss, sonst findet man da nichts wieder. Nach Namen suchen, kann man hier oben. So. Da gibt es so ein Cluster, das heißt ‚hypermedia ethnographics’. Konnte ich mir merken. Steht im Buch. So. Suchen: Namen. Ja, das sind jetzt keine Personennamen, sondern, wie hier unten steht, Dokumentennamen. Gebe ich ein: ‚hypermedia ethnographics’. Voilá, und draufklicken. Hier haben wir jetzt einen Text, der ist nicht im Buch und man kann bei dieser Ansicht ja nicht sagen, wie lang der wohl ist. Ich denke mal maximal zwei Seiten. Dahinter ist wieder die Karteikarte, auf der steht in welchen Ordnungen dieses Cluster, dieses ‚doc’ noch zu finden ist. Buch ist nicht dabei. Also ist er nicht im Buch. Dahinter sind noch Screenshots von den Wimmelphrasen, die man hier am Rand hat. Jetzt wollte ich mir diesen Text ausdrucken. Das geht nicht. Exportieren geht auch nicht. Irgendwo einen

29 | T. Meyer (2003): „Kunstpädagogik im Neuen Medium.“ In: C. Lemke, T. Meyer, S. Münte-Goussar, K.-J. Pazzini, Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.): sense&cyber. Kunst, Medien, Pädagogik. transcript Verlag, Bielefeld. 241-263, 262.

206 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Ordner anlegen, wo ich die für mich wichtigen Dinge ablegen kann, geht auch nicht. Es bleibt mir nur die Bookmarkfunktion. Da kann ich mir den Cluster markieren. Da erscheint dann alles Markierte in alphabetischer Ordnung. Davon kann ich aber nur eine Liste erstellen, also, eine andere Bookmarkliste zu einem anderen Thema kann ich mir dann nicht machen.“ E: „Und wie ist es mit der History?“ H: „Ja, da kann ich mir nur angucken, was ich zuletzt angeklickt habe. Das ist dann aber beim nächsten Öffnen vom Programm weg.“ E: „Aha. Aber die Bookmarkliste ist noch da.“ H: „Ja. [Pause] Also weiter bin ich da jetzt nicht gekommen.“ E: „Naja, reicht ja auch.“ „Struktur“ und „Form“, so Torsten Meyers These, „gewinnt die Datenbank […] mittels Sortier- , Filter-, Suchanfragen.“ Wir hätten es mit einer „knetbaren Informationsmasse“ zu tun, die „wie ein Tonklumpen“ „alle möglichen Formen“ annehmen könne.30 Sortier- , Filter- , und Suchanfragen haben die Form von Sortier- , Filter-, und Suchanfragen. Ohne die Möglichkeit, die Ergebnisse zu speichern und weiter zu verarbeiten, können keine anderen Formen entstehen. Wie aufwändig es ist, und welche weiteren Konstruktionsleistungen erforderlich sind, um die Datencluster in die Form einer Erzählung zu bringen, davon zeugt Stephan Münte-Goussars Film und Claudia Lemkes Projektdokumentation. Torsten Meyers eigene Konstruktionsleistung im Entwurf des Interface Designs der DVD kann nur gering geschätzt werden, wenn man davon ausginge, dass es lediglich einer Datenbank bedürfe, um daraus „alle möglichen Formen“ zu generieren. Ohne das Interfacedesign ist die Datenbank eine Liste von Text-, Ton-, Bild- und Videodokumenten mit obskuren Namen, mit denen niemand etwas anfangen könnte. Der Idealismus des Gedanken, dass das „Material“ selbst ein Potential an Formen in sich trage, resultiert in einem Interface-Design, das die potentiellen Formen, die die Datenbank annehmen kann, vernachlässigt, denn die potentiellen Formen hätten im Interface Design aufwändig konstruiert werden müssen, um eine benutzbare Oberfläche zu schaffen. Eine Datenbank, die niemand nutzt, eine DVD, die niemand anschaut, verschwindet. Ihr „Material“ nimmt keine Formen an; denn das „Material“ entsteht erst in der Übersetzung, in der Handlung des Users, der damit etwas macht. Der Gedanke, man müsse vorhandenes „Material“ nur in Ordnungen bringen, um Bedeutung zu schaffen, ist in Latours Sinn Ausdruck eines Ancien Regime, in dem die Dinge unabhängig von unserem Wissen über sie und unserem Umgang mit ihnen ein Eigenleben führen.31 Diese Haltung findet sich auch in dem Gedanken, 30 | Ebd. 31 | Vgl hierzu Kapitel 3, S.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 207 man könne „die Krise der Darstellung selber zur Darstellung bringen“.32 Hier werden jene Abbildungsverhältnisse unter der Hand wieder eingeführt, deren Problematisierung im Zentrum der Debatte um die Krise der Repräsentation standen. Gerade diese Problematisierungen sollten jedoch in der Entwicklung der Hypermedialen Ethnographie berücksichtigt werden.

Übersetzen H: „Ich hätte da noch mal was Grundsätzliches.“ E: „Schießen sie los.“ H: „Naja, ich sollte sie ja eigentlich beim Beobachten beobachten.“ E: „Hm.“ H: „Ja, na ja und da ist mir aufgefallen, dass sie sich beim letzten Mal für die ganz großen Kategorien wie ‚Authentizität’ und ‚Autorschaft’ interessiert haben, und ich sollte dann ja auch danach suchen, damit man gucken kann, wie die Macher der DVD ihre ‚Hypermediale Ethnographie’ in den Kontext dieser Debatten stellen.“ E: „Ja.“ H: „Naja, also, da ergeben sich ja ganz andere Dinge, als wenn man gucken will, wie man mit Grundschülern etwas mit Photoshop macht. Also, das hab ich jetzt noch nicht geguckt […]“ E: „Ja, guter Gedanke. Machen sie das doch noch mal.“ H: „Ja, aber eigentlich sollte ich doch sie beim Be...“ Als wir uns entschlossen hatten, hypermedial zu ethnographieren und nicht zu versuchen, ins padagogisch-didaktische Geschehen einzugreifen oder es zu bewerten oder zu versuchen, best practice Modelle aus den unterschiedlichen Praxen herauszudestillieren, mussten wir unser Vorhaben so übersetzen, dass sowohl die Kunstschulen und der Landesverband als auch das ZfKf überzeugt sein würden, dass dieses Vorgehen auch in ihrem Interesse wäre. Das war nicht so ganz einfach, denn die wissenschaftliche Begleitung sollte nicht einfach nur begleiten, sondern evaluieren. Aus heutiger Perspektive würde ich sagen, dass man so eine Hypermediale Ethnographie durchaus auch in Richtung Evaluation übersetzen könnte, wenn man wie zum Beispiel Christine Schwarz Evaluation in erster Linie als gemeinsamen Sinnstiftungsprozess begreift.33 Aber Stephan Münte-Goussar

32 | S.Münte-Goussar (2003): „Hypermediale Ethnographie.“ In: C. Lemke et al. (2003): sense&cyber. 76 -87, 85. 33 | Christine Schwarz (2004): „Evaluation als modernes Ritual.“ Manuskript zum Vortrag vom 30.9.2004, Heinrich Böll Stiftung Berlin: www.boell.de/alt/downloads/stw/schwarz_evaluation.pdf

208 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ und ich wollten uns damals dezidiert von der Evaluation abgrenzen, weil wir nicht irgendwelchen Machbarkeitsphantasien Vorschub leisten wollten, weil wir nicht so tun wollten, als ließe sich pädagogisch-didaktisches Handeln einfach objektivieren, rationalisieren und in universal handhabbare Module umformen. Am Anfang suchten wir nach Formulierungen, die durch die Nähe zur Kunst unser Vorhaben dem Landesverband und den Kunstschulen schmackhaft machen sollte. Ich hatte über die Verbindung des Surrealismus zur Ethnographie einen recht waghalsigen Zugang formuliert, von dem wir dann das Element der Collage beibehielten. [Dokument: Auszug aus Claudia Lemke: „Jenseits des common sense. Methodisches Vorgehen an der Schnittstelle Kunst/Wissenschaft/Bildung.“34] […] Es stellt sich nun die Frage, wie die Ethnographie an der Schnittstelle zur Kunst fruchtbar gemacht werden kann. Der Zugang des amerikanischen Anthropologen James Clifford ist dabei für die Ausarbeitung unseres methodischen Vorgehens interessant. Clifford spricht von den Parallelen zwischen der Ethnographie und dem Surrealismus. […] Clifford betont, dass die Ethnographie und der Surrealismus ein Interesse an ‚anderen Realitäten’ teilen. Während der Feldforscher damit beschäftigt war, das Unbekannte, Unheimliche verständlich zu machen, ging es im Surrealismus umgekehrt darum, das Gewöhnliche, Verständliche, unheimlich erscheinen zu lassen. Das Andere, das Exotische, Bizarre diente dabei Clifford zufolge in beiden Fällen als Berufungsinstanz gegen das Rationale, das Schöne und das Normale der westlichen Welt. Die Aufgabe des Surrealismus und der Ethnographie bestünde in einer Umcodierung von ‚Kultur’ mit dem Ziel der ‚deauthentication’, der Erweiterung und Um-/Deplazierung gewohnter Kategorien. Clifford sieht das, was er surrealistische Ethnographie nennt, als Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft anders zu denken. Surrealistische Ethnographie kann in diesem Sinne also als Tätigkeit verstanden werden, der eine gewisse Einstellung zu Grunde liegt. Eine Einstellung, die den sog. ‚common sense’ infrage stellt, die einen Pakt mit dem ‚gesunden Menschenverstand’ ablehnt. […] Clifford spricht von der Collage als geeigneter Arbeitsmethode der Ethnographie. Eine lineare Beschreibung vermeintlicher Fakten könne der Komplexität der zu beschreibenden ‚anderen’ Kulturen nicht gerecht werden. Berücksichtigt man, dass es keine einzig wahre Interpretation der Dinge geben kann, liegt es nahe, eine Art von Wiedergabe zu wählen, die Spielraum lässt für andere Interpretationen. Ethnographien nach dem Model der Collage zu schreiben, vermeidet, Clifford zu folge, Kulturen als organisches Ganzes darzustellen oder als vermeintlich realistische Welten, die man ohne weiteres einem kontinuierlichen erklärenden Diskurs aussetzen kann. Ethnographie als Collage würde den Aspekt der Konstruiertheit ethnographischen Wissens offen legen. Sie wäre eine Assemblage, die die Stimmen anderer, nicht nur der des Ethnographen, wiedergeben würde sowie Fundstücke aufweisen, die sich noch nicht in das vorrangige Interpretationsschema fügen lassen. Die Materialien dieser Collage gehen in erster Linie aus einer ‚ironischen teilnehmenden Beobachtung’ 34 | Claudia Lemke (2001): „Jenseits des common sense. Methodisches Vorgehen an der Schnittstelle Kunst/Wisenschaft/Bildung.“ In: KunstschulenVerbinden. 1/2001. 8-10.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 209 hervor. […] Die ironische teilnehmende Beobachtung versucht nicht eine neutrale Perspektive für sich in Anspruch zu nehmen, um vermeintlich Objektives festzuhalten. Die Ironikerin, im Sinne Rortys, zeichnet sich dadurch aus, dass sie kontinuierlich an dem Vokabular, welches sie benutzt und an endgültigen Setzungen Anderer zweifelt. Sie realisiert, dass es keine endgültigen Formulierungen geben kann und glaubt nicht, dass ihr Vokabular die Realität besser abbildet, als das Vokabular anderer. Sie weiß, dass die Wahl verschiedener Ausdrucksformen nicht in einem neutralen Raum mit universell gültigen Regeln stattfinden kann. Vielmehr bestimmt sie die Wahl der Ausdrucksweise dadurch, dem ‚common sense’ eine andere Sichtweise gegenüberzustellen. Sie wendet sich damit gegen verhärtete Gewohnheiten und Konventionen. […]“ Unser Raushalten aus dem kunstpädagogischen Geschehen wurde nicht von allen Kunstschulleuten begrüßt. In Oldenburg schien unser Vorhaben geradezu als Affront aufgefasst zu werden. Wir würden doch auch die Notwendigkeit sehen, die Neuen Medien in die Institutionen zu bringen, da müssten wir dann doch auch an der Entwicklung von sinnvollen Modulen interessiert sein, wie sie die Kunstschule offensichtlich mit der Unterstützung von Experten im Rahmen des Projekts entwerfen wollte. Unser Bericht sollte der „Profilbildung“ dienen. Unsere Darstellung sollte eingesetzt werden können als Beweis für die Notwendigkeit und Effizienz der Institution im Bereich der Medienbildung in der Region. Immer wieder war von Wertschätzung die Rede, in diesen Verhandlungen darüber, wie wir die Kunstschulen repräsentieren würden. Wir hatten vor, zu gucken, was da tatsächlich passiert. Wir wollten nicht von vorneherein davon ausgehen, als wären die Neuen Medien per se ein Segen für die Kunstschulen und den Rest der Menschheit. Diese Offenheit war für uns ein Kriterium der Wissenschaftlichkeit. Das war für uns nicht verhandelbar. Es bedeutete aber auch nicht, dass wir dadurch die Arbeit der Kunstschulen nicht wertschätzen können würden. Wir hatten nie damit gerechnet, dass unsere Offenheit bezüglich der Ergebnisse von sense&cyber ein Problem darstellen würde. Gerade weil wir auch vorhatten, kollaborativ vorzugehen. Wir dachten, das wäre im Interesse aller. War es aber nicht. Wir hatten unsere Rolle im Sinnstiftungsprozess der Kunstschulen nicht erkannt und waren vollkommen vor den Kopf gestoßen, als unsere Offenheit bezüglich der Ergebnisse von der Leitung in Oldenburg als Ausdruck dafür gesehen wurde, dass wir wohl von den Neuen Medien nicht wirklich überzeugt wären oder einfach keine Ahnung hätten. Um Gegenteiliges beweisen zu können oder auch um die didaktische Sinnproduktion selbst in die Hand zu nehmen, wurden wir dann aufgefordert, eine Literaturliste zu mailen. Auch in Hannover war es nicht so einfach, die Kunstschulmacherinnen für unsere Vorgehensweise zu gewinnen. Hier gab es allerdings andere Gründe, die für uns ähnlich schwer nachvollziehbar waren wie die, die aus Oldenburg vorgebracht worden waren. Da ging es nicht um die Befürchtung, dass wir die Neuen Medien vielleicht in keinem guten Licht erscheinen lassen würden, sondern

210 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ um die Befürchtung, dass die alltäglichen Praxisprobleme im Rahmen des Projekts von uns nur geschildert werden und wir uns an der Suche nach Lösungen nicht beteiligen würden. Da war die Angst da, mit der eigenen Ratlosigkeit allein gelassen zu werden. [Dokument: Auszug aus dem Protokoll des Modellforums vom 22.06.2001 in Hildesheim] Claudia Lemke berichtet, dass sense&cyber im KuBiM-Kontext insofern herauszuragen scheint, als dass nicht nur eine wissenschaftliche Begleitung vorhanden ist, sondern diese bereits eine Methode der Begleitung und Dokumentation formuliert hätte. Da bei dem letzten Modellforum keine Zeit für eine ausgiebige Diskussion dieser Methode gewesen sei, ist dem Wunsch seitens des Begleit-Teams und der ProjekteignerInnen aus Hannover und Oldenburg nachgegangen worden, eine Verständigung über die Methode als TOP in dieser Sitzung einzurichten. Nach einer kurzen Diskussion über die Art dieser Verständigung beginnt Claudia Lemke mit einer kurzen Zusammenfassung des im letzten Modellforum vorgetragenen Textes. Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Werdegänge der Mitglieder des Hamburger Teams und der Interessenlage, die Wissenschaft mit der Kunst in Verbindung zu bringen, hätte es nahe gelegen, sich gegen naturwissenschaftlich orientierte quantitative Methoden der Untersuchung des Geschehens an den Kunstschulen zu entscheiden. Als qualitative Methode in der sozialwissenschaftlichen Forschung sei die Ethnographie besonders geeignet. Es gelte, eine „dichte Beschreibung“ der Projektverläufe zu erstellen. Diese „dichte Beschreibung“ solle in Form einer Collage verschiedenartigen Materials vorgelegt werden. Neben „Feldnotizen“, die einer „teilnehmenden Beobachtung“ entspringen, gehören dazu Dokumente zum historischen Hintergrund der Kunstschulen, Zwischenberichte und andere, den Verlauf der Projekte schildernde Dokumente, Interviews mit ProjekteignerInnen und SchülerInnen, Video, Foto- und Tondokumente. Die Form der Collage würde vermeiden, die Geschehnisse als „eindeutig“ darzustellen. Die Dokumentation solle keine lineare Interpretation durch das Begleit-Team sein, sondern Spielraum lassen für andere Interpretationen. Besonders die Struktur der CD-ROM sei zu diesem Zweck besonders gut geeignet. Es folgt eine Diskussion über das methodische Vorgehen. Es wird die Befürchtung geäußert, dass eine langweilige Sammlung von Material entstehen würde. Das Begleit-Team weist darauf hin, dass die Tatsache, dass die in der Pazzini-Expertise hervorgehobenen Fragestellungen im Zentrum der Projektentwürfe stünden, bedeuten würde, dass immer wieder auf diese rekurriert werden müsse. Dies würde vermeiden, dass eine aussagenlose Materialmasse präsentiert würde. Von Seiten der Projekteigner aus Oldenburg werden Befürchtungen geäußert, dass sie sich in der Dokumentation „nicht wieder finden“. Bisherige Erfahrungen hätten gezeigt, dass die Arbeit der Kunstschule von Außenstehenden nicht adäquat dargestellt werden könnte. Das Begleit-Team erwidert daraufhin, dass eine ethnographische Methode in der vorgesehenen Form besonders gut geeignet wäre, um den Interpretationen der Arbeit in den Kunstschulen durch die MitarbeiterInnen Rechnung zu tragen. Eine Fremddarstellung würde sich jedoch immer von einer Selbstdarstellung unterscheiden und in diesem Kontext auch unterscheiden müssen, da es nicht um eine Darstellung der Kunstschularbeit ginge, sondern um eine Darstellung der Kunstschularbeit im Rahmen von

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 211 sense&cyber anhand der in der Pazzini-Expertise aufgestellten zentralen Fragen. […] Auf die Frage der Projekteignerinnen aus Hannover, inwieweit sich die Dokumentation von der wissenschaftlichen Begleitung unterscheiden würde, entsteht eine Diskussion. Dabei wird deutlich, dass verschiedene Auffassungen darüber vorhanden sind, wie sich die Begleitung zur Dokumentation verhält. Die wissenschaftliche Begleitung sehen die Projekteignerinnen aus Hannover als von der Dokumentation getrennt zu erbringende Leistung. Claudia Lemke vertritt die Ansicht, dass die Begleitung nicht von der Dokumentation zu trennen sei. Die Begleitung müsse sich an den zentralen Fragestellungen des Projekts orientieren, die die Grundstruktur der Dokumentation ausmachen würde. Weiterhin müsse die Begleitung ebenfalls dokumentiert werden, um den Projektverlauf angemessen darzustellen. Dies würde nicht heißen, dass sich die Hamburger nur auf die Tätigkeit der Dokumentation beschränken würden. Die Projekteignerinnen aus Hannover merken an, dass sie sich nicht adäquat von Seiten der Hamburger begleitet und betreut fühlen. Das Hamburger Begleit-Team äußert sein Bedauern über diese Situation, zumal eine erhebliche Datenmenge aus Hannover bereits zum Zwecke der Beratung gesichtet und kommentiert worden wäre. Das Begleit-Team bittet alle Projekteignerinnen bei Unstimmigkeiten, Fragen etc. um sofortige Kontaktaufnahme, telefonisch oder per e-mail. Außerdem sei es wichtig, dass die ProjekteignerInnen sich mit Terminvorschlägen zu Beobachtungsbesuchen oder Besuchen, die der Begleitung dienen, an die Hamburger wenden.“ Wir waren von den Reaktionen aus Hannover und Oldenburg ziemlich überrascht. Wir dachten, dass wir mit unserer kollaborativen, demokratischen Methode offene Türen einrennen. Das war aber im Falle dieser beiden Kunstschulen nicht so. Wir hielten uns nicht für die Projektarbeit selbst zuständig, nicht für die unzähligen Anträge, Zwischen- und Endberichte der Sub- und Teilprojekte, die im Rahmen von sense&cyber stattfanden und nicht für die Planung kunstpädagogischer Aktionen, Kurse und „Module“. Dieses Raushalten wurde uns zu Beginn vorgeworfen. Mit unserer vermehrten Präsenz vor Ort änderte sich das dann allerdings, weil wir durch unsere Beobachtungen und Interviews ins Gespräch über die alltägliche Projektpraxis kamen und so dieses gemeinsame Sinnstiften, diese Form der Begleitung dann doch noch stattfand. Dieses gemeinsame Sinnstiften ist ja auch eine Würdigung des alltäglichen Tuns der Leute und wenn auch vieles nicht geklappt hat, aber dieser Austausch war eigentlich für mich der zentrale Aspekt der „Kollaboration“ und der Kern der ethnographischen Arbeit. Darum ging es im Grunde um das, was da ganz oft auch in den so genannten Pausen stattfand. Beim Abendessen, in den Kaffepausen oder bei der Planung der nächsten Beobachtungsrunden. Dieses Dabeisein und Reden über die alltägliche Praxis hat Dinge in Bewegung gesetzt, auf beiden Seiten. Im Falle der Kunstschule in Hannover hatten wir allerdings immer das Gefühl, egal, wie viel wir da gemeinsam bewegen, nicht das zu leisten in Anführungsstrichen, was dort von uns erwartet wurde. Wir konnten die Lücke nicht füllen, die Unsicherheiten bezüglich der alltäglichen Praxis nicht ausräumen, nicht sagen, dass alles gut wird und wie.

212 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ H: „Also, ich habe versucht, aus Kunstpädagogenperspektive hier etwas Brauchbares zu finden. Da stellt sich ja erstmal die Frage, wie man danach suchen kann. [Klickt auf Suchen] So. Namen, Stichworte, Inhalte. E: „Geben sie doch mal bei Namen Gerd Selle ein.“ H: „Ja, das wird nicht viel nützen, denn hier, wenn ich da drauf klicke, steht dann: ‚Durchsuchen Sie die Projekt-Datenbank nach Dokumentnamen.’ Machen wir mal trotzdem Gerd Selle. OK. ‚Sorry: Leider keine Fundstelle. Versuchen Sie es noch einmal.’ E: „Warum das denn, soll da jetzt ein anderes Ergebnis rauskommen, oder was?“ H: „Einfach noch einmal OK. ‚Sorry: Leider keine Fundstelle. Versuchen Sie es noch einmal.’ E: „Machen sie nur mal Selle.“ H: „Nichts.“ E: „Oder Otto.“ H: „Nein, wieder nichts. Da wäre dann ja auch nur etwas, wenn der Name im Dokumentnamen enthalten wäre. Also muss ich unter Stichworten oder Inhalten suchen.“ Die „Inhalte“ der Projekte sollten nach Maßgabe des Programmträgers „transferfähig“ sein.35 Die „wissenschaftliche Begleitung und Evaluation“ der Projekte war von Seiten der BLK zur Auflage gemacht worden, und als Programmträger war das Zentrum für Kulturforschung (ZfKf ) damit beauftragt, diese wissenschaftlichen Begleitungen und Evaluationen zu begleiten und anzuleiten. Es fanden regelmäßige Treffen statt und Befragungen („strukturierte Abfrage des evaluativen Vorgehens“) zum Stand der Dinge in den Projekten und bezüglich der Forschungsinstrumente und Ergebnisse. Darüber hinaus hatte das ZfKf die Aufgabe, auf der Basis der ‚Evaluationen’ der Projekte die ‚Evaluation’ des Programms zu entwerfen. Die Darstellung des Abschlussberichts musste dabei den Erwartungen an die Aussagekraft von Modellversuchen gerecht werden. In der „zusammenfassenden Auswertung“ des ZfKf ist von „transferfähige[n] Beiträge[n] zu einer Qualitätsentwicklung von Unterricht und Schule sowie von Lehren und Lernen in Hochschulen und im außerschulischen Bereich“ die Rede.36 Es wurde eine Rückschau, eine Bilanz erstellt, die zumindest in Bezug auf die Fähigkeit singuläre Projekte in „transferfähige Beiträge“ umzuwandeln, Erfolg verspricht. Gleichzeitig geht es um einen Blick in die Zukunft, um eine Vorschau, darum, Hoffnung zu erwecken, dass zukünftiges Handeln auf der

35 | Zentrum für Kulturforschung (2006): KuBiM. Künste – Medien – Kompetenzen. Abschlussbericht zum BLK-Programm „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“ ARCult Media, 204. 36 | Ebd.. 17.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 213 Basis der präsentierten Erkenntnisse besser, gerechter und zeitgemäßer sein würde. In der Einleitung zur Abschlusspublikation schreibt die Programmkoordinatorin darüber, dass KuBiM weiter wirken werde in den vielen „Modellen, Modulen, Bausteinen und Empfehlungen“, die aus den Projekten heraus entwickelt, nun auf der Bildungsplattform netzspannung.org und dem Internetportal Lehrer-Online zu finden seien.37 An dieser Stelle fällt der mit Latour nicht gering zu schätzende politische „Spin“38 auf, der nicht selten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit „Modulen und Bausteinen“ verknüpft, der Handhabbarkeit und Machbarkeit in Anbetracht der vielen Unsicherheiten verspricht. Sowohl im politischen Enunciation Regime39 wie auch in dem im fünften Kapitel erwähnten padagogisch-didaktischen Enunciation Regime ist der Aspekt der Zukunft und damit der Aspekt einer linear fortschreitenden Zeit und eines am Ende zu erreichenden Ziels zentral. Eine fortschreitende Geschichte und eine Zukunft, auf die es sich zu hoffen lohnt, sind elementar für politische und pädagogisch-didaktische Wahrheitsproduktionsmechanismen. Ethnographische Offenheit ist nicht ohne weiteres mit den Anforderungen padagogisch-didaktischer Wissensproduktion zu vereinbaren, und wie sich zeigte, bedurfte es einer vorsichtigen Übersetzung unseres Vorhabens gegenüber unseren Auftraggebern. Bei dieser Übersetzung fielen alle zu gewagt erscheinenden Formulierungen, wie etwa die „surrealistische Ethnographie“ oder die „ironische teilnehmende Beobachtung“ weg und wurden durch konservativere begriffliche Werkzeuge ersetzt: [Dokument: Claudia Lemke: Auszug aus dem Manuskript zum Vortrag im Rahmen des Treffens wissenschaftlicher Begleiter am 3./4.09.2002 in Berlin] Um ein medienadäquates Forschungsdesign entwickeln zu können, bedarf es einer Klärung dessen, was unter Empirie verstanden werden soll. Wenn von Empirie die Rede ist, schreibt Mollenhauer, dann soll damit gemeint sein, dass begriffslogisch mögliche Behauptungen auf ihre wissenschaftliche Erfahrungszugänglichkeit hin geprüft werden.’ An der Schnittstelle zwischen Empirie und Kunst ist seines Erachtens jede szientistische oder hermeneutische Orthodoxie eher erkenntnishemmend. Besonders im Bereich ästhetischer Bildung sei es wichtig, die Kategorien der Beobachtung zu hinterfragen. ‚Normative

37 | Gabriele Vogt (2006): „Nichts löschen!“ – Vorwort der Programmkoordinatorin der BLK Projektgruppe „Innovation im Bildungswesen“. In: Zentrum für Kulturforschung (2006): KuBiM. Künste – Medien – Kompetenzen. Abschlussbericht zum BLK-Programm „Kulturelle Bildung im Medienzeitalter“ ARCult Media. 1-5.. 38 | „The denigration of political talk would never be possible without this ignorance of its key, of its own peculiar tone, of its spin […]“ Bruno Latour (2002e): What if we talked politics a little? www.ensmp.fr/ latour/Articles83%20POLITIQUES.html, 13/11/2002, 3. 39 | Vgl. hierzu, Kapitel 3, Seite 76.

214 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Implikate’ des Beschreibungsvokabulars sollten ‚sichtbar und revisionsfähig’ bleiben. Vor diesem Hintergrund schlägt Mollenhauer Geertz ‚dichte Beschreibung’ als adäquate Methode empirischer Forschung im Bereich ästhetischer Bildung vor. Die Beobachtungen an den Kunstschulen werden daher mit Hilfe ‚dichter Beschreibung’ festgehalten werden. Um zu vermeiden, dass diese ‚dichte Beschreibung’ durch ihr deskriptives Vokabular nur eine Deutung (unter vielen möglichen) vorgibt, ohne selbstreflexiv Gründe für die eingeschlagene Richtung zu geben, soll das Forschungsdesign in Richtung auf die Kunst und die sog. ‚Neuen Medien’ erweitert werden. Um die Aktivitäten und Ereignisse an den vier niedersächsischen Kunstschulen in ihrer Multiperspektivität und Polyvokalität adäquat darzustellen, bietet sich an, das gesammelte und noch zu sammelnde Material auf CD-ROM zu präsentieren. Durch die Fülle dieses Materials (Film- und Videosequenzen, Fotografien, Audioaufnahmen, Textdokumente etc.) kann der Leser selbst navigieren und ist so freier, seine Deutungen vorzunehmen. Die Interpretationen des Sammlers sind nicht nur - wie Anderson es u.a. vorschlägt, in einer separaten Datei vorhanden, sondern auch in der Auswahl des präsentierten Materials. Diese Form der Präsentation hat den Vorteil, dass es dem Leser leichter gemacht wird, sich ein eigenes Bild zu machen. Die sich in dem Forschungsansatz ausdrückende Haltung, sorgte beim Treffen der „wissenschaftlichen Begleiter“ mit den Vertreterinnen des ZfKf für Zündstoff. Für einige der TeilnehmerInnen stellte der beschriebene Weg eine Verweigerungshaltung dar, gegenüber der, allen BegleiterInnen gleichermaßen Schwierigkeiten bereitenden Aufgabe, aus komplexen Projektprozessen ‚transferfähige Module’ zu zimmern. Andere TeilnehmerInnen und auch die Mitarbeiterinnen des ZfKf waren dem hypermedial ethnographischen Ansatz gegenüber offen. Mit Karl-Josef Pazzini als ‚partner-in-crime’40, dessen Autorität auch und gerade wegen der Autorschaft der ‚Expertise’ nicht zur Debatte stehen konnte, liefen die Verhandlungen bezüglich der Methode relativ einfach. Anlässlich einer Anfrage vom ZfKf bezüglich der „Evaluationskritieren“ entstand folgender Text: [Dokument: Auszug aus einem Brief Claudia Lemkes an das ZfKF in Antwort auf die Aufforderung der Mitteilung der „Evaluationskriterien“] „Es wird nicht erwartet, dass sich die Erfahrungen der Kunstschulen ohne weiteres übertragen und verallgemeinern lassen. Weiterhin wird nicht davon ausgegangen, dass es objektive Kriterien zu Messung des Erfolgs der einzelnen Projekte gebe. ‚Die Qualität der einzelnen Projekte und damit gleichzeitig die Art ihrer Darstellung müssten vom einzelnen zeugen und zur Übertragungen führen, zu Transmissionen, die das Einzige bei anderen stimulieren hin auf einen Kontakt zum Spannungsfeld von Besonderem und

40 | Pazzini spricht von „Freunde[n] des Verbrechens“. „Des Verbrechens gegen die Gewohnheit, damit wir in dieser nicht erstarren.“ In diesem Zusammenhang ist mit der Gewohnheit das „Ritual der Evaluation“ (Schwarz) gemeint. Vgl. K.-J. Pazzini (2004): Das zu Lesende. In: Johannes M. Hedinger, M. Gossolt (Hg.): „Kunst, öffentlicher Raum, Identität.“ Mocmoc, das ungeliebte Denkmal. Sulgen: Niggli. 42-46, 46.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 215 Allgemeinem.’ (Pazzini) Es geht hier nicht um eine Objektivierung von Leistungen. Die Ergebnisse der Projekte sind nicht quantifizierbar. […] Die Frage nach ‚Evaluationskriterien’ lässt sich mit dieser Position schwer in Einklang bringen.“ E: „Stichworte. Gucken sie doch da mal, ob wir da was Brauchbares finden.“ H: „Ich gebe hier jetzt Grundschule ein und OK.“ E: „’Sorry: Leider keine Fundstelle.’ Hier soll man es dann auch noch mal versuchen.“ H: „Ich weiß, da ist was mit small fish mit Grundschülern gemacht worden, das war im Film. Vielleicht mal small fish. OK. Auch keine Fundstelle. Photoshop. Auch keine Fundstelle. Didaktische Konzepte. Auch keine Fundstelle.“ E: „Versuchen sie es doch einmal mit der Suche nach Inhalten.“ H: „Suche in Textinhalten. Da ist dann gleich einer Warnung.“ E [liest]: „’Diese Suche kann einige Minuten dauern!’ Oh je.“ H: „Trotzdem noch einmal didaktische Konzepte und OK.“ E: „So jetzt arbeitet er. Das hört man. Ich glaube, da können sie jetzt mal einen Kaffee holen.“ H: „Ganz so lange wird das schon nicht dauern. Vielleicht haben wir ja noch eine Chance, wenn wir einen Dokumentennamen wüssten.“ E: „Woher soll man die denn kennen?“ H: „Aus dem Buch zum Beispiel, da sind wir doch letzte Woche schon einem begegnet, wo hinter dem Filmclip die Beschreibung einer Unterrichtseinheit als Text lag. Erinnern sie sich?“ E: „Nein. Aber ich verlass mich da auf ihr detektivisches Gespür. Das braucht man wohl. Hier bitte. Drei Minuten und zwei Ergebnisse.“ H: „Kunstschulen im Medienzeitalter. Karteikarte. Buch S. 37. Ja, den kenn ich, der sagt mir auch nichts darüber, wie ich mit Grundschülern was mit Computern machen kann.“ E: „Wie ist es denn mit dem anderen?“ H: „Einen Augenblick. Karteikarte abbrechen. Auf die leere Fläche klicken. Oh.“ E: „Was ist jetzt?“ H: „Jetzt sind sie beide weg.“ E: „Nein, nicht noch einmal drei Minuten warten.“ H: „Ich versuch es jetzt doch noch einmal unter den Dokumentennamen, auch wenn ich die nicht weiß, und gebe hier einfach mal Didaktik ein.“ E: „Ja, gucken sie mal, das ist was. Unbehagen mit der Didaktik. Klicken sie mal drauf. Ja. Schön. Ein Text.“ H: „Gucken wir mal auf die Karteikarte. Gut. Autor ist Karl-Josef Pazzini. Im Buch ist er auf Seite 306.“

216 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ [Dokument: Karl-Josef Pazzini: Notizen: Unbehagen mit der Didaktik41] Der Begriff Didaktik wird meist mit einiger Abscheu und Abgrenzung benutzt. Das hat mehrere Gründe. Mir scheint, dass die negativen Konnotationen sich in der Regel auf einen verkürzten Didaktikbegriff beziehen. Diese Verkürzungen gehen auf die Vorstellung von einer Beherrschbarkeit des Lehr- und Lernprozesses zurück. Diese Beherrschbarkeit erweist sich aber auf kurz oder lang immer als eine Illusion. So wie der Begriff dann benutzt wird, ist dieser Verwendung doch noch die Enttäuschung über die mangelnde Beherrschbarkeit des Lehr- und Lernprozesses anzumerken. […] Blickt man auf die Entwicklung des Begriffs Didaktik, sind die eher negativen Vorzeichen in der Benutzung die Folge einer Herauslösung aus den philosophischen und politischen Implikationen. Der Didaktikbegriff wäre deshalb zu dekonstruieren. Das heißt: genau ansehen, wie er gegenwärtig funktioniert und seine Mitbringsel aus der Geschichte herauspräparieren, um ihn anders zu konstruieren. Dazu muss man ihn vor allem zunächst beibehalten. […] Der in der schulischen Kunstpädagogik currente Begriff, wenn es denn einer ist, von Didaktik zielt auf eine Effektivierung eines rationalen Lehr-Lern Prozesses. […] Das ist eine Didaktik, die nichts mehr mit einem Versuch der Übersetzung von Weltbildern in die anderen Gesetzmäßigkeiten von Unterricht zu tun hat […]“ Um diese von Pazzini hier erwähnten pädagogisch-didaktischen Übersetzungen wird es im 5. Kapitel noch gehen. An dieser Stelle sei nun noch einmal das ethnographische Übersetzungsmoment thematisiert. Übersetzung ist mit Latour hier nicht verstanden als Transfer von Information, bei dem der Sender, der Empfänger und die Botschaft unverändert bleiben. Übersetzung ist vielmehr als Transformation zu sehen. Das ethnographische Übersetzungsmoment ist das Moment, in dem sich der Informant durch seine Bemühungen, sein Verhalten für den Ethnographen zu übersetzen, ein Stück weit selbst fremd wird und so zu sich kommen kann, während der Ethnograph „zum Einheimischen“ wird. Im Extremfall macht er sich die fremde Welt so sehr zu eigen, dass ihm nicht mehr an einer Übersetzung gelegen ist. „Going bush“ oder „going native“ sind hierfür die Termini Technici. Mit dem Begriff der Übersetzung lässt sich das Verhältnis zwischen Forscher und Beforschten anders fassen als dies z.B. mit dem Begriff des Rapport möglich ist. Rapport im herkömmlichen Sinne, als „guter Draht“ des Ethnographen zu „seinen Einheimischen“ dient der Erkenntnisgewinnung des Ethnographen und sein Sinn erfüllt sich in einer wahrheitsgetreuen Ethnographie.42 Um den Anforderungen der Kollaboration und der demokratischen Sozialisation von Wissensdingen gerecht zu werden, bedarf es einer Erweiterung des Konzepts des Rapports, der mit dem Begriff

41 | K.-J. Pazzini, Karl-Josef (2003): „Kunst in der Schule?“ In: Claudia Lemke et al. (Hg.): sense&cyber. 303-309, 306f. 42 | Gleiches gilt für Marcus Erweiterung des Rapport in seinem Konzept der Complicity (vgl. George Marcus (1998): „Complicity and the Multi-Sited Spaces of Contemporary Ethnography.“ In Ders.: Ethnography through Thick and Thin. Princeton University Press. 116ff.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 217 der Übersetzung genüge getan werden kann. Hier beruht die Bewegung auf einer wechselseitigen Transformation. Diese Transformation bedeutet auch, dass scheinbar Gewusstes in seine Einzelteile zerlegt wird, dass matters of fact zu matters of concern werden. Das ethnographische Übersetzungsmoment, das durch die Gegenwart der wissenschaftlichen Begleiter im Feld zustande kommen kann, ist jenes Moment, in dem die PädagogInnen der Ethnographin ihr alltägliches pädagogischdidaktisches Handeln übersetzen. Dabei wird ihnen dieses Handeln ein stückweit fremd, sie erscheinen sich selbst anders, und in diesem anders Werden, das durch das „einheimisch Werden“ der Ethnographin auf der anderen Seite begleitet wird, liegt die Chance das Handeln zur Verhandlungssache zu machen, zu einem matter of concern, einem Ding, das andere Versammlungen einzuberufen in der Lage ist.

Verhandeln [Dokument: Aus einem Vortrag Karl-Josef Pazzinis anlässlich des letzten s&c- Modellforums am 23.03.03 in Oldenburg.43] Das Ganze hat als Methode jetzt die Überschrift „hypermediale Ethnographie“ gefunden, gefunden von Claudia Lemke, und d.h. die Methode ist ethnographisch mit all den Diskussionen, die in der Ethnographie gelaufen sind, teilnehmende Beobachtung usw. , wir sind nicht außerhalb des Feldes, sondern Bestandteil desselben. Es gibt keinen Metastandpunkt dazu. Und durch das Adjektiv hypermedial wollen wir den Darstellungsmöglichkeiten Rechnung tragen. […] Wir haben am Ende also das Buch, hinten drin die DVD, und auf der DVD gibt es noch einen relativ leicht auslinkbaren Videofilm und eine Verbindung zu einem die Daten in Bewegung haltenden Server, der Updates erlaubt. Also wir haben vier Produkte, die an die Öffentlichkeit gelangen können. Man muss diese Momente im Kopf behalten, dass sie zusammenwirken sollen. Damit gibt man auf eine andere Weise als bei bisher üblichen Berichten einen Teil des Projektes aus der Hand. Und andere können daran mitarbeiten. Der Aspekt der Kollaboration war mir äußerst wichtig. Das sollte ein Bericht von uns allen werden. Es war natürlich recht naiv zu denken, dass von Seiten der Kunstschulen automatisch ein Interesse da wäre, sich an dieser Konstruktionsanstrengung, an der Darstellung der Projekterfahrungen großartig zu beteiligen. Wir haben immer wieder dazu aufgefordert, uns Interpretationen mitzuteilen, eigene Beobachtungen in irgendeiner Form beizusteuern, sei es nun auf Video oder in Form von Notizen und zum Bestandteil dieser DVD werden zu lassen. Alles Material, was wir erhielten, war für andere Zwecke als für unsere Darstellung 43 | Pazzini am 22.3.03 in Oldenburg. Doc: „Hypermediale Ethnographie praktisch“

218 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ hergestellt worden. Wir hatten Anträge, Zwischenberichte und Abschlußberichte in allerschönster, vielfach noch von Torsten Meyer geprägter Antragsprosa inklusive Bilder und Videos, aber keine Beschreibungen der Projekterfahrungen in einem anderen Duktus. Außer von den Kunstschulmacherinnen in Hannover, deren Projektbeitrag zu sense&cyber darin bestand, auf einer eigenen DVD ihren kunstpädagogischen Alltag mit und ohne PCs darzustellen. Auf unserer DVD wird auf dieses Material nur verwiesen. Es ist darauf aber nicht zu sehen. Diese gemeinsame Konstruktion, die ich mir erhofft hatte, geschah nur in flüchtigen Momenten vor Ort und nicht beim Zusammenstellen dieses Berichts, hypermedial oder nicht. Das war keine gemeinsame Sache. Wir haben das digital aufbereitete Material zum Schluss den vier Kunstschulen zur Verfügung gestellt, damit jede Kunstschule daraus ihre eigene Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive basteln konnte. Das war zentral für unser Konzept. Damit ihre Geschichten als Lesepfade durch das Material, als Ordnungen auf der DVD, erscheinen würden. Noch bevor die Kunstschulleute nach Hamburg kamen, war klar, dass das nicht mehr viel mit dem Ziel der Kollaboration, der demokratischen Gestaltung der Wissensproduktion zu tun hatte. Einerseits mangelte es an Interesse seitens der Kunstschulen, die mit ihren sense&cyber Projekten schon durch waren, als es daran ging, das Material in Ordnungen zu bringen, und andererseits war klar, dass das Erstellen von Ordnungen zwar ein interpretativer Akt ist, aber dass dabei noch lange keine Interpretation herauskommt. Wir hatten das falsch eingeschätzt, denn es war ganz klar, schon als die Kunstschulmacher nach Hamburg kamen, um die Datenschnipsel zusammenzustellen, dass zu einer narrativen Form mehr gehört als eine Materialsammlung und ein Ordnungsschema. Wir waren uns am Anfang völlig sicher, dass man das Material nur erst einmal als Sammlung da haben müsste und sich dann alle möglichen Formen, alle möglichen Geschichten und Interpretationen generieren lassen würden. Selbst wenn die Leute aus den Kunstschulen wie Stephan Münte-Goussar aus den Schnipseln eine filmische Abfolge mit voice-over hätten basteln können, hätte man noch längst nicht alles damit sagen können. Außerdem glaube ich, dass wir auch in die Falle eines einfach verstandenen Empirizismus getappt sind, dass nämlich ‚das Material’ doch verlässlich wiedergibt, was dort geschehen ist, und die Interpretationen, quasi oben drauf und zusätzlich drübergestülpt werden können. ‚Das Material’ ist dann die ‚Welt da draußen,’ und die Ordnung, in die ich ‚das Material’ auf der DVD bringe, meine Interpretation dieser Welt. Das konnte nicht funktionieren. [Dokument: Stephan Münte-Goussar in einem Vortrag vor den ProjekteignerInnen und MitarbeiterInnen von sense&cyber in Hamburg am 28.03.03] „Es geht also u.a. darum, dass nicht wir allein diejenigen sind, die als Autoren, als Autorität darüber entscheiden, wie die Dokumentation geschrieben wird, sondern auch ihr am Schreibprozess beteiligt

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 219 seid, ganz konkret in dem Sinne, dass wir alle zusammen die Struktur der Datenbank und damit die der DVD schreiben. Sicherlich ist es so, dass wir durch die Art und Weise der Beobachtung, durch die Art und Weise der Interviewführung, durch die Auswahl der Besuchstermine und der Gesprächspartner bestimmte Entscheidungen bereits getroffen und eine spezifische Perspektive eingenommen haben. Es ist sicherlich auch so, dass wir eine Vorauswahl aus dem Material getroffen haben. Wir haben die 60 Stunden Videomaterial auf ca. zwei Stunden reduziert geschnitten, neu kombiniert aus fünf Aktenordnern Printmaterial haben wir einige Texte ausgewählt; aus einer Unzahl von Bildern haben wir nur die „Schönsten“ beibehalten. Dies scheint aus pragmatischen Gründen kaum anders vorstellbar. Dennoch erhält das Material seine spezifische Bedeutung erst durch die Struktur, die Zusammenstellung, den Kontext, in dem es erscheint. Durch die Ordnung „Text“ und „Film“ werden wir, d.h. Claudia und ich, auf der DVD solche Kontextualisierungen vornehmen, die dem Material durch Kommentierungen und eben die Art der Präsentation aller erst eine Interpretation beigibt. Solche Ordnungen stehen nun auch Euch, jeder Kunstschule, zur Verfügung, um Eure Zusammenhänge und somit Sichtweisen des Projekts zu dokumentieren. E: „Suchen Sie doch vielleicht mal in einer anderen Ordnung. Wie wäre es denn da oben, Ansicht miraculum.“ H: „Das ist von der Kunstschule miraculum in Aurich angelegt. Da sind die Cluster hier fast in Tabellenform. Was meinen sie, was könnte das auf sich haben?“ E: „Also da muss ich jetzt nicht großartig spekulieren. Wir suchen ja nach wie vor nach konkreten Praxisbeispielen. Was zum Nachmachen für den Kunstpädagogen.“ H: „Ja. Hier gucken sie mal. Hier oben, das sind die Jahre. Da steht 2001 Konzept, dann 2002 u.s.w.“ E: „Ja schön, aber wir suchen Praxisbeispiele.“ H: „Hier in der nächsten Zeile dann 2001 Internet, 2002 Internet […]“ E: „Sie sollen jetzt hier nicht Detektiv spielen, sondern ein Praxisbeispiel suchen.“ H: „Vielleicht hier, Ausstellung 2001, Ausstellung. Nein. Video, Video. Multimedia, Multimedia. Nein hier wüsste ich nicht, wo sich etwas verbergen könnte. Vielleicht gucken wir mal bei einer anderen Kunstschulordnung.“ Noch bevor die Kunstschulleute nach Hamburg kamen, um ihr Material zu sortieren, war der Abgabetermin ausgehandelt worden, und es war abzusehen, dass alles sehr knapp werden würde, und dass für elaborierte Konstruktionen von Seiten der KunstschlumacherInnen keine Zeit mehr sein würde. Diese Ordnungen mussten so schnell wie möglich erstellt werden, um mit der Zeit für das DeBugging hinzukommen. Stephan Münte-Goussars Film war im Konzept nicht vorgesehen. Die Entscheidung, noch einen Film für die DVD aus den Datenclustern zu schneiden, fiel, nachdem der Abgabetermin bereits bekannt war, und sie war

220 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ im Team der wissenschaftlichen Begleitung umstritten. Es entstanden Konflikte um Zuständigkeiten um Autorität, darum, wer wo was zu sagen und zu schreiben hat, wer wie und mit wie vielen Textanteilen in der Abschlussdokumentation auftaucht usw. Jeder arbeitete vor sich hin und versuchte, seinen Teil der Arbeit an der Hypermedialen Ethnographie in dem gegebenen Zeitraum fertig zu stellen. Meine vertraglich festgelegte Aufgabe der Textdokumentation erledigte ich in dieser Phase räumlich von Torsten Meyer und Stephan Münte-Goussar getrennt. Im MultiMedia Studio war kein konzentriertes Schreiben möglich. Diese räumliche Distanz bedeutete, dass ich viele der auftauchenden Probleme nicht mitbekam und mich an deren Lösung nicht beteiligen konnte. Ich arbeitete weiter an der Projektdokumentation in einer Form, auf die wir uns in Anbetracht der technischen Notwendigkeiten recht früh in der Produktionsphase geeinigt hatten. Die Tatsache, dass der Text als zentraler Teil einer Collage fungieren sollte, machte eine gewisse Taktung notwendig. Nach so und so viel Zeilen musste eine Überschrift folgen, die Überschriften waren unterteilt in Überschriften erster, zweiter und dritter Ordnung und die Referenzen, also, das Video- , Text- und Bildmaterial, das man direkt aus dem Text anklicken sollte, durfte pro Überschrift unterster Ordnung fünf nicht überschreiten. Weil nicht mehr als fünf Elemente in ein Doc passten. Was für eine Konstruktion! Außerdem gab es die Schwierigkeit, dass die Dokumente noch nicht alle in Häppchen aufgeteilt und mit Dateinamen versehen worden waren. Viele der Häppchen, die ich zusammengestellt und benannt hatte, wurden gestrichen oder umbenannt, einige wurden neu geschnitten, damit sie besser in den Film passen würden. Es war eine wahnsinnige Materialschlacht, und wir hatten keine Zeit, um ordentliche Verfahren zu entwickeln. So blieb jedes digitalisierte Häppchen Verhandlungssache. H: „Perspektive Klex. Die haben jetzt wohl ein anders Ordnungssystem. Das stellt sich dann so wie verteilte Namen auf einer Karte dar. So. Das kann man da ordnen. Gucken sie mal eine ganze Liste [liest] digital&analog, Ergebnisse, Frauen, Harmonien ....“ E: „Was ist das denn. Nein, das interessiert jetzt wirklich nicht.“ H: „Da gibt’s auch Männer.“ E: „Ein ganzer Kreis.“ H: „Ach, da sind die Datencluster danach sortiert, ob Männer oder Frauen in den Interviews auftauchen.“ E: „Was soll das denn?“ H: „Und bei Harmonien?“ E: „Das ist jetzt wirklich nicht zu erraten, was das für eine Ordnung sein soll. Sie verzetteln sich auch schon wieder.“ H: „Ja gut. Gucken wir unter Ergebnisse.“

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 221 E: „Da sind dann die Sachen, die die Schüler und Schülerinnen gemacht haben. Das bringt uns auch nicht weiter.“ H: „Hier, Methoden. Abschluss.“ E: „Das ist ein Ausschnitt aus dem Film. Nein. Das bringt so nichts.“ H: „Doch, es bringt schon etwas. Jetzt habe ich wenigstens gemerkt, dass da diese vorhandenen Datencluster nur unter unterschiedlichen Überschriften sortiert wurden und dass die Auswahl der Überschriften wohl recht willkürlich war. Ist das denn irgendwo erläutert?“ E: „Das geht doch so nicht. Bleiben sie doch erstmal bei einer Suche und gucken sie jetzt mal bei der nächsten Kunstschulordnung.“ Ich war in keiner guten Verhandlungsposition. Erst als nichts mehr ging, als das Buch in Druck war und das De-Bugging fast durch, merkte ich, dass die einzelnen Referenzen in der Projektdokumentation nicht als Links funktionierten, dass die Häppchen des Textes nicht eingegliedert waren in Datencluster, dass es keine Hypermediale Ethnographie als Collage gab. Damit war das Ding ein komplett anderes geworden. Für mich hatte es nichts mehr mit der Hypermedialen Ethnographie zu tun, die ich entworfen hatte. Es war nicht mehr mein Projekt, als es dann anfing ein unabhängiges Leben als Objekt zu führen. Da gibt es so ein schönes Bild, was Latour gerne benutzt. Ein Stich aus dem 18. Jahrhundert.44 Da steht ein Bildhauer vor seiner Skulptur und weicht erschrocken vor ihr zurück. Aber die Skulptur, der in Stein gehauene Jupiter ist genauso erstaunt, den Künstler zu sehen und weicht ebenso vor ihm zurück. Jupiter hat ein Eigenleben. Hat nichts mehr mit den Intentionen, mit den Vorstellungen des Bildhauers zu tun. Er ist fertig, kann andere Verbindungen eingehen. Der Bildhauer kann ihn auf dem Marktplatz aussetzten, Jupiters Überleben hängt nicht mehr von ihm ab. Er hat keinen Einfluss mehr darauf. H: „Perspektive Kunstwerk. Gucken sie mal, da gibt es gar keine Ordnung.“ E: „Tatsächlich. Da gibt es nur das All-Eine.“ H [liest]: ‚Sehreise über das Mehr’ Mit H. Mal gucken. Da sind jetzt sieben Überschriften. [liest] ‚Versuch einer Legende’. Ach so, ich glaube, die Sehreise ist die CD-Rom, die die Kunstpädagoginnen gemacht haben, wo sie ihre eigene Praxis darstellen.“ E: „Da müsste doch was zu finden sein.“ H: „Hier, ich guck mal unter Reise.“

44 | Stich von J.B. Oudry. In : Fean de La Fontaine, Fable Choisies. Paris 1756 In: Bruno Latour (2002): Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Merve Verlag, Berlin. 35.

222 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ E: „Ein Text [liest] ‚Auf der Reiseebene wird in der Metapher des Reisens aus vier Perspektiven über Phänomene der Kunstschularbeit …’ Ja mein Gott, wo finde ich denn diese Phänomene. Klicken sie mal auf das Bild darunter.“ H: „Das ist ein Screenshot von der DVD.“ E: „Da ist ein Bild von einem Kind. Klicken sie doch da mal drauf.“ H: [klickt auf das Bild]: „Das bringt nichts, das ist ein Screenshot. Da kommt man nicht zu deren CD. Die müssen sie separat kaufen.“ Vieles was ich mir vorgestellt hatte, was ich mir erhofft hatte von dieser Hypermedialen Ethnographie, ist nicht eingetreten. Wir hatten uns zu sehr darauf verlassen, dass die Technik von ganz alleine etwas bewirkt. Aber das Forschen gestaltete sich nicht wegen der eingesetzten Neuen Medien mit einem Mal demokratischer. Die Autoritätsprobleme und Repräsentationskrisen verschwanden nicht, nur weil wir hypermedial ethnographierten. Sie verteilten sich nur anders. Ich hatte mir vorgestellt, dass wir unsere Interpretationen wirklich zur Disposition stellen, auch und insbesondere unsere Ideen bezüglich der „Methode“ und der „Darstellung“. Mir war wichtig, dass das Ganze ein eingebautes reflexives Moment hat, das zur Darstellung kommt. Auch um ein Weiterleben dieser Forschungsweise zu ermöglichen, damit andere, wenn sie ähnliches vorhaben, sehen können, wo wir an Grenzen gestoßen sind. Dass nicht jeder vor sich hin bastelt und nicht darüber geredet und geschrieben wird, an welche Grenzen man mit der Herangehensweise geraten ist. Das sollte ein Experiment sein, wo gerade solche Grenzen interessant werden. Keine Abfolge von Absichtserklärung und Endprodukt. Da fehlte es an due course, an ordentlichen Verfahren und an Zeit. Bei jedem Experiment gibt es Verlaufsprotokolle. Da guckt man ganz genau wo, wie, wann was passiert, statt seine Handlungen zu vertuschen. Die Hand am Werk zeigen. Da kann man anfangen. E: „So, um das jetzt zum Ende zu bringen. Gucken sie doch noch mal bei den anderen Kunstschulordnungen.“ H: „Hier, Meppen. Kinderkunst. Schreiben am Computer.“ E: „Da, ein Kind. Wunderbar.“ H: „Was war das denn für ein seltsamer Film.“ E: „Hier klicken sie doch einmal bei der Karteikarte auf Topologie: Tun.“ H: „Hier ein anderer Kreis. Schauen sie mal. Da sind sie ein besserer Detektiv gewesen als ich. Das sind jetzt wahrscheinlich alle Videoclips, wo Kinder was tun.“ E: „‚Hier Director für Kinder’, Klicken sie mal drauf.“ H: „Ein Interview. Kein Kind.“ E: „Aha, mit Kindern mit Director arbeiten geht nicht. Kurz und bündig.“

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 223 H: „Hier ich guck mal unter ‚Salzbilder’“ E: „Ein Interview, kein Kind.“ H: „Ja, aber interessant, und wo finde ich nun, wie ich die genau mache, die Salzbilder?“ E: „Ich würde sagen, wir brechen die Suche nach den für den Kunstunterricht zu verwertenden Beispielen an dieser Stelle ab. Wir sollten uns jetzt im Hinblick auf die Zeit auf das Wesentliche konzentrieren. Suchen sie doch noch einmal nach den Stichworten ‚Autorität’, ‚Authentizität’ und ‚Medienzeitalter’. H: „Ja, aber eigentlich sollte ich doch sie beim Beobachten beobachten.“ E: „Ja, stimmt, da haben sie vollkommen Recht. Wissen sie was, das machen wir beide gemeinsam das nächste Mal, und dann suche ich, und sie machen Notizen.“ H: „Ja, prima. So hatte ich mir das auch vorgestellt.“

Black boxing Die Projektphase nähert sich ihrem Ende. Die sense&cyber Teilprojekte an den Kunstschulen sind bereits abgeschlossen, nun endet auch die Phase, in der die Hypermediale Ethnographie als Projekt existiert. Mit dem Ende der Projektphase sind die Gestaltungsmöglichkeiten ausgeschöpft, die DVD wird vervielfältigt, das Buch herausgebracht. Die black box45 wird geschlossen, die Hypermediale Ethnographie wird zum Wissensobjekt46, dessen Entstehungsbedingungen nicht mehr sichtbar sind. Die Hypermediale Ethnographie wird darüber hinaus zum Programm auf einer DVD-ROM, über deren Entwicklung nichts preisgegeben werden muss, denn was zählt ist, dass sie funktioniert, dass sie auf verlässliche Weise Input in Output verwandelt, dass Suchanfragen funktionieren, dass der Film läuft etc. In dieser dichten Beschreibung ist die Hypermediale Ethnographie als black box geöffnet und in ihre Einzelteile zerlegt auf ihre Herkunft hin befragt worden. Darüber hinaus ist in der Form des Dialogs zwischen dem fiktiven Erziehungwissenschaftler und seiner Hilfskraft das Funktionieren der Hypermedialen Ethnographie als black box beleuchtet worden. Zum Schluss gilt es nun einer Besonderheit dieser Hypermedialen Ethnographie Rechnung zu tragen, nämlich der Tatsache, dass es hier von Anfang an nicht um die Aufstellung („deployment“) eines ethnographischen Wissensobjekts ging, sondern um die Aufstellung der Neuen Medien als kunstpädagogisch-didaktisches Wissensobjekt. Zu guter Letzt muss also noch jenen Prozessen des black boxing Rechung getragen 45 | Zum Begriff der black box, siehe Kapitel 3, Seite 87. 46 | S. Münte-Goussar (2003): „Hypermediale Ethnographie.“ In: C. Lemke et al. (Hg.): sense&cyber. 76.

224 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ werden, in denen die Neuen Medien als pädagogisch-didaktische Wissensobjekte stabilisiert worden sind. Denn zum Ende der Projektphase galt es nicht nur, die Hypermediale Ethnographie als wissenschaftliches Forschungsobjekt und als technisches Objekt, als DVD-ROM, zu schließen und zu schwärzen (also den Einblick in ihre Herkunft und ihre Funktionsweise unmöglich zu machen), sondern auch den Umgang mit Neuen Medien im kunstpädagogischen Feld als didaktisches Wissensobjekt zu black boxen. Dies geschah an drei Stellen auf unterschiedliche Weise: In der 124seitigen „Projektdokumentation“ von Claudia Lemke, in Stephan Münte-Goussars 26seitiger „Überschau“ und in Torsten Meyers 24seitigem Text „Kunstpädagogik im Neuen Medium.“ E [sitzt vor dem Laptop und fährt ihn hoch]: „Dann beobachten sie mich hier mal beim Beobachten. Können sie Steno? Muss ich jetzt langsam sprechen?“ H [sitzt neben ihm mit einem Notizblock]: „Nein, nein, das geht schon so.“ E: „Gut, dann tu ich mal so, als ob sie gar nicht da sind und ich hier Selbstgespräche führe.“ H: „Nein also, man muss ja nicht so tun als ob...“ E: „Wie sie sehen, sehen sie nichts. Habe ich die DVD jetzt da schon rein getan?“ H: „Nein, die liegt da noch.“ E: „Danke.“ Das macht jetzt hier aber schon komische Geräusche, mein neues Gerät. [Pause] Jetzt ist er da. Gut. Also ich suche jetzt nach „Medienzeitalter“. Gebe ein unter Suchen, Inhalte, Medienzeitalter. Schön, dass man gewarnt wird, dass es einige Minuten dauern kann. [Pause] Meine Güte. Hören sie dieses Brummen. Ist das normal?“ H: [hört auf sich Notizen zu machen und guckt hoch] „Ich weiß nicht, das hat er bei mir nicht gemacht.“ [Schreibt weiter.] E: „Was schreiben sie denn da jetzt auf? Da passiert doch nichts. Schon zwei Minuten passiert gar nichts.“ H [schreibt immer noch]: „Hm.“ E: „Haben sie das jetzt auch aufgeschrieben?“ H: „Ja. Das ist doch wichtig, dass da zwei Minuten nichts passiert.“ E: „Drei Minuten. Jetzt sind es schon drei Minuten.“ H: „Also schreibe ich drei Minuten...“ [Dokument: Auszug aus Claudia Lemkes „Projektdokumentation“47]

47 | Claudia Lemke (2003): „Projektdokumentation.“ In: C. Lemke, T. Meyer, S. Münte-Goussar, K.-J. Pazzini, Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.) (2003): sense&cyber – Kunst, Medien, Pädagogik, transcript Verlag, Bielefeld.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 225 Im Rahmen von sense&cyber hat sich gezeigt, dass bei einem eindimensionalen funktionalistischen Verständnis der Neuen Medien die Gefahr besteht, sich von den Vorgaben der Programme und der allzu leichten Bildproduktion lenken zu lassen. Begreift man „digitale Werkzeuge“ als „nach innen gerichtete Hebel, welche die mentalen Prozesse selbst zerlegen,“ (Weibel) dann gilt es diesen„Zerlegungsprozessen“ gezielt Aufmerksamkeit zu schenken. Sie sind Momente der Bildung, in denen Gewohntes ungewohnt wird, in denen festgefahrene Handlungs- und Sichtweisen sich lösen und in denen ihre Elemente neue Relationen eingehen können. Dies ist vorwiegend ein Prozess im sozialen Band des Diskurses, nicht ausschließlich in der Beschäftigung mit Programmen und Maschinen. Die Erfahrungen an den Kunstschulen haben gezeigt, dass sich das Bewusstsein für Relationen und Kräfteverhältnisse in den komplexen Situationen des Kunstschulalltags durch die Beschäftigung mit den Neuen Medien schärft. Dass eine Anstrengung, vernetzt zu denken und ein Bewusstsein für die Relationen im dynamischen Gefüge einer Institution zu entwickeln, durchaus für die Kunstschulen Gewinn bringend sein kann, zeigt das Beispiel aus Aurich. Die Aufmerksamkeit für die Neuen Medien auf der Basis eine künstlerischen Haltung lenkte von diesen als isolierte Technik einen anregenden Blick auf den bisherigen Kontext des Arbeitens. Am deutlichsten auch von außen bemerkbar wurden im Netzwerk miraculum die Neuen Medien nicht nur als Werkzeuge, die zusätzlich zum Einsatz kommen sollten, wahrgenommen, sondern als Medien, die den Zusammenhalt und Ausbau des Gefüges aus unterschiedlichen Einrichtungen und Personen erst herstellen sollten. Die Erfahrungen aus Aurich mit den Internetportalen für Jugendliche und Kinder haben auch gezeigt, dass soziale Beziehungen sich nicht einfach in den „Cyberspace“ übersetzen lassen und dass dort, wo noch keine Beziehungen bestehen, das Internet nicht ohne weiteres Abhilfe schaffen kann. Wie sich an der Kunstschule KunstWerk in Hannover z.B. auch zeigte, bringt die Integration der Neuen Medien in die Praxis insbesondere durch das Internet eine Konfrontation mit Aspekten der Lebenswelt der KursteilnehmerInnen mit sich, die bislang die Kunstschularbeit so deutlich nicht tangiert. Die besondere Aufmerksamkeit der KunstpädagogInnen dort führte zur Veränderung der Inhalte und Konzepte der Kunstschulpraxis. Die Neuen Medien wurden zu einer Art Verstärker für die Beachtung der bisherigen Arbeit und die Konzeption der zukünftigen. Bei den Rückfahrten aus Niedersachsen befiel mich regelmäßig eine deprimierende Ratlosigkeit, wie ich das, was wir da gerade wieder beobachtet hatten, mit den abstrakten Themen der Fachforen unter einen Hut bekommen sollte. Mit der am Zugfenster vorbei schleichenden Ausdehnung norddeutscher Tiefebene gähnte mich die schreckliche Leere zwischen Theorie und Praxis an. Wie ich aus dem sich stetig anhäufenden Berg von Videointerviews, Zwischenberichten, schriftlichen Befragungen und Notizen zu den unendlichen Weiten der theoretischen Positionen, die die Vorträge in den Foren gestreift hatten, eine Brücke schlagen sollte, blieb mir ein Rätsel. Je mehr sich das Ganze konkretisierte, desto mehr Zauber schien es zu bedürfen, um aus all den gegebenen Zutaten zu einer rezipierbaren Abschlussdokumentation zu gelangen. Die thematischen Knotenpunkte waren vom Hamburger Team in Anlehnung an die Foren gemeinsam beschlossen. Darüberhinaus bedurfte es kurzer chrononlogischer

226 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Erzählungen der Projektverläufe an den vier Kunstschulen. Und schließlich kam diese Taktung hinzu, an die ich mich halten musste, damit daraus eine Collage mit den erwähnten Videoclips und sonstigen Materialien entstehen könnte. Was sich am Ende nicht realisierte. Das Ganze wurde im Entstehen in Teilstücken den Kunstschulleuten und den Mitgliedern des Begleitteams zur Verfügung gestellt. Mit meinem Text haben sich alle Teilnehmer des Projekts befasst. Mehr oder weniger intensiv. Aus den Kunstschulen kamen e-mails und Anrufe mit Änderungsvorschlägen und Anregungen, und von den Mitgliedern des Hamburger Teams kam der Text im Word Korrekturmodus bearbeitet zurück. So ist die Projektdokumentation auf nicht in dieser Form geplante Art und Weise recht polyphon geworden. Wichtig war mir von Anfang an, dass die Kunstschulen mit ihren Interpretationen in meinem Bericht zu hören sein würden. Das war nicht einfach. Denn mit den thematischen Clustern hatte ich das Problem, dass die Themen vorgegeben waren und ich mich dann von oben nach unten auf die Suche nach dem geeigneten Material machen musste, was diese Themen illustrieren und auf den Punkt bringen sollte. Nach der vorgegebenen Taktung musste mir dazu alle zweieinhalb Seiten etwas Neues einfallen. [Dokument: Auszug aus Stephan Münte-Goussar: „Überschau“ im Abschlussbericht sense&cyber. 48] „Wichtig war das Denken im Neuen Medium – ein Wissen um die Strukturen und Prinzipien, die Neue Medien, die jeweils neuen Medien, nahe legen oder aber auch allererst ermöglichen. Was es braucht, scheint eine techné der Technik zu sein, eine Kunst, eine Handhabe der neuen Technologien. Dies meint etwas anderes als die kompetente Bedienung von Hard- und Software. Es meint ein prinzipielles Wissen darum, wie etwas geht, insbesondere aber ein Wissen darum, um was es überhaupt geht. Es meint eine veränderte Wahrnehmung, ein zu entwickelndes Gespür, eine neue Sensibilität, um sich in den neu entstehenden Formen kultureller Symbolisierung- im Hyperspace of thought – zurechtzufinden […] [Das] bedeutet aufzuhören tradierte Produktionsweisen mit neuen Werkzeugen zu simulieren. Dies macht den Blick frei dafür, die neuen Maschinen nicht länger als Bildschirm-Bild-Mach-Maschinen zu sehen, sondern zunächst als textbasierte, datenverarbeitende Maschinen, die unter anderem diese Arbeit selbst in mehr oder minder komplexen und aufwändigen Symbolsystemen an die Innenseite der Bildschirme projizieren, an deren Oberfläche zur Darstellung bringen – sei es als Kommandozeile oder tanzende 2D-Animation. Dies wird möglicherweise dazu führen, von der Idee Abstand zu nehmen, man könne die Abgründe des Datenraums, der sich hinter der Bildschirmoberfläche auftut, die Effekte einer ungeahnten Potenzierung des Generieren, Prozessierens und Variierens und der Distribution von Informationen, allein darüber in den Griff kriegen, die entsprechende Anwendungssoftware zu beherrschen. Es ginge vielmehr darum, ein „Im-Medium-Denken“ zu erlernen. Was es braucht, ist eine techné, eine Kunst, ein Wissen im Verhältnis zu plural-heterogenen, modular-modifizierbaren und dennoch, aber anders als wir es gewohnt waren, strukturiert strukturierenden Systemen. Die 48 | S. Münte-Goussar (2003): „Überschau“ In: C. Lemke et. al. (2003) ebd. 91-116, 104, 116.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 227 Auseinandersetzung mit Kunst bietet hierfür reichlich Lernanlässe und konzeptionelles strategisches Denken und Handeln. Denkt man den Vorschlag aus Meppen für den Umgang mit den Neuen Medien konsequent weiter, so hieße das, dass eine kulturelle Bildung mit dem erklärten Ziel des Hervorbringens von Medienkompetenz, recht gut auch ohne die neuen Geräte auskäme.“ In Claudia Lemkes „Projektdokumentation“, Stephan Münte-Goussars „Überschau“ und Torsten Meyers „Kunstpädagogik im Neuen Medium“ sind die Prozesse des black boxing jeweils andere. Dort werden auf unterschiedliche Weise die Erfahrungen aus dem Projekt in didaktisches Wissen umgewandelt. Ein zentraler Unterschied ist dabei die Anzahl und die Art der Bezugnahmen zum ‚empirischen Material‘. Ein weiterer ist der Rhythmus von Beschreibungen der Projektereignisse und Verallgemeinerungen. Die „Projektdokumentation“ ist mit 398 Verweisen auf ‚das Material‘, bedingt durch die Taktung der Überschriften, gekennzeichnet durch eine Vielzahl ‚kleiner Verallgemeinerungen‘, die nicht auf eine große Synopsis zum Ende hinauslaufen. Stephan Münte-Goussars „Überschau“ ist mit 68 Verweisen auf das ‚Material‘ als Gesamtstreifen angelegt, der die Einzelprojekte zusammenfassend auf eine pädagogisch-didaktische Erkenntnis hin zuspitzt: Die Notwendigkeit einer „Technè der Technik“. Torsten Meyers Abschlusstext ist mit neun Verweisen auf das ‚Material‘ eine ‚galaktische‘ Synopsis, eine die Welt und die Menschheit betreffende groß angelegte Rechtfertigung „ästhetischer Bildung“ und Neuer Medien als Gegenstand pädagogisch-didaktischer Aufmerksamkeit. E: „Jetzt aber. Gucken sie mal. Das ist ja richtig ergiebig. [Guckt auf den Bildschirm und liest leise. Pause] „Das sagt mir aber wieder alles nichts, mit diesen Dokumentennamen kann man ja wirklich nicht sehr viel anfangen. Ich klicke hier unten einfach mal rein. Da. Ein Text. ‚Kunstpädagogik im Neuen Medium’ von Torsten Meyer. Kann ich den jetzt ausdrucken?“ H: „Nein, das geht nicht. Aber klicken sie doch mal auf die Karteikarte, da steht drauf, ob er auch in der Ordnung Buch, also im Buch zu finden ist.“ E: „Aha, hier hinter dem Text da auf diesen Kasten klicken. Bitteschön. Buch S. 241. Na prima. Wollen sie mich jetzt auch beim Lesen beobachten?“ [Schlägt das Buch auf.] H: „Nein, das geht ja schlecht. Aber das spricht ja eine grundlegende Problematik an...“ E [unterbricht]: „Also welchen Status hat denn jetzt dieser Text. Was hat der denn mit dem Projekt zu tun. Im Inhaltsverzeichnis ist er unter der Überschrift ‚Hauptstück’ zu finden. [Blättert im Buch] Aber da scheinen jetzt keine Referenzen zu dem Material auf der DVD zu sein. Gucken sie mal am Computer, bitte.“

228 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ H: „Nein hier ist nichts verlinkt. [Pause] Aber warten sie, hier steht, der Text sei entstanden, Zitat ‚auf Basis eines Vortrags auf der Tagung bilden mit kunst, 14.06.2003, in Hannover’. Da war sense&cyber schon vorbei.“ E: „Gut. Gucken wir mal. Kann ich jetzt am Bildschirm in dem Text nach Stichwörtern suchen?“ H: „Nein das geht nicht.“ E: „Dann jetzt mal ganz konventionell querlesen....“ [Dokument: Auszug aus Torsten Meyers „Kunstpädagogik im Neuen Medium“ aus dem Abschlussbericht sense&cyber. 49] „Wenn es also um die Herausforderungen dessen geht, was mit dem Schlagwort „Medienzeitalter“ gemeint ist, ziehe ich es in diesem Sinne vor, von „Neuen Medien“ im Singular zu reden: Es gibt seit ein paar Jahren ‚diese [neuen] Geräte’. Sie sind mittels eines sehr, sehr großen Netzes untereinander verbunden. Die Entwicklung dieses World-Wide-Web von Arbeitszimmern, Kinderzimmern, Schlafzimmern, Klassenzimmern, Hochschulen und Kunstschulen stehender und untereinander verbundener ‚Geräte’ fällt zeitlich und kausal zusammen mit einem Bündel von ökonomisch, politisch, sozial und kulturell höchst brisanten Phänomenen, die unter dem Begriff ‚Globalisierung’ zusammengefasst werden. [...]“ Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass die Initialen des Begriffs Weltweit-Werden als WWW erscheinen. Das WorldWide-Web ist nur eines unter mehreren Phänomenen dieser ‚Globalisierung’. Vielleicht steckt jedoch ein mitdenkender Übersetzer mit einiger Phantasie dahinter: Jacques Derrida will auch in der deutschen Übersetzung seiner ‚L’Université sans condition’ bei dem französischen Wort für ‚Globalisierung’ bleiben: ‚mondialisation’. Und darum steht in ‚Die unbedingte Universität’ zumeist als genauere nachträgliche Bestimmung hinter dem Wort ‚mondialisation’ eben dieses Weltweit-Werden. Derrida schreibt, er behalte das französische Wort bei, weil er den Bezug auf eine ‚Welt’ [monde, world, mundus] aufrechterhalten will, die ‚weder der Kosmos, noch der Globus, noch das Universum ist’. Er will sich beziehen auf eine ‚Welt’ , die sich – zumindest etymologisch – herleitet von und bezogen ist auf ‚Mensch’ (Welt: ahd. ‚weralt’ ist eine alte Zusammensetzung aus dem germ. Wort für ‚Mann, Mensch’ und einer idg. Wurzel mit der Bedeutung ‚Menschheit, Zeit’). [...] Dieses WWW, das Weltweit-Werden und seine gerätetechnische Grundlage, das World-Wide-Web, das zusammen, könnte man ein „Neues Medium“ nennen. Und dieses „Neue Medium“, das weltweit-werdende technologische, kommunikative, ökonomische, kulturelle, soziale, politische Ganze wird, soweit wir das absehen können, unter den Vorzeichen einer multikulturell-pluralistisch, postkolonial-heterogen, divers-demokratisch und kommunikationstechnologisch telematisch strukturierten ‚Weltgesellschaft’ wird so etwas wie der Plural dessen sein, was wir gewohnt sind als ‚das Ganze’ zu denken [...] Es gibt nicht wirklich viel darüber zu diskutieren. Unsere zurzeit noch neuen kommunikationstechnologischen ‚Geräte‘ sollte man bedienen können. Und sie sollten deshalb zum selbstverständlichen Repertoire sowohl des schulischen Kunstunterrichts wie auch der Kunstschule gehören. Viele der logistischen Probleme, sind - so meine Vermutung - nur momentane 49 | T. Meyer, T. (2003): „Kunstpädagogik im Neuen Medium.“ In: C. Lemke et al. (Hg.): sense&cyber. 241263, 249f.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 229 Probleme. In (naher) Zukunft werden sie pragmatisch unaufwändig gelöst werden können, und man könnte sich dann wieder konzentrieren auf „Ästhetischer Kompetenzen‘ im Sinne ‚gekonnter‘ Produktion von Bildern, Filmen, Colagen usw [...] Das Erlernen des pragmatischen Umgangs mit ‚Neuen Medien‘ kann meiner Auffassung nach bestenfalls in einer Eingewöhnungsphase als Auseinandersetzung mit ‚Neuen Medien‘ beschrieben werden. Neben dem quasi beiläufig abfallenden Erwerb der notwendigen ‚instrumentellen Medienkompetenz‘ kann ich einen qualitativen Unterschied hinsichtlich der bildenden Wirkung des Bilderproduzierens gegenüber dem Gebrauch älterer Werkzeuge zur Produktion von Bildern nicht erkennen. Die Werkzeuge zur Produktion von Bildern sind dann ‚up to date‘, mehr aber nicht. Anders sieht es aus, wenn ‚Ästhetische Kompetenz‘ verstanden wird als Fähigkeit, mit Fragen von Darstellung, Vorstellung, Stellvertretung, (re-)Präsentation, Präsenz, Performanz usw. experimentell reflektierend umzugehen Dann spielen neue Möglichkeiten, auch Notwendigkeiten der Darstellbarkeit, die Verschärfung der ‚Krise der Repräsentation‘ das ‚Neue Medium‘ als diskursive Rahmenbedingung eine Rolle. Dann muss man ‚Ästhetische Kompetenz‘ zu einem entscheidenden Beitrag zu einer Teilhabequalifikation erklären, zu einer ‚Eintrittskarte in das ‚Neue Medium‘ gewissermaßen, zu einer Teilhabequalifikation für eine multikulturell-pluralistisch, postkolonial-heterogen, divers-demokratisch und kommunikationstechnologisch telematisch strukturierte ‚Weltgesellschaft‘. Damit käme dem Bindestrich, der Kunst und Pädagogik verbindet, eine bildungstheoretisch höchst relevante Bedeutung zu. E: „Ich gehe jetzt hier raus. Oh. Da passiert nichts. Was ist das denn jetzt. Das sieht aber gar nicht gut aus.“ H: „Wie bei dem Film ‚Die Matrix’, da gibt es auch diese grünen Datenschlangen.“ E: „Ja hier an der Seite. Dieser Rohdatenfeed. Sieht nicht gut aus. Da geht jetzt gar nichts mehr. Machen wir den Krähengriff. Das geht auch nicht. Knopf drücken und warten. Nützt ja nichts.“ H: „Hoffentlich kriegen wir die DVD da wieder raus.“ E: „So jetzt dauert es mit dem Hochfahren [Pause] und da ist sie. [Hält die DVD gegen das Licht]. Kann man jetzt keine Beschädigung an der Oberfläche so mit bloßem Auge erkennen.“ H: „Naja. Die nehmen wir jetzt wohl lieber nicht mehr.“ E: „Ja. Dann geben sie mir mal ihre.“ H: „Bitte schön.“ E: „Und jetzt noch einmal. Sind sie bereit?“ H: „Ja, ja, mit Stift im Anschlag.“ E: „Oh je, der brummt schon wieder verdächtig mit der DVD da drin.“ „Die Forscherin“, heißt es bei Latour, befinde sich in einer „unmöglichen Situation“.50 Sie sei in „zwei entgegengesetzte Richtungen hin-und hergezogen“ und werde, wenn sie bei den „Interaktionen“ verharren wolle, gezwungen, „wegzugehen und die ‚Dinge in ihrem größeren Rahmen’ zu betrachten. 50 | B. Latour (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

230 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Kaum beim „strukturierenden Kontext“ angelangt, werde von ihr verlangt, die „’abstrakte Ebene’ wieder zu verlassen, um zum ‚wirklichen Leben’, zum ‚menschlichen Maßstab’ oder an ‚lebendige Stätten’ zu gelangen.“ Latour beschreibt hier einen double bind, der „jeden Forscher völlig desorientiert zurücklassen“ würde.51 Dieses Alternieren zwischen den Perspektiven, diese „Mikro-Makro Problematik“ oder „Akteur-System-Frage“52 ist in den drei o.g. Aufstellungen der Neuen Medien unterschiedlich gehandhabt worden. So unlösbar dieser double bind besonders vor dem Hintergrund des Imperativs der pädagogisch-didaktischen Wissensproduktion erscheint, so einfach ist Latours Vorschlag, sowohl den einen Pol, den der ‚Praxis’, der ‚Interaktion’, als auch den anderen Pol, den der ‚Theorie’, der ‚Struktur’, als Abstraktion zu begreifen. Damit entfällt die „gewöhnliche Lösung“, das Problem „höflich anzuerkennen“ und sich einen „bequemen Platz“ in der „glücklichen Mitte zwischen zwei nicht-existierenden Positionen“ zu suchen.53 Statt zu versuchen, sich an einem unmöglichen Ort zwischen Akteuren und System einzurichten, bietet Latour und die ANT eine andere Option. Hier geht es darum, Akteur und Netzwerk gleichzeitig zu betrachten. Dies setzt eine andere Bewegung in Gang, die sich nicht im Pendeln zwischen zwei Abstraktionen erschöpft. Eine Bewegung die sich, wie Latour schreibt, dadurch aufdränge, dass es so schwierig sei, „entweder an einem Ort zu bleiben, der als lokal betrachtet wird, oder an einem, der als Kontext des ersteren verstanden wird“.54 Latours Lösung und die der ANT besteht darin, „die Unmöglichkeit ernst [zu] nehmen, an einem der beiden Orte länger zu verweilen“.55 Auch hier gelte es, sich „als gute Ameisen zu verhalten“ und „so beschränkt, buchstäblich, positivistisch, relativistisch wie möglich“ zu sein.56 Wenn es keine Möglichkeit gebe, sich an einem der beiden Orte einzurichten, dann seien diese Orte einfach nicht erreichbar, entweder, weil sie nicht existierten, oder aber weil die von der Soziologie angebotenen Fahrzeuge dort nicht hinführen, schreibt Latour.57 Zehre man allerdings von den „uncertainties“, von den Unbestimmtheiten58, statt sie aufzulösen, könne

51 | Ebd. 292. 52 | Ebd. 53 | Ebd. 291. 54 | Ebd. 295. 55 | Ebd. 56 | Ebd. 57 | Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press, Oxford.170. 58 | Vgl. hierzu Kapitel 3, S. 151.

HYPERMEDIALE ETHNOGRAPHIE | 231 man aus dem endlosen Wechsel zwischen Oppositionen etwas über die reale Topographie des Sozialen erfahren.59 Die ‚reale’ Topographie des sozio-technischen Dings Hypermediale Ethnographie war an dieser Stelle Thema. Ob die Hypermediale Ethnographie von ihrer Form als Buch und DVD ausgehend ein Weiterleben haben wird, wird sich zeigen. H: „Also, ich glaube, das klappt nicht mit dem Beobachten beim Beobachten. Sie ziehen mich da ja immer mit rein. Ja, soll ich sie denn jetzt beim Unterhalten beobachten oder beim Lesen, beim Suchen, beim Konstruieren, beim Programm lernen. Ich weiß nicht. Ich kann mich aus all dem ja auch nicht abziehen, so lange ich beobachte. Außerdem hatte ich ja noch diverse andere Aufgaben. Mich da reinfuchsen und nach Sachen suchen, ihnen das dann präsentieren, Ordnungen heraus finden, oder sollte ich das gar nicht? Ich weiß nicht. Das widerspricht sich doch auch. In dem Moment, wo ich versuche, das Beobachten rein zu halten von den anderen Aktivitäten, fixiere ich es doch als Kategorie. Und das Beobachten des Beobachters soll doch gerade dazu dienen, die Kategorien flexibel zu halten und diese, wie heißt das noch, „nominalistische Sensibilität“ walten zu lassen... E: „Oh Gott, jetzt ist die auch noch kaputt.“ H: „Nein! War das jetzt meine DVD?“ E: „Ja, tut mir leid, aber ich glaube, die hat sich jetzt auch verabschiedet.“ H: „Das kann doch gar nicht sein. So etwas kann man doch nicht verkaufen!“ E: „Ich fahr ihn noch mal runter und dann versuchen wir das noch mal. Aber keine Panik, das ist noch in Druck, da bestell ich ihnen ein neues Exemplar.“ H: „Ja, aber damit kann man doch nicht forschen, wenn das nach so ein paar Suchanfragen gleich den Geist aufgibt.“ E: „Naja, Latours Aramis war auch schon ein Stück Schrott, als er angefangen hat, sein Buch darüber zu schreiben. Das hat ja Bloor mit seinem Symmetrieprinzip schon gewollt. Die Gleichbehandlung von so genannter erfolgreicher und so genannter erfolgloser Technologie und Wissenschaft. Das ist ja auch zentral in der Wissenschaftsforschung auch in unserem Bereich übrigens. Da wird zu oft so getan, als hätte man raus, wie’s geht und den Beweis auf Video. Das wird da viel zu wenig […] “ H: „Gucken sie mal, da passiert nichts.“ E: „Ja, nein, tatsächlich. [Pause]. Das war’s dann erstmal für heute. Dann muss ich ihnen die ‚Hypermediale Ethnographie’ noch einmal bestellen.“ H: „Ja. Da möchte ich doch sehr drum bitten.“

59 | Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press. 170.

Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen

Paul Rabinows und Bruno Latours Anthropologieentwürfe stellen für eine ‚traditionell’ verstandene Anthropologie eine Herausforderung dar. Sie bieten weder die Möglichkeit einer Beschreibung menschlicher Wesensarten, noch beschränken sie sich auf die Randbereiche des ‚Westens’ oder auf die exotischen Anderen der ‚restlichen Welt’. Paul Rabinow und Bruno Latour geht es auch nicht um in der Geschichte verharrende Analysen von ‚Menschenbildern’. Beide formulieren empirische Zugänge, die es ermöglichen, Ereignisse in ihrem Entstehen zu fassen. Rabinow stellt dieses Vorhaben in den Dienst der Erforschung currenter „Normen und Formen“.1 Das Vorhaben beider ist insofern ‚wissenschaftlich’, als sie daran arbeiten, wie Rabinow dies ausdrückt, in einem „Wissensfeld“ „Neues“ zu generieren.2 Latours Vorhaben ist darüber hinaus ein politisches. Seine Forschungen sollen die „demokratische Sozialisation“ von Wissensdingen (inklusive technischen Dingen) vorantreiben. Ein Projekt, das er in den Kontext einer „allmählichen Zusammensetzung der gemeinsamen Welt“ stellt.3 Latours Vorhaben ist darüber hinaus, wie bereits in Kapitel drei erörtert, ‚philosophisch’. Als „empirische Philosophie“ bezeichnet er das Projekt, sich mit Hilfe ethnographischer Studien den Existenzmodi, den Übersetzungsketten oder regimes of enunciation, zu widmen.4 Die Anthropologieentwürfe Rabinows und Latours unterscheiden sich, wie im dritten Kapitel dargelegt, in wesentlichen Aspekten voneinander. An dieser Stelle wird von Rabinows Ansatz der Name der Anthropologie des Zeitgenössischen übernommen und mit ihm die Fokussierung auf das Kontemporäre, verstanden allerdings in Anlehnung an Latour. Für meinen Entwurf einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen ist Latours Wendung der Anthropologie zentral. Latour geht es nicht um die Anthropologie als wissenschaftliche Disziplin, nicht, wie Latour es ausdrückt, um „Science with a capital S“, sondern 1 | Siehe S. 83 ff. 2 | Paul Rabinow (2004a): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensführung. Übersetzt und Herausgegeben von C. Caduff, T. Rees, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 116. 3 | Bruno Latour (2001): Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Edition Zweite Moderne. Hg. von Ulrich Beck. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 292. 4 | Bruno Latour (2008): Coming Out as a Philosopher. Acceptance speech for the third Siegfried Unseld Prize. www.bruno-latour.fr/articles/article/114-UNSELD-PREIS.pdf.

234 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ um einen Logos der Forschung („Research“).5 Bruno Latours Anthropologie beinhaltet eine radikale Kritik herkömmlicher anthropologischer Ansätze und bietet die Chance einer Neuformulierung, die das in der anglophonen Tradition verankerte Verhältnis zwischen Ethnographie und Anthropologie ausbaut. Im Folgenden soll dieses Verhältnis nicht nur geschildert, sondern auch experimentell erprobt werden. Hier wird ausgehend von der Ethnographie des hypermedialen Ethnographierens im vierten Kapitel der Logos der Forschung als Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen beschrieben. Im vorherigen Kapitel wurde mit dem Versuch, Latours Begriffen forschungspraktisch Rechnung zu tragen, das Experiment unternommen, diese Begriffe in den Bereich der Erziehungswissenschaft, der pädagogisch-didaktischen Forschung zu übersetzen. An dieser Stelle wird dieses Experiment reflektiert, und ausgehend von dieser Reflexion werden die Umrisse einer im Anschluss an Latour formulierten Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen skizziert. Dabei werden nicht die Konsequenzen des Latourschen Denkens in Bezug auf das Lehren und Lernen untersucht6 oder daraufhin, wie sein Verständnis des Dings pädagogisch-didaktisches Handeln neu begründen könnte.7 Vielmehr wird von der Reflexion des ethnographischen Ansatzes im vorherigen Kapitel eine Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen ins Leben gerufen, die die Ausdehnung der Implikationen des Latourschen Anthropologieentwurfs im Bereich der Pädagogik erahnen lässt.

Die dreifache Berücksichtigung der Frage der Repräsentation In meiner Untersuchung im vierten Kapitel wurde die Frage der Repräsentation auf dreifache Weise relevant. Erstens in dem Versuch, der ‚Wirklichkeitsproblematik‘ durch den Einsatz Rabinows und Latours begrifflicher Werkzeuge Rechnung zu tragen. Zweitens wurde die Frage der Repräsentation des didaktischen

5 | Bruno Latour (1998): „From the World of Science to that of Research?“ In: Science Vol. 280. Nr. 5361, 208-209. April 1998. www.bruno-laoutr.fr/poparticles/poparticle/p074.html. 6 | Vgl. Arno Bammé (2004): Gesellschaft (re-)interpretieren. Zur Relevanz von Akteur-Netzwerk-Theorie, „Mode 2 Knowledge Production“ und selbstgesteuertem Lernen. Profil Verlag, München und Wien; und: S. Fox (2005): ‚An actor-network critique of community in higher education: implications for networked learning.’ In: Studies in Higher Education. Vol. 30: 1. 95-110 sowie die Aufsätze in C. Steeples, C. Jones (Hg.) (2001): Networked Learning: Perspectives and Issues. Springer-Verlag, London. 7 | Vgl. Scott B. Waltz (2006): „Nonhumans Unbound: Actor-Network theory and the Reconsideration of ‚Things’ in Educational Foundations. In: Educational Foundations, Summer-Fall 2006. 51-68.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 235 Objekts Neue Medien zum Thema, und drittens wurde dort die Frage untersucht, wer an welcher Stelle für wen oder was spricht und wie dies geschieht. Die Frage der Repräsentation würde im Feld erziehungswissenschaftlicher Ethnographie zwar „zur Kenntnis genommen“, bemerken Hünersdorf, Maeder und Müller, in ihrer „empirischen Bedeutsamkeit“ jedoch „kaum weiter verfolgt“.8 Der hier reflektierte Ansatz ging von dieser „empirischen Bedeutsamkeit“ in dieser dreifachen Hinsicht aus. Bereits die Hypermediale Ethnographie war ein Experiment in der Anerkennung der „Bedeutsamkeit“ der Krise der Repräsentation, allerdings ohne dabei Repräsentation als praktisches Problem zu reflektieren. Dies geschah weder auf der Ebene der Darstellung noch auf der Ebene der Gegenstände. Diese einseitige Berücksichtigung der „Bedeutsamkeit“ der Krise der Repräsentation führte dazu, wie im Kapitel Hypermediale Ethnographie dargelegt, dass die „Verantwortung gegenüber dem Realen“ an einigen Stellen vernachlässigt wurde.9 Dort zum Beispiel, wo sich eines der Resümees aus der sense&cyber Abschlusspublikation nur marginal auf die Forschung bezieht.10 Damit ist eine Chance verpasst worden, die die Beschäftigung mit der Frage der Repräsentation birgt, nämlich die, sich auf profunde Art und Weise ‚um die Wirklichkeit’ zu ‚sorgen’. Dieser Aspekt der Sorge um die Wirklichkeit ist der des Pathos, der bei Latour wichtig ist, und der auch von Rabinow betont wird. Logos in Ethos zu verwandeln, ginge nicht ohne Pathos, schildert Rabinow und fordert dazu auf, innerhalb der Forschung diesem Pathos einen Platz einzuräumen. In der dichten Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie hat das Pathos an der Stelle einen Platz, wo es um die Sorge um die Wirklichkeit geht. Diese Sorge geht mit dem Bemühen einher, sich nach Werkzeugen umzusehen, die die Wissenschaftlichkeit und Objektivität der eigenen Herangehensweise zu erhöhen vermögen. Auch dort hat das Pathos einen Platz, wo es um die Sorge um die Beschaffenheit der Wesen geht, die im Spiel sind. An dieser Stelle ging es um das Wesen der Neuen Medien als pädagogisch-didaktischem Objekt. Die dritte

8 | Bettina Hünersdorf, Christoph Maeder, Burkhard Müller (2007): “Ethnographie der Pädagogik: Eine Einführung.” In: Dieselben (Hg.) (2007): Ethnographie und Erziehungswissenschaft. Methodologische Reflexionen und empirische Annäherungen. Juventa Verlag, Weinheim und München. 11-25, 12. 9 | Im Zusammenhang mit dem „Erziehungsbegriff“ als ein „Als-ob-Begriff“ betont Wimmer, dass das „Bewusstsein der Fiktionalität nicht schon die Befreiung gegenüber dem Realen“ sei. „Fiktionalität“ dürfe nicht zu einem schlechten Positivismus führen.“ Es sei eben nicht „theoretisch alles erlaubt […] da ohnehin nur fiktional bestimmbar, so dass man sich um die Wirklichkeit keine Sorgen mehr machen müsse.“ (Wimmer, 2006, 69.) Die Gefahr einer die Realität vernachlässigenden postmodernen Beliebigkeit ist auch dann gegeben, wenn die Debatte um die Krise der Repräsentation als Enttarnung der Fiktionalität allen Wissens gelesen wird (wie z. B. bei Tyler, 1987). Genau dies greift aber, wie Latour immer wieder betont, zu kurz. Die Konstruiertheit von wissenschaftlichem Wissen hat für ihn nichts mit ‚Fiktion’ zu tun. 10 | Torsten Meyer (2003): „Kunstpädagogik im Neuen Medium.“ In: Claudia Lemke et al. (Hg.) (2003): sense&cyber. 241-265.

236 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Sorge, die hier durch die dreifache Berücksichtigung der Frage der Repräsentation relevant wurde, war die um die demokratische Sozialisation der Wissensdinge. Wie wichtig dieser dritte Aspekt der Repräsentation in Latours „demokratischer Philosophie“ ist, wird in einem Interview deutlich. Auf die Frage, was er meine, wenn er in der Hoffnung der Pandora sage, die Wissenschaftsforschung füge der Wissenschaft Wirklichkeit hinzu, antwortet er: „Wenn ein Genetiker vom Gen spricht, will ich wissen, wie seine Tatsachen zustande kamen. Wer die Umstände des Forschens nicht hinzufügt, nimmt durch die Behauptung von Eindeutigkeit und Einheitlichkeit eine reine Position der Macht ein. Nimmt man dem Genetiker sein Labor weg, bleibt von den Genen nichts übrig. Nimmt man den Ökonomen ihre Rechenmaschinen weg, ergeht es ihnen nicht anders. Die Frage nach der Realität des Erforschten finde ich nicht so wichtig, wie die andere, ob es demokratisch sozialisiert wird. Mich interessiert, wie sich in der Forschung soziale, ethische, aesthetische, politische, instrumentelle Aspekte durchdringen. Das ergibt eine offene Landkarte vielfältiger Handlungen und Verwicklungen. Das Thema der Biomacht, das Foucault aufgeworfen hat, ist Teil einer verästelten politischen Kultur.“11 Die dreifache Hinwendung zur Frage der Repräsentation ist als erstes zentrales Merkmal der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen zu nennen. Wimmer stellt fest, die „konstitutiven Bedingungen der – institutionellen, diskursiven, ästhetischen - Repräsentation mitzureflektieren,“ hieße, „sich von der Illusion zu verabschieden, des Menschen in seiner unmittelbaren Präsenz als solchem habhaft werden zu können.“12 Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen verabschiedet sich vom „An-sich-Sein“ „überhistorische[r] Wesen“.13 Sie sucht nicht nach einer Festlegung des Menschen in seiner „Bildsamkeit“ (Herbart) oder als „Mängelwesen“ (Herder, Gehlen), als „institutionsbedürftig“ (Gehlen) oder als „homo naturalis in der „Sackgasse der Natur“ (Scheler). Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen fragt nicht nach der Bestimmung des Menschen oder seiner „Stellung in der Welt“ (Gehlen) bzw. im „Kosmos“ (Scheler). Sie sucht nicht nach dem positiven unumstößlichen Wissen über den Menschen, um es der Pädagogik und Erziehungswissenschaft als Rechtfertigungsgrundlage ihres Handelns darzubieten. Sie ist keine Wissenschaft („Science with a capital S“) auch keine „Integrationswissenschaft“ (Flitner), sondern ein Logos der Forschung, eine Forschungsrationalität. Was die Abkehr vom Anthropozentrismus betrifft, so steht die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen in einer ‚Tradition’, die von der Anthropolo-

11 | Bruno Latour (2000b): „Die Kühe haben das Wort“. Interview in: Die Zeit. 30.11.2000. 67-68. 12 | Michael Wimmer (1998): „Die Kehrseite des Menschen. Probleme und Fragen der Historischen Anthropologie.“ In: W. Marotzki, J. Maschelein, A. Schäfer: Anthropologische Markierungen. Herausforderungen pädagogischen Denkens. Deutscher Studien Verlag, Weinheim. 85-113. 98. 13 | Ebd.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 237 giekritik der Neunzehnhundertziebzigerjahre über Ansätze der Historischen Anthropologie bis hin zu Rickens Vorschlag reicht, Plesseners Konzept des „Menschen als offene Frage“14 wieder aufzunehmen. Neu an diesem Entwurf einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen ist, dass sich die Abkehr vom „An-sich-sein“15 nicht allein auf „den Menschen“ bezieht, sondern im Sinne Latours Symmetrischer Anthropologie16 die am ‚Menschsein’ anteilhabenden Dinge genauso mit einbezieht. Nicht nur die ‚Menschen’, auch die Dinge haben bei Latour eine Geschichte. Dieser Aspekt der ‚Symmetrie’ weist auf einen weiteren Unterschied hin, der hier zu erwähnen ist. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen markiert eine andere Zeitlichkeit, als sie von der Historischen Anthropologie und auch der in Anlehnung an Foucault entwickelten Entwürfe bekannt ist. Latours Anthropologie ist keine vom Menschen bestimmte Historie, keine nach Subjektkonstitutionen suchende Genealogie, auch keine auf eine „Anthropologik“ fokussierte „Begriffsgeschichte“17, sondern eine Form der Forschung, die kleinschrittig Akteuren zu folgen versucht, deren ‚historische Relevanz’ keineswegs zu Beginn der Forschung feststeht. Im Modus des Forschens, der die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen kennzeichnet, stehen die Fragen nicht von vorne herein fest, sondern kristallisieren sich erst im Prozess des Ethnographierens heraus.18 Diese Fragen betreffen das enunciation regime, den Existenzmodus, die spezifische ‚Seinsweise’ des Pädagogischen. Sie gehören somit in den Bereich der Philosophie. Diese Latoursche Philososphie, die Harman als „Objektphilosophie“ bezeichnet, spielt sich inmitten der Dinge ab.19 Latours Abkehr von der subjektzentrierten Philosophie ermögliche es, schreibt Harman, Dinge als Gegenstände philosophischer Betrachtung zu erachten und nicht lediglich als „ontische Details“. Das typischste Merkmal der Latourschen Philosophie sei die „Würde“ („dignity“), die sie allen möglichen Dingen, egal wie „klein“ sie wären, zugestehe, schreibt Harman.20

14 | Norbert Ricken (2006): „Zu einer Anthropologie der Macht.“ In: Ders. Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. 125-149. 15 | Wimmer (1998). 98. 16 | Bruno Latour (2002 [1998]): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main. 17 | Norbert Ricken (2006): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. 161, 179. 18 | An dieser Stelle hat mein Entwurf mit dem dekonstruktivistischen Entwurf einer pädagogischen Anthropologie, wie er von Foster und Zirfas formuliert wurde, eine gewisse Ähnlichkeit. Vgl. Foster/Zirfas (2005). 91. 19 | Graham Harman (2009): Prince of Networks: Bruno Latour and Metaphysics. Re.Press, Melbourne. 151f. 20 | Ebd. 102.

238 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Diese „ethnographische Philosophie“, die die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen ist,21 schließt sich an Rathmeyers Vorhaben an, eine pädagogische Anthropologie in ihrer philosophischen Spielart „am Ticken zu halten“.22 Diese pädagogische Anthropologie ist mit Rathmeyer „postnormativ“ und begreift sich nicht im Gegensatz zu „gesellschaftstheoretischen Positionen“23, sondern in ihrer Erweiterung.24 Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen realisiert Schäfers Forderung, „das Verhältnis von Kategorienreflexion und empirischer Forschung nicht als platten Gegensatz erscheinen zu lassen.“25 Mit Rabinow ist die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen auch insofern ‚zeitgenössisch,’26 als sie Elemente einer ‚Tradition’ markiert und unter Zuhilfenahme eines, für die Erziehungswissenschaft neuen Ansatzes, einen Raum zu öffnen vermag. Diese Öffnung bezieht sich nicht allein auf einen Modus empirischer Forschung, sondern ist auch im Hinblick auf eine philosophisch zu verstehende pädagogische Anthropologie zu sehen. An dieser Stelle möchte ich kurz auf die Unterschiede dieses Ansatzes zu den zwei bereits erwähnten Herangehensweisen eingehen, die ebenso darauf abzielen, aus der Anthropozentrismuskritik ihre Lehren zu ziehen, um die Eigenständigkeit des Entwurfs der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen hervorzuheben. Eine in Anlehnung an Latour formulierte Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen teilt mit der Historischen Anthropologie27 die Prämisse der Ge21 | Siehe die Ausführungen im 3. Kapitel „Philosophie ethnographisch“. 22 | Berhard Rathmayr: Erweiterte Fassung des Vortrages im Rahmen des Kongresses „Kulturen der Bildung“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE, Symposium 03: Bildung in erziehungswissenschaftlichen Reflexionskulturen, Dresden, 17..3.2008. 1. 23 | Vgl. Horkheimers Kritik an der philosophischen Anthropologie: „Die moderne philosophische Anthropologie gehört zu den späten Versuchen, eine Norm zu finden, die dem Leben des Individuums in der Welt, so wie sie jetzt ist, einen Sinn verleihen soll.[…] Damit steht sie zur Theorie der Gesellschaft im Gegensatz.“ „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie.“ In: A. Schmidt (Hg.) (1968): Kritische Theorie. Frankfurt am Main. Band 1. 200-227. 24 | Diese Erweiterung lehnt sich an Latours Neuentwurf soziologischer Forschung an, die er in Reassembling the Social (2005) formuliert. 25 | Alfred Schäfer (2006): “Bildungsforschung: Annäherungen an eine Empirie des Unzulänglichen.” In: L. Ponratz, M. Wimmer, W. Nieke (Hg.): Bildungsphilosophie und Bildungsforschung, Bielefeld. 86-107. 26 | Paul Rabinow (2008): Marking Time. On the Anthropology of the Contemporary. Princeton University Press, Princeton, NJ. 121. 27 | Von der Historischen Anthropologie zu sprechen ist insofern irreführend, als es sich um ein sehr heterogenes Forschungsfeld handelt. Die groben Merkmale, die hier angeführt sind, sind jedoch vielen der unter diesem Label versammelten Ansätze gemein. Vgl. R. van Dülmen 2(2001): Historische Anthropologie. Entwicklung. Probleme. Aufgaben. Böhlau Verlag, Köln. Vgl. auch G. Gebauer, et al. (1989):

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 239 schichtlichkeit ihres Gegenstandes und ihrer Methoden. Auch die Anerkennung der Geschichtlichkeit der Geschichte selber28 und die Abkehr des Versuchs, die Wesenheiten eines homo natura29 auch und gerade durch seine Abgrenzung vom Tier zu erlangen,30 ist beiden Ansätzen gemein. Beide vollziehen eine Abkehr von einer „deduktiven pädagogischen Anthropologie“,31 deren Ziel darin bestand, eine allgemeine conditio humana als Grundlage pädagogischen Handelns zu formulieren. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen vermeidet jedoch die der Historischen Anthropologie anhaftenden Probleme. Die Beschränkung der Historischen Anthropologie (trotz Betonung der „Geschichte der Geschichte“ und des „nicht-nur-Menschseins des Menschen“32) auf (historische) Rekonstruktion und die Figur Anthropos birgt die Gefahr, trotz dezidierter Abkehr von der Beschreibung menschlicher Wesenheiten just jene durch die Hintertür wieder einzuführen, und in eine, wie Ricken es ausdrückt, „substantial missverständliche“ Anthropologie „zurückzufallen.“33 In einem Beitrag von Wulf und Gebauers heißt es: „Durch Mimesis zeichnet sich der Mensch vor allen anderen Lebewesen aus. Sie ist eine conditio humana.“34 Hier zeigt sich eine „schiefe Rückkehr zur Rede des Menschen,“35 die hinter die Anthropozentrismuskritik der Neunzehnhundertsiebzigerjahre36 zurückfällt.37 Missverständlich in Rickens Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung. Rowohlt Verlag, Reinbek. 28 | Dietmar Kamper (1990): „Zwischen Simulation und Negentropie. Das Schicksal des Individuums im Rückblick auf das Ende der Welt.“ In: D. Kamper, Chr. Wulf: Rückblick auf das Ende der Welt. Boer Verlag, Augsburg. 138-146. 29 | Dietmar Kamper (1994): „Der eingebildete Mensch.“ In: D. Kamper, Chr. Wulf (Hg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 273-278, 277. 30 | Kamper, 1990. 142. 31 | Rathmayr. 23. 32 | Kamper, 1994. 278. 33 | Norbert Ricken (2006): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. 208. 34 | G. Gebauer, Chr. Wulf (1994): „Mimesis in der Anthropogenese“. In D. Kamper, Chr. Wulf (Hg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 321-334, 323. 35 | Michael Wimmer (1998): „Die Kehrseite des Menschen. Probleme und Fragen der Historischen Anthropologie.“ In: W. Marotzki, J. Maschelein, A. Schäfer: Anthropologische Markierungen. Herausforderungen pädagogischen Denkens. Deutscher Studien Verlag, Weinheim. 85-113. 103. 36 | Vgl. Dietmar Kamper (1973): Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite gegenwärtiger Anthropologie-Kritik. Carl Hanser Verlag, München. Vgl. Karl-Heinz Dickopp: (1973): Die Krise der anthropologischen Begründung von Erziehung. A. Henn Verlag, Ratingen. 37 | Bereits Marquard weist in Anspielung auf Dilthey auf das „denkwürdige Phänomen“ hin, dass „gerade die Geschäftsträger des historischen Bewusstseins die immergleiche Menschennatur proklamieren.“ Zitiert in Kämpf, 2006. 237.

240 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Sinne ist auch Kampers Rede vom „Monstrum Mensch,“ dessen „Gattung“ „unverbesserlich“ sei.38 Rathmayr weist darauf hin, dass dem „Geschichtsbegriff“ der „Historischen Anthropologie“ eine „retardierende, Rück-sicht nehmende, eine re-visionäre Dimension“ anhafte.39 Bei Lenzen ist von einer „Melancholie“ die Rede, von einer „Treue der Schwermut zum niemals Werdenden.“40 Eine in diesem Sinne „nekrospektive Melancholie“ (Baudrillard)41 zeigt sich insbesondere dort, wo „Geschichte“ von „Vorgeschichte“42 unterschieden wird, „Moderne“ von „Vormoderne.“ Eine im Anschluss an Latour formulierte Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen legt keine Epochen fest, formuliert keine Retrospektiven und spricht keine Prophezeiungen aus. Methodisch ist sie kleinschrittig und „kurzsichtig“ und daran interessiert, die „Leitungen“ (conduits)43 aufzuspüren, die Veränderung transportieren. Die Hinwendung zum Zeitgenössischen bezieht sich dabei nicht auf eine ausschließliche Konzentration auf gegenwärtige ‚Praktiken’, vielmehr begreift sie sowohl ‚Praxis’ als auch ‚Geschichte’ und ‚Theorie’ als unterschiedliche Paradigmen, die es gilt, in ihrer Gleichzeitigkeit, in ihrer Zeitgenossenschaft, zu untersuchen. Durch diesen Forschungsmodus soll sowohl ein Naturalismus als auch ein Kulturalismus vermieden werden. Ihr Gegenstandsbereich beschränkt sich nicht auf die ‚Randbereiche der Moderne’, wie sie bevorzugt von der Historischen Anthropologie untersucht44 und auch von der „erziehungswissenschaftlichen Ethnographieforschung“45 oftmals favorisiert werden.46 Sie vermeidet den Exotismus und widmet sich jenen Bereichen, die 38 | Kamper, 1994. 275. 39 | Rathmayr. 18. 40 | Dieter Lenzen (1989): „Melancholie, Fiktion und Historizität. Historiographische Optionen im Rahmen einer Historischen Anthropologie. In: Günther Gebauer et al.: Historische Anthropologie. Reinbek. 13-48. 41 | Eine solche „nekrospektive Melancholie“ lässt sich insbesondere auch in Jean Baudrillards und Marshall McLuhans medientheoretischen Texten ausmachen. Vgl. Genosko, Gary (1999) McLuhan and Baudrillard. The Masters of Implosion. Routledge, New York. 42 | Vgl. Kamper, 1994, 277. 43 | Bruno Latour (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory. Oxford University Press, Oxford. 177. 44 | Bei van Dülmen (2001) sind u.a. Magie, Hexerei und Protest genannt, bei Gebauer und Wulf (2005) finden sich u.a. Themen wie Spiel, Ritual und Geste und bei Wulf et al. (2008a,b,c) z.B. Geburt, Gewalt und Freundschaft. 45 | Bettina Hünersdorf (2007): “Ethnographische Forschung in der Erziehungswissenschaft”. In: Bettina Hünersdorf, Christoph Maeder, Burkhard Müller (Hg.): Ethnographie und Erziehungswissenschaft. Methodologische Reflexionen und empirische Annäherungen. Juventa Verlag, Weinheim und München. 29-48. 46 | Müller (2007, 90.) weist darauf hin, dass sich Ethnographie dort, wo sie sich auf Schule bezieht, oft auf die „liminalen“ Zonen von Schule (Pausen, Übergänge, Körpersprache, Peer-Group Verhalten) beschränkt. Breidenstein (2007. 108.) fordert, dass die „Ethnographie des Unterrichts“ raus müsse „aus der

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 241 ‚hier’ und ‚jetzt’ die ‚Wirklichkeit’ ausmachen. Wobei es zunächst paradox anmuten mag, dass das ‚hier’ nicht auf Mitteleuropa und das ‚jetzt’ nicht auf die Gegenwart beschränkt bleibt. Wie bereits im Kapitel zur Krise der Repräsentation besprochen, können ‚ethnographische’ Untersuchungen mathematischer Praktiken im antiken Griechenland ebenso dazu beitragen, die ‚jetzige Wirklichkeit’ anders zu beleuchten.47 Der Aspekt der Zeitgenossenschaft bezieht sich hier auf die gleichzeitige Betrachtung der Entstehung eines Wissensdings (z.B. ‚Logik‘) und die politischen Repräsentationen und Praktiken, die ihm zur Dauer verhelfen. Im Gegensatz zu den an Foucault orientierten Ansätzen steht weder die Macht noch das Subjekt im Zentrum der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen. Auch ist sie weder an einer „Bilderkritik“48 noch an einer „Sozialkritik“49 oder einer „critical policy analysis“50 interessiert.51 Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen beschränkt ihr Repertoire nicht auf Diskursanalyse und setzt keine Epochen oder andere Großformationen, wie beispielsweise die „Disziplinargesellschaft“ der Forschung, als gegeben voraus52, sondern interessiert sich dafür, wie Zeit und Gesellschaft gemacht werden.

Ecke der ‚Irritation’ und aus der Methodologie des ‚schrägen Blicks,’“ um „einen eigenständigen Beitrag zur wissenschaftlichen Analyse schulischen Unterrichts“ zu beanspruchen. 47 | Bruno Latour (2006): The Netz-Works of Greek Deductions. A review of Reviel Netz (2003) ‚The Shaping of Deduction in Greek Mathematics: A Study in Cognitive History. Cambridge University Press, Cambridge. In: Social Studies of Science. 38/3 (June 2008) 441-459. 48 | Ricken, 2006. 149. 49 | S. Weber, S. Maurer (2006): „Die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden. Gouvernementalität als Perspektive für die Erziehungswissenschaft.“ In: Dieselben (Hg.): Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft. Wissen. Macht. Transformation. VS Verlag Sozialwissenschaften, Wiesbaden. 9-36. 50 | Robert Doherty (2006): „Towards a Governmentality Analysis of Education Policy.“ In: S. Weber, S. Maurer (Hg.): Gouvernmentalität und Erziehungswissenschaft. Ebd. 51-61, 51. 51 | Zur problematischen Rolle der Kritik in diskursanalytischen Ansätzen siehe Hans-Christoph Koller, Jenny Lüders: “Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse.” In: N. Ricken, M. RiegerLadich (Hg.): Michel Foucault: Pädagogische Lektüren. Eine Einleitung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. 57-7, 69. 52 | Wie z.B. Thomas Höhne (2006): „Evaluation als Medium der Exklusion. Eine Kritik an disziplinärer Standardisierung im Neoliberalismus.“ In: S. Weber, S. Maurer (Hg.): Gouvernementatlität und Erziehungswissenschaft. Ebd. 197-218.

242 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“

Zur Darstellung eines „Neuen Mediums“ als sozio-technische Relation Die „Sorge um die Wirklichkeit“ in meiner Untersuchung der Hypermedialen Ethnographie und das Bemühen, geeignete Werkzeuge zu finden und einzusetzen, die zur Erhöhung der Wissenschaftlichkeit und Objektivität meiner Herangehensweise beitragen könnten, resultierte in dem Experiment im Sinne von Latours Scientifiction, mehrere diskursive Modi in der Darstellung einzusetzen. Einer davon hat die Form eines fiktiven Dialogs. In diesem Dialog widmen sich ein Erziehungswissenschaftler und seine Hilfskraft einem Programm auf einer DVD-ROM. Der Dialog schildert die Nutzung der Hypermedialen Ethnographie als „Neues Medium“. Er beschreibt durch die dargestellte Benutzung eine Oberfläche, eine Schnittstelle zwischen zwei Menschen und der neumedialen Technik. Der Dialog ist und er beschreibt eine Benutzeroberflache, ein wirkliches sozio-technisches Interface. Der fiktive Dialog beschreibt das wirkliche Interface der Hypermedialen Ethnographie als DVD-ROM. Er ist ein wirkliches Interface im Gefüge der anderen diskursiven Modi, die dem User andere Möglichkeiten der Nutzung, andere Übersetzungsoptionen bieten. Die Abschreitung der Benutzeroberfläche der Hypermedialen Ethnographie mit Hilfe des fiktiven Dialogs löste gleich mehrere forschungspraktische Probleme. Denn, wie repräsentiert man ein Computerprogramm? Ich konnte schlecht davon ausgehen, dass der prospektive Leser das Buch und die DVD, um die es in meiner dichten Beschreibung ging, zur Hand hat. Die DVD noch einmal zu reproduzieren und diesem Buch beizufügen, wäre teuer geworden, und auch dann hätte ich nicht davon ausgehen können, dass sie tatsächlich angeschaut worden wäre. Wahrscheinlich hätte das die Bereitschaft, sich mit meiner Untersuchung auseinanderzusetzen, auch nicht erhöht. Wie man es also wendet, eine Darstellung des Programms in schriftlicher Form war unumgänglich. Dabei ging es nicht darum, im Duktus eines Benutzerhandbuchs aus der Position des Schöpfers, der weiß, wie alles funktioniert, sämtliche möglichen Funktionen und Anwendungen zu preisen, sondern um ein Nichtwissen und das Gegenteil einer Pseudoreligiosität. Die Form des Dialogs weist auf die Unmöglichkeit hin, die Hypermediale Ethnographie als Programm, als Methode, als Projekt und Wissensobjekt aus der Warte eines mit sich selbst identischen Subjekts wahrzunehmen und darzustellen. Der Dialog performiert eine „Erkenntnisrelation“, die „die Stellung des Subjekts […] dezentriert“.53 Ganz praktisch ging es darum, in der von Latour vorgeschlagenen kurzsichtigen 53 | Michael Wimmer (1988): Der Andere und die Sprache. Vernunftkritik und Verantwortung. Dietrich Reimer Verlag, Berlin. 3.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 243 Ameisenart zu gucken, was passiert, wenn zwei User sich daran machen, das Programm zu erkunden: Von der Installation bis zum Absturz. Real an dieser Fiktion sind die ‚Reaktionen‘ des Programms, d.h. das, was dort beschrieben wird, ist tatsächlich so abgelaufen. Diese sozio-technische Schnittstelle, die im fiktiven Dialog dargestellt ist, bewegt sich jenseits von Technikhype und Technikpessimismus und illustriert anhand einer Praxis eine mögliche Nutzung des Programms. Dabei ist weder technikdeterministisch noch pseudo-objektiv von der Wirksamkeit der Hypermedialen Ethnographie als Methode oder als technischem Objekt die Rede, sondern es steht dezidiert der Aspekt der Nutzung im Vordergrund. Der fiktive Dialog macht Dinge sichtbar, die in einem anderen diskursiven Modus nicht zum Vorschein gekommen wären. Diese Form der Darstellung steht, wie Latour für das ‚Genre’ der Scientifiction betont, im Dienst einer erhöhten Objektivität. Durch den fiktiven Dialog wird die Hypermediale Ethnographie „empirisch genauer zugänglich“.54 Ein Mechanismus, den Mollenhauer in Bezug auf die Beschreibung von „Bildungsgängen“ in Erziehungsromanen herausgearbeitet hat.55 Das Unterfangen Latours, Scientifiction in der Erziehungswissenschaft methodisch zu erproben, scheint in Rabinows Sinne „zeitgenössisch“, denn es bringt einen für die Erziehungswissenschaft neuen Ansatz mit einer reichen ‚Tradition’ in Verbindung. Dies bezieht sich nicht allein auf die Form fiktiver Dialoge zwischen Lehrenden und Lernenden, die einen klassischen bildungsphilosophischen Topos darstellen. Erwähnt seien hier der Dialog Sokrates mit Meno über die Tugend oder die Dialoge in der Republik.56 Auch sei an die Form des fiktiven Dialogs des für den modernen Erziehungsroman stil-prägenden Erzählens des „Erzogen-worden-seins“57 bei Kafka erinnert.58 Die ‚Tradition’, auf die hier verwiesen wird, beschreibt Brumlik als „besonders enge […] Beziehung“ der Erzählung zur „Frage des Erziehens“, deren Ursprünge „lange vor Einführung des Buchdrucks“ hinaus reichen würden.59 Mit dieser ‚Tradition’ lässt sich auch die Biographieforschung in Verbindung bringen, die sich dem

54 | K. Mollenhauer (2000): „‚Über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind.’ Einige bildungstheoretische Motive in Romanen von Thomas Mann.“ In: Cornelie Dietrich, HansRüdiger Müller (Hg): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer weiterdenken, München. 49-72, 71. 55 | Klaus Mollenhauer (1991): Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung. Juventa Verlag, München. 56 | Plato: Meno; Plato: The Republic. In: Steven M. Cahn (2009): Philosophy of Education. The Essential Texts. Routledge, New York. 57 | Micha Brumlik (2008): „Erziehungsromane der Jahrtausendwende.“ In: Winfried Marotzki, Lothar Wigger (Hg.): Erziehungsdiskurse. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. 221-239. 58 | Vgl. Mollenhauer, 1991. 9f. 59 | Brumlik, 2008. 221.

244 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ erzählten Leben widmet und sich als „eigenständige Teildisziplin“60 in der Erziehungswissenschaft etabliert hat.61 Latours Scientifiction ist jedoch von den Vorhaben der Biographieforschung und auch von jenen Vorhaben, die „die Auseinandersetzung mit literarischen Texten“ suchen, um „den eigenen methodischen Zugriff zu überprüfen und neue Reflexionsformen zu erproben,“62 grundsätzlich verschieden. Hier dient die Fiktion (fiction) dazu, Wissenschaft (science) dicht zu beschreiben. Ein sehr eingeschränktes Vorhaben, das sich auf die Konstitution von Wissensdingen bezieht. In unserem Fall war dieses Wissensding die Hypermediale Ethnographie als bestimmte Form pädagogisch-didaktischer Forschung und ihrer Resultate in Form eines Buches und einer DVD-ROM. Ob und wie sich Latours Scientifiction jenseits wissenschaftsforschender Zugänge im Bereich der Erziehungswissenschaft als nützlich erweisen könnte, müsste an anderer Stelle erprobt werden. Wichtig bei Latours Ansatz ist, dass sich die unterschiedlichen diskursiven Modi abwechseln und die Dichte der Beschreibung durch die Diversifikation unterschiedlicher Repräsentationsformen zustande kommt. Der große Unterschied zwischen der unter Zuhilfenahme Latours begrifflichen Werkzeugs entstandenen Textcollage im vorherigen Kapitel und der Collage, die als Hypermediale Ethnographie dort beschrieben wird, ist der, dass Letztere sich darauf beschränkt, „Material“ zur Verfügung zu stellen und unterschiedliche Ordnungsmöglichkeiten für dieses „Material“ anzubieten, während Erstere sich dezidiert um Komposition bemüht, darum, in unterschiedlichen Rhythmen und Modi Themen zu wiederholen und zu variieren, neue Elemente einzufügen und mit bekannten zu verbinden. Während der Entwurf der Collage, die die Hypermediale Ethnographie werden sollte, sich der Heterogenität verschrieben hatte, erstellt die Collage im vorherigen Kapitel dieses Buches ein Gesamtbild, dass die Heterogenität der ‚Praxis’ erst zum Vorschein bringt. Folgt man Koller und Ladich, so stehen die Zeichen der Zeit für eine Erprobung fiktiver diskursiver Modi innerhalb der Erziehungswissenschaft gegenwärtig günstig. Die „Demarkationslinien zwischen wissenschaftlichen Diskursen und literarischen Texten“ wären „in den Sozial- und Kulturwissenschaften lange Zeit streng bewacht“ gewesen und „Grenzgänger eher kritisch beäugt“, schreiben die Autoren. Mittlerweile würden sich jedoch die „Berührungsängste“ zwischen den beiden Bereichen „verflüchtigen“.63

60 | Hans-Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich (2009): „Einleitung“ In: Dieselben (Hg.): Figurationen von Adoleszenz. Pädagogische Lektüren zeitgenössischer Romane II. transcript Verlag, Bielefeld. 7-17, 7. 61 | Heinz-Hermann Krüger, Winfried Marotzki (Hg.) (1999): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Leske und Budrich, Opladen. 62 | Hans Christoph Koller, Markus Rieger-Ladich, Markus (2009): Ebd. 7-17, 10. 63 | Ebd.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 245 Die Nutzung fiktiver methodischer Ressourcen birgt eine doppelte auf den ersten Blick paradox erscheinende Gefahr. Erstens die einer Vermischung der Bereiche der Fiktion und der Wirklichkeit und zweitens die Gefahr ihrer Trennung. Dies zeigte sich auch im Rahmen der Untersuchung der Hypermedialen Ethnographie. Liest man die Krise der Repräsentation als Entlarvung der Fiktionalität allen wissenschaftlichen Wissens, so lässt sich die Wirklichkeit ohne weiteres aus den Augen verlieren, denn dann kann dort, wo „das Material“ keine Verallgemeinerungen hergibt, frei fabuliert werden. Diese Art der Vermengung von Fiktion und Forschung zeigt keine „Verantwortung gegenüber dem Realen“.64 Der fiktive diskursive Modus, der im letzten Kapitel dieser Untersuchung als ein Element im Rahmen der dichten Beschreibung zum Einsatz kam, ist nicht als Ausdruck einer literarischen Ambition misszuverstehen. Es ging in der Darstellung des Projekts in dieser Arbeit nicht um Literatur, sondern darum, die Beschreibung eines Wissensdings wissenschaftlicher zu gestalten. Hier lohnt es sich zu trennen auch deshalb, weil das Literarische und die Wissenschaft durch andere Übersetzungsketten, andere Existenzmodi, andere Betriebssysteme gekennzeichnet sind. Wissenschaftliches Wissen ist nicht mit Fiktion zu verwechseln. Es ist nicht, wie Bruno Latour so eindrücklich gezeigt hat, bloße Konstruktion, sondern immer gleichzeitig real, narrativ und sozio-technisch vermittelt. Diese Gleichzeitigkeit ist wichtig, denn die zweite Gefahr, die die Nutzung fiktiver Ressourcen in ethnographischen Berichten birgt, ist die, die Opposition zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Erzählung und Fakt, Glauben und Wissen in tradierter Art und Weise aufrecht zu erhalten. Diese Trennung ist nach der Debatte um die Krise der Repräsentation nicht mehr aufrecht zu erhalten. Sie ist weniger ein Ausdruck einer ‚Sorge um die Wirklichkeit’ als Mittel zur Aufrechterhaltung der Fiktion einer „double-click information“, eines unmittelbaren, unverfälschenden Transports einfach zu verarbeitender Informationshäppchen.65 Diese Opposition zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Erzählung und Fakt, Glauben und Wissen, die immer dort mitgedacht ist, wo der Begriff Fiktion zur Anwendung kommt, wird durch Latours Konzept der Faitiche unterlaufen. „Faitiche Fetischismus (factish, fetishism): Fetischismus ist eine Anklage, die von einem Denunzianten vorgebracht wird; mit ihr wird unterstellt, dass Glaubensvorstellungen und Wünsche von Gläubigen auf ein bedeutungsloses Objekt projiziert werden. Faitiches sind dagegen Handlungstypen, die sich nicht in die erzwungene Alternative zwischen Fakt und Glauben hineinpressen lassen. Der Neologismus Faitiche ist eine Kombination aus Fakt (fait) und Fetisch (fétiche) und stellt klar, dass beiden ein Element der

64 | Wimmer 2006. 69. 65 | Latour, Bruno (1999b): „On recalling ANT“. In J. Law, J. Hassard (Hg.): Actor Network Theory and After. Blackwell Publishing, Oxford. 15-26. 15.

246 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Fabrikation gemeinsam ist. Anstatt Fetische gegen Fakten ins Feld zu führen oder Fakten als Fetische zu denunzieren, soll so die Rolle der Akteure in allen Aktivitätstypen ernst genommen und damit der Begriff des Glaubens überflüssig werden.“66 Im Zusammenhang unserer Untersuchung ist Latours Konzept des Faitiche in zweifacher Hinsicht wichtig. Erstens wendet es sich gegen den Glauben an die Tatsachen, der, wie Latour im Parlament der Dinge darlegt, die Politik im Namen der Natur zum Schweigen bringt, und zweitens ermöglicht das Konzept des Faitiche die Wahrheitsproduktionsmechanismen der ‚Anderen’, des ‚Rests des Westens’ ernst zu nehmen und sie nicht als einfachen ‚Glauben’ im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen besseren Wissen des ‚Westens’ darzustellen. Dieser Respekt bezieht sich auch, und dies mag vor dem Hintergrund des Vorhabens, den Begriff des Glaubens „überflüssig“ machen zu wollen, paradox erscheinen, auf die Wahrheitsproduktionsmechanismen christlicher Religion, denen Latour mehrere Studien gewidmet hat.67 Dieser Respekt vor den Wahrheitsproduktionsmechanismen, die sich nicht vom naturwissenschaftlichen regime of enunciation artikulieren lassen, ist ein zentraler Aspekt des Latourschen Anthropologieentwurfs. In einem Artikel zum Thema des Verhältnisses zwischen Religion und Wissenschaft beschreibt er sein Vorhaben wie folgt: „Truth production in science, religion, law, politics, technology, economy and so on is what I have been studying over the years in my program to advance toward an anthropology of the modern (or rather nonmodern) world. Systematic comparisons of what I call „regimes of enunciation“ is what I am after, and if there is any technical argument in what follows, it is this rather idiosyncratic comparative anthropology from which they will come. In a sort of weak analogy with speech-act theory, I have devoted myself to mapping out the ‚conditions of felicity’ of the various activities that, in our cultures, are able to elicit truth. They are manners of speech […] Word, Logos or Verbum. Either they transport the spirit from which they talk and they can be said to be truthful, faithful, proven, experienced, self-verifiable, or they don’t reproduce, don’t perform, don’t transport what they talk from, and immediately, without any inertia, they begin to lie, to fall apart, to stop having any reference, any ground. Either they elicit the spirit they utter and they are true, or they don’t and they are worse than false, they are simply irrelevant, parasitical.“68

66 | Bruno Latour (2000): Die Hoffnung der Pandora. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 67 | Bruno Latour (1975): Exegèse et ontology à propos de la resurrection, these de troisième cycle sous la direction de Claude Bruaire, Université de Tours. Latour, Bruno (2002b): Jubiler ou les tourments de la parole religieuse. Les Empêcheurs-Le Seuil. Paris. Vgl. auch Bruno Latour (2008c): „Will Non-Humans be Saved? An Argument on Ecotheology.“ In: Journal of the Royal Anthropological Institute. London. Vol. 15. 459-475. 68 | Bruno Latour (2005c): Thou Shall not Freeze-Frame or How Not to Misunderstand the Science and Religion Debate.“ In: James D. Proctor (Hg.): Science, Religion, and the Human Experience. Oxford University Press, Oxford. 27-49. 27.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 247

Agnostizismus und religiöse Vergegenwärtigung Im Zentrum des Latourschen Anthropologieentwurfs stehen die Übersetzungsketten, die regimes of enunciation, die „Existenzmodi“, die Ontologien, die Latour klar voneinander trennt. Bezüglich der Trennung wissenschaftlicher und religiöser regimes of enunciation sagt er: „Then the difference between science and religion would not be found in the different mental competences brought to bear on two different realms – ‚belief’ applied to vague spiritual matters, ‚knowledge’ to directly observable things – but in the same broad set of competences applied to two chains of mediators going in two different directions. The first chain leads toward what is invisible because it is simply too far and too counterintuitive to be directly grasped – namely science, the second chain, the religious one leads to the invisible but what it reaches is not invisible because it would be hidden, encrypted, and far, but simply because it is difficult to renew.”69 Die von Latour konstatierte Unterschiedlichkeit zwischen religiösen und wissenschaftlichen Übersetzungsketten ist für ihn die Grundlage für ihre Kompatibilität, für ihre gleichzeitige Existenz. Für die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen ist die von ihm vorgenommene Trennung des wissenschaftlichen und des religiösen enunciation regimes von mehrfacher Bedeutung. Erstens, weil zur Formulierung eines pädagogischen enunciation regimes, wie weiter unten noch erörtert wird,70 Aspekte des Religiösen wichtig werden, und zweitens nun die Frage auftaucht, wo sich „Präsenz“ im religiösen Sinne innerhalb pädagogischer Übersetzungsketten findet, zu fragen also, durch welche Wiederholungen welche Botschaften vergegenwärtigt werden. Drittens ist die Trennung der Bereiche des Religiösen und des Wissenschaftlichen für eine Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen insofern wichtig, als sie eine Verabschiedung an den ‚Glauben an die Natur‘ beinhaltet, der bisher als Grundlage der in der Anthropologie formulierten Heterogenität von Kulturen gedient hat. Forschungspraktisch geht die Trennung von Religion und Wissenschaft mit einem Agnostizimus in Bezug auf den ‚Glauben an die Natur’ einher, der ein wesentliches Merkmal der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen ist, und um den es im Folgenden geht. Latour beschreibt die Behauptung einer Inkompatibilität von Religion und Wissenschaft als „Kategoriefehler“:71

69 | Ebd. 46. 70 | Siehe S. 260 ff. 71 | Bruno Latour (2005c): 33.

248 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ „Belief is patterned after a false idea of science, as if it was possible to raise the question “Do you believe in God“? along the same pattern as „Do you believe in global warming?“ Except the first question does not possess the instruments that would allow the reference to move on, and the second is leading the locutor to a phenomenon even more invisible to the naked eye than that of God because to reach it we have to travel using satellite images, computer simulation, theories of earth atmospheric instability, highstratosphere chemistry, and so forth. Belief is not a quasi-knowledge question plus a leap of faith to reach even further away. Knowledge is not a quasi-belief question that would be answerable by looking directly at things close at hand.”72 Als getrennte Modi existieren Religion und Wissenschaft gleichzeitig. Einen am Glauben festgemachten „Kampf der Kulturen“ zwischen einem vernünftigem Westen und einem muslimisch-fundamentalistischen mittleren Osten, wie Samuel Huntington ihn für unsere Zeit diagnostiziert hat, wäre damit die Rechtfertigungsgrundlage entzogen.73 Latour betont, dass „der Westen“ nie eine „Kultur ‚unter’ anderen“ gewesen sei, denn er habe einen privilegierten Zugang zur Natur durch die Wissenschaften für sich festgelegt.74 Mit „herablassender Toleranz“ gegenüber der kulturellen Vielfalt der Welt habe der Westen die „vielen Kulturen“ vom „ontologischen Anrecht ausgeschlossen, an der kontroversen Definition der einen Natur-Welt teilzunehmen“. Es seien zwar „viele kriegsführende Parteien in lokalen Konflikten engagiert gewesen, dabei habe es allerdings immer nur einen Schiedsrichter gegeben, die „von der Vernunft erkannte Natur“.75 „Mit anderen Worten, in jener seligen Ära der Moderne gingen Unterschiede nie sehr tief; sie konnten nie fundamental sein, denn sie betrafen nicht die Welt selbst. Übereinstimmung war im Prinzip stets möglich, wenn nicht gar leicht. Stets blieb die Hoffnung, dass unterschiedliche Meinungen, selbst heftige Konflikte, vermindert oder abgeschwächt werden konnten, wenn man sich nur etwas mehr auf diese einigende und befriedende Natur konzentrierte und etwas weniger auf die divergierenden, widersprüchlichen und subjektiven Vorstellungen der Menschen von ihr. Wenn es durch Erziehung, rationale Diskussion oder sorgfältige Prüfung gelang, die eine natürliche und physische Realität in die Debatten einzubringen, dann waren die Leidenschaften beruhigt. So konnte man stets von leidenschaftlicher Verschiedenheit zu einer Realität übergehen, auf die man sich rational einigen konnte. Selbst wenn die Menschheit unterschiedliche Religionen, Rechte, Bräuche und Künste aufwies, konnte sie stets in jenem Hort der Einheit und des Friedens Trost finden, den Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Demokratie darstellten. Leidenschaften mögen uns trennen, doch um uns wieder zu einen, können wir uns auf die Vernunft verlassen. “76

72 | Ebd. 45. 73 | Samuel P. Huntington (2006 [1998]): Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Spiegel-Verlag, Hamburg. 74 | Bruno Latour (2004): Krieg der Welten – wie wäre es mit Frieden? Merve Verlag, Berlin. 17. 75 | Ebd. 16. 76 | Ebd. 14f.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 249 „Religion“ schreibt Latour, musste zur „bloßen Kultur“ werden, damit „Natur zur wahren Religion“ avancieren konnte.77 Die Schwierigkeit, der zur Religion gewordenen Natur gegenüber eine agnostische Haltung in der ethnographischen Forschung einzunehmen, beschreibt Latour bereits in einem 1981 erschienenen Artikel.78 Hier schildert er die forschungspraktischen Schwierigkeiten, die sich in seiner ethnographischen Herangehensweise in der Wissenschaftsforschung zeigten. Es sei einfach darin übereinzustimmen, dass ein Wissenschaftler sich immer gleichzeitig innerhalb und außerhalb seiner Forschungsgegenstände befände, schreibt Latour. Als grobe methodologische Richtlinie könne behauptet werden, dass es gelte, einen gewissen Grad an „insideness“ mit einem gewissen Grad an „outsideness“ zu kombinieren.79 Dies träfe aber nicht für die Wissenschaftsforscher zu. Würde man einem Biologen sagen, er dürfe keine Frösche studieren, weil er selbst keiner ist, würde man ausgelacht. Ähnlich würde der Soziologe sich gegenüber dem Geschäftsmann verteidigen können, der sagt, dass der Soziologe Unternehmen nicht studieren könne, weil er nicht mit dem Wirtschaftsleben vertraut sei. Die Einwände des Unternehmers würden als Verteidigung seiner Interessen („vested interest“) wegerklärt werden.80 Nur wenn Wissenschaft das Objekt der Forschung sei, würden die Vorzüge der Position des Außenseiters geleugnet, behauptet Latour. Würde der Wissenschaftsforscher einer Gruppe Physiker sagen, dass er a) kein Physiker zu sein braucht, um Physik zu untersuchen und b) er kein Physiker sein sollte, um Physik zu untersuchen und c) er nicht an die Rationalität der Naturwissenschaften glauben muss, um sie in seinen eigenen Begriffen zu fassen und d) er kein Instrument der Wissenschaft in seiner eigenen Analyse verwenden sollte, würde man ihn für verrückt erklären. Dies sei in Anbetracht der Erwartungen an einen Religionswissenschaftler beispielsweise verwunderlich. Niemand würde leugnen, dass der Religionsforscher gleichzeitig ein Agnostiker und ein guter Soziologe sein könne. Aber ein Wissenschaftsforscher dürfe kein Agnostiker sein.81 Wir seien so von der wissenschaftlichen Sicht eingenommen, dass man sich kaum

77 | Ebd. 28. 78 | Bruno Latour (1981): „Insiders & Outsiders in the Sociology of Science; or How Can We Foster Agnosticism?“ In R.A. Jones, H. Kucklick: Knowledge and Society: Studies in the Sociology of Culture Past and Present, Bd. 3. Greenwich. 200-216. 79 | Ebd. 201. 80 | Ebd. Wollten wir gegenüber der Wissenschaft agnostisch sein, formuliert Latour 10 Seiten später im gleichen Aufsatz weiter, müssten wir den letzten Glauben, „this last belief, this religious respect for purity“ (pure objects, pure minds) aufgeben. Siehe Kucklick, Ebd. 210. 81 | Ebd.

250 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ eine Person vorstellen könne, die von außerhalb auf diese Sicht blickt.82 Die Schlussfolgerung aus alledem sei paradox, schreibt Latour. Während in vielen Forschungsgebieten das Hauptproblem sei, ‚hinein’ zu kommen („how to get in“) in das Feld, die Daten oder die ‚Bedeutung’, so wäre das Hauptproblem in der Wissenschaftsforschung ‚heraus’ zu kommen („how to get out“). Es schiene, als gebe es kein Außen, von dem aus eine Erklärung geschmiedet werden könne. Das Paradox sei unausweichlich: Nähme der Leser Wissenschaft ernst, müsse er auf sie zugehen. Einmal dort angekommen, müsse er sich von ihr entfernen, um Rechenschaft von ihr abzulegen („to account for it“). Wenn er wie die meisten auf halber Strecke stehen bliebe, sei dies der beste Beweis, dass Wissenschaft nicht ernst genommen würde, denn sie könne sich nicht selbst erklären.83 Man könne die Wissenschaften nicht von außen betrachten, polemisiert Latour, denn dann würde man zugeben müssen, dass sie ein Innenleben haben. Als paradoxe Strategie („paradoxical strategy“) schlägt er vor, dass man, wolle man die Wissenschaften ernst nehmen, beides tun müsse, sich auf sie zu bewegen und von ihr weg.84 Diese paradoxe Strategie des Hinwendens und Abwendens, die in der dichten Beschreibung im vorherigen Kapitel unter Verwendung vier verschiedener diskursiver Modi zum Einsatz kam, ist ein Merkmal, das den Forschungsmodus einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen prägt. Ein Modus, der es erlaubt, ‚Natur’, ‚Kultur’, ‚Technik’, ‚Mensch’, ‚Subjekt’, ‚Erziehung’ oder ‚Wissen’ weder zu verteufeln noch zu deifizieren und der stattdessen den Spuren der Übersetzungsketten folgt, die diese Dinge, diese Versammlungen, erst hervorbringen. Bei Latour geht die Verabschiedung von der Natur als Religion einher mit einer Wertschätzung naturwissenschaftlicher Wissensproduktion. Der von Latour empfohlene Agnostizismus, der sich in der Forschung zeigen sollte, ist also keineswegs mit einer naturwissenschaftsfeindlichen Haltung zu verwechseln. Er verstünde nicht, sagt Latour in einem Interview, wie Anthropologen noch behaupten können, es gebe keine Beweise dafür, dass unser Verhalten auch auf biologischen Grundlagen ruht. An anderer Stelle beschreibt er, wie im Bereich der Sozialwissenschaften eine naturwissenschaftsfeindliche Haltung mit einer Imitation der Methoden der „hard sciences“ einher ginge.85 Beides ist ihm fremd. Um die Wissenschaften ernst zu nehmen, bedürfe es der parado-

82 | Ebd. 206. 83 | Ebd. 207. 84 | Ebd. 210. 85 | Bruno Latour (2000c): „When things strike back – a possible contribution of science studies.“ British Journal of Sociology, Special Millenium Issue.51(1): 107—23

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 251 xen Strategie, sich auf sie zu und von ihnen weg zu bewegen.86 Eine Strategie bei der es helfe, sich der stilistischen Tricks der Wissenschaftler zu bedienen. Dazu sei es notwendig, schreibt Latour, in der Sphäre des Literarischen zu recherchieren. Wie unten dargelegt, scheint dem Existenzmodus pädagogisch-didaktischen Wissens ein religiöses Moment anzuhaften. Um es artikulieren zu können, ist es hilfreich, bei Latours Vergleich des wissenschaftlichen und des religiösen enunciation regimes noch zu verweilen und sich der religiösen Vergegenwärtigung zuzuwenden, die Latour in diesem Kontext beschreibt. Die Übersetzungsketten, die die Wissenschaften auszeichnen, haben Latour zu folge andere raum-zeitliche Dimensionen. Religiöse Prädikation zielt auf das ab, was dicht und nahe dran ist. Ihr Modus ist präsentistisch und auf den Nächsten gerichtet, während sich die Wissenschaften dem widmen, was räumlich und zeitlich weiter entfernt liegt: „It is definitely not the case that science is about the concrete, worldly, matter of fact, present at hand, domain of knowledge in addition to which another vehicle calls ‚religious belief’ would lead you to a ‚supernatural’ domain of spiritual entities. If anything, it is science which is an excellent vehicle to transport you to otherworldly domains which would be utterly inaccessible without the carefully arrayed chains of reference allowed by its more and more complex instrumentarium (and I hasten to add, to make sure I am not misunderstood, that these sets of mediations are made more and more accurate, sturdy, safe and fully trustable every day), it is religion that attempts to access the this-worldly in its most radical presence, that is you, now, here transformed into the person who cares about the transformation of the indifferent other into a close neighbor, into the near by, into le prochain.“87 In einem veröffentlichen Vortragsmanuskript aus 2005 findet sich eine einprägsame Erläuterung dessen, was Latour mit diesem präsentistischen Modus, mit dieser Art religiöser Vergegenwärtigung meint. Hier illustriert er den Modus der Prädikation, der Art die Wahrheit zu sagen, anhand des Beispiels, das er ‚love talk’ nennt, einer Art des Sprechens, die nicht nach ihrer Korrespondenz mit irgendeiner Sachlage beurteilt wird, sondern nach der Qualität der Interaktion, die sie im Aussprechen generieren würde. „Do you love me?” is not assessed by the originality of the sentence—none are more banal, trivial, boring, rehashed—but rather by the transformation it manifests in the listener, as well as in the speaker. Information talk is one thing, transformation talk is another. When the latter is uttered, something happens. A slight displacement in the normal pace of things. A tiny shift in the passage of time. You have to decide, to get involved: may be to commit your selves irreversibly. We are not only undergoing 86 | Ebd. 211. 87 | Latour, 2008c, 464f.

252 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ an experience among others, but a change in the pulse and tempo of experience: kairos is the word the Greeks would have used to designate this new sense of urgency. [...] such sentences are not judged by their content, their number of bytes but by their performative abilities. They are mainly evaluated by only this question: do they produce the thing they talk about, namely lovers? (I am not so much interested here in love as “eros,” which often requires little talk, but in love as “agape” to use the traditional distinction.) In love injunction, attention is redirected not to the content of the message, but to the container itself, the person-making. One does not attempt to decrypt it as if it transported a message, but as if it transformed the messengers themselves. And yet, it would be wrong to say that they have no truth-value simply because they possess no informational content. [...] we may convince ourselves that there exists a form of speech that (a) is concerned by the transformation of messengers instead of the transport of information, and (b) is so sensitive to the tone in which it is uttered that it can abruply shift, through a decisive crisis, from distance to proximity - and back to estrangement - and from absence to distance and, alas, back again. Of this form of talk I will say that it „re-presents“ in one of the many literal meanings of the word: it presents anew what it is to be present in what one says. And (c) this form of talk is at once completely common, extremely complex, and not that frequently described in detail.”88 „Love-talk“ und religiöse Rede transportieren Wesen und nicht Information. Sie sprechen nicht über Dinge, sondern verändern die Art, wie Raum eingenommen wird und die Zeit fließt.89 In einer weiteren Wendung des Terminus Re-Präsentieren beschreibt Latour, dass diese Art der Rede, das ‚Wiederpräsentmachen‘, die Vergegenwärtigung zum Ziel hat. Als Kundgabe, als Verkündigung, als frohe Botschaft, als „Evangelios“ spricht diese Art der Rede nicht über Dinge, sondern von ihnen aus, sie macht präsent, sie vermittelt, sie transformiert Zeit und Raum, Subjekte und Objekte. Wie Latour schreibt, ist dieses Unterfangen religiöser Vergegenwärtigung überaus fragil und gelingt nur dann, wenn die Botschaft adäquat re-präsentiert, d. h. selbst bereits transformiert und Transformation ist, die es vermag, Subjekte und Objekte in ihre Umlaufbahn zu saugen. Wie im Abschnitt Zum Existenzmodus pädagogisch-didaktischen Wissens beschrieben, ist diese Form der Re-Präsentation in pädagogisch-didaktischen Zusammenhängen wesentlich. Dies geht über den Aspekt der ‚Performativität‘ pädagogischer Äußerungen oder pädagogischer Theorien90 hinaus. Diese Form der Re-Präsentation als Vergegenwärtigung, als Wiederholung diverser Botschaften bezüglich der ‚Subjekte‘ und ‚Objekte‘ in pädagogisch-didaktischen Situationen ist ein Kennzeichen des pädagogisch-didaktischen regime of enunciation.

88 | Latour, 2005c, 29f. 89 | Ebd. 30. 90 | Martina Koch, (1999): Performative Pädagogik, Über die welterzeugende Wirksamkeit pädagogischer Reflexivität, Wachsmann Verlag, Münster

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 253 Latours Anthropologie zielt darauf ab, die Existenzmodi, mit denen wir es gegenwärtig zu tun haben, sichtbar und vergleichbar zu machen. Im Folgenden werden nun ausgehend von meiner Untersuchung im vorigen Kapitel dieser Arbeit einige Merkmale des Existenzmodus pädagogisch-didaktischer Dinge herausgearbeitet.

Zum Existenzmodus pädagogisch-didaktischen Wissens Die Produktion pädagogisch-didaktischen Wissens steht nicht im Fokus meiner Untersuchung zur Hypermedialen Ethnographie als Forschungs- und Darstellungsmethode. Wichtig wurde die pädagogisch-didaktische Wissensproduktion dort lediglich in Zusammenhang mit der Aufstellung Neuer Medien als Wissensobjekt und im Kontext ihres Verhältnisses zur ethnographischen Wissensproduktion. Die folgenden Ausführungen zum Existenzmodus pädagogisch-didaktischen Wissens sind entsprechend skizzenhaft. Die Neuen Medien als didaktisches Wissensobjekt zeigten im Kontext meiner Untersuchung einige Merkmale, die auf einen spezifisch pädagogischdidaktischen Existenzmodus hinweisen. Erstens schien ihre Existenz von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen abzuhängen, die ihre Existenz nur außerhalb des pädagogisch-didaktischen Feldes unter Beweis stellen können. Zweitens schienen die Neuen Medien als didaktisches Wissensobjekt intrinsisch sinnhaft, zukunftsträchtig und träge, und drittens erschließt sich daraus ein existentieller pädagogisch-didaktischer ‚spin’, der Quasi-Subjekte, Quasi-Objekte und den Bereich ihrer Schnittmenge, den der ‚Vermittlung’, umkreist. Zu 1.: Die Existenz des Gegenstandes Neue Medien stand im Kontext von sense&cyber nicht zur Debatte. Beständige Themen waren ihre Auswirkungen. Dort wurde diskutiert, ob und inwieweit die Neuen Medien die ‚alten’ verdrängen und den Bereich haptischer und auf ‚alle Sinne’ bezogener Tätigkeiten einschränken könnten, oder auch inwiefern ihre Ausbreitung den Kunstschulen durch ein neues Betätigungsfeld im Bereich des graphischen Designs und der Animation ihre Existenz in Zukunft sichern könnte. An der Tatsache des In-derWelt-Seins der Neuen Medien wurde im Kontext von sense&cyber nicht gerüttelt. Dies erscheint im Alltagsverständnis nicht weiter verwunderlich. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Existenzmodus pädagogisch-didaktischen Wissens ist der Umstand, dass das Wissensding nicht zur Disposition stand, jedoch insofern bemerkenswert, als dass sich an dieser Stelle ein Unterschied zum ‚wissenschaftlichen Wissen’ zeigt. In den Naturwissenschaften ist die Frage ‚Sein oder Nicht-Sein’ ein integraler Bestandteil naturwissenschaftlicher Er-

254 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ kenntnisgewinnung. Dies zeigt Latour am Beispiel Pasteurs, dem es gelingt, in der Debatte mit Liebig zu obsiegen und die Existenz von Mikroorganismen im Labor nachzuweisen oder am Beispiel der unter Paleontologen umstrittenen Knochen, die die Entwicklungslinie des Pferdes zu ändern vermögen.91 Wird das Wissensobjekt jedoch zum didaktischen, ist die Frage ‚Sein oder Nicht-Sein’ nicht mehr Gegenstand der Verhandlungen. D.h. die Legitimität pädagogischdidaktischer Wissensobjekte kommt von außerhalb ihrer Übersetzungsketten. Beweise und Dispute über die Existenz menschlicher und nichtmenschlicher Wesen, die Gegenstand pädagogisch-didaktischer Bemühungen sind, sind nicht Teil ihres regime of enunciation. Innerhalb ihrer Übersetzungsketten muss jedoch die von außen gelieferte Legitimität immer wieder präsent gemacht werden. Wie unten ausgeführt, könnte man dies als den pädagogischdidaktischen ‚Spin’ bezeichnen. Er umkreist sowohl Quasi-Objekte als auch Quasi-Subjekte. In Bezug auf letztere hatte Flitner versucht, unter dem Mantel einer Pädagogischen Anthropologie als „Integrationswissenschaft“ alles ‚fertige’, relevante Wissen über die ‚Beschaffenheit’ der Rezipienten pädagogischer/didaktischer Aktionen aus den relevanten akademischen Disziplinen zu sammeln. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen leistet sich einen solchen Einkauf fertigen Wissens nicht. Sie zahlt stattdessen einen hohen Preis dafür, dass ihr Respekt vor den Wissenschaften im Plural sie mit der Unsicherheit, der Vorläufigkeit und der Tatsache, dass ihre Wissensobjekte risikobehaftet und umstritten sind, zurückläßt. Die Probleme, die durch diese Haltung nicht nur auf Seiten der Quasi-Subjekte, sondern auch der Quasi-Objekte entstehen, lassen sich mit Hilfe des Werkzeugs der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen in Anlehnung an Latours Objektphilosophie nun erahnen. Wie im Kontext der Hypermedialen Ethnographie erscheint auch an dieser Stelle die ‚ethnographische Offenheit’ mit dem ‚Wesen des Didaktischen’ nicht vereinbar. Dieser zentralen Frage, die sich aus der Untersuchung im vierten Kapitel ergab, ist Abschnitt 5.7 gewidmet. Zunächst geht es um ein weiteres Merkmal des Existenzmodus pädagogisch-didaktischen Wissens, das in meiner Untersuchung zu Tage getreten ist. Zu 2: Im Kontext des Projekts sense&cyber standen wie erwähnt der Gegenstand Neue Medien, seine Sinnhaftigkeit und Zukunftsträchtigkeit nie prinzipiell in Frage. Um das zu garantieren, waren die ‚Experten’ und ‚Expertisen’ da. Jene also, die den Kontakt zum Außen der platonischen Höhle herstellen konnten, den Kontakt zur Welt ‚dort draußen’, die diese Garantien selbstverständlich irgendwo bereithalten mussten. Wo dies sein würde, war Aufgabe der ‚Experten’ herauszufinden. An dieser Stelle ist die im Kapitel 91 | Latour, 2008d.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 255 Hypermediale Ethnographie geschilderte Situation interessant, in dem die KunstschulpädagogInnen als Reaktion auf unsere ‚ethnographische Offenheit’ unser Expertenwissen im Bereich der Neuen Medien in Frage stellten. Wir hatten nicht vorgehabt, vor Beginn unserer Untersuchung ein Urteil über die Sinnhaftigkeit und Zukunftsträchtigkeit Neuer Medien in den Kunstschulen zu fällen. Gerade diese Zurückhaltung machte uns aber verdächtig in einem Programm, das die Zukunftsträchtigkeit und Sinnhaftigkeit Neuer Medien in kunstpädagogischen Kontexten mit 11,6 Millionen Euro zu belegen schien. Erst mit größerer Distanz wurde klar, wie unsere deklarierte Offenheit bezüglich des Gegenstandes als Existenzbedrohung wirken konnte. Sie bedeutete eine Trennung der Neuen Medien von ihren vermeidlich intrinsischen Eigenschaften. Ohne diese Eigenschaften schien das pädagogisch-didaktische Objekt Neue Medien jedoch existenziell bedroht. Die Garantien der Sinnhaftigkeit und Zukunftsträchtigkeit des didaktischen Objekts immer wieder von außen hereinzuholen, sollte Aufgabe der ‚Experten’ sein. Die Ablehnung dies zu tun, kam einer Weigerung gleich, den didaktischen ‚spin’ aufrecht zu erhalten, auf den sich aber, wie im vierten Kapitel beschrieben, eine der Kunstschulen besonders verlassen hatte. Jene nämlich, die ihre eigene Zukunft mit Hilfe eines in Richtung Neuer Medien erweiterten Kursangebots sichern wollte. In Reaktion auf die Verunsicherung, die unsere Offenheit dort auslöste, wurde Halt im sicheren Wissen gesucht, indem von uns zunächst eine Aufstellung relevanter Literatur gefordert wurde. Als gegeben müssen pädagogisch-didaktische Wissensdinge ihre Zukunft nicht selbst absichern. Ihr eigenes Handeln trägt nicht dazu bei, dass sie weiter existieren (wie die Mikroben) oder aussterben (wie der individualisierte Nahverkehr mit Aramis92). Das Risiko, in Nicht-Existenz umzukippen, droht ihnen auf ihrem Weg entlang pädagogisch-didaktischer Übersetzungsketten nicht. Sie haben eine Trägheitsgarantie93 und sind insofern risikolos. Sie sind ausgestattet mit einer intrinsischen Sinnhaftigkeit und Zukunftsträchtigkeit, die ebenfalls von außen garantiert wird. Um das Überleben pädagogisch-didaktischer Dinge zu sichern, müssen diese drei Garantien, die der Trägheit, der Sinnhaftigkeit und der Zukunftsträchtigkeit von außen geholt werden. Das pädagogisch-didaktische Wissensobjekt stirbt, sobald diese drei Garantien ablaufen und nicht erneuert werden können. Es stirbt, und dies erscheint in diesem Licht tautologisch, sobald der didaktische ‚Spin’ endet, der Impuls von außen ausbleibt. Zu 3: Latour erwähnt den ‚Spin’ im Zusammenhang der Politik. ‚Spin doctors’ werden jene genannt, die in der Politik für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich sind und den Ereignissen durch ihre Darstellung den richtigen 92 | Latour, 1992. 93 | Latour (2005. 67.) spricht von „inertia“, deren Aufrechterhaltung im Normalfall der Arbeit bedarf.

256 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ ‚Dreh’ (Engl. ‚spin’) verleihen, um sie politischem Handeln wieder zuzuführen. Diesen politischen ‚spin’ sieht Latour nicht abwertend, sondern in seiner Positivität, als Mechanismus, der das Politische am Laufen hält. Eine ähnliche Sicht auf den pädagogisch-didaktischen ‚spin’ verspricht an dieser Stelle bezüglich des Existenzmodus pädagogisch-didaktischer Dinge zu einer gewissen analytischen Klarheit beitragen zu können. Latour beschreibt einen politischen Kreislauf, der sich nicht auf die Sphäre des Politischen beschränkt, sondern einen Modus beschreibt, wie Versammlungen in Existenz gehalten werden. Latours Kreislauf beschreibt eine Bewegung von einer Vielheit zu einer Einheit durch den Prozess der Repräsentation. Diese Transformation ist nicht ohne Machtausübung oder, wie Latour es bezeichnet, ohne Gehorsam („obedience“) möglich.94 Latour spricht in Zusammenhang mit diesem Kreislauf von einem „envelopment,“ von einer „Umhüllung,“ und von der Bewegung eines „Lassos“. Bei Pazzini findet das Bild des Lassos in Zusammenhang mit dem Bildungsbegriff Verwendung. Bildung sei der vom Lasso umschriebene zeitweilig existierende leere Raum, der durch die Kreisbewegung entstünde, die „das Siguläre“ mit „dem sozialen Band“ in Verbindung bringt. Der pädagogisch-didaktische Existenzmodus scheint geprägt von zwei Kreisläufen, die sich um zwei unterschiedliche Arten von Versammlungen drehen. Auf der einen Seite der Kreislauf, der die Versammlung der Quasi-Objekte zusammenhält und auf der anderen Seite jener Kreislauf, der die Quasi-Subjekte in Existenz hält. Pädagogisch-didaktisch werden die Dinge erst, wenn beide Zirkel inklusive ihrer Schnittmenge konstant umkreist werden. Ob eine solche Bewegung mit einem Lasso zu bewerkstelligen ist, sei dahingestellt. Die Umkreisung der Schnittmenge ist existenziell, denn sie ist der Ort der Vermittlung, der Ort „doppelseitiger Erschließung,“ auf den es Klafki zufolge in der Didaktik ankommt.95 Die Vermittlungsarbeit in dieser Schnittmenge kann jedoch nur aufrecht erhalten werden mit Hilfe der von außen, von den anderen beiden Formen des ‚spin’, herein getragenen, ‚fertigen’ Verallgemeinerungen. Pädagogisch-didaktische Dinge zeichnen sich durch diese eigenwillige Bewegung aus. Von ihnen einfache Wirkungsmechanismen zu erwarten, wird ihrem Wesen nicht gerecht. Ein technizistisches Regelverständnis kann ihrer komplexen Ontologie nicht Rechnung tragen.96 Pädagogisch-didaktische

94 | Latour, 2002e, 5. 95 | Wolfgang Klafki (1970): „Kategoriale Bildung”. In: Ders. Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beltz Verlag, Weinheim. 43. 96 | Vergl. auch Niklas Luhmann, Karl E. Schorr (1982): „Das Technologiedefizit der Erziehung und die Pädagogik.“ In: Ders.: Zwischen Technologie und Selbstreferenz. Fragen an die Pädagogik. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 11-40.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 257 ‚Techniken’ lassen sich nicht auf den Schnittmengenbereich der Vermittlung reduzieren, sondern setzen immer den gesamten Kreislauf in Gang, den der ‚Inhalte’, der Vermittlung und der Adressaten der Aktion. Mit dem Werkzeug der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen lässt sich nun danach fragen, was dort zirkuliert, welche Wesen dort vergegenwärtigt werden, welche Botschaften re-präsentiert? Himmel und Erde setzen sich in Bewegung in pädagogisch-didaktischen Handlungen. Sie beschränken sich nicht auf einen Informationstransfer, sondern sie transformieren alle involvierten Aktanten und Akteure. Ihnen haftet etwas Religiöses an. Nicht einfach deshalb, weil pädagogisch-didaktische Aktionen den ‚Glauben’ an eine ‚Fiktion’ voraussetzen müssten. Dies würde zu schlicht alle Lernenden als manipulierbar und alle Lehrenden als manipulativ erscheinen lassen. Die religiöse Vergegenwärtigung scheint vielmehr notwendig, um die Sinnhaftigkeit und Zukunftsträchtigkeit auf beiden Seiten der Schnittmenge herzustellen. Als solche lässt sich die religiöse Vergegenwärtigung zu den konstitutiven Elementen eines pädagogisch-didaktischen Existenzmodus zuordnen. Der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen käme die Aufgabe zu, die Vergegenwärtigungspraxen, die Arten wie Himmel, Erde und Menschen in Bewegung versetzt werden, in situ und in actu zu verfolgen und in ethnographischen Studien zu versuchen das zur Darstellung zu bringen, was dort bewegt und ins Leben gerufen wird. Hier käme die bereits erwähnte zweite Form der Sorge zum Zuge, jene, die danach fragt, was in pädagogisch-didaktischen Kontexten vergegenwärtigt wird, welche Wesen im Vermittlungsprozess entstehen. Sie betrifft den philosophischen Aspekt der Frage der Repräsentation. Die Sorge um die „Wirklichkeit“ betrifft den wissenschaftlichen Aspekt und die Sorge um die demokratische Sozialisation, den politischen Aspekt der Frage der Repräsentation. Sie sind die Koordinaten, an denen sich das Territorium der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen aufspannt. Bei Türcke findet sich eine Kritik ‚moderner’ Didaktik, die nach seinem Dafürhalten als alleinige Vermittlungsinstanz an die Stelle des verschwundenen Gottes treten wolle. 97 Ich stimme mit Türcke darin überein, dass ein religiöser Impetus für den Existenzmodus pädagogisch-didaktischer Dinge konstitutiv ist. Der Unterschied zu seiner Position ist, dass sich auf der Basis von Latours empirischer Philosophie die Bereiche des Pädagogisch-didaktischen, des Religiösen wie auch des Wissenschaftlichen und des Politischen in ihren eigenen regimes of enunciation, in ihren getrennten variablen Ontologien, analysieren lassen. Didaktik ist keine Konkurrenzveranstaltung zur Religion, genauso wenig wie Religion mit Wissenschaft inkompatibel ist. Türckes Vorwurf, die Didaktik würde„erfolgreich Sabotage am Er97 | Christoph Türcke (1994): Vermittlung als Gott. Kritik des Didaktik-Kults. Zu Klampen, Lüneburg.

258 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ lösungsgedanken treiben,“ basiert insofern auf einer Kategorienverwechselung.98 Die beste Didaktik ist für Türcke die verschwundene. Hier drückt sich ein Wunsch nach Unmittelbarkeit aus, ein Wunsch erlöst zu sein von aller Vermittlung. Es sieht nicht danach aus, als würde Didaktik verschwinden, vielmehr scheinen sich die Schauplätze pädagogisch-didaktischer Vermittlungen auch und vielleicht gerade in Zeiten zu vervielfältigen, in denen in den Wissenschaften die öffentlichen Mittel knapp werden. Statt der Didaktik den Tod zu wünschen, und hier stimme ich mit Pazzini überein, gilt es, sie in Anerkennung ihrer philosophischen und politischen Implikationen neu zu konfigurieren.99 Zu einem solchen Projekt könnte, wie hier angedeutet, die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen einen Beitrag leisten, unter anderem auch dadurch, die Frage der Kombinationen von Agnostizismus und religiöser Vergegenwärtigung empirisch in der pädagogischdidaktischen Praxis auszuloten.

Anthropologie und die Leere der verschwundenen Kultur „Ist es wirklich möglich, agnostisch im von mir definierten Sinne zu sein? Ermöglicht nicht gerade der Glaube an den Glauben die Unterscheidung zwischen einer Welt ‚dort draußen’ und dem Palast der Ideen, Phantasien, Einbildungen und Verzerrungen ‚da drinnen’? Wie könnten wir ohne diese Abgrenzung zwischen epistemologischen und ontologischen Fragen überleben? Fielen wir nicht in Obskurantismus zurück, wenn wir nicht länger eine scharfe Unterscheidung vornähmen zwischen dem Inhalt unseres Kopfes und der Welt außerhalb unseres Geistes? Und doch ist der Preis, der für diesen Anschein von common sense zu zahlen ist, ungewöhnlich hoch. Wir sind so sehr daran gewöhnt, unter dem Einfluss des Anti-Fetischismus zu leben, so gewohnt, den Abgrund zwischen der Weisheit der Praxis und den Lektionen der Theorie für gegeben zu halten, dass wir anscheinend völlig vergessen haben, dass diese sehr geschätzte analytische Klarheit nur um den Preis einer unglaublich aufwendigen Erfindung erreicht werden konnte: einer physischen Welt ‚dort draußen’ versus vielen geistigen Welten ‚da drinnen’.“100 Im Folgenden widme ich mich der für die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen zentralen Frage, was aus der Anthropologie wird und welche Aufgaben ihr zukommen, wenn sie sich von der oben beschriebenen Trennung der Welten verabschiedet.

98 | Ebd. 130. 99 | Karl-Josef Pazzini: „Kunst in der Schule?“ In: Lemke, C.; et.al. (Hg.): sense&cyber. Kunst, Medien, Pädagogik. transcript. Bielefeld,. 303-309. 306f. 100 | Latour, 2000. 348f.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 259 Die Anthropologie, schreibt Latour, ist durch die Naturen im Plural, die aus der Wissenschaftsforschung aber auch aus den eigenen Reihen101 an sie heran getragen wurden, in eine Krise geraten. Eine Krise zu der der„Postmodernismus“ das Seine getan hätte.102 Auf der soliden Basis der Einheit der Natur wäre es leicht gewesen, den Multikulturalismus auszurufen. An der Zusammensetzung der einen Natur waren die vielen Kulturen allerdings nicht beteiligt. Sie waren vom „ontologischen Anrecht ausgeschlossen, an der kontroversen Definition der einen Natur-Welt teilzunehmen.“103 Die von der Vernunft erkannte Natur wäre fest in den Händen der ‚Modernen’ gewesen. Latour spricht von einem „Epistemozentrismus“, der nicht das gleiche sei wie „Ethnozentrismus“, denn die ‚nie modern gewesenen Modernen’ zeichneten sich nicht dadurch aus, dass sie ein Volk gewesen seien, sondern dadurch, dass sie die Art, die Welt zu erkennen, teilten.104 Auf dem sicheren Boden einer prä-existenten Natur wäre es leicht gewesen, die Sicht der ‚Anderen’ zu respektieren, denn von ihr hätte keine Bedrohung auf die Ordnung der Welt ausgehen können. Es hätte zwar Kriege gegeben, schreibt Latour, aber „nur Eine Welt“, durch die es „umstandslos möglich“ gewesen wäre, „von einem Planeten zu sprechen, von einer weltweiten Menschheit, von den Menschenrechten und menschlichen Wesen als solchen.“105 In diesen „nicht allzu fernen Zeiten“ hätte es keine Kriege der Welten geben können, keine „Wirklichkeits-Kriege“, denn die Welten hätten nicht zur Diskussion gestanden, nur die „vielen symbolischen Repräsentationen der einen und einzigen Welt.“106 So konnten die ‚Modernen’ von der „reichen Mannigfaltigkeit der vielen Kulturen“ profitieren, die „vergleichbar“ waren und„alle gleichermaßen entbunden von der Konstruktion der gemeinsamen Naturwirklichkeit, die in der Obhut von kultur-freien Wissenschaftlern, Ingenieuren, Ökonomen und Demokraten“ gelegen hätte. Die „modernistischen Zivilisatoren“ hätten niemals Feinde gehabt. So heftig sie auch gekämpft hätten, hätten sie sich stets der „Autorität eines unstrittigen Schiedsrichters, eines Vermittlers, der hoch über allen möglichen Formen von Konflikt“ gestanden hätte, gefügt, nämlich der „Natur und ihren Gesetzen, der Wissenschaft und ihren vereinheitlichten Fakten, der Vernunft und ihrer Art und Weise, Übereinstimmung zu erzielen.“ Diese Kriege im Namen des

101 | Vgl. Viveiros de Castro, 1998 und Descola, 1986. Descola ist Professor am Collège de France und hat dort einen Lehrstuhl für die Anthropologie der Natur inne, der nunmehr nicht wie bei seinen Vorgängern, zu denen Claude Levi-Strauss zählt, „Anthropologie der Kulturen“ heißt. 102 | Latour, 2007a. 103 | Latour, 2004. 16. 104 | Latour, 2000. 367. 105 | Latour, 2004. 16. 106 | Ebd. 20.

260 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ „unbestreitbaren Vermittlers“ hätten sich als „Polizeioperationen“ verstanden, unbefriedbar und mit offenem Ausgang.107 Ein Krieg der Welten, schreibt Latour, wäre jedoch in Gange und im Gegensatz zu Samuel Huntingtons Vorschlag, sich hinter „den Scheuklappen der eigenen Kultur“ zu verschanzen, plädiert er dafür, das Unterfangen der Zusammensetzung einer gemeinsamen Welt nicht aufzugeben.108 Um dieses Projekt zu beginnen, bedürfe es der Annerkennung, dass es einen „Krieg der Welten“ gebe. Einheit und Vielfalt ließen sich nicht ohne „heikle Verhandlungen“ erreichen: „Es geht nicht darum, intolerante Konquistadoren durch Spezialisten des interkulturellen Dialogs zu ersetzen. Wer spricht von Dialog? Wer bittet um Toleranz? Nein eher sollen die Eroberer durch Feinde ersetzt werden, die in der Lage sind anzuerkennen, dass die, die ihnen gegenüberstehen, ebenfalls Feinde sind und keine irrationalen Wesen. […] Die in der Lage sind anzuerkennen, dass das Ergebnis der Schlacht ungewiss ist und folglich Verhandlungen notwendig sein könnten, und zwar ernsthafte. Während beim interkulturellen Dialog neunzig Prozent der gemeinsamen Welt bereits gemeinsam sind und es einen universalen Schiedsrichter gibt, der darauf wartet, dass die Parteien ihre engstirnigen Streitereien beenden, umfasst die Verhandlung, auf die wir vorbereitet sein sollten, gerade jene neunzig Prozent inklusive Gott, Natur und Seelen – und einen Schiedsrichter gibt es nicht.“109 Welche Rolle spielen nun aber die Anthropologen bei diesen Verhandlungen? Die „aus den Tropen heimgekehrten“ Anthropologen, schreibt Latour, wären hin und her gerissen gewesen zwischen Tradition und Moderne. Sie hätten es vermocht, fremde Kulturen als Ganze zu studieren aber nur die Ränder ihrer eigenen in den Blick bekommen. ‚Zu Hause’ wären ihnen nur „besondere“ Aspekte gegenwärtiger Gesellschaften zugänglich gewesen.110 Gerade jene, die, wie Latour schreibt, „am meisten folkloristisch, archaisch oder oberflächlich“ erschienen, die auf jeden Fall nicht zentral für „moderne Gesellschaften“ gewesen wären, gerieten in das Spektrum ihrer Forschungen. Es schien zwei Formen der Existenz gegeben zu haben, eine anthropologisierbare und eine, die radikal „unanthropologisierbar“ war.111 Das ‚Zentrum’ der Moderne war nicht in den Blick zu bekommen. Nicht solange der Glaube an eine fertig vereinheitlichte Welt die Möglichkeit ausschloss, sich ihrer Zusammensetzung zu widmen. Die Anthropologen des Zeitgenössischen hätten sich also auf die zentralen Aspekte, die zentralen Wahrheitsproduktionsmechanismen der ‚nie modern gewesenen Modernen’, zu konzentrieren. Gleiches gilt für die Pädago-

107 108 109 110 111

| Ebd. 39. | Ebd. 40. | Ebd. 46. | Latour, 2007a. 13. | Ebd. 14.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 261 gische Anthropologie des Zeitgenössischen. Das heißt auch, sie muss sich vom Naturalismus und von dem auf ihm beruhenden Kulturalismus verabschieden. Die Natur in eine separate prä-existente Sphäre zu verbannen, schreibt Latour, sei spätestens zu dem Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen, als wir es zum ersten Mal öffentlich mit genetisch manipulierten Wesen zu tun bekommen hätten.112 Um sich den zentralen Wahrheitsproduktionsmechanismen zu widmen, bedarf es also des Agnostizismus in Bezug auf den Glauben einer bereits zusammengesetzten Natur. Wie bedeutsam der Verlust des „Mononaturalismus“113 für die Anthropologie ist, ist kaum abzuschätzen, denn mit ihm gehen ihr der Mensch und die Kulturen verloren. Das „Reich der Vernunft, dem durch die harte Arbeit der Kritik und rationaler Diskussion die einende Natur zugänglich“ gewesen sei, habe die Frage der Bedeutung der Existenz nicht lösen können. Ein „befremdliches Paradox“, wie Latour schreibt, das „auf der ganzen Welt eine hektische Suche nach dem allgemeinen Menschenwesen“ ausgelöst habe, das einmal gefunden „nur Anlass zur Verzweiflung“ geboten habe, denn „wieder einmal“ hätte es sich als „bloße Natur: tierisch, biophysisch, genetisch, neuronal“ oder als „soziobiologisch-darwinistische Maschinerie“ ohne Bedeutung entpuppt.114 Der Widerspruch zwischen einer „einigenden, doch sinnlosen Natur“ und „bedeutungsüberladenen Kulturen,“ die nicht das Recht besessen hätten, über die objektive Realität zu herrschen, habe dazu geführt, dass der „‚Kultur’-Begriff“ geheiligt worden sei. Man habe damit begonnen, „Kulturen zu verehren, zu bewahren, zu respektieren, neu zu erfinden, gelegentlich sogar ganz aus dem Nichts zu erschaffen.“115 Eine Natur ohne Bedeutung bedürfe des „Kultur-Konservatismus“, um die „harsche Welt der Fakten und der Vernunft mit Werten und Leidenschaften zu verschönern, zu bereichern und auszuschmücken.“116 Latours Anthropologie verabschiedet sich vom wohl gemeinten Kulturalismus und einer „scheinheilige[n] Herablassung des kulturellen Relativismus“, dessen vorgewiesene Unterschiede vor der Folie einer bereits vereinigten Welt keinen Unterschied machen könne.117 „Es gibt keine Kulturen“, schreibt Latour, in seinem Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Eine Anthropologie, die „wirklich aus den Tropen zurückkehrt“, müsse ihre Methoden überdenken und auf dreifache Weise „symmetrisch“ werden. Sie müsse erstens „Wahrheiten und Irrtümer“ mit denselben Begriffen erklären, zweitens gleichzeitig die Produktion von menschlichen

112 113 114 115 116 117

| Latour, 2000b | Latour, 2004. 23. | Latour, 2004. 22. | Latour, 2004. 23. | Ebd. 25. | Ebd. 24.

262 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ und nicht-menschlichen Wesen studieren und drittens eine „Zwischenposition zwischen traditionellen und neuen Forschungsfeldern“ einnehmen, da sie „jede vorgängige Festlegung über einen möglichen Unterschied zwischen den Abendländern und den Anderen“ suspendieren würde. So verstanden verlöre die Anthropologie den Exotismus und ihr „ausschließliches Festhalten an den Kulturen oder den kulturellen Dimensionen“, sie gewinne jedoch die „Naturen“.118 Damit die Anthropologie in die Lage versetzt wird, „Einheit und Vielfalt anders zu verteilen,“ müsse der Schock des Multinaturalismus registriert und die herkömmlichen Konzepte von Natur und Kultur verabschiedet werden.119 Das Projekt der Vereinheitlichung („unification“) dürfe dabei nicht aufgegeben werden.120 Auch dies gilt für eine Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen. Die Anthropologie, betont Latour mit Hilfe eines Begriffs von Isabel Stengers, müsse diplomatisch werden. Dabei würde es nach wie vor um ‚anthropos’ und um ‚logos’ gehen aber nicht um eine modernistisch verstandene Wissenschaft vom Menschen mit ihrem verkürzten Verständnis von ‚logos’. Auch Diplomaten würden sich einem logos anschließen. Sie hätten die Gabe der Rede und einen guten Umgang mit Menschen („a way with people“), aber sie müssten Einheit und Vielheit auf andere Art verteilen als die Anthropologen der alten Ordnung, die Vielfalt respektieren konnten, weil sie von unhinterfragter, solider Wissenschaft wussten, was Einheit war. Die Einheit schreibt Latour, liege aber nicht hinter uns, sondern vor uns. „Natur“, schreibt Latour, sei der „umfassendste politische Prozess,“ den es je gegeben habe, denn in ihr wäre alles versammelt, was „der Gesellschaft ‚dort unten’ entgehen soll.“121 „Natur als Supermacht“ stehe „der Gesellschaft“ gegenüber. Diesem Schema setzt Latour das „Kollektiv“ entgegen, in dem menschliche und nicht-menschliche Wesen versammelt sind.122 Das Kollektiv widme sich der „Frage nach der Anzahl der zu berücksichtigenden Entitäten und würde durch „tastende Versuche erkunden, welche von ihnen zu integrieren sind.“ Der Terminus Experiment („expérience collective“123) sei insofern für diese Versuche angebracht, als er impliziere, dass sie „instrumentiert und rar“

118 | Latour, 2002. 139. 119 | Latour, 2007 120 | Ebd. 121 | Ebd. 122 | Latour 2000. 365. 123 | Der Übersetzer Gustav Roßler merkt an, dass im Französischen bei expérience collective immer auch kollektive Erfahrung mitschwinge, auch wenn hier deutlich wäre, dass in erster Linie das Experiment gemeint sei. Latour 1999. 291.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 263 seien, „schwer zu reproduzieren, stets umstritten“, „aufwändig“ und mit einem Ergebnis, das der Entzifferung bedürfe.124 Der Slogan des Kollektivs, schreibt Latour, könnte lauten: „Keine Realität ohne Repräsentation“.125 Der Anthropologie kommt als Logos die Aufgabe zu, für Repräsentation und Realität zu sorgen. Als „vielgestaltiger griechischer Begriff“ wird Logos bei Latour die Bedeutung von Artikulation verliehen. Er bezeichne alle Sprachverlegenheiten, die im Zentrum der öffentlichen Sache stehen. Als „Synonym für Übersetzung“ definiere er sich „weder durch Klarheit noch durch eine besondere Aufmerksamkeit für die Sprache, sondern durch die Schwierigkeit, die Bewegung des Kollektivs bei der allmählichen Zusammensetzung der gemeinsamen Welt zu begleiten.“126 „It is no longer western anthropological science which speaks of other cultures while avoiding speaking of itself, or sheds tears while it watches other cultures disappear and be replaced by the inevitable cold surfaces of modernisation, or even that is delighted to see all these cultures melt slowly in the common crucible of planetary reason. No, not at all. Now for the diplomat, the project is at the same time less grandiose, riskier but also more vital and less condescending: how to survive a bit longer?“127 Um von einer wissenschaftlichen Anthropologie zu einer diplomatischen Anthropologie überzugehen, müsse vom modernistischen Logos zum nichtmodernistischen übergegangen werden. Wir müssten uns fragen, wo genau der alte Westen sei. Anthropologen müssten nicht mehr ihre Disziplin auf ihre koloniale, imperialistische, chauvinistische und rassistische Vergangenheit befragen, wie dies noch in vielen Fakultäten in Nord Amerika geschehe. Denn das currente, dringliche Problem sei es, europäische Differenz zum Existieren zu bringen im Kontext des Projekts einer planetarischen Konvokation. Eine Einberufung, die wohl keinen guten Anfang hatte aber dennoch fortgeführt werden sollte.128 Die diplomatische Wende der Anthropologie macht sie zu einem Projekt, was sich nicht nur um die Frage des Wissens dreht, sondern zu einer Frage wird, wie wir „nachhaltig unsere Existenz“ sichern können. Die Europäer hätten die Moderne ‚erfunden’, nun sei es wichtig, dass sie widerriefen, dass sie sie zurückholten, in der Art, wie Unternehmen ihre defekten Produkte zurückriefen. Ein solcher Rückruf werde nicht unternommen, um dem Produkt zu schaden oder den Marktwert des Unternehmens zu senken, im Gegenteil, ist ein Rückruf ein Zeichen, dass Sorge getragen wird für die Qualität

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| Latour 2001. 291. | Latour 2000. 376. | Latour 2001. 292. | Latour 2007. 19f. | Latour 2007a. 20.

264 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ der Produkte und die Sicherheit der Benutzer. Es ist eine Demonstration von Initiative und eine Medienaktion, die Vertrauen erwecken soll.129 Ein solcher „Rückruf der Moderne“ impliziere zwei miteinander verbundene Aufgaben für die Anthropologie. Erstens „endlich die eigene Geschichte zu schreiben“ und zweitens nach einer Umwandlung mit einem „Friedensangebot“ wieder in Erscheinung zu treten.130 Sich dieser ersten Aufgabe zu stellen, bedeutet für Latour, sich den Übersetzungsketten, den unterschiedlichen Existenzmodi, den unterschiedlichen variablen Ontologien zu widmen, die in den verschiedenen Feldern Wahrheit konstituieren. Zutiefst anthropologisch erscheint Latours Forderung die unterschiedlichen Existenzmodi zu respektieren und in ihrer Eigenlogik zu verstehen. Respekt mutmaßt er, könne der „ultimative Wert“ der Anthropologie sein. Sie sei daher keineswegs eine „erschöpfte Disziplin“ am Ende ihres Lebens, sondern hätte ihre ganze Zukunft noch vor sich.131 Die Zukunft, die Latour ihr einräumt, ist die einer aktiven Teilhabe an der Umgestaltung dessen, was Menschsein bedeutet.132 Diese Umgestaltung fällt ebenso in den Zuständigkeitsbereich der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen. Ihr Territorium scheint dabei voller Unwegbarkeiten. Die Unsicherheiten, auf denen Latour in Reassembling the Social den Sozialwissenschaftlern rät, ihre Untersuchungen aufzubauen, scheinen sich im Bereich des Pädagogischen zu verdreifachen. Aus dieser Situation ergibt sich allerdings auch eine dreifache Chance: Erstens kann sich die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen wie die Soziologie an der Re-Assemblage des Sozialen beteiligen, zweitens vermag sie wie die Anthropologie kontemporäre Ordnungen zu beschreiben und durch diplomatische Anstrengungen zu einem Rückruf der Moderne beizutragen, und drittens kann sie darüber hinaus an jenen Bewegungen teilhaben, die tagtäglich an Kunstschulen, in Klassenzimmern, Hörsälen, Kindergärten, Fußballplätzen, Badeanstalten, Spielplätzen, Kinderzimmern etc. Himmel und Erde versetzen und auf diesem Wege an zahlreichen und vielfältigen Schauplätzen dazu beitragen, die gemeinsame Welt zusammenzusetzen.

Regeln und Prozesse Die dichte Beschreibung der Hypermedialen Ethnographie machte deutlich, dass ‚ethnographisches Wissen’ im sense&cyber Forschungszusammenhang

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| Latour 2007. 11. | Latour 2007. 20. | Ebd. | Latour 2008 c

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 265 zwar ‚kollaborativ’, ‚polyvokal’ und ‚multiperspektivisch’ sein sollte, dass sich die didaktische Wissensproduktion jedoch nicht kollaborativ, polyvokal oder multiperspektivisch gestaltete. Das ‚didaktische Wissen’, das in den Texten der Abschlussdokumentation seinen Niederschlag findet, ist nicht „demokratisch sozialisiert“. Es sind die Interpretationen, Beschwörungen und Setzungen von Individuen, die sich mehr oder minder bemühen, ihre Behauptungen mit ‚empirischem Material’ aus den Projekten in Verbindung zu bringen. Hier schließt sich die Frage an, ob sich pädagogisch-didaktisches Wissen überhaupt demokratisch sozialisieren lässt. Schließt das Wesen pädagogisch-didaktischer Vermittlungsprozesse aus, dass die Entitäten, die dort in Bewegung geraten, demokratisch repräsentiert werden? Kann mit Latours auf Whiteheads „Prozessmetaphysik“ basierendem Ansatz, wie Gill vermutet, in Bereichen nichts angefangen werden, in denen „normative Generalisierungen“ und „instrumentelles Gesetzeswissen“ zum Teil des Alltagsgeschäfts gehört? Wenn dies so wäre, dann müsste sich die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen auf jene Bereiche beschränken, in denen es darum geht zu untersuchen, wie pädagogisch-didaktische Wissensdinge beschaffen sind,133 wie sie erforscht werden134 und wie ihre Regeln und Maxime in die pädagogisch-didaktische Praxis übersetzt werden.135 Eine Beteiligung an der ‚Aufstellung’ pädagogisch-didaktischer Wissensdinge bliebe ihr verwehrt. Ein gewisses ‚Raushalten’ gehört zum Normenkanon ethnographischer Forschung in der Erziehungswissenschaft. Bei Hühnersdorf ist von der Gefahr die Rede, durch eine „normative Orientierung“ die „Möglichkeiten einer Versozialwissenschaftlichung zu verspielen.“136 Es gelte zu vermeiden, „wie in der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik eine Idee im Sinne eines Seinsollen von Erziehungswirklichkeit“ in die Forschung mit einzuführen.137 Die forschungspraktische Maxime des ‚Raushaltens’ wird an dieser Stelle in den Kontext eines ‚Krieges’ zwischen der „sozialwissenschaftlichen“ und der „geisteswissen-

133 | Zu diesen Wissensdingen zählen Quasi-Subjekte und Quasi-Objekte. Ethnographien, die sich den Quasi-Objekten pädagogisch-didaktischer Vermittlungen widmen, liegen m.W. noch nicht vor. Bemerkenswerte Aufmerksamkeit ist in diesem Bereich den Adressaten pädagogischer Aktionen zuteil geworden. Siehe hierzu u.a. Ralf Bohnsack et al. (Hg.) 2002: „Kinder- und Jugendkultur in ethnographischer Perspektive.“ In: Zeitschrift für qualitative Sozialforschung. Heft 1; und Georg Breidenstein, Helga Kelle (1996): „Kinder als Akteure. Ethnographische Ansätze in der Kindheitsforschung.“ In: Zeitschrift für Sozialforschung und Erziehungssoziologie (ZSE) 16.1: 47-67 sowie J. Zinnecker (1981): „Jugendliche Subkulturen. Ansichten einer künftigen Jugendforschung.“ In: Zeitschrift für Pädagogik, 27. Jg. 421-440. 134 | Ein Versuch in dieser Richtung wurde hier gemacht. 135 | Ein gutes Beispiel für eine Ethnographie in diesem Bereich findet sich bei Kalthoff/Kelle (2000) 136 | Hühnersdorf 2007. 43. 137 | Ebd.

266 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ schaftlichen Pädagogik“ gestellt. Dadurch wird eine Norm verhärtet, eine forschungspraktische Maxime zum absoluten Prinzip erklärt und eine Front verfestigt. Gegen die forschungspraktische Maxime ist nichts einzuwenden. Sie kommt in vielen ethnographischen Studien in der Erziehungswissenschaft erfolgreich zur Anwendung.138 Erhebt man jedoch das ‚Raushalten’ zum absoluten Prinzip, müsste man das Forschen gänzlich sein lassen, denn, wie in den Kapiteln zur Krise der Repräsentation und Jenseits der Krise dieser Arbeit dargelegt, sind die Forschenden nolens volens in das pädagogische Geschehen mit all ihren Vorstellungen und Ideen involviert. Von der „Unmöglichkeit nicht teilzunehmen,“ spricht auch Cloos,139 und Müller betont, wie schwer es sei, die Regel, sich nicht pädagogisch normativ zu verhalten, in Situationen zu berücksichtigen, in denen „doing-generation“ zum Teil des Tagesgeschäfts gehöre.140 Die „physische Anwesenheit von Erwachsenen“, beschreiben Kalthoff und Kelle, hätten in der von ihnen beobachteten Situation bereits als „Signal für ‚Unterricht’“ fungiert und ausgereicht, um „ein Verhaltensrepertoire zu aktivieren, das Unterricht als solchen konstituiert und deutlich von den Standards unterscheidet, die wirken, wenn Schüler und Schülerinnen unter sich bleiben.“141 Zinnecker schildert verschiedene Formen gegenseitigen ‚Einmischens,’ die von „beteiligter Beobachtung“ über die Involvierung von Lehrern und Schülern als „Co-Ethnographen“ bis zum Einsatz ethnographischer Methoden im Zusammenhang von Schulevaluationen reicht.142 Kalthoff schildert die „Vereinnahmung“ des Forschers in einer pädagogischen Situation, in der er als Zeuge und Schiedsrichter zwischen Schülern und Lehrer angesprochen wird.143 Cloos beschreibt das pädagogische Feld mit Honig und Neumann als eines, in dem „permanent“ „Diskurse“ geführt würden darüber, was pädagogisch gut oder schlecht sei. Feldforscher in pädagogischen Feldern würden unweigerlich in diese Diskurse mit einbezogen. Maeder beschreibt das „Wissen um die Bewältigung der Praxis des Lehrens und Lernens“ als „produktive[n] Anknüfpungsund Ausgangspunkt“ ethnographischer Forschung in pädagogischen Feldern und fordert die Beteiligung von Pädagoginnen an der Produktion erziehungswissenschaftlichen Wissens,144 und Fiebertshäuser hebt hervor, dass ethno-

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| U.a. auch bei Bolling/Kelle. 2007. | Cloos. 2007 211. | Müller. 2007. 80. | Kalthoff/Kelle. 2000. 695. | Für einen Überblick vgl. Zinnecker. 2000. 385f. | Kalthoff. 1997. 258f. | Maeder 2007. 161.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 267 graphische Forschung im Bereich der Pädagogik im Dienste der Verbesserung pädagogischer Praxis stünde. 145 Der klassischen ethnographischen Frage,„Was ist hier eigentlich los?“ („What the hell is going on?“ (Geertz)) folgt im Bereich der Pädagogik die Frage: „Wie könnte es besser laufen?“ Wer sich wann und in welcher Form dieser Frage widmet, ist je nach den partikularen Forschungsbedingungen, den Interessen der Auftraggeber, den Forschern und der Beforschten unterschiedlich. Im Falle des im vierten Kapitel beschriebenen Forschungskontextes war geplant, diese beiden Fragen in der Hypermedialen Ethnographie anzugehen. Mit dem Versuch, die ethnographische Autorität auf die beteiligten Parteien zu verteilen, ist auch der Versuch gescheitert, die Autorität über die didaktische Wissensproduktion demokratisch zu sozialisieren. Die Deutungshoheit blieb in den Händen der Erziehungswissenschaftler. Grundsätzlich scheint aber die Möglichkeit einer Gestaltung ethnographischer Forschung als kollaborativ angelegte pädagogisch-didaktische Wissensproduktion gegeben. Breidenstein fordert, dass sich pädagogisch, ethnographische Forschung „in Auseinandersetzung mit und in Spannung zu didaktischem Denken“ entwerfen müsse:146 „Die Didaktik denkt den Unterricht von seinen Zielen her und muss dies auch tun. Dies ist notwendig – nicht zuletzt mit Blick auf die Lehrerbildung: Es geht um die Qualität von Unterricht, um die Planung von Unterricht, um die unzähligen Entscheidungen, die die Lehrperson im Unterrichtsverlauf zu treffen hat. Diese Entscheidungen mit Blick auf die Ziele schulischen Unterrichts zu reflektieren und womöglich zu begründen, macht das Anliegen der Didaktik aus. Man sieht, welches Spannungsverhältnis zu einer praxistheoretischen Perspektive auf Unterricht sich hier ergibt: Die Didaktik besteht auf der Intentionalität des Lehrens, sie versucht die Entscheidungshaltigkeit und damit die Begründbarkeit pädagogischen Handelns zu erhöhen. Demgegenüber [fragt] eine praxistheoretisch orientierte Forschung […] stattdessen nach den inkorporierten Routinen und dem impliziten praktischen Wissen der Teilnehmer, das jene Praktiken konstituiert. Dieses Spannungsverhältnis zwischen einem pädagogisch-didaktischen Blick auf Unterricht und einem praxistheoretisch-ethnographischen ist nun m.E. nicht aufzulösen, sondern bewusst als solches zu handhaben und zu gestalten.“147 Die vermeintliche Inkompatibilität zwischen Prozessorientierung in der Forschung und der Erstellung normativen didaktischen Wissens darf nicht dazu führen, Versuche zu verhindern, die sich im Sinne einer demokratischeren Gestaltung pädagogisch-didaktischer Wissensproduktion bemühen, diese beiden Pole miteinander in Verbindung zu bringen. Mit Breidenstein bin ich

145 | Fiebertshäuser. 2007. 60. 146 | Breidenstein. 2007. 115f. 147 | Ebd.

268 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ der Ansicht, dass die Anerkennung des Spannungsverhältnisses von Prozessorientierung und der Produktion von Regelwissen bei diesen Versuchen als Ausgangspunkt dienen muss. Der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen kommt die Aufgabe zu, dieses Spannungsverhältnis in ethnographischen Studien zu erforschen und Wege kollaborativer pädagogisch-didaktischer Wissensproduktion aufzuzeigen. Dieser zentrale Aspekt widerspricht einer in der deutschen Latour-Rezeption oft vertretenen These der Unvereinbarkeit zwischen Prozessorientierung und zu erstellendem Regelwissen, aus der geschlossen wird, dass Latours Ansatz seinen Nutzen nur in einer Form der Kritik haben könne. Bei Gill heißt es: „Meine zentrale These lautet nun, dass die Überwindung des Dualismus von Geist und Materie nur um den Preis des Verzichts auf instrumentelles Gesetzeswissen und normative Generalisierung zu gewinnen ist. So interessant und abgründig die Whitehead’sche Alternative auch sein mag, gerade aus ihrer Begründung wird klar, dass die Standardmetaphysik so betrachtet zwar auf einer Täuschung beruht, gleichwohl aber für die instrumentelle Beherrschung der Welt wie für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung nützlich ist. Wir benötigen Fiktionen der Regelmäßigkeit in der Natur und der Verlässlichkeit in der Gesellschaft als Handlungsgrundlage – auch wenn diese Fiktionen nur ‚bis auf Weiteres’ gelten, also brüchig sind. Die Aufgabe der herkömmlichen Naturwissenschaften wie der herkömmlichen Geisteswissenschaften besteht nun darin, uns hier mit Fiktionen zu versorgen, die haltbarer und leistungsfähiger sind als die Abstraktionen und Typisierungen, die das Alltagsbewusstsein ohnehin produziert. Diese Fiktionen sind meines Erachtens unerlässlich für den Umgang mit der Natur, die individuelle Orientierung und die soziale Kooperation. Daher wird die Akteur-Netzwerk-Theorie den Dualismus und die darauf gründenden Fiktionen nicht überwinden und die Welt nicht auf der Whitehead’schen Prozessmetaphysik neu errichten können. Aus diesem Grund kann sich die Rolle der Akteur-Netzwerk-Theorie sinnvollerweise nur auf Kritik beschränken: Die Fiktionen als solche deutlich zu machen und damit ihre Dogmatisierung und den daraus resultierenden Terror der Realabstraktion in Schach zu halten.“148 Die Position, die hier beschrieben wird, erinnert an das von Sloterdijk und Gesa Müller von der Haegen für die von Latour und Weibel kuratierte Ausstellung Making Things Public entworfene Pneumatische Parlament.149 Ein Parlament zum Aufblasen, fertig inklusive Innenausstattung in 24 Stunden, das bei Bedarf nach Krieg und Verwüstung vom Flugzeug abgeworfen werden kann,

148 | Bernhard Gill (2008): „Über Whitehead und Mead zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Die Überwindung des Dualismus von Geist und Materie – und der Preis, der dafür zu zahlen ist.“ In: Georg Kneer et al. (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main. 47-76. 49. 149 | Peter Sloterdijk, Gesa Mueller von der Haegen: „Instant Democracy: The Pneumatic Parliament®“ In: B. Latour, P. Weibel: Making Things Public. Atmospheres of Democracy. MIT Press, London. 952-958.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 269 um eine demokratische Ordnung aus dem Staub entstehen zu lassen. Wie soll man sich nun die Wüste vorstellen, auf die eine fertige „Prozessmetaphysik“ abzuwerfen wäre, und könnte sie dann wirklich kein „instrumentelles Gesetzeswissen“ und keine „normativen Generalisierungen“ „gewinnen,“ um die „instrumentelle Beherrschung der Welt“ und die „Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung“ zu gewährleisten?150 Nun, dann hätte diese Wüste zumindest dies mit unserer Welt gemein. Die Welt lässt sich nicht neu erfinden, ein Parlament oder eine Metaphysik allein in der Wüste bringt keine neue Ordnung hervor. Und die, die es gilt, mit- und umzugestalten, zeichnet sich nicht dadurch aus, dass „normative Generalisierungen“ und „instrumentelles Gesetzeswissen“ die „Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung“ und die „instrumentelle Beherrschung der Welt“151 gewährleisten. Wäre dies so, so bräuchten wir nur die richtigen Regeln und guten Gehorsam, um die Welt „instrumentell zu beherrschen“ und die „soziale Ordnung“ „aufrecht“ zu erhalten. Für Latour gibt es keine soziale Ordnung, die bereits besteht, um „aufrecht“ erhalten zu werden. Der größenwahnsinnige Paranoia auslösende Blick des ‚Big Brother’ interessiert ihn nicht. Dem Panoptikum setzt Latour das Oligoptikum entgegen: „Wie jeder Leser Michel Foucaults weiß, ist das ‚Panoptikum’ – jenes ideale Gefängnis, das eine totale Überwachung der Gefangenen erlaubt, wie es zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Jeremy Bentham erdacht wurde – eine Utopie geblieben, das heißt eine Welt des Nirgendwo, aus der sich die doppelte Krankheit totaler Paranoia und totalen Größenwahns speist. [Es ist klar, dass Bentham selbst von beiden Krankheiten stark befallen war. ... Ein solcher Zusammenhang ist weniger klar im Falle von Foucaults ironischer Verwendung der Utopie des Panoptikums in Michel Foucault (1976) Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses.] Nach Utopia halten wir jedoch nicht Ausschau, sondern nach Orten auf der Welt, die konkret und vollständig erforschbar sind. Oligoptiken sind genau solche Orte, denn sie leisten das genaue Gegenteil von Panoptiken: Sie sehen ganz eindeutig zu wenig, um den Größenwahn des Inspektors oder die Paranoia des Inspizierten zu nähren, doch was sie sehen, sehen sie gut – daher die Verwendung dieses griechischen Worts, mit dem auch ein Ingredienz bezeichnet wird, das gleichzeitig unerlässlich ist und in winzigen Mengen vorkommt. [Oligo-elements: Spurenelemente. A.d.Ü.] Von Oligoptiken aus sind robuste, aber extrem schmale Ansichten des (verbundenen) Ganzen möglich – solange die Verbindungen halten. Den absolutistischen Blick von Panoptiken kann offenbar nichts gefährden, weshalb sie auch von den Soziologen so geliebt werden, die davon träumen, im alles überblickenden Zentrum von Benthams Gefängnis zu sitzen; dagegen kann der winzigste Käfer Oligoptiken erblinden lassen.“152

150 | Gill, Ebd. 151 | Ebd. 152 | Bruno Latour (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 312f.

270 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Auch Gill scheint einer jener Soziologen zu sein, die Gesellschaft als ontischen Bereich betrachten, der von ihnen aus ‚god’s eye’ Perspektive geschaut werden kann. Die Gesellschaft sei als prä-existente Sphäre erfunden worden, um Politik abzukürzen, schreibt Latour in Anlehnung an Baumann.153 Erschöpft von fast einem Jahrhundert des Aufruhrs hätten französische Soziologen die Zusammensetzung der Gesellschaft als ihre Aufgabe verstanden, als einzige Alternative zu den chaotischen Versuchen, den „body politic“ über politische Wege zusammenzusetzen. Entweder man hätte eine Gesellschaft, und Soziologen könnten, wie August Comte dies als sein Projekt gesehen habe, die Rolle der Legislatoren einnehmen, um schmerzlose Veränderungen zu planen und zu managen, oder man überließe dem body politic die Aufgabe, sich um die komplexe Maschinerie politischer Repräsentation zu kümmern und hätte Revolutionen ohne Ende. Gesellschaften, schreibt Latour, könnten nicht revolutioniert werden, denn sie seien ja gerade erfunden worden, um Revolutionen zu verhindern. Auch in jenen Ländern, in denen in jüngster Zeit um die Einrichtung repräsentativer Regierungen gekämpft worden sei, wie in Weißrussland oder der Ukraine, sei es um die Institution des body politic gegangen und nicht darum, Gesellschaft zu subvertieren.154 Den „politischen Körper“ zu verändern, um zu repräsentativen Regierungsformen zu gelangen, ist, wie Latour im Parlament der Dinge darlegt, eine auf Dauer geschaltete Aufgabe.155 Diese Aufgabe hat nichts mit jenen Revolutionen gemein, die Europa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert prägten. Sie ist als Zusammensetzung zu sehen und nicht als blutiger Kampf. Als Re-Design statt als Revolution. Ein Re-Design des Bestehenden wird sowohl von Sloterdijk („Dasein ist Design“) als auch von Latour betont: „Designing is the antidote to founding, colonizing, establishing, or breaking with the past. It is an antidote to hubris and to the search for absolute certainty, absolute beginnings, and radical departures.“156 Sloterdijks Sphären und Latours Netzwerke zeigen auf, dass die Art und Weise des „in der Welt seins“157 „rematerialisiert“158, „umentworfen“159 werden kann und wird.160 ‚Natur’ und ‚Gesellschaft’ sind bei Latour nicht einfach gege-

153 | Latour. 2006a. 154 | Ebd. 155 | Latour. 2001. 156 | Latour. 2008b. 5. 157 | Ebd. 8. 158 | Ebd. 9. 159 | „to design is always to redesign“ heißt es bei Latour, Ebd. 5. 160 | „Peter and I have proposed to introduce, each in his own way, two sets of concepts, one coming from spheres and the other from networks. And let me say at the beginning that I have to agree with Peter that what is usually called networks is an ‚anemic’ conjunction of two intersecting lines that are even less

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 271 ben, vielmehr finden an diversen Schauplätzen ständig Materialisierungsprozesse von ‚Natur’ und ‚Gesellschaft’ statt. Diese vielen Schauplätze, sind, wie Latour betont, „konkret“ und „erforschbar“. Diesen „Oligoptiken“ gebührt die Aufmerksamkeit der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen. An den winzigen, unzähligen Stellen pädagogisch-didaktischer Vermittlung und denen ihrer Erforschung setzt die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen ihre ethnographischen Projekte an, um die Re-Materialisierungen, die Prozesse des Entwerfens und Umentwerfens, zu begleiten. Wie ein Objekt von Grund auf entsteht, welche Ingredienzen es braucht, um aus Versammlungen, aus Dingen, Objekte entstehen zu lassen, kann erst post hoc entschieden werden, und selbst dann ist es, wie Latour in Bezug auf die Rekonstruktion der explodierten Raumfähre ‚Columbia’ klar macht, unmöglich, all der notwendigen Teile ansichtig zu werden, selbst unter Zuhilfenahme von digitalen CAD Files. Die „Teile,“ die mit der NASA und ihrer Organisation zu tun hatten, wurden durch sie nicht sichtbar, und gerade jene „Teile“ hatten großen Einfluss auf den Prozess der endgültigen Konstruktion und das verlässliche Funktionieren der Columbia. Hier sieht Latour die Grenzen der dichten Beschreibung: „Perhaps this is where we meet the limit of the ‘thick description of things.’We know how to provide a „thin description“ of an entity’s idealized material aspects; […] we are finally starting to learn how to give a post hoc narrative thick description of what should have been visible in the gathering that brings a thing together (similarly, after the shuttle’s explosion a tough inquiry was pursued). And yet we still don’t know how to assemble, in a single, visually coherent space, all the entities necessary for a thing to become an object.“161 Die ‚dichte Beschreibung’ kann nicht dicht genug sein, um Objekte entstehen zu lassen. Ihr Modus ist post hoc. Die Anthropologin des Zeitgenössischen tut nicht so, als könne die Welt aus dem Nichts aufgebaut werden. Sie wartet nicht auf Ordnungen, die vom Himmel fallen, auch nicht auf so verführerische und schöne wie das Pneumatische Parlament. Um ‚pädagogisch’ zu werden, wird ihre Begleitung kollektiver Experimente immer auch eine Reflektion des ‚Sein-Sollens’

plausible than the vast global space of no space that it pretends to replace. Fortunately my own notion of network, or rather of actor-network, has borrowed more from Leibniz and Diderot than from the Internet, and, in a way, one could say that Peter’s spheres and my networks are two ways of describing monads: Once God is taken out of Leibniz’s monads, there are not many other ways for them but to become, one the one hand spheres and, on the other, networks. […] Spheres and networks might not have much in common but they have both been elaborated against the same sort of enemy: an ancient and constantly deeper apparent divide between nature and society.“ Bruno Latour. 2009a. 139f. 161 | Latour. 2007c. 142.

272 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ beinhalten, denn, wie oben geschildert, zeichnet sich die ethnographische Praxis im Bereich der Pädagogik gerade dadurch aus, dass sie sich den Fragen, was pädagogisch-didaktisch gut oder schlecht sei, nicht entziehen kann. Geleitet wird diese Art der Forschung von einem Logos, der nicht Verantwortung durch ein technizistisches Regelverständnis kurzschließt. Genau dies geschieht, wenn man, wie Gill, Regeln und Handlungsprozesse in unterschiedliche Sphären aufteilt und zwischen ihnen eine einseitige Abfolge inszeniert. Dies ist das Schema von Gehorsam, das Verantwortung ausschließt. Bei Gamm heißt es: „Die moralspezifische Ungewissheit liegt darin, dass Prinzipien, Regeln, Orientierungsmuster u.ä. der Singularität der moralischen Herausforderung nicht gerecht werden können, dass kein normativer Code oder keine moralische Semantik mich eindeutig anzuweisen vermögen, wie ich handeln soll. Erst diese Ungewissheit erhebt den Handelnden in den Rang eines verantwortlichen Subjekts.“162 Mit Plessner betont Gamm das „Unergründliche“, das sich durch „den Vollzug oder das Performative unseres Handelns und Sprechens immer aufs Neue“ einstellen würde.163 Die Tatsache der „Performativität“ würde es ermöglichen, jede „Schließung oder Totalisierung“ wieder aufbrechen zu können. Plessner sei, wie Gamm hervorhebt, der „praktischen Philosophie“ verpflichtet gewesen und hätte erkannt, dass „Humanitas“ sich theoretisch nicht einholen ließe. „Wir“ könnten „uns nicht anders als im Horizont praktischer Vernunft begreifen“, heißt es bei Gamm.164 In der Erprobung einer ethnographischen Praxis, im Rahmen einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen, die sich bemüht, sowohl den Quasi-Objekten als auch den Quasi-Subjekten eine Möglichkeit des Widerspruchs zu öffnen, wird sich immer wieder aufs Neue zeigen, wie sich „Vernunft“ ohne den „Luxus des Naturalismus“ gestaltet.165 Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen kehrt weder zu einer „normativen Anthropologie“ zurück, die aus der vermeidlichen ‚Natur des Menschen’ Normen pädagogischen Handelns abzuleiten sucht, noch versucht sie sich im unmöglichen Unterfangen, eine „normfreie“ Position einzunehmen. Vielmehr ist die Anthropologin des Zeitgenössischen bemüht, ihre Normen und Werte transparent zu machen, sie in den Verhandlungen mit den involvierten Parteien in die Waagschale zu werfen und sie zu testen.

162 163 164 165

| Gamm. 1998. 254. | Gamm. 2006. 110. | Ebd. | Latour. 2004. 51.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 273 Der Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen kommt die Aufgabe zu, innerhalb experimenteller ethnographischer Settings zu versuchen, pädagogisch-didaktisches Wissen anders und demokratischer zu sozialisieren. Sie begleitet die kollektiven Experimente im Bereich der Pädagogik und sorgt dafür, dass Widerspruch möglich ist, Widerspruch von Seiten der Quasi-Objekte und der Quasi-Subjekte. Ihre Sorge gilt in dreifacher Weise der Repräsentation: Erstens in Form des Bemühens um die Objektivität und Wissenschaftlichkeit ihrer Herangehensweise, zweitens in Form des Bemühens um die Beschaffenheit der Wesen, die in pädagogisch-didaktischen Prozessen vergegenwärtigt werden, und drittens in Form des Bemühens um die demokratische Sozialisation des im Forschungsprozess aufgestellten Wissens. Diese Sorge und dieses Bemühen gehen mit einer Vervielfältigung der Schauplätze pädagogischdidaktischer Wissensproduktion und einer Multiplikation der in ihr involvierten Akteure einher. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen, die ich hier ausrufe, wird ohne demokratische Sozialisation kein Weiterleben haben. Sie kann kein Projekt einer Person sein, sondern muss viele Kollaborateure an den unterschiedlichsten Orten rekrutieren, viele kurzsichtige, detailversessene, Spurenschnüffelnde AmeisenarbeiterInnen, die den Boden des Pädagogischen langsam aber sicher umgestalten.

Pädagogische Anthropologie nach dem ‚Tode des Menschen’ Der Mensch ist eine junge Erfindung, stellt Foucault in Die Ordnung der Dinge (Les mots et les choses 1966) fest. In seiner Archäologie der Humanwissenschaften (so der Untertitel) legt er die Ordnungsschemata frei, die in den unterschiedlichen Epistemen, von der Renaissance über das klassische Zeitalter schließlich in der Moderne die Figur des Menschen erscheinen lassen. Am Schluss des Buches heißt es: „Eines ist auf jeden Fall gewiss: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Wenn man eine ziemlich kurze Zeitspanne und einen begrenzten geographischen Ausschnitt herausnimmt – die europäische Kultur seit dem sechzehnten Jahrhundert- , kann man sicher sein, dass der Mensch eine junge Erfindung ist. Nicht um ihn und um seine Geheimnisse herum hat das Wissen lange Zeit im dunkeln getappt. Tatsächlich hat unter den Veränderungen, die das Wissen von den Dingen und ihrer Ordnung, das Wissen der Identitäten, der Unterschiede, der Merkmale, der Äquivalenzen, der Wörter berührt haben – kurz inmitten all der Episoden der tiefen Geschichte des Gleichen - , eine einzige, die vor anderthalb Jahrhunderten begonnen hat und sich vielleicht

274 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ jetzt abschließt, die Gestalt des Menschen erscheinen lassen. […] es war die Wirkung einer Veränderung in den fundamentalen Dispositionen des Wissens. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwanden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“166 Foucaults Diktum vom ‚Tode des Menschen’ stellt Rabinow in Zusammenhang mit Foucaults epochalem Geschichtsverständnis. Rabinow legt nahe, dass er sich von beidem gleichermaßen verabschiedete: „In Les mots et les choses identifizierte Michel Foucault drei miteinander nur lose und unvollständig verflochtene Diskurse, die am Ende des klassischen Zeitalters ein Objekt namens Mensch konstituierten – ‚l’homme’. Diese Figur taucht an der Schnittstelle dreier Bereiche auf – Leben, Arbeit, Sprache - , die ein vermeintlich souveränes Subjekt konstituieren. Die Doppelung in ein transzendentales Subjekt und ein empirisches Objekt, die daraus resultierende Dynamik und losen Verknüpfungen begründen die Form dieses Wesens. 1966 vertrat Foucault ein epochales Verständnis von Mensch und Moderne. Am Ende seines Buches deutete er an, dass die Gestalt des Menschen von einer nahe bevorstehenden, neuen Konfiguration der Sprache hinweggespült werde ‚wie ein Gesicht im Sand am Ufer des Meeres’. Aus heutiger Sicht lässt sich erkennen, dass sich Foucaults Prophezeihung nicht bewahrheitet hat: In ihrer Modalität als poiesis hat sich die Sprache eben nicht zu jenem Ort radikaler Transformation entwickelt, die dieses Wesen, den Menschen, zum Verschwinden gebracht hätte, wie Foucault es angedeutet hatte. Auch hat sich der Mensch nicht in einen neuen Wesenstypus verwandelt, wie es Gilles Deleuze in seinem Buch über Foucault prophezeite. Zu seiner Prognose vom „Ende des Menschen“ kehrte Foucault zwar nie explizit zurück, doch modifizierte er sein Verständnis der Moderne als Epoche. In seinem Essay „Was ist Aufklärung?“ bemühte er sich, eine neue philosophische Beziehung zur Gegenwart zu schaffen; eine Beziehung, die die Welt nicht mittels des analytischen Rasters der Epoche zu begreifen sucht, sondern mittels einer bestimmten Forschungspraxis, die auf dem Ethos der Gegenwartsorientierung, der Kontingenz und der Formgebung beruht.“167 An dieser Stelle besteht allerdings die Gefahr, zu dem Fehlschluss zu gelangen, dass Foucault sich gänzlich von der Idee vom ‚Tode des Menschen’ verabschiedet habe.168 Dies ist, wie auch aus einer späteren Präzisierung hervorgeht, nicht der Fall.

166 | Foucault, Michel (1971): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. [Original: 1966 Les mots et les choses]. 462. 167 | Paul Rabinow (2004): „Probleme der Anthropologie“. In: Carlo Caduff, Tobias Rees (Hg.): Paul Rabinow. Was ist Anthropologie? 21-39. 21. 168 | An anderer Stelle betont Rabinow diesen Aspekt von der Abkehr des Diktums vom ‚Tode des

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 275 „Wenn ich vom Tod des Menschen spreche, möchte ich allem ein Ende setzen, das dieser Erzeugung des Menschen durch den Menschen eine feste Erzeugungsregel, ein wesentliches Ziel vorgeben will. Als ich in der Ordnung der Dinge diesen Tod als etwas dargestellt habe, das sich in unserer Epoche vollzieht, habe ich mich getäuscht. Ich habe zwei Aspekte miteinander verwechselt. Der erste ist ein eher untergeordnetes Phänomen: die Feststellung, dass in den verschiedenen Humanwissenschaften, die sich entwickelt haben […] der Mensch am Ende seiner langen und verschlungenen Wege niemals sich selbst begegnet ist. Wenn es das Versprechen der Humanwissenschaften war, uns den Menschen zu entdecken, so haben sie es gewiss nicht gehalten; es handelt sich dabei eher um eine allgemeine kulturelle Erfahrung, nämlich die Konstitution einer neuen Subjektivität, die das menschliche Subjekt auf ein Erkenntnissubjekt reduziert. Der zweite Aspekt, den ich mit dem ersten verwechselt habe, besteht darin, dass die Menschen im Laufe ihrer Geschichte niemals aufgehört haben, sich selbst zu konstruieren, das heißt ihre Subjektivität beständig zu verschieben. Diese Serie von Subjektivitäten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ‚der Mensch’ wäre. Die Menschen treten ständig in einen Prozess ein, der sie als Objekte konstituiert und sie dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der sie als Subjekte umgestaltet. Das war es, was ich sagen wollte, als ich undeutlich und vereinfachend vom Tod des Menschen sprach.“169 Ricken weist darauf hin, dass der ‚Tod des Menschen’ ein philosophisch alter Topos ist, und betont, dass „die auch zum populären Slogan verkommene Proklamation des ‚Ende des Menschen’ bei Foucault gerade nicht auf eine restlose Verabschiedung ‚anthropologischer Reflexionen’ zugunsten systemischer oder strukturalistischer Denkfiguren“ sei, sondern „in der Thematisierung der in jeweilige Wissensformationen und Machtdispositive eingebundenen ‚Selbstverhältnisse’“ versuche, „zu ‚neuen Formen der Subjektivität’ zu gelangen“.170 Rabinow distanziert sich vom Foucault der Ordnung der Dinge und mutmaßt, dass sich „das Projekt der Suche nach dem Menschen - Leben, Arbeit und Sprache als logos der Moderne“ aufgelöst habe.171 Man müsse eingestehen, schreibt er, dass eine solche Suche nach einem logos der falsche Ansatz gewesen sei. Die Fülle und Heterogenität gegenwärtiger logoi hätte

Menschen’ mit Deleuze: “Deleuze convincingly claims that Foucault lost his wager that it would be language of the anthropological triad - life, labor, language – that would open the way for a new episteme, washing the figure of Man away like a wave crashing over a drawing in the sand. Foucault himself acknowledged that his prediction had been wrong when, a decade after the publication of The Order of Things, he mocked the „relentless theorization of writing,“ not as the dawning of the new age but as the death rattle of an old one.” Rabinow (1969a). 94. 169 | Michel Foucault (2005): Schriften. Dits et Ecrits. Band IV. 1980-1988. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. 93f. 170 | Ricken, 2004. 159. 171 | Paul Rabinow (2004): „Probleme der Anthropologie“. In: Carlo Caduff, Tobias Rees (Hg.): Paul Rabinow. Was ist Anthropologie? 21-39. 23

276 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ abermals Anthropos in Frage gestellt. Heute lasse sich feststellen, dass es sich bei Foucaults Menschen lediglich um eine Manifestation der Figur des Anthropos handele. Als Ausweg aus dieser Situation könne nicht die Suche nach „einer neuen, verborgenen, tieferen, vereinheitlichenden Rationalität oder Ontologie“ gelten. Die Alternative hieße auch nicht Chaos. Vielmehr gelte es, „Beobachtungs- und Analysemittel zu erarbeiten,“ die erlauben würden zu erkennen, „wie sich unterschiedliche logoi gegenwärtig zu kontingenten Formen zusammenfügen“.172 Rabinows Anthropologie beschränkt sich, wie dargelegt,173 auf ihre Rolle als akademische Disziplin, deren Aufgabe darin besteht, „neue“ Formen menschlichen Lebens zu erforschen, wobei bei Rabinow jene Schauplätze im Vordergrund stehen, an denen ‚Techniker allgemeiner Ideen’ im Bereich der Biotechnologie die Konstellationen dessen, was als ‚Leben’ gilt, neu bestimmen. In den Bereich der Pädagogik lässt sich dieser Ansatz schwer übersetzen. Er erscheint als Anthropologie, die sich der Formulierung eines Logos entzieht und versucht, die Problematik des ‚Todes des Menschen’ und die Aufgabe einer Neuformulierung des Humanismus jenen ‚Technikern allgemeiner Ideen’ zu überlassen, die es zu beobachten gilt. Ohne den philosophisch „alten Topos“ vom ‚Tode des Menschen’174 ist weder Foucaults Projekt noch jenes Latours denkbar. Und den Formulierungsversuchen gegenwärtiger pädagogischer Anthropologien erscheint er als obligatory passage point.175 Eine Verabschiedung von Theodizee und Anthropodizee findet sich auch bei Kamper: „Nietzsches Frage nach dem Menschen ohne Gott, der dennoch zu einer vernünftigen Ordnung der Welt taugt, steht noch immer an. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine Rückkehr zu religiösen bzw. pseudoreligiösen Traditionen, die durch vielfältige Mechanismen den Menschen automatisch aus dem vermeintlichen Weltmittelpunkt entfernen, nicht mehr möglich ist, seitdem das Prinzip der politischen Selbstbestimmung durch die bürgerliche Revolution historisch wirksam geworden ist und sich unaufhaltsam nach allen Seiten ausbreitet.“176 Obwohl sich die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen von der Kritik als Modus der Erkenntnisgewinnung abwendet, kann sie im Sinne Kampers insofern als ‚kritisch’ betrachtet werden, als sie sich von einer „Mittelpunktideologie“ verabschiedet und in diesem Sinne den „Tod des Menschen“ ernst nimmt. Bei Kamper heißt es:

172 173 174 175 176

| Ebd. 22f. | Siehe S. 77 ff. | Vgl. Ricken, 1999. 19f. | Vgl. Latour, 1993. 44. | Kamper, 1973. 60f.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 277 „‚Kritische’ Anthropologie hat dementsprechend ebenso wissenschaftslogische wie erkenntnistheoretische Aufgaben. Sie muss die wissenschaftsbegründenden ‚Transzendentalien’ bis in die konkrete Gestalt des jeweils vorherrschenden menschlichen Selbstverständnisses verfolgen. Hatte der kritische Impetus der ersten anthropologischen Reduktion, wie er etwa durch Feuerbach artikuliert wurde, der abstrakten Religion gegolten, dem Selbstverständnis des Menschen als eines heteronomen Wesens, das sich selbst seinen Projektionen opfert, so muss die gegenwärtig fällige Kritik sich gegen eine hypertrophierte Autonomie des denkenden Subjekts richten, das an die Stelle des gestorbenen Gottes eine die Welt verfügende abstrakte Menschheit gerückt hat. Denn jene weitverbreitete, solipsistische und individualistische Mittelpunktsideologie, die noch in der Kritik am Solipsismus und Individualismus vorherrscht, ist der deutlichste Ausdruck der nicht-reflektierten und nicht-reflektierenden Anthropologie, die dem Selbstverständnis des Menschen als eines ‚natürlichen Individuums’ immanent ist.177 Dabei ist für Kamper die „Möglichkeit des Widerspruchs“ ein zentrales Element seines Anthropologieentwurfs. An dieser Stelle könnte eine in Anlehnung an Latour formulierte Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen als Fortführung Kampers hier skizzierten Projekts gesehen werden. Latour hat in seinen Wissenschaftsstudien immer wieder eindrücklich die Art und Weise geschildert, wie technische und wissenschaftliche Wesen widersprechen. Diese Möglichkeit des Widerspruchs der Quasi-Objekte und Quasi-Subjekte, die die „Objektivität“ von Forschungsergebnissen für Latour erst ausmacht, bereitet den Weg dafür, das „Denken des Menschen“ über den „Horizont“ einer „ungeschichtlichen Subjekt-Objekt Metaphysik“ hinaus zu treiben. Noch einmal Kamper: „[…] eine Definition des Menschen, welche die Möglichkeit eines Widerspruchs durch den also Definierten nicht einkalkuliert, ist ein gewalttätiges Unternehmen, das letzten Endes jedes menschliche Selbstverständnis vernichtet. Zwar wird diese Reflexivität öfter konstatiert, doch selten zum wirklichen Ausgangspunkt der Reflexion genommen. In Explikation und Durchführung geht sie dann unter der Absicht, ein definitives Resultat zu erzielen, meist völlig verloren. Dadurch gibt die Reflexion, die auf einen differenzierten Sachverhalt angewiesen ist, ihren Rückbezug auf und verkümmert zur linearen, lediglich ausgreifenden Identifizierung. Einer Erkenntnis, die auf Verfügung aus ist, unterläuft, meist unbeabsichtigt, eine Deformation ihres Objektes auf Eindeutigkeit hin, insofern jeglicher Widerspruch die Verfügbarkeit beeinträchtigen würde. Im Falle des Menschen hat das eine verhängnisvolle Wirkung, weil hier das reflexive Selbstverständnis unabdingbar mit Freiheit korrespondiert. Anthropologie, die ihr Problem lediglich bewältigen will, verfehlt es nicht nur, sondern verändert auch den Menschen. Das liegt daran, dass Freiheit unter jeder Form von Bewältigung, auch der theoretischen, verschwindet, was wiederum auf die genannte Reflexivität des menschlichen Selbstverständnisses, zu der Anthropologie nolens volens hinzugehört, zurückwirkt. Mit der Vernichtung der Reflexivität vernichtet eine objektivierende Anthropologie sich selbst.

177 | Kamper, 1973. 46.

278 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ Die anthropologische Methode kann ihrer ‚Sache’ niemals äußerlich bleiben, selbst wenn sie entschieden ‚objektiv’ sein will.“ 178 Der Mensch, schreibt Kamper, sei bis zu einem gewissen Grade dazu verurteilt, so zu sein, wie er interpretiert werde, bzw. er habe bis zu einem gewissen Grade die Freiheit, sich zu interpretieren. Genau hier, in dem „gewissen Grade“, läge das Problem des Menschen und der Anthropologie, dessen radikale Fassung bisher nicht gelungen sei. Es bleibe unklar, so Kamper, welche Konsequenzen und Voraussetzungen die ‚Tatsache’ Anthropologie für das Selbstverständnis des Menschen bzw. in diesem habe, und es werde so lange unklar bleiben, wie das Denken des Menschen den Horizont einer ungeschichtlichen Subjekt-Objekt-Metaphysik nicht verlassen könne. Denn das Verhältnis von Anthropologie und Mensch, von Methode und Problem, d.h. das reflexive Verhältnis des erkennenden Menschen zu sich selbst, sei anders strukturiert als das Verhältnis von Mensch und Ding, von objektivierender Erkenntnis und erkanntem Objekt. Die Kriterien, die die Erkenntnis der Welt leiten, fielen für die Erkenntnis des Menschen, die immer Selbsterkenntnis sei, aus. Die im „Umgang mit antwortlosen Weltdingen geübte res cogitans“ versage vor dem Menschen, der Widerspruch zu leisten vermöge. Wie wenig „antwortlos“ die Weltdinge sind, hat Latour eindrucksvoll in seinen Studien dargelegt, und zwar dadurch, wie er betont, dass er sich jenen Vermittlungen widmete, die der „res extensa Modus“ verdeckt.179 Genau hier liegt die Stärke des Latourschen Ansatzes, denn er vermag die Vermischungen aufzuzeigen zwischen Menschen und Dingen, zwischen Epistemologie und Ontologie. Auch wenn der ‚Tod des Menschen’ in Latours Anthropologieentwurf in beispielloser Konsequenz mitgedacht erscheint, bedeutet dies nicht das Aus für einen Logos des Anthropos, sondern eine Öffnung und eine Aufforderung, sich an einer umfassenden Anthropologisierung zu beteiligen, das heißt, sich der „öffentlichen Sache“ der „allmählichen Zusammensetzung der gemeinsamen Welt“ zu widmen.180 Die „gemeinsame Unwissenheit von Regierenden und Regierten in der Situation des kollektiven Experimentierens“ macht Latour zufolge einen „Gesellschaftsvertrag“, der „angeblich die Menschen auf totalisierte Weise verbindet, damit sie eine Gesellschaft bilden“, unmöglich. Stattdessen schlägt er einen „Lernvertrag“ (pacte d’apperentissage) vor, der auf dieser „gemeinsamen Unwissenheit“ basiert.181 Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen ist diesem „Lernvertrag“ verpflichtet und

178 179 180 181

| Kamper, 1973. 33f. | Vgl. Latour, 2007c. 141. | Latour, 2001. 292. | Ebd.

PÄDAGOGISCHE ANTHROPOLOGIE DES ZEITGENÖSSISCHEN | 279 widmet sich, wie Ricken es für seinen Ansatz ebenso für wichtig erachtet, der Frage, „wie wir denn leben wollen.“182 Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen stellt diese Frage jedoch nicht nur vor dem Hintergrund eines auf Quasi-Subjekte reduzierten Menschenbildes, sondern vor dem Hintergrund eines um die Dinge erweiterten Menschen: „Wo sollen wir das Menschliche situieren? Als historische Aufeinanderfolge von Quasi-Objekten oder Quasi-Subjekten lässt es sich unmöglich durch ein Wesen, eine Essenz definieren, wie uns seit langem bekannt ist. Seine Geschichte und seine Anthropologie sind zu vielfältig, als dass es sich ein für allemal festlegen ließe. […] Die Wissenschaften vervielfältigen die neuen Definitionen des Menschen. Es gelingt ihnen weder, die früheren zu ersetzen, noch sie auf eine einzige zu reduzieren noch sie zu vereinheitlichen. Die Wissenschaften fügen Realität hinzu, sie ziehen keine ab. […] Sollen wir also feierlich den Tod des Menschen verkünden […] Aber nein […] Wenn das Menschliche keine stabile Form besitzt, ist es noch lange nicht formlos. Wenn wir es der Mitte annähern, statt es am einen oder anderen Pol der Verfassung festzumachen, wird es zum Mittler und sogar zum Kreuzungspunkt bieder. Das Menschliche bezeichnet nicht einen Pol der Verfassung, der zum Pol des Nicht-Menschlichen in Gegensatz stünde. Die beiden Ausdrücke „Menschen“ und „Nicht-Menschliches“ sind spät eintretende Resultate, die nicht länger ausreichen, um die andere Dimension zu bezeichnen. Der Wertmaßstab besteht nicht darin, die Definition des Menschlichen entlang der horizontalen Linie zu verschieben, die den Objektpol mit dem Subjektpol verbindet, sondern entlang der vertikalen Achse, welche die nichtmoderne Welt definiert. Wir brauchen nur seine Vermittlungsarbeit offenzulegen, und schon nimmt es Menschengestalt an. Verhüllt man sie, schon muss man von Inhumanität sprechen, selbst wenn es als Bewusstsein oder moralische Person daherkommt. Der Ausdruck ‚anthropomorph’ unterschätzt unsere Menschlichkeit, und zwar um einiges. Man müsste von Morphismus sprechen. Im Menschlichen kreuzen sich Technomorphismen, Zoomorphismen, Physiomorphismen, Ideomorphismen, Theomorphismen, Soziomorphismen, Psychomorphismen. Ihre Allianzen und ihr Austausch definieren alle zusammen den anthorpos. [... ] Das Menschliche ist gerade in der Delegation, im Pass, in der Sendung, im ständigen Austausch von Formen. Selbstverständlich ist es kein Ding, aber auch Dinge sind keine Dinge. Selbstverständlich ist es keine Ware, aber auch die Waren sind keine Waren. Selbstverständlich ist es keine Maschine, aber wer je Maschinen gesehen hat, weiß, wie wenig maschinell sie sind. Selbstverständlich ist es nicht von dieser Welt, aber diese Welt ist auch nicht von dieser Welt. Selbstverständlich ist es nicht in Gott, aber gibt es überhaupt eine Beziehung zwischen dem Gott oben und dem, den man den Gott unten nennen müsste? Der Humanismus lässt sich nur aufrechterhalten, wenn er sich mit all seinen Gesandten teil. Die menschliche Natur ist die Gesamtheit ihrer Delegierten und Repräsentanten, ihrer Gestalten und Boten.“183 Eine in diesem Sinne verstandene pädagogische Anthropologie hat vielfältige Schauplätze und Aufgaben. Sie beschränkt sich nicht auf eine akademische Beobachtung pädagogischen Geschehens. Sie kommt immer dort zum Zuge, wo Pädagogik zur Verhandlungssache wird und involviert alle verhandelnden Parteien. Als ‚öffentliche Sache’ 182 | Ricken, 2004. 170. 183 | Latour, 2002. 182f.

280 | ETHNOGRAPHIE NACH DER „KRISE DER REPRÄSENTATION“ kommt ihr die Aufgabe zu, die kollektiven Experimente zu begleiten, Verlaufsprotokolle zu erstellen, Möglichkeiten des Widerspruchs zu finden, die demokratische Sozialisation von Wissensdingen voranzutreiben, ihnen zur Repräsentation zu verhelfen, die Vermittlungsarbeit zu intensivieren und ihre Schauplätze zu vervielfältigen. Das Projekt dieser umfangreichen Anthropologisierung ist geprägt von einem zutiefst pädagogischen Impetus. Auch in diesem Sinne ist der Name Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen angebracht. Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen versteht sich als Teil des Latourschen Projekts einer kontemporären Definition der „Moderne“184. Dieses Projekt ist in zweifachem Sinn zu verstehen. Erstens als Untersuchung gegenwärtiger und pädagogisch-didaktischer Existenzmodi und zweitens im Sinne einer existentiellen Vergegenwärtigung. Die ‚nie modern gewesenen Modernen,’ schreibt Latour, müssten mit sich selbst kontemporär werden, d.h. sich nicht länger auf prä-existente Entitäten wie den Menschen oder die Natur verlassen, sondern ihr Augenmerk auf die Gleichzeitigkeiten richten, die Wirklichkeit hervorbringen. Latour propagiert ein relativistisches Zeitverständnis, bei dem Zeit nicht als Absolutes existiert, sondern buchstäblich jedes Ding seine Zeit hat. Für die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen heißt dies, dass weder Rekonstruktionen vergangener Menschenbilder von Interesse sind185 noch Projektionen, wie der Mensch in Zukunft z.B. durch die Veränderungen in der Biotechnologie konfiguriert werden könnte.186 Die Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen ist weder retrospektiv noch spekulativ. Sie interessiert, was in der doppelten Kreisbewegung von Quasi-Subjekten und Quasi-Objekten in der Vermittlungsarbeit vergegenwärtigt wird. Sie ist radikal diesseitig. Als Logos einer Forschung, die sich den sozio-technischen Gefügen widmet, ist sie weder von Hype noch von Nostalgie geprägt.187 Die hier ins Leben gerufene Pädagogische Anthropologie des Zeitgenössischen, wird erst dann zu atmen beginnen, wenn sich viele Ameisenarbeiterinnen an den Oligoptiken des Pädagogischen einfinden, um sich von diesen unscheinbaren Orten in bescheidener Tätigkeit den Bewegungen des Himmels, der Erde und der Menschen zu widmen.

184 | Latour 2007a. 20. 185 | Siehe Michael Wimmer (1998): „Die Kehrseite des Menschen. Probleme und Fragen der Historischen Anthropologie.“ In: W. Marotzki, J. Maschelein, A. Schäfer: Anthropologische Markierungen. Deutscher Studien Verlag, Weinheim. 85-113, sowie Norbert Ricken (2006): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung.Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. 186 | J. Bauer et al. (Hg.): Schnittmengen ästhetischer Bildung. Zwischen Künsten, Medien, Wissenschaften und ihrer Didaktik. Kopaed, München. 145-161. 187 | Latour, Spheres and Networks, 2009. 5.

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Pädagogik Barbara Keddi Wie wir dieselben bleiben Doing continuity als biopsychosoziale Praxis Mai 2011, ca. 310 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1736-8

Antje Langer Disziplinieren und entspannen Körper in der Schule – eine diskursanalytische Ethnographie 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-932-9

Christiane Thompson, Gabriele Weiss (Hg.) Bildende Widerstände – widerständige Bildung Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie 2008, 228 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-859-9

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Dominik Krinninger Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung

Fabian Lamp Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis 2007, 258 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-662-5

Ruprecht Mattig Rock und Pop als Ritual Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft 2009, 264 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1094-9

Paul Mecheril, Monika Witsch (Hg.) Cultural Studies und Pädagogik Kritische Artikulationen 2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-366-2

Elisabeth Sattler Die riskierte Souveränität Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität 2009, 176 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1323-0

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