Es lebe die Republik?: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchien in Deutschland und Europa [1 ed.] 9783666311307, 9783525311301

159 38 4MB

German Pages [269] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Es lebe die Republik?: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchien in Deutschland und Europa [1 ed.]
 9783666311307, 9783525311301

Citation preview

Bernd Braun (Hg.)

Es lebe die Republik? Der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchien in Deutschland und Europa

Schriften der Stiftung ReichspräsidentFriedrich-EbertGedenkstätte Band 19

Bernd Braun (Hg.)

Es lebe die Republik? Der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchien in Deutschland und Europa

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Stiftung wird gefördert aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM).

Mit 6 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-31130-7

Inhalt

Bernd Braun Einleitung. Es lebe die Republik? Der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchien in Deutschland und Europa ......................................................7 Lothar Machtan Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie. Die politische Signatur einer Zeitenwende ...........................................................22 Stefan März »In Treue fest?« Perspektiven, Scheitern und Nachwirkungen der Monarchie in Bayern .............................................................................................45 Ursula Rombeck-Jaschinski König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg ..............71 Frank Engehausen Politischer Systemwechsel auf harmonische Art? Baden im Übergang von der Monarchie zur Republik 1918/19 ............................................................90 Steffen Arndt »Try to be a good German«. Herzog Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha und seine Rolle als Hitlers adeliger Helfer 1905 bis 1945 .......106 Manfried Rauchensteiner Machtvakuum an der Donau. Österreich und Ungarn nach dem Großen Krieg ..........................................................................................................129 Matthias Stadelmann Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor. Nikolaj II. und das Ende des Russischen Reiches .............................................................................147

6

Inhalt

Johannes Zimmermann Die Republik erzieht sich ihre Kinder. Vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei ........................................................................................................167 Moritz A. Sorg Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik? Rumänien zwischen Niederlage und Sieg im Ersten Weltkrieg ..............................................................207 Markus Wien Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik. Verfassungsfragen in Bulgarien 1918 bis 2005 .........................................................................................233

Anhang Verzeichnis der Autoren und Herausgeber ...........................................................258 Verzeichnis der Abkürzungen .....................................................................................261 Personenverzeichnis .......................................................................................................263

Bernd Braun

Einleitung Es lebe die Republik? Der Erste Weltkrieg und das Ende der Monarchien in Deutschland und Europa1

Hätte es im Deutschland des 19. Jahrhunderts bereits Meinungsumfragen darüber gegeben, welches die naturgegebene – und im Verständnis der Epoche auch gottgegebene – Staatsform sei, dann hätte die Antwort der übergroßen Mehrheit der Befragten eindeutig »Monarchie« gelautet.2 Und diese Antwort wäre nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und in weiten Teilen der Welt identisch ausgefallen. Die große Ausnahme hätte der amerikanische Kontinent gebildet, dessen Kolonien sich bis auf kleinere Territorien und Inseln in der Karibik gegen Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von ihren Mutterländern Großbritannien, Spanien, Portugal und Frankreich gelöst hatten und sämtlich als Republiken unabhängig geworden waren.3 Die Ausnahme hatten die beiden Kaiserreiche Haiti (1804 bis 1806) und Mexiko (1821 bis 1823) gebildet, die später noch jeweils eine kurzzeitige Neuauflage erlebten, Haiti für zehn Jahre ab 1849, Mexiko für drei Jahre ab 1864 unter dem tragischen Habsburger Maximilian. Immerhin fast siebzig Jahre währte das Kaiserreich Brasilien (1822 bis 1889). 4 Die Vorreiterrolle bei der Dekolonialisierung des amerikanischen Kontinents hatten 1776 die Vereinigten Staaten von Amerika gespielt. Im zwanzigsten Jahrhundert trennte sich dann auch

1 2

3 4

Im Rahmen dieser Einleitung finden sich nur einzelne Literaturhinweise, zumal solcher Titel, die nicht bereits in den einzelnen Aufsätzen zitiert sind. Vgl. allgemein: Gisela Riescher/Alexander Thumfart: Monarchien, Baden-Baden 2008; Torsten Oppelland: Die europäische Monarchie. Ihre Entstehung, Entwicklung und Zukunft, Hamburg 2007; Volker Sellin: Gewalt und Legitimität. Die europäische Monarchie im Zeitalter der Revolutionen, München 2011; Dieter Langewiesche: Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel im 19. Jahrhundert, Heidelberg 2019; Pierre Miquel: Europas letzte Könige. Die Monarchie im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2005; Monika Wienfort: Monarchie im 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2019. Vgl. Stefan Rinke: Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760– 1830, München 2010. Vgl. Walther L. Bernecker/Horst Pietschmann/Rüdiger Zoller: Eine kleine Geschichte Brasiliens, Frankfurt a. M. 2000.

8

Bernd Braun

Kanada in mehreren Etappen von seinem Mutterland (1919, 1931, 1982), ohne als parlamentarische Monarchie bisher auf den britischen König als Staatsoberhaupt verzichten zu wollen. Von Kanada und einigen karibischen Inselstaaten abgesehen, kann man den amerikanischen auch heute als den republikanischsten der fünf Erdteile bezeichnen. In Europa aber war der Begriff der Republik, wie er in der Antike verwendet worden war, über die Jahrhunderte verblasst. Während sich die Republik der Vereinigten Niederlande (1581–1795) als »Republik der Kaufleute« bewährt hatte, galten die Englische Republik des Oliver Cromwell der Jahre 1649 bis 1660 und die nach der Revolution von 1789 in ein Blut- und Terrorregime entartete Republik in Frankreich als abschreckende Beispiele dafür, welche Abgründe sich auftun konnten, wenn Monarchien gewaltsam abgeschafft wurden. Die beiden traditionellen europäischen Republiken waren zudem im Konzert der Mächte zu klein und zu unbedeutend, um als Vorbild für eine Systemalternative wahrgenommen zu werden. Dies gilt selbstredend für die ob ihrer Geschichte, Tradition und zähen Widerstandskraft bewunderungswürdige, aber nur rund 61 Quadratkilometer umfassende Repubblica di San Marino, deren mythische Gründung durch den heiligen Marinus im Jahr 301 sie zur ältesten Republik der Welt macht; dies gilt aber auch für die Schweizer Eidgenossenschaft und ihren seit inzwischen mehr als fünf Jahrhunderten behaupteten Sonderstatus als »Willensnation«.5 Ansonsten beherrschten gekrönte Häupter Europa, auch wenn deren Zahl im Laufe des 19. Jahrhunderts abnehmen sollte. Neben ihrer quantitativen Dezimierung erlitt die Idee der Monarchie als normgebende Staatsform in diesem Säkulum massive Erschütterungen, die wiederum von Frankreich ausgelöst wurden. Die Eroberung linksrheinischer deutscher Gebiete durch Napoleon hatte 1803 zum Reichsdeputationshauptschluss geführt, also zur Auflösung zahlreicher geistlicher und kleinerer weltlicher Herrschaften sowie etlicher Reichsstädte, wodurch die Anzahl der selbstständig regierten Territorien im Heiligen Römischen Reich massiv verkleinert wurde.6 Die Tatsache, dass sich mit dem gebürtigen Bürgerlichen Napoleon Bonaparte im Dezember 1804 ein korsischer »Emporkömmling« selbst zum 5

6

Friedrich Kochwasser: San Marino. Die älteste und kleinste Republik der Welt, Herrenalb im Schwarzwald 1961; Volker Reinhardt: Die Geschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis heute, München 5. Aufl. 2014; Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz, Baden 6. Aufl. 2016. Vgl. Ulrich Hufeld (Hrsg.): Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Eine Dokumentation zum Untergang des Alten Reiches, Köln 2003; Ingo Knecht: Der Reichs­ deputationshauptschluß vom 25. Februar 1803. Rechtmäßigkeit, Rechtswirksamkeit und verfassungsgeschichtliche Bedeutung, Berlin 2007.

Einleitung

9

Kaiser gekrönt hatte, beschädigte außerdem den sakralen Charakter des Kaisertums, ein Akt, der seine Fortsetzung im Jahr 1806 mit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation nach einem Jahrtausend wechselvoller Geschichte dieses einzigartigen Staatsgebildes fand.7 Kennzeichen des Sacrum Imperium Romanum war über die Jahrhunderte hinweg ein stetiger territorialer Schrumpfungsprozess gewesen. Diese letztliche Niedergangsgeschichte hätte aber ohne Napoleon sicher nicht 1806 und vermutlich nicht in dieser unrühmlichen Form geendet. Mit Franz II., dem nunmehrigen Kaiser von Österreich, und Bonaparte gab es gleich zwei Kaiser in Europa – und mit dem russischen Zaren sogar deren drei. Der Kaisermythos als einer supranationalen, einigenden Klammer des ganzen Kontinents ging mit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches 1806 unwiederbringlich verloren. Aus dem Wiener Kongress von 1815, der die vornapoleonische Ordnung wiederherstellen sollte, ging die Monarchie als dominierende Staatsform scheinbar gestärkt hervor, denn in Frankreich wurde sie unter der Dynastie der Bourbonen restauriert; in Italien hingegen wurden die drei (Adels-)Repu­ bliken Venedig, Genua und Lucca beseitigt.8 Während Lucca in ein Herzogtum umgewandelt wurde, verloren Genua nach mehr als acht Jahrhunderten und Venedig nach weit mehr als einem Jahrtausend ihre Eigenstaatlichkeit und wurden dem Königreich Sardinien-Piemont bzw. dem neu geschaffenen und zu Österreich gehörenden Lombardo-Venezianischen Königreich zugeschlagen. Die Revolutionen der Jahre 1820/21, 1830 und vor allem 1848/49 erschütterten die europäischen Monarchien kurzfristig von innen, ohne jedoch unmittelbar systemverändernd wirken zu können.9 7

Vgl. Karl Otmar von Aretin: Das Alte Reich 1648–1806, 4 Bde., Stuttgart 1993–2000; Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806, München 5. Aufl. 2013. 8 Vgl. aus der zahlreichen Literatur zum Wiener Kongress die zum 200-jährigen Jubiläum erschienenen Publikationen: Heinz Duchhardt: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München 2013; Wolf D. Gruner: Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014; Thomas Just/Wolfgang Maderthaner/Helene Maimann (Hrsg.): Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas, Wien 2014; Eberhard Straub: Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas, Stuttgart 2014; Agnes Husslein-Arco/Sabine Grabner/Werner Telesko (Hrsg.): Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/15, München 2015. 9 Vgl. Wolfgang v. Hippel/Bernhard Stier: Europa zwischen Reform und Revolution 1800–1850, Stuttgart 2012; Jens Späth: Revolution in Europa 1820–23. Verfassung und Verfassungskultur in den Königreichen Spanien, beider Sizilien und Sardinien-­Piemont, Köln 2012; Wolfgang Hardtwig (Hrsg.): Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen 1998; Wolfgang J. Mommsen: 1848. Die ungewollte Revolution. Die revolu-

10

Bernd Braun

Der sich mit Macht entfaltende Nationalstaatsgedanke vertrieb in der zweiten Jahrhunderthälfte einerseits zahlreiche Herrscher von ihren Thronen, während er auf der anderen Seite neue Monarchien entstehen ließ.10 Der italienische Einigungsprozess verlief dabei fundamental anders als der deutsche. Im Zuge des Risorgimento wurden sämtliche italienischen Regionalmonarchien beseitigt; von den zehn Staaten der Wiener Friedensordnung von 1815 auf italienischem Boden existierten nach 1870 nur noch zwei: das zum Königreich Italien erweiterte Sardinien-Piemont unter der Dynastie des Hauses Savoyen und die bereits erwähnte Republik von San Marino, deren republikanische Tradition ihr in dieser historischen Phase das Überleben sicherte.11 Die Etappen auf dem Weg zur deutschen Einigung führten ebenfalls zu einem Konzentrationsprozess der Monarchien.12 Als Ergebnis des Deutschen Krieges von 1866 annektierte das siegreiche Preußen das Königreich Hannover und die beiden Herzogtümer Hessen-Kassel und Hessen-Nassau sowie Schleswig und Holstein, die es seit 1864 gemeinsam mit Österreich verwaltet hatte. Allerdings befanden sich unter den 26 Staaten des Deutschen Reiches neben den drei Hansestädten Hamburg, Bremen und Lübeck immer noch 23 Monarchien, von dem Giganten Preußen, das zwei Drittel der Fläche wie der Einwohnerschaft des neuen Staatsgebildes umfasste, bis zu dem Winzling Reuß ältere Linie; dieses thüringische Fürstentum hätte mit einer Fläche von nur 317 km2 ganze 920 Mal in das preußische Territorium hineingepasst.13

10 11

12

13

tionären Bewegungen in Europa 1830–1849, Frankfurt a. M. 2000; Dieter Langewiesche (Hrsg.): Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen, München 2000. Vgl. Christian Jansen/Henning Borggrefe: Nation – Nationalität – Nationalismus, Frankfurt a. M. 2007. Vgl. Rudolf Lill: Italien im Zeitalter des Risorgimento, in: Theodor Schieder (Hrsg.): Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 1981, S. 827–885; Wolfgang Altgeld: Das Risorgimento, in: ders./Rudolf Lill (Hrsg.): Kleine Geschichte Italiens, Stuttgart 2004, S. 257–324; Bernd Braun: Das Ende der Regionalmonarchien in Italien. Abdankungen im Zuge des Risorgimento, in: Susan Richter/Dirk Dirbach (Hrsg.): Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Köln/ Weimar/Wien 2010, S. 251–266. Vgl. jüngst Tillmann Bendikowski: 1870/71. Der Mythos von der deutschen Einheit, München 2020; Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung und ihr schwieriges Erbe, München 2020; Christoph Jahr: Blut und Eisen. Wie Preußen Deutschland erzwang, München 2020 sowie als Standardwerk Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992. Vgl. Werner Greiling/Hagen Rüster (Hrsg.): Reuß älterer Linie im 19. Jahrhundert. Das widerspenstige Fürstentum? Jena 2013.

Einleitung

11

Während im Zuge der italienischen und der deutschen Nationalstaatsbildung Monarchien von Monarchien geschluckt wurden, unterhöhlte der Nationalismus andererseits die bestehenden Vielvölkerstaaten. Der Zerfallsprozess des Osmanischen Reiches14 auf europäischem Boden führte auf dem Balkan zur Bildung mehrerer unabhängiger Staaten, von denen sich einige zunächst als Fürstentümer etablierten, aber mit der Zeit allesamt in Königreiche verwandelten: Griechenland (1832), Bulgarien (1879), Rumänien (1881), Serbien (1882), Montenegro (1910) und Albanien (1928, Fürstentum bereits seit 1912). Allein Frankreich verließ 1870 das monarchische Lager, wobei die junge Republik ihre Entstehung dem Sieg der preußischen Truppen im DeutschFranzösischen Krieg verdankte und zunächst noch nicht abzusehen war, ob sich die neue Staatsform dauerhaft als Konkurrenzmodell würde durchsetzen können.15 Das in Frankreich 1870 vollzogene Muster »Sturz einer Krone als Folge einer als schmachvoll empfundenen Kriegsniederlage« sollte dann 1918 die Monarchie als vorherrschende Staatsform in Europa nachhaltig erschüttern. Neben dem Nationalismus trug auch die sich immer stärker entfaltende Idee des Parlamentarismus entscheidend zum Untergang der monarchischen Dominanz in Europa bei. Parallel dazu vollzog sich der Aufstieg des Bürgertums zur führenden gesellschaftlichen Kraft und vice versa der Abstieg der Aristokratie. Schien um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Krone aus den Händen einer Volksvertretung noch als eine revolutionäre Zumutung und für den Adel weitgehend unannehmbar, so sollte sich dieses Modell der »Domestizierung«, wie es der dänische Historiker Jes Fabricius Møller genannt hat,16 für etliche Monarchien als die einzige Bestandsgarantie erweisen. Nur diejenigen Staaten, die den Wandel von der Verfassungs- zur Parlamentsmonarchie rechtzeitig vollzogen, konnten sich langfristig und überwiegend bis heute gegenüber der republikanischen Alternative behaupten. »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich verändert« – dieser zentrale Satz aus dem italienischen Jahrhundertroman »Der Leopard« (»Il Gattopardo«) von Giuseppe Tomasi di Lampedusa galt nicht nur als Lebensversicherung für 14 Vgl. Klaus Kreiser: Der Osmanische Staat 1300–1922, München 2008; Suraiya Faroqhi: Geschichte des Osmanischen Reiches, München 6. Aufl. 2014. 15 Vgl. Klaus-Jürgen Bremm: 70/71. Preußens Triumph über das Kaiserreich Frankreich und die Folgen, Darmstadt 2019; Michael Epkenhans: Der deutsch-französische Krieg 1870/71, Stuttgart 2020; Hermann Pölking/Linn Sackarnd: Der Bruderkrieg. Deutsche und Franzosen 1870/71, Freiburg im Breisgau 2020. 16 Jes Fabricius Møller: Die Domestizierung der Monarchien des 19. Jahrhunderts, in: Benjamin Hasselhorn/Marc von Knorring (Hrsg.): Vom Olymp zum Boulevard: Die europäischen Monarchien von 1815 bis heute. Verlierer der Geschichte?, Berlin 2018.

12

Bernd Braun

die Monarchie und gleichzeitig für das sozioökonomische System in Italien während des Risorgimento, er gilt generell für das Überleben der Monarchien in Europa. Der Erste Weltkrieg wurde nicht nur als Krieg zwischen Staaten geführt, sondern auch als Konkurrenzkampf zwischen politischen Systemen: die demokratischen Republiken und parlamentarischen Monarchien des Westens gegen die semiparlamentarischen bis autoritären Monarchien Mittel- und Osteuropas.17 Der nunmehr unter der so wohlklingenden Formel vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« des US-Präsidenten Woodrow Wilson demokratisch legitimierte Nationalismus war mit der Realität der multiethnischen Staaten und damit in erster Linie Österreich-Ungarns, des Vielvölkerstaates par excellence, nicht vereinbar.18 Mit diesem nur auf den ersten Blick bestechenden Schlagwort wurden allerdings Hoffnungen auf ethnisch homogene Nationalstaaten und Nationalzwergstaaten geweckt, deren praktische Unerfüllbarkeit die europäische und die weltweite Friedensordnung bedrohten und bis heute bedrohen. Die Kriegsniederlage 1917/18 führte das Ende der drei Kaiserreiche in Russland, in Deutschland und in Österreich-Ungarn herbei.19 Zeitverzögert stürzte 1923 auch die Herrschaft des Hauses Osman über die Türkei, die durch den Frieden von Sèvres fast ganz aus Europa hinausgedrängt und auf ihr kleinasiatisches Territorium reduziert worden war. Mit dem Jahr 1918 endete damit auch formal die Kaiseridee in Europa, die sich seit 1806 unter veränderten, bereits entmystifizierten Formen noch elf Jahrzehnte behauptet hatte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass sich die Könige von Großbritannien von 1876 bis 1950 als Kaiser von Indien titulieren ließen und der italienische König Viktor Emanuel III. sich von 1936 bis 1941 mit dem Titel eines Kaisers von Abessinien schmückte. Keiner der von Russland unabhängig gewordenen Nationalstaaten und keiner der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie etablierte sich ab 1917/18 als Monarchie, sieht man vom Königreich Ungarn bis 1944 unter dem Reichsverweser Miklós Horthy und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen bzw. Jugoslawien ab, das mit der deutschen Besatzung 1941 de facto unterging.

17 Vgl. allgemein Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2015; Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München 2014. 18 Vgl. Manfred Berg: Woodrow Wilson – Amerika und die Neuordnung der Welt. Eine Biographie, München 2017. 19 Vgl. Eberhard Straub: Drei letzte Kaiser. Der Untergang der großen europäischen Dynastien, München 2000.

Einleitung

13

Als Folge des Zweiten Weltkrieges und der Ausdehnung des kommunistischen Herrschaftsbereiches über weite Teile Mittel- und Südosteuropas verloren auch König Michael von Rumänien und Zar Simeon von Bulgarien ihre Throne (in Albanien endete die nationale Monarchie mit der Besetzung durch faschistische Truppen 1939). Die Kriegsniederlage 1945 verwandelte auch Italien in eine Republik, da das Haus Savoyen zu lange mit dem Faschismus paktiert und die Reißleine in Gestalt der Verhaftung Mussolinis am 25. Juli 1943 viel zu spät gezogen hatte. Das Referendum im Juni 1946 ergab mit 54,3 Prozent eine knappe Mehrheit für die Republik bei einer eindeutigen Spaltung Italiens: Die südlichen Regionen einschließlich Latiums und der Inseln Sardinien und Sizilien votierten für den Status Quo, der Norden dagegen. Der Umgang mit einer Diktatur, genauer der gutgemeinte, aber letztlich dilettantisch gescheiterte Versuch, das Obristen-Regime in Athen zu stürzen, zwangen auch den jungen König Konstantin ins Exil und führten 1974 per Referendum zur Einführung der Republik in Griechenland. Nach dem Ende der Diktaturen auf der iberischen Halbinsel Mitte der 1970er Jahre kam es zur Restauration der Bourbonenherrschaft in Madrid, während Portugal Republik blieb, was es bereits seit 1910 gewesen war. Keines der hinter dem »Eisernen Vorhang« gelegenen Länder kehrte nach dem Zusammenbruch des Ostblocks ab 1989 zur Monarchie zurück. Unter den 47 Mitgliedern des Europarates sind aktuell nur noch 10 Monarchien zu finden, die damit die Systemausnahme und nicht mehr die Regel darstellen. So lässt sich nach diesem kurzen Überblick festhalten, dass es der Erste Weltkrieg war, welcher das Ende der Monarchie als dominierende Staatsform in Europa verursacht hat. Zum 100-jährigen Jubiläum des Kriegsendes 1918 wurde viel über die dadurch geschaffene neue Staatenordnung in Europa gesprochen, über die wenigen gelungenen und die vielen letztlich misslungenen demokratischen Neuanfänge. Im Rahmen der deutschen staatlichen Memorialkultur wie in den auf diesen Jahrestag hin publizierten Büchern wurde eine Neubewertung der November-Revolution vorgenommen, die als demokratischer Initiationsakt deutlich positiver eingeordnet wurde, als dies in den 100 Jahren zuvor der Fall gewesen war.20 Alleine das sichtbarste Symbol der neuen demokratischen Volksstaaten in Deutschland, der Sturz der »Monar-

20 Vgl. Wolfgang Niess: Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, München 2017; Robert Gerwarth: Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit, aus dem Englischen von Alexander Weber, München 2018; Lars-Broder Keil/Sven Felix Kellerhoff: Lob der Revolution. Die Geburt der Demokratie in Deutschland, Darmstadt 2018.

14

Bernd Braun

chien von Gottes Gnaden«, blieb als Errungenschaft des staatlichen Umbruchs so gut wie unerwähnt, etwa in der großen Rede von Bundespräsident FrankWalter Steinmeier beim Festakt im Nationaltheater in Weimar am 6. Februar 2019.21 Dies mag im spezifisch deutschen Fall damit zusammenhängen, dass das republikanische Erinnern am 9. November durch spätere Gedenktage schlicht in den Hintergrund gedrängt wurde, weniger durch den Hitler-Putsch 1923 (obwohl dies die Absicht der Putschisten gewesen war), als vielmehr durch die Reichspogrom-Nacht 1938 und die Öffnung der Berliner Mauer 1989, die von politischer und publizistischer Seite als zentraler Akt der »einzigen erfolgreichen Revolution« in der deutschen Geschichte gedeutet wurde, womit dem November-Umsturz indirekt einmal mehr das Etikett »gescheitert« angeheftet wurde. Während in Italien die »Festa della Repubblica« (das Fest der Republik) am 2. Juni als Nationalfeiertag mit großem Zeremoniell gefeiert wird, agieren die Deutschen als Republikaner mit schlechtem Gewissen. Dass überzeugende Persönlichkeiten an der Spitze eines Staates selbst in schwersten Krisen Halt geben und eine Vorbildfunktion übernehmen können, haben gerade die meisten italienischen Staatspräsidenten seit 1948 überzeugend vorgeführt. Dass umgekehrt über dem politischen System schwebende »unpolitische« Monarchen gerade in Entscheidungssituationen von großer Tragweite überholte Institutionen darstellen, zeigt der Fall des Brexits in Großbritannien. Hier hätte ein Signal des Staatsoberhaupts Orientierung geben und die Richtung aufzeigen können – wobei zugegebenermaßen nicht alle gekrönten Häupter in Europa derart antiquiert und verstaubt agieren. Die Crux einer jeden Monarchie, dass auf einen befähigten und hochgeachteten Monarchen qua Geburt ein fragwürdiger Amtsinhaber mit möglicherweise jahrzehntelanger Herrschaft folgen kann, zeigt aktuell das Beispiel Thailand. Da bereits im Vorfeld des Zentenar-Jubiläums abzusehen war, dass die Umwandlung Deutschlands und seiner Einzelstaaten in Republiken kaum Erwähnung finden würde, wollte die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-EbertGedenkstätte mit einer sechsteiligen Veranstaltungsserie einen Kontrapunkt setzen. Die Vortragsreihe »100 Jahre Republik in Deutschland und Europa« behandelte im Herbst 2018 unter sehr positiver Resonanz der Zuhörerschaft drei das Deutsche Reich betreffende Länder, nämlich Preußen/Deutschland, Württemberg und Baden sowie drei europäische Themen: Russland, das Osmanische Reich und die Tschechoslowakei. Die ersten fünf dieser Vorträge sind für 21 Vgl. Frank-Walter Steinmeier: Schwarz-Rot-Gold, das sind unsere Farben! Überlassen wir sie niemals den Verächtern der Freiheit!, in: ders.: »Sie alle sind Teil unserer Demokratie«. Reden und Interviews, Bd. 3: 15. Januar–25. Dezember 2019, S. 39–53.

Einleitung

15

diesen Band in Schriftform gegossen worden; Vladimír Špidla, der ehemalige tschechische Regierungschef und EU-Kommissar, hat sich aufgrund seiner vielfältigen politischen und gesellschaftlichen Verpflichtungen leider außer Stande gesehen, seinen Vortrag über sein Heimatland im geplanten Umfang zu verschriftlichen. Zusätzlich zu den fünf Vorträgen wurde eine gleiche Anzahl von Beiträgen eingeworben, die den europäischen Blickwinkel der Fragestellung erweitern: über Bayern, Sachsen-Coburg und Gotha, Österreich-Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Mit Lothar Machtan hat einer der bekanntesten deutschen Historiker, der sich mit der Fragestellung des Übergangs von der Monarchie zur Republik in Deutschland bereits in vielfältiger Weise auseinandergesetzt hat, sei es als Autor, als Publizist oder als Mitverfasser des Drehbuchs zum ZDF-Dokudrama »Kaisersturz«,22 auch für diesen Band einen Aufsatz beigesteuert, pointiert, sprachmächtig, mitunter die Grenze zur Polemik streifend, Fragen aufwerfend, aber sicher in jeder Hinsicht anregend. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Verantwortung für den Untergang der Monarchien im Deutschen Reich, die Machtan nicht allein bei Kaiser Wilhelm II. angesiedelt sehen will. Neben der Servilität der übrigen Bundesfürsten und der militärstrategischen Uneinsichtigkeit der Obersten Heeresleitung wirft er dem Reichstag vor, sein reformerisches Potenzial nicht ausgeschöpft zu haben. Keine der Parteien habe über ein tragfähiges Konzept zur Erneuerung oder Überwindung des Kaiserreiches verfügt, auch und gerade nicht die Sozialdemokratie mit Friedrich Ebert an der Spitze, die erst durch den Druck der Straße zu reagieren gezwungen gewesen sei. Ein wie immer gearteter Fortbestand der Monarchie unter einem Reichsverweser sei aber mangels eines geeigneten Kandidaten illusorisch gewesen. Stefan März, einer der Biographen des letzten bayerischen Königs Ludwig III.,23 schildert in seinen Ausführungen über den Untergang des Königreichs Bayern die eigentlich günstige Ausgangsposition des 1912 bereits 67-jährigen Thronfolgers. Er war moderner als sein Vater, der mit 91 Jahren verstorbene Prinzregent Luitpold; er hatte die fortschrittliche Wahlrechtsreform für den Bayerischen Landtag 1906 unterstützt und galt gegenüber neuen Technologien als aufgeschlossen. Diese Modernität konnte Ludwig jedoch nur eineinhalb Jahre bis Kriegsbeginn voll entfalten. Danach dominierte das Kriegsgeschehen und die zu-

22 Vgl. Lothar Machtan: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht, Darmstadt 2018. 23 Vgl. Stefan März: Das Haus Wittelsbach im Ersten Weltkrieg: Chance und Zusammenbruch monarchischer Herrschaft, Regensburg 2013; ders.: Ludwig III.: Bayerns letzter König, Regensburg 2014.

16

Bernd Braun

nehmende Kriegsmüdigkeit gerade auch in Bayern die öffentliche Wahrnehmung der Monarchie. Ludwig III. – gleichsam »eingeklemmt« zwischen seinem äußerst populären Vater und seinem ebenfalls sehr beliebten Sohn Rupprecht – verlor zunehmend an Rückhalt in der Bevölkerung. Da auf der republikanischen Gegenseite mit Kurt Eisner im Spätherbst 1918 ein energisch agierender Volkstribun das Heft des Handelns in die Hand nahm, stürzten die Wittelsbacher als erste deutsche Dynastie bereits am 7. November 1918.24 Kronprinz Rupprecht verhielt sich in der Frage der Restaurierung der Monarchie abwartend und gegenüber den Sirenengesängen der Nationalsozialisten – anders als die Hohenzollern – distanziert, was der Popularität des Hauses Wittelsbach bis heute sicherlich dienlich war. Ursula Rombeck-Jaschinski, die sich mit dem Ende der Monarchien im deutschen Südwesten bereits an anderer Stelle auseinandergesetzt hat,25 unterstützt in ihrem Beitrag über Württemberg nachdrücklich die These, dass Preußen und sein letzter König die deutschen Regionalmonarchien in den Abgrund gerissen hätten. Der schwäbische Wilhelm II. – in vielerlei Hinsicht ein Gegenmodell zu seinem Berliner Namensvetter – agierte völlig unmilitärisch, volksnah und war im Gegensatz zu seinem Vorgänger Karl I. sehr beliebt, obwohl das ihm anhaftende Image des Bürgerkönigs verdeckt, dass er an der konstitutionellen Monarchie festhielt und zu Reformen erst in allerletzter Minute und damit viel zu spät bereit war. Seine positiv zu wertende Ablehnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, der letztlich den Kriegseintritt der USA provoziert hatte, konnte Wilhelm nicht retten. Die Tatsache, dass er wie sein Onkel kinderlos geblieben war und der Thronfolger einer katholischen Nebenlinie des Hauses Württemberg entstammte, entzogen Restaurationsbestrebungen in dem mehrheitlich pietistisch geprägten Schwabenland von vornherein die Grundlage. Diese württembergischen Befunde gelten unter veränderten Vorzeichen auch für Baden, das fortschrittlichste Land des Deutschen Reiches, dessen beliebter Großherzog Friedrich II. zusätzlich vom Ansehen seines noch beliebteren Vaters Friedrich I. profitierte. Dass der staatliche Umbruch in Baden so friedlich über die politische Bühne ging, war dabei sowohl dem Großherzog als auch – darauf setzt Frank Engehausen, der sich mit der badischen Landesgeschichte mehr-

24 Vgl. Bernhard Grau: Kurt Eisner 1867–1919. Eine Biografie, München 2001. 25 Ursula Rombeck-Jaschinski: »Überlebte Tradition? Das Ende der Monarchien in Südwestdeutschland«, in: Sabine Holtz/Gerald Maier (Hrsg.): Von der Monarchie zur Republik. Beiträge zur Demokratiegeschichte des deutschen Südwestens 1918–1923, Stuttgart 2019, (S. 47–62).

Einleitung

17

fach beschäftigt hat,26 den Schwerpunkt seiner Darstellung – der pragmatisch agierenden Sozialdemokratie mit dem ersten Staatspräsidenten Anton Geiß und Justizminister Ludwig Marum an der Spitze zu verdanken. So kam es in Baden, ganz anders als in Berlin oder in München, zu einer völlig friedlich verlaufenden Revolution, bei der kein einziger Mensch sein Leben verlor. Mit dem Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha, einem der acht thüringischen Fürstentümer, setzt sich der Gothaer Archivrat Steffen Arndt auseinander. Diese Zwergstaaten spielten innerhalb des Deutschen Reiches so gut wie keine politische Rolle, waren aber in einer Hinsicht nicht unbedeutend, nämlich als »Produktionsstätten« hochadeliger Heiratskandidaten; deren berühmtester Vertreter war Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, der Ehemann der britischen Königin Victoria. Als der Gothaer Herzog Ernst II. 1893 nach kinderlos gebliebener Ehe starb, waren Albert bzw. dessen Nachkommen erbberechtigt. Dadurch kamen nacheinander zwei britische Prinzen auf den Gothaer Thron; der letzte Herzog Carl Eduard entwickelte sich nach seinem Sturz 1918 zum überzeugten Anhänger Hitlers, der die Weimarer Republik nachhaltig bekämpfte. Er mehrte das Ansehen der Nationalsozialisten, womit er gleichzeitig sein eigenes nach 1945 ruinierte. Er starb erst 1954 im Alter von 70 Jahren. Die in den politischen Extremismus abgleitende Vita Carl Eduards lässt vermuten, dass die deutschen Fürsten bei einem Fortbestand der Monarchien nicht als Bollwerk gegen, sondern zumindest in Teilen als Steigbügelhalter Hitlers fungiert hätten. Die politische Klasse der Weimarer Republik wie die Weimar-Historiker haben ihr Augenmerk so intensiv auf den Versailler Vertrag und seine Folgen gerichtet, dass ihnen der wichtigste Alliierte des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarn, zumeist völlig aus dem Blickfeld geraten ist. Verglichen mit der Doppelmonarchie ist das Deutsche Reich (und übrigens auch Russland) noch vergleichsweise glimpflich davongekommen, denn hier wurde ein Imperium zerschlagen, in seine sämtlichen möglichen Bestandteile zergliedert und damit – so der klug gewählte Titel des Beitrags von Manfried Rauchensteiner – ein »Machtvakuum an der Donau« geschaffen, dessen Folgen in Mitteleuropa und auf dem Balkan bis heute zu spüren sind. Manfried Rauchensteiner, Autor mehrerer Bücher über das Kriegsende 1918 in Österreich,27 zeichnet mit feiner

26 Siehe Frank Engehausen: Kleine Geschichte des Großherzogtums Baden 1806–1918, Leinfelden-Echterdingen 2005; ders.: Kleine Geschichte der Revolution 1848/49 in Baden, Karlsruhe 2010. 27 Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien/Köln/Weimar 2013; ders: Unter Beobachtung. Österreich seit 1918, Wien/Köln/Weimar 2017.

18

Bernd Braun

Ironie die Phantomschmerzen der einstigen Weltmacht nach, die sich innerhalb weniger Wochen auf einen europäischen Staat mittlerer Größe reduziert sah. Die Lasten des verlorenen Weltkrieges wurden nur den beiden Namensträgern Österreich und Ungarn aufgebürdet, während die übrigen Kronländer als bisher »unterdrückte Völker« davon nicht betroffen waren. Gleichzeitig wurde der noch junge Grundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ad absurdum geführt, denn Österreichs Wunsch, sich mit Deutschland zu vereinigen, wurde von den Siegermächten schlicht verboten. Der Russlandexperte Matthias Stadelmann beschäftigt sich in seinem Aufsatz über die glanzvollste europäische Monarchie mit den Gründen für das Ende der Romanow-Dynastie, die wie keine andere Herrscherfamilie für ihre historischen Fehler bezahlen musste – mit ihrer Ermordung am 17. Juli 1918, die alle übrigen gekrönten Häupter in Europa im revolutionären Herbst dieses Jahres in Angst und Schrecken versetzte. Fehler bescheinigt Stadelmann dem letzten Zaren Nikolaj etliche, insbesondere eine fast unwirklich erscheinende Distanziertheit gegenüber den politischen und militärischen Krisen des Frühjahrs 1917, wie sie sich in seinen lakonischen Tagebucheinträgen offenbaren. Es war aber nicht Nikolajs Versagen alleine (der in seiner deutschen Frau Alexandra kein Korrektiv besaß), es war auch nicht die immer wieder von westlichen Historikern attestierte Rückständigkeit des russischen Riesenreiches, eine These, die nach Einschätzung Stadelmanns zumindest in ihrer Pauschalität zu hinterfragen wäre, sondern die Kombination beider Faktoren mit der letztlich entscheidenden Situation des Weltkrieges und der absehbaren russischen Niederlage. Mit Lenin (und später) Stalin rückten Alleinherrscher ganz anderen Kalibers an die Stelle Nikolajs, deren brutale Entschlossenheit oder entschlossene Brutalität den letzten Zaren in den Schatten stellte. In seinem sehr umfangreichen Beitrag über den Untergang des Osmanischen Reiches zeigt Johannes Zimmermann, warum der Sturz der Monarchie und die Abschaffung des Kalifats am Bosporus so sang-, klang- und widerstandslos verliefen. Mit Mustafa Kemal erhielten die Türken einen republikanischen »Ersatzkaiser«, der anders als seine adeligen Vorgänger einen Nimbus als Kriegsheld vorweisen konnte, der die schwere Niederlage seines Landes im Ersten Weltkrieg zumindest in Teilen wieder hatte wettmachen können. Die Tatsache, dass er den Vertrag von Sévres innerhalb weniger Jahre in ein inhaltsleeres Stück Papier verwandeln konnte, machte ihn zu einem Vorbild – nicht zuletzt für Adolf Hitler.28 Daneben wirkte der spätere »Atatürk« als Reformator,

28 Vgl. Stefan Ihrig: Atatürk in the Nazi imagination, Cambridge/London 2014.

Einleitung

19

der die Türkei in die (westliche) Moderne zu katapultieren trachtete. Zahlreiche seiner Reformen, wie die von Johannes Zimmermann beschriebene Einführung des Türkischen als Amtssprache und einer europäisierten Schrift ebenso wie eine neue strenge Kleiderordnung oder die Verlegung der Hauptstadt von Istanbul nach Ankara, griffen in das Leben jedes einzelnen Türken ein. Um Mustafa Kemal entstand ein Personenkult, der jeden der letzten Sultane als blass erscheinen ließ und der bis heute in den Imitationsversuchen des aktuellen türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan nachwirkt. Moritz A. Sorg, der noch am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn steht, widmet sich dem bemerkenswerten »Sonderfall« Rumänien. Das 1881 proklamierte Königreich war 1916 auf Seiten der Entente in den Krieg eingetreten, hatte aber eine verheerende Niederlage erlitten, die am 7. Mai 1918 im Frieden von Bukarest manifest wurde. Innerhalb weniger Monate wendete sich das Blatt durch den Zusammenbruch der Mittelmächte und ließ Groß­ rumänien mit beträchtlichen territorialen Gewinnen entstehen, die zum Teil als Folge des Zweiten Weltkrieges wieder verlorengingen. Moritz Sorg kann überzeugend darlegen, dass es nicht nur diese unerwartete, triumphale Wendung war, die der Krone das Überleben sicherte, sondern zum einen die Schwäche ihrer Gegner. So war die rumänische Arbeiterbewegung wie überall in Europa gespalten, aber es bestand keine Sympathie mit den Bolschewiki des unmittelbaren Nachbarn Russland. Zum anderen unterstützten der aus der deutschen Dynastie Hohenzollern-Sigmaringen stammende König Ferdinand und seine Gattin Marie schon während des Krieges politische Reformen in Rumänien, sie agierten volksnah, blieben auch nach der Kriegsniederlage im Land und wussten durch den Tod ihres erst dreijährigen Sohnes Mircea 1916 das Mitgefühl mit der Königsfamilie zu verstärken.29 Rumänien wäre übrigens das einzige europäische Land, bei dem eine Rückkehr zur Monarchie zumindest möglich erscheint. Die königliche Familie mit der »Kronwächterin« (»Custodele coroanei«) Margareta an der Spitze spielt im öffentlichen, gesellschaftlichen und sozialen Leben Rumäniens eine so herausgehobene Rolle, wie sie in keinem anderen vergleichbaren Land festzustellen ist. Markus Wien, der an der US-amerikanischen Universität in Sofia und damit am »Ort des Geschehens« lehrt, beschließt den Band mit dem südlichen Nachbarn Rumäniens, mit Bulgarien, das als Sonderfall noch stärker ins Auge fällt, denn der Balkanstaat war das einzige Land der Mittelmächte, in dem das monarchische System trotz desaströser Niederlage im Weltkrieg nicht zusammen29 Vgl. zur rumänischen Königsfamilie Michael Kroner: Die Hohenzollern als Könige von Rumänien. Lebensbilder von vier Monarchen 1866–2004, Heilbronn 2004.

20

Bernd Braun

brach. Die unmittelbar erfolgte Abdankung des Zaren und Kriegsverlierers Ferdinand aus der deutschen Dynastie Sachsen-Coburg und Gotha (Seitenlinie Kohary) zugunsten seines Sohnes Boris III. am 3. Oktober 1918 trug zu dieser Stabilität bei, mehr aber noch die generelle Staats- und Politikferne des stark agrarisch geprägten Landes. Die bulgarischen Herrscher wussten zudem die 1879 verabschiedete Verfassung von Tarnovo äußerst »flexibel« einzusetzen, ohne sie freilich völlig beiseitezuschieben; Boris III. leistete den eigentlich vorgeschriebenen Eid auf die Verfassung nie, regierte zunehmend autoritär, aber beschritt nicht den Weg in eine »monarcho-faschistische« Königsdiktatur, wie die Zwischenkriegszeit in der kommunistischen Geschichtsschreibung des Landes zumeist betitelt wurde. Der letzte Zar Simeon II., der als 6-jähriges Kind den Thron bestiegen hatte, machte dann nach der Jahrtausendwende Schlagzeilen, als er sein Land als Ministerpräsident in die Nato und (faktisch) in die EU führte. Insgesamt bestätigen die Beiträge dieses Bandes, dass der Erste Weltkrieg in Europa als Monarchien-Zerstörer wirkte. Rumänien und Bulgarien stellen die beiden bemerkenswerten, jedoch die Regel bestätigenden Ausnahmefälle dar. Im Deutschen Reich konnten noch so integre Regionalmonarchen wie der König von Württemberg und der Großherzog von Baden ihre Throne nicht retten, weil sie alle (die nicht integren wie zum Beispiel der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha übrigens auch) von Kaiser Wilhelm II. mit in den Abgrund gerissen wurden. Ob die Monarchie in Deutschland zu retten gewesen wäre, wenn Wilhelm II. rechtzeitig abgedankt hätte, oder im Falle Österreich-Ungarns, wenn Kaiser Franz Joseph das Kriegsende noch erlebt hätte, muss Spekulation bleiben. Bedeutsam ist diese Frage sowieso nur, weil sie Raum für das zugegebenermaßen reizvolle Gedankenspiel öffnet, ob es bei einer Beibehaltung der Monarchie nicht zur NS-Diktatur gekommen wäre. Der Vergleich mit Italien mag hier ebenso als Warnhinweis dienen wie derjenige mit Rumänien oder Jugoslawien. Trotzdem lohnt sich ein individueller Blick in die jeweilige Landesgeschichte und in die individuellen Biographien der einzelnen Herrscher, um deren spezifische Leistungen und Defizite zu erkennen. Der Erste Weltkrieg zerstörte alte politische Ordnungen, aber er schuf zunächst nur fragile Nachfolgesysteme, die zumeist dem Ansturm autoritärer Kräfte oder blutiger Diktaturen nicht gewachsen waren.30 Die Alleinherrscher ohne Krone haben ihre Länder zum Teil in weit schlimmere Szenarien oder sogar 30 Vgl. Boris Barth: Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Frankfurt a. M. 2016; Adam Tooze: Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2017.

Einleitung

21

Katastrophen geführt als ihre gekrönten Vorgänger. Zur Monarchie-Nostalgie, wie sie von Teilen der Boulevardmedien betrieben wird, besteht indes kein Anlass, wohl aber – rund ein Jahrhundert nach der Republikanisierung weiter Teile Europas – zu einer objektiven historischen Analyse der Vorgeschichte und der Ursachen für den Kollaps der monarchischen Staatenordnung, wozu dieser Band einen Beitrag liefern möchte. Ein gedrucktes Buch auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie ist durchaus keine Selbstverständlichkeit. Die Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte dankt der einen Autorin und den neun Autoren herzlich, dass sie diesen Band mit ihren Aufsätzen bereichert haben, sie dankt dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die professionelle Betreuung der Drucklegung, sie dankt nicht zuletzt ihren studentischen Hilfskräften für die Mithilfe beim Lektorat. Abschließend soll noch einmal der Bogen zum Anfang dieser Einleitung geschlagen werden. In seiner 1851 erschienenen Sammlung philosophischer Texte mit dem zungenbrecherischen Titel »Parerga und Paralipomena« hat der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer die Monarchie als die »dem Menschen natürliche« Staatsform bezeichnet: »fast so, wie sie es den Bienen und Ameisen, den reisenden Kranichen, den wandernden Elephanten, den zu Raubzügen vereinigten Wölfen und anderen Thieren mehr ist, welche alle Einen an die Spitze ihrer Unternehmung stellen. […] Selbst das Planetensystem ist monarchisch«. Das System der Republik hingegen sei »dem Menschen so widernatürlich, wie es dem höhern Geistesleben, also Künsten und Wissenschaften, ungünstig ist«.31 Das ist gerade einmal 170 Jahre her. Schopenhauers Einschätzung würde heute niemand mehr teilen und diese Entwicklung kann man nicht anders denn als Fortschritt bezeichnen. Heidelberg, im Herbst 2020

31 Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Bd. 2, München 1913, S. 278 f.

Lothar Machtan

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie. Die politische Signatur einer Zeitenwende

Seit 2017 ist die deutsche Revolution von 1918 wieder »in«; wissenschaftlich wie geschichtspolitisch. Dem Zentenarium sei Dank.1 Nur, werden wir dem realhistorischen Geschehen gerecht, wenn wir sie jetzt – nach den ideologischen Grabenkämpfen der 1970er und 80er Jahre – zum Startup unserer heutigen Demokratie erklären? Wie das späte Kaiserreich sich nicht selbst überwinden mochte Das lautlose Ende der deutschen Monarchie war nicht schicksalshaft vorbestimmt. Doch Zeichen für einen möglichen Untergang des Kaiserreichs, die hatte es seit längerem gegeben – nur niemand wollte sie sehen. Warum? Weil wir es bei der politischen Ordnung in diesem Reich mit einem selbstreferentiellen System zu tun haben, das die Gefährlichkeit seiner Lage notorisch verkannte.2 Weder die Risiken der Kriegsmüdigkeit der ausgebluteten Bevölkerung noch die Tatsache, dass die militärstrategischen Handlungschancen des Reiches bereits im Sommer 1918 gegen Null gesunken waren.3 Die Rede ist von einem Machtkartell, dessen Geschäftsführer nicht begreifen wollten, wie sehr die Politik des Reiches jetzt dringend einer demokratischen Legitimation

1

2

3

Einen guten Einblick in diesen neuerlichen Paradigmenwechsel vermittelt der Bericht von Tobias Weidner über die hochkarätige Berliner Tagung »Verfassungskultur in der Weimarer Republik« im Februar 2019: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=8227, zuletzt abgerufen 28. Oktober 2020. Zum politischen System des Kaiserreichs jetzt als guter Einstieg Christoph Nonn: Das Deutsche Kaiserreich, München 2017; vertiefend und innovativ Oliver F. R. Haardt: Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des deutschen Kaiserreichs, Darmstadt 2020. Vgl. Jörg Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, S. 872 ff.; Holger Afflerbach: Auf Messers Schneide. Wie das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg verlor, München 2018, S. 389 ff. sowie mit weiterem Horizont Ignaz Miller: 1918 – Der Weg zum Frieden. Europa und das Ende des Ersten Weltkriegs, Zürich 2019.

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

23

bedurfte; dass sie sich der Demokratie öffnen mussten, und zwar freiwillig. Es war diese Schieflage der Herrschaftskultur, die im Herbst 1918 besonders bizarre Blüten trieb. Für sie gibt es vorzugsweise personalisierende Erklärungen. Deshalb macht es Sinn, den Blick auf die Hauptverantwortlichen dafür zu richten; auf die politischen Profile der damaligen Entscheidungsträger, nicht zuletzt in ihrem persönlichen Verhältnis zueinander. Und zu fragen, wie das politische Klima in den Räumen war, in denen um politische Schicksalsfragen gerungen und katastrophale Fehlentscheidungen getroffen wurden – Räumen, über denen bereits das Dach brannte. Damit rückt automatisch der untrennbare Zusammenhang zwischen Biografie und Politik in den Fokus. Genauer: die Betrachtung von realistischen Machtoptionen und die Fähigkeit der Entscheidungsträger, diese zu verfolgen. Leuchtet man dies alles aus, so gelangt man zu bemerkenswerten Einsichten. 4 Vor allem zu einem Phänomen: der historischen Kraft von Schwäche und Untätigkeit in der Politik. Dies waren zwei wesentliche Faktoren, die einen friedvollen kontrollierten Systemwandel in Deutschland blockierten. Und die am Ende für den keineswegs zwangsläufigen Einsturz des deutschen Kaiserreichs im November 1918 sorgten. Meine These lautet: Die Gründe für die zunächst schleichende Erosion des Staatsgefüges sind vor allem im kollektiven Versagen aller politisch relevanten Entscheidungsträger zu suchen – nicht in einem Hauptschuldigen. In der Unfähigkeit zu operativer Politik gegenüber den Hauptaufgaben, die damals auf der Agenda standen: Schadensbegrenzung durch Vergleichs- und nötigenfalls sogar Verzichtsfrieden und demokratische Freiheiten für das Volk. Das ist kein in die Geschichte projiziertes Wunschdenken aus heutiger Betrachtung. Beides war im Herbst 1918 im Verständnis zahlreicher Zeitgenossen politisch geboten – und zugleich möglich. Nur hätten diese Aufgaben als solche klar definiert und tatsächlich in Angriff genommen werden müssen. Doch nichts dergleichen geschah; vor allem, weil niemand der damaligen Hauptakteure die wahren Ursachen für die akute Systemkrise realisieren und anprangern wollte, nämlich: die halsbrecherische Kriegspolitik der Obersten Heeresleitung, die Politikunfähigkeit des Obersten Kriegsherrn sowie die Demokratie-Verweigerung der Herrschenden. Ohne die verhängnisvolle Rolle Kaiser Wilhelms II.5 oder der Obersten Heeresleitung

4 5

Zum folgenden detaillierter meine Studie: Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht, Darmstadt 2018. Hierzu Lothar Machtan: Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, München 3. Aufl. 2016. – Mit freilich anderer Akzentsetzung jetzt auch Paul Schönberger/Stefan Schimmel: Kaisertage, Konstanz 2018, S. 131 ff.

24

Lothar Machtan

unter Ludendorff 6 kleinzureden, waren hier auch andere Instanzen in der Pflicht. Namentlich die zivile Reichsregierung samt hoher Staatsbürokratie, und natürlich der Reichskanzler. Deren vollständiger Verzicht auf den Primat der Politik begann bei der Entlassung Bethmann Hollwegs 1917 und setzte sich bis zum letzten Kabinett unter Prinz Max von Baden fort.7 Denn diese Regierungen haben nichts getan, um ihre Handlungsfähigkeit gegenüber der Selbstherrlichkeit von Kaiserhof und Militär zu stärken. Was sie sich hier bieten ließen, war eines modernen Politikbetriebs unwürdig. Die Reichsleitung zeigte sich geradezu blind für die gravierenden Fehler, welche die maßlose deutsche Kriegspolitik machte. Und damit auch unfähig, hier korrigierend einzugreifen. Das unverantwortliche Agieren von Kaiser und Generalstab lag gewissermaßen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Wilhelmstraße. Und damit fehlten alle Voraussetzungen für die Einsicht in die Notwendigkeit, diesen politischen Geisterfahrern beizeiten ins Rad zu greifen. Neue außenpolitische Tugenden haben die Regierenden auch nicht entfaltet, wie etwa die des respektvollen Umgangs mit Vertretern von ganz anders gelagerten Interessen; oder die Bereitschaft, fremde Perspektiven einzunehmen. Wie sollte die Regierungsbürokratie da akzeptable Bedingungen für die Kriegsbeendigung schaffen?8 Darüber hinaus war die Berliner Staatsführung in der politischen Öffentlichkeit kein Symbol von Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit. Als gewiefte Krisenmanager sind Kabinett und Kanzler nirgendwo in Erscheinung getreten. Sie hatten Angst davor, Klartext zu reden und dem Volk reinen Wein einzuschenken. Schlimmer noch: sie weigerten sich, die politischen Geschehnisse überhaupt öffentlich zu kommunizieren. Die letzte kaiserliche Regierung, eingesetzt im Oktober 1918, nannte sich eine Regierung des Volksvertrauens, aber de facto war sie eine Volksregierung ohne Rückhalt im Volk. Vor allem die Unterschichten fühlten sich von ihr im Stich gelassen. Und sie fühlten richtig, denn die Distanz der Verantwortlichen in der Wilhelmstraße und 6 7 8

Vgl. zuletzt Manfred Nebelin: Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg, München 2010, S. 401 ff. Vgl. Lothar Machtan: Der Endzeitkanzler. Prinz Max von Baden und der Untergang des Kaiserreichs, Darmstadt 2. Aufl. 2018, S. 290 ff. Das Scheitern einer halbwegs weitsichtigen und weltoffenen Außenpolitik lässt sich exemplarisch anhand der Entlassung des Außenamtschefs Richard von Kühlmann im Sommer 1918 studieren, des einzigen deutschen Diplomaten, der im Ersten Weltkrieg so etwas wie den Mut zu einer Verständigungspolitik besaß: vgl. Markus Bußmann: ›Ein liberaler Konservativer, ein konservativer Liberaler‹. Richard von Kühlmann, die Diplomatie und die Liberalen, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 12 (2000), S. 121–176.

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

25

dem gemeinen Volk blieb bis in den November 1918 hinein riesengroß. Man hatte dort keine Vorstellung von der Not dieser Menschen, ihren Bedürfnissen, aber auch nicht von dem wachsenden Unwillen, sich dieses Elend nicht länger bieten zu lassen. Die Gärung in der Gesellschaft wurde dadurch ganz zweifellos befördert. Trotz diverser Reformansätze ist auch die letzte dieser kaiserlichen Regierungen nicht als Motor in Erscheinung getreten, um in Deutschland den demokratischen Rechtsstaat durchzusetzen. Dem Ideal einer rechtsstaatlich kon­ trollierten, sich dem Parlament und der Gesellschaft verantwortlich zeigenden Exekutive kam sie nicht bedeutend näher als diverse Vorgängerinnen. Die Möglichkeit politischen Niedergangs schloss sie ebenso kategorisch aus. Weil sie keine reformerische Gestaltungskraft entfaltete, konnte sie dem Reich auch keine neue Ausrichtung mehr geben. Es war der politische Vertrauensverlust, der am Ende die legitimatorische Basis des ganzen Herrschaftssystems zerstörte. Hierbei fällt dem letzten Kanzler des Kaisers nicht die alleinige, aber doch eine maßgebliche Verantwortung zu. Sein größter Irrtum bestand wohl in der Illusion, er könne durch seine Personalität eine eigene politische Wirkungsmacht entfalten. Tatsächlich hat er aber nicht einmal die Initiative ergriffen, Politik eigenmächtig zu gestalten. Hinzu kam, dass sich sein Kabinett trotz einiger Alibi-Demokraten sehr rasch als ungeeignet erwies, den politischen Veränderungsdruck der deutschen Kriegsgesellschaft auch nur ansatzweise abzumildern; geschweige denn in operative Politik zu überführen. So konnte nicht einmal die – letztlich von US-Präsident Wilson erzwungene – Verfassungsreform vom 28. Oktober, die Deutschland zumindest formell zu einer parlamentarischen Monarchie machte, Integrationskraft entfalten. Nicht weniger kritisch muss das Versagen des Deutschen Reichstags und der Koalition seiner Mehrheitsparteien gegenüber den drängenden Aufgaben vom Spätsommer 1918 beurteilt werden, nämlich: Deutschland schnellstmöglich Frieden und Freiheit zu bringen.9 Was wir hier beobachten, sind politisch ratlose Volksvertreter, denen es an fast allem gebrach, was Grundvoraussetzung für operative Politik ist. Drei Defizite traten besonders eklatant in Erscheinung: Dass es sich hier überwiegend nicht um »lupenreine Demokraten« handelte, vielmehr um Abgeordnete, die von Volkssouveränität nicht sehr viel wissen wollten. Dass sie unfähig, ja sogar unwillig waren, die militä9

Einen informativen Einblick in diese Defizite vermittelt die leider kaum beachtete Studie von Ernst-Albert Seils: Weltmachtstreben und Kampf für den Frieden. Der deutsche Reichstag im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2011., hier S. 543 ff.

26

Lothar Machtan

rische Lage Deutschlands realistisch zu beurteilen. Und deshalb bis Oktober 1918 noch fest daran glaubten, dass der Ausgang des Weltkriegs völlig offen sei. Schließlich, dass sie keinerlei Willen zur Macht entwickelten, ja nicht einmal eine wirksame parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns erstrebten. »Es ist nicht nur der Autoritätszusammenbruch der alten militärischen, autokratischen und bürokratischen Gewalten eingetreten«, so Alfred Webers zutreffende Situationsbeschreibung kurz vor dem Ende des Kaiserreichs: »Wir stehen auch vor einem ungeheuren Prestigeverlust aller anderen an der bisherigen Politik beteiligten, mit ihr irgendwie verstrickten Kräfte, der gesamten bisherigen Wissenschaft und – das muss offen gesagt sein – auch der bisherigen Parteigewalten des Reichstages, die jetzt die Zügel der Regierung ergriffen.«10 Die Mehrheit im deutschen Reichstag wollte bis zuletzt keine grundlegende Umgestaltung des überkommenen Herrschaftsgefüges. Es fehlten der politische Wille und auch die Entschlusskraft zu einem echten Systemwechsel. Deshalb konnte dieses Parlament dem wilhelminischen Machtstaat keine politischen Zukunftsentwürfe entgegensetzen und den Machthabern auch keine wegweisenden Konzessionen abringen. Es hat sich selbst gleichsam aus dem Spiel genommen – dem Spiel um reale politische Macht. Und damit die Chance verpasst, die demokratische Selbstbestimmung des deutschen Volkes auf parlamentarischem Wege aus eigener Kraft zu erkämpfen. Auch der nachmalige Reichspräsident und damalige Abgeordnete Friedrich Ebert, Führer der in den Volksmassen gut verankerten Mehrheitssozialdemokratie, hat einiges zu dieser Instabilität der Lage beigetragen: Indem er den Erwartungshorizont gegenüber den Fähigkeiten und dem transformativen Willen der letzten kaiserlichen Regierung viel zu weit aufgespannt und mehr versprochen hat, als die Politik halten konnte.11 Seine Nibelungentreue gegenüber Max von Baden war der politisierten Öffentlichkeit bald schon nicht mehr vermittelbar. Denn sie tarnte in Wahrheit nur ein eklatantes Staatsversagen. Sein anhaltendes Lob für die letzte Regierung des Kaisers musste bei den Regierten in immer neuer Frustration und Enttäuschung enden. Aber selbst diese gekippte Stimmung blieb bei Ebert ohne engagierte Resonanz. Er hielt an dem

10 Alfred Weber: Das Programm der Regierung, in: »Berliner Tageblatt« vom 6. November 1918 (MA). 11 Ich greife hier einen Gedanken wieder auf, den ich bereits in meinem Essay »Geburtshelfer der Demokratie? Prinz Max von Baden – der letzte Kanzler des Kaisers«, in: Andreas Braune /Michael Dreyer (Hrsg.): Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort, Stuttgart 2018, S. 3–14, entfaltet habe.

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

27

Glauben fest, dass die Regierung Max von Badens über kurz oder lang breite öffentliche Anerkennung und Unterstützung finden würde. Am Ende wurde er zum Gefangenen der (falschen) politischen Erwartungen, die er selbst und seine Partei geweckt hatten, als sie in die letzte kaiserliche Regierung eintraten. Die Angst, die Regierung Max von Baden aufs Spiel zu setzen, blockierte die Einsicht, sich politisch zusehends in die Sackgasse zu manövrieren. Hinter Ebert verschwand im Herbst 1918 die MSPD als selbständig agierende politische Organisation nahezu komplett. Die daraus resultierende Selbstlähmung der Sozialdemokratie kann in ihren politischen Auswirkungen gar nicht überschätzt werden. Weil sie neues politisches Denken blockierte. Zwar vermochte die Ebert-Partei ihre hegemoniale Position innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung trotz ihrer staatsragenden Bemühungen zu bewahren, aber sie überließ den unabhängigen Sozialisten sowie den noch weit radikaleren Linken die Straße als Politikfeld. So verpasste sie den Anschluss an die aufbegehrenden Massen und war nicht mehr in der Lage, deren geistige Führerschaft zurückzugewinnen. Die USPD blieb die einzige politische Partei, die damals die Gärung in der Bevölkerung wahrnehmbar aufnahm und mit deutlicher Spitze gegen die Regierenden artikulierte.12 Währenddessen klammerte sich Ebert bis Anfang November an einen Staat, der bereits über dem Abgrund hing. Das hat aber – Ironie der Geschichte – die revolutionäre Ungeduld der Massen erst richtig angeheizt. Die Illusion, Politik losgelöst von der mentalen und sozialen Wirklichkeit der Arbeiter um patriotischer Pflichten willen machen zu können, entfaltete einen klassischen Bumerang-Effekt. Die Welle militanter Unzufriedenheit, die die deutsche Gesellschaft im Herbst 1918 erfasste, musste nicht agitatorisch erzeugt werden. Sie war das folgerichtige Ergebnis einer verwerflichen Kriegsführung und einer erratischen Innenpolitik im Reich.13 Auch der letzten kaiserlichen Regierung des vermeintlichen »Volksvertrauens« mangelte es an politischer Kompetenz, um das leckgeschlagene Staatsschiff wieder auf Kurs zu bringen. Und an Veränderungs12 Die Rolle der USPD in den Schwellenjahren 1918/19 ist bis heute unzureichend erforscht. Einiges an Orientierung liefern Uli Schöler/Thilo Scholle (Hrsg.): Weltkrieg – Spaltung – Revolution. Sozialdemokratie 1916–1922, Bonn 2018 sowie Ernst-Albert Seils: Hugo Haase, Frankfurt a. M. 2016. 13 Exemplarisch nachzuvollziehen in der lesenswerten Fallstudie von Martin Rackwitz: Kiel 1918. Revolution – Aufbruch zu Demokratie und Republik, Kiel 2018. – Vgl. darüber hinaus Detlef Lehnert (Hrsg.): Revolution 1918/19 in Norddeutschland, Berlin 2018; ders. (Hrsg.): Revolution 1918/19 in Preußen, Berlin 2019; Maximilian Wacker: Die Revolution von 1918/19 in der Oberpfalz, Regensburg 2018; Thomas Stamm-Kuhlmann (Hrsg.): November 1918. Revolution an der Ostsee und im Reich, Göttingen 2020.

28

Lothar Machtan

bereitschaft. Die Protagonisten blieben dauerhaft blind für ihr schlechtes Erscheinungsbild im öffentlichen Raum. Sie realisierten nicht die Entfremdung gegenüber dem eigenen Volk. Sie hatten offenkundig kein Interesse daran, die kritische Lage genau und ideologiefrei in den Blick zu nehmen. Eine Politik hin auf die akuten Bedürfnisse der kriegsmüden Gesellschaft gab es nicht einmal in Umrissen. Im Gegenteil, das einzige, was es hier gab, war Problemverschleierung und Konkursverschleppung. Aber nur die politische Willenlosigkeit des Parlaments hat es der kaiserlichen Regierung ermöglicht, politisch derart zu versagen. Weil der Berliner Politikbetrieb nichts von dem lieferte, was die Öffentlichkeit immer lautstärker forderte, verfiel ihr öffentliches Ansehen so rapide, dass dem Staat im Oktober 1918 zusehends die Kontrolle über das öffentliche Geschehen in Deutschland entglitt.14 Es war die Politik der Straße, die dieser letzten kaiserlichen Regierung trotz sozialdemokratischer Beteiligung und Loyalität seit Mitte Oktober ganz massiv die Legitimität abgesprochen hat. Die wachsende Misstrauensopposition verurteilte auch den viel zu zögerlichen und viel zu späten Versuch eines politischen Wandels von oben, die bis heute überschätzte Verfassungsreform vom 28. Oktober 1918, zum Scheitern. Von den Anfängen einer »Volksherrschaft« konnte ja auch überhaupt keine Rede sein. Weder die Regierung noch die hohe Staatsbürokratie wollten mit den Oktoberreformen einen echten Systemwechsel herbeiführen. Deshalb blieb auch der Militarismus als wesentliches Konstruktionsprinzip des deutschen Monarchie-Modells so gut wie unangetastet.So haben erst die Volksaufstände in ganz Deutschland Anfang November 1918 die andauernde Blockade der deutschen Politik tatsächlich durchbrochen. Nur unter dem Druck einer militanten Massenbewegung ist in Deutschland eine wesentliche Veränderung des politischen Systems hin

14 Vergeblich hatte der augenscheinlich verzweifelte Alfred Weber die Reichsleitung noch in letzter Minute gewarnt: »Es zerbröckelt heute alles, was für das radikal gewordene Volksempfinden aus dem alten Regime stammt, aus den alten Schreibstuben und Ämtern, deren Nimbus zerstört ist, wie nur je ein Nimbus zerstört ward. An dessen Stelle wird eine aus der Not und dem Druck der Zeit, aus ausländischen Suggestionen und aus dem Gefühl der eigenen zu entgeltenden Leistung gemischte, gänzlich voraussetzungslose Forderung treten, die in neue Formen und Phantasieinhalte gehüllt ist und deren Konsequenzen man nach ihrer praktischen Seite in keiner Weise absehen kann. Man führe diese Forderung in geregelte und mögliche Bahnen; man tue das rasch und unter Verwendung großer, neuer und wirklich radikaler Impulse.« (»Berliner Tageblatt« vom 6. November 1918). – Ganz ähnlich auch Ernst Troeltsch in seinem Schreiben an Hans von Schubert vom 7. November 1918, in: ders., Briefe IV (1915–1918), Berlin 2018, S. 501 f.

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

29

zu demokratischer Freiheit erfolgt. Dabei fielen zwei Vorgänge gleichsam in eins: der entschiedene Widerwillen vor allem der Soldaten- und Arbeitermassen gegen die autoritären Anmaßungen der Militärmonarchie und die politische Selbstaufgabe ihrer gekrönten Häupter.15 Am Ende rettete auch die Übertragung der Kanzlerschaft an Ebert das Kaiserreich nicht mehr. Aus dem halben Staatsstreich der Wilhelmstraße machte das revoltierende Volk einen ganzen – und führte die deutsche Republik herbei. Revolutionärer Aufbruch, aber wohin? Geschichtspolitisch wird die Novemberrevolution von 1918 zur Zeit als gelungener Aufbruch zur Freiheit gefeiert.16 Man will sie zu einem Grundstein der geschichtlichen Selbstdarstellung unserer heutigen (liberalen) Demokratie machen. Aber warum war die Weimarer Republik dann von Anfang an so fundamental umstritten? Warum führte die radikale Demokratisierung des aus der Geschichte gefallenen Obrigkeitsstaates nicht zu halbwegs stabilen Verhältnissen? Warum misslang die nachhaltige Verankerung demokratischer Grundwerte in den Köpfen der Massen? Eine monokausale Erklärung gibt es sicher nicht, doch eine der in meinen Augen wichtigsten Begründungen lautet: weil noch Ende Oktober 1918 in der Welt der deutschen Politik niemand einen solchen demokratischen Staat hervorbringen wollte. Es gab in Deutschland damals so gut wie keine überzeugten Republikaner: Die Mehrheitsparteien des Parlaments mit der Sozialdemokratie als stärkster Kraft erstrebten eine Übereinkunft von Monarchie und bürgerlicher Demokratie unter einem vorzeigbaren Ersatzkaiser (einem sogenannten Reichsverweser) an Stelle des völlig diskreditierten Wilhelm II. Die linkssozialistische Minderheit aus Unabhängigen Sozialdemokraten wollte eine mehr oder minder autoritäre Räteherrschaft der Arbeiterklasse, antikapitalistisch und antiimperialistisch. Der noch kleine, linksradikale Spartakusbund strebte eine kommunistische Diktatur nach dem Vorbild Sowjetrusslands an. Und die konservativen Eliten und Hardliner der preußischen Militärmonarchie befanden sich in einem Zustand der Schock-

15 Zu letzterem Aspekt jetzt auch Iris Kretschmann/André Thieme (Hrsg.): »Macht euern Dreck alleene!« Der letzte sächsische König, seine Schlösser und die Revolution 1918, Dresden 2018 sowie Stefan Gerber (Hrsg.): Das Ende der Monarchie in den deutschen Kleinstaaten, Köln 2018; im übrigen Machtan, Abdankung (wie Anm. 5). 16 Als pars pro toto für dieses rehabilitierende Lob der deutschen Revolution steht auf dem deutschen Buchmarkt die schon im Vorfeld des Jubiläums veröffentlichte Studie von Wolfgang Niess: Die Revolution von 1918/19. Der wahre Beginn unserer Demokratie, Berlin 2017.

30

Lothar Machtan

starre, hervorgerufen durch die Unfassbarkeit der deutschen Kriegsniederlage, vor der aber selbst sie nun die Augen nicht mehr verschließen konnten. In diesem Spannungsfeld bewirkten die Synergieeffekte der Kieler Matrosenrevolte in den ersten Novembertagen einen Kontrollverlust des Zentralstaates, der zu politischem Chaos in der Berliner Regierungszentrale führte. Das provozierte den Volksaufstand vom 9. November, und noch bevor überhaupt ein Schuss fiel, war die als unbeugsam geltende monarchische Ordnung bereits eingeknickt, und die Militärmonarchie räumte kampflos das Feld. Daraus konnte nichts anderes als die Sturzgeburt einer Republik folgen – als Konsequenz Wilhelminischen Staatsversagens gegenüber den beiden dringendsten Aufgaben: Deutschland auch um den Preis großer Zugeständnisse rasch aus dem Weltkrieg zu führen und seine politische Ordnung glaubwürdig zu demokratisieren. Unversehens stand die politische Klasse nun vor dem Ergebnis eines Zerfalls, auf den keiner eingestellt gewesen war. Und grundstürzend neue Prinzipien hatte man für die deutsche Politik auch nicht parat. Aus jener prekären Ausgangssituation resultierte ein Großteil der Defizite, die das Aufblühen der ersten deutschen Demokratie so enorm erschwerten. Was sollte man auch von Politikern erwarten, die bis zum Ausbruch der Novemberrevolution für die Monarchie eintraten und Bestrebungen für eine radikaldemokratische Überwindung des Kaiserreichs nach Kräften bekämpft hatten? Die nur die normative Kraft des Faktischen zu Republikanern hatte werden lassen. Für diese Politiker war die deutsche Republik gleichsam ein untergeschobenes Kind, das sie nur deshalb adoptierten, weil es zunächst einmal nicht anders ging und weil man Schlimmeres, nämlich totalen Kontrollverlust oder gar eine kommunistische Machteroberung, unbedingt verhindern wollte.17 Mehrheitssozialdemokraten und – entschlossener fast noch – linksliberale Demokraten haben sich denn auch sofort auf den Boden dieser Improvisation gestellt – des kleineren Übels angesichts der vermeintlichen Gefahr eines »russischen Weges«. Das war der Grundkonsens der Republikgründer bei der Geburt der deutschen Demokratie. So kam es am 19. Januar 1919 bei den Wahlen zur Nationalversammlung doch noch zu einer quasi-republikanischen Willenskundgebung durch die Mehrheit der Wahlberechtigten. Die versetzte der deutschen Monarchie zwar den endgültigen Todesstoß; doch einen grund-

17 Ernst Troeltsch hat diesen Sachverhalt scharfsichtig dahingehend beschrieben, dass die Führer der Mehrheitssozialdemokratie »um der Wirkung auf die Massen willen die Revolution, die sie nicht gemacht hatten und die von ihrem Standpunkt aus eine Fehlgeburt war, als ihr eigenes, lange verheißenes Kind« spontan angenommen hätten. (Spectator-Briefe, Berlin 1924, S. 15).

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

31

legenden und nachhaltigen Stimmungswandel der politischen Öffentlichkeit im Sinne eines lagerübergreifenden republikanisch-demokratischen Patriotismus erwirkte sie leider nicht. Schon ein Jahr später waren die große Wahlerfolge der Gründungsparteien von Weimar bereits Tempi passati. Die Signatur dieser Zeitenwende blieb ein unruhiges Pendeln zwischen Chance und Scheitern, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen militanten Revolutionären und militanten Reaktionären. Erst in seiner Wahlrede vor der Nationalversammlung im Februar 1919 hat der designierte Reichspräsident Friedrich Ebert das deutsche Volk dafür gelobt, dass es sich so mutig »gegen eine veraltete zusammenbrechende Gewaltherrschaft« erhoben habe.18 Aber ein politisches Interesse an dieser Revolution hat er niemals bekundet. Das konnte er auch nicht, denn bis zum 9. November hatte er von einer solchen »Erhebung« gar nichts wissen wollen, sie vielmehr als ein Unglück angeprangert und sich solchen Bestrebungen mit dem ganzen Einfluss seiner Partei entgegengestemmt.19 Da war die monarchische Idee für ihn noch handlungsleitend. Er wollte das Leck mit stopfen helfen, das die Harakiri-Kriegsführung der Obersten Heeresleitung und die planlose kaiserliche Reichsregierung dem deutschen Staatsschiff geschlagen hatten. Denn er wähnte sich selbst und seine Partei bereits auf diesem Schiff; deshalb konnte er nicht wollen, dass es untergeht. Er blieb auf die Errungenschaften des sogenannten Burgfriedens von 1914 fixiert, welche die SPD nach Jahrzehnten der Diskriminierung endlich die Anerkennung als gleichberechtigte politische Kraft im Parlament eingebracht und sie im Oktober 1918 schließlich sogar in die Reichsregierung geführt hatten. Diese Errungenschaften wollte er sukzessive ausbauen – ohne Regelverstoß und außerparlamentarische Opposition. Niemals wäre es ihm vor dem 9. November 1918 in den Sinn gekommen, auf einer Versammlung oder anderswo die demokratische Republik hochleben zu lassen. Was er wollte, war die endliche Anerkennung seiner Sozialdemokratie als Staatspartei, als staatstragende Kraft. Deshalb sahen die alten Eliten der hohen Staatsbürokratie auch in dem Regierungsanspruch, den er am Morgen des Volksaufstandes in Berlin namens seiner Partei in der Reichskanzlei erhob, keine umstürzlerische Anmaßung, sondern eine nachvollziehbare Forderung im Sinne eines systemkonformen Krisenmanagements, der sie prinzipiell bereit waren nachzukommen. Die folge18 Vgl. Walter Mühlhausen (Hrsg.): Friedrich Ebert – Reden als Reichspräsident (1919– 1925), Bonn 2017, hier S. 59 f. 19 Hierzu wie auch zum Folgenden die Belege bei Machtan, Kaisersturz (wie Anm. 4), S. 134 ff.

32

Lothar Machtan

richtige Betrauung Eberts mit der Führung der Reichskanzlergeschäfte war freilich alles andere als legitim. Es war informelles, konspiratives, rechtsfreies Regierungshandeln – ebenso wie schon die unmittelbar vorangegangene eigenmächtige Verkündigung der Abdankung Kaiser Wilhelms II. durch dessen letzten Kanzler, die durch keinerlei Willenserklärung des Monarchen gedeckt war. Hier wollte man augenscheinlich Fakten schaffen ohne Rücksicht auf die Rechtslage. Deshalb wäre es in der politischen Logik dieses halben Staatsstreichs nur konsequent gewesen, nun ebenso eigenmächtig auch noch einen Regenten, einen Ersatzkaiser auf den verwaisten Thron zu setzen. Ja, erst dieser Akt hätte der exekutiven Anmaßung in der Wilhelmstraße zu einem politisch sinnvollen Abschluss verholfen: einer möglichst friedlichen Revolution von oben. Aber dazu sollte es nicht mehr kommen, denn der dafür vorgesehene Kandidat Prinz Max von Baden wollte sich dieser Aufgabe partout nicht stellen. Und eine personelle Alternative zu ihm gab es damals nicht. Das war ein Fiasko insofern, als die parlamentarische Monarchie mit einem populären Regenten an und für sich nicht die schlechteste Option für das zerrissene Nachkriegsdeutschland gewesen wäre.20 Wer dann für dieses Debakel am meisten zu zahlen hatte, war Friedrich Ebert, der nun allein auf dem Scherbenhaufen der preußisch-deutschen Militärmonarchie sitzen blieb. Er musste jetzt erst einmal mit den Wölfen der Revolution heulen, um überhaupt noch Einfluss auf das Geschehen zu behalten und den tief erschütterten Staatsapparat nicht gänzlich zu ruinieren. Ihm blieb keine andere Wahl, weil er am Mittag des 9. Novembers 1918 politisch auf der ganzen Linie gescheitert war: Weder hatte er die revolutionäre Erhebung großer Volksmassen unterbinden können, noch war es ihm möglich, seinen Plan zu verwirklichen: Prinz Max zum Regenten einer erneuerten Monarchie zu machen und mit ihm selbst als Kanzler einen Volksstaat auf monarchischer Grundlage aus der Taufe zu heben. Die Übertragung der Führung der Regierungsgeschäfte nützte ihm in der konkreten Situation wenig, denn die Aufstandsbewegung war inzwischen in die Hände der Unabhängigen Sozialisten (USPD), der linksradikalen revolutionären Obleute und teilweise auch schon der Spartakusgruppe übergegangen. Und die machten ihm schnell klar, dass »ihre« Revolution einen Reichskanzler Ebert nicht bestellt habe und auch nicht dulden würde. So musste sich der Parteiführer – innerlich widerstrebend – erst einmal mit einem von insgesamt sechs Posten im sogenannten Rat der Volksbeauftragten bescheiden.21 20 Hierzu grundsätzlich das Nachwort zur Neuauflage meiner Max-von-Baden-Biografie (wie Anm. 7), hier S. 528 ff. 21 Ob es tatsächlich »ein raffinierter, beinahe machiavellistischer Schachzug der MSPDSpitze« war, »die Unabhängigen in die Regierung zu locken« – wie Joachim Käppner:

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

33

Eberts Bruchlandung geht wesentlich darauf zurück, dass er seit dem Spätsommer 1918 nur mehr darauf eingeschworen blieb, das Bestehende zu retten; um jeden Preis. Außerdem schien die Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie eine Machtperspektive zu eröffnen. Dafür sah er – entweder naiv oder fahrlässig – über die politische Inkompetenz und Willensschwäche seines wichtigsten Verbündeten: des Reichskanzlers Max von Baden hinweg. Und er unterschätzte das Risiko einer politischen Selbstlähmung seiner Partei, die die Regierungsbeteiligung mit sich brachte. Er hat bewusst darauf verzichtet, die Impulse des proletarischen Protestes, der sich im Herbst 1918 deutschlandweit manifestierte, aufzunehmen bzw. in die Politik zu tragen. Dafür nahm er die massive Brüskierung des radikalen Flügels der sozialistischen Arbeiterbewegung in Kauf. Eine Vorgehensweise, die es den deutschen Sozialisten bis zum 9. November unmöglich machte, als geeinte politische Kraft zu agieren. Eine Politik, die nachhaltig zur Desintegration des linken Lagers beitrug, ja den späteren Bruderkrieg mit vorprogrammierte. Die Straße als komplementärer Ort der Politik hatte in Eberts Denken einfach keinen Platz; sie war für ihn eine obskure Gegenwelt zu seiner Vorstellung von politischer Ordnung. Dabei hatten die Menschen ihre Protestbewegung hauptsächlich deshalb initiiert, um ihr Leben gegen die unerträglichen Zumutungen der Obrigkeit zu verteidigen. Dass damals politisch sehr viel mehr möglich war, als er für realistisch hielt, war fatal. Mit dieser Sicht der Dinge soll nun aber keineswegs den ultraradikalen Kräften von links ein Lorbeerkranz geflochten werden.22 Denn namentlich die Spartakisten sind über eine Politik voluntaristischer Überwältigung nicht wesentlich hinausgekommen. Sie hatten sich vorschnell an dem massenhaften Zuspruch berauscht, der im wesentlich nur daher rührte, dass sich die MSPD beim Kampf um die Straße selbst aus dem Rennen nahm. Hinzu kam die Popularität eines Charismatikers namens Karl Liebknecht, einer politischen Potenz aus eigener Wurzel.23 Dabei haben sich diese Berufsrevolutionäre weiter radikalisiert und verschworen, ohne eine konkrete politische Vorstellung zur Gestaltung des Kommenden zu entwickeln. Und ohne in Rechnung zu stellen, dass die als »Monarcho-Sozialisten« verspotteten Sozialdemokraten unter

1918. Aufstand für die Freiheit, München 2017, S. 212, schreibt, möchte ich bezweifeln. Diese Koalition war für das politische Überleben der Ebert-Partei als Regierungspartei am 10. November 1918 alternativlos. 22 Zum folgenden vgl. auch Stefan Bollinger: November 18. Als die Revolution nach Deutschland kam, Berlin 2018. 23 Vgl. Dominik Juhnke u. a.: Mythos der Revolution. Karl Liebknecht, das Berliner Schloss und der 9. November 1918, München 2018.

34

Lothar Machtan

Ebert nach wie vor in der organisierten Arbeiterbewegung politisch den Ton angaben und insofern gar nicht aus dem Sattel zu heben waren, auch nicht mit Waffengewalt. Dass sie auch wieder Massendemonstrationen zu organisieren verstanden, wie die Riesenkundgebung ihrer Anhänger am 29. Dezember 1918 im Berliner Stadtzentrum unter Beweis stellte.24 Insofern zeigten jene enragierten Vorkämpfer der Weltrevolution mit ihrem unbändigen Willen zur sofortigen Machtübernahme in Deutschland alles andere als strategische Weitsicht. Vielmehr haben sie mit ihrem militanten Gebaren anmaßender Selbstermächtigung auch ihrerseits ganz erheblich zur Zerbrechlichkeit der in Gründung begriffenen deutschen Republik beigetragen. Dass sie zur Wahl der Nationalversammlung gar nicht erst antraten, unterstreicht, wie wenig sie im Winter 1918/19 auf der Höhe der Zeit waren und wie wenig ihnen (liberale) Demokratie bedeutete. Umso wesentlicher wurde die Rolle der linksliberalen Kräfte bei der zügigen Transformation des Kaiserreichs in ein bürgerlich-demokratisches Staatswesen.25 Dass die deutsche Revolution überhaupt so zielklar Kurs auf eine repräsentative Demokratie nehmen konnte, verdankt sich nicht zuletzt dieser erstaunlich raschen Selbstmobilisierung des Linksliberalismus, genauer: von bürgerlichen Demokraten aus dem intellektuellen Segment der Gesellschaft. Vor allem massenmedial eilten sie der Mehrheitssozialdemokratie sofort zu Hilfe. Schon wenige Tage nach dem 9. November rief ein deutschlandweit publizierter Aufruf des »Demokratischen Büros« die Bürger auf, sich schleunigst auf den Boden der republikanischen Staatsform zu stellen und den machtpolitischen Status quo zu akzeptieren.26 Wie Theodor Wolff, der Mitinitiator dieses Manifestes, erläuterte, wollte man »den sozialdemokratischen Republikanern eine starke bürgerliche Bundesgenossenschaft« sichern, um den »werdenden Staat« durch »selbstlose Bereitwilligkeit zur Mitwirkung« in seiner Abwehr von »proletarischem Terror und bolschewistischen Experimenten«

24 Vgl. Mark Jones: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin 2017, S. 138 ff. 25 »Das Bürgertum wird radikal sein – oder es wird nicht sein«, so schon am 14. November die Prognose der »Frankfurter Zeitung«, des Leitmediums des deutschen Linksliberalismus (Nr. 316). – Zum historisch-politischen Kontext vgl. Bernd Sösemann: Theodor Wolff. Ein Leben mit der Zeitung, Stuttgart 2012, S. 143 ff.; Michael Dreyer: Hugo Preuß. Biografie eines Demokraten, Stuttgart 2018, S. 329 ff.; Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018, S. 69 ff. 26 Diese vom 13. November 1918 datierte Proklamation wurde im »Berliner Tageblatt« vom 16. November 1918 veröffentlicht.

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

35

den Rücken zu stärken.27 Dahinter stand die Überzeugung, dass die deutsche Monarchie »unrettbar tot« sei und jeder begreifen sollte, dass »der Nimbus der Mächtigen« »für immer dahin« sei. In ebendiesem Sinne setzten damals auch Persönlichkeiten wie Walther Rathenau darauf, dass es ihm gelingen werde, »das Bürgertum zur Revolution herüberzuziehen«.28 Im Schulterschluss mit der MSPD wollten diese bürgerlichen Kräfte Macht über den Fortgang der deutschen Revolution gewinnen, deren Dynamik sollte »entschleunigt« und ihre Kultur umcodiert werden. Schon im November 1918 trat mit Hugo Preuß, dem späteren »Vater« der Weimarer Verfassung, ein politisch versierter Gelehrter aus diesem Lager in die provisorische Regierung der »Volksbeauftragten« ein29 – eine »Revolutionsgemeinschaft«, in der Männer wie Walther Rathenau übrigens »eine bürgerliche Regierung am Werke« sahen.30 So wurde der linksliberal-demokratische Teil des deutschen Bürgertums zu einem gleichsam genuinen Faktor des politischen Geschehens dieser Revolutionszeit; erst auf der medialen Ebene, und demnächst auch regierungspraktisch. Es galt jetzt, die politische Konkursmasse der deutschen Monarchie so schnell als möglich in eine neue demokratisch-republikanische Staatsordnung zu überführen. In ein politisches System, das – natürlich – den Forderungen der Revolution durch echte Mitsprache- und Freiheitsrechte Rechnung tragen musste – sonst wäre es nicht akzeptiert worden. Die treibende Kraft bei dieser praktisch-politischen Transformation wurde im Winter 1918/19 die sich damals gründende Deutsche Demokratische Partei (DDP)31 – nicht die Mehrheitssozialdemokratie. Man kann sogar von einer Diffusion genuin liberalen Ideenguts in die Agenda der Ebert-Partei sprechen. Sonst hätte die sich nicht so energisch für den Vorrang individueller Freiheitsrechte, für streng 27 LA »Die große demokratische Partei« (»Berliner Tageblatt« vom 16. November 1918); dort auch das nachfolgende Zitat. 28 Brief an Holitscher vom 21. November 1918, in: Walther-Rathenau-Gesamtausgabe, Bd. 5/2, Düsseldorf 2006, S. 2026. Vgl. auch ebd., S. 2019 f. und S. 2021 f. 29 Empfohlen hatte sich Preuß mit einem Leitartikel »Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?« für das »Berliner Tageblatt« (14. November 1918), der an die »neuen Machthaber« appellierte: »Ihr könnt dem geschlagenen deutschen Volk Erhebung, dem zerrütteten deutschen Staate neues Leben unmöglich unter Entrechtung seines Bürgertums, unmöglich im Zeichen des Klassenkampfes bringen.« 30 Walther Rathenau, Schriften der Kriegs- und Revolutionszeit (Gesamtausgabe, Bd. 3), Düsseldorf 2017, S. 530. 31 Vgl. nach wie vor Lothar Albertin: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik, Düsseldorf 1972, hier S. 54 ff. – Erhellend hierzu jetzt auch Andrea Kramp: Georg Gothein (1857–1940). Aufstieg und Niedergang des deutschen Linksliberalismus, Düsseldorf 2018, hier S. 395 ff.

36

Lothar Machtan

rechtsstaatliche Prinzipien und für demokratisch zu legitimierende Reformen engagiert und nicht so entschieden gegen rätedemokratische oder plebiszitäre Optionen gewandt, die ihr von Haus und Programm her eigentlich viel näher standen.32 Es wird Zeit, in diesem – leider nur episodischen – politischen Engagement des fortschrittsliberalen Bürgertums die determinierende Kraft für die Zukunftsfähigkeit des deutschen Republik-Modells zu erkennen. Als indirekte Mitgestalter des politischen Betriebs schrieben sie damals Geschichte. Der MSPD kam diese voluntaristische Zuarbeit der liberalen Demokraten wie gerufen. Vor allem als verstärkendes »Gegengift der Revolution«.33 Nicht zuletzt aber auch als Antizipation einer Wunschkoalition für die Zeit nach den angestrebten Wahlen zur deutschen Nationalversammlung. Sie bestärkte die Parteiführung in ihrem Glauben, man könnte die notwendigen politischen Innovationen allein oder jedenfalls vorzugsweise durch Regierungs- und Parlamentsbeschlüsse – also durch hoheitliche Entscheidungen der politischen Klasse – bewirken. Und brachte sie zeitgleich davon ab zu realisieren, dass wirklich tiefgreifende Neuerungen nur als Kultur funktionieren; dass es mithin galt, möglichst viel Ballast der politisch erledigten Militärmonarchie abzuwerfen. Und für das Politikmachen neue Maßstäbe zu setzen. Wozu nicht zum wenigsten gehörte, die überkommenen bürokratisch-militärischen Strukturen durch eine freiheitliche Atmosphäre und neues Personal wenigstens aufzuweichen. Doch Ebert und seine engsten Mitstreiter wollten aus der Funktionslogik des überkommenen Politikbetriebs nicht ausbrechen. Zum einen, weil sie keine weitreichende politische Konzeption besaßen. Und weil sie an dem Glauben festhielten, nur Staatsautorität würde für politische Stabilität sorgen. Daraus konnte nicht sehr viel mehr als eine primär rechtlich gedachte »Formaldemokratie« (Ernst Troeltsch) erwachsen.34 Ein hohes Risiko in einem Land, wo es bis dato eine freiheitliche politische Kultur kaum gegeben hatte. Namentlich Eberts Angst vor Alternativen, verbunden mit einem Mangel an Möglichkeitssinn, hat die politische Dissonanz in der deutschen Nachkriegsgesellschaft fraglos vergrößert und Erwartungen (auch der eigenen Anhänger32 Am 23. November 1918 hatte Ebert noch öffentlich erklärt, »dass die Nationalversammlung so bald wie möglich einberufen werden soll, um die staatsrechtliche Grundlage für die sozialistische Republik zu schaffen«. (Zitiert nach »Berliner Tageblatt« vom 24. November 1918). 33 So die treffliche Formulierung von Wolfgang Hardtwig in seiner jüngsten Studie: Freiheitliches Bürgertum in Deutschland. Der Weimarer Demokrat Eduard Hamm zwischen Kaiserreich und Widerstand, Stuttgart 2018, hier S. 59. 34 Hierzu auch Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie, Berlin 2018, S. 69 ff.

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

37

schaft) enttäuscht.35 Mit bürokratischen Mitteln war keine neue politische Kultur zu stiften. Umso weniger, als die machtpolitische Positionierung der Sozialdemokratie die Bereitschaft mit einschloss, gegen alles, was links von ihr stand und kämpfte, rücksichtslos, ja gewaltsam vorzugehen.36 Eine Zivilgesellschaft, welche die Demokratie eigenständig trägt – politisch wie kulturell –, und sie gegen ihre autoritätsfixierten Feinde verteidigt, konnte so nicht entstehen. Und auch kein demokratischer Rechtstaat mit innerer Substanz. Dazu hätte es eines grundlegenden politischen Mentalitätswechsels bedurft, nicht zum wenigsten innerhalb der Weimarer Regierungskoalition selbst; eines größeren Verantwortungsbewusstseins der Exekutive der Gesellschaft gegenüber. Die Verfassungs-Paragrafen, welche die deutsche Demokratie fixierten, stellten die politische Wirkung per se nicht sicher – und die leitenden Männer der Exekutive wie auch der Parteien ebenfalls nicht. Zwar hat die Einführung der politischen Demokratie dem Volk breitere Mitwirkungschancen eröffnet und echte Wahlmöglichkeiten, aber sie hat ihren führenden Politikern und Institutionen kein besonders großes Vertrauen, geschweige denn Beliebtheit eingetragen; von politisch-kulturellen Verwerfungen ganz zu schweigen. Fraglos hat zur Fragilität der Weimarer Demokratie auch die Demoralisierung der politischen Öffentlichkeit durch das Versailler Friedensdiktat beigetragen. Gegen die »unbewältigte Niederlage« kam selbst die Neuerfindung des Reiches als freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat nicht recht an.37 Doch zu dieser nachhaltigen Traumatisierung hat nicht zum wenigsten der Umstand beigetragen, dass man den Deutschen von politischer Seite viel zu lange die Illusion eines gerechten Verständigungsfriedens vorgegaukelt hat. Auch noch, als an der militärischen Niederlage ihres Reiches schon kein Zweifel mehr bestehen konnte. Und zu diesem verzögerten Gewahrwerden schmerzlicher Realitäten hat keineswegs allein die Propaganda der Obersten Heeresleitung beigetragen, sondern auch die zivile Politik – durch Nicht-Wissen-Wollen und

35 Sehr richtig hat Dieter Groh schon vor 50 Jahren bemerkt: »Eine sozialistische Partei, die ihrem Selbstverständnis nach immer noch eine revolutionäre Partei war, konnte sich unmöglich damit bescheiden, als Bewahrerin […] aufzutreten.« Sie habe ihre politische Zukunft für das angebliche Wohl des Reiches geopfert, was »nicht nur taktischen Erfordernissen entsprang«, sondern mehr noch einem moralischen Pflichtgefühl. (Der Umsturz von 1918 im Erlebnis der Zeitgenossen, in: Zeitgeist der Weimarer Republik, Stuttgart 1968, S. 23 f.). 36 Hierzu jetzt einmal mehr Klaus Gietinger: November 1918, Hamburg 2018, S. 159 ff. 37 Vgl. Gerd Krumeich: Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik, Freiburg 2018, S. 211 ff.

38

Lothar Machtan

Durchhalte-Parolen. In diesen medialen Sündenfall blieb auch das sozialdemokratische Zentralorgan »Vorwärts« bis in die Novembertage hinein verstrickt. Will sagen: Der Novemberkomplex von 1918 eignet sich nicht als erinnerungspolitisches Lernbeispiel in emanzipatorischer Absicht. Diese Geschichte war zu eigensinnig und zu »deutsch«, als dass sich ein verallgemeinerbares geschichtskulturelles Leitparadigma an sie knüpfen ließe. Zumal es sich damals nicht um einen Triumph von Freiheit und Demokratie handelte, der große Gefühle auslöste. Deshalb hat es in Deutschland auch nie so etwas wie ein republikanisches Pathos à la Frankreich gegeben. Am nächsten kommt man ihrem Wesen durch konsequente Historisierung, gerade mit Blick auf ihren unklaren Anfang. Denn de facto haben wir es bei Revolutionsbeginn mit einer ebenso dynamischen wie uneindeutigen Konstellation zu tun, in die auch die sogenannte Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann alles andere als politische Gewissheit über Deutschlands Zukunft gebracht hat.38 Am Anfang stand die Sturzgeburt einer Republik, die am 9. November 1918 urplötzlich da war – als unreife Frucht eines Zerfalls staatlicher Autorität. Kaiserdämmerung. Zu den Überlebenschancen der deutschen Herrscherdynastie Nicht erst die blamable Flucht Wilhelms II. zunächst unter die Fittiche der Obersten Heeresleitung im belgischen Spa und von dort aus dann ins holländische Exil hat zum desaströsen Ansehensverfall der deutschen Monarchie bis tief in konservative Kreise geführt.39 Aber dieser unrühmliche Abgang war mit dafür verantwortlich, dass man den deutschen Kaiser als Hauptschuldigen an der militärischen und politischen Katastrophe von 1918 identifizierte – und als Bankrotteur. Das hat seine historischen Verdienste ganz erheblich verdunkelt. Denn richtig ist ja, dass dieser Kaiser an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den Aufstieg Deutschlands zu einer modernen Industrienation forciert hatte, dass er ein Förderer von Wissenschaft, Technik und auch der Kunst gewesen war, dass er durchaus gewinnende Seiten in seinem Wesen besaß und dass er immer wieder ein hohes Maß an Intelligenz und Sachkenntnis gezeigt hatte. 38 Vgl. hierzu jetzt meine Fallstudie Machtan: Zeitenwende ohne Beglaubigung. Oder: Die Scheidemann-Legende, in: Martin Sabrow (Hrsg.): Revolution! Verehrt – verhasst – vergessen (Helmstedter Colloquien, Heft 21) Helmstedt 2019, S. 25–62. 39 Zu diesen Auswirkungen grundlegend Martin Kohlrausch: Die Flucht des Kaisers. Doppeltes Scheitern adelig-bürgerlicher Monarchie-Konzepte, in Heinz Reif (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland. Bd. 2, Berlin 2001, S. 65–101 sowie Stephan Mali­ nowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, S. 228 ff.

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

39

Dem deutschen Kaiser mangelte es nicht an intellektueller Auffassungsgabe und auch nicht an moralischen Überzeugungen. Es mangelte ihm an Liebe zu seinem Volk. Und an politischer Klugheit. Auch geizte er geradezu mit Dankbarkeit für das, was die Deutschen ihm an Ehrerbietung und Anhänglichkeit so lange Zeit entgegenbrachten. Das ließ seine Sympathiewerte sinken. Was die Monarchie zum Überleben damals vor allem gebraucht hätte, das war eine Stärkung der emotionalen Bindungen an sie. Auch ein Staatsführer von Statur ist dieser Kaiser nicht gewesen, denn eigentlich wollte er gar nicht wirklich regieren; er wollte nur sich und anderen etwas beweisen – nämlich, dass er seine Rolle perfekt beherrschte, die Spitze eines Machtstaats mit Weltgeltung eindrucksvoll zu performen. Seine eigensinnige Herrschaftsform war: Theatrokratie, mehr Machtgehabe als Machtausübung. Was am meisten gegen ihn arbeitete, war sein imperialer Exhibitionismus. Er kannte nur eine Politik der Größe und des Prestiges – Theaterpolitik eben. Die von Wilhelm II. gepflegte Kultur des Herrschens wurde den Kernaufgaben eines modernen Staatswesens im 20. Jahrhundert immer weniger gerecht. Schon weil dieser formelle Leiter des Exekutiv-Apparates viel zu viel Macht in seiner Person vereinte – und zu wenig Kompetenz, um diese Macht sinnvoll einzusetzen. Dafür arbeitete er schon viel zu wenig und viel zu unernst. Während er zeitgleich zu einer seinem Volk ganz fernstehenden Persönlichkeit entrückte – trotz seiner nachhaltigen Präsenz in der Öffentlichkeit. Zwar drückte dieser Kaiser dem Herrscheramt des Monarchen seinen Stempel auf wie wohl kein anderer Fürst in Europa, um es gleichsam über dessen traditionelle Bedeutung zu erheben. Doch erreicht hat er damit das gerade Gegenteil: er schwächte die monarchische Idee enorm. Und zwar, weil er seine »One-Man-Show« so maßlos übertrieb, alles andere als stilsicher agierte und vor allem menschlich schwer enttäuschte. So fielen menschliche Eigenpersönlichkeit und angemaßte Rolle immer weiter auseinander. Und hinter der Theaterfigur dieser kaiserlichen Majestät war – Leere. Massiv ins Wanken geraten ist der deutsche Kaiserthron denn auch seit dem Hungerwinter 1917/18 und den Januarstreiks, als die Herrscherdynastie jeglichen Empathie-Beweis gegenüber dem gebeutelten Volk schuldig blieb. Namentlich dadurch, dass sie dessen Bedürfnis nach politischer Teilhabe völlig verständnislos gegenübertrat, ja schroff zurückwies. Ab diesem Zeitpunkt beschleunigte sich der moralische Verschleiß der monarchischen Idee besonders rasant. 40 Und da der Kaiser als Reichsmonarch immer mehr zur 40 Hierzu nach wie vor lesenswert Bernd Sösemann: Der Verfall des Kaisergedankens im Ersten Weltkrieg, in: John C. G. Röhl (Hrsg.): Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, München 1991, S. 145–170. – Vgl. außerdem Anja Schöbel: Mo-

40

Lothar Machtan

Verkörperung dieser Institution schlechthin geworden war, zog sein Ansehensverfall auch seine bundesfürstlichen Kollegen in den Strudel einer schweren Legitimationskrise. Das Kartell der gekrönten Häupter in Deutschland stand nun insgesamt im Begriff, seine moralische Autorität zu verlieren. Umso mehr, als auch einzelne Bundesfürsten nichts unternommen haben, um diesem Imageverlust entgegenzuwirken. Dabei befand sich das Kaiserreich – rein strukturell gesehen – keineswegs in einer Sackgasse. Deutschland war bei Kriegsausbruch eine moderne Industrienation; seine Wissenschaft, Technik und Kultur befanden sich auf Welt-Niveau. Sein Staatsapparat war – institutionell betrachtet – funktionstüchtig und überlebensfähig. Nicht nur in Preußen, sondern auch in den Einzelstaaten. 41 Allein die Herrschaftsform, die politische Kultur war anachronistisch. Besonders was die antiparlamentarische, antidemokratische Ausrichtung des monarchischen Systems anlangt. Und – das vor allem – ihre maßgeblichen Akteure erwiesen sich immer mehr als politische Fehlbesetzungen. Denn die Überlebensfähigkeit des monarchischen Prinzips hing jetzt ganz allein von der Bereitschaft ihrer Repräsentanten ab, sich glaubhaft zu öffnen hin zu demokratischen Werten. Dafür hätte der Reichsmonarch ebenso wie seine bundesfürstlichen Kollegen einsehen müssen, dass aktive Regierungspolitik nicht länger zu den Aufgaben ihres royalen Berufes zählte. 42 Zumal sie alle der gottbegnadeten Aura ihres Herrscheramtes längst verlustig gegangen waren – und sonst irgendwie Respekteinflößendes von ihren öffentlichen Persönlichkeiten auch nicht mehr ausging. Politisch oder militärisch bewirkt hatten sie ja schon seit Kriegsausbruch überhaupt nichts mehr. Ein solch gewollter Rückzug des Kaisers aus der operativen Politik und die glaubwürdige Einbeziehung des ganzen Volkes in den Prozess der politischen Willensbildung war aber mit Wilhelm II. im Jahre 1918 nicht darstellbar; weder innerstaatlich noch öffentlich. Er war nicht davon abzubringen, kraft seines – ihm eben nicht vom Volk verliehenen – Kaisertums eine tiefere politische Einsicht in das Weltgeschehen zu besitzen als die profanen Instanzen des narchie und Öffentlichkeit. Zur Inszenierung der deutschen Bundesfürsten 1848–1918, Köln usw. 2017, hier S. 335 ff. 41 Diesen Aspekt hat zuletzt Stefan Gerber gut herausgearbeitet: Die kleinstaatliche Monar­ chie im späten Kaiserreich und in der Revolution 1918/19, in: ders. (Hrsg.), Das Ende der Monarchie (wie Anm. 15), hier S. 30 f. 42 Vgl. auch Andreas Fahrmeir: Die parlamentarische Monarchie am Ende der Sackgasse? Probleme und Perspektiven des politischen Systems unter Wilhelm II., in: Friedel Brunckhorst/Karl Weber (Hrsg.): Kaiser Wilhelm II. und seine Zeit, Regensburg 2016, S. 55–65.

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

41

Regierungssystems. Und nicht davon zu überzeugen, in der Adaption von mehr Demokratie wenigstens so etwas wie den »Zwang einer historischen Notwendigkeit« (Hans Delbrück) zu sehen. 43 Aber auch die Berliner Staatsführung zeigte sich weder willens noch in der Lage, ihn dazu zu bringen. Ganz zu schweigen von seinen Standesgenossen, seiner Familie und seiner Entourage. Damit entfiel eine elementare politische Notwendigkeit für den Fortbestand der deutschen Monarchie, denn in der überkommenen Form hatte sie keine Überlebenschance. Schon gar nicht, als sich herausstellte, dass Deutschlands militärische Niederlage unabwendbar war und US-Präsident Wilson die monarchisch-militärischen Gewalten in Preußen-Deutschland ungeniert zum Abgang aufforderte. Kaiser Wilhelm II. hatte Ende September 1918 intuitiv durchaus erkannt, dass seine Zeit als souveräner Herrscher abgelaufen und sein politischer Machtanspruch obsolet geworden war. Auch glaubte er wohl zum Schluss nicht mehr an die Strahlkraft jener Kunstgestalt eines deutschen Kaisers, die er selbst so emphatisch mitgeschaffen hatte. Aber er schreckte davor zurück und wurde immer wieder davon abgebracht, daraus die einzig richtige Konsequenz zu ziehen, nämlich: beizeiten abzudanken und durch einen personellen Neuanfang das Vertrauen in die Monarchie neu zu festigen. Denn Vertrauen war die Hauptwährung dieser Institution; doch Wilhelms Wankelmut der größte Vernichter dieses Kapitals. So hat er schließlich selbst den deutschen Kaiserthron zu Fall gebracht. 44 Denn der Druck stieg unaufhaltsam. »Von revolutionären und republikanischen Experimenten« – so der Monarchie-Befürworter Max Weber noch im Oktober 1918 – »wird sich in Deutschland kein vernünftiger Mensch etwas versprechen, es ist daher eine Lebensfrage, dass die Existenz der Dynastie erhalten bleibe auf Kosten ihrer unmöglich gewordenen Vertreter.«45 Eine parlamentarisch kontrollierte Monarchie hätte die Lage im Innern stabilisieren können. Aber: so eine Transformation ließ sich mit dem bis zuletzt regieren wollenden Monarchen einfach nicht mehr hinbekommen. Am Monatsende hätte man dann die deutsche Monarchie nur noch über den staatsstreichartigen Umweg von (erzwungener) Abdankung und dem erklärten 43 Zit. nach Christian Lüdtke: Hans Delbrück und Weimar, Göttingen 2018, S. 117. 44 Hierzu im Einzelnen Machtan, Kaisersturz (wie Anm. 4), S. 72ff; vgl. auch Wolfram Pyta: Die Kunst des rechtzeitigen Thronverzichts. Neue Einsichten zur Überlebenschance der parlamentarischen Monarchie in Deutschland im Herbst 1918, in: Patrick Merziger u. a. (Hrsg.): Geschichte Öffentlichkeit, Kommunikation. Festschrift für Bernd Sösemann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2010, S. 363–381. 45 Max Weber an Friedrich Naumann vom 18. Oktober 1918, in: ders., Gesamtausgabe, Abt. 2, Bd. 10/1, Tübingen 2012, S. 275 f.

42

Lothar Machtan

Willen zu einem Ersatzkaisertum (vielleicht) retten können. Auch solch ein Plan B war da, nur besaß niemand das erforderliche Maß an Entschlusskraft und Wagemut, ihn konsequent durchzuführen. Deshalb hat es in Deutschland 1918 keine Runderneuerung seines Monarchie-Modells gegeben, sondern nur mehr eine Fürstendämmerung, die sämtliche Throne gleichsam eigendynamisch zum Einsturz brachte. Theodor Wolff war sicher nicht der einzige, der daraus nur wenige Tage später messerscharf folgerte: »Kann irgendjemand glauben, den zwanzig dahingeschiedenen deutschen Fürsten könnten noch mal die Thronsessel wieder geleimt werden, die jetzt zusammengebrochen sind? Die Toten kehren nicht zurück. Der Nimbus der Mächtigen, die man einmal in Ohnmacht gesehen hat, ist für immer dahin. Jeder sollte das begreifen, ob er nun von dem monarchischen Gedanken mit Wehmut oder ohne Wehmut Abschied nimmt.«46 Die Monarchie hat damals einen risikobereiten großen Reformer gebraucht – und – idealistisch gedacht – wohl auch verdient. Einen Reformer mit Mut zur Demokratie. Ein populärer Ersatzkaiser von blauem Geblüt mit staatspräsidialer Autorität hätte der Fragilität der deutschen Nachkriegsdemokratie entgegenwirken können. Der fatale Einsturz der Monarchie schwächte das Deutsche Reich, er riss ein Machtvakuum auf und machte diesen Staat anfällig für totalitäre Versuchungen. In der veränderten politischen Landschaft der 1920er Jahre blieb die Erinnerung an das Fiasko der deutschen Monarchie präsent. Als Trauma vom plötzlichen Verlust staatlicher Autorität und vom politisch-moralischen Selbstmord der Monarchen, insbesondere des letzten Kaisers. Ein heftiger Phantomschmerz war die Folge. Darum wusste auch Hitler. 47 In seinem Pokerspiel um die Macht hatte er deshalb bis 1933 die Karte einer Restauration der Monarchie immer im Ärmel. Das war Reflex auf die herausragende emotionale Bedeutung, die speziell diese Frage im politischen Meinungskampf damals noch spielte. Hitler hat sich diese Option rhetorisch lange offengehalten, obwohl es ihm nie um etwas anderes als seine brutale Selbstherrschaft gegangen ist. Ihm war freilich klar, dass man in Deutschland keine monarchische Idee vertreten kann, ohne einen konkreten Monarchen im Auge zu haben. Und einen solchen Kandidaten hat es nach 1918 nicht mehr gegeben. Bleibt noch übrig, darauf hinzuweisen, dass es die Oberste Heeresleitung war, die Kaiser Wilhelm am Ende die Gefolgschaft verweigert und ins holländische 46 Theodor Wolff: »Die große demokratische Partei«, in: »Berliner Tageblatt« vom 16. November 1918. 47 Zum folgenden vgl. Lothar Machtan: Der Kaisersohn bei Hitler, Hamburg 2006, S. 147 ff.

Von Deutschlands Monarchie zur deutschen Demokratie

43

Exil abgeschoben hat. Und nicht die zivile Reichsleitung oder das revolutionäre Volk. Das heißt: Unmittelbar gestürzt haben den deutschen Kaiser die Generäle Wilhelm Groener und Paul von Hindenburg48 – zwei deutsche Spitzenmilitärs. Auch dies eine Ironie der Geschichte insofern, als das Militär eine tragende Säule monarchischer Machtentfaltung in Deutschland gewesen war. Für den letzten deutschen Reichsmonarchen eine Schmach, die er durchaus erkannt und zeitlebens nicht verwunden hat. Fazit Die deutsche Zäsur von 1918 verdankt sich im Wesentlichen diesen drei Determinanten: Dem bewaffneten Volksaufstand von Anfang November – in ganz Deutschland –, vor dem das alte Regime widerstandslos kapitulierte. Der Selbstmobilisierung des »vernunftrepublikanischen« Bürgertums im Sinne eines entschiedenen Engagements für die Transformation der revolutionären Erhebung in eine dezidiert bürgerliche Revolution. Der pragmatischen Absicherung dieses Übergangs durch die ordnungsbewahrende Konkursverwaltung des bankrotten Kaiserstaates seitens der Ebert-Scheidemann-Regierung. Die Depossedierten nebst Hilfstruppen kamen bei diesen Vorgängen über die passive Rolle von Zaungästen nicht hinaus. Das politische Integrationspotenzial, über das die Monarchie als Institution noch bis Anfang 1918 verfügte, hatten ihre Repräsen­ tanten im November bereits restlos verspielt. Jetzt mochten sie nur noch um ihren Privatbesitz kämpfen. Höchst erfolgreich übrigens! Ohne revolutionäre Erhebung keine Weimarer Demokratie. Doch war die Novemberrevolution von 1918 keine politische Bewegung mit zielklarem Kampf für das, was ein knappes Jahr später als demokratische Republik aus der Taufe gehoben wurde; vielmehr ein unstrukturierter vielstimmiger Massenaufbruch in eine ungewisse Zukunft jenseits der allseits verhassten Militärmonarchie. Die Aufständischen wollten den Krieg beenden, den autoritären Militarismus aushebeln und größere Freiheiten erlangen. Durch viel mehr wurden sie nicht zusammengehalten. Doch das massenhafte mutige und vor allem einhellige Eintreten dafür reichte, um die Säulen monarchischer Macht zu knicken. Die Kronenträger und Machteliten des Kaiserreichs beugten sich vor dem revolutionären Volkswillen, und nicht vor der Sozialdemokratie, mit der

48 Hierzu ausführlich Wolfram Pyta: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, Berlin 2007, S. 361 ff. sowie Machtan, Kaisersturz (wie Anm. 4), S. 216 ff. – Zum diplomatiegeschichtlichen Kontext vgl. jetzt auch Beatrice de Graaf: Vorstin op vredespad. Wilhelm II. en Wilhelmina en het einde van de Eerste Wereldoorlog, in: Tijdschrift voor Geschiedenis, 131 (2018), S. 577–604.

44

Lothar Machtan

sie bis zum 9. November 1918 leidlich kollaboriert hatten. Immerhin erzwang die Massenerhebung eine politische Wende zur Volkssouveränität und ließ den Eintags-Kanzler Ebert innerhalb weniger Stunden vom Vernunftmonarchisten zum lupenreinen Republikaner und »sozialistischen Volksbeauftragten« mutieren. Denn er erkannte sofort, dass eine »Sozialdemokratisierung« des Geschehens jetzt nur durch eine demonstrative Abkehr von der Monarchie zu bewerkstelligen war. Und durch geschickte Einbindung der politischen Kraft der nun freigesetzten revolutionären Energien. Dieser Schwenk vergrößerte zugleich die politische Schnittmenge mit den Linksliberalen, die der Monarchie schon seit längerem überdrüssig geworden waren. So wurde nicht zuletzt durch das leidenschaftliche Engagement der linksbürgerlichen Demokraten aus dem novemberrevolutionären Komplex eine dezidiert republikanische Revolution. Und an die Stelle des Obrigkeitsstaates trat binnen kurzem die Improvisation eines neuen politischen Systems auf republikanischer Grundlage, verbunden mit dem Versprechen erweiterter Freiheitsrechte – ein Provisorium, das dann mit einem politischen Kraftakt sonders gleichen in den verrechtlichten Zustand einer repräsentativen Organisation von Demokratie überführt wurde. Hierbei fiel der mehr oder weniger spontanen Allianz von linksbürgerlicher und sozialer Demokratie die Schlüsselrolle zu. Stabile Staatszustände wurden damit nicht geschaffen. Und eine demokratische Zivilgesellschaft auch (noch) nicht. Die Revolution von 1918 ist aber auch mitnichten gescheitert. Sie hat eine grundlegende Veränderung der politischen Landschaft bewirkt – deutschlandweit. Wer fortan politische Macht ausüben wollte, bedurfte dafür einer demokratischen Legitimation von Bürgern und von Bürgerinnen. Auch die Entfaltung eines medial bespielten politischen Massenmarktes geht auf die Pressefreiheit zurück, die erst seit jener Zeitenwende Bestand hatte. Fortan gab es eine pluralistisch geprägte politische Öffentlichkeit. Das darf man nicht kleinreden, allen Polarisierungstendenzen zum Trotz. Nur für eine Meistererzählung reicht das nicht. Sonst hätte 1933 nicht irgendwie auch schon 1918 begonnen.

Stefan März

»In Treue fest?« Perspektiven, Scheitern und Nachwirkungen der Monarchie in Bayern

Die Absetzung König Ludwigs III. im November 1918 markiert den dramatischen Schlussakt der 738 Jahre währenden wittelsbachischen Herrschaft über Bayern. Daran schließt eine Reihe von Fragen an: Wie konnte es zum Zusammenbruch kommen und in welchem Maße trug der König dazu bei? Wäre die Monarchie zu retten gewesen? Welche Rolle spielten die Wittelsbacher in der darauffolgenden Republik? Gab es Überlegungen zur Restauration der Monarchie? Rückblickend mag die Revolution als konsequentes Resultat eines verheerenden Weltkrieges erscheinen. Die Frage nach der Zwangsläufigkeit des Umsturzes hat jedoch über Jahrzehnte kontroverse Diskussionen hervorgerufen. Heute ermöglichen kulturwissenschaftlich inspirierte Fragestellungen und Methoden eine weitaus differenziertere historische Untersuchung monarchischer Herrschaft.1 Eine deterministische Auslegung erscheint zumindest fragwürdig, wenn man die Wandlungsfähigkeit und den symbolpolitischen Gehalt der Monarchie in den Blick nimmt. Im Vorfeld und während des Ersten Weltkriegs bot sich eine Fülle von Chancen zur Erneuerung und dauerhaften Legitimation. Bayerns letzter König Ludwig III. mag nicht mehr so präsent sein wie etwa seine gleichnamigen königlichen Vorgänger oder sein Vater, Prinzregent Luitpold. Während Ludwig I. im Jahr 1848 und Ludwig II. im Jahr 1886 nur ihre persönliche Herrschergewalt verloren, erlebte Ludwig III. mit der Revolution des Jahres 1918 indes den Untergang der konstitutionellen Monarchie. Dennoch beschritt dieser letzte Ludwig, dessen lediglich fünfjährige Regierungszeit als König fast vollständig in die Jahre des Ersten Weltkriegs fiel, vielfach neue Wege – und eröffnete der Monarchie dadurch neue Perspektiven. Ein genauer Blick auf sein Wirken macht zudem den erstaunlichen Facettenreichtum deutlich, der die Monarchie für viele Bevölkerungsgruppen selbst in Kriegs- und Krisenzeiten anschlussfähig gestaltete. 1

Thomas Biskup/Martin Kohlrausch: Einleitung, in: Thomas Biskup/Martin Kohlrausch (Hrsg.): Das Erbe der Monarchie. Nachwirkungen einer deutschen Institution seit 1918, Frankfurt a. M. 2008, S. 11–34, hier S. 21 f.

46

Stefan März

Die gute alte Zeit Die historische Forschung nahm lange an, dass der mythenumrankte Tod des so genannten Märchenkönigs Ludwig II. im Jahr 1886 den Startschuss einer konsekutiven Geschichte des Niedergangs einer – vermeintlich – anachronistisch gewordenen Staatsform markierte. Die folgende, vielfach verklärte gute alte Zeit unter Prinzregent Luitpold war in Wirklichkeit jedoch gleichsam eine Endzeit und eine Epoche des Aufbruchs. Sie markierte den Beginn einer modernen Wissens- sowie einer pluralistischen Gesellschaft. Um die Wende zum 20. Jahrhundert regierte Luitpold bereits seit mehr als einem Jahrzehnt als Reichsverweser. Unter seiner liberal-konservativen Ägide modernisierte sich das Land in vielen Belangen – und ebenso dessen Monar­ chie, die sich zeitgemäßen Themen öffnete. Eine Bestandsaufnahme dieser Jahre bietet, trotz aller politischen und gesellschaftlichen Spannungen, ein faszinierendes Panorama. Das Königreich Bayern zeichnete sich durch einen konstitutionell-parlamentarisch-repräsentativen Mischcharakter aus, verfügte über ein vergleichsweise modernes Wahlrecht und wies erhebliche kommunale Handlungsmöglichkeiten auf. Breite Bevölkerungsschichten waren dem Prinzregenten und dessen Familie wohlgesonnen. Das bayerische Königtum schien – den rasanten Entwicklungen in Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft ungeachtet – unverkennbar eine Option auf die Zukunft zu versprechen.2 Der Befund der Zukunftsfähigkeit mag angesichts des schwindenden politischen Einflusses der bayerischen Herrscher – und insbesondere der politisch schwachen Position des Prinzregenten – verwundern. Das Herrscheramt in der konstitutionellen Monarchie war jedoch kein fest umschriebenes – im engeren Sinne rein politisches – Aktionsfeld, sondern eine lose Ansammlung von politischen, militärischen, diplomatischen, religiösen, kulturellen und symbolischen Funktionen, deren wechselseitige Beziehung dynamisch war. Der Herrscher bewegte sich in einer sich ständig verändernden Machtarchitektonik.3 Die Wittelsbacher fanden, wie auch die übrigen durch den deutschen Nationalstaat nach 1871 mediatisierten Bundesfürsten, in der Symbol- und Kulturpolitik ein Refugium, in dem sie den Verlust ihrer genuin politischen Macht zumindest teilweise zu kompensieren wussten. Starke regionale Identi-

2

3

Hermann Rumschöttel: »Der erste Kavalier seines Hofes«. Persönlichkeit und Politik des Prinzregenten, in: Ulrike Leutheusser/Hermann Rumschöttel (Hrsg.): Prinzregent Luitpold von Bayern. Ein Wittelsbacher zwischen Tradition und Moderne, München 2012, S. 13–36, hier S. 35. Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008, S. 13 f.

»In Treue fest?«

47

täten wie das bayerische Nationalbewusstsein richteten sich nicht gegen das Kaiserreich; vielmehr trugen die föderativen Aspekte des Nationalismus erheblich zur Akzeptanz des Nationalstaates bei. 4 Die Erklärung für die anhaltende Strahlkraft der Monarchie in Bayern liegt daher in ihrer symbolisch-performativen Dimension. Der Herrscher erfüllte die Funktion eines Bewahrers der staatlichen Überlieferung. Durch symbolische Akte und Praktiken wurde seine Rolle im öffentlichen Bewusstsein verankert.5 So blieb er ungeachtet seiner tatsächlichen politischen Durchsetzungsfähigkeit die zentrale Figur des Herrschaftssystems. Diese Symbolpolitik erhielt zudem die Vorstellung des monarchischen Prinzips aufrecht.6 Das bayerische Königshaus war während der Regentschaft mehr denn je auf ein positives Bild in der Öffentlichkeit angewiesen. Allgegenwärtige Repräsentation wurde existenziell, da das Herrscherbild infolge der Ereignisse von 1886 – Entmündigung und Tod Ludwigs II. – schwer gelitten hatte. Durch eine intensive Goodwill-Repräsentation schaffte es Luitpold, die Monarchie binnen weniger Jahre zu regenerieren.7 Der als überparteilich, heimatverbunden und volkstümlich inszenierte Prinzregent eignete sich ausgezeichnet als Integrationsfaktor. Sein hohes Alter verlieh ihm eine Aura von Weisheit, gleichsam verkörperte er durch seine militärische Haltung eine natürliche Autorität. Luitpold gelang es, den Eindruck zu vermitteln, er entstamme der Mitte des Volkes. Die königliche Familie wurde 4

5

6

7

Dieter Langewiesche: Föderalismus und Zentralismus im Deutschen Kaiserreich. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur – eine Skizze, in: Oliver Janz (Hrsg.): Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich, Berlin 2000, S. 79–90; Geoff Eley: Making a Place in the Nation. Meanings of Citizenship in Wilhelmine Germany, in: Geoff Eley/James Retallack (Hrsg.): Wilhelminism and its Legacies. German Modernities, Imperialism, and the Meanings of Reform, 1890–1930, Oxford 2003, S. 16–33; Hans-Michael Körner: Geschichte des Königreichs Bayern, München 2006, S. 151–153. Hubert Glaser: Ludwig II. und Ludwig III. Kontraste und Kontinuitäten, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Nr. 59 (1996), S. 1–14, hier S. 7; Marita Krauss: Von Ludwig II. zu Ludwig III. – Modernisierungsprozesse in Bayern, in: Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit, Aufsatzband, Augsburg 2011, S. 96–106, hier S. 97 f. Heinz Gollwitzer: Die Endphase der Monarchie in Deutschland, in: Heinz Gollwitzer: Weltpolitik und deutsche Geschichte. Gesammelte Studien, hrsg. von Hans-Christof Kraus, Göttingen 2008, S. 363–383, hier S. 367. Katharina Weigand: Prinzregent Luitpold. Die Inszenierung der Volkstümlichkeit, in: Alois Schmid (Hrsg.): Die Herrscher Bayerns. 25 historische Portraits von Tassilo III. bis Ludwig III., München 2001, S. 359–375, hier S. 369–375; Werner K. Blessing: Der monarchische Kult, politische Loyalität und die Arbeiterbewegung im deutschen Kaiserreich, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Arbeiterkultur, Königstein 1979, S. 185–208, hier S. 191.

48

Stefan März

zudem als verlässliche Verteidigerin der bayerischen Sonderstellung im Kaiserreich wahrgenommen.8 Neue Perspektiven Am 12. Dezember 1912 verstarb der 91-jährige Prinzregent. In einer Bekanntmachung der Staatsregierung hieß es, die Verfassung lege dem Prinzen Ludwig, der als ältester Sohn Luitpolds als Nächster in der Erbfolge stand, »die schwere Pflicht auf, die bestehende Reichsverwesung fortzusetzen.«9 Von einem breiten Spektrum der Presse wurde der neue Prinzregent mit Sympathie begrüßt. Dessen Persönlichkeit und politische Erfahrung wurden anerkennend hervorgehoben.10 Nachdem der Landtag im November 1913 auf Betreiben der Staatsregierung per Verfassungsänderung eine Regentschaftsbeendigung ermöglichte, bestieg der Regent als König Ludwig III. den Thron. Dies war durch fast alle Landtagsfraktionen gebilligt worden.11 Nach mehr als einem Vierteljahrhundert der Reichsverweserschaft hatte Bayern damit wieder einen König, der seinen Rechten und Pflichten in vollem Umfang nachzukommen imstande war. Zum Zeitpunkt der mit beträchtlichem Aufwand inszenierten Krönungsfeier deutete kaum etwas darauf hin, dass die Monarchie nur fünf Jahre später zusammenbrechen sollte. Ludwig III. war ein modernerer Herrscher als seine drei Vorgänger Prinzregent Luitpold, König Ludwig II. und König Maximilian II. Seine Begeisterung für Wissenschaft, Ökonomie und Technik korrespondierte mit dem Zeitgeist, der die rasanten Neuerungen der Epoche als Garant der Verbesserung der Lebensverhältnisse ansah.12 Auch war die Monarchie von der Verbreitung nationaler Vorstellungen erfasst worden, was dazu führte, dass sie verstärkt für politische Zwecke beansprucht wurde: Bürgerkönigtum und soziales Königtum seien als Schlagworte genannt.13 Zur Attraktivität der Monarchie trug auch bei,   8 Weigand, Prinzregent Luitpold (wie Anm. 7), S. 370–374.   9 Übernahme der Regentschaft und feierliche Eidesleistung S.K.H. des Prinzregenten Ludwig, Gesetz- und Verordnungs-Blatt für das Königreich Bayern, 13. Dezember 1912, BayHStA, Neuere Bestände, Kgl. Staatsrat, Nr. 7995. 10 Der Regierungswechsel in Bayern, »Münchner Zeitung« vom 14. Dezember 1912, Landesarchiv Baden-Württemberg, HStA Stuttgart, Archiv der Herzöge von Urach, GU 119, NL Wiltrud Herzogin von Urach, Nr. 657. 11 Willy Albrecht: Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918. Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1912–1918, Berlin 1968, S. 53–60. 12 Krauss, Von Ludwig II. zu Ludwig III. (wie Anm. 5), S. 97. 13 Heinz Dollinger: Das Leitbild des Bürgerkönigtums in der europäischen Monarchie des 19. Jahrhunderts, in: Karl Ferdinand Werner (Hrsg.): Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert. Akten des 18. Dt.-Franz. Historikerkolloquiums in Darmstadt vom

»In Treue fest?«

49

dass sie sich trotz ihrer beharrenden Elemente immer wieder neu erfand. Dies zeigt sich an der flexiblen Reaktion auf gesellschaftliche Diskurse, am Aufgreifen zeitrelevanter Motive oder an der Verbürgerlichung ihrer Selbstdarstellung. Dank ihrer Verbindung von Tradition und Zukunftsgewandtheit konnte sie weiterhin als Integrationsfaktor agieren. Der neue König wies nach langer Wartezeit als Thronprätendent ein hohes Maß an politischer Erfahrung auf. Er stand für einen entschiedenen Föderalismus, setzte sich in der Sozialpolitik ein und hatte sich 1906 für eine landespolitische Wahlrechtsreform engagiert.14 Seit den 1870er Jahren hatte er sich auf den attraktiven Feldern der Wirtschaftspolitik, der Verkehrs-, Agrar- und Energiepolitik sowie der Entwicklung der Technik eingebracht. Der wissenschaftsbegeisterte Prinz führte seit 1872 die Ehrendoktorwürde der LMU München und zählte seit 1896 zu den Ehrenmitgliedern der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Auf seine Initiative hin war 1892 der Bayerische Kanalverein für den Ausbau des späteren Rhein-Main-Donau-Kanals gegründet worden. Die Technische Hochschule München verdankte seinem Einsatz die Gewährung des Promotionsrechts. Er unterstützte die Idee Oskar von Millers, in München ein Deutsches Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik zu bauen. Dessen Ziel sollte es sein, technischen Fortschritt angemessen zu präsentieren und Bayerns Innovationskraft im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.15 Ludwigs ökonomisches Interesse, seine soziale Aufgeschlossenheit sowie sein konstruktives Verhältnis zum Parlament ließ eine erfolgreiche Regierung erhoffen. Der Historiker Hubert Glaser urteilte, man sehe sich versucht, in Ludwig »das Profil eines konstitutionellen Mustermonarchen« zu erkennen. Dieser verfügte über feste Grundsätze sowie »einen Sinn für praktische Politik, der sich weder in die Geschichte noch in die Künste« zurückzog, sondern »die Ökonomie für die Grundlage der öffentlichen Wohlfahrt hält«. Ludwig schien »das Bild eines selbstbewussten und redegewandten, gestandenen Mannes [zu sein], der seine eigenen Unternehmen erfolgreich zu führen weiß und der vor der parlamentarischen Arbeit nicht zurückscheut.«16 27.–30. Sept. 1982, Bonn 1985, S. 325–364; Johannes Paulmann: Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Regime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000, S. 94 f. 14 Glaser, Ludwig II. und Ludwig III. (wie Anm. 5), S. 29–37. 15 Stefan März: Ludwig III. Bayerns letzter König, Regensburg 2014, S. 59–64. 16 Hubert Glaser: Ludwig III. König von Bayern. Skizzen aus seiner Lebensgeschichte (Katalog zur Ausstellung in Wildenwart), hrsg. von Max Oppel, Prien am Chiemsee 1995, S. 36 f.

50

Stefan März

Repräsentative Bürgermonarchie Der historische Wahlspruch des Hauses Wittelsbach lautete »In Treue fest«. Ludwigs Treuekonzept basierte nunmehr jedoch auf einer neuen ideologischen Grundlage: Er deutete diese nicht mehr als einseitige Angelegenheit, die vom Volk gegenüber der Monarchie zu erbringen war, sondern betonte vielmehr eine wechselseitige Treueverpflichtung von Fürst und Volk.17 Praktisch umgesetzt wurde dies durch eine konsequente Realisierung einer modernen, bürgernahen, sozialorientierten Monarchie, die jedoch weiterhin auf den Fundamenten des Konstitutionalismus, des Gottesgnadentums und des monarchischen Prinzips stand. Das symbolische Kapital des Königstitels wurde unter Ludwig III. gezielt für die gesellschaftliche Integration eingesetzt. Imagepflege wurde zum entscheidenden Faktor – und zu ihrer eigenen Inszenierung nutzte die Monarchie eine enorme Bandbreite öffentlicher, halb-privater und vor allem medial aufbereiteter Inszenierungen. Höfische Etikette und militärische Selbstdarstellung lagen dem bürgerlich-volkstümlichen König wenig, obgleich er auch dies pflichtbewusst bewältigte. Privat besuchte er bürgerliche Kegelabende und spazierte in Gehrock und Zylinder durch die Residenzstadt. Daneben profilierte er sich mit seinem Mustergut in Leutstetten als Landwirt aus königlichem Hause. Festgottesdienste, Empfänge, militärische Ehrendienste und Hofbälle blieben zwar fortwährende Elemente monarchischer Selbstdarstellung. Daneben standen jedoch demonstrative Inszenierungen von Modernität: Der König fuhr mit dem Automobil auf dem Oktoberfest vor, reiste mit der Eisenbahn durch das Land, zeigte sich bei Sportveranstaltungen, ließ sich fotografieren und filmen, eröffnete Gewerbeausstellungen, besuchte Wirtschaftsverbände und ließ sich durch Fabrikanlagen führen. Ludwig III. war davon überzeugt, dass die Monarchie alle Gesellschaftsschichten ausgewogen beachten müsse.18 Nicht zuletzt betrieb man eine professionelle Medienpolitik. Mit der »Bayerischen Staatszeitung« wurde im Jahr 1913 ein staatliches Presseorgan geschaffen, daneben betrieb Ludwigs Kabinett eine aktive Öffentlichkeitsarbeit. Der König stand im Rampenlicht der Medienöffentlichkeit. Täglich wurde über

17 Karl Borromäus Murr: Treue im Zeichen des Krieges. Beobachtungen zu einem Leitmotiv bürgerlicher Identitätsstiftung im Königreich Bayern (1806–1918), in: Nikolaus Buschmann/Karl Borromäus Murr (Hrsg.): Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne, Göttingen 2008, S. 110–149, hier S. 144–146. 18 Stefan März: Das Haus Wittelsbach im Ersten Weltkrieg. Chance und Zusammenbruch monarchischer Herrschaft, Regensburg 2013, S. 112–119.

»In Treue fest?«

51

repräsentative Auftritte berichtet, etwa über Staatshandlungen, Regimentsbesuche, Audienztermine, Reisen – aber auch über private Aspekte. Daneben nutzte man moderne Bildmedien wie die Fotografie oder den aufstrebenden Film, um Persönlichkeit und Programmatik des Königs einem breiten Publikum näher zu bringen.19 Auf diese Weise wurde er gewissermaßen einer der ersten Filmstars: Unter den bis 1918 meistgefilmten Personen im Kaiserreich nahm Ludwig III. mit 64 Auftritten den zweiten Rang ein.20 Bei aller demonstrativen Volksnähe und Modernität war Ludwig III. in kultureller Hinsicht erzkonservativ und dachte in der Frage des monarchischen Prinzips reaktionär. Die Zukunft der Monarchie wollte er nicht etwa durch Verfassungsliberalisierungen sichern, sondern vielmehr auf der Ebene der politischen Kultur. Für die Vorkriegsjahre kann man vom Höhepunkt monarchischer Festkultur sprechen.21 Dank des gut ausgebauten Eisenbahnnetzes unternahm er in den beiden Sommern 1913 und 1914 aufwändige Repräsentationsbesuche in zahlreiche bayerischen Städte. Mit eindrucksvollem Gefolge zog er durch Triumphpforten ein, an denen sich Schuljugend, Militär, Vereine und Bürgerschaft versammelten. Empfänge, abendliche Serenaden und feierliche Brillantfeuerwerke boten weitere Glanzlichter. Diese Attraktionen zogen tausende Menschen an und brachten die Monarchie ein erhebliches Stück näher an die Öffentlichkeit.22 Ein eigenständiger Beitrag Bayerns zu den Hundertjahrfeiern der Völkerschlacht bei Leipzig im August 1913, den Ludwig in der Befreiungshalle in Kelheim in Szene setzen ließ, lieferte eine weitere Klimax.23 Abgesehen davon weckten der persönliche Pragmatismus und die unprätentiöse Volksnähe Ludwigs III., die dem Ideal eines Bürgerkönigs nahekamen, viele Sympathien. Selbst die Sozialdemokraten verhielten sich königlich-­ bayerisch.24 Mehrfach betonten Sprecher der SPD -Landtagsfraktion, die Frage nach der Staatsform sei für sie nicht entscheidend. Für Sozialdemokraten sei eine Monarchie, in der alle Staatsbürger Anteil an der politischen Herr-

19 Ebd., S. 133–140. 20 Dominik Petzold: Monarchischer Kult in der Moderne. Zur Herrschaftsinszenierung Wilhelms II. im Kino, in: Thomas Biskup/Martin Kohlrausch (Hrsg.): Das Erbe der Monarchie. Nachwirkungen einer deutschen Institution seit 1918, Frankfurt a. M. 2008, S. 117–137. 21 Werner K. Blessing: Staat und Kirche in der Gesellschaft, Göttingen 1982, S. 228–232. 22 Blessing, Der monarchische Kult (wie Anm. 7), hier S. 187. 23 März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 128–133. 24 Karl Möckl: Hof und Hofgesellschaft in Bayern in der Prinzregentenzeit, in: Karl Ferdinand Werner (Hrsg.): Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, Bonn 1985, S. 183– 235, hier S. 232 f.

52

Stefan März

schaft hätten, allemal sympathischer als eine Republik, die durch eine kleine Kapitalistenklasse beherrscht werde.25 Ludwig Thoma schrieb unter seinem Pseudonym Peter Schlemihl im Sommer 1913 für den »Simplicissimus« den Text »Der neue Kurs«, in dem er sich satirisch mit den symbolpolitischen Popularisierungsbemühungen des Königshauses auseinandersetzte: »Früher war das so in Bayern: / Jubiläen, große Feiern / waren nicht beliebt bei Hof. / Dahingegen eine Pirsche / Auf die Gamsböck’ und die Hirsche / Galt viel mehr als wie ein Schwof. / Aber in dem letzten Jahre / ist ein Hin- und Hergefahre / auf der schnellen Eisenbahn; / jedes Mitglied von Vereinen / sieht jetzt oft und reichlich seinen / Fürsten in der Nähe an / Die Beamtenköper huld’gen / Jeder Mensch bringt seinen schuld’gen / Vollen Akt der Treue dar / Untertanenherzen pochen / Viele werden angesprochen / Aus der braven Bürgerschar. / Meier, Huber, Huber, Meier / werden sichtlich königstreuer / und für ihren Thron entflammt. / Und trotz aller Widersacher / wird das Haus der Wittelsbacher / intensiver angestammt.«26 Ungeachtet der satirischen Kommentierung schienen die Bemühungen von Erfolg gekrönt zu sein. Die Monarchie erfuhr mit Ludwig III. eine deutlich verstärkte Präsenz. Dies stellte sie auf eine Basis, die über Verfassung, Gottesgnadentum und monarchisches Prinzip hinausging. Wie tragfähig dies war, musste sich jedoch erst erweisen. Alles in allem hatte es die Monarchie durch ihre scheinbar unpolitische, betont bodenständige und volkstümliche Selbstdarstellung in den Vorkriegsjahren erreicht, dass breite Bevölkerungsschichten sich grundsätzlich als königstreu bezeichnen konnten. Es war gelungen, die Wittelsbacher integrativ und ausgleichend über die Interessen des liberalen Beamtentums zu stellen, das von Institutionen des Kaiserreichs sowie dem Wirtschaftsbürgertum gestützt wurde, und ebenso der katholisch-konservativ-fortschrittlichen Landtagsmehrheit, hinter der eine Volksbewegung stand. Sogar die Arbeiterbewegung war am Rande dieses Systems eingebunden. Eine Steigerung der Legitimität war langfristig allerdings nur möglich, wenn nicht nur die bürgerliche Oberschicht, sondern die gesamte Gesellschaft politisch und sozial vollwertig eingebunden wurde.27 25 Willy Albrecht: Das Ende des monarchisch-konstitutionellen Regierungssystems in Bayern, in: Karl Bosl (Hrsg.): Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, München 1969, S. 263–299, hier S. 275 f.; Ernst Ursel: Die bayerischen Herrscher von Ludwig I. bis Ludwig III. im Urteil der Presse nach ihrem Tode, Berlin 1974, S. 148 f. 26 Peter Schlemihl (i. e. Ludwig Thoma): »Der Neue Kurs«, in: »Simplicissimus« (Heft 22) vom 28. Mai 1913, S. 354. 27 Möckl, Hof und Hofgesellschaft in Bayern (wie Anm. 24), hier S. 232 f.

»In Treue fest?«

53

Mobilgemachte Monarchie Die in den Vorkriegsjahren erarbeitete Chance zur Erneuerung der Monarchie auf der Basis eines konstitutionell-parlamentarisch-repräsentativen Bürgerkönigtums wurde jäh auf die Probe gestellt. Als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, veränderte dies die politischen Rahmenbedingungen grundlegend. Der Krieg wirkte auf viele innenpolitische Probleme wie ein Katalysator. Wurde der Kriegsausbruch noch von einer breiten Zustimmung von Öffentlichkeit, Parteien und Presse begleitet, verschlechterte sich die Lage in den Folgejahren zunehmend. Nach und nach wurde der Burgfrieden brüchig, was sich in Protesten, Forderungen nach Frieden und einer Modernisierung des politischen Systems ausdrückte.28 Das Königreich Bayern war in unvorstellbarem Maße vom Krieg betroffen. Im gesamten Kriegsverlauf sollte jeder fünfte Bayer unmittelbaren Militärdienst leisten. Am Ende war die traurige Bilanz von knapp 200 000 Gefallenen und über 430 000 Verwundeten zu beklagen.29 Zwar war der politische Einfluss Ludwigs III. im komplexen und hochdynamischen Geflecht von Oberster Heeresleitung, Reichsleitung, Reichstag und Bundesstaaten begrenzt, vor allem auf der performativen Ebene eröffneten sich jedoch neue Möglichkeiten. Von der nationalen Einmütigkeit zu Kriegsbeginn profitierte die Monarchie als überparteiliches Symbol. Der entschieden unmilitärische Ludwig III. verzichtete darauf, eine fiktive Rolle als militärischer Befehlshaber einzunehmen. Er führte seine Repräsentationsbemühungen jedoch durch zahlreiche Frontreisen fort. Dank dieser Anstrengungen, die sogar die Landesreisen der Vorkriegsjahre in den Schatten stellten, nahm er seine Stellung als Allerhöchster Kriegsherr wahr und konnte den Soldaten seine landesväterliche Treue vermitteln. Bis 1918 besuchte er an der Westfront bayerische Feldtruppen in Lothringen, im Elsass, in Nordfrankreich, in Flandern sowie in Belgien. Seine Fahrten an die Ostfront brachten ihn nach Schlesien, Galizien, Polen, auf den Balkan, nach Weißrussland sowie in die Ukraine. Für die Soldaten, die ihn persönlich zu Gesicht bekamen, bedeutete dies eine herausgehobene Ehre. Gerade für sie, die vielfach nicht in deutsch-patriotischem Überschwang in den Krieg gezogen waren, besaß die Bindung an den König eine hohe Relevanz.30

28 März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 360–376. 29 Dieter Albrecht: Bayern im Ersten Weltkrieg 1914–1918, in: Alois Schmid (Hrsg.): Das neue Bayern, von 1800 bis zur Gegenwart. Staat und Politik (Handbuch der bayerischen Geschichte, Band IV, 1), München 2. Aufl. 2003, S. 13–438, hier S. 416 f. 30 März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 248–258.

54

Stefan März

Fast alle bayerischen Prinzen meldeten sich zum Kriegsdienst. Für sie war der Einsatz eine notwendige Pflicht gegenüber König und Vaterland, und zudem trugen sie zur Repräsentation bei. Prinzessin Wiltrud hielt am 2. August 1914 fest: »So sind denn alle jungen Prinzen eingerückt bis auf [Prinz] Karl, der nie gedient hat und [Herzog] Christoph und [Herzog] Siegfried […]. Eine so intensive Mobilisierung ist 1870 nicht gewesen.«31 Neben den Königssöhnen Rupprecht und Franz dienten auch der Bruder des Königs, Prinz Leopold, sowie dessen Söhne Georg und Konrad als Offiziere. Daneben zogen mit Prinz Heinrich, Prinz Alfons, Prinz Adalbert, Herzog Ludwig Wilhelm und Herzog Luitpold etliche Cousins und Neffen des Königs ins Feld. Dank der medialen Berichterstattung über die Kriegseinsätze stieg deren Prestige auch in der Heimat, was dem Ansehen des Königshauses sehr zuträglich war.32 Einige der Prinzen verbuchten militärische Prestigeerfolge. Nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn schlug die 300 000 Mann starke Truppe des Kronprinzen Rupprecht im August 1914 in der Schlacht in Lothringen zwei französische Armeen nahezu vernichtend. Ludwig rief in München einer jubelnden Menge zu, er sei stolz, dass sein Sohn es gewesen sei, der den ersten Schlachtenerfolg des Krieges errungen habe. Prinz Leopold eroberte im Sommer 1915 die polnische Hauptstadt Warschau. Die Kriegspropaganda nahm großes Interesse an den Königlichen Hoheiten im Feld. Diese ließen sich als pflichttreue Vertreter ihrer Dynastie malen, fotografieren, filmen und interviewen.33 Soziale Monarchie Zeitlebens hatte sich Ludwig aufgrund seiner religiösen Wertorientierung, die in der katholischen Soziallehre fundiert war, für soziale Interessen eingesetzt.34 Auch während des Ersten Weltkriegs bemühte er sich aktiv um eine Rolle als fürsorglicher Landesvater und soziale Instanz.35 Fortgesetzt betonte er gegenüber Soldaten, Kriegsopfern und deren Familien sein Mitgefühl, rief zu Sammlungen für die Verwundeten- und Angehörigenfürsorge auf und unterstützte diese durch Spenden in Millionenhöhe. Der König stellte Schlösser

31 Tagebucheintrag 2. August 1914, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Herzogin Wiltrud von Urach, Nr. 592. 32 März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 258–269. 33 Ebd., S. 345–359. 34 März, Ludwig III. (wie Anm. 15), S. 33. 35 Lothar Machtan: Der erstaunlich lautlose Untergang von Monarchie und Bundesfürstentümern – ein Erklärungsangebot, in: Alexander Gallus (Hrsg.): Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010, S. 39–56, hier S. 48.

»In Treue fest?«

55

als Lazarette, Erholungsheime oder Kinderanstalten zur Verfügung und ließ Volksküchen für die hungernde Bevölkerung einrichten. Königin Marie Therese hatte das Protektorat über den »Bayerischen Frauenverein vom Roten Kreuz« inne. In den Nibelungensälen der Residenz ließ sie eine Kriegsarbeitsstelle einrichten, die zur größten Nähstube Deutschlands wurde und der Versorgung von Truppen und Lazaretten diente. Die Königin packte sogar regelmäßig selbst mit an. Fast täglich besuchten Mitglieder des Königshauses die zahlreichen in München und der Umgebung befindlichen Lazarette. Marie Therese begab sich 1916 gar auf eine Rundreise durch Bayern, um Spitäler zu besuchen. In alter Familientradition engagierten sich weitere Wittelsbacher. Prinzessin Therese, die Schwester des Königs, eröffnete ein Lazarett in ihrer Villa. Prinz Ludwig Ferdinand und Prinz Alfons dienten der Verwundetenfürsorge. Die Königstöchter Hildegard und Helmtrud arbeiteten für das Rote Kreuz, während ihre Schwestern Wiltrud und Gundelinde sich in der Angehörigenfürsorge betätigten. Prinzessin María del Pilar war ebenso für das Rote Kreuz tätig. Prinzessin Gisela richtete ihr Palais als Erholungsheim ein. Prinzessin Therese unterhielt ein Lazarett. Herzogin Maria José funktionierte zwei ihrer Häuser zu Krankenhäusern um. Daneben bestand die karitative Tätigkeit des Königshauses in der Sammlung von Liebesgaben für die Armee. Neben selbstgefertigten Wollsachen enthielten die Päckchen Zigarren, Nähzeug, Lebkuchen oder Seifenstücke.36 Die Schwerpunktsetzung der Monarchie auf soziale Themen wurde von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen. Die Spenden, die Einrichtung von Küchen, Spitälern und Erholungsheimen, die persönliche Sichtbarkeit der königlichen Familie durch die Lazarettbesuche sowie der Einsatz beim Versand von Liebesgaben dienten – neben der Verbesserung der Lage der Bevölkerung – nicht nur als perpetuierte Treuebezeugung des Königshauses zu seinen Bürgern und Soldaten, sondern waren ein symbolisches Kommunikationsmittel, das die Verbindung zwischen Heimat und Front, zwischen Monarchie, Soldaten und Zivilbevölkerung, garantierte. Krisenhafte Monarchie Ohne den Ersten Weltkrieg ist die Novemberrevolution des Jahres 1918 trotz aller tatsächlichen oder vermeintlichen Strukturprobleme der bayerischen Monarchie nicht zu erklären. Die Ernährungskrise, der zunehmende Gegensatz zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung, fehlende Kräfte in der 36 März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 214–233; Martha Schad: Bayerns Königinnen, München 2007, S. 337–346.

56

Stefan März

Landwirtschaft, steigende Kritik an staatlichen Stellen, zunehmende antipreußische Stimmung, das Ausbleiben eines Friedensschlusses, die eklatante Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung und die unvorstellbare Zahl an Kriegstoten und Verwundeten waren wesentlich als Nährboden für die Monarchiekrise.37 Als die Ergebnislosigkeit der politischen Anstrengungen offenbar wurde, verlor die Monarchie an Glaubwürdigkeit. Die Mehrheit der Bevölkerung erwartete spätestens ab 1917 nicht mehr nur Verständnis, Mitgefühl und Vertrauenswürdigkeit, sondern wartete auf greifbare Erfolge in der Innen-, Sozial- und Außenpolitik. Die Herrschaftsrepräsentation täuschte nicht mehr über die Krise hinweg. Anhaltende Fehlschläge wurden existenzbedrohend. Der unschlüssige Ludwig III. vermied es mehr und mehr, Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Somit wurde das Vertrauen in seine Führungsqualität immer weiter beschädigt. Das vor dem Krieg begonnene Experiment der repräsentativen Bürgermonarchie war damit praktisch gescheitert.38 Zunehmend wurden vom Monarchen auch schwere politische Fehler begangen. Ludwigs Haltung im Bereich der Kriegsziele trug in hohem Maße zu seiner eigenen Diskreditierung bei. Im Juni 1915 machte er seine Pläne während der 25. Generalversammlung des Kanalvereins öffentlich: Bayern solle das gesamte Elsass zugeschlagen werden, zudem Belgien annektiert und die Rheinmündung deutsch werden. Bei den Anhängern eines Verständigungsfriedens verspielte er damit viel Ansehen. Auf der anderen Seite fand er wohlwollende Unterstützung unter den Annexionisten. Am Grundgedanken, ein Friedensschluss müsse die Opfer aufwiegen und Gebietsverschiebungen dürften nicht zugunsten Preußens ausfallen, hielt er bis zum Schluss fest.39 Die ergebnislosen Bemühungen um Verfassungsreformen lagen teilweise an der Weigerung Ludwigs III., auf Herrschaftsrechte zu verzichten, waren aber auch in der verfahrenen innenpolitischen Situation Bayerns begründet. Durch eine mutige Reform hätte man ein Ventil für den zunehmenden Druck finden können. Dennoch lag bis in den Oktober 1918 kein Reformvorschlag für auch nur eine der beiden Landtagskammern vor. Allerdings war die Krise des monarchischen Systems keineswegs ein auf Bayern begrenztes Phänomen, sondern erstreckte sich auf alle Bundesstaaten sowie insbesondere auf die Reichsmonarchie. Ein isolierter bayerischer Rettungsversuch, beispielsweise eine vom Reich losgelöste Systemreform zu einer parlamentarischen Monarchie,

37 Körner, Geschichte des Königreichs Bayern (wie Anm. 4), S. 199. 38 Machtan, Untergang von Monarchie (wie Anm. 35), S. 382 f. 39 März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 384–389.

»In Treue fest?«

57

hätte den deutschen Staat ebenso in seinen Grundfesten erschüttert wie ein separater bayerischer Friedensschluss. 40 Für die Lebensmittelkrise wurde zuvorderst die innere Verwaltung verantwortlich gemacht, aber auch das Königshaus geriet mehr und mehr in die Kritik. Ungeachtet der sozialen Bemühungen, kamen Gerüchte in Umlauf, der Hof bereichere sich auf Kosten der leidenden Bevölkerung. 41 Die Popularität des Königs nahm dramatisch ab. Ludwig III. war sich nach dem Urteil seines Kriegsministers nicht »über die Stimmung, die im Volke gärte und sich gegen ihn wandte«, im Klaren. 42 Seine Namenstagsfeierlichkeiten im August 1918 demonstrierten in aller Deutlichkeit seine persönliche Unbeliebtheit. Kronprinz Rupprecht vermerkte: »Die Verstimmung gegen meinen Vater macht sich durch die […] auffallend geringe Beflaggung der Häuser erkenntlich, sowie die geringe Beteiligung an der abendlichen Serenade, bei der gewissermaßen demonstrativ nach dem Hoch auf meinen Vater auch ein Hoch auf mich ausgebracht wurde, was mir umso peinlicher war, als im Volke allgemein davon gesprochen wird, dass mein Vater nach dem Kriege zu meinen Gunsten abdanken müsse.«43 Vor allem zwei denkbare Initiativen hätten die innenpolitische Lage Bayerns vor einer Eskalation bewahren können: Einerseits hätte eine konsequente Verfassungsreform den Druck von den Wittelsbachern genommen. Als Legitimationsstifter einer parlamentarisch-repräsentativen Monarchie hätte Ludwig III. zweifellos Erfolg haben können. Der König versäumte es jedoch – trotz der von ihm gesuchten Nähe zum städtischen Bürgertum, zur ländlichen Bevölkerung sowie zu den Soldaten – den epochalen Umgestaltungen des Weltkrieges mit reformerischer Konsequenz zu begegnen. Der zweite Schritt wäre die Abdankung zugunsten seines populäreren Sohnes, des Kronprinzen Rupprecht, gewesen. Letzterer stand für die Zukunftsfähigkeit der Monarchie und war als siegreicher Heerführer anerkannt. Keine der beiden Alternativen

40 Albrecht, Ende des monarchisch-konstitutionellen Regierungssystems (wie Anm. 25), S. 290–295. 41 Alfons Beckenbauer: Ludwig III. von Bayern. 1845–1921. Ein König auf der Suche nach seinem Volk, Regensburg 1987, S. 199. 42 Lebenserinnerungen, S. 292, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Philipp von Hellingrath, Nr. 6. 43 Kriegstagebuch 24. August 1914, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Kronprinz Rupp­ recht, Nr. 708.

58

Stefan März

gelangte jedoch auf die politische Agenda, bevor die Krise der Monarchie sich im Spätsommer des Jahres 1918 immer weiter zuspitzte. 44 Wege in den Zusammenbruch Die Kriegserfahrungen von Hunger, Tod und Entbehrung waren zwar als Katalysatoren bedeutsam, hatten aber nicht automatisch zur Revolte oder Revolution gegen das Herrschaftssystem geführt. Erst der sich abzeichnende militärische Bankrott machte die Krise des monarchischen Systems virulent. 45 Zunehmend wurden im Reich Forderungen nach der Abdankung Kaiser Wilhelms II. laut, in dem infolge der amerikanischen Waffenstillstandsforderungen das größte Friedenshindernis gesehen wurde. In der Reichshauptstadt kursierte die Idee, einen anderen Bundesfürsten zum Kaiser zu küren oder als Reichsverweser einzusetzen. Auch Ludwig III. wurde als potentieller Regent ins Spiel gebracht. Bei allen Planspielen um die Kaiserkrone darf nicht vergessen werden, dass die Bundesfürsten ihr symbolisches Kapital inzwischen ebenfalls verspielt hatten. 46 Um sich für einen bayerischen Sonderfrieden einsetzen zu können, hätte sich Ludwig gegen Kaiser, Reichsleitung und Heeresleitung stellen müssen. Dazu war er allerdings nicht bereit. 47 Seit Ende Oktober 1918 wurde die Hoheitsgewalt der Wittelsbacher öffentlich in Frage gestellt. Die bayerische USPD schaffte es unter Kurt Eisner zunehmend, Kapital aus der prekären politischen und militärischen Lage zu schlagen und die vorhandenen Protestpotenziale zu mobilisieren. Zunehmend richteten sich die rasch aufeinander folgenden und immer mehr Zulauf erlebenden Kundgebungen auch in Bayern explizit gegen die Person des Monarchen. 48 Dieser schien aber in der Friedensfrage völlig passiv. Im Gegensatz dazu präsentierte sich der charismatische USPD -Führer Eisner als Verkörperung verschiedenster Heilsversprechen. 49 Der Zeitzeuge Rainer Maria Rilke beschrieb

44 Lothar Machtan: Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, Berlin 2008, S. 239 f. 45 Martin H. Geyer: Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne. München 1914– 1924, Göttingen 1998, S. 51. 46 Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 206–226; März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 477 f. 47 Albrecht, Landtag und Regierung (wie Anm. 11), S. 406 f. 48 Karl-Ludwig Ay: Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des 1. Weltkrieges, München 1968, S. 202–207. 49 Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 245; Ralf Höller: Der Anfang, der ein Ende war. Die Revolution in Bayern 1918/19, Berlin 1999, S. 38–44.

»In Treue fest?«

59

die Stimmung der ersten Novembertage: »In den letzten Tagen hat München etwas von seiner Leere und Ruhe aufgegeben, die Spannungen des Augenblicks machen sich auch hier bemerklich […]. Überall große Versammlungen in den Brauhaussälen, fast jeden Abend, überall Redner […] und wo die Säle nicht ausreichen, Versammlungen unter freiem Himmel nach Tausenden.«50 Ungeachtet der kritischen Lage wurde der Schein der Normalität beharrlich aufrechterhalten. Hatte der König sich im September noch nach Leutstetten und Anfang Oktober auf die Jagd begeben,51 so verließ er München ab Mitte Oktober kaum noch.52 Der in der Residenz weilende König spazierte täglich im Englischen Garten.53 Am 26. Oktober notierte die Königstochter Wiltrud: »Wir leben in täglicher Spannung, ja Aufregung, und unter fast ständigem Druck.«54 Ein Demonstrationszug brüllte am 3. November vor dem Wittelsbacher Palais antimonarchische Parolen. Eine so ungehinderte Provokation eines regierenden Monarchen war seit 1848 nicht mehr vorgekommen.55 Kronprinz Rupprecht erkannte die Gefahr für den Fortbestand der Monarchie in aller Klarheit. Ein entschiedenes Handeln war seiner Meinung nach vonnöten: »Wenn nur die deutschen Fürsten oder wenigstens Könige und Großherzöge öfters zu Besprechungen sich vereinigen würden, das Volk erwartete das von Ihnen und begann, da sie sich so wenig regten oder vielmehr hervortraten, an ihnen zu verzweifeln!«56 Doch dazu war Ludwig III. nicht bereit. Der Ministerratsvorsitzende klagte, es sei sehr mühsam, mit dem König zusammenzuarbeiten, der nie zu einem Entschluss käme und die einfachsten Vorlagen oft tagelang unerledigt liegen ließe.57 Der Kronprinz bemängelte, dass sein Vater, »selbst schon ein betagter Herr, […] nur von greisen Ratgebern umgeben sei«, die seine Politik 50 Brief von Rainer Maria Rilke an Clara Rilke vom 7. November 1918, zitiert nach: Peter Walther (Hrsg.): Endzeit Europa. Ein kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2008, S. 336 f. 51 Brief der Königin Marie Therese an Kronprinz Rupprecht vom 26. September 1918, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Kronprinz Rupprecht, Nr. 6. 52 Tagebuch der Prinzessin Wiltrud, 2. Oktober 1918, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Herzogin Wiltrud von Urach, Nr. 288. 53 Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 247. 54 Erinnerungen zum Hofstaat am 9. November 1918 und zur Flucht in der Revolutionszeit, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Herzogin Wiltrud von Urach, Nr. 288. 55 Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 246 f. 56 Schreiben des Kronprinzen Rupprecht an den Kriegsminister, 3. November 1918, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Philipp von Hellingrath, Nr. 7. 57 Kriegstagebuch, 10. Mai 1916. BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Kronprinz Rupp­ recht, Nr. 704.

60

Stefan März

bestimmten.58 Abgesehen von den Versäumnissen des Herrschers verband die Identifikation des Königs mit der Nation das Schicksal seiner Person untrennbar mit jenem seines vor der Niederlage stehenden Staates.59 Während die Unbeliebtheit Ludwigs III. immer deutlicher zutage trat, blieben andere Mitglieder der Königsfamilie, etwa der Kronprinz, nach wie vor beliebt. Obwohl Ludwig weit moderner und pragmatischer dachte als noch sein Vater, fehlte seinem Regierungsstil der charismatische Funke, der seine Herrschaft hätte popularisieren können. Dennoch kann selbst zu diesem Zeitpunkt nicht ohne Weiteres von einer breiten Ablehnung der monarchischen Staatsform ausgegangen werden. Nur gelangte die Frage nach dem richtigen König für Bayern nicht mehr auf die Agenda.60 Die Staatsregierung hielt eine revolutionäre Entwicklung in Bayern noch im Oktober 1918 für unwahrscheinlich, zumal die gemäßigten Mehrheitssozialdemokraten kein Interesse an einer Zuspitzung der Krise hatten. Der führende Kopf der bayerischen Landtags-SPD, Erhard Auer, kooperierte seit diesen Tagen eng mit den Behörden.61 Nach den Oktoberreformen auf Reichsebene musste jedoch nun auch in Bayern schnellstmöglich eine Systemreform erfolgen. Ludwig III. verweigerte sich dieser Einsicht nicht. Am 2. November 1918 kündigte er Gesetzentwürfe zur Einführung des Verhältniswahlrechts und einer Entmachtung der Reichsratskammer an. Alles sollte rasch umgesetzt werden: Die Abgeordnetenkammer sollte darüber am 6. November abstimmen, die Reichsratskammer am 8. November. Künftig würden nur Minister ernannt, die das Vertrauen des Landtags besaßen. Vertreter der drei großen Fraktionen – also erstmals auch der Sozialdemokraten – wurden dazu als Kandidaten bestimmt. Die Erlasse des Königs wurden allgemein begrüßt. Die sozialdemokratische »Münchner Post« feierte gar den Beginn einer neuen Ära, der Bayern zum demokratischsten und frei-

58 K. u. K. Gesandter von Velics in München an den Minister des K. u. K. Hauses und des Äußern Stephan Baron Burián, 3. Dezember 1916, OeStA, Abt. Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Politisches Archiv, Nr. 839. 59 Bernd Sösemann: Hollow-sounding jubilees: forms and effects of public self-display in Wilhelmine Germany, in: Annika Mombauer (Hrsg.): The Kaiser; new research on Wilhelm II’s role in imperial Germany, Cambridge 2003, S. 37–62, hier S. 53 f., S. 62. 60 Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 239–242; Friedrich Prinz: Die Geschichte Bayerns, München 2001, S. 436 f. 61 Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 242; März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 483–486.

»In Treue fest?«

61

esten Staat des Reiches machen werde. Ob diese späte Parlamentarisierung die Monarchie würde retten können, war jedoch zumindest fragwürdig.62 Das persönliche Ansehen Ludwigs III. war indes so weit verfallen, dass nun auch vor der Residenz Demonstrationszüge umgingen. Die Situation bot Kurt Eisner die Gelegenheit, radikale Grundsatzfragen aufzuwerfen, wie dies kein Politiker vor ihm gewagt hatte. Binnen kürzester Zeit gelang es ihm, sich als Resonanzverstärker verschiedenster Protestpotenziale zu profilieren. Sein Ziel war es, die Monarchie restlos zu beseitigen, als Voraussetzung für eine Demokratisierung und einen Friedensschluss. Auf der Basis dieser revolutionären Programmatik mobilisierten Eisner und seine Kampfgenossen mit zunehmendem Erfolg in München die Massen. Das Timing war ideal, da das Königreich aufgrund der Verfassungsreformen nur eine geschäftsführende Regierung hatte, angesichts der militärischen Bedrohung schiere Panik herrschte und das II. Armeekorps soeben aus München abgerückt war.63 Der Abgeordnete Auer versicherte, seine gemäßigten Sozialdemokraten würden sich der Versammlung anschließen, um die Unabhängigen Sozialdemokraten »gewissermaßen mit sich zu vereinigen und zu bändigen.«64 In der Tat hatte Auer zuvor gegenüber dem Ministerratsvorsitzenden beteuert, von Eisner gehe keine Gefahr aus: »Reden sie doch nicht immer von Eisner! Eisner ist erledigt. […] Wir haben unsere Leute in der Hand. Ich gehe selbst mit dem Umzug. Es geschieht gar nichts.«65 Ludwig III. schrieb noch am 7. November hoffnungsvoll: »Selbstverständlich geschieht von hier aus Alles, um möglichst bald zum Frieden zu kommen. Es ist dies schon der inneren Lage wegen dringend geboten.«66

62 Albrecht, Landtag und Regierung (wie Anm. 11), S. 383–385; Willy Albrecht: Das bayerische Verfassungsjubiläum vom Mai 1918, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Nr. 31 (1968), S. 675–684, hier S. 684; Parlamentarisierung der Regierung. BayHStA, Neuere Bestände, Staatsministerium des K. Hauses und des Äußern, Nr. 974. 63 Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 240 f.; Albrecht, Landtag und Regierung (wie Anm. 11), S. 370, 409–412, 420–423. 64 Tagebuch der Prinzessin Wiltrud, 9. November 1918, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Herzogin Wiltrud von Urach, Nr. 288; Geyer, Verkehrte Welt (wie Anm. 45), S. 52. 65 Zitiert nach Beckenbauer, Ludwig III. (wie Anm. 41), S. 257. 66 Brief Ludwigs III. an Prinz Franz, 7. November 1918, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, Kabinettsakten König Ludwigs III., Nr. 138.

62

Stefan März

Novemberrevolution in Bayern Geschätzte 40 000 bis 60 000 Menschen kamen am 7. November 1918 auf der Theresienwiese zusammen – die größte politische Kundgebung, die München bis dato erlebt hatte. Am Ende einer chaotischen Veranstaltung, bei der sich Eisners Anhänger nicht an das Übereinkommen mit der SPD hielten, wurde eine Resolution angenommen. Darin wurde der sofortige Rücktritt des Kaisers und des Kronprinzen des Deutschen Reiches gefordert, ebenso ein Paket von Reformforderungen.67 Die Massenkundgebung am 7. November war in erster Linie eine Friedensdemonstration und sollte nicht primär eine Revolution herbeiführen. Das Haus Wittelsbach war nicht einmal der Hauptadressat dieser Aktion, die sich gegen den Krieg an sich wandte – allerdings auch gegen jene, die für dessen Verlängerung standen. Inwiefern die Ereignisse ernst zu nehmen waren, schien indes vielen Zeitgenossen nicht klar. Thomas Mann notierte in sein Tagebuch: »Rote Fahnen, ein Soldat auf den Schultern der Leute, der an verschiedenen Stellen ›Reden‹ gehalten [hatte]. Rufe: ›Nieder mit der Dynastie!‹ ›Republik!‹ Albernes Pack! […] Sonderbare, zweideutig ungewisse Stimmung in der Stadt, bei klarem, feuchtem Sternenhimmel. Revolutionär, aber friedlich und festlich. […] Man lässt die Leute sehr vorsichtig gewähren. Der Sinn des Ganzen scheint hauptsächlich partikularistisch, respektive antikaiserlich (›Nieder mit den Hohenzollern‹) soweit es überhaupt Sinn hat und nicht ›Faschingsersatz‹ ist.«68 Das Herrscherhaus sollte nach dem Willen der Revolutionäre den Volkszorn spüren. Eine Besetzung des Residenzschlosses oder gar die Arretierung der königlichen Familie scheint jedoch nicht erwogen worden zu sein. Eisner nutzte die Autoritätskrise des Systems, das den Herausforderungen des Weltkriegs nicht gerecht wurde, um unter dem Axiom der Kriegsbeendigung die Beseitigung der Monarchie einzufordern. Nach Abschluss der Kundgebung zog er mit einer wachsenden Schar von Anhängern in die Stadt und stürmte handstreichartig Kasernen. Bald waren strategisch wichtige Gebäude durch Revolutionäre besetzt und ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet. Innerhalb weniger Stunden setzte Eisner eine Bewegung in Gang, die das politische System zum Einsturz bringen sollte – noch bevor andernorts im Deutschen Reich Vergleichbares geschah. Die krisenhafte Monarchie fand in dieser Situation keine Fürsprecher mehr.69

67 Beckenbauer, Ludwig III. (wie Anm. 41), S. 258 f.; David Clay Large: Hitlers München. Aufstieg und Fall der Hauptstadt der Bewegung, München 1998, S. 118–121. 68 Zitiert nach Prinz, Geschichte Bayerns (wie Anm. 60), S. 442. 69 Körner, Geschichte des Königreichs Bayern (wie Anm. 4), S. 200; März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 494–497.

»In Treue fest?«

63

Am Abend erschienen mehrere Minister beim König und drängten ihn zum vorübergehenden Rückzug. Vor der Residenz skandierten mittlerweile Tausende und forderten die Republik. Für Ludwig III. waren auch jetzt noch etliche Optionen denkbar. Er hätte eine Delegation empfangen oder zum bewaffneten Kampf aufrufen können. Er hätte reumütig Fehler und Versäumnisse zugeben und Besserung geloben können. Er hätte einen Thronverzicht zugunsten seines Sohnes verkünden oder gar dem Kaiser die Gefolgschaft aufkündigen können. Stattdessen wich der 73-Jährige einer Reaktion aus und floh durch Nacht und Nebel nach Schloss Wildenwart am Chiemsee.70 Da die Überrumpelung der alten Gewalten auf Akzeptanz stieß, wagte Kurt Eisner am folgenden Morgen, die Republik in Form des so genannten Freistaats Bayern auszurufen und die Wittelsbacher für abgesetzt zu erklären.71 In der Provinz wiederholte sich die Revolution ohne größere Schwierigkeiten. Das königstreue Bürgertum leistete keinen Widerstand. Der Kriegsminister versuchte zwar, eine Division zu mobilisieren – dies endete jedoch in einer Meuterei. Niemand war gewillt, einen Bürgerkrieg zu riskieren. Die christlichen Gewerkschaften, selbst die katholische Kirche und die Richtungsgewerkschaften der Beamtenschaft arrangierten sich mit der Revolution.72 Ungeachtet ihrer revolutionären Machtergreifung fand Eisners Regierung Anerkennung als legitime Staatsgewalt, während die Entthronung Ludwigs III. als unumkehrbar betrachtet wurde. Die königliche Flucht wurde zu einer Fahnenflucht umgedeutet.73 Nicht die Verfallserscheinungen des Systems waren die Ursache des Zusammenbruchs der Monarchie, sondern die Resignation, Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht der Bevölkerung.74 Der extreme Reputationsverlust, die sukzessive Entmachtung und die Entwertung des monarchischen Nimbus machten Ludwig III. sprach-, kraft- und teilnahmslos. Die Monarchie stürzte, als der Krieg verloren war und deren Träger resignierte.75

70 71 72 73 74 75

Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 247. Ebd., S. 242. März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 499. Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 255 f. Körner, Geschichte des Königreichs Bayern (wie Anm. 4), S. 199 f. Machtan, Untergang von Monarchie (wie Anm. 35), S. 50 f.

64

Stefan März

Anifer Erklärung, Exil und Tod Eine Thronverzichtserklärung unterschrieb Ludwig nicht, sondern gab stattdessen auf Schloss Anif bei Salzburg, der nächsten Station seiner Flucht, eine Erklärung ab, in der er alle Beamten und Militärs ihres Treueides entband.76 Aus seiner Sicht sollte diese die Rechte der Krone wahren. Deren Präambel knüpfte an seinen Erlass vom 5. November 1918 an: »Zeit meines Lebens habe ich mit dem Volk und für das Volk gearbeitet. Die Sorge für das Wohl meines geliebten Bayerns war stets mein höchstes Streben.« Nachdem er sich »infolge der Ereignisse der letzten Tage nicht mehr in der Lage« sah, die Regierung weiterzuführen, stellte er allen Beamten, Offizieren und Soldaten »die Weiterarbeit unter den gegebenen Verhältnissen frei«. Um vollendete Tatsachen zu schaffen, veröffentlichte Eisner die Proklamation am 14. November 1918 zusammen mit einer Erklärung: Den Thronverzicht nehme man zur Kenntnis. Es stehe dem ehemaligen König nichts im Wege, »sich wie jeder andere Staatsbürger frei und unangetastet in Bayern zu bewegen, sofern er und seine Angehörigen sich verbürgen, nichts gegen den Bestand des Volksstaates Bayern zu unternehmen.«77 Ludwig III. war, wie seine Schwester Therese einige Tage später vermerkte, »ganz unterrichtet, und auf Alles gefasst.«78 Alle Traditionen seien, ebenso wie »die tausendjährige Zusammengehörigkeit«, hinweggefegt. Therese fragte sich: »Mussten meine Brüder und ich so alt werden, um das zu erleben? […] Es ist eine Schmach für das Land, in dem wir groß geworden sind, an dem wir mit allen Fasern unseres Herzens hängen und dem wir all unsere Kraft und all unser Interesse geopfert haben.«79 Für ihren Bruder tat es ihr »gar so leid«. Nun sei er, »der rechtmäßige König, welcher zum Regieren vorbereitet und geeignet war wie wenige, des Regierens beraubt […].« Die persönliche Tragödie des Herrscherhauses empfand Therese gegenüber ihrer Schwägerin als grausam: »Und welcher Undank des Volkes gegen ihn, der nur für sein Land gearbeitet hat, gegen dich [Königin MarieTherese], die du dich all die Jahre geopfert und ermüdet hast, […] in Tätigkeit 76 Beckenbauer, Ludwig III. (wie Anm. 41), S. 269; Erinnerungen zur Flucht 1918 von Prinzessin Helmtrud, 7. November 1918 (1954 kopiert von Prinzessin Wiltrud), BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Herzogin Wiltrud von Urach, Nr. 288. 77 Zitiert nach Machtan, Die Abdankung (wie Anm. 44), S. 255 f. 78 Prinzessin Therese an Prinzessin »Arnulf«, 13. November 1918, BayHStA, Geheimes Hausarchiv, NL Prinzessin Therese (†1938), Nr. 3. 79 Prinzessin Therese an Prinzessin Wiltrud, 23. November 1918, Landesarchiv BadenWürttemberg, HStA Stuttgart, Archiv der Herzöge von Urach, GU 119, NL Wiltrud Herzogin von Urach, Nr. 344.

»In Treue fest?«

65

im Roten Kreuz, in Sendung für Feldsoldaten, die Töchter, die jede an ihrem Posten in Verwundetenpflege und sonstiger Kriegsbetätigung ausgeharrt haben, endlich die Söhne, welche tapfer ihrer Soldatenpflicht gefolgt sind.«80 Der vormalige König kehrte Mitte November 1918 aus Salzburg zurück und blieb drei Monate lang in Schloss Wildenwart am Chiemsee. Im Zuge der politischen Unruhen in der Zeit der Räterepublik, die in Bayern bis Mai 1919 blutige Revolutionen und Konterrevolutionen mit sich brachten, ging Ludwig abermals ins Exil. Direkt nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner durch einen ehemaligen Leutnant des Infanterie-Leibregiments floh der vormalige Monarch aus Angst, mit dem Attentat in Verbindung gebracht zu werden, Ende Februar 1919 nach Kufstein in Tirol. Später setzte er sein Exil in Ötz im Ötztal, dann in Liechtenstein und in Locarno in der Schweiz fort.81 Nach seiner Heimkehr nach Bayern lebte er von April 1920 bis September 1921 abermals zurückgezogen in Schloss Wildenwart. Ende September 1921 reiste Ludwig in die ungarische Tiefebene, um Zeit in seinen Besitzungen in Sárvár zu verbringen. Bereits seit einem Jahr kämpfte er mit gesundheitlichen Problemen. Nachdem sich der Zustand des 76-Jährigen in Ungarn immer weiter verschlechterte, verstarb er am Nachmittag des 18. Oktobers 1921 an Herzversagen und Magenblutungen.82 Restaurationshoffnungen Der Trauergottesdienst für Ludwig III. fand in München statt. Mit großem Pathos stilisierte Kardinal Michael von Faulhaber den Verstorbenen zu einem Märtyrer. Zudem verteidigte er das Gottesgnadentum und betonte »Könige von Volkes Gnaden sind keine Gnade für das Volk, und wo das Volk sein eigener König ist, wird es über kurz oder lang sein eigener Totengräber. […] König Ludwig war nicht König von Volkes Gnaden, die Gottesgnade aber bestand darin, dass er sein Königtum als Dienst am Wohle des Volkes auffasste und die Herrscherpflichten stärker betonte als die Herrscherrechte.«83 Karl Alexander von Müller berichtete, nach Faulhabers Gedenkrede erwarteten viele Trauergäste, er würde den vormaligen Kronprinzen zum König ausrufen und dieser werde im Triumphzug zur Residenz geführt. Der Theologe

80 Prinzessin Therese an Königin Marie Therese, 29. November 1918 Landesarchiv BadenWürttemberg, HStA Stuttgart, Archiv der Herzöge von Urach, GU 119, NL Wiltrud Herzogin von Urach, Nr. 1128. 81 März, Wittelsbach im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 18), S. 518–520. 82 Beckenbauer, Ludwig III. (wie Anm. 41), S. 282–288; Glaser, Ludwig III. (wie Anm. 16), S. 52–55. 83 Zitiert nach Beckenbauer, Ludwig III. (wie Anm. 41), S. 309–312.

66

Stefan März

Peter Dörfler formulierte direkt nach der Totenfeier, wäre »es an diesem Tag zu einer Volksabstimmung gekommen; die Mehrheit, eine bedeutende Mehrheit, hätte gestimmt: Es lebe der König.«84 Rupprecht selbst hatte bereits vor dem Tod seines Vaters für einen Volksentscheid in der Frage einer Restauration plädiert, den er als erfolgversprechend einschätzte.85 Die Staatsregierung nahm vollzählig an der Beerdigung teil, was aber nicht als monarchistische Demonstration missverstanden werden sollte. Der Ministerrat hatte sich zuvor zusichern lassen, dass keine Proklamation einer Monarchie stattfinden werde. Der Präsident des Landtags gab eine Erklärung ab, in welcher er eine offizielle Würdigung der Leistungen Ludwigs III. zum Ausdruck brachte, zugleich aber die Rechtmäßigkeit der Thronenthebung und der Ergebnisse der Revolution bekräftigte: »Jene Stunde des 9. November 1918 […] wird der bayerischen Geschichte kein Ruhmesblatt sein.« Der König, dem für seinen Einsatz für den Föderalismus, den Handel, Verkehr, die Landwirtschaft und soziale Verbesserungen Dank auszusprechen sei, habe »ein persönlich gewiss unverdientes Schicksal« erlitten.86 Die lange Tradition der bayerischen Monarchie, ihre tiefe Verankerung in Staat und Gesellschaft und die Tatsache, dass die Institution erst spät in den Sog des revolutionären Strudels geriet, legten nahe, dass der Monarchismus nach 1918 eine einflussreiche politische Kraft hätte werden können. Unter den Monarchisten muss jedoch zwischen Anhängern der monarchischen Staatsform, die einen erblichen König als Staatsoberhaupt grundsätzlich guthießen und Monarchisten im engeren Sinne, für die der Monarchismus die primäre Maxime darstellte und deren politisches Anliegen die Restauration war, unterschieden werden. Anhänger der Monarchie fanden sich zweifellos viele. Der politisch aktive und restaurative Monarchismus blieb jedoch schwach, da er einer Reihe von strukturellen und politischen Problemen gegenüberstand, etwa einem fehlenden Monarchie- und Restaurationskonzept.87 Dem vormaligen Kronprinzen Rupprecht waren die Hindernisse einer Restauration bewusst. Eine Notiz aus der Zeit nach 1921 verdeutlicht seinen Standpunkt: »Bei Lebzeiten meines Vaters war bei uns an eine Wiedererrichtung

84 85 86 87

Zitiert nach ebd., S. 297 f. Ebd., S. 307. Ebd., S. 298–300. Arne Hofmann: Obsoleter Monarchismus als Erbe der Monarchie. Das Nachleben der Monarchie im Monarchismus nach 1918, in: Thomas Biskup/Martin Kohlrausch (Hrsg.): Das Erbe der Monarchie. Nachwirkungen einer deutschen Institution seit 1918, Frankfurt a. M. 2008, S. 241–260.

»In Treue fest?«

67

der Monarchie nicht zu denken, aber auch später standen ihr große Schwierigkeiten entgegen. […] Auf jeden Fall musste eine dahin abzielende Bewegung vom Volke aus erfolgen.«88 Auch die extreme Rechte hatte im Frühjahr 1919 begriffen, dass eine gewaltsam restaurierte Monarchie aus sich heraus keine schöpferische Kraft würde aufbringen können.89 Rupprecht selbst lehnte einen Putsch ebenso ab wie die Loslösung Bayerns aus dem deutschen Staatsverbund, hielt aber grundsätzlich an seinen Thronansprüchen fest, die er auf verfassungsmäßigem Weg verwirklicht sehen wollte.90 Am Tag der Beisetzung seines Vaters ließ Rupprecht eine Erklärung veröffentlichen, die seinen Rechtsstandpunkt verdeutlichte: »Mein höchstseliger Vater hat den Kelch des Leidens bis zur Neige geleert. Nicht nur sah er sein auf das Beste des Landes gerichtetes Lebenswerk zerstört, er musste zu seinem Schmerz nach dem Zusammenbruch des Reiches auch noch die in einem Augenblick der Unordnung und Verwirrung erfolgte Preisgabe von wesentlichen, für das Bestehen des bayerischen Staates unentbehrlichen Rechten erleben. Eingetreten in die Rechte meines Herrn Vaters und in treuem Bekenntnis zu meiner bayerischen und deutschen Heimat bin ich verpflichtet, dies festzustellen; das schulde ich der Überlieferung meines Hauses, der Geschichte und der Zukunft.«91 Rupprecht sah in der Frage einer Restauration keinen befriedigenden Konsens. Entgegen den Erwartungen ließ er sich am Tag der Beisetzung seines Vaters nicht zum König von Bayern proklamieren. Seine Formulierung, er sei in die Rechte seines Vaters eingetreten, sorgte dennoch für nicht geringe Aufregung und wurde teils als Herausforderung oder auch Androhung der Loslösung Bayerns aus dem Reich missverstanden, wenngleich sie nicht mehr als die Formulierung eines Rechtsvorbehaltes darstellen konnte.92 Die Wittelsbacher in der Republik Der vormalige Kronprinz wuchs in der Republik in die Rolle eines inoffiziellen Repräsentanten Bayerns hinein. Nicht nur die Mitglieder seines 1923 in reduzierter Form neu eingerichteten Hofstaates titulierten ihn als König und Majestät und kleideten ihren Schriftverkehr in die Formen höfischen Ze-

88 Zitiert nach Dieter J. Weiß: Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955): Eine politische Biografie, Regensburg 2007, S. 223. 89 Machtan, Untergang von Monarchie (wie Anm. 35), S. 55. 90 Beckenbauer, Ludwig III. (wie Anm. 41), S. 305. 91 Zitiert nach Weiß, Kronprinz Rupprecht (wie Anm. 88), S. 223; Beckenbauer, Ludwig III. (wie Anm. 41), S. 305 f. 92 Beckenbauer, Ludwig III. (wie Anm. 41), S. 305 f.

68

Stefan März

remoniells, auch viele Offiziere, Geistliche und Wissenschaftler benutzten diese Anrede. Selbst Regierungsmitglieder konzedierten seine gesellschaftliche Stellung, wenngleich dies keine staatsrechtliche Konsequenz hatte. Das Innenministerium genehmigte die Namensführung »Rupprecht, Kronprinz von Bayern« als verfassungsgemäß. Bis 1933 führte er in Berchtesgaden, Hohenschwangau und München einen Lebensstil, der an den eines Monarchen erinnerte, wenngleich nicht mit vergleichbaren finanziellen Mitteln. Eine Reihe von Institutionen der Monarchie bestanden im republikanischen Freistaat fort, etwa die königlichen Hausritterorden vom Heiligen Georg und vom Heiligen Hubertus sowie der Militär-Max-Josephs-Orden. Rupprecht trat ab 1922 verstärkt in der Öffentlichkeit auf, wobei seine verschiedenen Symbolfunktionen als Thronprätendent, Repräsentant des vormaligen Königshauses und als Generalfeldmarschall zumeist zusammenflossen. Zugleich setzte er sich für die Stärkung der Stellung Bayerns und die Einigung der monarchistischen und konservativen Kräfte ein. Von der Tagespolitik hielt er sich fern, empfing aber ununterbrochen Politiker verschiedener Lager. Kontakte unterhielt er auch zu nationalen Kräften wie den Einwohnerwehren. Nach der Auflösung der Einwohnerwehren im Juni 1920 entstand der paramilitärische Verband »Bayern und Reich«. Zwar ist nicht nachweisbar, inwieweit Rupprecht hinter dieser konservativ-monarchistischen Nachfolgeorganisation stand, jedoch dürfte sie seinen Vorstellungen entgegengekommen sein.93 Nach Darstellung Rupprechts machte Ludendorff ihm im Dezember 1921 das Angebot zur Wiederherstellung der Monarchie mittels eines Putsches: »Es geht jetzt ums Ganze, ich habe eine sehr große Macht hinter mir. Wittelsbach oder Hohenzollern – wer zugreift, der hat’s.«94 Rupprecht jedoch beharrte auf seinem Standpunkt, nur auf verfassungsmäßigem Wege sei eine Restauration für ihn vorstellbar. Sobald er über den Hitler-Ludendorff-Putsch von 1923 unterrichtet worden war, unterzeichnete er eine Erklärung mit dem Kernsatz »Darum die Waffen nieder!« Seitdem war sein Verhältnis zum Nationalsozialismus durch fundamentale Ablehnung gekennzeichnet. Seine Haltung bildet

93 Weiß, Kronprinz Rupprecht (wie Anm. 88), S. 224–249; Dieter J. Weiß: Kronprinz Rupprecht von Bayern – Thronprätendent in einer Republik, in: Günther Schulz/Markus A. Denzel (Hrsg.): Deutscher Adel im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen 2004, S. 445–460. 94 Zitiert nach Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, S. 254.

»In Treue fest?«

69

den Schlüssel für die weiteren Beziehungen des nationalkonservativen Lagers in Bayern zum Nationalsozialismus.95 Der bayerische Monarchismus unterschied sich wesentlich von vergleichbaren Bewegungen. Nicht nur war Kronprinz Rupprecht weithin anerkannt; in Form des »Bayerischen Heimat- und Königsbundes« existierte eine in der Bevölkerung verwurzelte Organisation des Monarchismus, die mit guten Kontakten zur Landespolitik ausgestattet war. Ende 1926 verfügte der Königsbund über 1330 Ortsvereine mit insgesamt 65.000 Mitgliedern. Das Ziel der Restauration der Monarchie wurde durch moderne Kommunikationsmittel propagiert. Neben einer eigenen Königsbund-Zeitung illustrierten Lichtbildervorträge, Agitationsfahrten und ein Kinofilmprojekt diese Bestrebungen.96 In Bayern war zwar ein vergleichsweise dynamischer Monarchismus zu beobachten, jedoch litt auch dieser unter Spaltungen und Nachwuchsproblemen. Insgesamt blieb er heterogen und politisch kraftlos. Als Gegner des Nationalsozialismus erlangte der konservative bayerische Monarchismus jedoch noch einmal eine bedeutende Sonderrolle.97 Als Rettungsversuch gegen Hitlers Gleichschaltungspolitik rückte 1933 eine Restauration der Monarchie in den Fokus. Die Bayerische Volkspartei erwog, Rupprecht nach Artikel 64 der bayerischen Verfassung als Generalstaatskommissar einzusetzen. Selbst die Sozialdemokraten legten sich fest, ihn zu unterstützen, anstatt die drohende Machtübernahme der NSDAP zu dulden. Doch dieses Königsprojekt – die letzte realistische Möglichkeit für eine Wiederherstellung der Monarchie – scheiterte am Wunsch des Oberhauptes des vormaligen Königshauses, eine politisch neutrale Allparteienregierung zu bilden.98 Infolge der Machtergreifung Hitlers zog sich Rupprecht in die innere Emigration zurück. Der Bayerische Heimat- und Königsbund wurde noch 1933 aufgelöst. Rupprecht legte gleichwohl bei Reichspräsident von Hindenburg seinen Protest gegen die Einsetzung von Reichsstatthaltern ein. Schließlich wurde er im Jahr 1939 mitsamt seiner Familie ins Exil nach Italien gezwungen. Während des Zweiten Weltkriegs blieb er in Florenz und setzte sich bei den Alliierten für eine föderale Neuordnung Deutschlands und eine Restauration der einzelstaatlichen Monarchien ein. Nur knapp entging er 1944 seiner Ver-

95 96 97 98

Weiß, Thronprätendent in einer Republik (wie Anm. 93), S. 450 f. Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 94), S. 376–378. Ebd., S. 256 f. Weiß, Kronprinz Rupprecht (wie Anm. 88), S. 263–272; Karl Bosl: Bayerische Geschichte, München 2. Aufl. 1980, S. 191f; Prinz, Geschichte Bayerns (wie Anm. 60), S. 474 f.

70

Stefan März

haftung durch die Nationalsozialisten. Seine Gattin und seine Kinder aus der zweiten Ehe wurden hingegen in Konzentrationslagern interniert. Fast alle Wittelsbacher überlebten trotz Repressionen das Dritte Reich. Hochangesehen kehrte Rupprecht im Jahr 1945 nach Bayern zurück, wo er sich zunehmend ins Private zurückzog. Er starb 1955 im Alter von 86 Jahren.99 Der Monarchismus in Bayern erlebte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine kurze Phase des Wiederauflebens. Dies war bedingt durch das prominente Engagement von Persönlichkeiten aus den Reihen der ehemaligen Bayerischen Volkspartei. Die amerikanische Militäradministration verbot bereits 1946 die neugegründete Bayerische Heimat- und Königspartei. Daraufhin sammelten sich die Vertreter monarchistischer Bestrebungen vornehmlich im konservativkatholischen CSU-Flügel, scheiterten jedoch im parteiinternen Machtkampf. Wenngleich sich der Monarchismus in der Folge in miteinander konkurrierende Gruppierungen ausdifferenzierte, bekannten sich noch Mitte der 1950er Jahre 36 % der Landtagsabgeordneten von CSU und Bayernpartei als Monarchisten. Politische Wirkungsmacht vermochte der bayerische Monarchismus, obwohl er in einigen Institutionen und Verbänden bis heute nachlebt, jedoch in der Zeit der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr zu entfalten.100

  99 Weiß, Kronprinz Rupprecht (wie Anm. 88), S. 263–272; Hans Rall: Die Wittelsbacher in Lebensbildern, München 2005, S. 370 f. 100 Konrad Maria Färber: Bayern wieder ein Königreich? Die monarchistische Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Neuanfang in Bayern 1945 bis 1949. Politik und Gesellschaft in der Nachkriegszeit, München 1988, S. 163–182; Dieter J. Weiß: »In Treue fest«. Die Geschichte des Bayerischen Heimat- und Königsbundes und des Bayernbundes 1921 bis 1996, in: Adolf Dinglreiter/Dieter J. Weiß (Hrsg.): Gott mit dir du Land der Bayern, Regensburg 1996, S. 9–54.

Ursula Rombeck-Jaschinski

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

»Unmut über die ›Verbannung‹ des Königs« lautete die Überschrift eines Artikels in der »Stuttgarter Zeitung« vom 24. Mai 2018.1 Es ging darin nicht um die archaische Form der Bestrafung eines unliebsamen Monarchen, sondern um die Umplatzierung eines in Bronze gegossenen Denkmals des letzten württembergischen Königs Wilhelm II. Seit 1991 stand die Bronzeskulptur vor dem Wilhelmspalais, seinem ehemaligen Wohnsitz. Sie war zum 70. Todestag des früheren Herrschers aus privaten Spenden vom Stuttgarter Bildhauer Hermann-Christian Zimmerle geschaffen worden und zeigt den König als volksnahen Spaziergänger mit seinen Hunden. Während das zuletzt als Stadtbibliothek genutzte Wilhelmspalais von 2013 bis 2017 zum neuen Stadtmuseum umgebaut wurde, verschwand die Statue im Depot. Zur Museumseröffnung im Herbst 2017 wurde das Standbild wieder aufgestellt, allerdings nicht mehr vor, sondern hinter dem Gebäude im Garten, das nun auch nicht mehr Wilhelms- sondern Stadtpalais hieß. Die Umsetzung der Statue führte zu monatelangen Unmutsäußerungen in sozialen Netzwerken. In einem Beschwerdebrief an den Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn wurde die Forderung erhoben, »den beliebten und von den meisten Stuttgartern hochverehrten Bürgerkönig« doch wieder an seinen alten Platz zurückzustellen. Museumsleiter Torben Giese wies die Forderung zurück, betonte aber gegenüber der Presse, man habe »keinesfalls eine Herabsetzung des Königs im Schilde geführt. Im Gegenteil: Das Denkmal sei aus seiner Sicht am neuen Ort besser platziert als am alten. Der König mit seinen Spitzen stehe nicht mehr so exponiert im Verkehrslärm.«2 Die Replik von Museumsleiter Giese mit erkennbar ironischem Unterton beendete die Kontroverse aber nur vorläufig. Im Dezember 2019 forderte der Bezirksrat Mitte eine Rückverlegung

1 2

»Denkmal vor dem Stadtpalais in Stuttgart. Unmut über die ›Verbannung‹ des Königs«, in: »Stuttgarter Zeitung« vom 24. Mai 2018. Ebd.

72

Ursula Rombeck-Jaschinski

des Denkmals auf seinen alten Platz.3 Museumsleiter Giese begründete seine Ablehnung dieses Mal nicht nur ästhetisch, sondern auch inhaltlich. Das Stadtmuseum wolle keine »Erinnerungskultur der Verklärung«. Giese lehnte es ab, »König Wilhelm II. zum Bürgerkönig und zum liberalsten aller Könige zu verklären.«4 Damit eröffnete Giese eine grundsätzliche Diskussion über die historische Einordnung des letzten württembergischen Königs. Thomas Borgmann, langjähriger Redakteur der »Stuttgarter Zeitung« im Ruhestand, warf Giese vor, er wolle sich die »alleinige Deutungshoheit« aneignen.5 Dass Borgmann vielen Stuttgartern aus dem Herzen sprach, zeigte sich in Leserbriefen und Internetkommentaren. Dem zugezogenen Museumsleiter fehle es eben an Empathie für die Stadtgeschichte.6 Die anhaltende Diskussion macht deutlich, dass der frühere König Wilhelm noch immer einen Platz in den Herzen vieler Württemberger besitzt, insbesondere der älteren Generation. Die 1991 auf private Initiative errichtete, heftig umstrittene Bronzeplastik zeigt den Monarchen so, wie ihn viele Stuttgarter Bürger in Erinnerung behalten wollten: als bürgerlichen König. Es kursieren zahlreiche Anekdoten, in denen das Bild vom volksnahen Herrscher gezeichnet wird, das sich gleichsam zu einem Mythos verselbständigt hat.7 Zweifellos hat sich König Wilhelm II. zu einem festen Bestandteil der württembergischen Erinnerungskultur entwickelt. Wer war dieser König Wilhelm II. und wie ist die nachhaltige Beliebtheit des letzten württembergischen Monarchen zu erklären? Wem gilt die positive Erinnerung und Anhänglichkeit eigentlich? Dem vermeintlichen Bürgerkönig ad personam oder spielen hier andere Interessen eine Rolle, vielleicht sogar verborgene nostalgisch-monarchische Sehnsüchte? Diesen Fragen soll im Folgenden in drei Schritten nachgegangen werden. Zuerst soll ein Blick auf König Wilhelm als Person und Regent von Württemberg geworfen werden. Es folgt eine Darlegung der veränderten Situation der Monarchie während des Krieges und ihres abrupten Endes in der Novemberrevolution. Abschließend soll analysiert werden, wie der Sturz des Königs und das Ende der Monarchie von Wilhelm II. selbst und vom württembergischen Volk bewältigt wurden.

3 4 5 6 7

»König-Wilhelm-Statue soll vor das Stadtpalais«, in: »Stuttgarter Zeitung« vom 23. Dezember 2019. »Diskussion um König-Wilhelm-Statue«, in: »Stuttgarter Zeitung« vom 17. Januar 2020. »Zeitgemäß oder belanglos?«, in: »Stuttgarter Zeitung« vom 21. Februar 2020. Ebd. Vgl. Rudolf Thietz: Ein Preuße kommt nach Württemberg. Die Lebenserinnerungen des letzten Prinzenerziehers im Königreich Württemberg, bearb. von Tilman Krause, Stuttgart 2006, S. 92 ff.

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

73

König Wilhelm II. als Person und Regent Als König Wilhelm am 6. Oktober 1891 mit 43 Jahren den württembergischen Thron bestieg, lag keine leichte Aufgabe vor ihm. Das Ansehen der Monarchie hatte unter seinem Vorgänger König Karl I. schwer gelitten. Der homosexuelle Karl war dem Volk von Württemberg mehr durch seine privaten Eskapaden als durch eine pflichtbewusste königliche Amtsführung in Erinnerung geblieben.8 Der spätere König Wilhelm II. kam im Revolutionsjahr 1848 in Stuttgart zur Welt, allerdings nicht als Kronprinz. Diese Funktion übernahm er erst später, nachdem sich die Kinderlosigkeit seines Onkels Karl abzeichnete. Er war der Enkel von König Wilhelm I. Seine Mutter Katharina war die Tochter König Wilhelms I., sein Vater Prinz Friedrich von Württemberg war dessen Neffe. Der spätere König Wilhelm II. von Württemberg entstammte somit einer der typischen Verwandtenehen des deutschen und europäischen Hochadels. Nachdem Wilhelm in seiner Kinder- und Jugendzeit eine übliche Prinzenerziehung genossen hatte, begann mit der Konfirmation im Dezember 1863 sein Eintritt ins Erwachsenenalter und sein Leben als Kronprinz. An diesem ersten offiziellen Auftritt des künftigen Monarchen in der Stuttgarter Schlosskirche nahmen zahlreiche Würdenträger und die königliche Familie teil. In der Erinnerungsliteratur werden im Zusammenhang mit der Konfirmation stets zwei Zitate angeführt. Zum einen der selbst gewählte Konfirmationsspruch »Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben« (Off. Johannes 2,10). Zum anderen ein Zitat aus einem persönlichen Schreiben des greisen Königs Wilhelm I. an seinen Enkel und präsumtiven Nachfolger: »Der Fürst ist um des Volkes willen, nicht das Volk um des Fürsten willen da.«9 Aus der Retrospektive wirken die Zitate wie prospektive Leitlinien für das spätere Wirken des Monarchen. Die Begriffe Treue und Dienst spielten im Leben König Wilhelms eine wichtige Rolle. Bis zu seinem Regierungsantritt im Oktober 1891 vergingen noch fast drei Jahrzehnte, die Wilhelm als Student und Offizier überwiegend außerhalb von Württemberg verbrachte. Es sprach deshalb ein klares Hochdeutsch. Als 18-jähriger württembergischer Fähnrich nahm er 1866 aktiv am preußisch-österreichischen Krieg teil, im deutsch-französischen Krieg diente er im Generalstab. Im Januar 1871 vertrat Prinz Wilhelm seinen Onkel Karl

8 9

Vgl. Paul Sauer: Regent mit mildem Zepter. König Karl von Württemberg, Stuttgart 1999, S. 229 ff. Vgl. Christian Belschner: Württembergs geliebter Herr. Festschrift zur Feier der 25jährigen Regierungstätigkeit König Wilhelms II. von Württemberg, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1916, S. 10 f., Zitat S. 11.

74

Ursula Rombeck-Jaschinski

bei der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles.10 Wilhelm begrüßte die Reichseinigung uneingeschränkt, ganz im Gegensatz zu König Karl, der eine schleichende Annexion Württembergs durch Preußen befürchtete. Diese Furcht war überspitzt, aber die große Politik wurde jetzt in Berlin gemacht.11 Hoch zu Ross nahm Wilhelm im Juni 1871 auch am Siegeseinzug des neuen Kaisers in Berlin teil. All dies waren unvergessliche Eindrücke für einen jungen Prinzen aus dem deutschen Südwesten. Bis 1876 diente Wilhelm in preußischen Eliteregimentern, die ausschließlich dem Hochadel vorbehalten waren. Er wurde sehr schnell zum Regimentskommandeur befördert. Danach kehrte er in seine württembergische Heimat zurück und heiratete 1877 Prinzessin Marie zu Waldeck und Pyrmont. Aus dieser Ehe stammten die Tochter Pauline und der bereits als Säugling verstorbene Sohn Ulrich. 1882 starb Prinzessin Marie bei der Geburt einer nicht lebensfähigen weiteren Tochter. Zwei schwere Schicksalsschläge, die Prinz Wilhelm nur mühsam überwand. Vier Jahre später heiratete er in zweiter Ehe Prinzessin Charlotte von Schaumburg-Lippe.12 Die Ehe blieb kinderlos und verfehlte damit ihren wesentlichen dynastischen Zweck. Besonders glücklich war die Ehe wohl nicht, aber sie funktionierte im Hinblick auf die äußeren Erwartungen. Königin Charlotte erfüllte ihre Rolle als Königin. Ihrer Funktion gemäß engagierte sie sich vor allem sozial. Das Königspaar erfreute sich in der Bevölkerung großer Beliebtheit. Die Silberhochzeit des Königspaares im Jahr 1911 wurde nicht nur in der Landeshauptstadt Stuttgart, sondern in allen Landesteilen mit Gottesdiensten, Festen und Huldigungen gefeiert. Es war das letzte glanzvolle königliche Fest vor dem Krieg.13 Bei seinem Regierungsantritt war König Wilhelm II. im Land kaum bekannt. Er verschaffte sich aber bei der feierlichen Eröffnung des Landtags durch eine kluge Thronrede Respekt im Volk, indem er sich als gemäßigt konservativer, reichstreuer Monarch präsentierte. Der viel zitierte Kernsatz der Rede lautete: »Innerhalb des engeren Vaterlandes wird die Pflege eines stetigen, besonnenen Fortschritts auf allen Gebieten des staatlichen Lebens den Gegenstand meiner unausgesetzten Bemühungen bilden.« Wilhelm versprach, die von demokratischer Seite immer wieder geforderte »zeitgemäße Revision«

10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Bodie A. Ashton: The Kingdom of Württemberg and the Making of Germany, 1815–1871, London 2017, S. 145 ff. 12 Vgl. Belschner, Württembergs geliebter Herr (wie Anm. 9), S. 14 ff. 13 Vgl. Wilhelm Hoffmann: Erinnerungen an und um König Wilhelm II. von Württemberg anläßlich seines 60. Todestages am 2. Oktober 1981, Vortrag, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, 42 (1983), S. 304–321, hier S. 314.

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

75

der von seinem Großvater 1819 erlassenen Verfassung voranzutreiben.14 Das gelang aber erst 1906, weil das Zentrum eine Einigung aus religionspolitischen Gründen lange hintertrieb. Die erste Kammer verlor 1906 ihren Charakter als reine Adelskammer und ein fortschrittliches Wahlrecht wurde eingeführt. Württemberg blieb aber eine konstitutionelle Monarchie. Laut Verfassung war Wilhelm als König von Gottes Gnaden alleiniger Träger der Staatsgewalt. Der König ernannte und entließ die Minister, die nur ihm und nicht dem Parlament verantwortlich waren. Zumeist handelte es sich um kompetente Beamte.15 Die Einführung einer parlamentarischen Monarchie lag nicht in Wilhelms Interesse. In die praktische Regierungsarbeit mischte sich der König nicht ein, ließ sich aber regelmäßig über die Staatsgeschäfte unterrichten.16 Obwohl das deutsche Kaiserreich von Bismarck als Fürstenbund konzipiert worden war, verlagerte sich der Fokus immer mehr auf die Reichsmonarchie.17 Die Bundesstaaten verloren immer mehr politische Kompetenzen.18 Diese Tendenz beschleunigte sich unter Kaiser Wilhelm II., der die Rolle des Reichsmonarchen offensiv okkupierte und medial inszenierte. Die Monarchen der Bundesstaaten mussten in diesem Umfeld ihre Rolle als Territorialfürsten neu definieren und ausfüllen. König Wilhelm II. von Württemberg ist hier ein besonders interessantes Beispiel. Er war in vieler Hinsicht ein Gegenentwurf zu Kaiser Wilhelm II., was bereits damals von vielen so gesehen wurde. Mit dem Kaiser verstand sich Wilhelm persönlich nicht besonders gut. Die Regierungszeiten von König und Kaiser Wilhelm waren fast identisch, allerdings war der Kaiser ein Jahrzehnt jünger. Während der hyperaktive, kostüm- und uniformaffine Kaiser

14 Vgl. Belschner, Württembergs geliebter Herr (wie Anm. 9), S. 25 ff., Zitat S. 26; Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25. September 1819, in: Reich und Länder. Texte zur deutschen Verfassungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans Boldt, München 1987, S. 200 ff. 15 Vgl. Hans Boldt: Deutsche Verfassungsgeschichte Bd. 2 (Von 1806 bis zur Gegenwart), München 1990, S. 194 ff. 16 Vgl. Cajetan von Aretin: Herr und Haupt. Zum monarchischen Prinzip in der deutschen Verfassungswirklichkeit des 19. Jahrhunderts, in: Repräsentation im Wandel. Nutzung südwestdeutscher Schlösser im 19. Jahrhundert, hrsg. von Wolfgang Wiese/Katrin Rössler, Ostfildern 2008, S. 63–76, hier S. 63 ff. 17 Vgl. Heinz Gollwitzer: Die Endphase der Monarchie in Deutschland, in: Heinz Gollwitzer. Weltpolitik und deutsche Geschichte, gesammelte Studien, hrsg. von Hans-Christof Kraus, Göttingen 2008, S. 363–383, hier S. 365 ff. 18 Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 15), S. 171 ff.; vgl. Lothar Machtan: Deutschlands gekrönter Herrscherstand am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Ein Inspektionsbericht zur Funktionstüchtigkeit des deutschen Monarchie-Modells, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 58 (2010), S. 222–241, hier S. 225 ff.

76

Ursula Rombeck-Jaschinski

den schneidig-bombastischen Auftritt liebte, pflegte der württembergische König einen eher schlichten, ruhigen und betont bürgerlichen Habitus ohne sichtbaren Standesdünkel. Das kam an bei seinen Württembergern. Trotzdem wäre es falsch, ihn als volkstümlichen Bürgerkönig zu stilisieren.19 Es sollte nicht übersehen werden, dass Wilhelm viele Jahre seines Lebens als Offizier in preußischen Eliteregimentern verbracht hatte, dem europäischen Hochadel angehörte und standesgemäße Hobbies pflegte. Sein nachhaltiger Ruf als volkstümlicher Monarch ist vor allem dem Image seiner späteren Jahre zu verdanken. Der früh gealterte König veränderte Ende der 90er Jahre sein Aussehen und legte sich den typischen Spitzbart zu. Politisch war Wilhelm kein Liberaler, sondern ein gemäßigt konservativer Monarch mit einem Gespür für Land und Leute. Sein persönliches Auftreten war einnehmend freundlich, er wahrte aber stets Distanz.20 Die viel gerühmte württembergische Liberalität war mehr ein klimatisches als ein faktisches Phänomen. Der Stuttgarter Hof gewährte auch Bürgerlichen Zutritt. Zu seinen Herrenabenden lud der König ein breites gesellschaftliches Spektrum aus Politik, Wirtschaft und Kultur ein.21 Er war Mitgründer des schwäbischen Schillervereins und Förderer des 1903 von ihm feierlich eröffneten Schiller-Nationalmuseums in Marbach. Zu Künsten und Künstlern pflegte der musisch begabte König ein besonders enges Verhältnis. Am Theater- und Musikleben seiner Hauptstadt nahmen der König und seine Frau lebhaft teil. Im liberalen Stuttgart waren auch gesellschaftskritische Theaterstücke zu sehen, die in Preußen auf dem Index standen. Neben dem kulturellen engagierte sich König Wilhelm vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Er unterhielt gute Kontakte zu führenden Industriellen wie Robert Bosch und Ferdinand Graf Zeppelin, für den er als »Türöffner« bei Kaiser Wilhelm tätig war. Seine unterstützende Tätigkeit im wirtschaftlichen Bereich zeigte durchaus Ansätze eins modernen Monarchie-Verständnisses.22 Das Königspaar war bei wichtigen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Ereignissen stets präsent. Glanzvolle monarchische Auftritte wurden vom württembergischen Volk erwartet. Sie dienten der Selbstvergewisserung der Bürger und der Festigung der Landesidentität einerseits und boten dem König andererseits

19 Vgl. Paul Sauer: Württemberg im Kaiserreich. Bürgerliches Freiheitsstreben und monarchischer Obrigkeitsstaat 1871–1918, Tübingen 2011, S. 14 ff. 20 Vgl. Paul Sauer: Württembergs letzter König. Das Leben Wilhelms II., Stuttgart 1994, S. 100 ff. 21 Vgl. Ewald Frie: Adel und Hof im 19. Jahrhundert, in: Repräsentation im Wandel (wie Anm. 16), S. 77–84, hier S. 81 ff. 22 Vgl. Sauer, Württembergs letzter König (wie Anm. 20), S. 198 ff.

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

77

die Möglichkeit, monarchische Tugenden und herrscherliche Performanz zu zeigen. Im Laufe der Jahre erarbeitete sich der König eine große Akzeptanz und Beliebtheit in Württemberg. Im tiefkatholischen Oberschwaben war die Identifikation mit dem gläubigen Protestanten und evangelischen Landesbischof jedoch deutlich schwächer. Der König bemühte sich aber um ein gutes Verhältnis zu seinen katholischen Untertanen und – soweit möglich – auch zur katholischen Kirche. Die zumeist in Oberschwaben ansässigen mediatisierten süddeutschen Adelsfamilien pflegten traditionell gute Verbindungen zum katholischen Erzhaus Habsburg.23 Für viele Alt-Württemberger war es ein ernsthaftes Problem, dass die Thronrechte nach dem Ableben König Wilhelms an eine katholische Seitenlinie fallen würden. König Wilhelm verstand sich mit seinem präsumtiven Nachfolger Herzog Albrecht eigentlich recht gut, ihm missfiel aber, dass Albrecht gegen seinen Wunsch die habsburgische Erzherzogin Margarethe Sophie zur Frau nahm. Es gab durchaus Versuche, die Rechtmäßigkeit der katholischen Erbfolge anzuzweifeln und stattdessen über die weibliche Linie einen Enkel König Wilhelms als Thronfolger zu installieren.24 Realistische Chancen hatten sie nicht. Aus ihrer Ehe mit dem Fürsten zu Wied hatte Wilhelms Tochter Pauline die Söhne Hermann und Dietrich. Mit dem Ende der Monarchie hatte sich die Frage der Thronfolge erledigt. Nach dem Tod König Wilhelms wurde der katholische Herzog Albrecht dann Chef des Hauses Württemberg. Die Monarchie im Krieg und ihr plötzliches Ende Der Ausbruch des Krieges im August 1914 wurde in Württemberg wie überall im Reich vielfach mit Begeisterung aufgenommen. Ministerpräsident Karl von Weizsäcker zeigte sich jedoch von Anfang an eher skeptisch gegenüber dem Berliner Hurra-Patriotismus. Er beklagte, dass die Einzelstaaten kaum Einfluss auf das Geschehen hatten. Im weiteren Verlauf des Krieges verdichteten sich die Sorgen Weizsäckers, der ein Gegner des U-Boot-Krieges und der deutschen Kriegszielpolitik war. König Wilhelm teilte die Einschätzungen seines Ministers in vieler Hinsicht, er war aber ein großer Patriot und langjähriger

23 Vgl. Karina Urbach: Zwischen Aktion und Reaktion. Die süddeutschen Standesherren 1914–1919, in: Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Eckart Conze/Monika Wienfort, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 323–352, hier S. 324 f. 24 »Ist der katholische Herzog Albrecht der rechtmäßige Thronfolger in Württemberg?«, in: »Tägliche Rundschau Berlin. Unabhängige Zeitung für nationale Politik« vom 1. April 1909.

78

Ursula Rombeck-Jaschinski

Offizier, der es sehr bedauerte, aus Altersgründen nicht selbst in den Krieg ziehen zu können wie sein präsumtiver Nachfolger Herzog Albrecht und dessen Söhne.25 Mit bewegenden, ernsten Worten und Gebeten verabschiedete der König die ins Feld ausrückenden württembergischen Truppen. Zwischen dem württembergischen Militär und dem König hatte es stets ein enges Verhältnis gegeben. Als altgedienter Soldat wusste Wilhelm, dass ein Krieg immer Opfer forderte. Dass es so viele werden würden – Württemberg hatte prozentual die meisten Gefallenen und Verwundeten zu beklagen – ahnte er nicht. Mit Ausbruch des Krieges ging die Verwaltung auf die Militärbehörden über. Das Kriegsrecht schränkte die Befugnisse der Einzelstaaten und damit auch die Wirkungsmöglichkeiten des württembergischen Monarchen weiter ein. Die Sichtbarkeit des Königs in der Öffentlichkeit wurde geringer. Seine öffentliche Tätigkeit konzentrierte sich weitgehend auf regelmäßige Front- und Lazarettbesuche. Auch die Königin besuchte regelmäßig Verwundete.26 Anlässlich seines silbernen Thronjubiläums im Oktober 1916 erhielt König Wilhelm II. quer durch alle Bevölkerungsschichten zahlreiche Beweise der Wertschätzung und Anhänglichkeit. In Zeitungsartikeln und Festschriften wurde der König gelobt, das engere Vaterland geeint und die innige Treue zum Reich unter Beweis gestellt zu haben: »Er hat die Verfassung des Landes gewahrt, Frömmigkeit und Gottesfurcht gepflegt, ist den Armen und Schwachen ein warmer Freund und Helfer, dem Recht allezeit ein eifriger Hüter gewesen […], ja noch mehr, er hat die Verbindung Württembergs mit dem Reich viel einiger gestaltet, störende Reste der alten Eigenbrödelei beseitigt und bei aller Wahrung der Eigenart des Landes die gemeinsamen Ziele immer vorangestellt.«27 Auch Liberale und Sozialdemokraten stimmten in das Lob des Königs ein.28 Der König war von den Beweisen der Liebe und Treue seines Volkes sehr berührt. Von Monarchiemüdigkeit keine Spur, obwohl sich die Stimmung im Volk zunehmend eintrübte. Der König versuchte dagegen anzukämpfen. Er konnte aber weder die schlechte Versorgungslage in der Heimat noch das Sterben an der Front verhindern. Als Kaiser Wilhelm im Dezember 1916 zu einem Kurz25 Vgl. Karl Weller: Die Staatsumwälzung in Württemberg 1918–1920, Stuttgart 1929, S. 36 ff. 26 Vgl. Sauer, Württembergs letzter König (wie Anm. 20), S. 261 ff. 27 »Fünfundzwanzig Jahre König 1891–1916«, in: »Schwäbischer Merkur« vom 6. Oktober 1916 (Festnummer zum Regierungsjubiläum). 28 Vgl. Ulrich Zeller (Hrsg.): Schlaglichter. Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen von Conrad Haußmann, Frankfurt a. M. 1924, S. 66 ff.; vgl. Jürgen Mittag: Wilhelm Keil (1870–1968). Sozialdemokratischer Parlamentarier zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Eine politische Biographie, Düsseldorf 2001, S. 79 f.

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

79

besuch nach Stuttgart kam, scheute der König eine Auseinandersetzung mit dem Kaiser über die Kriegführung. Stattdessen redete man über eine Aufteilung des Reichslandes Elsass-Lothringen. Aus Lethargie, Resignation oder falsch verstandener monarchischer Solidarität fehlte ihm das Rückgrat, dem Kaiser deutlich seine Meinung zu sagen.29 Ob das beim Kaiser etwas bewirkt hätte, steht auf einem anderen Blatt und ist mehr als fraglich. Aber so blieb die letzte Chance einer direkten Konfrontation zwischen König und Kaiser ungenutzt. Auch zu seinem 70. Geburtstag am 25. Februar 1918 erhielt König Wilhelm wieder zahlreiche Beweise der Wertschätzung und inneren Verbundenheit seines Volkes. Die Stuttgarter Bürger folgten dem Ruf »Fahnen heraus« in großer Zahl. Zu Ehren des Königs fanden zahlreiche Festgottesdienste statt, auch in der Stuttgarter Synagoge. Es gab diverse Empfänge und Huldigungen. Am Abend seines Geburtstags lud der König Altersgenossen aus dem Volk zu einem festlichen Abendessen. Zum Andenken erhielt jeder Teilnehmer ein Foto des Königs in feldgrauer Generalsuniform mit dem Marschallstab, den der Kaiser ihm zum Thronjubiläum verliehen hatte. Die bürgerliche Presse schwärmte von einem »traulich, innerlichen Verhältnis« des Volkes zum Königshaus.30 Unvorstellbar, dass der beliebte König Wilhelm wenige Monate später vom Thron gestürzt werden sollte. Der im Oktober 1918 von Prinz Max von Baden im Reich vollzogene Systemwechsel hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Bundesstaaten. Die seit langem von Liberalen und Sozialdemokraten geforderte Einführung einer parlamentarischen Monarchie in Württemberg stand plötzlich wieder auf der Tagesordnung.31 Bisher hatte Ministerpräsident von Weizsäcker derartige Forderungen stets zurückgewiesen. Am 6. November änderte der Ministerpräsident unter dem Druck der Verhältnisse seine Meinung und bat den König um seine Entlassung. Zwei Tage später wurde dann mit der Billigung des Königs eine parlamentarische Regierung unter Einschluss der SPD gebildet.32 Württem­berg

29 Vgl. Sauer, Württembergs letzter König (wie Anm. 20), S. 271 f.; vgl. Lothar Machtan: Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, München 2016, S. 190 ff. 30 »Das 70. Geburtstagsfest des Königs«, in: »Schwäbische Kronik« vom 25. Februar 1918 (Abendausgabe). 31 »Neuordnung und Liberalismus«, in: »Stuttgarter Neues Tagblatt« vom 10. Oktober 1918; »Württemberg und die Parlamentarisierung«, in: »Schwäbische Kronik« vom 24. Oktober 1918. 32 »Die Reform in Württemberg«, in: »Schwäbischer Merkur« vom 6. November 1918 (Abend­ausgabe); »Die Neubildung des Ministeriums in Württemberg«, in: »Stuttgarter Neues Tagblatt« vom 9. November 1918.

80

Ursula Rombeck-Jaschinski

war damit quasi in letzter Minute noch zu einer parlamentarischen Monarchie geworden, aber die Reform kam viel zu spät. Die revolutionäre Umwälzung war nicht mehr aufzuhalten. Sie verschonte auch den beliebten König Wilhelm von Württemberg nicht, dessen Sturz bis dahin mit Ausnahme der Sparta­kisten niemand gefordert hatte.33 Die Abdankung Kaiser Wilhelms II. schuf eine neue Lage. Zwar hatte Ministerpräsident von Weizsäcker vorausschauend in einem Memorandum dargelegt, dass die Abdankung des Kaisers verfassungsrechtlich nicht das Ende der Monarchie in Württemberg bedeuten musste.34 Aber das war reine Theorie. Das hilflose Agieren des Kaisers hatte nicht nur die Hohenzollern-Dynastie sondern den monarchischen Gedanken als solchen diskreditiert. Innerhalb kürzester Frist wurde die Monarchie zum Auslaufmodell. Es ging nur noch um die Entscheidung zwischen Republik und Räterepublik.35 Der sogenannte Sturm auf das Wilhelmspalais war der Anfang vom Ende der Monarchie in Württemberg. Am Morgen des 9. November 1918 drang eine überschaubare Menge von Demonstranten gewaltsam in den Stuttgarter Privatwohnsitz des Königs ein und verlangte die Einholung der königlichen Standarte und das Hissen der Roten Fahne. Der König, der in den hinteren Räumen gerade mit der Vereidigung der am Vortag gebildeten Regierung beschäftigt war, sträubte sich gegen die Forderung, weil das Wilhelmspalais sein Privatwohnsitz war. Nachdem die Rote Fahne dann gegen den Willen des Königs als für alle sichtbares Symbol der Revolution aufgezogen worden war, verließ die Menge die Halle. Es kam weder zu Plünderungen und Vandalismus, noch wurde der König persönlich attackiert. In der Presse wurde der Vorfall bedauert, ohne davon aber ein allzu großes Aufheben zu machen. »Leider gelang es nicht überall und durchweg, die Ordnung aufrecht zu erhalten. […] Und daß im Wilhelmspalast der König selbst, der im Vertrauen auf das so oft bekundete 33 Vgl. Weller, Die Staatsumwälzung in Württemberg (wie Anm. 25), S. 76 ff.; vgl. Ludwig von Köhler: Zur Geschichte der Revolution in Württemberg. Ein Bericht, Stuttgart 1930, S. 52 ff.; vgl. Theodor von Pistorius: Die letzten Tage des Königreichs Württemberg. Mit Lebenserinnerungen und Lebensbekenntnissen von seinem letzten Finanzminister, dem nachherigen Hochschullehrer, Stuttgart 1935, S. 9 ff. 34 Notizen von Weizsäcker vom 26. Oktober 1918 betr. Abdankung des Kaisers, HStAS Q1/18 Bü 19; vgl. Carola Schulze: Die Abdankung in den rechtlichen Ordnungsvorstellungen vom Gottesgnadentum bis zum deutschen Konstitutionalismus, in: Susan Richter/Dirk Dirbach (Hrsg.): Thronverzicht. Die Abdankung in Monarchien vom Mittelalter bis in die Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 62–74, hier S. 68 ff.; vgl. Heinz Gollwitzer, Die Endphase der Monarchie in Deutschland (wie Anm. 17), S. 376 ff. 35 Vgl. Lothar Machtan: Der erstaunlich lautlose Untergang von Monarchie und Bundesfürstentümern. Ein Erklärungsangebot, in: Die vergessene Revolution von 1918/19, hrsg. von Alexander Gallus, Göttingen 2010, S. 39–56, hier S. 43 ff.

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

81

Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Fürst und Volk in Württemberg ruhig hier geblieben war, schon gleich am Anfang persönlich mit in die Dinge hineingezogen wurde, mag wohl auch nicht ursprünglich im Programm der Führer gelegen haben. Aber der inzwischen aufgestellte Soldatenrat ist bestrebt, tatkräftig und zielbewußt für Ordnung zu sorgen.«36 Erst in der Folgezeit kam es zu einer Skandalisierung der Ereignisse in der bürgerlichen und reaktionären Presse. Allerdings war der König trotz des glimpflichen Verlaufs des Vorfalls darüber zutiefst erschüttert. Wohlmeinenden Ratschlägen, die Hauptstadt rechtzeitig zu verlassen, war er nicht gefolgt, weil er fest darauf vertraute, von den Bürgern geliebt und von seinem Militär geschützt zu werden. Das war nicht der Fall. Er fühlte sich schutzlos und allein gelassen.37 In großer Angst verbrachten der König und seine Frau den Nachmittag im Palais, bevor sie gegen Abend unter dem Schutz der soeben gebildeten provisorischen Regierung ins Jagdschloss Bebenhausen bei Tübingen gebracht wurden. Dort war offenbar niemand auf die Ankunft des Königspaares vorbereitet. Der Sturm auf das Wilhelmspalais wurde retrospektiv zu einem Symbol für das Versagen der bürgerlichen und militärischen Eliten. »Immer wieder wird von konservativer Seite der Versuch gemacht, ihre Haltung bei der Revolution von der der bösen Demokraten zu unterscheiden. In Stuttgart jedenfalls haben sich auch die Konservativen nicht als treue Männer gezeigt, die zum Schirm eines Königs bereitgestanden wären, der die höchste Volkstümlichkeit genoß; vielmehr hat sich jene allgemeine Kopflosigkeit gezeigt, die durch die schlimme Wendung des Krieges und den Mangel an verantwortlicher oberster Leitung bedingt war.«38 Das traf genau den Punkt. Die Diskussionen über den Sturm auf das Wilhelmspalais hielten aber bis in die 1930er Jahre weiter an. Sie waren verbunden mit Rechtfertigungen und Schuldvorwürfen.39 Nachdem der erste Schock über die Revolution abgeklungen war, flüchteten sich viele Konservative in die Hoffnung, dass erst die verfassunggebende Landesversammlung definitiv über die Staatsform und die Frage der Monarchie entscheiden würde. 40 Eine trügerische Hoffnung, weil es keine ernstzunehmenden Stimmen mehr gab, die sich für eine Fortführung der Monarchie 36 »Die Umwälzung in Stuttgart«, in: »Stuttgarter Neues Tagblatt« vom 9. November 1918 (Abendausgabe). 37 Vgl. Christof von Ebbinghaus: Die Memoiren des Generals von Ebbinghaus, Stuttgart 1928, S. 31 ff. 38 »Vom Stuttgarter Revolutionstag«, in: »Der Beobachter« vom 28. Januar 1922. 39 »Der 9. November 1918 in Stuttgart«, in: »Stuttgarter Neues Tagblatt« vom 12. Februar 1931. 40 »Das Bürgertum erwacht«, in: »Schwäbischer Merkur« vom 14. November 1918.

82

Ursula Rombeck-Jaschinski

einsetzten. Die Monarchie – egal in welcher Form – war nach dem verlorenen Krieg keine ernsthafte Option mehr. 41 König Wilhelm verhielt sich honorig und sorgte für einen ordnungsgemäßen Übergang. Er entließ seine letzte Regierung und entband alle Staatsdiener von ihrem persönlichen Diensteid. 42 Damit konnte ein reibungsloses Funktionieren des Staatsapparates sichergestellt werden. Am 30. November 1918 legte König Wilhelm II »die Krone nieder«. Am Vortag war die vermögensrechtliche Auseinandersetzung zwischen König Wilhelm und dem Volksstaat Württemberg zum Abschluss gekommen. 43 Der König vollzog seine Abdankung in Form eines Scheidegrußes an das Württemberger Volk. Er dankte allen, die ihm in 27 Jahren treu gedient hatten »aus Herzensgrund und erst mit meinem letzten Atemzuge wird meine Liebe zur teuren Heimat und ihrem Volke erlöschen.«44 Herzog Albrecht verzichtete für sich und seine Söhne ausdrücklich nicht auf die Erbfolgerechte. 45 In den bürgerlichen Zeitungen wurde die Persönlichkeit des scheidenden Königs gewürdigt und die schmählichen Umstände seines Abgangs ausdrücklich bedauert. 46 Auch in liberalen und sozialdemokratischen Zeitungen waren anerkennende Worte über den scheidenden Monarchen zu lesen. »König Wilhelm ist nicht mehr. Wir grüßen als ersten Bürger den neuen Herzog zu Württemberg.«47

41 »Die Umwälzung in Württemberg. Conrad Haußmann zur politischen Lage«, in: »Schwäbische Kronik« vom 21. November 1918.; vgl. Michael Horn: Zwischen Abdankung und Absetzung. Das Ende der Herrschaft der Bundesfürsten des Deutschen Reichs im November 1918, in: Richter/Dirbach, Thronverzicht (wie Anm. 34), S. 267– 290, hier S. 271 ff. 42 Kabinettschef von Neurath an den Vorsitzenden der Provisorischen Regierung Herrn Blos vom 16. November 1918, HStAS E 130 b Bü 66. 43 Abkommen zwischen Vertretern König Wilhelm II. und den Mitgliedern der Provisorischen Regierung vom 29. November 1918, ebd. 44 Scheidegruß König Wilhelms an das Württemberger Volk vom 30. November 1918, HStAS E 130 a Bü 195; vgl. Helmut Neuhaus: Das Ende der Monarchien in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S. 102–136, hier S. 125 ff. 45 Vgl. Winfried Klein: Der Monarch wird Privatier. Die Rechtsfolgen der Abdankung für den Monarchen und sein Haus, in: Richter/Dirbach, Thronverzicht (wie Anm. 34), S. 152–174, hier S. 164 ff. 46 »Das Land Württemberg hat keinen König mehr«, in: »Schwäbische Kronik« vom 30. November 1918 (Abendausgabe). 47 »Kommentar zur Abdankung«, in: »Stuttgarter Neues Tagblatt« vom 30. November 1918.

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

83

Die Bewältigung des Endes der Monarchie in Württemberg Nach seiner Abdankung zog sich der nunmehrige Herzog Wilhelm zu Württem­ berg vollständig aus der Öffentlichkeit zurück und verbrachte seine letzten Lebensjahre am Bodensee, in der Schweiz und in seinem Jagdschloss Bebenhausen. Dennoch erreichten ihn zahlreiche Briefe aus der Bevölkerung, über die er sich sehr freute und die er nach Möglichkeit alle selbst beantwortete. Dies galt besonders für die Glückwünsche zu seinem 71. Geburtstag, den er erstmals als Herzog privat beging: »Diese vielseitige Antheilnahme hat etwas ungemein Wohltuendes für mich und gestaltete den Tag trotz der Schwere der Zeit zu einem persönlichen, tief innerlichen Freudentag und ließ mich auf Stunden den Ernst der Lage fast vergessen. Ja, für meine Person empfinde ich nur Dankbarkeit und bin glücklich in meiner Wald-Abgeschiedenheit in Ruhe und Zurückgezogenheit leben zu können, unvergessen von vielen treuen Seelen.«48 Obwohl der frühere König stets betonte, sich mit seinem persönlichen Schicksal ohne Bitterkeit abgefunden zu haben, war er über die Umstände seines unfreiwilligen Abgangs aus Stuttgart nachhaltig tief betroffen. Zu seinen Lebzeiten hat Wilhelm die Stadt nicht mehr betreten und auch sein Leichenzug wurde auf seinen Wunsch außen herumgeführt. Zu seinem 71. Geburtstag erschienen zahlreiche Zeitungsartikel, die die positive Erinnerung vieler Württemberger an ihren letzten Monarchen zum Ausdruck brachten. Bemerkenswert war ein Artikel im »Stuttgarter Tagblatt«, in dem Herzog Wilhelm von jeder Schuld am Krieg und dessen Folgen freigesprochen wurde, weil er als einziger Reichsfürst den verhängnisvollen Eintritt Deutschlands in den uneingeschränkten U-Boot-Krieg abgelehnt habe. »Der Liebe und Anhänglichkeit des Volkes aber mußte selbst die Revolution ungeschmälert ihren Platz lassen, wenn sie ihm gleich die Krone nahm.«49 Sein plötzlicher Tod am 2. Oktober 1921 in Bebenhausen brachte den früheren König Wilhelm schlagartig zurück ins öffentliche Bewusstsein. In den Zeitungen erschienen zum Teil sehr umfangreiche Nachrufe, die abhängig von der politischen Ausrichtung des Blattes unterschiedliche Akzente setzten. Interessant ist die von den Zeitungen verwandte Titulatur des Verstorbenen. Während die konservativen und bürgerlichen Zeitungen von König Wilhelm sprachen, benutzte die übrige Presse zumeist den korrekten Titel Herzog zu Württemberg. Aber auch inhaltlich gab es deutliche Unterschiede. Der »Schwäbische Merkur« lobte den verstorbenen König als »einen der fähigsten Fürsten 48 Herzog Wilhelm von Württemberg an von Weizsäcker vom 17. März 1919, HStAS Q 1/6 Bü 2. 49 »Herzog Wilhelms Geburtstag«, in: »Stuttgarter Neues Tagblatt« vom 25. Februar 1919.

84

Ursula Rombeck-Jaschinski

des Schwabenlandes« und als guten Deutschen von »unerschütterlich nationaler Gesinnung«.50 Das Ende der Monarchie – in concreto der Sturm auf das Wilhelmspalais – wurde in der konservativ-bürgerlichen Presse gern als das Werk landfremder Revoluzzer gegen den eigentlichen Willen des Volkes dargestellt.51 Dagegen bemühte sich die sozialdemokratische »Schwäbische Tagwacht« um eine Relativierung und Einordnung der Stuttgarter Revolutionsereignisse: »Es soll auch bei dieser Gelegenheit gegenüber Fälschungsversuchen gewisser Kreise erneut festgestellt werden, daß weder dem ehemaligen König noch einem seiner näheren Angehörigen am 9. November 1918 irgend etwas widerfuhr, was als persönliche Kränkung oder gar als Bedrohung der persönlichen Sicherheit hätte aufgefasst werden können.« Aber auch die »Tagwacht« vertrat die Meinung, daß »ein Mann, höchster menschlicher Achtung wert, mit Herzog Wilhelm aus dem Leben geschieden« sei.52 Zu Recht kritisierte die »Tagwacht« das zum Teil heuchlerische Verhalten rechtskonservativer Kreise, die einem verstorbenen Monarchen huldigten, den sie zu Lebzeiten zuweilen als demokratiefreundlichen »Schattenkönig« verunglimpft hatten.53 Auch die »Freie Volkszeitung Göppingen« fand für den Verstorbenen lobende Worte: »Wilhelm von Württemberg war unter den Königen einer der wenigen, der sich die Achtung und Liebe des Volkes in weitestem Sinn erhalten hat. Er war, wenn der Ausdruck hier erlaubt ist, volkstümlich. Deshalb brauchte er auch bei der Revolution nicht aus dem Lande zu fliehen wie der Hohenzollern-Wilhelm, sondern konnte in Bebenhausen in voller Ruhe seine Tage beschließen.«54 Eine völlig gegensätzliche Haltung vertrat nur die radikale Linke. Sie verurteilte die in der bürgerlichen Presse erschienenen Nachrufe pauschal als »Fürstenkriecherei« und als willkommenen Anlass »dem monarchistischen Rummel neue Kräfte zuzuführen.« Der bürgerlichen Presse wurde die Absicht unterstellt, »den Proletariern das monarchistische Gift einzuträufeln«. Interessant ist der an diese Aussage unmittelbar anschließende Satz: »Bei manchen Arbeitern wird das noch verfangen.«55 Offenbar war die allgemeine Akzeptanz der Republik drei Jahre nach dem Ende der Monarchie noch keine Selbstverständlichkeit. 50 »Herzog Wilhelm zu Württemberg gestorben«, in: »Schwäbischer Merkur vom 3. Oktober 1921« (Abendausgabe). 51 »König Wilhelms Tod«, in: »Schwäbische Kronik« vom 5. Oktober 1921 (Morgenausgabe). 52 »Herzog Wilhelm zu Württemberg†«, in: »Schwäbische Tagwacht« vom 3. Oktober 1921. 53 »Zum Tode des Herzogs Wilhelm«, in: »Schwäbische Tagwacht« vom 5. Oktober 1921. 54 »Herzog Wilhelm von Württemberg†«, in: »Freie Volkszeitung Württemberg« vom 3. Oktober 1921. 55 »Herzog Wilhelm von Württemberg gestorben«, in: »Kommunistische Zeitung Stuttgart« vom 3. Oktober 1921.

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

85

Zu Recht wurde von linker Seite kritisiert, dass an vielen öffentlichen Gebäuden, auf zahlreichen Formularen und Stempeln immer noch die königlichen Embleme prangten.56 Der Übergang von der Monarchie zur Republik war in Württemberg ein längerer Prozess. Dies war nicht zuletzt eine Folge der persönlichen Beliebtheit von König Wilhelm, der sich in vieler Hinsicht so vorteilhaft von seinem kaiserlichen Namensvetter unterschied. Auf diesen Umstand verwies auch die überregionale liberale »Vossische Zeitung« in ihrem Nachruf. Zwar konnte »der Zwang der Ereignisse, der im Reiche und in den Ländern staatsrechtlich auf neue Bahnen drängte, auch an Württembergs Grenzen nicht haltmachen. Wir können uns freilich denken, daß auch diese Veränderungen sich hätten anders vollziehen können, wenn alle Throne im Geist und in der Art verwaltet worden wären wie der württembergische.«57 Der Tod Herzog Wilhelms konfrontierte den Volksstaat Württemberg unmittelbar mit seiner monarchischen Vergangenheit. Die republikanische Regierung stand vor der schwierigen Entscheidung, in welcher Weise sie den ehemaligen Monarchen würdigen wollte. Staatspräsident Johannes Hieber (DDP) plädierte für einen ehrenvollen Umgang mit dem Verstorbenen, auch wenn es kritische Stimmen der politischen Linken geben sollte. Allerdings achtete die Regierung sorgfältig darauf, sich klar gegen monarchistische Tendenzen abzugrenzen und möglichst keine Angriffsflächen zu bieten. Der auf der Titelseite des Staatsanzeigers veröffentlichte Nachruf würdigte den früheren König als einen Menschen, der sich »die Achtung, die Liebe und das Zutrauen aller Schichten der Bevölkerung erworben« habe. Die Regierung dankte dem verstorbenen König, daß er in all seinen Handlungen von der Liebe zur Heimat und zum Volke getragen war und daß er durch seinen freiwilligen Verzicht dazu beigetragen hat, die Bahn für die freiheitliche Entwicklung zu ebnen.« Nur indirekt wurde das abrupte Ende der württembergischen Monarchie thematisiert, ohne auf die konkreten Umstände näher einzugehen. Der König sei im November 1918 das Opfer einer Entwicklung geworden, »die auch an den Grenzen des Schwabenlandes nicht Halt machte.«58 Innerhalb der Regierung gab es durchaus unterschiedliche Auffassungen über den angemessenen Umgang des Volksstaates Württemberg mit dem Ableben des früheren Königs. So hielt Justizminister Eugen Bolz (Zentrum) die von Staatspräsident Hieber ge-

56 »Von der ›königlichen‹ Republik«, in: »Der Sozialist« vom 15. Oktober 1921. 57 »Der letzte Württemberger König†«, in: »Vossische Zeitung« vom 7. Oktober 1921. 58 »Herzog Wilhelm zu Württemberg†«, in: »Staats-Anzeiger für Württemberg« vom 3. Oktober 1921.

86

Ursula Rombeck-Jaschinski

wünschte und auch durchgesetzte öffentliche Trauerfeier für überflüssig.59 Kontrovers diskutiert wurde auch die Frage der Trauerbeflaggung öffent­licher Gebäude. Schließlich einigte man sich auf den Kompromiss, die Trauerbeflaggung mit der schwarz-roten Fahne Württembergs oder der schwarz-rot-­goldenen Fahne der Republik am Tag der Beerdigung zuzulassen.60 Problematisch gestaltete sich auch die Teilnahme der Regierung an den Beisetzungsfeierlichkeiten. Grundsätzlich wollte die republikanische Regierung dem verstorbenen, allseits beliebten früheren Monarchen die letzte Ehre erweisen. Allerdings verweigerte der Organisator der Trauerfeier, Oberhofmarschall Alfred Schenk Graf von Stauffenberg, den Mitgliedern der Regierung eine bevorzugte Platzierung im Trauerzug. Er begründete dies mit dem »rein bürgerlichen« Charakter der Beisetzung, die jedermann offenstehe. Eine gezielte Provokation, die auf offene Rechnungen monarchischer Kreise mit der Republik schließen ließ. Die Vertreter von Regierung und Landtag lehnten es ab, »sich als Schwanz nach der ganzen Hofgesellschaft und allen, auch den jüngeren Offizieren« anschließen zu müssen. Sie verlangten, daß die Regierung »in der ihr gebührenden Stellung gewürdigt werden müsse.«61 Es bedurfte einiger klärender Gespräche, bis eine Lösung gefunden wurde, die eine Teilnahme der Regierung an der Beerdigung ohne Gesichtsverlust ermöglichte. Die Beerdigung Herzog Wilhelms auf dem Ludwigsburger Friedhof geriet zu einer Demonstration monarchischer Gefühle der Württemberger. Die Anteilnahme der Bevölkerung an der Beisetzung und an allen Gedenkfeiern war riesig. Es hatte den Anschein, dass mit dem Ableben des letzten Königs von Württemberg das bürgerliche Trauma der Revolution bewältigt werden sollte. Herzog Wilhelm hatte verfügt, neben seiner ersten Frau Marie und seinem früh verstorbenen Sohn Ulrich beigesetzt zu werden. Gedenkreden am Grab gab es auf Wunsch des Verstorbenen nicht. Der gläubige Protestant wollte seine Verabschiedung aus dieser Welt als eine rein religiöse Feier mit Gebeten und Gesängen gestaltet wissen. Bei der gemeinsamen Trauerfeier der württembergischen Regierung und der Stadt Stuttgart wurde ebenfalls auf Reden von politischer Seite verzichtet. Stattdessen hielt der frühere Hofprediger Prälat

59 Sitzung des Staatsministeriums vom 3. Oktober 1921, in: Protokolle der Regierung des Volksstaates Württemberg, bearb. von Ansbert Baumann, Bd. 2, Stuttgart 2017, Teilbd. 1, S. 476 ff. 60 »Kleinigkeiten«, in: »Süddeutsche Sonntagszeitung« vom 12. Oktober 1921. 61 Sitzung des Staatsministeriums vom 5. Oktober 1921, in: Protokolle der Regierung des Volksstaates Württemberg (wie Anm. 59), S. 487 ff.

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

87

Konrad Hoffmann eine Gedenkrede.62 Weitere Trauer- und Gedenkfeiern gab es von bürgerlichen Vereinen und Parteien. Der Stuttgarter Ortsverein der württembergischen Bürgerpartei richtete eine eigene Trauerfeier aus und pries König Wilhelm als Fürsten, der »im Herzen der Getreuen geblieben ist.« Die Trauerfeier endete mit einem wagnerianischen Treuegelöbnis für das Haus Württemberg: »Und auf des Königs Hügel schwören wir seinem Hause: ›Furchtlos, treu‹.«63 Die mit dem Tod Herzog Wilhelms verbundenen Gefühle der Alt-Württemberger bringt ein Artikel der »Schwäbischen Kronik« sehr anschaulich zum Ausdruck: »Mit dem toten König aber könnte wieder ein bis dahin vorhandenes Einigungsband um das schwäbische Volk sich lösen, mit dem Fall des Bannerträgers aus vergangener und stolzer Zeit wächst die Gefahr der voranschreitenden inneren Zerreißung unseres Stammes.«64 Der letzte württembergische König war zweifellos eine Identifikationsfigur für Württem­berg und die Württemberger. Allerdings bedeutete das kurzzeitige Aufflackern monarchischer Gefühle beim Tod Herzog Wilhelms keine grundsätzliche Wiederbelebung des monarchischen Gedankens. Aufschlussreich für das Denken der alten württembergischen Eliten ist ein Brief Viktor von Weizsäckers an seinen Vater Karl, den langjährigen württembergischen Ministerpräsidenten, vom Tag der Beerdigung: »Dein heutiger Gang nach Ludwigsburg ist aber glaube ich für den König, Dich und die Nachwelt ein anständiger und zum Vorbild geeigneter Schlußpunkt eines historischen Abschnitts. Wenn man die verhältnismäßige Geräuschlosigkeit bedenkt, mit der diese Monarchie zu Fall kam, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass ihr Erlöschen einem natürlichen Tode fast ähnlicher ist als einem künstlichen. Trotzdem hat man das Gefühl, als wäre erst jetzt die Tragik zu ihrer ganzen Schärfe gestiegen, nachdem der letzte dieser […] langen Fürstenkette erloschen ist. Denn ›ein letzter‹ bleibt er, was auch kommen wird.«65 Eine zutreffende Feststellung in zweifacher Hinsicht. Zum einen war Wilhelm II. der letzte König von Württemberg und sollte es aller Voraussicht nach 62 Gedächtnisrede in der Liederhalle am 5. Oktober 1921, in: Worte an der Bahre und am Grabe des verewigten Herzogs Wilhelm zu Württemberg, bis 30. November 1918 König von Württemberg. Gedächtnisrede in der Liederhalle und Gedächtnispredigt in der Schloßkirche, gesprochen zu Stuttgart, Bebenhausen und Ludwigsburg von Prälat Dr. Hoffmann, früherer Oberhofprediger, Pfarrer Dr. Lempp, früherer Hofprediger, Divisionspfarrer Stadelmann, Stuttgart 1921, S. 5 ff. 63 »Trauerfeier der Württembergischen Bürgerpartei Groß=Stuttgart«, in: »Schwäbische Kronik« vom 10. Oktober 1921. 64 »Am Königsgrab«, in: »Schwäbische Kronik« vom 7. Oktober 1921 (Abendausgabe). 65 Viktor von Weizsäcker an seinen Vater Karl vom 6. Oktober 1921, HStAS Q 1/18 Bü153.

88

Ursula Rombeck-Jaschinski

auch bleiben, weil eine monarchische Restauration in den 1920er und 30er Jahren politisch nicht mehr auf der Tagesordnung stand. Zum anderen erlosch mit Wilhelm die alte, protestantische Linie des Hauses Württemberg. Trotz mancher Treueschwüre taten sich viele Alt-Württemberger mit dem neuen, katholischen Chef des Hauses Württemberg schwer. Herzog Albrecht war der Spross einer katholischen Seitenlinie mit engen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Habsburgern. In Wien geboren und aufgewachsen, war er Sohn und Ehemann habsburgischer Prinzessinnen.66 Bezugspunkt der württembergischen Königstreuen blieb eher die zurückgezogen im Jagdschloss Bebenhausen lebende Königswitwe Charlotte. Der Lebensmittelpunkt Herzog Albrechts lag in Oberschwaben, wo er und seine große Familie die Schlösser Friedrichshafen und Altshausen bewohnten.67 Öffentliche Auftritte des Herzogs waren selten. Zumeist handelte es sich um Gedenkfeiern für gefallene Soldaten des Weltkriegs oder Kameradschaftstreffen Württembergischer Regimenter. Der ehemalige Generalfeldmarschall erfreute sich in Soldaten- und Offizierskreisen großer Beliebtheit.68 Zuweilen erschienen aber auch kritische Presseartikel über die Auftritte des Herzogs in militärischen Kreisen.69 Die Hochzeit seines zweiten Sohnes Herzog Albrecht Eugen mit Prinzessin Nadejda von Bulgarien im Januar 1924 fand dagegen Eingang in die bunten Seiten der Zeitungen.70 Berichte über private Feste und Familienfeiern des Hochadels waren auch in der Republik ein beliebter Lesestoff. Politisch trat das Haus Württemberg während der Weimarer Republik nicht in Erscheinung. Allerdings zog man sich zu Beginn des Dritten Reichs den Unmut der Nationalsozialisten zu, weil Herzog Albrecht und sein ältester Sohn Herzog Philipp-Albrecht unter Berufung auf die Hausgesetzte prinzipiell die Beteiligung an Wahlen verweigerten.71 66 »Die deplatzierte Bezeichnung«, in: »Schwäbische Tagwacht« vom 26. April 1921; »Auch ein monarchistischer Standpunkt!« in: »Deutsches Volksblatt Stuttgart« vom 29. September 1922. 67 »Friedrichshafen«, in: »Seeblatt Friedrichshafen« vom 11. Oktober 1921; »Von der herzoglichen Familie«, in: »Oberschwäbische Volkszeitung Ravensburg« vom 27. Mai 1922. 68 »Eine Rede des Herzogs Albrecht von Württemberg«, in: »Deutsches Volksblatt Stuttgart« vom 4. Dezember 1923. 69 »Die Reaktion in Oberschwaben. Königlich württembergische Politik«, in: »Ulmer Abend-Post« vom 20. August 1928. 70 »Hochzeit im königlichen Hause«, in: »Ludwigsburger Zeitung« vom 25. Januar 1924; »Die Hochzeit im Württembergischen Königshause«, in: »Der Sonntag. Illustrierte Beilage der Süddeutschen Zeitung« vom 3. Februar 1924. 71 »Herzog Albrecht von Württemberg«, in: »Fridericus« (Berlin) Nr. 9 vom März 1934, HStAS E 130 b Bü 66 Presseausschnitte betr. Persönliche Angelegenheiten des königlichen Hauses.

König Wilhelm II. und das Ende der Monarchie in Württemberg

89

Die Resistenz des Hauses Württemberg gegenüber dem Nationalsozialismus gehört sicher zu den erfreulicheren Kapiteln des deutschen Hochadels. Auch hier unterschied man sich sehr vorteilhaft von den Hohenzollern. Das Haus Württemberg ist dem Land und seinen Bewohnern auch heute noch sehr verbunden und in zahlreichen Ehrenämtern im Land präsent. Eine latente nostalgisch-monarchische Sehnsucht gibt es heute sicher nicht mehr, aber ein Interesse an der württembergischen Herzogsfamilie bleibt bestehen. Wichtige familiäre Ereignisse finden auch in unseren Tagen stets Eingang in die Presse und nicht zuletzt die bunten Blätter.72 Zusammenfassung Bis zum Ausbruch der Revolution im November 1918 war die Monarchie in Württemberg fest verankert. Dies lag vor allem an der Person König Wilhelms II., der bis in sozialdemokratische Kreise hinein ein beliebter und geschätzter Monarch war. Durch sein persönliches Auftreten hatte sich Wilhelm den Ruf eines bürgernahen Königs erarbeitet, der vielen Zeitgenossen als positiver Gegenentwurf zu Kaiser Wilhelm II. erschien. Seine Amtsführung entsprach bereits in vieler Hinsicht der eines modernen Monarchen, allerdings war Wilhelm kein liberaler Bürgerkönig. Diese retrospektive Zuschreibung wird seinem Amtsverständnis nicht gerecht. Wilhelm hielt an der konstitutionellen Monarchie fest. Eine rechtzeitige, pro-aktive Einführung der parlamentarischen Monarchie war seine Sache nicht. Sie hätte den Sturz der württembergischen Monarchie aber auch nicht verhindern können. Das unrühmliche Ende des letzten Hohenzollern-Kaisers zog alle deutschen Monarchien in den Abgrund und diskreditierte die Staatsform als solche nachhaltig. Ein wirkliches Aufleben des monarchischen Gedankens hat es in der Weimarer Republik und darüber hinaus nicht mehr gegeben. Das kurzzeitige Aufflackern monarchischer Gefühle beim Ableben des letzten württembergischen Herrschers galt eindeutig König Wilhelm II. ad personam. Mit ihm verlor das Land eine wichtige Identifikationsfigur aus besseren Friedenszeiten. König Wilhelm war und ist ein wichtiger Bestandteil der württembergischen Erinnerungskultur, das zeigt nicht zuletzt die anhaltende Diskussion über den geeigneten Platz eines Denkmals für den König in Stuttgart.73

72 Zur Situation der Monarchie in der Gegenwart vgl. Benjamin Hasselhorn: Königstod. 1918 und das Ende der Monarchie in Deutschland, Leipzig 2018, S. 143 ff. 73 »Wilhelm II. hält Stuttgart auf Trab«, in: »Stuttgarter Zeitung« vom 3. Juli 2020.

Frank Engehausen

Politischer Systemwechsel auf harmonische Art? Baden im Übergang von der Monarchie zur Republik 1918/19

Der staatspolitische Umbruch von 1918/19 in den deutschen Ländern hat – mit Ausnahme der Revolution in Bayern – in der historischen Forschung vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit gefunden. Dies gilt auch für das badische Beispiel.1 Ein Grund hierfür dürfte sein, dass die Revolution in den Ländern in starkem Maße von der Revolution im Reich abhängig war. Hieraus ergibt sich auch für den Versuch, die Geschichte der Novemberrevolution von 1918 in Baden auf knappem Raum darzustellen, eine Schwierigkeit: nämlich, dass sie als eine Teilgeschichte einer größeren Revolution zu schildern ist. Teilgeschichte bedeutet nicht, dass in Baden bloß nachvollzogen wurde, was im Reich geschah – im Gegenteil gibt es einige markante Sonderentwicklungen, auf die im Folgenden hinzuweisen ist. Festzuhalten aber bleibt: ohne die Matrosenunruhen in Wilhelmshaven und in Kiel keine Arbeiter- und Soldatenräte in Karlsruhe, ohne die Abdankung des deutschen Kaisers kein Thronverzicht des Großherzogs von Baden. Eine zweite Schwierigkeit für eine knappe Darstellung der Revolution ergibt sich daraus, dass verbindliche Geschichten selten vorkommen und Historiker Hauptnarrative auswählen. Im Falle der Novemberrevolution heißt dies, dass sie als eine Verlustgeschichte erzählt werden kann – dies wäre die Perspektive

1

Maßgebend ist das Buch von Peter Brandt/Reinhard Rürup: Volksbewegung und demokratische Neuordnung in Baden 1918, Sigmaringen 1991, das indes nicht als Gesamtdarstellung angelegt ist, sondern den Fokus auf die Rätebewegung legt, deren Tätigkeit von beiden durch eine breit angelegte Quellensammlung (siehe unten Anm. 12) dokumentiert wurde. Die jüngere Darstellung von Markus Schmidgall: Die Revolution 1918/19, Karlsruhe 2012 bietet detaillierte Einblicke in die Ereignisgeschichte, überzeugt jedoch als problemorientierte Analyse nur bedingt. Die folgende Skizze greift die Argumente des Aufsatzes Frank Engehausen: Die Revolution von 1918/19 in Baden und Württemberg – ein Überblick, in: Ders./ Reinhold Weber (Hrsg.): Baden und Württemberg 1918/19. Kriegsende – Revolution – Demokratie, Stuttgart 2018, S. 13–60 auf. In Form und Inhalt folgt der Text weitgehend dem am 23. Oktober 2018 gehaltenen Vortrag. Die Belege beschränken sich im Wesentlichen auf den Nachweis der Quellenzitate.

Politischer Systemwechsel auf harmonische Art?

91

des bis 1918 regierenden Herrscherhauses und des Adels –, als eine Geschichte des Scheiterns – dies wäre die Perspektive der radikalen Linken – oder als eine Geschichte erfolgreicher Kompromisspolitik – dies wäre die Perspektive der Mehrheitssozialdemokraten und im badischen Fall auch beträchtlicher Teile der von den politischen Parteien des Liberalismus und des politischen Katholizismus repräsentierten Bevölkerung. Im Folgenden wird die letztgenannte Geschichte im Vordergrund stehen. Sie soll in drei kurzen Kapiteln geschildert werden: zunächst die Ausgangslage, dann der revolutionäre Umbruch und schließlich der Übergang von der provisorischen zur definitiven Neuordnung des politischen Systems. Ausgangslage Von der politischen Unruhe, die im Reich seit dem Rücktritt des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg im Juli 1917 allgegenwärtig war, war in der badischen Landespolitik bis in die ersten Novembertage 1918 wenig zu spüren. Zwar war der seit 1905 amtierende gemäßigt konservative Regierungschef Alexander von Dusch im November 1917 aus Gesundheitsgründen zurückgetreten; sein Nachfolger Heinrich von Bodman stand jedoch für Kontinuität, hatte er doch bereits seit 1907 das zentrale Amt des Innenministers bekleidet. Auch saß im Gegensatz zum Reich, wo Kaiser Wilhelm II. schon vor dem Krieg einen großen Teil seines monarchischen Renommees verspielt hatte, in Baden mit Großherzog Friedrich II. ein persönlich weithin beliebter oder doch zumindest noch von der großen Popularität seines Vaters, des dezidiert liberalen und um die Reichsgründung verdienten Friedrich I., profitierender Monarch auf dem Thron. Dies spiegelte sich auch bei der Feier zum 100. Jubiläum der badischen Verfassung am 22. August 1918 wider, bei der zehn Wochen vor dem Beginn der Revolution sowohl von Friedrich II. als auch von dem Zentrumspolitiker Ferdinand Kopf, dem Präsidenten der Zweiten Kammer des Landtags, die Eintracht von Volk und Fürst gepriesen wurde, ohne dass dies wie eine plumpe Inszenierung gewirkt hätte.2 Symbolischen Ausdruck fand diese Eintracht von Volk und Fürst auch in der ganz ungewöhnlichen Verleihung des Ritterkreuzes an den sozialdemokratischen Vizepräsidenten der Zweiten Kammer, Anton Geiß, anlässlich der Verfassungsfeier. Geiß nutzte im Anschluss an die Festsitzung die Gelegenheit, um sich mit dem Großherzog über die allgemeine Stimmung im Lande auszusprechen. Geiß gab, so ist in seinen Lebenserinnerungen nachzulesen, dem Landesvater zu verstehen, »daß die Stimmung eine sehr ernste […] sei, das 2

Vgl. Frank Engehausen: Die badischen Verfassungsfeiern (1843, 1868 und 1918), in: Badische Heimat 2/2012, Themenheft 900 Jahre Baden, S. 376–387.

92

Frank Engehausen

Volk in seiner großen Mehrheit verlange den Frieden unter allen Umständen und lasse sich auf die Dauer mit schönen Worten nicht mehr beruhigen. Das Volk wolle Taten sehen. Falls der Frieden nicht bald zu erreichen sei, wären Unruhen die unausbleibliche Folge«. Der Großherzog antwortete darauf, »das Volk solle sich in Gottes Namen noch etwas gedulden«, und appellierte an Geiß, er solle in den ihm »zugänglichen Kreisen wie bisher auch weiterhin wirken zum Wohle der Allgemeinheit und der inneren Ruhe«.3 Diese Aufforderung, die 1914 eingeschlagene Burgfriedenspolitik fortzusetzen, wurde von den badischen Sozialdemokraten in der Folgezeit nicht konsequent umgesetzt, da sie die Tragfähigkeit dieses Konzepts der Vertagung innenpolitischer Kontroversen inzwischen anzweifelten. Hierzu gaben einerseits die innerparteilichen Streitigkeiten der SPD Anlass, bei denen in Baden diejenigen Auseinandersetzungen virulent wurden, die in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion in der Frage der Bewilligung der Kriegskredite ausgebrochen waren. Die 1916 angebahnte und am Jahresanfang 1917 vollzogene Spaltung der Reichstagsfraktion in die linken Unabhängigen Sozialdemokraten und die Mehrheitssozialdemokraten hatte schließlich auch auf Baden übergegriffen. Neben der Sorge, weitere Anhänger an die USPD zu verlieren, gab auch die allgemeine parteipolitische Konstellation im Lande den Mehrheitssozialdemokraten Anlass, Alternativen zur bisherigen Stillhaltetaktik zu prüfen: Ein erster Konflikt mit den übrigen Parteien hatte sich schon 1916 ereignet, als die SPD eine Petition verbreitete, die für das Deutsche Reich bei einem Friedensschluss die Grenzen von 1914 erwartete, nicht aber territoriale Zugewinne, wie sie in dieser Phase des Krieges in Deutschland von verschiedenen Seiten gefordert wurden. Sowohl die Nationalliberalen als auch das Zentrum hatten die Petition abgelehnt, und die militärischen Stellen hatten die Sammlung von Unterschriften verboten. In deutliche Distanz zur Burgfriedenspolitik waren die badischen Sozialdemokraten schließlich bereits im Frühjahr 1917 getreten, als ihr Landesparteitag ein umfassendes staatspolitisches Reformprogramm aufstellte, das neben anderen Forderungen die Demokratisierung der Städte- und Gemeindeordnung, die Einführung des Proportionalwahlsystems bei den Landtagswahlen und die Aufhebung der Adelsprivilegien umfasste – insbesondere mit der letzten Forderung wurde von den Sozialdemokraten dann auch die politische Systemfrage gestellt.4

3 4

Die Lebenserinnerungen des ersten badischen Staatspräsidenten Anton Geiß (1858– 1944), bearb. v. Martin Furtwängler, Stuttgart 2014, S. 41. Vgl. Schmidgall, Revolution (wie Anm. 1), S. 95–99 sowie allgemein zu den innenpolitischen Konstellationen Klaus-Peter Müller: Politik und Gesellschaft im Krieg. Der Legitimitätsverlust des badischen Staates 1914–1918, Stuttgart 1988.

Politischer Systemwechsel auf harmonische Art?

93

Unmittelbare Folgen hatte dies nicht, da die bürgerlichen Parteien die Sozialdemokraten nur zögerlich unterstützten: Die rechten Flügel der katholischen Zentrumspartei und der Nationalliberalen sperrten sich dagegen, die auch von ihnen grundsätzlich anerkannte Modernisierung der Landesverfassung noch während des Krieges in Angriff zu nehmen. Erst unter dem Eindruck der reichspolitischen Reformen, die Reichskanzler Prinz Max von Baden auf den Weg brachte, beraumte Staatsminister Bodman für den 19. Oktober 1918 eine Versammlung der badischen Parteiführer an, auf der von allen Seiten schnelle Reformen gefordert wurden. Bodman betrieb dabei eine Politik der Teilzugeständnisse und stellte die Bereitschaft der Regierung zur Einführung des Proportionalwahlsystems in Aussicht. Der weitergehenden Forderung der Sozialdemokraten und der Linksliberalen nach Aufnahme von Vertrauensmännern der Zweiten Kammer in die Regierung – also nach einer Teilparlamentarisierung –, wich er aus. Auch die sofortige Einberufung des Landtags lehnte der Staatsminister ab. Die SPD bekräftigte daraufhin ihren Forderungskatalog in der Öffentlichkeit: die Abschaffung der Ersten Kammer, das Proportionalwahlverfahren für die Zweite Kammer, die Demokratisierung des Kommunalwahlrechts und die Bildung einer verantwortlichen Regierung aus Vertrauensmännern des Volkes – diese letzte Forderung griff nun deutlich über die schrittweise Modernisierung der bestehenden konstitutionellen Ordnung hinaus und hätte einen politischen Systemwechsel bedeutet. Erst als Ende Oktober und in den ersten Novembertagen die Stimmen lauter wurden, die das sofortige Kriegsende und die Abdankung Kaiser Wilhelms II. forderten, lenkte die badische Regierung ein: Am 3. November erklärte sie sich bereit, Gesetzentwürfe über die Einführung des Proportionalwahlverfahrens und die Demokratisierung des Kommunalwahlrechts vorzulegen.5 Die Konzessionen kamen zu spät und reichten nicht weit genug, um die politische Lage zu entschärfen. Vor allem bei den Sozialdemokraten herrschte nun die Meinung vor, »daß Minister von Bodman nur so weit geht, als er geschoben wird«, rekapitulierte der Landtagsabgeordnete Ludwig Marum rückschauend die Lage Anfang November 1918. Bezüglich des Großherzogs habe er selbst damals den Standpunkt vertreten, »daß es im ureigensten Interesse der Krone liege, zu erkennen, daß das Volk sich selbst regieren will. Die Krone solle sich auf das Altenteil ihrer monarchischen Ehrenrechte freiwillig beschränken,

5

Vgl. »Karlsruher Zeitung/Staatsanzeiger für das Großherzogtum Baden« vom 3. November 1918.

94

Frank Engehausen

sonst werde die Frage der Staatsform brennend werden. Das war damals meine Auffassung, ich habe nicht gedacht, daß es zur Republik kommen werde«.6 Die Berufung einer »Volksregierung« durch den Großherzog rückte am 8. November in greifbare Nähe, als eine sozialdemokratische Vertrauensmännerversammlung die Forderung nach sofortigem Rücktritt der Regierung erhob und nach rascher Einberufung des Landtags zum Zwecke der Wahl einer parlamentarischen Regierung. Mit der Übermittlung dieser Forderung wurde Anton Geiß beauftragt, der sich für den Nachmittag des 9. November bei Bodman anmeldete und Vertreter des Zentrums sowie der Links- und der Nationalliberalen dazu bewegen konnte, ihn zur Audienz beim Staatsminister zu begleiten. Dort erfuhr man, dass das Gesamtministerium bereits den Großherzog um Annahme seines Rücktritts gebeten habe. Es amtiere jetzt nur noch geschäftsführend, bis der Landtag eine neue Regierung bestellen werde; nach Bodmans Plan sollte dies am 15. November geschehen. Noch während die Anwesenden über diesen Termin diskutierten, kam, so schildert es Geiß, »ein Diener und ersuchte den Herrn Staatsminister auf einen Augenblick herauszukommen. Nach einigen Minuten kam er wieder herein und erklärte mit sehr gezwungener Zurückhaltung seine Aufregung, ›Meine Herren in Mannheim ist die Revolution ausgebrochen, die Eisenbahn, die Post und das Rathaus sind von den revolutionären Soldaten besetzt, und wie mir soeben mitgeteilt wird, fängt es in Karlsruhe eben auch an‹«.7 Daraufhin trennte sich die Gesprächsrunde, um die Handlungsoptionen zu sondieren. Als er am Mittag des 9. November von Mannheim nach Karlsruhe aufgebrochen war, sei dort nach außen hin noch keine Spur von Revolution zu erkennen gewesen, hielt Geiß in seinen Lebenserinnerungen fest, aber »bei meiner Rückkehr abends acht Uhr war der ganze Umsturz für Mannheim, ohne einen Tropfen Blut zu verlieren, zur vollständigen Tatsache geworden«, und in der Tat hatten sich die Soldatenräte in Baden wie aus dem Nichts gebildet und in den größeren Städten des Landes die Macht jeweils ohne nennenswerte Widerstände übernommen: Ihren Anfang hatte die Bewegung am 8. November in Lahr genommen; die in Offenburg stationierten Soldaten folgten in der Nacht vom 8. auf den 9. November, und am 9. November formierten sich Soldatenräte in Mannheim, Karlsruhe, Freiburg und Heidelberg.8 Über die politischen Ziele der Soldaten verlautete zunächst wenig; vielmehr kon6 7 8

Generallandesarchiv Karlsruhe 233 27960: Schilderung der Begebenheiten vor und bei Beginn der Revolution durch Justizminister Marum, S. 2 f. Lebenserinnerungen Geiß (wie Anm. 3), S. 45. Vgl. Brandt/Rürup, Volksbewegung (wie Anm. 1), S. 149–159.

Politischer Systemwechsel auf harmonische Art?

95

zentrierten sich ihre Forderungen auf militärische Belange wie die Freilassung inhaftierter Kameraden oder die Unterbindung von Transporten an die Front bis zum Abschluss eines Waffenstillstands. Da es den Soldatenräten zunächst an strategischen Zielen fehlte, bot sich den Sozialdemokraten die Möglichkeit der »Ausnutzung dieser Gewalterlangung durch die Soldaten«, wie Marum meinte: »Ich habe mir gesagt, den Soldaten, die nach meinem Eindruck lediglich gefühlsmäßig eine Revolte gemacht hatten, konnte man politische Dinge nicht zutrauen und nicht anvertrauen. Nachdem die Sache einmal so weit gediehen war, daß die tatsächliche Macht aus den Händen der bisherigen Machthaber in die Hände der Soldaten übergegangen war, war mein Gedanke, nun muß man dafür sorgen, daß die Parteien, die an die Macht wollen, auch tatsächlich an die Macht kommen«. Für die Sozialdemokraten war damit der weitere Weg ab dem 9. November vorgezeichnet: Es galt, Einfluss auf die Soldatenräte zu gewinnen, sich selbst an die Spitze der Bewegung zu stellen und zugleich, wenn man den Umsturz auf »gesetzmäßigem Wege« wollte, den Gesprächsfaden mit der faktisch entmachteten großherzoglichen Regierung nicht abreißen zu lassen.9 Der revolutionäre Umbruch Mit den Soldatenaufständen des 9. November in Mannheim und in Karlsruhe waren die Pläne der großherzoglichen Regierung, durch die Aufnahme von Vertretern der Mehrheitsparteien des Landtags in ein neues Kabinett die wachsende politische Unzufriedenheit zu dämpfen, hinfällig geworden. Nachdem die Verhandlungspartner am Nachmittag des 9. November unverrichteter Dinge auseinandergegangen waren, kehrte der sozialdemokratische Verhandlungsführer Geiß nach Mannheim zurück, um sich ein Bild von der Lage in der Stadt zu machen, während sein Parteifreund Marum in Karlsruhe blieb. Dort bildete sich am späten Nachmittag auf Initiative des Karlsruher Oberbürgermeisters Karl Siegrist ein Wohlfahrtsausschuss, der sich aus Vertretern verschiedener Parteien zusammensetzte; lediglich die Konservativen und die USPD nahmen nicht daran teil. Marum, der hinzukam, hatte den Eindruck, »als ob der Wohlfahrtsausschuss ziemlich ziel- und planlos sei«. Minimalkonsens sei die »Aufrechterhaltung der Ordnung« gewesen; irgendwelche darüber hinausgreifenden »politische[n] Ziele konnte der Ausschuss nach seiner Zusammensetzung gar nicht verfolgen, denn er ging bis ganz rechts hinüber zu den rechtsstehenden Nationalliberalen«.10 Nach außen hin verschleierte man dies durch die Wahl   9 Schilderung von Justizminister Marum (wie Anm. 6), S. 9. 10 Ebd., S. 7.

96

Frank Engehausen

des sozialdemokratischen Karlsruher Stadtrats Heinrich Sauer zum Vorsitzenden des Ausschusses, der sich unmittelbar mit den Anführern der Soldaten in Verbindung setzte: Diese sollten rasch ordentliche Wahlen zu einem Soldatenrat durchführen, der dann mit dem Wohlfahrtsausschuss zusammenarbeiten sollte. Diese Zusammenarbeit trug bereits am Vormittag des 10.  November Früchte: Eine vierköpfige Kommission des Wohlfahrtsausschusses verhandelte mit drei Vertretern der Soldaten und brachte rasch eine provisorische badische Regierung »zur Welt«. Eine der Grundsatzfragen war, ob die USPD an der Regierung beteiligt werden sollte – hier herrschte Einigkeit –, eine andere, wie die Verhandlungspartner zur Frage der Republik standen: Die Vertreter der bürgerlichen Parteien, Ludwig Haas und Gustav Trunk, erklärten, »daß sie im Augenblick wenigstens eine Republik noch nicht wollten« – der unabhängige Sozialdemokrat Hans Brümmer akzeptierte dies mit dem Hinweis, »daß man die Entscheidung dieser Frage einer Nationalversammlung überlassen könnte«.11 In den Personalfragen erzielte man ohne Probleme Einigkeit: In markantem Gegensatz zu den Vorgängen in Berlin, wo der Rat der Volksbeauftragten ausschließlich aus Mitgliedern der MSPD und der USPD gebildet wurde, konstituierte sich die badische vorläufige Volksregierung als eine Mehrparteienregierung unter Einschluss bürgerlicher Parteien. Die MSPD stellte fünf Mitglieder, die USPD, das Zentrum und die Liberalen je zwei. An die Spitze der Regierung trat Anton Geiß. Für die Anerkennung der Legitimität der vorläufigen Volksregierung war zunächst die Verständigung mit den Arbeiter- und Soldatenräten nötig. Diese fand man bereits am 11. November: In einer gemeinsame Bekanntmachung wurde die »Einrichtung der Soldatenräte« von der Volksregierung »begrüßt und gutgeheißen«, während die inzwischen in einem »Landesausschuß badischer Arbeiter- und Soldatenräte« konstituierten Räte sich mit der militärischen Gewalt, die in ihren Händen lag, »hinter die vorläufige Regierung« stellten.12 Ein weiterhin zu berücksichtigender Machtfaktor bei den Bemühungen um Anerkennung der Legitimität war Großherzog Friedrich II., der gegen die Einsetzung der vorläufigen Volksregierung keinen Widerstand leistete, auch wenn er am 10. November noch nicht zu einer vollständigen Kapitulation bereit war. Über den bisherigen Staatsminister von Bodman ließ er an diesem Tag erklären, dass er die Regierungsbildung »als verfassungsmäßig nicht anerkennen« könne, dass er jedoch »in Anbetracht der durch die Zeitumstände geschaffenen be11 Ebd., S. 12. 12 Peter Brandt/Reinhard Rürup (Bearb.): Arbeiter-, Soldaten- und Volksräte in Baden 1918/19, Düsseldorf 1980, S. 425.

Politischer Systemwechsel auf harmonische Art?

97

sonderen Lage« keinen »Widerspruch gegen die beabsichtigten Maßnahmen« erheben werde.13 Die unmittelbare faktische Duldung des staatspolitischen Umbruchs durch den Großherzog erleichterte sowohl den Linksliberalen als auch der Zentrumspartei die Unterstützung der vorläufigen Volksregierung; für sie gab das Argument, nur auf dem Wege des Eintritts in die Regierung selbst einen Beitrag zur Eindämmung der Revolution leisten zu können, den Ausschlag. Während die Mehrheitssozialdemokraten in ihrem Verhältnis zu den bürgerlichen Parteien davon profitierten, dass der Großherzog vorsichtiges Entgegenkommen zeigte, so belastete dies andererseits ihr Verhältnis zur USPD und den Soldatenräten, die darauf drängten, die Frage der künftigen Staatsform nicht bis zur Entscheidung einer verfassunggebenden Versammlung schweben zu lassen, sondern sogleich die Republik auszurufen. Unter Handlungsdruck geriet die vorläufige Volksregierung in dieser Frage, als die Räte erklärten, die Proklamation eigenständig vornehmen zu wollen. Hiergegen protestierten die bürgerlichen Minister auf einer Kabinettssitzung am 12. November, indem sie darauf aufmerksam machten, »daß die Soldatenräte nicht neben der Regierung arbeiten können […]. Die Republik auszurufen, könne man sich nicht entschließen, nachdem man erklärt habe, daß über die Staatsform die Nationalversammlung entscheide«. Letzterer Standpunkt wurde, so das Sitzungsprotokoll, »auch energisch von sozialdemokratischer Seite« bekräftigt. Arthur Kronfeld, der als Vertreter des Freiburger Soldatenrats an der Sitzung teilnahm, erklärte daraufhin, dass er zwar einsehe, »daß die Regierung in ihren Maßnahmen nicht gestört werden dürfe, daß aber die Regierung eigentlich erst die Macht habe und also zu Recht bestehe, seit der Soldatenrat in der gestrigen Versammlung sich hinter sie gestellt hätte«.14 Trotz dieser Erinnerung, die als versteckte Drohung verstanden werden konnte, beharrte die Regierung in der Frage der Ausrufung der Republik auf dem bisherigen Standpunkt. Aktualität hatte die Forderung, nun doch die Republik zu proklamieren, auch durch den Umstand gewonnen, dass Großherzog Friedrich II. als Reaktion auf eine von einzelnen Soldaten angezettelte Schießerei im Hof des Karlsruher Schlosses am Abend des 11. November 1918 inzwischen aus Karlsruhe geflüchtet war. Die provisorische Regierung beauftragte daraufhin Geiß zu weiteren Verhandlungen mit Friedrich II., den er gemeinsam mit von Bodman am 13. November im Schloss Zwingenberg aufsuchte, wohin sich die 13 Ebd., S. 423, Anm. 1. 14 Die Protokolle der Regierung der Republik Baden. 1. Bd.: Die provisorische Regierung November 1918–März 1919, bearb. von Martin Furtwängler, Stuttgart 2012, S. 4 f.

98

Frank Engehausen

großherzogliche Familie in Sicherheit gebracht hatte. Geiß zufolge kam dem Gespräch entscheidende Bedeutung zu, denn wenn der Großherzog nicht zum Machtverzicht bereit gewesen wäre, hätte die Ausrufung der Republik einen »Beamtenstreik« nach sich gezogen. Würde die provisorische Regierung dagegen die Republik nicht ausrufen, »so drohten die Arbeiter mit einem Generalstreik«. Dieses Dilemma löste Friedrich II. schließlich, indem er auf die Ausübung der Regierungsgeschäfte verzichtete und die Beamten aufforderte, »im Dienste des Staates zu bleiben und der vorläufigen Volksregierung ihren Dienst zum Wohle des ganzen Landes zu leisten«.15 Der Großherzog hielt noch einige Tage an der Hoffnung fest, die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung würden eine Mehrheit für die Fortführung der Monarchie bringen und ihm seinen Thron erhalten; am 22. November erklärte er aber dann doch den endgültigen Thronverzicht. Geiß bot bereits die Erklärung über den vorläufigen Verzicht auf die Ausübung der Regierungsgewalt vom 13. November hinreichende Gewähr, dass ein »Beamtenstreik« ausbleiben würde, so dass die provisorische Regierung am folgenden Tag die Republik ausrief – allerdings nicht die von einigen Soldaten angestrebte sozialistische Republik, sondern »die freie Volksrepublik«. Die endgültige Entscheidung über die Staatsform blieb jedoch der »badischen Nationalversammlung« vorbehalten, die am 5. Januar 1919 gewählt werden und innerhalb von zehn Tagen nach der Wahl zusammentreten sollte. Für die Wahlen legte die provisorische Regierung fest, dass sie nach dem »gleichen, geheimen, direkten und allgemeinen Wahlrecht aufgrund des Verhältniswahlsystems durch alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen« stattfinden sollten.16 Die Proklamation der Republik am 14.  November erleichterte die Verhandlungen der Regierung mit der Landesversammlung der Soldatenräte, die am gleichen Tag stattfand und sich nun auf die Frage konzentrieren konnte, wie das Verhältnis der Räte zur provisorischen Regierung gestaltet werden sollte. Hier gelang es dem unabhängigen Sozialdemokraten Brümmer, der die Leitung des Ministeriums für militärische Angelegenheiten übernommen hatte, die Autorität der Regierung zu befestigen, indem eine »aus zwei Personen bestehende Zentralinstanz« der Soldatenräte seinem Ressort zugeordnet wurde, der alle etwaigen »Beanstandungen der Behörden« mitzuteilen waren.17 Zugleich wurde die bisherige Regellosigkeit der Räte durch eine Erfassung der Einzelorganisationen 15 Lebenserinnerungen Geiß (wie Anm. 3), S. 54 f. 16 Ebd., S. 58. 17 Brandt/Rürup, Räte (wie Anm. 12), S. 428 f.

Politischer Systemwechsel auf harmonische Art?

99

und ihrer Mitglieder durch das Ministerium eingedämmt und die materielle Versorgung der Räte durch Vorschusszahlungen der Gemeinden angebahnt. Allerdings ließ sich die Unterordnung der Soldaten- und Arbeiterräte unter die vorläufige Volksregierung nicht einfach dekretieren; vielmehr kam die Regierung mit ihnen »immer aufs Neue wieder in Konflikt. Besonders in Mannheim«, hielt Geiß in seinen Erinnerungen fest, »gährte es fortwährend und überschlug das eine Ereignis über das andere«.18 Eine Beilegung der Konflikte versuchte schließlich eine Landesversammlung der Räte, die am 21. und 22. November in Mannheim tagte und an der für die vorläufige Volksregierung Marum teilnahm. In seiner Ansprache kam Marum den Räten zunächst entgegen und hob ihre Bedeutung an dem jüngsten Umbruch hervor, erinnerte sie dann aber daran, dass dieser nun rasch in gesetzliche Bahnen gelenkt werden müsse. Die »Diktatur«, die man sich »damit angemaßt« habe, wolle man »nicht behalten«. »Was wir wollen, ist Demokratie. […]. Kein ehrlicher Demokrat, gleich welcher Partei, wird diese Diktatur einen Tag länger ertragen, als notwendig ist«.19 Die in Mannheim versammelten Delegierten der Räte machten sich Marums Einschätzung weitgehend zu eigen. Ein engerer Ausschuss des Landesausschusses sollte seinen Sitz in Karlsruhe nehmen und »in engerer Fühlung mit der vorläufigen Regierung dergestalt« amtieren, »daß ohne seine Zustimmung keine grundlegende Handlung seitens der vorläufigen Regierung erfolgen darf«.20 Dies mochte für die Regierung auf den ersten Blick bedrohlich erscheinen, war aber letztlich nicht mehr als ein vager Formelkompromiss, da unklar blieb, was denn nun unter den mit dem engeren Ausschuss abzustimmenden »grundlegenden Handlungen« zu verstehen war. Wichtiger als die Kautelen, mit denen die Räte ihre Stellung zu behaupten versuchten, war das deutliche Vertrauensvotum, das sie am 22. November abgaben. Von der provisorischen zur definitiven Neuordnung Die Unterstützungszusage der Landesversammlung der Räte fiel mit der endgültigen Abdankung Großherzog Friedrichs II. zusammen, so dass man den 22. November als den Abschluss der revolutionären Umbruchsphase in Baden bezeichnen kann. In der Folge stabilisierten sich die landespolitischen Verhältnisse merklich, ohne dass jedoch Konflikte ausblieben. Diese entzündeten sich einerseits zwischen der provisorischen Regierung und den Räten, die sich in der politischen Schlüsselstellung, die sie ihrer Selbsteinschätzung nach ein18 Lebenserinnerungen Geiß (wie Anm. 3), S. 62. 19 Brandt/Rürup, Räte (wie Anm. 12), S. 8 f. 20 Ebd., S. 19.

100

Frank Engehausen

nahmen, zunehmend bedrängt sahen. Nicht in allen Landesteilen wurde der Forderung nach Hinzuziehung von Vertretern der Räte zu den Gemeinde- und Bezirksräten entsprochen, und über diese Widerstände der alten Verwaltungen beklagte man sich bei der Regierung ebenso wie über vermeintliche Verleumdungen der Arbeiter- und Soldatenräte in der bürgerlichen Presse. Andererseits wuchsen auch innerhalb der provisorischen Regierung die Spannungen, was insofern nicht verwundern konnte, als inzwischen der Wahlkampf angelaufen war, in dem die fünf Koalitionsparteien miteinander konkurrierten. Diese aufkeimenden Reibereien brachten die Mehrheitssozialdemokraten wiederum in Bedrängnis in ihrem Verhältnis zu den Arbeiter- und Soldatenräten, in deren Reihen die Stimmen lauter wurden, denen zufolge der revolutionäre Umbruch nur halbherzig vollzogen worden sei. Die Unruhe versuchte erneut Marum zu dämpfen, als er am 27. Dezember auf der zweiten Landesversammlung der »Arbeiter-, Bauern-, Volks- und Soldatenräte« in Durlach die bisherige Regierungspolitik rechtfertigte: Bei ihren Beschwerden und Anklagen müssten die Genossen berücksichtigen, »daß bis jetzt nur die Spitze des Staates, die Regierung, revolutioniert worden ist, daß aber doch die Beamten noch dieselben sind wie früher. […] Wenn es möglich gewesen wäre, hätten wir Sozialdemokraten gerne die bürgerlichen Minister entbehrt. Wir haben Vertreter der Beamten und Bauern in der Regierung, weil wir sie brauchen, sie müssen mit uns die Verantwortung übernehmen«.21 Das Ergebnis der kaum zwei Wochen später abgehaltenen Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung bestätigte Marums Plädoyer vor den Räten, auf eine Konfrontation mit den bürgerlichen Kräften zu verzichten, nachträglich und nachdrücklich. Von einer sozialistischen Mehrheit war man nämlich weit entfernt, vor allem, weil die sich in den Räten mitunter lautstark Gehör verschaffenden Unabhängigen Sozialdemokraten mit lediglich anderthalb Prozent der Wählerstimmen, die für kein einziges Mandat ausreichten, ein desaströses Wahlergebnis erzielt hatten. Auch die Mehrheitssozialdemokraten hatten Anlass zur Unzufriedenheit, gingen sie doch mit 32 Prozent der Stimmen nur als zweitstärkste Partei nach dem Zentrum aus der Wahl hervor. Die vierte Koalitionspartei der provisorischen Regierung, die inzwischen in der Deutschen Demokratischen Partei neuformierten Liberalen, erreichte knapp 23 Prozent der Wählerstimmen – dies hieß aber auch, dass sich mehr als 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler hinter diejenigen Parteien stellten, die den staatspolitischen Umbruch vom November 1918 gemeinsam moderiert hatten.22 21 Brandt/Rürup, Räte (wie Anm. 12), S. 36 f. 22 Vgl. Michael Braun: Der Badische Landtag 1918–1933, Düsseldorf 2009, S. 70–72.

Politischer Systemwechsel auf harmonische Art?

101

In der unmittelbaren Reaktion auf das Wahlergebnis legten die beiden USPD -Minister der provisorischen Regierung, Kriegsminister Brümmer und der Minister für soziale Fürsorge Adolf Schwarz, ihre Ämter nieder – anders als in Berlin endete die Zusammenarbeit der Unabhängigen und der Mehrheitssozialdemokraten also nicht infolge internen Streites, sondern durch ein Wählervotum, das die Linke marginalisierte. Ersatzkandidaten für Brümmer und Schwarz wurden nicht gesucht; vielmehr wurden ihre Ressorts anderen Ministerien zugeschlagen. In der Kabinettssitzung am 8. Januar 1919, auf der dieses Revirement vollzogen wurde, kam auch die Frage auf, wie die Räte auf die eklatante Wahlniederlage der USPD reagieren würden. Der zu den Beratungen hinzugezogene Vorsitzende des Heidelberger Arbeiter- und Soldatenrats und Mehrheitssozialdemokrat Emil Maier wies darauf hin, dass man in den Kreisen der Räte »im Hinblick auf den Ausfall der Wahlen fürchte, die bürgerliche Mehrheit der Nationalversammlung werde eine reaktionäre Politik treiben und die Erfolge der Revolution zunichtemachen«. Entsprechenden Beschlüssen der bevorstehenden Landesversammlung der Räte könne nur vorgebeugt werden, »wenn die bürgerlichen Mitglieder der vorläufigen Volksregierung namens ihrer Parteien auf der Versammlung Erklärungen dahin abgeben können, daß diese Parteien nach wie vor auf dem Boden der demokratischen Volksrepublik stehen«.23 Dieser Anregung kamen sowohl die DDP als auch das Zentrum auf der Landesversammlung der »Arbeiter-, Bauern-, Volks- und Soldatenräte« am 10. Januar in Durlach nach. Für die DDP versicherte Minister Haas, der »Staat, den wir schaffen wollen, wird der demokratischste Staat sein, den es gibt«. Für die Zentrumspartei sprach Finanzminister Joseph Wirth in ganz ähnlichem Sinne, wodurch die Sorgen der Räte gedämpft wurden. So meinte Adam Remmele, der als Mehrheitssozialdemokrat dem engeren Ausschuss der badischen Räte angehörte: Die »heutige Tagung« sei die »bedeutungsvollste in der Geschichte der Revolution« gewesen. Provisorische Regierung und verfassunggebende Versammlung besäßen das Vertrauen der Räte: »Das Gelöbnis aber wollen wir ablegen, daß, wenn im Lande Baden der Versuch gemacht werden sollte, von rechts oder links, die Arbeit der Nationalversammlung zu stören, es Aufgabe der Arbeiter- und Soldatenräte sein wird, hinter dem heutigen Beschlusse zu stehen«.24 Die badische verfassunggebende Versammlung wurde am 15. Januar 1919 offiziell eröffnet. Die erste Rede hielt Regierungschef Geiß, um im Anschluss 23 Furtwängler, Protokolle (wie Anm. 14), S. 161. 24 Brandt/Rürup, Räte (wie Anm. 12), S. 50 f.

102

Frank Engehausen

das durch Selbstermächtigung, Duldung des Großherzogs und Anerkennung der Räte im November des Vorjahres erworbene Mandat der Nationalversammlung zur Verfügung zu stellen, welche die provisorische Regierung jedoch bat, bis zur endgültigen Annahme der neuen Landesverfassung weiterhin die Geschäfte zu führen. Diese Übergangszeit sollte schließlich zweieinhalb Monate dauern: Am 21. März beschloss die badische Nationalversammlung die neue Verfassung,25 die dann am 13. April in einer Volksabstimmung bestätigt wurde; am 2. April wählte sie die erste demokratische Regierung, die in ihren Koalitionspartnern eine Neuauflage der Revolutionsregierung vom November 1918 – allerdings ohne Beteiligung der Unabhängigen Sozialdemokraten und mit veränderter Rollenverteilung – bedeutete. Auch wenn die provisorische Regierung seit dem Zusammentritt der verfassunggebenden Versammlung nur noch auf Abruf agierte, hatte sie neben dem schwierigen Tagesgeschäft der unmittelbaren Kriegsfolgenbewältigung noch weitere Herausforderungen zu meistern. Weitaus wichtiger als interne Streitigkeiten erwies sich der fortdauernde linkssozialistische Widerstand gegen das revolutionäre Konsolidierungskonzept der Mehrheitssozialdemokratie. Obwohl dem linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokraten und den mittlerweile in der Kommunistischen Partei formierten Spartakisten die Minderheitenposition innerhalb der badischen Räteorganisation inzwischen mehrfach deutlich vor Augen geführt worden war, wurden weiterhin putschistische Strategien erwogen, die neue Nahrung durch Nachrichten von revolutionärem Aufruhr in anderen Teilen des Reiches erhielten. Nachdem es während des Berliner Spartakusaufstandes im Januar 1919 in Baden weitgehend ruhig geblieben war, kam es in Mannheim am 22. Februar zu einer Eskalation als Reaktion auf die Unruhen, die in München am Vortag nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner ausgebrochen waren. Mannheimer Metallarbeiter riefen einen Generalstreik aus, und im Anschluss an eine stark besuchte Trauerkundgebung für Eisner proklamierte der Kommunist Albert Stolzenburg die Räterepublik. Ein Teil der Demonstranten war bereit zu direkten Aktionen, zog vor das Mannheimer Schloss und drang in die dort ansässigen Behörden ein. Eines der Ziele war das Amtsgefängnis, vor dem die Revolutionäre die Freilassung politischer Gefangener forderten. Da eine Verteidigung des Gebäudes den diensthabenden Beamten unmöglich erschien, gaben sie nach, was die Revolutionäre zum Anlass nahmen, in das Gefängnis einzudringen.26 25 Vgl. Schmidgall, Revolution (wie Anm. 1), S. 135–147. 26 Vgl. ebd., S. 254–271.

Politischer Systemwechsel auf harmonische Art?

103

Die provisorische Regierung ließ noch am Abend des 22. Februar 1919 die Eisenbahnverbindung nach Mannheim sperren und verhängte den Belagerungszustand über das Land; letztlich scheiterte der Aufstand aber an mangelnder Unterstützung: Die Landeszentrale und der »Elferrat« der Arbeiter-, Bauernund Volksräte beschlossen, ebenfalls am Abend des 22. Februar, einen Aufruf »An das badische Volk«, der sich gegen alle Putschversuche aussprach und zur Einlösung des »zu Beginn der Revolution« gegebenen Worts aufforderte, »in ruhiger Arbeit den sozialistischen Volksstaat aufzubauen«. Das Proletariat bleibe »auf dem Boden der Gesetzmäßigkeit und der Demokratie, auf dem allein nur die Früchte der Revolution heranwachsen können«.27 Auch in Mannheim zeigten sich die in den beiden sozialdemokratischen Parteien, den Gewerkschaften und den Räten organisierten Arbeiter ganz überwiegend nicht bereit, der Ausrufung der Räterepublik zu folgen. Im Gegenteil wurde der Aufstand vor Ort selbst beendet, als am Abend des 23. Februar die lokalen Organisationen von Sozialdemokratie und USPD ihre Anerkennung der provisorischen Regierung bekräftigten und damit den Anstoß zur Auflösung des »Revolutionären Arbeiterrats«, zur Freigabe besetzter Gebäude und zur Ablieferung von Waffen gaben. Ein Übergreifen der Unruhen auf Karlsruhe hatte die provisorische Regierung durch einige Verhaftungen, die Beschlagnahme von Flugblättern und das Verbot einer für den 23. Februar geplanten Gedächtnisveranstaltung für Eisner unterbunden. Allerdings versammelte sich eine größere Anzahl Demonstranten vor dem Innenministerium und ließ sich auch durch Geiß nicht beruhigen, der gar nicht zu Worte kam, »so stark war das Gebrüll, als sie mich erblickten. Schuft, Lump, Bluthund, Blutsauger und ähnliche Titulaturen schrie mir die Menge entgegen«, so der Regierungschef, dessen Bewegungsfreiheit in Karlsruhe an diesem Tag nur durch eine bewaffnete »Kompagnie Freiwilliger« gewährleistet werden konnte. Auch in den Folgetagen erwies es sich als unmöglich, »ohne diesen militärischen Schutz« die »Geschäfte der Regierung ungestört zu führen. Zu ähnlich großen Demonstrationen ist es von da an nicht mehr gekommen«.28 Der rasch beendete Mannheimer Aufstand vom 22. und 23. Februar und die in seinem Gefolge aufgetretenen Unruhen in Karlsruhe wirkten sich nicht nur in intensivierten Sicherheitsmaßnahmen für die Mitglieder der provisorischen Regierung aus, sondern hatten insofern weitreichende politische Folgen, als sie auch die Regierungsneubildung nach Abschluss der Verfassungsarbeiten beeinflussten: So wurden die neun Ministerien zwar paritätisch auf die drei Koalitionsparteien aufgeteilt, das Staatspräsidium aber nicht einem Vertreter 27 Brandt/Rürup, Räte (wie Anm. 12), S. 312. 28 Lebenserinnerungen Geiß (wie Anm. 3), S. 74–76.

104

Frank Engehausen

des Zentrums, das die stärkste Landtagfraktion stellte, übertragen, sondern einem Sozialdemokraten – ganz offenkundig in der Absicht, der anhaltenden Kritik von links keine Angriffsfläche zu bieten. Die Wahl fiel schließlich auf den bisherigen provisorischen Regierungschef Geiß. Seine Person wurde so zum Symbol für die Kontinuitäten im Übergang von der Revolution zu geordneten Verfassungsverhältnissen in Baden. Schluss Vergleicht man den Verlauf der Revolution in Baden mit den Ereignissen im Reich und in den meisten anderen Ländern, so sticht die Bildung einer breiten Koalition in der provisorischen Regierung gleich zu Beginn der Revolution hervor. Dass die Einbeziehung der bürgerlichen Parteien auch von der USPD gebilligt wurde, spricht dafür, dass sie in Baden weiter rechts stand als anderswo im Reich. Auch dauerte die Regierungsbeteiligung der USPD länger als in Berlin: Sie endete in Baden am 8. Januar – eigentlich ohne Not oder zumindest ohne vorausgegangene gravierende regierungsinterne Konflikte – in der Reaktion auf das enttäuschende Abschneiden der USPD bei der Wahl der verfassunggebenden Landesversammlung. Dass die Beteiligung von Vertretern bürgerlicher Parteien an der provisorischen Regierung von der USPD gebilligt und von der Mehrheitssozialdemokratie nachdrücklich betrieben wurde, während die führenden Köpfe der Linksliberalen und des Zentrums im Reich die Revolution nur aus der Zuschauerperspektive erlebten, erklärt sich durch die Sonderentwicklungen in der badischen Landespolitik bereits in den Vorkriegsjahren. In dem vergleichsweise liberalen Klima des traditionsreichen Verfassungsstaats war es schon vor 1914 zu einer Teilintegration der Sozialdemokraten in das politische System der konstitutionellen Monarchie gekommen, wobei die Ausprägung von reformistischem statt revolutionärem Gedankengut den Sozialdemokraten dadurch erleichtert worden war, dass die badische Landespolitik weit weniger Ansatzpunkte für Kontroversen bot als die preußische oder die Reichspolitik. Die »vaterlandslosen Gesellen« von einst waren dabei, sich zu »großherzoglichbadischen Sozialdemokraten« zu entwickeln, und diese Entwicklung brach im Ersten Weltkrieg nicht vollständig ab. Auf der Basis einer solchen moderaten Haltung gewann in der akuten revolutionären Umbruchsituation im November 1918 die Strategie, durch Einbindung bürgerlicher Kräfte in die provisorische Regierung die Gefahr eines »Beamtenstreiks« auszuschalten, hohe Plausibilität. Die politischen Spitzen der Linksliberalen und des Zentrums in Baden ihrerseits waren zur aktiven Teilhabe am revolutionären Umbruch bereit. Diese Bereitschaft folgte der taktischen Überlegung, nur dann mäßigend wirken

Politischer Systemwechsel auf harmonische Art?

105

zu können, wenn man sich an der Regierungsarbeit beteiligte, sie fußte aber auch auf der schon in den Vorjahren durch Erfahrungen im landespolitischen Tagesgeschäft gefestigten Überzeugung, dass es sich bei den Sozialdemokraten nicht um notorische Staatsfeinde, sondern um gleichberechtigte politische Partner handelte oder wenigstens doch in Zukunft handeln könnte. Dass die Kooperation von Sozialdemokraten und bürgerlichen Kräften in der Revolution nicht nur begonnen wurde, sondern einen für beide Seiten erträglichen Fortgang nahm, war indirekt auch ein Verdienst des Monarchen: Zwar zögerte Großherzog Friedrich II. mit seiner Abdankung; mit seiner raschen Entscheidung, die Legitimität der provisorischen Regierung anzuerkennen, erleichterte er deren Arbeit als breite Koalitionsregierung jedoch erheblich. Durch diese Faktoren erfolgte der politische Systemwechsel in Baden tatsächlich »auf harmonische Art«, jedenfalls in dem Sinne, dass die Grundsatzkonflikte, die in Baden die gleichen waren wie im Reich und in den anderen Ländern, nicht zu blutigen Auseinandersetzungen eskalierten, wie sie allgemein das Bild der Revolution von 1918/19 prägten.

Steffen Arndt

»Try to be a good German«. Herzog Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha und seine Rolle als Hitlers adeliger Helfer 1905 bis 1945

In dem Roman »Königliche Hoheit« von Thomas Mann aus dem Jahr 1909 reflektiert der desillusionierte Großherzog Albrecht, Herrscher eines kleinen Duodez-Fürstentums, über seine wahre Herrscherrolle: »Hier in der Stadt lebt ein Mann, ein kleiner Rentner mit einer Warzennase. Jedes Kind kennt ihn und ruft Juchhe, wenn es ihn sieht, er heißt Fimmelgottlieb, denn er ist nicht ganz bei Troste, einen Nachnamen hat er schon lange nicht mehr. Er ist überall dabei, wo etwas los ist, obwohl seine Narrheit ihn außerhalb aller ernsthaften Beziehung stellt, hat eine Rose im Knopfloch und trägt seinen Hut auf der Spitze seines Spazierstocks herum. Ein paarmal am Tage, um die Zeit, wenn ein Zug abfahren soll, geht er auf den Bahnsteig, beklopft die Räder, inspiziert das Gepäck und macht sich wichtig. Wenn dann der Mann mit der roten Mütze das Zeichen gibt, winkt Fimmelgottlieb dem Lokomotivführer mit der Hand, und der Zug geht ab. Aber Fimmelgottlieb bildet sich ein, daß der Zug auf sein Winken hin abgeht. Das bin ich. Ich winke, und der Zug geht ab. Aber er ginge auch ohne mich ab, und daß ich winke, ist nichts als Affentheater. Ich habe es satt.« Diese tiefsinnige Betrachtung Thomas Manns wirft ein bezeichnendes Licht auf die Zaunkönige, wie Bismarck die Bundesfürsten bezeichnete. Hier lässt sich schon erahnen, warum die Bundesfürsten in der Revolution von 1918 so sang- und klanglos von der geschichtlichen Bildfläche verschwanden.1 Um aber belastbare Aussagen treffen und am Einzelbeispiel Carl Eduards von Sachsen-Coburg und Gotha erörtern zu können, muss zunächst der Blick auf die Verfassung und die Verfassungsentwicklung des Kaiserreichs ab 1871 gerichtet werden.

1

Siehe hierzu: Lothar Machtan: Der erstaunlich lautlose Untergang von Monarchie und Bundesfürstentümern – ein Erklärungsangebot, in: Alexander Gallus (Hrsg.): Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010, S. 39–56; siehe auch ders.: Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, München 2016; Stefan Gerber (Hrsg.): Das Ende der Monarchie in den deutschen Kleinstaaten. Vorgeschichte, Ereignis und Nachwirkungen in Politik und Staatsrecht 1914–1939, Köln 2018.

»Try to be a good German«

107

Die bundesstaatliche Verfassung des Kaiserreichs Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 18712 hatte eine föderale Struktur des Bundesgebietes bestimmt. Das Reich gliederte sich in Bundesstaaten, u. a. das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha. Der Bundesrat war das entscheidende Organ des Reiches, denn hier übten die Bundesstaaten ihr Stimmrecht aus. Ohne eine Mehrheit im Bundesrat konnten keine Gesetze beschlossen werden. Hinzu kam, dass das Reich Kostgänger der Bundesstaaten war. Diese bewilligten Matrikularbeiträge, denn dem Reich standen keine finanzkräftigen eigenen Steuern zu (Art. 70). Nach der Verfassungstheorie waren die Bundestaaten also die Säulen des Reichs. Allerdings gestaltete sich die Verfassungswirklichkeit, gerade in Thüringen, wesentlich anders. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 und dem Ende des Alten Reichs wurden auch die bis dahin katholischen Gebiete säkularisiert bzw. die Reichsstädte aufgehoben. So fielen Erfurt und das Eichsfeld, die vorher zu Kurmainz gehört hatten, sowie die Reichsstädte Mühlhausen und Nordhausen an Preußen. Nach dem Sieg über Napoleon wurden kursächsische Gebiete abgetrennt: die Ämter Weißensee, Langensalza und Tennstädt des Thüringer Kreises, das Amt Ziegenrück des Neustädter Kreises sowie Schleusingen und Suhl kamen ebenfalls zu Preußen. Damit hatte sich der preußische Staat nicht nur wesentliche und wirtschaftsstarke Territorien in Thüringen gesichert, sondern konnte auch als unmittelbarer Grenznachbar der thüringischen Staaten seinen Einfluß direkt geltend machen. Das Übergewicht war so stark, dass in allen wichtigen Bereichen nichts ohne den mächtigen Nachbarn umgesetzt werden konnte.3 So entstanden die Hauptlinien der thüringischen Eisenbahn mit wesentlicher Beteiligung Preußens. Auch die Kooperation in der Staatsverwaltung war erheblich. Viele Behörden, zum Beispiel die Oberlandesgerichte, wurden gemeinsam mit Preußen betrieben, weil solche Behörden für kleine Herzogtümer unwirtschaftlich waren. Die Übermacht Preußens schlug sich auch in direkter politischer Einflussnahme nieder. Als der Sozialdemokrat Wilhelm Bock 1884 bei den Reichstagswahlen sensationell das Reichstagsmandat für Gotha errang, nahm Bismarck direkten Einfluss auf die Personalpolitik des Gothaer Staatsministeriums, um konservative Beamte zu installieren, die gegen die SPD durchgreifen sollten. Die Souveränität eines Staates machte sich schon immer an der Bedeutung und Stärke seines Militärs fest. Nur wirtschaftlich starke Mächte konnten sich ein großes Heer leisten und Kriege führen. Auch auf diesem Gebiet war die 2 3

Reichsgesetzblatt 1871, S. 63. Helmut Reichold: Bismarcks Zaunkönige. Duodez im 20. Jahrhundert, eine Studie zum Föderalismus im Bismarckreich, Paderborn 1977.

108

Steffen Arndt

Stärke Preußens übermächtig. Den thüringischen Staaten blieb nur der Weg, sich der Militärorganisation Preußens anzupassen und die eigenen kleinen Truppenkontingente der preußischen Führung zu unterstellen. Am 21. November 1873 wurde daher eine Militärkonvention geschlossen, die die Stellung der thüringischen Infanterieregimenter Nr. 94, 95 und 96 bestimmte. 4 So hieß es in Artikel 2 der Konvention: »Über die Dislokation vorgedachter Regimenter bestimmt Seine Majestät der deutsche Kaiser und König von Preußen das Nähere; jedoch wollen Allerhöchstdieselben diese Truppen in ihren bisherigen Garnisonen innerhalb der betreffenden Ländergebiete belassen und von dem verfassungsmäßig zustehenden Dislokationsrecht nur vorrübergehend und in außerordentlichen, durch militärisch oder politische Interessen gebotenen Fällen Gebrauch machen.« Letztlich entschied der deutsche Kaiser über den Einsatzort der Truppen im Kriegsfall. Die thüringischen Regimenter wurden entsprechend der preußischen Vorschriften uniformiert und ausgerüstet. Nur bei den Dekorationen, wie zum Beispiel den Kokarden, Schärpen oder Achselstücken, fanden die Landesfarben Berücksichtigung. Die Landesfürsten standen zwar gegenüber den Regimentern in ihrem Herzogtum im Rang eines kommandierenden Generals – der Fahneneid wurde auf den Landesherrn geleistet –, aber die Gehorsamspflicht galt dem deutschen Kaiser. Dieser nahm auch alle Ernennungen oder Beförderungen von Offizieren vor. Somit schränkte diese Militärkonvention die Eigenständigkeit der thüringischen Staaten entscheidend ein. Der Landesherr wurde dadurch immer mehr in die Rolle eines fünften Rades mit einigen, das Landesbewusstsein pflegenden, Repräsentationsaufgaben versetzt. Dieser Anachronismus war besonders in Thüringen fühlbar, wo die Kleinstaaterei durch den Gang der Geschichte zur Hochform auflaufen konnte. Gespottet hatte bereits 1863 der »Kladderadatsch« (Nr. 52/53 vom 15. November 1863) über die kleinstaatlichen Verhältnisse: »Mitten in dem Zollvereine, Liegt ein mikroskop’sches Ländchen; Wie du’s auch durchschneiden mögest, Stets ist’s nur ein kleines Endchen. Heißt Reuß-Greiz das Fürstentümchen – Ältre Linie; dicht daneben, Schleiz und Lobenstein mit Gera, Sind die jüngre Linie eben. Reichtum, Luxus, Überbildung, Findest du nicht in jenem Lande; Häring und Kartoffeln ißt man feiertags im Mittelstande.« Schon früh in der Geschichte des Kaiserreichs verloren die Bundesstaaten wesentliche Kompetenzen an Preußen, sei es durch offizielle Verträge, sei es durch das faktische Übergewicht dieses riesigen Staates. Dazu trat nach dem Sturz Bismarcks eine weitere Entwicklung. Da das Deutsche Reich unter Kaiser

4

StA Gotha Best. 2-11-0001 Geheimes Archiv, Urkunden QQ MM Nr. 186.

»Try to be a good German«

109

Wilhelm II. eine aktive Kolonial- und Außenpolitik betrieb, musste dieser neue, forsche Kurs finanziert werden. Da der Reichstag die Haushaltshoheit innehatte, war im Jahr 1897 seine Zustimmung für die Bewilligung von 420 Mio. Mark für den Flottenbau notwendig. Damit gewann der Reichstag eine erhebliche Verhandlungsmacht und konnte durchsetzen, dass zukünftig zur Deckung eine direkte Reichssteuer zu erheben sei. Der Reichstag konnte in den folgenden Jahren wichtige parlamentarische Rechte einfordern. So wurden im Jahr 1906 Freifahrtscheine und Diäten für die Abgeordneten eingeführt, die damit finanziell unabhängig wurden. Außerdem sprach der Reichstag erstmals in der Zabern-Affäre 1913 ein Missbilligungsvotum gegen den Reichskanzler aus.5 Der Reichstag entwickelte sich also zum entscheidenden parlamentarischen Organ des Kaiserreichs. Die Reichsleitung verhandelte vorwiegend mit den Fraktionen des Reichstages über die Ausgestaltung der Gesetzesvorlagen. Der Bundesrat wurde zunehmend vor vollendete Tatsachen gestellt und als Institution in den Hintergrund gedrängt. Zum bestimmenden Paar der Reichspolitik wurden Reichsleitung und Reichstag.6 Die zunehmend starke Rolle der Reichsleitung im politischen Prozess führte ebenso zur Schwächung des Föderalismus, denn diese entwickelte sich zunehmend zu einer eigenständigen Reichsregierung. Da Preußen aber weiterhin der größte Teilstaat des Deutschen Reichs blieb, kam es zu einer »Staatssekretarisierung« Preußens. Die Staatssekretäre als Chefs der Reichsämter, die sich zunehmend zu Reichsministerien entwickelten, wurden gleichzeitig zu preußischen Ministern ernannt. Damit wurde gewährleistet, dass Preußen den Interessen des Reiches diente und eine im Sinne des Reiches abgestimmte Politik umgesetzt werden konnte. Allerdings gerieten damit eigene föderale Interessen Preußens unter die Räder. Wünsche von Kleinstaaten blieben gänzlich unberücksichtigt.7 Somit kann konstatiert werden, dass die Bundesstaaten, insbesondere die thüringischen Kleinstaaten, nach 1900 fast jeden Handlungsspielraum an Preußen oder die Reichsleitung verloren hatten. Insofern wirkten auch die regierenden Herzöge der Bundestaaten immer mehr wie Operettenfürsten. Daher kam es schon um die Jahrhundertwende zu intensiven 5

6 7

Hans-Ulrich Wehler: Symbol des halbabsolutistischen Herrschaftssystems – Der Fall Zabern von 1913/14 als Verfassungskrise des Wilhelminischen Kaiserreichs, in: ders.: Krisenherde des Kaiserreichs 1871–1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, Göttingen 1970, S. 65–83. Manfred Rauh: Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich, Düsseldorf 1973 und ders.: Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977. Hans Goldschmidt: Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung, von Bismarck bis 1918, Berlin 1931.

110

Steffen Arndt

Abb. 1: Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha als Chef-Oberst des Kgl. großbrit. Regiments der Seaforth Highlanders 1908 (Stiftung Schloß Friedenstein Gotha).

»Try to be a good German«

111

Diskussionen über die Zusammenlegung der thüringischen Fürstentümer und der preußischen Gebiete zu einem Groß-Thüringen, das die Grenzen des ja schon bestehenden Reichstagswahlkreises umfassen sollte. In dieser Situation bestieg im Jahr 1905 der erst 21-jährige Prinz Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha (s. Abb. 1) unter ganz ungewöhnlichen Umständen den Thron – ein Prinz aus englischem Haus, noch dazu über wenig Erfahrung auf dem deutschen politischen Parkett verfügend. Europäisches Königshaus versus Nation – Die englischen Prinzen auf dem deutschen Thron in Coburg und Gotha Als Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha im Jahr 1893 in Schloss Reinhardsbrunn ohne männliche Erben verstarb, erlosch die deutsche Linie dieses Hauses.8 Erbberechtigt war sein Bruder Albert, der Prinzgemahl der britischen Königin Victoria. Für diesen Fall hatte das Hausgesetz vom 1. März 1855 in Artikel 6/7 folgende Regelungen vorgesehen: »Von der Nachfolge in die Regierung der Herzogtümer sind der regierende König von England und der voraussichtliche Thronfolger (heir apparent des englischen Rechts) ausgeschlossen, dergestalt, daß die Regierung sofort auf den nach ihnen zunächst berechtigten Prinzen übergeht. Ist jedoch zur Zeit eines Erbfalles außer dem regierenden Könige von Großbritannien oder außer dem englischen Thronfolger oder außer dem Könige und dem Thronfolger ein successionsfähiger Nachkomme aus der Speziallinie des Prinzen nicht vorhanden, so hat im ersteren und dritten Falle der König von England, im zweiten Falle der englische Thronfolger die Regierung der Herzogtümer anzutreten und dieselben durch einen Statthalter so lange führen zu lassen, bis sie von einem volljährigen successionsfähigen Prinzen aus der Speziallinie des Prinzen Albert übernommen werden kann.«9 Da Queen Victoria und Prinz Albert in ihrer glücklichen Ehe neun Kinder gezeugt hatten, darunter mehrere Söhne, fiel das Recht zur Thronfolge auf Prinz Alfred, den zweitgeborenen Sohn. Allerdings kam es hier schon zu erregten Diskussionen in Deutschland, war Alfred doch ein englischer Prinz vom Scheitel bis zu Sohle und noch dazu ein hochrangiger Marineoffizier; stand damit in einem engen Treueverhältnis zur britischen Krone. Man sprach also

8

9

Zur Biographie siehe Gert Melville/Alexander Wolz (Hrsg.): »Die Welt in einer unberechenbaren Entwicklung bisher ungeahnter Kräfte«. Studien zu Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (1818–1893), Coburg 2018; Harald Bachmann/Werner Korn (Hrsg.): Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, 1818–1893 und seine Zeit, Augsburg 1993. StA Gotha Best. 2-11-0001 Geheimes Archiv, Urkunden QQ K Nr. 35.

112

Steffen Arndt

einem britischen Prinzen grundsätzlich die Fähigkeit ab, dem Kaiser als deutscher Bundesfürst treu zu dienen. Alfred selbst, der nur gebrochen deutsch sprach, fühlte sich als weltgewandter Marineoffizier in der deutschen Provinz Coburg und Gotha nicht wirklich heimisch, nahm aber seine Amtspflichten als Herzog sehr ernst und war in der Bevölkerung beliebt. Da das politische Klima zwischen Deutschland und Großbritannien im Jahr 1893 noch nicht so aufgeheizt war wie wenige Jahre später durch die forcierte Flottenrüstung, konnte die deutsche Öffentlichkeit Prinz Alfred akzeptieren. Im Jahr 1899 erschütterte ein tragisches Ereignis das Herzogshaus. Während der Feierlichkeiten zur Silbernen Hochzeit zwischen Alfred und Maria Alexandrowna unternahm ihr Sohn Alfred einen Selbstmordversuch. Dieser hatte sich in eine nicht standesgemäße Liaison begeben und war gezwungen worden, die im Jahr 1897 erfolgte Heirat mit Mabel Fitzgerald, aus der sogar ein Kind hervorging, wieder aufzulösen. Der Thronfolger überlebte die Schussverletzung nur wenige Tage. Herzog Alfred war daraufhin ein gebrochener Mann und starb bereits am 30. Juli 1900 auf Schloss Rosenau. Damit war die Erbfolge im Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha wieder offen. Zunächst schlugen deutsche Staatsrechtler vor, dass das Reich oder Preußen das Herzogtum als Reichsland erwerben und die Ansprüche der englischen Prinzen abgelten sollten. Allerdings hätte dann auch der reiche Domänenbesitz entschädigt werden müssen, was die finanziellen Möglichkeiten weit überstieg. Außerdem wäre bei einem Erwerb durch Preußen das fein austarierte Stimmverhältnis im Bundesrat zugunsten Preußens verschoben worden, was die anderen Bundesstaaten nicht akzeptieren wollten. Somit blieb nur der Weg, der durch das Hausgesetz aufgezeigt wurde. Als nächster Sohn Victorias kam Prince Arthur, 1. Duke of Connaught and Strathearn, für die Thronfolge in Coburg und Gotha infrage. Da sich aber das Klima zwischen den Konkurrenten Deutschland und Großbritannien erheblich verschlechtert hatte, war die deutsche Öffentlichkeit nicht mehr bereit, einen weiteren englischen Prinzen, der noch dazu ein hoher britischer General war, auf einem deutschen Thron zu akzeptieren. In der Presse wurde die Thronfolge ausführlich besprochen. Die »Berliner Morgenzeitung« vom 11. Juni 1899 zitierte dazu: »Die Bevölkerung will es sich nicht gefallen lassen, daß die englischen Prinzen die koburg-gothaische Herzogskrone gewissermaßen ausknobeln; sie will es nicht dulden, daß ihr heute jener, morgen dieser britische Prinz als Thronfolger aufoktroyiert wird.«10 In der Zeitschrift »Die Grenzboten (Zeitschrift für Politik,

10 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 56, fol. 50.

»Try to be a good German«

113

Literatur und Kunst)« hieß es im Oktober 1899: »Uns will es scheinen, als ob es die erste und unabläßige Bedingung die sei, daß der Fürst ein Deutscher sein muß, zum wenigsten aber ein Mann von durch und durch deutscher Gesinnung. Eine solche wird aber nur ein Prinz haben können, der von Kindheit an deutsche Luft geatmet und eine deutsche Erziehung genossen hat. Wir Deutsche haben ein Recht zu dem Wunsche: deutsche Lande und Fürstenthrone nicht vom Ausland und von den Fürsten in Besitz genommen zu sehen, die unserm Empfinden fremd gegenüber stehen. […] Wie verhält sich zu diesen Forderungen die neu geschaffene Rechtslage? Der Herzog von Connaught, der […] nächste Thronanwärter, ist neunundvierzig Jahre alt. Er ist, wie als selbstverständlich gelten muß, Engländer vom Scheitel bis zur Sohle. Sein Sohn, der Prinz Arthur, ist sechzehn Jahre alt. Er hat durchaus englische Erziehung genossen. Es ist mit Recht bemerkt worden, von einer deutschen Erziehung könne bei ihm keine Rede sein.«11 Diesen umfassenden Bedenken musste der Herzog von Connaught Rechnung tragen und verzichtete daher am 24. Juni 1899.12 Herzog Alfred bestimmte daraufhin per Gesetz vom 15. Juli 1899 Carl Eduard Duke von Albany, den Sohn seines verstorbenen jüngsten Bruders Leopold, zu seinem Nachfolger.13 Da Carl Eduard erst 15 Jahre alt war, glaubte man, ihn noch zu einem deutschen Prinzen erziehen zu können, zumal seine Mutter die deutsche Prinzessin Helene von Waldeck-Pyrmont war. Queen Victoria soll ihm den Rat mit auf dem Weg gegeben haben: »Try to be a good German«. Der gemeinschaftliche Landtag der Herzogtümer Coburg und Gotha hatte bereits am 31. Mai 1899 einen grundlegenden Beschluss, hier noch in Erwartung der Regierungsnachfolge durch die Linie Connaught, gefasst: »Der gemeinschaftliche Landtag wolle die Herzogliche Staatsregierung ersuchen, an höchster Stelle darauf hinzuwirken, daß der nach menschlichem Ermessen dereinst zur Thronfolge berufene Prinz Arthur von Connaught, Königliche Hoheit, baldmöglichst seinen Aufenthalt in den Herzogtümern Coburg und Gotha nehme, hierselbst eine deutsche Erziehung erhalte und mit den Verhältnissen seiner neuen Heimat sich vertraut mache.«14 Dieser allgemeine Wille galt ebenso für Carl Eduard. Er wurde unter persönlicher Beteiligung des deutschen Kaisers Wilhelm II. in Potsdam ausgebildet. Carl Eduard durchlief den typischen Bildungsweg eines

11 »Die Grenzboten« 58 (1899), Heft 40, S. 20. 12 StA Gotha Best. 2-11-0001 Geheimes Archiv, Urkunden QQ K Nr. 41. 13 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 55, fol. 80. Zur Biographie siehe Harald Sandner: Hitlers Herzog. Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha, die Biographie, Aachen 2010. 14 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 55, fol. 22.

114

Steffen Arndt

deutschen Prinzen, wurde nach den Regeln eines deutschen Realgymnasiums erzogen, erhielt seinen militärischen Schliff auf der preußischen Kadettenanstalt in Lichterfelde und studierte in Bonn drei Semester Rechts- und Staatswissenschaften. Dort war er Mitglied im Corps Borussia und focht eine Mensur. Im Jahr 1904 trat Carl Eduard in das 1. Garde-Regiment zu Fuß ein und erlangte den Dienstgrad eines Leutnants. Da er erst im Jahr 1905 volljährig wurde, übernahm Ernst von Hohenlohe-Langenburg ab 1900 die Regentschaft, der mit Alexandra, der dritten Tochter des Herzogs Alfred von Sachsen-Coburg und Gotha verheiratet war. So blieb die Kontinuität in der Regierungsausübung gewahrt. Herzog Carl Eduard legte am 19. Juli 1905 den Eid auf die Verfassung ab und trat damit die Regierung an. Er versäumte nicht, besonders zu betonen: »Als deutscher Bundesfürst werden Wir stets in unerschütterlicher Treue zum Reiche und seinem erhabenen Oberhaupte stehen.«15 In den wenigen Jahren seiner Regierung konnte der junge und politisch unerfahrene Herzog bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 kaum eigene Akzente setzen. Im Wesentlichen wurde das übliche Programm abgespult: Ausstellungseröffnungen, Besichtigungen, Hofbälle, Ordensverleihungen, Abnahme von Militärparaden – dies alles waren eher repräsentative Aufgaben. Der Erste Weltkrieg zerriss das dynastische Band zwischen den deutschen und britischen Herrscherhäusern vollends. Im September 1914 gab Herzog Carl Eduard den Ehrenoberbefehl über sein schottisches Regiment auf, da er als deutscher Bundesfürst nicht Kommandant eines feindlichen Regiments sein konnte. Im Mai 1915 entzog König Georg V. allen Rittern des Hosenbandordens in Deutschland und Österreich, so auch Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Franz Joseph von Österreich, die Mitgliedschaft. Auch Herzog Carl Eduard verlor seinen Sitz im Orden, der ihm 1902 von König Edward VII. verliehen worden war.16 Nachdem 1917 der unbeschränkte U-Boot-Krieg gegen Großbritannien wieder aufgenommen wurde und noch dazu die sogenannte Gothaer Taube, ein Bombenflugzeug aus der Flugzeugproduktion in Gotha, Zerstörungen in London anrichtete, war die antideutsche Stimmung so groß, dass König Georg V. sich entschloss, den Namen seiner Dynastie von SachsenCoburg und Gotha in Windsor zu ändern.17 Ebenfalls im Jahr 1917 wurde das Staatsgrundgesetz für die Herzogtümer Coburg und Gotha neu gefasst. Dort hieß es jetzt: »Mitglieder des Herzoglichen Hauses, die einem außerdeutschen 15 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 62, fol. 17 f. 16 Thür. StA Gotha, Best. 2-11-0001 Geheimes Archiv, Urkunden QQ (FF), Nr. 2a. 17 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 157.

»Try to be a good German«

115

Staat angehören, verlieren das Recht der Regierungsnachfolge für sich und ihre Nachkommen, wenn ihr Heimatstaat Krieg gegen das Deutsche Reich führt.«18 Mit dem Abriss dieser alten dynastischen Verflechtungen, die das Haus Sachsen-Coburg und Gotha mit fast allen europäischen Dynastien verband, vergab sich Herzog Carl Eduard auch jede noch so kleine Chance, über diese Kanäle in Fühlung mit Großbritannien zu bleiben. Damit waren auch diplomatische Vermittlungsversuche, bei denen Herzog Carl Eduard als ehrlicher Makler hätte auftreten können, unmöglich geworden. Das europäische Netzwerk der Dynastien war endgültig zerrissen. Reichskanzler von Bethmann Hollweg ließ diesen grundsätzlichen Ausschluss von diplomatischen Möglichkeiten in vorsichtigen Worten in einem Schreiben an den Staatsminister von Bassewitz zu Gotha vom 17. Januar 1917 anklingen, wenn er schrieb: »daß der grundsätzliche Ausschluß nichtdeutscher Prinzen von der Succession auf einen deutschen Thron mit großer Wahrscheinlichkeit für die Zukunft den Ausschluß deutscher Prinzen von nichtdeutschen Thronen zur Folge haben würde und daß dies nicht nur zum Verlust wohlerworbener agnatischer Rechte und Ansprüche einer Reihe deutscher Fürstenhäuser, sondern auch zu einer Schädigung unserer politischen Interessen führen könne.«19 Der Erste Weltkrieg führte nicht nur zu einem außenpolitischen Bedeutungsverlust der Bundesfürsten mit ausländischen Wurzeln, sondern stürzte diese geradezu in die faktische Bedeutungslosigkeit. Mit Beginn des Krieges übernahmen die Wehrkreiskommandos die vollziehende Gewalt. Das Staatsministerium Gotha war jetzt dem Generalkommando des XI. Armeekorps mit Sitz in Kassel unterstellt und sank auf den Rang einer Auftragsverwaltung herab.20 Ebenso wurden alle Aufgaben der Kriegsadministration, insbesondere der Mangelverwaltung von Lebensmitteln und Rohstoffen, durch die immer zahlreicher werdenden Reichsämter übernommen. Das Reich bestimmte mit seiner Zentralverwaltung immer mehr alle Bereiche des öffentlichen Lebens. In Thüringen führten die Anforderungen des Krieges zum Aufbau eines staatenübergreifenden Ernährungsamts. Die thüringischen Fürstentümer waren über den Staatenausschuss an den Entscheidungen des Ernährungsamtes beteiligt. Ungewöhnlich war aber, dass für Beschlüsse die Einstimmigkeit nicht mehr erforderlich war, so dass einzelne, formal nach der Reichsverfassung souveräne

18 Gesetz-Sammlung für das Herzogtum Gotha 1917, S. 29. 19 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 66, fol 112 f. 20 Zur Situation in Thüringen vgl. Rosemarie Barthel: Der 1. Weltkrieg. Ausgewählte Dokumente der Archivgutüberlieferung im Thüringischen Staatsarchiv Gotha zu den Ereignissen des 1. Weltkrieges, Gotha 2014.

116

Steffen Arndt

Staaten, tatsächlich überstimmt werden konnten.21 Auch auf militärischem Gebiet konnten die Bundesfürsten nicht reüssieren. Diese hatten zwar Generalsränge inne, aber zumeist als Ehrenpositionen. Für ein Frontkommando fehlte die nötige Fachausbildung im Generalstab. So blieben ihnen auch hier nur repräsentative Aufgaben, wie ein Eintrag aus dem Kriegstagebuch des Herzogs Carl Eduard anlässlich eines Truppenbesuches in Lille im März 1915 eindrücklich zeigt: »Der Herzog nahm die Parade ab, besichtigte einzelne Kompagnien in ihren Stellungen bei Poelkapelle und war hocherfreut, in seiner Ansprache an die tapferen Truppen, seinen und der Heimat Dank für alles Geleistete auszusprechen und eine Reihe von Auszeichnungen verleihen zu können.«22 Mit der Einführung einer Militärdiktatur im Jahr 1916 durch die Oberste Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff – Wilhelm II. nannte sie die furchtbaren Zwillinge – wurde selbst der Kaiser ausgeschaltet. Wilhelm II. hatte seine Position als Reichslenker schon vor dem Weltkrieg durch große Skandale entscheidend geschwächt. Sowohl die Prozesse um seine homosexuellen Berater ab 1907 als auch die Daily-Telegraph-Affäre 1908 – Wilhelm hatte hier der englischen Presse ein hanebüchenes Interview gegeben – beendeten seine Politik des persönlichen Regiments.23 Im Weltkrieg wurde auch er auf die Rolle eines Statisten herabgedrückt. Der Kaiser hatte schon im November 1914 indigniert bemerkt: »Wenn man sich in Deutschland einbildet, daß ich das Heer führe, so irrt man sich sehr. Ich trinke Tee und säge Holz und gehe spazieren, und dann erfahre ich von Zeit zu Zeit, das und das ist gemacht, ganz wie es den Herren beliebt. Der Einzige, der ein bißchen netter zu mir ist, ist der Chef der Feldeisenbahnabteilung […].«24 Der Form halber hielt sich Wilhelm II. im Großen Hauptquartier in Charleville-Mézières auf, aber der Tagesablauf war gleichförmig und ohne Belang, wie die Eintragungen seiner Kammerdiener und Adjutanten, hier vom 25. April 1915, zeigen: »Frühstück von 8 Uhr ab bereit,

21 Oliver Riegg: Die Lebensmittelversorgung in den thüringischen Staaten im Ersten Weltkrieg. Erfolgreiche Mangelverwaltung oder zunehmender Legitimitätsverfall?, in: Stefan Gerber (wie Anm. 1), S. 63–82. 22 Thüringen in und nach dem Weltkrieg. Vaterländisches Kriegsgedenkbuch, Bd. 1, Leipzig 1921, S. 277. 23 Peter Winzen: Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre und das HaleInterview von 1908, Darstellung und Dokumentation, Stuttgart 2002; ders.: Das Ende der Kaiserherrlichkeit. Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907–1909, Köln 2010. 24 Walter Görlitz (Hrsg.): Regierte der Kaiser? Kriegstagebücher, Aufzeichnungen und Briefe des Chefs des Marine-Kabinetts Admiral Georg Alexander von Müller 1914–1918, Göttingen 1959, S. 68.

»Try to be a good German«

117

vor und nach dem Frühstück. Spaziergang mit den Herren im Garten. 11 Uhr Kirche in der Glashalle angezogen. 1 Uhr Frühstückstafel mit Einladungen. Nachmittags Ausfahrt nach einer alten Burg mit Bodo Ebhardt [Architekt und Burgenforscher]. 6 Uhr Besuch des Kirchenkonzerts in der Kath. Kirche. Gearbeitet. 8 Uhr Abendtafel mit Einladungen. 12 Uhr zu Bett.«25 Auch hier wird deutlich, nicht nur die Bundesfürsten, auch der Kaiser befand sich auf dem Abstellgleis. Dieses persönliche Versagen erfolgte zugleich mit dem Zusammenbruch des monarchischen Prinzips durch die katastrophalen Folgen des Ersten Weltkrieges für das Deutsche Reich. Die Monarchie und die Eliten des Kaiserreichs waren durch die sich abzeichnende Niederlage vollständig delegitimiert. Selbst der Heeresleitung war klar, dass die Fürsten schon einen friedlichen Übergang in eine neue parlamentarisierte Regierungsform nur schwer überstehen würden, von einer Revolution ganz zu schweigen. Revolution und Sturz des Herzogs 1918 Bereits im Sommer 1918 war die krisenhafte Entwicklung sowohl an der Westfront als auch in der Heimat unübersehbar. Die Frühjahrsoffensive an der Westfront war ins Stocken geraten und ein Sieg in weite Ferne gerückt. In der Heimat war die Versorgungslage weiterhin schlecht, hinzu kamen Massenstreiks mit eindringlichen politischen Forderungen. Der Matrosenaufstand in Kiel als Widerstand gegen die Pläne der Marineleitung zum Selbstmordeinsatz der Flotte führte schließlich zum Ausbruch der Revolution im gesamten Land. Auch die Gothaer USPD -Führung musste handeln, um nicht Gefahr zu laufen, die Kontrolle zu verlieren.26 Die Vertrauensmänner der USPD hatten im Laufe des Sommers 1918 Verbindungen zu dem in Gotha stationierten 6. Thüringer Infanterie-Regiment Nr. 95 und dem Flieger-Ersatzbataillon Nr. 3 aufgenommen, um diese, bei dem sich abzeichnenden Zusammenbruch des kaiserlichen Deutschlands, als Verbündete zu gewinnen. Als sichergestellt war, dass sich die in Gotha stationierten Militäreinheiten dem Aufstand anschließen würden, gründete sich am Abend des 8. November der Arbeiter- und Soldatenrat mit seinem Vorsitzenden Otto Geithner.

25 Paul Schönberger/Stefan Schimmel: Kaisertage. Die unveröffentlichten Aufzeichnungen (1914–1918) der Kammerdiener und Adjutanten Wilhelms II., Konstanz 2018, S. 89. 26 Zur Geschichte von Weltkrieg und Revolution 1914–1918 siehe Steffen Arndt: 100 Jahre Novemberrevolution in Gotha und Erfurt. Quellen zur Geschichte im Staatsarchiv Gotha und im Stadtarchiv Erfurt, Gotha 2018.

118

Steffen Arndt

Noch am 8. November 1918 wandte sich Wilhelm Bock, im Auftrag der sozialdemokratischen Fraktion des Landtages, schriftlich an den Staatsminister von Bassewitz mit der Bitte um Einberufung des Gemeinschaftlichen Landtages. Hier nannte er als wichtigste Forderungen »des werktätigen Volkes, die Abdankung des Herzogs und die Zusammenschließung Großthüringens unter republikanischer Staatsform. Der Zustand, daß 8 Fürsten eine Bevölkerung von 1 1/2 Millionen mit 8 Ministerien u. 9 Landtagen regieren, spottet jeder Vernunft. Wir verlangen die Herausgabe des durch den Domänenvertrag dem Herzog ausgelieferten ehemaligen Staatsbesitzes wieder als Staatseigentum. Wir fordern eine freiheitliche Reform des Wahlrechts, die auch den Frauen die gleichen staatsbürgerlichen Rechte gewährt wie den Männern. Wir fordern die längst versprochene Reform des Gemeindegesetzes u. d. GemeindeabgabenGesetzes, wie wir überhaupt eine Revision unserer ganzen Gesetzgebung, einschließlich der Steuergesetzgebung, im Sinne einer demokratisch-sozialistischen Neuorientierung von Wirtschaftspolitik u. Staatsverwaltung verlangen.«27 Bassewitz bestätigte den Empfang und vermerkte, er habe den Herzog informiert, um Ermächtigung zur Einberufung des Landtags gebeten und werde diese auch veranlassen, falls er keine andere Order erhalte. Doch bereits am 9. November fand auf dem Gothaer Hauptmarkt eine Volksversammlung statt, auf der Bock den Sturz der Monarchie verkündete. Auch die bürgerlichen Mitglieder des Landtags bekannten sich am 9. November in der »Gothaischen Zeitung« zu den Grundsätzen einer parlamentarischen Demokratie. Allerdings entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass der Arbeiter- und Soldatenrat Gothas in dieser bürgerlichen Zeitung, die auch gleichzeitig das Regierungsblatt für das Herzogtum Gotha herausgab, die Revolution inserieren musste – gleich neben Käse und Zigarren. Der Staatsminister wurde nun vor die Wahl gestellt, zurückzutreten oder den Anweisungen des Arbeiter- und Soldatenrates Folge zu leisten. Als man ihm zusicherte, er sei von seinem bisherigen Eid entbunden, da der Herzog abgesetzt sei, erklärte er sich zur Mitarbeit bereit. Am gleichen Tag traf ein Telegramm des Stellvertretenden Bevollmächtigten zum Bundesrat, Paulssen, ein: »soeben wurde im reichsamt des innern gemeldet, dass der kaiser abgedankt habe, der reichskanzler prinz max zurückgetreten und ebert reichskanzler geworden sei. Paulssen.«28 Der liberale Maximilian von Baden, am 3. Oktober 1918 von Kaiser Wilhelm II. zum deutschen Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten berufen, hatte sich am 6. November noch an das deutsche Volk gewandt. 27 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 68. 28 StA Gotha Best. 2-15-0193 Staatsministerium Gotha Dep. II Loc. 5e Nr. 22 Bd. 5.

»Try to be a good German«

119

Doch es war bereits zu spät. So verkündete er aus eigener Verantwortung die Abdankung des Kaisers, trat selbst zurück und ernannte den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum Reichskanzler. Die Kriegshandlungen des Ersten Weltkrieges wurden dann offiziell am 11. November 1918 mit Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens in Compiégne/Frankreich beendet. Der Gothaer Arbeiter- und Soldatenrat strebte eine Räterepublik an, übernahm am 13. November die volle Regierungsgewalt und beauftragte das Staatsministerium mit der vorläufigen Weiterführung der Amtsgeschäfte. Am 14. November gab von Bassewitz während der öffentlichen Sitzung des Gemeinschaftlichen Landtages folgende Erklärung ab: »In einem am Morgen des 9. November eingegangenen Schreiben hat die sozialdemokratische Fraktion des Landtags die alsbaldige Einberufung des gemeinschaftlichen Landtages beantragt. Diesem Antrag ist so schnell, als es die schwierigen Verkehrsverhältnisse erlaubten, entsprochen worden. – Unterdessen ist Deutschland eine auf sozialistischer Grundlage ruhende Republik geworden, in deren Namen kein Raum für das Weiterbestehen von Einzelmonarchien ist. Damit hat der Herzog aufgehört, in den Herzogtümern Coburg und Gotha zu regieren. Er hat alle Beamten von dem ihm geleisteten Eide entbunden. Auch weiterhin ist er beseelt von dem aufrichtigen Wunsche für das Wohl seiner bisherigen Landeskinder und unseres armen geschlagenen Vaterlandes.«29 In einer anschließenden, nicht öffentlichen Versammlung wurde von den Anwesenden festgestellt: »Die Staatsregierung ist von Organen übernommen worden, die die Verfassung nicht vorsieht. Der auf Grund dieser Verfassung gewählte Landtag hält unter den obwaltenden Verhältnissen seine weitere Wirksamkeit für unmöglich.« Alle Beteiligten, einschließlich der sozialdemokratischen Abgeordneten, billigten den Wortlaut der Erklärung und waren mit der Veröffentlichung in der Tagespresse im Namen aller Mitglieder des bisherigen gemeinschaftlichen Landtages einverstanden. Der Landtag hatte sich somit selbst aufgelöst. Unter Leitung von Otto Geithner übernahm nun der Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates Gotha, bestehend aus anfangs neun und später elf Personen, die Regierungsgewalt. Im Regierungsblatt vom 16. November ließ er bekanntgeben: »Nachdem der Herzog aufgehört hat zu regieren, tritt bis auf weiteres in allen gemeinschaftlichen und gothaischen Angelegenheiten, in denen der Herzog nach Verfassung und Gesetz bisher zuständig gewesen war, der Vollzugsausschuss des Arbeiter- und Soldatenrates Gotha an seine Stelle.

29 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 68/1, fol. 9.

120

Steffen Arndt

Im Übrigen bleiben alle Reichs- und Landesgesetze und Verordnungen bis zu ihrer ausdrücklichen Aufhebung in Kraft.« Bereits am 14. November war mit dem ersten Gesetz im Freistaat Gotha der Acht-Stunden-Arbeitstag eingeführt worden. Die Verkündung erfolgte am 16. November 1918 und damit weit vor einer reichsweiten Regelung.30 Eine wesentliche Forderung des Erfurter Parteitages der SPD, im »Erfurter Programm« festgeschrieben, wurde damit nun erstmals in Deutschland verwirklicht. Da sich der Vollzugsausschuss wegen seiner Größe als zu schwerfällig erwies, bildete sich während einer Delegiertenkonferenz am 30. November das Gremium der Volksbeauftragten für den Staat Gotha, bestehend aus Wilhelm Bock, Emil Grabow und Adolf Schauder. Nachdem Wilhelm Bock im Februar 1919 seinen Posten aufgab, trat Albin Tenner an dessen Stelle. Der Arbeiter- und Soldatenrat hatte zwar vollständig die Macht übernommen und übte diese auch aus, die Verwaltungsorgane des Staates wurden jedoch beibehalten, wie aus dem Schreiben vom 2. Januar an von Bassewitz hervorgeht. Er erhielt die Order der »Volksbeauftragten des Staates Gotha«, unterzeichnet von Adolf Schauder, dass alle Verfügungen und Anordnungen des Staatsministeriums für Coburg und Gotha von ihm gegenzuzeichnen seien. Der Staatsminister wurde gebeten, »am Montag, Mittwoch und Freitag um 11.00 vormittags auf Schloss Friedenstein Vortrag zu halten.«31 Der bürgerlich-­konservative Staatsminister von Bassewitz behielt seine Stellung bis Mai 1919. Der ehemalige Herzog Carl Eduard wurde, nachdem er eine Abfindungssumme abgelehnt hatte, mit dem »Gesetz über die Einziehung des Gothaischen Hausfideikommiß, des Lichtenbeger Fideikommiß, des Ernst-AlbertFidei­kommiß, der Schmalkaldener Forsten und des Hausallods« vom 31. Juli 1919 enteignet.32 Die Arbeiter- und Soldatenräte in Friedrichroda und Georgenthal übernahmen das Schloss Reinhardsbrunn bzw. herzoglichen Grundbesitz. Ebenso wurde über das Inventar des Schlosses Reinhardsbrunn verfügt, obwohl Herzog Carl Eduard Rechtsmittel gegen die Enteignung eingelegt hatte. Die Volksbeauftragten begründeten das Gesetz im Landtag wie folgt: »Die Landesregierung und die zur Verhandlung beauftragte Kommission haben mit allen Mitteln versucht, einen billigen Ausgleich herbeizuführen und boten dem Herzog eine Abfindung in Geld im Betrage von 5 Mio. Mark sowie das Jagdschloß in Oberhof, dazu sollte dem Herzog noch das Lichtenbeger Fideikommiß mit 30 StA Gotha Best. 2-15-0193 Staatsministerium Gotha Dep. II Loc. 167 Nr. 94. 31 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 68/1, fol. 20. 32 Gesetz-Sammlung für den Staat Gotha 1919, Nr. 35.

»Try to be a good German«

121

Ausnahme des Rittergutes Wandersleben sowie diejenigen bewegliche Gegenstände verbleiben, die sich in seinem oder der Herzogin Privateigentum befinden. Nur schweren Herzens konnten wir uns zu einem solchen Vorschlag entschließen, da wir innerlich der Überzeugung sind, daß selbst eine solche Entschädigung schon zu weit ging, eine Entschädigung, wodurch dem Herzog eine Abfindung in dem erheblichen und sehr bedeutenden Werte von 15 Mio. Mark geboten wurde, es sind dies 15 Mio. Mark, da der Wert des Lichtenberger-Fideikommisses allerwenigstens 10 Mio. Mark beträgt. (…) Bedenken Sie meine Herren, die wirtschaftliche Not jedes Einzelnen, sei es nun Beamter, Kaufmann oder Arbeiter, denken Sie an die Bedrängnisse der zurückkehrenden Krieger, die arbeitslos dasitzen, halten Sie sich die Not der Krieger-Witwen vor Augen, so müssen Sie uns zugeben, daß wir das Äußerste getan haben, um einen Ausgleich herbeizuführen.«33 Eine wesentliche Forderung Wilhelm Bocks in seiner Revolutionsrede vom 9. November 1918 auf dem Gothaer Hauptmarkt war damit erfüllt. Die einzige Fürstenenteignung in Deutschland wurde allerdings 1925 nach einem Reichsgerichtsurteil wieder aufgehoben. Neubeginn in der Weimarer Republik – Herzog Carl Eduard als Förderer Hitlers und der NSDAP Für Herzog Carl Eduard muss die Revolution von 1918 eine traumatische Erfahrung gewesen sein, worauf auch die irrationale Weigerung abzudanken hinweist. Schon der Verlust der englischen Heimat im Alter von 16 Jahren war schwer zu überwinden. Die strenge Erziehung zu einem deutschen Fürsten, die der charakterlich instabile Kaiser Wilhelm II. persönlich übernahm, hinterließ tiefgreifende Spuren. Carl Eduard hatte zwar versucht, allen überspannten deutschen Erwartungen gerecht zu werden und ein besonders guter Deutscher im Kaiserreich zu werden, aber all dies war nun vergeblich gewesen. Der zweite Verlust einer Heimat, diesmal erfahren als Sturz der Monarchen und des wilhelminischen Wertekompasses, mag erklären, warum der nunmehrige Privatmann Carl Eduard so anfällig war für alle Bestrebungen, die ungeliebte Weimarer Republik zu beseitigen sowie völkischen bzw. nationalistischen Zielen wieder Geltung zu verschaffen. Dafür bot Coburg eine überaus günstige Umgebung. Anders als in Gotha wurde Carl Eduard hier nicht entschädigungslos enteignet. Schloss und Forst Callenberg verblieben in seinem Privateigentum. Ebenso erhielt die Herzogsfamilie ein Wohnrecht auf der Veste Coburg. Kunstgüter wurden in eine

33 StA Gotha Best. 2-15-0183 Staatsministerium Gotha Dep. I Nr. 177, fol. 145.

122

Steffen Arndt

Landesstiftung überführt, in der der Herzog mit Sitz und Stimme vertreten war. Als Entschädigung zahlte der Staat an den Herzog hierfür 1,5 Mio. Reichsmark. Auch ideell war der Traditionsbruch in Coburg eher gering. Carl Eduard wurde weiterhin von den Einwohnern des Herzogtums Coburg als Landesvater anerkannt und geachtet. Sein Wort galt weiterhin als das einer hohen Autorität. Da die Sozialstruktur in Coburg, anders als in Gotha, mit seiner zahlreichen Industriearbeiterschaft, durch Beamte, Hofpersonal und Kleinunternehmer geprägt war, stand hier das monarchische Prinzip noch in hohem Ansehen. Hinzu kam, dass sich in Coburg zahlreiche gestürzte Mitglieder des europäischen Hauses Sachsen-Coburg und Gotha aufhielten, die so quasi eine Schicksalsgemeinschaft bildeten und ihre Kräfte zur Wiedererlangung ihrer monarchischen Herrschaft bündeln konnten. So wohnte der russische Thronprätendent Großfürst Kyrill Romanow, der Victoria Melita, eine Tochter Herzog Alfreds von Sachsen-Coburg und Gotha, geheiratet hatte, regelmäßig in Coburg. Ebenso gehörten der 1918 gestürzte Zar Ferdinand von Bulgarien und sein Bruder Philipp von Sachsen-Coburg und Gotha aus dem österreichischen Zweig der Familie zu diesem Kreis der hochadeligen Exilanten. Schon früh unterstützte Carl Eduard die antirepublikanischen Kräfte. Als im März 1920 der Kapp-Putsch gegen die Republik scheiterte, gewährte der Herzog dem Freikorpsführer Ehrhardt Schutz und Zuflucht auf Schloss Callenberg.34 Aber er gehörte auch zu den ersten hochrangigen Förderern Hitlers, wie der »Deutsche Tag« in Coburg im Oktober 1922 zeigte. Am 14./15. Oktober 1922 traf sich der rechtsvölkische Schutz- und Trutzbund, der nur in Bayern noch nicht verboten war, in Coburg zu einer Versammlung. Die bisher noch weithin unbekannte NSDAP nutzte die Gelegenheit, um in einem Sonderzug 600 SA-Männer nach Coburg zu entsenden. Diese militante Kampfkraft dominierte in den folgenden Tagen das Straßenbild und terrorisierte alle Gegner. Somit war Coburg zum Experimentierfeld der SA geworden; die gesammelten Erfahrungen sollten in der Zukunft beispielgebend für das Auftreten der SA im gesamten Reich werden. Gewalt als Mittel der Politik wurde zum Markenkern der NSDAP.35 Entscheidend für die Akzeptanz der NSDAP in 34 Zur Biographie Carl Eduards speziell ab 1918 siehe Hubertus Büschel: Hitlers adliger Diplomat. Der Herzog von Coburg und das Dritte Reich, Frankfurt a. M. 2016; siehe zu persönlichen Eindrücken Andreas Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha (Hrsg.): The Duke – Der letzte Herzog. Aus den Aufzeichnungen von Prinz Friedrich Josias von Sachsen-Coburg und Gotha, Coburg 2017; siehe auch Karina Urbach: Hitlers heimliche Helfer. Der Adel im Dienst der Macht, Darmstadt 2019, S. 204–281. 35 Joachim Albrecht: Die Avantgarde des Dritten Reichs. Die Coburger NSDAP während der Weimarer Republik, 1922–1933, Frankfurt a. M. 2005.

»Try to be a good German«

123

breiten bürgerlichen Schichten war aber das Auftreten des Herzogs Carl Eduard. In der »Coburger Zeitung« vom 18. Oktober 1922 hieß es dazu: »Mehr als 4000 Männer und Frauen waren in Coburg versammelt, darunter die Vertreter sämtlicher von der Gemeinschaft deutschvölkischer Bünde geladenen Verbände und die straff organisierten Scharen der National-Sozialisten, die unter Hitlers Führung im Sonderzug aus München eintrafen und mit klingendem Spiel und wehenden Hakenkreuzfahnen durch die Stadt marschierten. Das Hofbräuhaus war kaum imstande, die Zahl der Teilnehmer zu fassen. […] Adolf Hitlers leidenschaftliche, vom tiefen Ernst, ja Wehmut über das verlotterte Deutschland, aber auch von eisenfester Hoffnung durchglühte Ansprache löste einen wahren Begeisterungssturm aus. Zu einer spontanen Huldigung kam es, als der Herzog und die Herzogin, die den starken Eindrücken des Abends aufmerksam gefolgt waren, unter den Klängen des schneidigen Orchesters in später Stunde den Saal verließen.« Die politische Wirkung der Anwesenheit des Herzogspaars kann kaum überschätzt werden. Hitler war ein sozialer Nobody aus einem Männerasyl in Wien, eine wunderliche Gestalt aus München; nicht einmal ein Reichsdeutscher.36 Herzog Carl Eduard adelte quasi durch seine Anwesenheit Hitler bzw. die NSDAP und machte die Partei hoffähig. Als Landesvater und immer noch geachteter Herzog von Coburg war er ein maßgeblicher Türöffner für die NSDAP in dieser Stadt. Dies spiegelte sich auch in den frühen Erfolgen der Partei in Coburg. Bereits im Jahr 1923 wurde eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet. Auch das Verbot der NSDAP nach dem gescheiterten Putsch im Jahr 1923 konnte den Aufstieg der rechten Verbände nicht aufhalten. Bei der Landtagswahl 1924 erreichte der Völkische Block mit 53,1 % in Coburg das höchste Wahlergebnis in Bayern. Auch auf kommunaler Ebene konnte die NSDAP beispiellose Erfolge erreichen. Bereits im Juni 1929 erreichte die Partei 43,1 %, im Dezember 1929 sogar 45,7 % der Stimmen und damit die erste absolute Mehrheit der Sitze in einem Stadtrat deutschlandweit. Herzog Carl Eduard hatte die NSDAP wieder persönlich unterstützt. Die »Coburger Zeitung« berichtete am 6. Dezember 1929: »Im Rahmen einer Wahlversammlung der NSDAP sprachen gestern Abend vor mindestens 2000 Personen im großen Saal der Hofbräu-Gaststätte der nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete Strasser und der Führer und Begründer der nationalsozialistischen Bewegung Adolf Hitler, die bei ihrem Eintritt in den Saal von der Versammlung stürmisch begrüßt wurden. Unter den Gästen sah man u. a. neben vielen anderen prominenten Persönlichkeiten

36 Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1996.

124

Steffen Arndt

unserer Stadt Ihre Königliche Hoheit Herzog Carl Eduard und Herzogin Viktoria Adelheid sowie Erbprinzen Ernst von Sachsen-Meiningen mit Gemahlin.« Die Nationalsozialisten nutzten ihre Mehrheit, um ihre Macht sichtbar zu demonstrieren. So veranlassten sie zum 18. Januar 1931, dem 60. Jahrestag der Reichsgründung 1871, eine Festsitzung des Stadtrates. Dazu berichtete die »Coburger Zeitung« am 19. Januar 1931: »Die Stadtratsfraktion der SPD war geschlossen der Stadtratssitzung ferngeblieben. […] Ein weiterer nationalsozialistischer Dringlichkeitsantrag sah die Hissung der schwarz-weiß-roten Hakenkreuzfahne am Rathause vor. Auch dieser Antrag fand Annahme. […] Prof. Güntzel gab hierzu, zugleich im Namen seines durch Krankheit am Erscheinen verhinderten Stahlhelmkameraden und Stadtratskollegen Rehlein, folgende Erklärung ab: […] Seit 13 Jahren lebt das deutsche Volk im undeutschen Zwischenreich des bismarckfeindlichen Marxismus. Diesem Zwischenreich, das die völkischen, sittlichen, kulturellen und auch die wirtschaftlichen Grundlagen der deutschen Nation völlig zu zerstören droht, haben wir den Kampf angesagt, um aus dem Geist der Frontkameradschaft und der Volksgemeinschaft das wahre deutsche Reich und die deutsche Nation erstehen zu lassen.« Man kann mit Fug und Recht annehmen, dass Carl Eduard die erstmalige Dekoration eines Rathauses mit der Hakenkreuzfahne ebenso begrüßte wie die Erklärung des Stahlhelmbundes, denn er selbst war bereits 1926 diesem Bund beigetreten, übernahm 1930 einen Sitz im Vorstand und hatte 1931 am Treffen der Harzburger Front der Nationalkonservativen bzw. der völkischen Parteien in Bad Harzburg teilgenommen. Zum zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl im Jahr 1932 veröffentlichte Herzog Carl Eduard einen persönlichen Wahlaufruf für Adolf Hitler, der in der »Coburger Nationalzeitung«, der Zeitung der NSDAP des Bezirkes Coburg, vom 23. März 1932 abgedruckt wurde. Der Deutsche Tag 1922 in Coburg hatte sich bereits zu einem Gründungsmythos der NSDAP entwickelt, wie der Bericht der »Coburger Zeitung« vom 17. Oktober 1932 zur 10-Jahresfeier und gleichzeitigen Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Coburg an Adolf Hitler zeigt: »Bereits am Sonnabendvormittag zeigte die Stadt ein festliches Gepräge. Eingeleitet wurden die Veranstaltungen mit einer außerordentlich gut besuchten Aufführung der Meistersinger von Nürnberg im Landestheater in Anwesenheit von Seiner Königlichen Hoheit Herzog Carl Eduard, Seiner Hoheit Prinz Hubertus, Frau Winifred Wagner und Sohn, sowie einer die Mittelloge besetzender Anzahl prominenter nationalsozialistischer Führer. […] Adolf Hitler traf am Sonntagvormittag kurz vor 11 Uhr mit einem Kraftwagen in Coburg ein. Um 11.20 traf Adolf Hitler auf dem VfB-Platz ein, den eine nach Tausenden zählende Menschenmenge füllte. […] Die 18.500 SA- und SS-Leute sowie die Hitler-

»Try to be a good German«

125

jugend nahmen den Teil des VfB-Platzes ein, der an den Jahn-Turnplatz angrenzt, während den übrigen Teil wohl die gleiche Zahl Zuschauer füllte. Adolf Hitler durchschritt […] die Spaliere bis zur Tribüne, um sodann die Angehörigen der Hundertschaften zu begrüßen, die 1922 bereits in Coburg waren. Einem jeden wurde ein Ehrenzeichen zur Erinnerung überreicht. […] Erster Bürgermeister Schwede erinnerte an die 10jährige Wiederkehr des ersten Besuches Adolf Hitlers in Coburg […] und überreichte schließlich dem Führer der NSDAP die Ehrenbürger-Urkunde der Stadt unter dem Beifall der Zuschauer.« Die besondere Rolle Coburgs beim Aufbau der NS-Bewegung würdigte Hitler selbst am 15. Oktober 1937 in einer Festrede anlässlich des 15. Jahrestages des Deutschen Tages 1922: »Mit Coburg habe ich Politik gemacht. So wurde der Kampf um diese Stadt zum Markstein in der Entwicklung unserer Bewegung. Nach diesem Rezept haben wir im ganzen Reich der nationalsozialistischen Idee die Bahn frei gemacht und damit Deutschland erobert.«37 Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die besondere Rolle des braunen Coburgs und ihres Protagonisten Carl Eduard entsprechend gewürdigt. Der Herzog, der am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten war, wurde mit zahlreichen Ehren und Ämtern überhäuft. Er stieg auf zum SA-­Ober­ gruppenführer, wurde 1933 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, 1934 Reichskommissar der freiwilligen Krankenpflege, 1933 Reichsbeauftragter für das Kraftfahrwesen, 1935 Obergruppenführer des NS-Kraftfahrerkorps, 1933 Senator der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, 1936 Reichstagsabgeordneter und Präsident der Vereinigung der deutschen Frontkämpferverbände. Hinzu kamen zahlreiche Mitgliedschaften in Aufsichtsräten der deutschen Wirtschaft. Diese Ämter hoben ihn aus der Rolle des Privatmannes wieder heraus und erlaubten Repräsentation und öffentliche Aufmerksamkeit. Hier konnte er direkt an seine Rolle als Landesfürst anschließen, die ja ebenfalls auf repräsentative Aufgaben und die Wahrnehmung von Ehrenämtern ausgelegt war. Carl Eduard spielte aber, bedingt durch seine Verwandtschaft mit dem britischen Königshaus, eine bedeutende Rolle für das Dritte Reich auf dem diplomatischen Parkett. Im Jahr 1934 wurde er zum Repräsentanten der Reichsregierung im Ausland ernannt. 1935 folgte die Wahl zum Präsidenten der Deutsch-Englischen Gesellschaft. Da er regelmäßig im Kensington Palast ein- und ausging, wo seine Schwester als Mitglied des Königshauses ebenfalls ein Appartement bewohnte, diente er Hitler als Türöffner zur Upper Class in Großbritannien. Er nahm auch, gekleidet in Wehrmachtsuniform und mit Stahlhelm, an den Feierlichkeiten zur Beisetzung

37 »Coburger Tageblatt« vom 16. Oktober 1937.

126

Steffen Arndt

des verstorbenen Königs Georgs V. im Jahr 1936 teil. So sollte er dazu beitragen, mit dem deutschfreundlichen zukünftigen König Edward VIII. Verhandlungen über ein Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien zu initiieren. Carl Eduard begab sich im Auftrag des Dritten Reichs 1934 und 1940 auf zwei Weltreisen. Hier traf er sogar den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und den japanischen Kaiser Hirohito. Die Mission der Weltreisen lag in der Förderung einer positiven Einstellung im Ausland gegenüber dem Deutschen Reich. Gerade im angelsächsischen Raum sollten für die Politik Hitlers im Kampf gegen den Bolschewismus als Feind der westlichen Zivilisation geworben werden und wenn möglich sogar Bundesgenossen gefunden werden. Herzog Carl Eduard spielte eine bedeutende Rolle in der Außenpolitik des Dritten Reichs und half, die wahren Ziele des NS-Staates zu verschleiern. Damit war er weit mehr als nur ein Mitläufer, sondern vielmehr ein aktiver Unterstützer und galt zumindest im Ausland als ein führender Repräsentant des Dritten Reichs. Diese herausragende Rolle brachte ihm auch die persönliche Wertschätzung durch Adolf Hitler ein (s. Abb. 2).

Abb. 2: Adolf Hitler auf der Veste Coburg am 15. Oktober 1935, rechts Herzog Carl Eduard. (Landesbibliothek Coburg).

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges war für Herzog Carl Eduard ein weiterer Lebensentwurf zerbrochen. Nachdem er schon als englischer Prinz und deutscher Bundesfürst nicht reüssieren konnte, war nur auch der dritte Karriereweg als »Herzog des Führers« gescheitert. Im strafrechtlichen Sinne mußte er für seine Taten im Dritten Reich allerdings keine Konsequenzen tragen. Mit vielen Persilscheinen ausgestattet, wurde er im Spruchkammerverfahren

»Try to be a good German«

127

1950 als Mitläufer eingestuft. Die Strafzahlung betrug 5000 DM. Carl Eduard starb, ansonsten unbehelligt, im Jahr 1954 im Alter von 70 Jahren. Er befand sich in guter westdeutscher Gesellschaft, die die NS-Verbrechen nicht nur totschwieg, sondern auch die Täter friedlich und hochbetagt im Bett ruhig einschlafen ließ. Dazu gehörte zum Beispiel auch der erste NS-Bürgermeister Coburgs Franz Schwede, der als Gauleiter von Pommern im Jahr 1939 in eigener Verantwortung 987 Patienten von Heilanstalten erschießen bzw. vergasen ließ.38 Franz Schwede starb 1960, bereits seit 1954 wieder in Freiheit gesetzt, in Coburg. Aber zu dieser Gruppe gehörten auch viele KZ-Ärzte, Richter und Staatsanwälte, Ministerialbeamte und Wehrmachtsgeneräle.39 Die alte Elite wurde nach 1945 immer noch benötigt oder wie Adenauer treffend in Bezug auf seinen Staatssekretär Hans Globke formulierte: »Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat.«40 In der DDR war das historische Urteil eindeutig. Der Adel gehörte zur Klasse der preußischen Militaristen, die 1914 zu den Kriegstreibern und 1933 zu den Steigbügelhaltern Hitlers zählten. Differenzierte Historiographie war die Sache der DDR nicht. Unter dem Diktum und damit Schutzschild des antifaschistischen sozialistischen Staates konnte daher auch so mancher Wehrmachts- oder Polizeigeneral führend am Aufbau der NVA oder der Volkspolizei mitwirken. Erst in den 1980er Jahren, als eine differenzierte Betrachtung des Wirkens von Friedrich dem Großen, der preußischen Generäle Scharnhorst und Gneisenau im Kampf gegen Napoleon oder der preußischen Reformen unter Stein/Hardenberg zugelassen wurde, 41 weil die kommunistischen Grundlagen der DDR zunehmend hohl und brüchig erschienen, konnte auch wieder gesagt werden, dass eine nicht geringe Anzahl von Adligen den Widerstand gegen Hitler getragen hatte. Die Trennlinien verliefen oftmals mitten durch die Familien: während zum Beispiel Paul von Kleist als Generalfeldmarschall nach 1945 wegen Kriegsverbrechen in Jugoslawien und der Sowjetunion zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, gehörte Ewald von Kleist-Schmenzin zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 und wurde am 9. April 1945 in Plötzensee hingerichtet. Nun könnte man zu Herzog Carl Eduard entlastend anführen, dass er durch die Lebensbrüche als 38 Jan Mittenzwei: Schwede-Coburg, Franz (1888–1960), in: Dirk Alvermann/Nils Jörn (Hrsg.): Biographisches Lexikon für Pommern, Bd. 2, Köln 2015, S. 257–265. 39 Ein Beispiel der späten Aufarbeitung: Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann (Hrsg.): Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010; siehe auch Norbert Frei (Hrsg.): Hitlers Eliten nach 1945, München 8. Aufl. 2017. 40 »Der Spiegel« Heft 51/1993, S. 68. 41 Rainer Waterkamp: Der Wandel des Preußenbildes in den DDR-Medien, Bonn 1997.

128

Steffen Arndt

Jugendlicher charakterlich beeinträchtigt wurde und sein Leben lang seine anerzogene Rolle als willfähriges Instrument höherer Interessen und Mächte einnahm. Allerdings bleibt der Mensch stets ein Wesen mit freiem Willen. Ein Rückzug in die innere Emigration auf Schloss Callenberg während der NS-Zeit hätte Carl Eduard wohl kaum geschadet. Insofern kann man den Herzog, auch bei Berücksichtigung von Kindheit und Jugend, nicht von seiner historischen Verantwortung freisprechen.

Manfried Rauchensteiner

Machtvakuum an der Donau. Österreich und Ungarn nach dem Großen Krieg

Es war nicht Mitternacht, sondern fünf Minuten nach Mitternacht, als eine österreichisch-ungarische Waffenstillstandskommission am 3. November 1918 im Gästehaus der italienischen Heeresleitung in der Nähe von Padua die Nachricht bekam, dass der österreichische Kaiser, König von Ungarn, Böhmen etc. Karl I. (IV.), in den Abschluss eines Waffenstillstands eingewilligt hatte. Österreich streckte nach langem Zögern und sechs Tage vor dem deutschen Kaiserreich die Waffen. Eine Diskussion darüber, ob man noch hätte weiterkämpfen können und womöglich zu früh kapitulierte, wäre völlig absurd gewesen, denn die Habsburgermonarchie hatte sich spätestens seit dem 16. Oktober aufgelöst. Eine geschlagene Armee trachtete sich in Italien und am Balkan vom Feind zu lösen. Hunderttausende Soldaten suchten meist auf eigene Faust der Gefangennahme zu entkommen. Mehr als 300.000 ist es nicht gelungen.1 Chaos brach aus und vermehrte eine ohnedies chaotische Situation im Hinterland. In den Kronländern der Habsburgermonarchie hatten sich schon Wochen zuvor Nationalräte gebildet, und was bis dahin ein so stabiles Gebilde in der europäischen Mitte gewesen war, verwandelte sich in ein Sammelsurium sich rasch befehdender Nationalstaaten. Kaiser Karl konnte darauf keinen Einfluss mehr nehmen. Er selbst hatte das Zeichen zur Auflösung gegeben, als er am 16. Oktober 1918 eine Proklamation verbreiten ließ, die als Völkermanifest bezeichnet wurde.2 Darin hatte es geheißen: »Seitdem Ich den Thron bestiegen habe, ist es Mein unentwegtes Bestreben, allen Meinen Völkern den ersehnten Frieden zu erringen, sowie den Völkern Österreichs die Bahnen zu weisen, auf denen sie die Kraft ihres Volkstums, unbehindert durch Hemmnisse

1

2

Vgl. Bruno Wagner: Der Waffenstillstand von Villa Giusti 3. November 1918, phil. Dissertation Universität Wien 1970; zur Vorgeschichte und den politischen wie militärischen Rahmenbedingungen vgl. Manfried Rauchensteiner: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien/Köln/Weimar 2013, hier bes. S. 995–1061. Vgl. Helmut Rumpler: Das Völkermanifest Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918. Letzter Versuch zur Rettung des Habsburgerreichs, Wien 1966.

130

Manfried Rauchensteiner

und Reibungen, zur segensreichen Entfaltung bringen und für ihre geistige und wirtschaftliche Wohlfahrt erfolgreich verwerten können. […] Österreich soll, dem Willen seiner Völker gemäß, zu einem Bundesstaate werden […]. So möge unser Vaterland, gefestigt durch die Eintracht der Nationen, die es umschließt, als Bund freier Völker aus den Stürmen des Krieges hervorgehen.« Die Formulierung des Kaisermanifests ging in mehreren Punkten an der Realität vorbei. Ungarn verweigerte ausdrücklich, dass das Manifest auch für die Länder der Stephanskrone gelten sollte. Die den größeren Teil der Monarchie, nämlich die österreichische Reichshälfte betreffenden Passagen waren insofern unrealistisch, als der Wille der Völker zur Bildung eines Bundessstaats lediglich in den Vorstellungen von Kaiser Karl existierte, und der »Bund freier Völker« bestenfalls Wunschdenken sein konnte. Ebendiese Völker hatten kurz nach der kaiserlichen Proklamation begonnen, gänzlich andere Tatsachen zu schaffen. Letztlich wollten sie nicht einmal mehr an der Liquidierung des Krieges teilnehmen. Nord- und Südslawen, Rumänen und Italiener sahen sich nicht mehr an die Habsburgermonarchie gebunden, und seit dem 21. Oktober war klar, dass auch die deutschen Österreicher ihrer eigenen Wege gehen würden.3 Kaiser Karl hätte sich einen Sozialdemokraten als (letzten) Ministerpräsidenten gewünscht, doch der Vorstand der österreichischen Sozialdemokratie verweigerte seine Zustimmung. Am 30. Oktober wurde in Wien die Gründung des Staates Deutschösterreich verkündet. Ob daraus eine Republik oder eine Monarchie entstehen sollte, machte man von der Entscheidung Deutschlands abhängig. Denn dass sich die Deutschen der Habsburgermonarchie an Deutschland anschließen wollten, wurde vorausgesetzt. Diesbezüglich wurde auch nicht bei Kaiser Karl nachgefragt. Er war allerdings keine Unperson geworden, konnte noch am 4. November im Wiener Stephansdom anlässlich seines Namenstages ein Tedeum feiern, und blieb auch weiterhin und im Gegensatz zu Kaiser Wilhelm II. in der Haupt- und Residenzstadt seines Reiches. Gerade in diesen Tagen der beginnenden Neuordnung Europas zeigte sich, dass in Österreich ein in Jahrhunderten gewachsener Ordnungssinn einen ungeordneten Übergang oder gar eine Revolution verhinderte. Mitglieder der letzten kaiserlich-österreichischen Regierung formulierten zusammen mit

3

An diesem Tag beschlossen die Abgeordneten der deutschsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie für den Fall, dass es zur Auflösung des Reiches kommen sollte, die Bildung eines eigenen Staates. Vgl. dazu Wilhelm Brauneder: Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht, Wien/München 2000; ferner und vor allem die Parteiengeschichte berücksichtigend vgl. Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hrsg.): Das Werden der Ersten Republik. Der Rest ist Österreich, 2 Bde, Wien 2008.

Machtvakuum an der Donau

131

Vertretern der neuen noch provisorischen Staatsregierung ein Dokument, das einen geordneten Übergang ermöglichen sollte. Kaiser Karl wurde der Verzicht auf die Teilnahme an den politischen Prozessen nahegelegt, und nachdem er nochmals seinen Friedenswillen an den Beginn eines diesbezüglichen Dokuments hatte setzen lassen, unterfertigte Karl das Schriftstück. Der Kernsatz lautete: »Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften«. 4 Damit war der Weg zur Ausrufung der Republik Deutschösterreich frei. Am 12. November erfolgte zum zweiten Mal die Proklamation des neuen Staates, diesmal freilich mit der auch staatsrechtlich konsequenten Bezeichnung Republik.5 Der bisherige Monarch machte seinen Verzicht auch dadurch deutlich, dass er seinen Herrschaftssitz, Schloss Schönbrunn, aufgab und das, was man bis dahin als »Allerhöchstes Hoflager« bezeichnet hatte, in das von Wien 20 Kilometer entfernte Jagdschloss Eckartsau verlegte. Hier unterschrieb Karl am 13. November eine weitgehend wortidente Verzichtserklärung für Ungarn. Auch dort wollte man – zumindest anfänglich – einen ähnlich geordneten Weg gehen wie in Wien. Von den übrigen Kronländern erwartete es offenbar keines, dass der Monarch einen Verzicht aussprach. Sie ignorierten ihn ganz einfach oder erklärten ihn für abgesetzt und seiner Herrschaftsrechte für verlustig. Natürlich glichen sich die Bilder in den bis dahin zur Habsburgermonarchie gehörenden Ländern insofern, als es überall Hunger gab, wochenlang Heerscharen auf dem Weg in ihre jeweils neuen Vaterländer durchzogen, Gewalt regierte und sich kaum so etwas wie Normalität einstellen wollte. Wohl gab es in Deutschösterreich als Folge dessen, dass sich der Hauptstrom der Heimkehrer über das Land ergoss, den Versuch, eine neue Ordnungsmacht, die Volkswehr, aufzustellen, doch sie wurde eher mit Misstrauen gesehen, als dass man ihr getraut hätte. Noch dazu bildeten sich unter dem Deckmantel der Volkswehr Rote Garden, die in kleineren Ortschaften zumindest zeitweilig die Macht an sich rissen und die Menschen tyrannisierten, alles unter der Vorgabe, für Ruhe und Ordnung sowie für soziale Gerechtigkeit sorgen zu wollen. Lokale Hilfskräfte, Heimwehren, schienen vor allem den westlichen und südlichen Landesteilen Deutschösterreichs eher geeignet, für Sicherheit zu sorgen; außerdem waren sie an Ort und Stelle. Dadurch entstand eine Konkurrenzsituation. Der große Unterschied lag freilich nicht nur in den regionalen Gegebenheiten, son-

4 5

Das Original der Verzichtserklärung ist beim Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 vernichtet worden. Vgl. dazu Manfried Rauchensteiner: Unter Beobachtung. Österreich seit 1918, Wien/ Köln/Weimar 2017, hier bes. S. 27 f. und die im Anmerkungsapparat genannte weiterführende Literatur.

132

Manfried Rauchensteiner

dern im Überregionalen und dem, was sich als Nachfolgestaaten bezeichnete, denn Nord- wie Südslawen konnten sich zu den Siegern zählen, während die deutschen Österreicher und die Ungarn das Odium der Kriegsschuld auf sich zu nehmen hatten. Es wäre ein »verdientes Schicksal«, hieß es.6 Doch man wollte sein Schicksal meistern. Keinesfalls stand am Anfang die These von der Lebensunfähigkeit Deutschösterreichs. Man machte sich Hoffnungen, dass Deutschösterreich ein ansehnliches Territorium umfassen würde und Hilfe von außen bekäme. In einem rasch verabschiedeten Gesetz über Umfang und Grenzen des Staatsgebietes wurden schließlich jene Länder und Gebiete genannt, auf die sich die Gebietshoheit erstrecken sollte, und das waren außer den sogenannten Erblanden auch Deutsch-Südmähren, Deutsch-Südböhmen, Deutschböhmen und das Sudetenland, wobei expressis verbis auch die deutschen Sprachinseln in tschechischen Gebieten und in Schlesien genannt wurden. Der Rechtsbereich der Republik sollte sich darüber hinaus auf alle von Deutschen bewohnten oder verwalteten Gebiete in Westungarn sowie in den slowenischen Gebieten des neuen südslawischen Staates und vor allem auf die deutschen Gebiete Südtirols erstrecken.7 Aber der sehr einseitige Akt, mit dem in Wien festgestellt wurde, was alles zu Deutschösterreich gehören sollte, war mit den anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie keinesfalls abgestimmt. Und dort dachte man nicht im mindesten daran, den Vorstellungen aus Wien zu entsprechen. Und dennoch: Am Anfang herrschte Optimismus. Man sah das Land als nationalen Einheitsstaat, in dem man nicht mehr auf andere Nationalitäten Rücksicht nehmen musste. Dann wurde zusammengezählt, was dieser neue Staat alles haben würde – immer vorausgesetzt, es würde ihm alles das zufallen, was man anfänglich in Rechnung stellte: Leistungsfähige Industrien, Eisen und andere Erze, Holz, Wasserkraft und vor allem Kapital. Österreich-Ungarn war im November 1918 keinesfalls bankrott, und im Geschäftsbericht der Österreichischen Postsparkasse hieß es darum: Es war ein gutes Geschäftsjahr! Auch die böhmischen Industrien würden ihre Kredite vornehmlich von deutschösterreichischen Instituten beziehen müssen, glaubten die Konzernherren in Wien. Die Kriegsgewinne müssten investiert werden, und wenn das alles so lief, dann sei die Lebensfähigkeit eines auch kleinen Landes kein Thema.

6 7

Friedrich Austerlitz, »Verdientes Schicksal«, Leitartikel in: »Arbeiter-Zeitung« Nr. 302 vom 5. November 1918. Eine Skizze der Gebietsansprüche bei Rauchensteiner, Unter Beobachtung (wie Anm. 5), S. 30 f.

Machtvakuum an der Donau

133

Wenn der Staat für die innere Ordnung sorgte, würde die Bevölkerung auch rasch Vertrauen zu ihm gewinnen.8 Doch das war primär die Stimme der Wirtschaft. Für die Masse der Bevöl­ kerung zählten andere Faktoren, und das waren vor allem Existenzsorgen und der Wunsch nach Halt in einer aus den Fugen geratenen Welt. Ein zweiter Blick auf jenes Land, das sich Deutschösterreich nannte, war denn auch weit weniger optimistisch. Und schon innerhalb weniger Wochen schwand die Hoffnung, die man in Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gesetzt hatte. Es wurde randaliert und kam zu Plünderungen. Gewalt griff um sich. Rote Garden und Soldatenräte waren nur zu sehr bereit, Gewalt einzusetzen. Und sie wollten nicht einfach zusehen, wie sich da sehr ordentlich und immer auf die Verwaltungsabläufe bedacht, Rechtskontinuität wahrend und bewusst legal, ein neuer Staat definierte. Der Nährboden für Umsturzversuche war auf jeden Fall vorhanden, und die Not wirkte wie ein Treibsatz. Weder aus Ungarn noch aus Polen oder der Tschechoslowakei waren nennenswerte Nahrungsmittelmengen zu beziehen, und wenn, dann nur im Tausch. Der Staatssekretär des Äußern in Wien, Otto Bauer, versuchte es daher mit einer nicht ganz abwegigen Interpretation: Er erbat Hilfe von den USA für die demokratische Neuschöpfung, die so wie die Nachbarn im Norden und Süden Nachfolgestaaten und daher ohne Schuld wären.9 Das wurde von den USA wohl anders gesehen, doch sie lenkten insofern ein, als sie sich bereit erklärten, Deutschösterreich zu beliefern, also nicht wie im Fall Deutschlands die Embargo-Maßnahmen weiterhin aufrecht zu erhalten. Allerdings konnten die Nahrungsmittel nur gekauft werden, und damit Deutschösterreich nicht etwa einer Zahlungsverpflichtung entging, wurden schließlich Goldbestände der Österreichisch-Ungarischen Bank nach Italien transferiert und dienten als Deckung. Der Verlust der Goldreserven war aber nur eine von vielen Drohungen, die zur Diskussion standen, und es war ungemein leicht, Deutschösterreich unter Druck zu setzen. Man musste nur in den Raum stellen, dass man auch die bescheidenen Lebensmittel- und vor allem die Kohlelieferungen einstellen würde – und schon schien es zu klappen. Mittlerweile hatte auch eine Reihe von Kommissionen ihre Tätigkeit aufgenommen: Eine alliierte Waffenstillstandskommission, Restitutionskommissionen, die den Abtransport von Kulturgütern überwachten, und vor 8 9

Ebd., S. 28 f. Hanns Haas, Österreich und die Alliierten 1918–1919, in: Isabella Ackerl (Hrsg.): SaintGermain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979 in Wien, Wien 1989, S. 11–40, hier S. 27.

134

Manfried Rauchensteiner

allem Delegationen einiger Nachfolgestaaten, die die Akten der Zentralverwaltung und die Archive durchforsteten und die sie betreffenden (oder auch nicht betreffenden) Teile festlegten und abtransportierten. Dazu kamen diplo­ matische Vertretungen, die sich berufen fühlten, Österreich zu überwachen und ihm notfalls auch zu drohen. Interessant dabei war, dass man handelte wie ehedem: Wien wurde als Zentrum für die diversen Tätigkeiten genommen und je nach Bedarf nach Budapest oder auch nach Prag gereist. Dass das gerade in Budapest scharf kritisiert wurde, ist nicht weiter verwunderlich. Zwischen Deutschösterreich und Ungarn gab es allerdings markante Unterschiede, denn während man sich in Wien mit seinem Schicksal abzufinden begann und eine Provisorische Staatsregierung trachtete, irgendwie Ordnung zu schaffen und eine Revolution zu verhindern, wollte sich Ungarn nicht mit den Tatsachen abfinden. In Budapest wollte man nicht einmal den vom k. u. k. Armeeoberkommando in der Villa Giusti für die gesamte Monarchie abgeschlossenen Waffenstillstand akzeptieren, pochte auf die erlangte Unabhängigkeit und verhandelte in Belgrad über einen eigenen Waffenstillstand. Der Ministerpräsident der Übergangsregierung, Alexander Károlyi, hielt sich zu Gute, dass er Oppositioneller gewesen war, Pazifist und frankophil, weshalb er moderate Bedingungen erwartete. Der Vertrag von Trianon, den Ungarn schließlich akzeptieren musste, hatte allerdings nicht minder drückende Lasten zur Folge wie der in Italien unterzeichnete Vertrag und schloss das Recht der Siegermächte ein, sich auf dem Territorium der besiegten Staaten frei zu bewegen. In Deutschösterreich wurde denn auch zähneknirschend zur Kenntnis genommen, dass die Tschechen über die alten Kronlandgrenzen hinausgehend Gebiete besetzten, und man zögerte auch lange, den schon im November 1918 nach Kärnten und in die Steiermark vordringenden südslawischen, vor allem slowenischen Truppen, die ebenfalls territoriale Ansprüche erhoben, mit Waffengewalt zu begegnen.10 Mangels anderer Möglichkeiten begannen sich lokale Wehrverbände zu bilden und die reichlich vorhandenen Waffen gegen die ehemaligen Kameraden einzusetzen. Doch auch in Wien und nicht nur bei den nördlichen und südlichen Nachbarn Deutschösterreichs wollte man so tun, als ob man in der Lage wäre, vollendete Tatsachen zu schaffen. Schließlich war am Tag der Ausrufung der Republik Deutschösterreich auch das Staatsgrundgesetz verabschiedet worden, in dessen Artikel 2 es hieß: »Deutschösterreich ist Teil der deutschen Republik«. 10 Zu den territorialen Problemen und Grenzkämpfen vgl. Ludwig Jedlicka: Vom alten zum neuen Österreich. Fallstudien zur österreichischen Zeitgeschichte 1900–1975, St. Pölten/Wien 21977.

Machtvakuum an der Donau

135

Wenig später relativierte sich das Anschlussstreben, und man musste zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland von den österreichischen Avancen nur mäßig angetan war.11 Vor allem befürchtete man in Berlin, dass ein Zuwachs um Österreich – wenn er überhaupt möglich war – von den Siegermächten mit verschärften Friedensbestimmungen beantwortet werden würde. Deutschland wäre ja solcherart gestärkt aus dem Krieg hervorgegangen. Es blieb bei der Ungewissheit. Zunächst galten in Deutschösterreich die Anstrengungen der Vorbereitung erster allgemeiner Wahlen, bei denen im Übrigen auch Frauen das Stimmrecht besitzen sollten. Das Ergebnis der Wahlen am 16. Februar 1919 mochte für manche Beobachter ernüchternd sein, denn auch da lief alles ordentlich, regelrecht gemäßigt ab und unterstrich, dass sich Österreich letztlich nicht für Revolutionen eignete. Eine große Koalition unter sozialdemokratischer Führung wurde gebildet und begann mit einer weit größeren Legitimation als die vorangegangene Provisorische Regierung das noch immer konturlose Land zu steuern. Eine Weichenstellung hatte es aber zweifellos gegeben: Wien, wo rund ein Drittel der Menschen des Landes lebte, war »rot«, für die westlichen Bundesländer sogar »erzrot«, geworden. Die Reaktion, etwa in Vorarlberg, war unmissverständlich: In dem Land, das als erstes seinen Beitritt zur Republik Deutschösterreich erklärt hatte, begann eine massive Werbung für den Anschluss Vorarlbergs an die Schweiz, nicht aber, weil man um jeden Preis dort hinwollte, sondern als Absage an Wien. Ein Vorarlberger Abgeordneter drückte es dann auch ganz schlicht aus: »Wien kennt die Vorarlberger nicht, und wir wollen nichts von den Wiener Juden wissen.«12 Allerdings gab es auch Überlegungen, Vorarlberg an Bayern oder Württemberg anzuschließen. Am 11. Mai 1919 stimmten dann in einer Volksabstimmung rund 80 Prozent der Bevölkerung für den Anschluss Vorarlbergs an die Schweiz. Dort war man hin- und hergerissen, wollte aber letztlich einen Anschluss Vorarlbergs nur im Einvernehmen mit Wien realisiert sehen. Mehr noch: In Bern setzte sich die Meinung durch, man sollte nicht anfangen, Österreich zu zerstückeln. Der Oberste Alliierte Rat in Paris, der das Gericht der Sieger vorbereitete, konnte dem nur zustimmen. Aber eines war sicher: Wien war für die westlichen und südlichen Bundesländer das sprichwörtliche rote

11 Andreas Hillgruber: Das Anschlussproblem (1918–1945) – aus deutscher Sicht, in: Robert A. Kann/Friedrich E. Prinz (Hrsg.): Deutschland und Österreich. Ein bilaterales Geschichtsbuch, Wien 1980, S. 161–178, hier S. 162. 12 Christine Koller: »---- der Wiener Judenstaat, von dem wir uns unter allen Umständen trennen wollen«. Die Vorarlberger Anschlussbewegung an die Schweiz, in: Das Werden der Ersten Republik (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 83–102, hier S. 86 f.

136

Manfried Rauchensteiner

Tuch geworden. Und genau das, wenngleich aus anderen Gründen, war es auch für Ungarn. Dort setzte man alle Hoffnungen auf Wien. Die Magyaren waren von allem Anfang an von der Unantastbarkeit des nationalen Besitzstandes ausgegangen. Das Land, die Krone, waren selbstverständliche Größen, weit mehr als in anderen Reichsteilen, und vor allem glaubte man in Ungarn, sich notfalls immer auch auf die historischen Mythen beziehen zu können. Dazu kam ein Überlegenheitsgefühl, das bis 1917 auch und besonders gegenüber der österreichischen Reichshälfte bestanden hatte, denn in Ungarn hatte vieles funktioniert, nicht zuletzt auch der Parlamentarismus, der in Österreich der Obstruktion zum Opfer gefallen war. Am 16. November 1918 wurde in Budapest die Volksdemokratie ausgerufen, und es dauerte Wochen, ehe auch Ungarn immer mehr von den Realitäten der unmittelbaren Nachkriegszeit eingeholt wurde.13 Ungarn verspielte in der Folge im selben Ausmaß seine anfänglichen Chancen durch eigenes Verschulden, wie es von außen her in Bedrängnis geriet. Schon im Dezember 1918 zeigte sich, dass der Belgrader Waffenstillstand von Rumänen und Serben ignoriert wurde. Und auch die Tschechen wollten vollendete Tatsachen schaffen. Sie rückten über die alte Landesgrenze vor und begannen in der Slowakei jene Territorien zu besetzen, die sie als die ihren ansahen. Dabei gingen sie über die geschlossenen Siedlungsräume genauso hinaus, wie sie das in Deutsch­österreich taten und besetzten auch national gemischte Gebiete.14 Die Regierung Károly war restlos überfordert. Die sich landesweit bildenden Freischärler-Organisationen agierten völlig ungeniert. Es wurde geplündert und besetzt. Man vertrieb die alten königlichen Beamten, wobei es auch zu Lynchjustiz und Ermordungen kam.15 Und es war absehbar, dass Ungarn auch dem zunehmenden Druck von außen nicht mehr lange würde Stand halten können. Innerhalb der Károlyi-Regierung war man hin- und hergerissen, ob man sich dem Vorrücken der Tschechen in der Slowakei und dem der Rumänen entgegensetzen sollte oder nicht. Noch immer gab es Embargo-Maßnahmen, und die Tschechen verstärkten den Druck – wie auch im Fall Österreichs –, indem sie die Kohlelieferungen aussetzten.

13 György Litván: The Home Front during the Károlyi Regime, in: Peter Pastro (Hrsg.): Revolutions and Interventions in Hungary and its Neighbour States, 1918–1919, New York 1988, S. 123–130, hier S. 123. 14 Ebd., S. 124. 15 Zsuzsa L. Nagy: The Hungarian Democratic Republic and the Paris Peace Conference, 1918–1919, in: Revolutions and Interventions (wie Anm. 13), S. 261–275, hier S. 265.

Machtvakuum an der Donau

137

Károlyi und die Regierung von Ministerpräsident Dénes Berinkey traten zurück. Sozialdemokraten und Kommunisten erzielten schnell eine Übereinkunft zur Vereinigung der beiden Parteien und übernahmen die Macht. Am 21. März bildete ein ungarischer Heimkehrer aus Russland, Béla Kun, eine neue, letztlich bolschewistische Regierung. Kun und seine Parteigänger wollten die »Imperialisten«, die sie in der Tschechoslowakei und in Rumänien am Werk sahen, stoppen. Dabei träumten sie auch noch den Lenin’schen Traum von der Weltrevolution mit und sahen schon Deutschland und Österreich kommunistisch werden, glaubten aber auch an eine Revolution in Prag.16 Die Räterepublik wurde von der Mehrheit des Bürgertums und sogar von einem Teil der Offiziere mit Begeisterung begrüßt, vielleicht gerade deshalb, da sie von den Kommunisten einen energischen Kampf um ungarische Gebiete erwarteten. Kurz darauf wurde damit begonnen, die ungarische Rote Armee aufzustellen. Die Siegermächte wollten ein Zusammengehen Ungarns mit den Bolschewiken in Russland um jeden Preis verhindern. Das aber war genau das Ziel Béla Kuns. Auch seine Räterepublik war zur Anwendung von Gewalt entschlossen. Sie entsandte die sogenannten »Lenin-Jungen«, um Streiks und Meutereien niederzuschlagen. Am 19. April ordnete der Revolutionsrat der Räterepublik die allgemeine Mobilmachung des ungarischen Proletariats an. Die Revolution sei in Gefahr, hieß es.17 Doch die ungarischen Kommunisten mussten ihren Traum allein weiterträumen. Sie scheiterten vorerst nicht nur bei dem Versuch, gegen Rumänen und die Tschechoslowaken militärisch zu bestehen. Was sie wohl als den schlimmsten und entscheidenden Rückschlag empfinden mussten, war das Scheitern ihrer Bemühungen, die Revolution nach Deutschösterreich zu exportieren. Otto Bauer, der österreichische Staatssekretär des Äußeren, hätte das kommunistische Regime tatsächlich gerne unterstützt, doch er konnte dreierlei nicht ignorieren: Den innerparteilichen Widerstand der Sozialdemokraten, den innerösterreichischen Widerstand, der ihm aus dem Westen und Süden des Landes entgegenschlug, und vor allem nicht die massiven Drohungen der Siegermächte, die nicht müde wurden, Deutschösterreich von einer Unterstützung der ungarischen Bolschewiken abzuhalten. Der britische Militär16 Mária Ormos: The Foreign Policy of the Hungarian Soviet Republic, in: Revolutions and Interventions (wie Anm. 13), S. 357–365, hier S. 358. 17 László Fogarassy: The Eastern Campaign of the Hungarian Red Army, April 1919, in: Revolutions and Interventions (wie Anm. 13), S. 31–54, hier S. 40.

138

Manfried Rauchensteiner

delegierte in Wien kleidete es in die einfache Formulierung: Unruhen werden mit dem Hungertod bestraft. Schließlich forderten die Alliierten, dass Österreich möglichst diskret von den im Land verstreuten und versteckten Waffenbeständen 150.000 Gewehre und 200 Maschinengewehre sowie größere Mengen an Munition in die Tschechoslowakei verschob, widrigenfalls – man kann es unschwer erraten: die Lebensmittellieferungen eingestellt würden. Ein weiteres Problem hatte sich mittlerweile für Ungarn wie Deutschösterreicher mehr oder weniger erledigt: Der letzte Kaiser und König der Habsburgermonarchie, Karl, hatte sich nach langem Zögern bereitgefunden, sein Schloss Eckartsau im Marchfeld zu verlassen und sich ins Exil in die Schweiz zu begeben. Dem war ein monatelanges Ringen vorausgegangen. Schon am Tag seiner Verzichtserklärung hatte er in den Raum gestellt, »in die Schweiz« gehen zu wollen.18 Anfänglich war überlegt worden, dass der Ex-Kaiser eventuell bei den Friedensverhandlungen eine Rolle spielen könnte. Das vertrug sich allerdings nicht mit der in der Provisorischen Verfassung niedergelegten Absicht, Deutschösterreich an Deutschland anzuschließen, denn Karl wollte wohl alles Mögliche, nur keinen Anschluss. Ab Dezember wurde im Staatsdirektorium über eine Abdankung und über die Exilierung Karls gesprochen. Eine Anfrage in der Schweiz, ob man bereit wäre, Karl aufzunehmen, wurde von der Eidgenossenschaft abschlägig beschieden. Im Januar fuhr der Provisorische Staatskanzler, Karl Renner, nach Eckartsau und wollte den Kaiser sprechen. Er wurde nicht vorgelassen, da er nicht um eine Audienz angesucht hatte.19 Dann wurde Stimmung gemacht: In Eckartsau gab es noch immer eine Art Hofhaltung einschließlich einer Hofküche, während die »einfachen Menschen« hungerten. Im Schlosspark wurden Wilderer und alle möglichen finsteren Gestalten gesichtet. Der Kaiser wäre daher nicht mehr sicher. Ehe eine Entscheidung fiel, sollten aber die ersten allgemeinen Wahlen abgehalten werden. Am 16. Februar 1919 stand fest, dass die Sozialdemokraten den Staatskanzler stellen würden. Der Druck auf Karl nahm zu. Man fragte bei den Siegermächten an, ob dem Kaiser eine Art persönlicher Schuld am Krieg vorgeworfen würde. Das wurde klarerweise verneint. Dann schaltete sich Großbritannien ein und schickte eine Handvoll Soldaten nach Eckartsau, die für die Sicherheit Karls sorgen sollten. Schließlich willigte der Ex-Kaiser im März ein, das Land zu verlassen. Er tat das dann

18 Fritz Fellner/Doris A. Corradini (Hrsg.): Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869–1936, Wien/Köln/Weimar 2011, S. 468. 19 Clemens Jabloner: Person, Amt und Institutionen, in: Thomas Olechowski/Klaus Zeleny (Hrsg.): Methodenreinheit und Erkenntnisvielfalt. Aufsätze zur Rechtstheorie, Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte, Wien 2013, S. 351–358, hier S. 354, Anm. 8.

Machtvakuum an der Donau

139

nicht bei Nacht und Nebel, sondern mittels eines Sonderzuges, der ihn zwar bei Nacht durch Wien führte, am 24. März aber ganz Österreich durchquerte. Am Bahnhof Feldkirch will der aus der Schweiz nach Österreich zurückkehrende Stefan Zweig in seinem Zug direkt gegenüber dem Sonderzug Kaiser Karls zum Stehen gekommen sein. Zweig sah zu, wie dessen Zug anfuhr. »Die Beamten sahen ihm respektvoll nach. Dann kehrten sie mit jener gewissen Verlegenheit, wie man sie bei Leichenbegräbnissen beobachtet, in ihre Amtslokale zurück. […] Ich wusste, es war ein anderes Österreich, eine andere Welt, in die ich zurückkehrte.«20 (Eine schöne Erzählung einer Episode, die so nie stattfand). Ehe Ex-Kaiser Karl am späten Nachmittag die Grenze zur Schweiz überquerte, zog er sich nicht nur um und verwandelte sich von einem k. u. k. Feldmarschall in einen Anzugträger, sondern tat auch etwas, das nicht nur ihm, sondern seiner ganzen und weit verzweigten Familie ein nennenswertes und letztlich bis in die Gegenwart reichendes Problem bescherte: Karl widerrief seine Verzichtserklärung vom 11. November 1918. Er verpackte diesen Widerruf in einen längeren Brief an Papst Benedikt XV., machte ihn aber bewusst öffentlich. Er begründete seinen Schritt damit, dass ihm sein Verzicht abgepresst worden sei und er eine Volksabstimmung über den Fortbestand der Monarchie erwartet habe. Schließlich argumentierte er seinen Schritt mit der sehr einfach klingenden Begründung, dass man einen Kaiser von Gottes Gnaden nicht absetzen könne. Kaiserin Zita ergänzte noch in den Siebziger und Achtziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts in mehreren Interviews: Einen Kaiser könne man umbringen, dann käme eben ein anderer, doch absetzen könne man ihn nicht.21 (Der russische Zar Nikolaj II. und die Zarin Alexandra hatten nicht unähnlich argumentiert). Die Republik Deutschösterreich antwortete am 3. April 1919 mit der Landes­ verweisung aller Angehörigen der Familie Habsburg-Lothringen, die sich nicht zur österreichischen Verfassung bekannten, sowie mit der Enteignung des habsburgischen Besitzes. Außerdem wurden auch alle Vorrechte und Titel abgeschafft,22 wodurch sich ein Fürst Montenuovo in einen Herrn Montenuovo verwandelte – aber natürlich scheute sich jeder, ihn so anzureden – man war ja schließlich in Österreich. Und im Übrigen ging die Aberkennung der Titel auch nicht so weit,

20 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 1989, S. 323–327. 21 Siehe: Kaiser und König Karl I. (IV.). Politische Dokumente aus Internationalen Archiven, hrsg. von Elisabeth Kovacs, Bd. 2, Wien/Köln/Weimar 2004. Der Text der Verzichtserklärung ist auf dem Umschlag abgedruckt. 22 Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich. Jg. 1919, 71. Stück, Nr. 209.

140

Manfried Rauchensteiner

dass man auch die Hofräte und Münzwardeine abgeschafft hätte. Adalbert (Graf) Sternberg, hat auf das Gesetz über die Adelsaufhebung auf eine durchaus originelle Art reagiert, indem er sich Visitenkarten drucken ließ, auf denen er unter seinem Namen anmerkte: »Geadelt unter Karl dem Großen / entadelt unter Karl Renner«.23 Das Gesetz vom 3. April 1919 gilt übrigens heute noch! Dass Kaiser Karl auch seinen Verzicht einer Einflussnahme auf die politischen Vorgänge in Ungarn zurücknahm, regte in Budapest zum wenigsten auf, denn dort setzte man ohnedies im März und April auf »Weltrevolution« und wollte Deutschösterreich mitreißen. Die Möglichkeit eines Zusammengehens von Österreich und Ungarn zeigte bei den Siegermächten insofern Wirkung, als Italiener und Franzosen über eine militärische Intervention verhandelten. Italien wollte gegebenenfalls ein italienisch besetztes und kontrolliertes Österreich und ein von Franzosen kontrolliertes Ungarn sehen. Auch der Vatikan wünschte sich ein Eingreifen der Alliierten in Österreich. Doch schon am 27. März 1919 einigten sich die Siegermächte im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz darauf, dass es keine Intervention geben sollte. Ein rascher Friedensschluss und die Wiederaufnahme des internationalen Handels sollten die Gefahr weit wirkungsvoller bekämpfen als eine militärische Intervention, hieß es aus Paris. Trotz der seit Januar anrollenden Hilfslieferungen war die existentielle Not in Österreich noch immer außerordentlich, und da man im Grunde genommen kaum etwas geschenkt erhielt, war nur der Umstand hervorhebenswert, dass überhaupt etwas geliefert wurde. Im März, zeitgleich mit der Exilierung Kaiser Karls, wurde die alliierte Blockade gegen Österreich demonstrativ beendet. Österreich durfte allerdings keine Güter nach Deutschland oder Ungarn exportieren. Diese Einschränkung ließ die Arbeitslosigkeit steigen. Der Klassenkampf gewann an Schärfe. Und es blieb nicht bei den radikalen Phrasen, sondern kam immer wieder zu Gewalttätigkeiten, welche die Angst der Bevölkerung schürten. Die radikale Linke bereitete für den 17. April 1919 einen bewaffneten Aufstand vor, der auch in Deutschösterreich zur Installierung einer Räteregierung führen sollte. Die ungarischen Kommunisten setzten alle Hoffnung in diese Aktion. In der ungarischen Presse mehrten sich im April Tag für Tag enthusiastische Berichte über das Anwachsen der kommunistischen Bewegung in Österreich. Aus Ungarn sickerten auch Bewaffnete in das Nachbarland ein. Das kommunistische Regime in Budapest wollte sich die Revolutionierung Österreichs sogar einiges kosten lassen und schickte Geld.24 23 Hans Rochelt (Hrsg.): Adalbert Graf Sternberg 1868–1930. Aus den Memoiren eines konservativen Rebellen, Wien 1997, S. 7. 24 Vgl. Rauchensteiner, Unter Beobachtung (wie Anm. 5), S. 40 f.

Machtvakuum an der Donau

141

Am 17. April instrumentalisierten schließlich kommunistische Agitatoren eine Versammlung von Heimkehrern und Arbeitslosen in Wien zum Sturm auf das Parlament. Teile der Volkswehr griffen auf Seite der Kommunisten in die Kämpfe ein. Die Masse der Volkswehr blieb jedoch regierungstreu. Ein allgemeiner Aufstand blieb aus. Die Rädelsführer wurden verhaftet, und es ließ sich mit einiger Berechtigung sagen, dass die Revolutionierung Österreichs an der Sozialdemokratie gescheitert war. Im Juni sollte es noch einmal kritisch werden. Dafür gab es zwei Ursachen: Die Entente, vor allem der italienische Bevollmächtigte für die Überwachung des Waffenstillstands, General Giulio Segré, hatten in Wien ultimativ die Reduktion der Volkswehr gefordert. Die radikale Linke wollte nochmals alles auf eine Karte setzen. Abermals kamen Geld und Agitatoren. Die ungarische Gesandtschaft spielte eine Schlüsselrolle, und man versuchte alles, um die Erregung über den Abbau der Volkswehr von mehr als 50.000 Mann auf 12.000 Mann zu nützen. Der Wiener Polizeipräsident Johann Schober ließ jedoch am Vorabend der geplanten Aktion 122 kommunistische Funktionäre verhaften. Die Bewegung war führerlos, und ein Sturm auf das Gefangenenhaus endete im Kugelhagel der Polizei. Die radikale Linke hatte ein Debakel erlitten und spielte fortan keine Rolle mehr. Und die ungarische Räterepublik ging ihrem Ende entgegen. Im August 1919 floh Béla Kun nach Österreich. Die sechs Monate seiner Diktatur hatten für Ungarn allerdings schwerwiegende Folgen: Das Land war von den Alliierten nicht nach Paris eingeladen worden, um einen Friedensvertrag abzuschließen. Ganz anders Deutschösterreich. Der Friedensvertrag Seit Dezember 1918 war in Wien intensiv darüber nachgedacht worden, was im Rahmen eines Vertrages der Siegermächte mit Deutschösterreich alles geregelt werden sollte. Da man sich als Nachfolgestaat und nicht als seinerzeit kriegführenden Staat sah, wurde zunächst davon ausgegangen, dass die Alliierten mit Österreich einen Staatsvertrag und keinen Friedensvertrag abzuschließen hätten. Zunächst hatte man auch gedacht, dass sich alles mehr oder weniger schnell erledigen ließe, denn Deutschösterreich sollte ja – wie es im Staatsgrundgesetz hieß – Teil der Deutschen Republik werden. Wichtig würde daher nur sein, was im deutschen Friedensvertrag stand. Aber die Realität schien alle Planungen zu überholen. In Wien wartete man monatelang auf eine Einladung nach Paris. Trotz intensiver Vorbereitungen war man sich aber noch über ganz wesentliche Punkte im Unklaren. Vor allem wusste man nicht, ob der Anschluss an Deutschland noch zu verhandeln war. Das innenpolitische Klima verschärfte sich. Die Christlich­

142

Manfried Rauchensteiner

sozialen wandten sich strikt dagegen, dass der Staatssekretär des Äußeren, Otto Bauer, österreichischer Delegationsleiter sein sollte, so wie das Ulrich von Brockdorff-Rantzau im Fall des Deutschen Reiches war. Denn Bauer sei ein so kompromissloser Befürworter des Anschlusses an Deutschland und obendrein Sympathisant des ungarischen Rätesystems, dass er mit seiner Haltung eher provozieren als Kompromissbereitschaft signalisieren könne. Er galt zudem als strikt antifranzösisch. Somit sei er ungeeignet, Österreich bei den in SaintGermain-en-Laye anberaumten Verhandlungen zu vertreten. Da sich kein vergleichbarerer Spitzenrepräsentant fand, fungierte schließlich Staatskanzler Karl Renner als Delegationsleiter. Mitte Mai 1919 kam die österreichische Delegation nach Paris. Sie wurde in Saint-Germain isoliert. Dann wurde mitgeteilt, dass die Österreicher nur als Auskunftspersonen geladen waren. Sie sollten keinesfalls mitverhandeln dürfen. Auch der Status Österreichs wurde ohne Umschweife zur Kenntnis gebracht: Österreich sei als kriegführende Partei geladen und hätte daher volle Verantwortung für den Krieg und seine Folgen zu tragen. Die Frage der Rechtskontinuität, die von der Habsburgermonarchie auf Österreich übergegangen wäre, war von den Alliierten zwar diskutiert worden, und Präsident Woodrow Wilson war ebenso wie der britische Premier Lloyd George dagegen gewesen, Deutschösterreich als Rechtsnachfolger zu sehen. Doch letztlich wogen die Interessen Frankreichs, Italiens und der neuen Verbündeten, vor allem der Tschechen, schwerer. Die Deutschen in Österreich wären immer Träger des Staatsgedankens gewesen, hieß es. Daher müssten sie nun auch für den Krieg einstehen. Und was das Territorium anbelangte, so hieß es recht einfach: Die Habsburgermonarchie sei 1526 aus einem Kern von Ländern entstanden, auf die Österreich jetzt wieder reduziert werde.25 Den Alliierten machten denn auch die territorialen Fragen am wenigsten Kopfzerbrechen. Südtirol sollte, wie von den Alliierten 1915 mit Italien vereinbart, an den Apenninenstaat gehen. Die Alliierten wollten aber auch keine Debatten über die Nordgrenze. Ab Juni 1918 hatte Frankreich die Forderung der Exiltschechen nach den sogenannten historischen Grenzen der Tschecho-Slowakei unterstützt. Die anderen Alliierten waren zurückhaltend geblieben. Doch die Tschechen wollten kein Risiko eingehen und hatten daher ab Dezember alle von ihnen geforderten Gebiete besetzt. Ganz zufrieden war man in Prag noch immer nicht. Bis schließlich auch Präsident Tomáš Masaryk auf jene Wünsche 25 Robert Hoffmann: Die Mission Sir Thomas Cuninghames in Wien 1919. Britische Österreichpolitik zur Zeit der Pariser Friedenskonferenz, phil. Dissertation Universität Salzburg 1971, S. 188.

Machtvakuum an der Donau

143

zu sprechen kam, die das eigentliche Ziel sein müssten: Wien und der Großteil Niederösterreichs sollten tschechisch werden. Von der Tschecho-Slowakei sollte eine Landbrücke zum Staat der Serben, Kroaten und Slowenen führen und Österreich definitiv von Ungarn trennen.26 Die Kärntner Frage und die Grenzziehung der Steiermark drohten vollends in Streit und Krieg zu münden. Nach der Besetzung von Teilen des Klagenfurter Beckens durch südslawische Truppen schien auch da eine Vorentscheidung gefallen zu sein. Doch auch in diesem Fall hieß es: Die Grenzen werden in Paris gezogen. Am 30. Mai meinte Präsident Wilson sogar in voller Übereinstimmung mit Ministerpräsident Clémenceau, man sollte den »jugoslawischen Freunden« einen Brief schreiben, um ihnen klar zu machen, dass die Ergebnisse der Kämpfe ohne Einfluss auf die Grenzziehung sein würden.27 Da sich das südslawische Königreich damit nicht zufriedengeben wollte, dass man sich auf eine Demarkationslinie südlich von Klagenfurt und dem Wörthersee zurückziehen musste, nahmen die Alliierten eine etwas drohendere Haltung ein und erklärten, es wäre noch nicht ausgemacht, dass nicht auch Kroatien und Slowenien, die ja zur Habsburgermonarchie gehört hatten, Feindesland seien und dementsprechend behandelt würden. Die Italiener demonstrierten das sogar. Für das strittige Gebiet Kärntens wurde schließlich in Saint-Germain eine Volksabstimmung anberaumt, die am 10. Oktober 1920 ein klares Votum für den Verbleib bei Österreich ergab. Ähnlich wurde im Fall Deutschwestungarns verfahren, das zu Österreich geschlagen werden sollte. Nur für die Hauptstadt des Komitats Ödenburg (Sopron) wurde schließlich eine Volksabstimmung gefordert, die im Dezember 1921 durchgeführt wurde. Sopron blieb bei Ungarn. Doch das waren nur einige der Hauptfragen, die mit dem Friedensvertrag geregelt werden sollten. Viele Vertragsteile waren schon fertig gewesen, als die deutschösterreichische Delegation nach Saint-Germain kam. Dabei hatten sich ganze Partien aus den Statuten für den Völkerbund übernehmen lassen, anderes, vor allem auch die Passagen der Einleitung, fanden sich bereits im Friedensvertrag von Versailles. Die Kriegsschuld wurde – wie im Fall Deutschlands – uneingeschränkt bei Österreich gesehen und stellte die Grundlage dafür dar, dass dem besiegten Land, das aus seinem Staatsnamen auch das Präfix »Deutsch« zu streichen hatte, Lasten auferlegt werden konnten.28 Es sollte

26 Rauchensteiner, Unter Beobachtung (wie Anm. 5), S. 50. 27 Ludwig Jedlicka: Aufteilungs- und Einmarschpläne um Österreich 1918–1934, in: Ludwig Jedlicka, Vom alten zum neuen Österreich. Fallstudien zur österreichischen Zeitgeschichte 1900–1975, St. Pölten 1975, S. 147–165, hier S. 148. 28 Artikel 177 des Vertrages von St. Germain.

144

Manfried Rauchensteiner

Reparationen zahlen. Die Höhe war noch nicht festgelegt worden. Doch es ging auch noch um weiterreichende finanzielle Fragen, und in diesem Fall hatten die Außenminister und der Oberste Alliierte Rat nach einigem Zögern doch ihren eigenen Experten und nicht den Wünschen der befreundeten Nachfolgestaaten Gehör geschenkt. Die Auslandsschulden der Habsburgermonarchie sollten auf alle ehemals dazu gehörenden Teile übertragen und nicht von Österreich allein getilgt werden – was ohnedies ein Ding der Unmöglichkeit geworden wäre.29 Im Abstand von Wochen wurden Österreich alle Teile des Vertrags übergeben. Verhandlungen gab es nicht; Einwände konnten nur schriftlich bekannt gegeben werden. Die allermeisten wurden verworfen. Bei den militärischen Bestimmungen hatte Österreich ohnedies nur einige Proforma-Einwände und gab sich zufrieden, dass die bewaffnete Macht nur mehr ein Berufsheer von 30.000 Mann zählen sollte, es keinen Generalstab, keine Luftwaffe und keine Kanonen mehr besitzen durfte, die über 30 Kilometer schießen konnten. Damit war sichergestellt, dass eine ohnedies erst zu bildende Streitmacht kaum mehr tun konnte, als eine Grenzbeobachtung wahrzunehmen und sich auf innenpolitische Aufgaben zu beschränken. Damit wurde der Grundstein für eines der größten zukünftigen Probleme des Landes gelegt: Der staatlichen Führung wurde das Machtmonopol verwehrt. Ein wesentlicher Punkt des Vertrags war aber bis zum Hochsommer noch nicht angesprochen worden, nämlich die Frage eines Anschlusses Österreichs an Deutschland. Das Anschlussverbot war zunächst nur von Frankreich wirklich gewünscht worden, um einen möglichen Gebietszuwachs Deutschlands zu verhindern. Die USA, Großbritannien und Italien waren eher für den Anschluss gewesen, zumindest war er ihnen gleichgültig. Doch im März 1919, als in Versailles die Grenzen Deutschlands festgelegt wurden, wurde auch eine Grenze im Südosten gezogen, die verhindern sollte, dass sich Deutschland vergrößerte. Mit dieser Festlegung entsprach Frankreich durchaus dem, was eine ganze Reihe von Staaten erwartet und regelrecht gefordert hatte. Die Tschechoslowakei war gegen den Anschluss. Jugoslawien war dagegen, ja sogar die Schweiz protestierte gegen die »Hypothese der Vereinigung«. Das folglich im Umweg über Deutschland unabhängig gedachte Österreich, das zu einer Art Funktion des Deutschlandvertrags wurde, sollte neutral werden, und damit es dabei blieb, sollte der Völkerbund den französischen Vorstellungen folgend, eine Garantie aussprechen.30 Es kam nicht dazu, und auch Frankreich ließ die Idee fallen. 29 Rauchensteiner, Unter Beobachtung (wie Anm. 5), S. 53. 30 Vgl. Stephan Verosta: Für die Unabhängigkeit Österreichs, in: Isabella Ackerl/Rudolf Neck (Hrsg.): Österreich November 1918. Die Entstehung der Ersten Republik. Pro-

Machtvakuum an der Donau

145

Die österreichische Delegation wurde erst mit dem dritten Entwurf des Friedensvertrags offiziell vom Verbot eines Anschlusses an Deutschland informiert und reagierte mit gespieltem Entsetzen. Denn was hatte man gedacht, nachdem der diesbezügliche Artikel 80 schon längst im Versailler Vertrag stand und im Reichs-Gesetzblatt vom 12. August 1919 kundgemacht worden war? Am 10. September 1919 unterzeichnete Karl Renner den Friedensvertrag von Saint-Germain. Die Folgen des Vertrages waren vielfältig. Zunächst einmal ließ sich Österreich erstmals definieren: Es war ein Land von rund 84.000 km2. (Ganz genau wusste man es noch nicht, da die Volksabstimmungen über den Verbleib Südkärntens und Ödenburgs/Soprons noch ausständig waren). Dieses Land hatte rund 6,5 Millionen Einwohner. Allein dieser Rest des einstmals 52 Millionen Menschen zählenden Habsburgerreichs beklagte etwa 155.000 Gefallene und Kriegstote und zählte etwa gleichviel Kriegsinvaliden.31 An die 50.000 Menschen starben an der sogenannten Spanischen Grippe. Es galt, Zehntausende von Kriegerwitwen und Hunderttausende von Waisen zu versorgen. Die Frage von Reparationszahlungen war noch offen und wurde letztlich weder gelöst noch von den Siegermächten regelkonform aktualisiert. Zwei Jahre später drohte auch so der Staatsbankrott. Obwohl Österreich etwas glimpflicher davon gekommen war als Deutschland, wurde der Vertrag als Katastrophe gesehen, da dem Land jegliche Chance zu einer positiven Entwicklung genommen schien.32 Die Streichung des Anschlussartikels aus der Provisorischen Verfassung am 21. Oktober 1919 ging

tokoll des Symposiums in Wien am 24. und 25. Oktober 1978, Wien 1986, S. 41–48, hier S. 44 f. 31 Genaue Zahlen ließen sich nie feststellen. Letztlich muss man sich mit Gesamtzahlen und Prozentrechnungen zufriedengeben: Für die Habsburgermonarchie wurden die militärischen Verluste mit rund 1,2 Millionen Toten errechnet, wovon auf die österreichische Reichshälfte 51,52 % und auf die ungarische Reichshälfte 42 % entfielen. Der Rest zählte auf Bosnien-Herzegowina. Dreimal so hoch wie die Totenverluste war die Zahl der Verwundeten, von denen wiederum rund ein Drittel dauernd invalid blieb. Als Durchschnitt wurde errechnet, dass von 1000 Menschen 23,3 dem Krieg zum Opfer fielen. Vgl. dazu Wilhelm Winkler: Die Totenverluste der öst.-ung. Monarchie nach Nationalitäten; die Altersgliederung der Toten; Ausblick in die Zukunft, Wien 1919; ferner: Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, ed. Statistische Zentralkommission, vol. 3, Wien 1923, S. 9. 32 Laurence Cole: Der Habsburger-Mythos, in: Emil Brix (Hrsg.): Memoria Austriae, Bd. 1: Menschen, Mythen, Zeiten, 2004, S. 473–504; ferner Martin Reisacher: Die Konstruktion des »Staats, den keiner wollte«. Der Transformationsprozess des umstrittenen Gedächtnisorts »Erste Republik« in einen negativen rhetorischen Topos, Diplomarbeit Universität Wien 2010.

146

Manfried Rauchensteiner

mit emotionalen Ausbrüchen einher. Die These von der Lebensunfähigkeit wurde immer mehr Teil einer »Ablehnungspsychose« und Teil der Legende vom Zwangsstaat. Allerdings zweifelten jetzt auch jene, die ursprünglich ein rosiges Bild gezeichnet hatten, am Fortbestand des neuen Staatswesens. In Österreich war man nicht bereit, die Bestimmungen des Friedensvertrags als bindend anzusehen, ebenso wenig wie das Deutschland, Ungarn, Italien, Polen, Bulgarien oder die Türkei taten. Gefühle von Demütigung, Ohnmacht, Ungerechtigkeit und Revanche überlagerten die Bestimmungen und ließen ihre Umsetzung in den Augen der Österreicher zur Zwangsmaßnahme werden.

Matthias Stadelmann

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor. Nikolaj II. und das Ende des Russischen Reiches

Revolution in Russland 1917 endete, recht plötzlich, die Geschichte des Russischen Reiches und damit auch die über dreihundertjährige politische Geschichte der Dynastie Romanov. Ihrem letzten regierenden Vertreter, Kaiser Nikolaj II. Aleksandrovicˇ kommt bei diesem Ende, wie könnte es anders sein, eine entscheidende Bedeutung zu: Nicht nur da er es war, der die Abdankung der Dynastie im dritten Weltkriegsjahr in die Wege leitete, nein, die Geschichtsschreibung hat gerade in seiner persönlichen Herrschaft wesentliche, den Untergang beschleunigende oder gar erst herbeiführende Defizite erkannt. Doch so präsent Nikolaj II. als »persönlicher Faktor« beim Ende des Russischen Kaiserreiches ist: Die Geschichte moderner politischer Entwicklungen ist erheblich komplexer als die Frage nach monarchischem Talent und Geschick. So stehen neben der immer wieder angeführten persönlichen Überforderung des letzten Russischen Kaisers auch kardinale politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturmängel des Russischen Imperiums im historiographischen Raum. Im vorliegenden Beitrag werde ich beiden Erklärungslinien nachgehen und versuchen, ihre Relevanz für das epochemachende Ereignis des Zarensturzes darzulegen. Zuvor jedoch seien jene Petersburger Tage und Wochen des frühen Jahres 1917, die für die Geschichte Russlands so folgenreich wurden, einführend knapp, aber anschaulich konkret in Erinnerung gerufen. Ich wähle für den Einstieg eine eher ungewöhnliche Perspektive: »14. Februar. Dienstag. […] Um 11.10 Uhr fuhr ich zum Dienst. Das Wetter war mild, grau. Nach dem Frühstück empfing ich bis viertel vier. Spaziergang […] Um halb sieben ging ich in die Kirche. 15. Februar. Mittwoch. Ich bekam plötzlich starken Schnupfen. Um 10 Uhr empfing ich General-Adjutant [Vladimir] Bezobrazov. Um halb 12 in die Messe. […] Spaziergang. Mildes Wetter. […] Um 6 Uhr empfing ich. Abends hatte ich zu tun. 16. Februar. Donnerstag. Ab 10 Uhr empfing ich […]. [Später] saß ich bei Ol’ga, Marija und Aleksej. Spazieren ging ich mit Tat’jana und Anastasija. Es hatte minus 5 Grad und war still. Um halb 10 empfing ich Protopopov. […] 17. Februar. Freitag.

148

Matthias Stadelmann

Morgens empfing ich […]. Der Tag war sonnig und frostig. Ich spazierte mit Tat’jana und Anstasija […]. Abends gingen wir zur Beichte. […] 22. Februar. Mittwoch. Ich las, zog mich an und empfing. Miša frühstückte bei uns. Ich verabschiedete mich von allen meinen Lieben und fuhr mit Aliks zur Kirche, dann zur Bahnstation. Um 2 Uhr reiste ich ins Hauptquartier ab. Der Tag stand sonnig und frostig. Ich las, langeweilte mich und ruhte mich aus. Hinaus ging ich nicht wegen des Hustens. 23. Februar. Donnerstag. Um halb zehn wachte ich in Smolensk auf. Es war kalt, klar und windig. Die ganze freie Zeit über las ich ein französisches Buch über die Eroberung Galliens durch Julius Caesar. Um 3 Uhr kam ich in Mogilev an. General Alekseev und der Stab erwarteten mich am Bahnhof. Eine Stunde verbrachte ich mit ihm. Leer kam es mir ohne Aleksej vor. Mit allen Ausländern und mit unseren aß ich zu Mittag. Abends schrieb ich und trank mit der Allgemeinheit Tee.«1 Verfasser dieser Zeilen ist kein geringerer als der Russische Kaiser Nikolaj II. Die ersten Einträge stammen aus Carskoe selo, der Lieblings-Vorstadtresidenz Nikolajs, etwa 40 km südlich von St. Petersburg. Die für den 22. Februar beschriebene Abreise ins »Hauptquartier« muss kaum erklärt werden. 1917 tobte bekanntermaßen in Europa ein mörderischer Krieg, der Staaten, Regierungen, Monarchen, vor allem aber Menschen in Not und Verzweiflung trieb. Auch Russland war mit all seinen mobilisierbaren Kräften an diesem Krieg als Verbündeter Englands und Frankreichs beteiligt.2 Über den Krieg freilich lesen wir in Nikolajs Tagebuch Anfang 1917 nichts. Knappe lakonische Bemerkungen über den eigenen Tagesablauf – Familie und Wetter scheinen die wichtigsten Fixpunkte zu sein, ansonsten wird noch emotionslos aufgezählt, wen der Kaiser um wieviel Uhr empfangen hat – die Nennung aller Namen sei den Lesern erspart. Zum Inhalt der Gespräche bzw. zu den Anliegen der Besucher werden keinerlei Bemerkungen gemacht. Auffallend ist, dass in der ausgewählten Woche Russlands Herrscher offensichtlich 1

2

Dnevniki i dokumenty iz licˇ nogo archiva Nikolaja II: Vospominanija. Memuary, Minsk 2003, S. 20–22; Ol’ga, Marija, Aleksej, Tat’jana, Anastasija: die Kinder des russischen Kaiserpaares Nikolaj und Aleksandra (Aliks); Aleksandr Protopopov: Innenminister des Russischen Reiches seit 20. Dezember 1916; Miša: Großfürst Michail Aleksandrovicˇ , Bruder des Kaisers; Infanteriegeneral Michail Alekseev: Generalstabschef und Oberkommandierender der russischen Nord-West-Front. Zum Ersten Weltkrieg siehe beispielsweise Christopher M. Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2015; Für eine auf Osteuropa zugeschnittene Perspektive siehe Manfred Sapper (Hrsg.): Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas, Berlin 2014.

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor

149

keinerlei Kontakt zu seinem Regierungschef, Premierminister Fürst Nikolaj Golicyn, hatte. Letzteres sowie überhaupt die spartanische Beschaffenheit der Tagebucheindrücke sind umso verwunderlicher, als Russlands Hauptstadt Petrograd, wie St. Petersburg 1914 russifizierend umbenannt worden war, um ein Zeichen gegen die germanische Aggression im Weltkrieg zu setzen, just in jenen Tagen in gewaltigem Aufruhr begriffen war. Ich habe die Tage mit den harmlosen Eintragungen Nikolajs nicht zufällig ausgewählt: Am 14. Februar streikten in Petrograd über 80.000 Arbeiter. Sie waren unzufrieden – in erster Linie über ihre materielle Lage, die sich während des Krieges selbst gegenüber den ärmlichen Verhältnissen der Friedensjahre nochmals drastisch verschlechtert hatte. Der Krieg setzte dem Land zu, alle Anstrengungen galten der Front, für das Hinterland blieb wenig, für die proletarischen Unterschichten noch weniger. Doch mit der ökonomisch motivierten Proteststimmung ging bald auch eine politische Konnotation einher. Schließlich taten, so die Wahrnehmung in den Arbeitervierteln, Kaiser und Regierung nichts, um das Los der werktätigen Bevölkerung zu bessern. Am 15. Februar, an dem Tag, an dem Nikolaj II. plötzlich Schnupfen bekam, gab es abermals Streiks, diesmal in einem außerhalb gelegenen Rüstungsbetrieb, was während des Krieges besonders unerfreulich war. Einen Tag später, der Kaiser ging mit seinen Töchtern im Park spazieren, rollte die Streikwelle wieder in die Stadt hinein, in eine große Metallfabrik. Dass abends um halb 10 der Innenminister in Carskoe selo anrückte, deutet darauf hin, dass dieser dringlichen Gesprächsbedarf mit seiner Majestät hatte – detaillierte Bemerkungen waren Nikolaj die Umstände freilich nicht wert. Am »sonnigen und frostigen« 17. Februar traten die Arbeiter der Putilov-Werke, Petrograds größtem Rüstungsbetrieb, in den Ausstand. Der 23. Februar, nach westeuropäischem Kalender schon der 8. März, war der »Internationale Tag der Frau«. Während Nikolaj im westrussischen Smolensk ankam, streikten in Petrograd zahllose Arbeiterinnen, denen sich die männlichen Belegschaften bald anschlossen. Am Abend befanden sich die industriellen und Arbeiterstadtteile der Hauptstadt schon in einer Art Ausnahmezustand, über die Hälfte der Werktätigen protestierte durch Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen. Demonstrationen, auf denen nicht mehr nur Forderungen nach besseren Löhnen und einer anständigen Lebensmittelversorgung erhoben wurden, sondern immer wieder auch politische, gegen die Regierung gerichtete Losungen zu sehen waren.3 3

Zu den Details der Februarrevolution von 1917 siehe u. a. Matthias Stadelmann: Der Fall der Monarchie. Die Revolution vor der Revolution, in: Helmut Altrichter (Hrsg.) 1917.

150

Matthias Stadelmann

Von all dem lesen wir im Tagebuch des russischen Herrschers nichts. Ob er nichts davon wusste? Ob es ihn nicht interessierte? Wohl eher Letzteres. Unruhen, Streiks, auch Proteste hatte es in den zurückliegenden Jahren in Russland immer wieder gegeben – es waren lokal begrenzte Aktionen, die schnell befriedet bzw. niedergeschlagen wurden. Die große Ausnahme lag 12 Jahre zurück: 1905 hatte eine nie dagewesene revolutionäre Unruhe weite, unterschiedliche Teile der Bevölkerung erfasst, die das Russische Reich und seinen autokratischen Herrscher auf bedrohliche, unübersichtliche Art und Weise herausforderte – so sehr, dass Nikolaj II. widerwillig das Zugeständnis einer Verfassung geben musste. Seit 1906 gab es in Russland ein an der Legislative beteiligtes Zweikammer-­ Parlament mit der Duma als vom Volk gewähltem Unterhaus.4 Trotz dieser Geschehnisse war Nikolaj II. ein starker Monarch, in seinem Selbstverständnis auch weiterhin ein Autokrat, ein Selbstherrscher, geblieben. Seine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Herrscher und Untertanen war diejenige patriarchalischer Fürsorge, die die Bevölkerung mit dankbarem Gehorsam zu beantworten hatte. Streiks und Proteste hatten in dieser Konzeption keinen Platz. In Petrograd freilich gingen sie weiter: Am 24. und 25. Februar waren es nochmals mehr Streikende auf den Straßen, von der Protestbewegung wurden nun bereits auch andere zentrumsnähere, »bessere« Stadtteile erfasst. Der Staat war dabei, die Kontrolle über seine Hauptstadt zu verlieren. Die wütenden Massen plünderten, griffen die Polizei an und drängten zunehmen ins imperial-politische und geschäftliche Zentrum Petrograds. Am Abend dieses 25. Februar befahl Kaiser Nikolaj aus dem Hauptquartier an der Front, die Unruhen in der Hauptstadt niederzuschlagen.5 Für einen Eintrag ins Tagebuch reichten diese Umstände allerdings noch nicht. Erst zwei Tage später, am 27. Februar, lesen wir, dass »in Petrograd vor einigen Tagen Unruhen angefangen« hätten. Was Nikolaj betrübte, war die

4

5

Revolutionäres Russland, Darmstadt 2016; Helmut Altrichter: Russland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn 1997; Manfred Hildermeier: Die Russische Revolution 1905–1921, Frankfurt a. M. 1989; Tsuyoshi Hasegawa: The February Revolution, Petrograd 1917. The End of the Tsarist Regime and the Birth of Dual Power, Leiden 2018. Vgl. etwa Abraham Ascher: The Revolution of 1905. Vol. I: Russia in Disarray. Vol. II: Authority Restored. Stanford 1988–1992; Hildermeier, Die Russische Revolution (wie Anm. 3); Jan Kusber (Hrsg.): Das Zarenreich, das Jahr 1905 und seine Wirkungen. Bestandsaufnahmen, Münster 2007. Das Telegramm Nikolajs an den Petersburger Militärkommandanten bei Manfred Hellmann (Hrsg.): Die russische Revolution 1917. Von der Abdankung des Zaren bis zum Staatsstreich der Bolschewiki, München 6. Aufl. 1987, S. 117. Zum Gang der Ereignisse siehe die in Anm. 3 genannten Titel.

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor

151

Tatsache, dass auch Militär sich den Aufständischen angeschlossen hatte. »Es ist ein ekelhaftes Gefühl, so weit weg zu sein und nur bruchstückhafte ungute Nachrichten zu bekommen! […] Nach dem Essen entschied ich, zügig nach Carskoe selo zu fahren und um 1 Uhr nachts bestieg ich den Zug.« Doch der Kaiser erreichte seine Residenz nicht, die entscheidenden Eisenbahnstrecken in Richtung Hauptstadt waren von Aufständischen blockiert. Der kaiserliche Zug musste wieder umkehren und die Stadt Pskov, etwa 300 km südwestlich von Petrograd, ansteuern. »Scham und Schande« schrieb Nikolaj ins Tagebuch, seine Gedanken waren vor allem bei der Familie, um die er sich Sorgen machte.6 Derweil überschlugen sich in der Hauptstadt die Ereignisse. Den Protestierenden hatten sich immer mehr Menschen, längst nicht nur Arbeiter, sondern auch andere Unzufriedene aus den weniger privilegierten Schichten angeschlossen; den Organen der Staatsmacht blieb kaum anderes übrig als die Kapitulation vor den aufgebrachten Massen, die über die gefrorene Neva nun auch ins imperiale Herz der Stadt vorstießen. Immer mehr in Petrograd kasernierte Soldaten, die abgesehen von den Offizieren meist aus einfachsten Verhältnissen stammten, hatten sich der Revolution angeschlossen. Gemeinsam mit Arbeitern begannen sie, sich in spontanen politischen Versammlungen zu organisieren. Und auch die adelig-bürgerliche parlamentarische Seite hatte Aktivität entfaltet. Unter anderem sandte man dringliche Telegramme ins Hauptquartier mit der Bitte an Nikolaj, rasch Zugeständnisse zu machen, um die aufgebrachte Stimmung zu beruhigen. »Zaudern wäre der Tod« telegraphierte der Parlamentspräsident Mikhail Rodzjanko, eine Regierung des Vertrauens müsse her, die den Erwartungen der aufgebrachten Bevölkerung entgegenkomme.7 Noch gingen die liberalen und konservativen Abgeordneten davon aus, dass beherzte Schritte von Seiten des Kaisers die Monarchie retten würden. Doch anstelle von Zugeständnissen hatte Nikolaj zunächst verschärfte Maßnahmen gegen die Rebellion angeordnet. Seine Vorstellung war es, erst die Insubordination entschieden niederzuschlagen, dann wohl die Regierung auszutauschen, weniger als politisches Entgegenkommen, sondern weil diese offensichtlich überfordert war, und daraufhin den Krieg gegen die Mittelmächte fortzusetzen. Wie ernst die Lage war, erfasste der Kaiser wohl erst, nachdem sein Zug auf dem Weg in die Hauptstadt wieder umdrehen musste und sich die Nachrichten über die Ausweitung der Rebellion und die andauernden Meutereien 6 7

Dnevniki i dokumenty (wie Anm. 1), S. 23. Das Telegramm Rodzjankos an Nikolaj vom 26. Februar 2017 bei Hellmann (Hrsg.): Die russische Revolution (wie Anm. 5), S. 120.

152

Matthias Stadelmann

von Soldaten häuften. Als der Kaiser am 1. März unter dem Eindruck der Ereignisse und auf Drängen einflussreicher Generäle schließlich zu den tagelang erbetenen Zugeständnissen bereit war und den Parlamentspräsidenten mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragte, war es bereits zu spät – der Aufstand war damit nicht mehr zu beruhigen, wie Rodzjanko dem Oberkommandierenden der Nordfront, General Ruzskij, mitteilte. Wie die anderen Kollegen im Generalstab sorgte sich Ruzskij angesichts solcher Nachrichten vor allem um die Kampfmoral der Truppe, die bei einem weitergehenden Aufstand im Hinterland vermutlich völlig zusammenbrechen würde.8 Diese Überlegung war entscheidend dafür, dass die Generäle dem Kaiser am 2. März nahelegten, den dringlichen Vorschlägen aus dem Umkreis des Parlamentes zu folgen. In Nikolajs Tagebuch lesen wir, trocken und verwaltungsmäßig, folgenden Eintrag: »Am Morgen kam Ruzskij und las mir sein ewig langes Telefongespräch mit Rodzjanko vor. Nach seinen Worten ist die Situation in Petrograd so, dass eine vom Parlament gebildete Regierung wohl nichts mehr tun könne […]. Meine Abdankung ist erforderlich. Ruzskij übergab dieses Gespräch ins Hauptquartier und [Generalstabschef] Alekseev allen Oberkommandierenden. Um halb drei waren die Antworten von allen da. Das Ergebnis: Im Namen der Rettung Russlands und der Aufrechterhaltung von Ruhe an der Front gilt es, sich zu diesem Schritt zu entschließen. Ich erklärte mich einverstanden […]«.9 Es ist ein merkwürdiger Tonfall, der uns aus diesem Tagebuch entgegenschlägt. Da ist kein Aufbäumen, keine Wut, keine Verzweiflung, keine Trauer, keine Tragik, keine Pathetik. Es ist nur die vielzitierte unerschütterliche Contenance des Russischen Kaisers, der sich emotionslos ins Unvermeidliche fügt. Diejenigen liberalen und konservativen Parlamentskreise, die sich eine wie auch immer geartete Fortführung der monarchischen Staatsform in Russland vorstellten, hatten auf eine positive Aufbruchsstimmung durch die Thronbesteigung von Nikolajs 12-jährigem Sohn Aleksej gehofft. Doch Nikolaj machte einen Strich durch diese Rechnung, indem er am 2. März nicht nur für sich, sondern gleichzeitig auch für seinen Sohn abdankte. Die Motivation war klar – der Kaiser, ein innig liebender Familienvater, wollte sich nicht von seinem Sohn trennen müssen und diesen nicht einer völlig chaotischen Situation aussetzen. Dynastierechtlich war dieses Verfahren nicht zulässig. Aleksej hätte den Thronverzicht selbst aussprechen müssen – das wiederum konnte er als Minderjähriger gar nicht. Doch in jenen Tagen war vieles Unmögliche plötzlich 8 9

Vgl. Hellmann, Die russische Revolution (wie Anm. 5), S. 140 ff. Dnevniki i dokumenty (wie Anm. 1), S. 23.

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor

153

möglich geworden – und wer fragt in einer geradezu anarchisch-unübersichtlichen Konstellation schon nach feinen staatsrechtlichen Verästelungen?10 So setzte der abdankende Kaiser seinen Bruder Michail Aleksandrovicˇ als Erben auf dem Thron ein, vergaß freilich in all dem Trubel, diesen auch darüber zu informieren. Erst einen Tag später erhielt Michail von seinem Bruder ein knappes Telegramm.11 Großfürst Michail war sich unsicher, wie zu reagieren sei. Er hatte sich nie in die Politik gedrängt, zudem war er 1910 bei seinem Bruder wie am gesamten Hof in Ungnade gefallen, als er durch eine nicht standesgemäße Heirat gegen das ausdrückliche Verbot des Kaisers einen Skandal ungeheuren Ausmaßes provoziert hatte. Nicht nur, dass seine Frau »nur« aus dem durchschnittlichen russischen Adel stammte, nein, zu allem Überfluss war die Ehe mit dem Kaiserbruder bereits ihre dritte. Sowohl die erste wie die zweite Ehe waren geschieden worden, die zweite nachdem sie dem Großfürsten einen Sohn geboren hatte, und ihr Mann, ein gewisser Leutnant Vul’fert, pekuniär großzügig abgefunden worden war. Michail musste alle offiziellen Posten im Russischen Reich aufgeben und mit seiner Frau ins Exil nach Westeuropa gehen. Erst nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlaubte es der Kaiser seinem Bruder, in die Heimat zurückzukehren.12 Dass der prinzipienfeste Nikolaj nun, im März 1917, ihn, den moralisch Gefallenen, zu seinem Erben ernannte, zeigt, dass dem Kaiser mit dem Moment seiner Abdankung alle dynastischen und herrschaftlichen Angelegenheiten völlig egal geworden waren. Die angespannte Situation ließ Michail nicht viel Zeit zum Überlegen. Unter dem Eindruck der Ereignisse und von bürgerlich-parlamentarischer Seite heraufbeschworener Horrorszenarien entschied er sich gegen den Thron. Einen Tag nach seinem Bruder dankte auch Michail Aleksandrovicˇ ab, mit dem Hinweis, dass er den Thron nur dann annehmen würde, wenn sich eine künftige Verfassunggebende Versammlung dafür aussprechen würde.13 Damit endete am 3. März 1917 das Russische Kaisertum.

10 Nikolajs II. Abdankungsurkunde bei Hellmann, Die russische Revolution (wie Anm. 5), S. 138. 11 Siehe ebd., S. 140. 12 Zu Großfürst Michail Aleksandrovicˇ siehe Rosemary und Donald Crawford: Michail und Natascha. Der letzte Zar und seine große Liebe, München 2001. 13 Michails Abdankungsurkunde bei Hellmann, Die russische Revolution (wie Anm. 5), S. 140.

154

Matthias Stadelmann

Strukturdefizite des Zarenreiches Wie konnte es sein, dass Europas glanzvollste Monarchie, deren Vertreter so gewaltige Machtbefugnisse hatten wie keine ihrer europäischen Kollegen der Zeit, dass das mächtige russische Kaisertum in wenigen Tagen einfach zusammenbrach? Die Geschichtswissenschaft fand unterschiedliche Erklärungen dafür. Für Historiker, die in länger angelegten Strukturen und Prozessen denken, schien schon im 19. Jahrhundert alles unaufhaltsam auf den Zusammenbruch zuzulaufen. Strukturelle Defizite in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft; eine halbherzige Reformpolitik; ein starrsinniges Festhalten an Autokratie und sozialer Ungleichheit; eine konsequente Verweigerung politischer Partizipation – diese und zahlreiche weitere Mängel hätten demnach zum unvermeidlichen Zusammenbruch 1917 geführt.14 Die russische Autokratie schien ein hoffnungsloser Fall zu sein, seit jeher prägte das Paradigma der »Rückständigkeit« viele Einschätzungen über das Land. Russland, so befand es die westliche Perspektive, war ständig auf der Kriechspur, ohne den politischen Willen und die gesellschaftliche Chance, mit den fortgeschrittenen Nationen und Systemen Europas mithalten zu können. Selbst wenn einzelne Herrschergestalten wie Peter I. oder Katharina II. als energische Reformer in der Geschichtsschreibung positiv beleumundet sind – das riesige, unterentwickelte, oft nur partiell erschlossene Land mit seinen bildungsfernen 95 Prozent der Bevölkerung verhinderte den Erfolg der zu selten in Angriff genommenen modernisierenden Absichten.15

14 Vgl. zu dieser Argumentation etwa Leopold Haimson: The Problem of Social Stability in Urban Russia, 1905–1917. Part I in: Slavic Review 23 (1964), S. 619–642. Part II in: Slavic Review 24 (1965), S. 1–22; Theodor von Laue: The Chances for Liberal Constitutionalism, in: Slavic Review 24 (1965), S. 34–46; Dietrich Geyer: Die Russische Revolution: Historische Probleme und Perspektiven, Stuttgart 1968; Geoffrey Hosking: The Russian Constitutional Experiment. Government and Duma 1907–1914, Bloomington 1974; Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860–1914, Göttingen 1977; Tim McDaniel: Autocracy, Capitalism and Revolution in Russia, Berkeley 1988; Bernd Bonwetsch: Die Russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberumsturz, Darmstadt 1991. 15 Zum Paradigma von Russlands Rückständigkeit vgl. Alexander Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective. A Book of Essays, Cambridge 1966; Peter Gatrell: The Tsarist Economy, New York 1986; Manfred Hildermeier: Das Privileg der Rückständigkeit. Anmerkungen zum Wandel einer Interpretationsfigur der Neueren Russischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 244 (1987), S. 557–604; Paul R. Gregory: Before Command. An Economic History of Russia from Emancipation to the First Five-Year-Plan, Princeton 1994; David Feest/Lutz Häfner (Hrsg.): Die Zukunft der

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor

155

In der Konstatierung eines hoffnungslosen Falles waren sich übrigens sowjetische und westliche Forschung prinzipiell einig, was bei näherem Hinsehen nicht überraschen muss: Schließlich waren die Bol’ševiki inspiriert von einer in Westeuropa entstandenen Geschichts- und Zukunftskonzeption, allerdings gepaart mit dem fanatischen Hass auf jenes System, das sie zerstören wollten und zerstörten. In der Erklärung des zarischen Zusammenbruchs freilich blieben die Bol’ševiki und ihre Historiker eher eindimensional: Die revolutionären Kräfte des Volkes hätten, angeleitet von wissenden, an Marx geschulten Intellektuellen, die Blutsauger auf dem Thron zu Fall gebracht.16 Die westliche Forschung war da doch differenzierter, indem sie Strukturbedingungen des Zarenreiches nicht von vornherein mit Leninscher Brille analysierte. So fand die historische Analyse im Zarenreich des 19. Jahrhunderts durchaus Ansatzpunkte in Wirtschaft, Gesellschaft oder Politik, die sich als mittel- oder langfristig wirkende Gründe für die Revolution von 1917 heranziehen lassen. In sozioökonomischer Hinsicht drängt sich zunächst die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit ins Blickfeld: Grob unterteilt in Guts-, Kron- und Staatsbauern einten sie in der Regel gleiche Lebenswelten. Grundsätzlich zarentreu, erblickten sie in Gutsbesitzern und Verwaltern ihre primären Feinde. Ihr zentrales politisches Thema durch die Jahrzehnte hinweg war – Land, genauer: mehr Land. Daran änderte auch die 1861 von Kaiser Aleksandr II. verkündete Bauernbefreiung nichts. Die Bestimmungen waren kompliziert, die Umsetzung langwierig, das zu erhaltende Land für die bäuerlichen Erwartungen zu klein – und zu allem Überfluss mussten die Bauern auch noch dafür bezahlen. Wie persistent die Landfrage Russlands Bauernschaft beherrschte und wie sehr sie dazu angetan war, aus loyalen Untertanen entschlossene Revolutionäre zu machen, zeigten im Nachhinein die Revolutionen von 1905 und 1917: Jeweils in der Stadt begonnen, weiteten sich die Unruhen schnell aufs flache Land aus – und was die Bauern trieb, war die Aussicht, sich Land anzueignen, das unverdientermaßen beim Adel, bei der Kirche oder beim Staat verblieben war. Die Perspektive, nun endlich an einer lange ersehnten »Großen Umverteilung« partizipieren zu können, riss auch jene Bauern hinweg, die noch 1917 grundsätzlich nichts gegen den Zaren hatten. Dass die Bauern dabei, wie die Zahlen zu den Besitzverhältnissen am Vorabend der Revolution belegen, einer immensen Selbsttäuschung unterlagen, da sie bereits ca. 80 Prozent der AnbauRückständigkeit. Chancen, Formen, Mehrwert. Festschrift für Manfred Hildermeier zum 65. Geburtstag, Köln 2016. 16 Als repräsentatives Beispiel vgl Isaak I. Minc: Rabocˇ ij klass i rabocˇ ee dviženie v Rossii 1861–1917, Moskau 1966.

156

Matthias Stadelmann

fläche im Besitz hatten, ändert nichts an der Durchschlagskraft des Arguments der angeblichen Landlosigkeit.17 Das zweite folgenreiche sozioökonomische Strukturproblem war kein spezifisch Russisches – das aus der Industrialisierung entstehende städtische Arbeiterproletariat. Vom Staat massiv gefördert, holte Russlands Wirtschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Entwicklungen des europäischen Industriezeitalters nach. Dass die bekannten negativen sozialen Begleiterscheinungen in Russland besonders drängend wirkten, hatte verschiedene Gründe: Einerseits wohl das rasche Tempo, anderseits die Herkunft der meisten Arbeiter vom bäuerlichem Land, zu dem sie oft noch über Generationen Verbindungen hielten. Während die Familie oft auf dem Dorf blieb, hauste man in schrecklichen Kaschemmen bei miserabler Bezahlung und menschenverachtenden Arbeitsbedingungen. Spät erkannte der Staat die Notwendigkeit, mittels spartanischer Arbeiterschutzbestimmungen einzugreifen. Russlands Arbeiter blieben benachteiligte Unterschichten, die nach der Jahrhundertwende empfänglich wurden für radikale sozialistische Konzepte. Von Zar und Obrigkeit bekamen sie wenig Aufmerksamkeit, aber viel Verachtung. Dass die großstädtischen Arbeiter 1917 durch ihren kompromisslosen Aufruhr entscheidend zum Ende des russischen Kaisertums beitrugen, hatte eine etwa 25-jährige stringente Vorgeschichte.18 In diesen Kontext gehört auch die vielleicht etwas pauschal und emotional anmutende, aber wichtige Feststellung, dass wohl in kaum einem anderen Land jener Zeit die sozialen Gegensätze zwischen Oben und Unten, zwischen Reich und Arm, zwischen Gebildet und Ungebildet, zwischen Europäisiert 17 Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München 2013, S. 1133; Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, München 2013, S. 133; vgl. auch Gatrell, The Tsarist Economy (wie Anm. 15); Andreas Moritsch: Landwirtschaft und Agrarpolitik in Russland vor der Revolution, Wien 1986; Teodor Shanin: The Roots of Otherness. Vol. 1: Russia as a ›Developing Society‹. Vol. 2: Revolution as a Moment of Truth, Basingstoke 1985–86; Heinz-Dietrich Löwe: Die Lage der Bauern in Rußland 1880–1905. Wirtschaftliche und soziale Veränderungen in der ländlichen Gesellschaft des Zarenreiches, St. Katharinen 1987. 18 Vgl. etwa Robert E. Johnson: Peasant and Proletarian. The Working Class of Moscow in the Late Nineteenth Century, Leicester 1979; Laura Engelstein: Moscow 1905. Working-class Organization and Political Conflict, Stanford 1982; Victoria Bonnell: Roots of Rebellion. Workers’ Politics and Organizations in St. Petersburg and Moscow, 1900–1914, Berkeley 1983; Robert B. McKean: St. Petersburg between the Revolutions. Workers and Revolutionaries, June 1907–February 1917, New Haven 1990; Deborah Pearl: Creating a Culture of Revolution. Workers and the Revolutionary Movement in Late Imperial Russia, Bloomington 2015.

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor

157

und nicht Europäisiert so groß waren wie in Russland. Zwischen den Petersburger Industriearbeitern und jenen Großbürgern und Stadtadeligen, die das imperiale Zentrum bevölkerten, klafften größere Welten als anderswo – nicht nur materiell, sondern auch mental. Russlands städtische Unterschichten wurden nicht in das autokratische System kooptiert, sie blieben der sozialen und politischen Elite auf eine abstoßende Art und Weise fremd – was wohl viceversa galt. Dass es in Russland aus wirkmächtigen historischen Gründen seit jeher kaum eine städtische bürgerliche »Mittelschicht« gegeben hatte, die den Arbeitern hätte Vermittler und oder gar Vorbild sein können, zementierte diese Gegensätzlichkeit. Selbstredend machte sich die enorme gesellschaftliche Spaltung auch bei der politischen Mitsprache bemerkbar. Im 19. Jahrhundert war die schmale institutionalisierte Partizipation an Politik im autokratischen Rahmen fast ausschließlich dem Adel vorbehalten; und auch, als 1862 lokale Selbstverwaltungskörperschaften ins Leben gerufen wurden, die mit gewählten Deputierten aus der Gesellschaft bestückt waren, wurden die Oberschichten gegenüber den Unterschichten auf kolossale Weise bevorzugt. Dass dann auch das Zensuswahlrecht für Russlands erstes Parlament, die Duma, äußerst ungleich war, verwundert da kaum. Russland hatte sicherlich keinen »Scheinkonstitutionalismus«, wie es Max Weber seinerzeit mit langer Nachwirkung auf die Historiker behauptet hatte, aber einen sehr ungleichen Konstitutionalismus.19 Russlands städtische Unterschichten wurden auch nach der 1906 erfolgten Konstitutionalisierung wirklich einflussreicher politischer Partizipationsmöglichkeiten beraubt und nicht nachhaltig in die Autokratie integriert. Warum hätten sie 1917 in einer Situation existenzbedrohender Krise diese kaiserliche Herrschaft, die ihnen immer nur von oben herab, bisweilen gar mit Gewehren und Bajonetten entgegengetreten war, verteidigen sollen? Dass Russlands Unterschichten die Einübung parlamentarischer Gestaltungsmuster verwehrt bzw. nur mit starken Abstrichen gewährt worden war, sollte im Revolutionsjahr gewichtige Folgen zeitigen: Die möglichen Vorzüge einer parlamentarischen Demokratie konnten sich ihnen nicht erschließen, die Attraktivität einfacher und radikaler Parolen dagegen schon.20

19 Max Weber: Russlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus, Tübingen 1906. 20 Vgl. u. a. Ascher, The Revolution of 1905 (wie Anm. 4); Hildermeier, Die Russische Revolution (wie Anm. 3); Dietmar Neutatz: Das russische Verfassungsexperiment 1906–1918. Zum Verhältnis von Tradition und Modernität, in: Journal of Modern European History 6 (2008), S. 88–115; Hildermeier, Geschichte Russlands (wie Anm. 17), S. 962 ff.

158

Matthias Stadelmann

Der persönliche Faktor Es steht in einer Autokratie, die, das sei auch angesichts gegenwärtiger inflationärer Verwendung dieses Begriffs einmal betont, nichts Anderes bedeutet, als dass der Herrscher Exekutive und Legislative formal uneingeschränkt in sich vereinigt, es steht also in einer Autokratie, auch in der russischen konstitutionalisierten Autokratie seit 1906, außer Frage, dass die Person des Herrschers ganz maßgeblich auf die Entwicklungen des politischen Geschehens Einfluss nimmt. Russlands politische Geschichte vor der Revolution ist ohne die Betrachtung seines Kaisers nicht zu schreiben, die Frage nach den Gründen für den Untergang ohne den Kaiser nicht zu beantworten. Zaren in Russland gab es seit dem 16. Jahrhundert, seit dem frühen 18. Jahrhundert nannten sie sich »Imperatory«, Kaiser. Keiner und keine der regierenden Romanovs zweifelte am Gottesgnadentum und daran, dass die von Gott gesegnete Herrschaft des Zaren in Russland alternativlos war. Wo sich einzelne Herrscher freilich zum Teil massiv unterschieden, war, wie sie auf die Herausforderungen ihrer Zeit reagierten, inwiefern sie also die Erforderlichkeit verändernder Anpassungen ihres Landes an die jeweiligen Zeitumstände erkannten. Russlands letzter Kaiser, Nikolaj II., zählt in diesem Kontext zu den problematischsten Herrschergestalten des Landes. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er sich heute wieder einer beachtlichen Beliebtheit in Russland erfreut, längst nicht nur im Umfeld der Orthodoxen Kirche, die ihn bekanntermaßen heiliggesprochen hat. Als die Identifikationskraft der sozialistischen Oktoberrevolution von 1917 bei der Mehrheit der Bevölkerung spätestens seit Ende der 1980er Jahre wegbrach und die parlamentarische Februarrevolution von 1917 schon aufgrund ihrer sehr kurzfristigen, unglücklichen von Krieg, Chaos und Krise überschatteten Aktivitäten wenig erinnerungspolitische Kraft entfalten konnte, wurden mit der langen Geschichte des Russischen Imperiums auch die Russischen Kaiser und Kaiserinnen wieder zu historischen Identifikationsfiguren. Dem letzten Kaiser, der nicht nur vom Thron gejagt, sondern anderthalb Jahre später auch noch von den Bolschewisten zusammen mit seiner Familie ruchlos, ohne Gerichtsverfahren und Urteil, in einem Keller erschossen wurde, kommt dabei verständlicherweise eine besondere Bedeutung zu. Nicht nur, weil er rein chronologisch am nächsten zur Zeitgeschichte steht, sondern auch, weil mit seiner Person die monarchisch-imperiale Tradition, an die man heute vielerorts recht gerne anknüpft, gewaltsam beendet wurde. Trotz sympathisch-wohlwollender Zeichnungen in Teilen der Erinnerungskultur und in der orthodoxen Heiligenverehrung bleibt Nikolaj für Historiker und andere nüchterne Zeitgenossen eine so problematische Figur, dass ihm vielfach die Hauptverantwortung für den Untergang der Monarchie zu-

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor

159

gesprochen wurde. In dieser Argumentationsweise waren es nicht langfristig wirkende Strukturdefizite, die das Russische Reich zu Fall brachten, sondern das Versagen seines letzten Herrschers. Zwar mochte Nikolaj auch in einer solchen kritischen Betrachtungsweise als sympathischer Familienmensch und exzellenter, hochgebildeter Gesprächspartner mit vorzüglichen Umgangs- und Verhaltensformen gelten; von Politik aber – oder gar den Herausforderungen, vor denen sein Reich stand – hatte er, so die Argumentation, keine Ahnung. Zudem war Nikolaj im Gegensatz zu seinem Vater unsicher und willensschwach, eine herrscherliche Disqualifikation, die er im Laufe der Zeit durch eine höchst retrograde, mitunter schwer nachzuvollziehende Borniertheit zu kompensieren suchte. In seinem sehnsuchtsvollen Nachtrauern nach den goldenen Zeiten des 17. Jahrhunderts, als Zar und Volk angeblich noch in gottgewollter, durch nichts getrübter Symbiose lebten, hatten die gegenwärtigen Nöte der Arbeiter, Wünsche der Bauern, Forderungen der liberalen Intelligenz keinen Platz. Es reichte Anfang des 20. Jahrhunderts aber nicht mehr, im Vertrauen auf Gott und im Glauben an die heilige Tradition das riesige, sich in dynamischer Entwicklung begriffene, dazu noch höchst heterogene Reich mit einem bewegungslosen Patriarchalismus im Sinne eines Ancien Regime zu regieren. Nikolajs Abgewandtheit von den Problemen seiner Zeit, sein Versinken in der elitären Hofkamarilla, der große Einfluss, den seine noch retrogradere Frau auf ihn hatte, das merkwürdige Schauspiel um den heiligen Hof-Scharlatan Rasputin, die offensichtliche Kooperationsverweigerung gegenüber anderen politischen Kräften, auch während des Krieges – all das diskreditierte den Kaiser und mit ihm die Dynastie sowie die Monarchie. Dass Nikolaj 1915 im schweren und verlustreichen Krieg auch noch meinte, den Oberbefehl an der Front übernehmen zu müssen, machte alles nur noch schlimmer: Einerseits war er nun persönlicher Teil des militärischen Misserfolgs, anderseits hatten, so nahm es die Gesellschaft war, in St. Petersburg jetzt erst recht die »deutsche« Zarin und ihre Kamarilla das Sagen. Dass die Gattin des Herrschers eine Deutsche war, war im Grunde genommen nichts Besonderes: Jahrzehntelang hatten russische Großfürsten aus der RomanovDynastie vornehmlich deutsche Prinzessinnen geheiratet, diese konvertierten mit nur ganz wenigen Ausnahmen sämtlich zur Orthodoxie, nahmen in Russland gebräuchliche Namen an, lernten Russisch und wechselten ihre Identität. Russinnen wären für die Romanovs ohnehin nicht in Frage gekommen, da eine standesgemäße Eheschließung eine Partnerin aus regierendem Haus bedingte – die Großfürsten hätten da schon ihre eigene engere Verwandtschaft heiraten müssen. Nun aber, im Krieg gegen Deutschland, war die hessische

160

Matthias Stadelmann

Herkunft von Kaiserin Aleksandra plötzlich ein Problem, vor allem dann, als der Krieg nicht mehr allzu erfolgreich verlief. Man fabulierte über alle möglichen Verschwörungen und Geheimabsprachen mit den Hohenzollern und machte die Zarin für allerlei Schlechtes verantwortlich. In der Tat agierte Aleksandra Fedorovna wenig glücklich an der Seite ihres Gatten – dies hatte freilich nichts mir ihrer deutschen Herkunft und schon gar nichts mit angeblichem Hochverrat zu tun, sondern vielmehr mit ihrer retrograden Art, mit ihrem fehlenden Verständnis für die Nöte und Wünsche großer Teile der Bevölkerung, mit ihrer ausgeprägt elitären, abgehobenen Haltung, mit ihrer Distanziertheit, die sie sich gerade in den Zeiten existentieller Krisen eigentlich nicht leisten konnte. Doch hierin war sie ihrem Gatten sehr ähnlich, die beiden passten gut zueinander. Es besteht kein Zweifel, dass Nikolaj seinen Anteil am Untergang der russischen Zarenherrschaft hatte, insbesondere deswegen, da er sich den Notwendigkeiten seiner Zeit so hartnäckig verweigert hat. Der visionslose und kleingeistige Zar – und Gleiches ließe sich über seine Gattin sagen – war für Russland zu Anfang des 20. Jahrhunderts schlichtweg der falsche. Seine Herausforderung wäre es gewesen, auf Russlands sozialen, ökonomischen und mentalen Wandel angemessen und zukunftsweisend zu reagieren. Er ist daran gescheitert – und mit ihm das russische Kaisertum.21 Zusammenfassung Was war nun ausschlaggebend für den epochalen historischen Wandel in Russland? Weshalb brach das Russische Imperium zusammen, weshalb ging die Monarchie unter? Wegen der strukturellen Defizite oder aufgrund persönlichen Versagens? Sicherlich läge man nicht falsch, wenn man antworten würde: wegen beidem. Ich meine aber: Weder das eine noch das andere war am Ende ausschlaggebend. Bei aller Existenz sozioökonomischer und politischer Strukturprobleme und bei einer eingestandenermaßen miserablen Performance Nikolajs II.: Keiner der beiden Faktoren sollte bei der Frage nach 21 Zu Nikolaj II. und seiner politischen wie höfischen Umgebung vgl etwa Dominic Lieven: Nicholas II. Emperor of all the Russians, London 1993; Marc Ferro: Nikolaus II. Der letzte Zar. Eine Biographie, Zürich 1991; Henri Troyat: Nikolaus II. Der letzte Zar, Frankfurt a. M. 1992; Hélène Carrère d’Encausse: Nikolaus II. Das Drama des letzten Zaren, Wien 1998; Robert K. Massie: Nicholas and Alexandra, London 1992; Matthias Stadelmann: Die Romanovs, Stuttgart 2008, S. 213ff; Carolly Erickson: Alexandra. The Last Tsarina, New York 2001; Ronald C. Moe: Prelude to the Revolution. The Murder of Rasputin, Chula Vista 2011; Douglas Smith: Und die Erde wird zittern. Rasputin und das Ende der Romanows, Darmstadt 2017.

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor

161

dem Zusammenbruch überschätzt werden. Was die Strukturprobleme angeht, so hatten weite Kreise in Politik und gebildeter Gesellschaft sie längst nicht nur erkannt, sondern auch angepackt. Russland war keineswegs ein starrer bewegungsunfähiger Koloss, sondern seit Mitte des 19. Jahrhunderts in dynamischen Entfaltungen begriffen. Gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahmen diese Entwicklungen, auch befördert durch die Ereignisse von 1905, einen regen Aufschwung. Im politischen Sinne konstitutionalisierte sich die Autokratie. Dazu gehörte nicht nur, dass die Bevölkerung nun – äußerst ungleich zwar – durch Wahlen Abgeordnete zur Gesetzgebung schickte, sondern – und das war mindestens genauso zentral –, dass Parteien aller Couleur entstanden und agierten, dass Politik öffentlich verhandelt wurde, dass über unterschiedliche Positionen heftig gestritten wurde, dass man anderer Meinung sein durfte als der Zar, dass die Presse, die gleichfalls einen enormen Aufschwung erlebte, den politischen Wettkampf in eine neu entstehende politische Öffentlichkeit trug. Wir müssen an dieser Stelle nicht über all die Hintertürchen und Prärogativen der kaiserlichen Macht reden, die es weiterhin gab. Sie ändern alle nichts daran, dass in Russland eine neue politische Epoche begonnen hatte, der man sehr gerne mehr Zeit gegönnt hätte. Auch in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht tat sich Einiges: Ober- und Mittelschichten waren seit einigen Jahrzehnten dabei, immer mehr zivilgesellschaftliches Engagement an den Tag zu legen, die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit sollte durch ein ambitioniertes Reformprogramm auf neue Grundlagen ökonomischer und sozialer Existenz gestellt werden und die russische Hochkultur erwarb seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Weltgeltung in verschiedensten Sparten. Russland war im frühen 20. Jahrhundert also keineswegs ein dem Untergang geweihtes Land.22 Was Nikolaj II. anging, so agierte er sicherlich in vielem unglücklich und falsch. Eine Automatik zum Zarensturz bedingte das freilich auch nicht. Das russische Reich hatte schon andere, ebenfalls weniger begabte Herrscher über22 Zu diesem Themenkomplex vgl. u. a. Hildermeier, Geschichte Russlands (wie Anm. 17), S. 1136 ff. und 1157 ff.; Neutatz, Das russische Verfassungsexperiment (wie Anm. 20); Victor Leontovitsch, The History of Liberalism in Russia, Pittsburgh 2012; Lutz Häfner: Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Die Wolgastädte Kazan’ und Saratov (1870–1914), Köln 2004; Guido Hausmann (Hrsg.): Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002; Lidija V. Košman: Gorod i gorodskaja žizn’ v Rossii 19 stoletija: social’nye i kul’turnye aspekty, Moskau 2008; Boris Mironov/Ben Eklof: The Social History of Imperial Russia, 2 vols, Boulder 2000; Carsten Goehrke: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern, Bd. 2: Auf dem Weg in die Moderne, Zürich 2003.

162

Matthias Stadelmann

standen. Nikolaj machte seinen Job, so wie er es als zum Wohle Russlands richtig verstand – und bewegte sich dabei weitgehend auf traditionellen Pfaden an etlichen Realitäten der Zeit vorbei. Russland hatte mit Nikolaj II. in schwerer Zeit einen schwachen Kaiser, der die dynastische Herrschaft durchaus diskreditierte. Aber man darf auch nicht übersehen, dass der Kaiser zwar weiterhin zentral, präsent und mit enormen Kompetenzen ausgestattet war, dass ihn freilich die Grundgesetze von 1906 sowie die zunehmende Komplexität des staatlichen wie gesellschaftlichen Lebens einhegten. Aber wie auch immer: Bis in den Winter 1916, ja, bis in die ersten Wochen des Jahres 1917 hinein war von einem Sturz des Zaren überhaupt nicht die Rede, es lag außerhalb des Diskutablen. Dies bringt mich ganz am Ende noch kurz zu einer Konstellation, die viel zu lange als miese Banalität analyseunfähiger Einfaltspinsel abgetan wurde – der ereignisgeschichtlich begründeten Kontingenz. Wirklich akut wurden die strukturellen wie personalen Nöte nur unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges, der der Bevölkerung schwer zusetzte. Es soll bitte keine historiographische Simplifizierung sein, aber: Ursächlich für den Untergang des Russischen Reiches im Jahr 1917 war der Weltkrieg mit seinen Belastungen. Natürlich sind Ereignis und Struktur auch hier verschränkt: Dass die Belastungen auf ein unzufriedenes Industrieproletariat trafen, das die Hauptstadt Petrograd in den ersten Wochen des Jahres 1917 auf den Kopf stellte, hat eine längere Vorgeschichte. Dass nach dem Sturz der Zarenherrschaft sich keine neue konstitutionelle Monarchie mit einer kaiserlichen Repräsentativrolle etablierte, lag auch an Nikolajs II. 22 Jahre andauernder nicht überzeugender Herrschaft. Und dass es dann doch keine Demokratie westlich-parlamentarischen Typs wurde, hatte noch länger zurückreichende Gründe, die unter anderem in der extremen sozialen Ungleich- und Ungerechtigkeit sowie in der lange fehlenden parlamentarischen Partizipationsausübung lagen. Doch wo man auch hinsieht, bleibt der Befund: Russland war seit dem 19. Jahrhundert dabei, sich langsam zwar, aber kolossal zu verändern – und der große Krieg kam zum ungünstigsten Zeitpunkt. Ohne den Krieg wäre es zu keinem Zarensturz gekommen. So aber wurde die Welt Zeuge geradezu sensationeller Entwicklungen in Russland. Nikolaj wurde nach seiner Abdankung nach Carskoe Selo gebracht, wo er zusammen mit seiner Familie unter Hausarrest gestellt wurde. Für die Zukunft schwebte ihm entweder ein ruhiges Privatleben an der Südküste der Krim vor oder erforderlichenfalls ein Asyl in Großbritannien. Die neue Regierung wusste dagegen vorerst nicht so recht, wie sie mit dem abgedankten Herrscher umgehen sollte. Sie bezeichnete sich aufgrund fehlender Legitimation als »zeitweilig« und bestand aus meist recht bekannten

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor

163

Persönlichkeiten der Politik der letzten zehn bis fünfzehn Jahre, von ihrem Berufsprofil her vorwiegend Juristen und Unternehmer, aber auch ein Historiker war dabei: Unter ihnen waren linke Liberale, rechte Liberale, gemäßigte Konservative, progressive Konservative – und ein Sozialist. Freilich war diese – nennen wir sie – »bürgerliche« Provisorische Regierung mit ihrer Zukunftsvorstellung einer parlamentarischen Republik nicht die einzige Institution, die Anspruch auf Gestaltung der politischen Verhältnisse im postmonarchischen Russland erhob. Wie erwähnt hatten sich in den Tagen der Revolution auch Arbeiter und Soldaten spontan organisiert. Ihr Organ wurde der Petrograder Rat der Arbeiterund Soldatendeputierten, in dem bald Vertreter der sozialistischen Parteien den Ton angaben. Offiziell übernahm der Rat keinerlei Regierungsfunktionen, schließlich waren nach den großen theoretischen Autoritäten der Sozialisten, Marx und Engels, jetzt die Bürgerlichen an der Reihe, aber er kontrollierte die neue bourgeoise Regierung und wachte über eine gebührende Berücksichtigung der Anliegen seiner proletarischen Klientel. Schnell zeigte sich, dass es neben elementaren Gemeinsamkeiten wie der Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung und der Gewährleistung der Lebensmittelversorgung zahlreiche schwer überbrückbare Differenzen gab, die Russlands Partizipation am noch andauernden Weltkrieg ebenso betrafen wie soziale, ökonomische und politische Fragen der inneren Neugestaltung des Landes. Unter dem Druck des Krieges und der proletarischen Straße taumelte die Regierung bald von einer Krise in die nächste. Als im April auch noch Lenin, der apodiktische Führer der linken Sozialdemokraten, in Petrograd eintraf, wurde es für die bemühte, aber heillos überforderte Regierung noch schwerer, rief Lenin doch die Arbeiterschaft hartnäckig dazu auf, den Bürgerlichen jede Unterstützung zu entziehen. Alle Macht im Staat, so Lenins neue Idee, die ihm wohl auf der langen Zugfahrt aus der Schweiz eingefallen war, sollte nun den (Arbeiter-) Räten gehören. Während sich die Regierung in schnell wechselnden Kabinetten tapfer an der Quadratur des Kreises abmühte – Einhaltung der militärischen Bündnisverpflichtungen bei gleichzeitiger sozialer und wirtschaftlicher Konsolidierung im Inneren – hetzte Lenin mit seinen Bol’ševiki aggressiv dagegen. Dabei versprach er denjenigen, die er für das revolutionäre Russland als wichtig erachtete, das, was diese jeweils hören wollten: Den Soldaten den sofortigen Frieden, den Arbeitern die vollständige Kontrolle über die Produktion, den Bauern das gesamte Land. Solch wahrhaft populistisches Vorgehen verfing schnell: Dass die Bol’ševiki im Oktober einen Putsch durchführen, die Provisorische Regierung absetzen, die bürgerlich-liberalen politischen Kräfte ächten und die anderen

164

Matthias Stadelmann

sozialistischen Parteien schnell an den Rand des Geschehens drängen konnten, hatte seine Grundlage in einer seit Sommer 1917 rasant anwachsenden Unterstützung durch die unteren sozialen Schichten.23 Für den entthronten Nikolaj bedeutete diese Entwicklung nichts Gutes. Noch im Frühjahr hatte ihm sein britischer Cousin George V. aus Angst vor der englischen Arbeiterschaft ein Asyl in Großbritannien verweigert. Im Sommer 1917 hatte die Regierung entschieden, Nikolaj mit Familie von Petrograd ins westsibirische Tobol’sk zu verlagern. Die Stimmung in der Hauptstadt war so aggressiv geworden, dass man befürchtete, Leib und Leben des früheren Herrschers, der in der radikalisierten Arbeiterschaft inzwischen als übler, blutrünstiger Verbrecher galt, nicht mehr garantieren zu können. In Tobol’sk residierte die Zarenfamilie deutlich bescheidener, eingeschränkter, aber immer noch halbwegs komfortabel. Mit der Machtübernahme der radikalen Linken sollte sich dies ändern – der Umgangston wurde rauer und im April 1918 verfrachtete man die Familie aus dem beschaulich-altmodischen Tobol’sk nach Jekaterinburg, damals eine rote Hochburg hinter dem Ural. »Nikolaj dem Blutigen« sollte der Prozess gemacht werden. Doch ein Prozess konnte, das werden sich die führenden Kräfte der Bol’ševiki überlegt haben, auch Nachteile haben. Zwar war an einer Verurteilung Nikolajs nicht zu zweifeln – aber was war mit Frau und Kindern? Was, wenn man den Teenagern keine Verbrechen am Volk nachweisen konnte und sie freisprechen musste? Wollte man Überlebende aus der Familie? Faktographisch lässt sich die Entwicklung, die zur Ermordung der letzten Zarenfamilie führte, kaum nachweisen. Es gibt aber klare Hinweise darauf, dass die Genossen vom Ural angesichts vorrückender weißer Bürgerkriegstruppen, die Entscheidung trafen, die ganze »Bagage« – so ein Codewort im Schriftverkehr – zu liquidieren, bevor sie womöglich den Gegnern in die Hände fiel.24

23 Zur weiteren Entwicklung im Jahr 1917 siehe etwa Altrichter, Russland 1917 (wie Anm. 3); Hildermeier, Die Russische Revolution (wie Anm. 3); Altrichter, 1917. Revolutionäres Russland (wie Anm. 3); Laura Engelstein: Russia in Flames. War, Revolution, Civil War 1914–1921, New York 2018; Sean Mc Meekin: The Russian Revolution. A New History, New York 2017; Dietrich Beyrau: Petrograd, 25. Oktober 1917. Die russische Revolution und der Aufstieg des Kommunismus, München 2001. 24 Zur Ermordung der Zarenfamilie existiert, vor allem in Russland, eine mittlerweile unübersichtliche Flut an Publikationen; vgl. nur als wichtige Beispiele: Jurij A. Buranov/Vladimir M. Chrustalev: Romanovy. Gibel’ dinastii, Moskau 2000; Ljudmila A. Lykova: Sledstvie po delu ob ubijstve rossoijskoj imperatorskoj sem’i. Istoriograficˇ eskij i archeograficˇ eskij ocˇ erk, Moskau 2007; Genrich Ioffe: »Fillipov sud«. Po cˇ ’emu rasporjaženiju byla rasstreljana carskaja sem’ja?, in: Nauka i žizn’ 2010, Heft 8.

Strukturelle Defizite und der persönliche Faktor

165

Freilich waren die Umstände in den Wochen zuvor vielfältig mit der Zen­ trale besprochen worden – und am Tag vor der Erschießung telegraphierte man den Petrograder Parteichef Zinov’ev an, dass man nun handeln werde, sofern die Parteiführung keine Einwände habe. Offensichtlich gab es keine Einwände, ob stattdessen gar ein einschlägiger Befehl in den Ural ging, ist aus den vorhandenen Quellen nicht ersichtlich. In jedem Fall aber waren Lenin und der Führungszirkel in die Entscheidung zum Mord aufs Engste involviert. Übrigens wurden etwa zur gleichen Zeit auch andere überlebende Romanovs – schließlich war die Dynastie weit verzweigt – ermordet. Alle Angehörigen der kaiserlichen Großfamilie, die nicht rechtzeitig aus dem Land herausgekommen waren, wurden massakriert.25 Die Bol’ševiki gewannen am Ende den Bürgerkrieg, über die Gründe zu sprechen, würde den gegebenen Rahmen sprengen, und sie etablierten eine Räteunion als staatliches Gerüst einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Mit der kaiserlichen Vergangenheit wollte man radikal brechen: Über Nikolaj II. sprach man nicht mehr, über die Ermordung seiner Familie schon gar nicht. Die Angehörigen von Dynastie und höherem Adel flüchteten, sofern sie konnten, in die Emigration; auf die im Land Zurückgebliebenen warteten gerade in den Anfangsjahren des von den Bol’šėviki gefeierten Roten Terrors Tod und Vernichtung, oder, wenn sie mehr Glück hatten, unauffällig-demütige Assimilation an das neue Gesellschaftsmodell, dem sie dank ihrer Bildung und ihres Know-how dienen durften. Für die Bauern, die im Bürgerkrieg mehrheitlich gegenüber den Bol’ševiki, die ihnen so viel versprochen hatten, loyal blieben, war zunächst Lenin der »neue Car’«, bis sie spätestens während der Zwangskollektivierung seit Ende der 1920er merkten, dass es keinen fürsorglich-patriarchalischen Zaren mehr gab, sondern nur eine Kommunistische Partei, die sich auf die roten Fahnen geschrieben hatte, das alte russische Bauerntum mit Gewalt zu brechen.26

25 Um die tragischen Schicksale jenseits der engeren kaiserlichen Familie hat die große Geschichtswissenschaft einen weiten Bogen gemacht, fundierte Literatur ist spärlich; siehe u. a. John van der Kiste: The Romanovs 1818–1959, Phoenix Mill 2005, S. 238 ff.; Greg King/Penny Wilson: Gilded Prism. The Konstantinovichi Grand Dukes and the Last Years of the Romanov Dynasty, East Richmond Heights 2006; Ljudmila L. Jugova, Svetlye Knjazja. Zizneopsanija Alapaevskich mucˇ enikov, knjazej Krovi Imperatorskoj Ioanna, Konstantina i Igorja Konstantinovicˇ ej, Alapaevsk 2018. 26 Zur weiteren Entwicklung im Russland der 1920er Jahre siehe etwa Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 1998, insbes. S. 105–434; Helmut Altrichter: Kleine Geschichte der Sowjetunion 1917–1991, München 42013, S. 50–78; Martin McAuley:

166

Matthias Stadelmann

Und dennoch, trotz solcher und anderer sozioökonomischer Brüche, lebte die imperiale Vergangenheit Russlands auch während der Sowjetzeit weiter. Sie lebte weiter in den Palästen, in denen, sofern sie nicht zu Museen, Waisenhäusern oder Kasernen umfunktioniert wurden, nun die Partei und andere wichtige Organe residierten; sie lebte weiter in der imperialen Politik, die Sowjetrussland schnell zu seiner außenpolitischen Leitlinie machte; sie lebte weiter in der patriotisch-positiven Aufwertung der eigenen Vergangenheit und einem sehr konservativen gesellschaftlichen Wertekanon seit der Ära Stalins; sie lebte weiter in der kulturellen Tradition von Musik, Literatur, Theater und Malerei aus dem 19. Jahrhundert und sie lebte nicht zuletzt weiter im »Russland jenseits der Grenzen«, in der Emigration.27 Wenn auch diese unterschiedlichen Arten von Weiterleben oft unterbrochen und unterschwellig waren, so trugen sie doch ihren wesentlichen Teil dazu bei, dass Nikolaj II., aber auch andere russische Kaiser und Kaiserinnen nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus als positive Identifikationsfiguren wieder auferstehen konnten.

The Rise and Fall of the Soviet Union, Harlow 2008, insbes. S. 99–136; Lewis H. Siegelbaum: Soviet State and Society between Revolutions, 1918–1929, Cambridge 1992. 27 Vgl. etwa Nicholas S. Timasheff: The Great Retreat. The Growth and Decline of Communism in Russia, New York 1946; Vera S. Dunham: In Stalin’s Time. Middleclass Values in Soviet Fiction, Cambridge 1976; David Brandenberger: National Bolshevism: Stalinist Mass Culture and the Formation of Modern Russian National Identity, 1931–1956, Cambridge 2002; ders./Kevin M. F. Platt (Hrsg.): Epic Revisionism. Russian History and Literature as Stalinist Propaganda, Madison 2006; Sheila Fitzpatrick: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Time, Soviet Russia in the 1930s, Oxford 1999; David L. Hoffmann: Stalinist Values. The Cultural Norms of Soviet Modernity, 1917–1941, Ithaca 2003; Gabriele Gorzka (Hrsg.): Kultur im Stalinismus. Sowjetische Kultur und Kunst der 1930er bis 50er Jahre, Bremen 1994; Karl Schlögel: Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917–1941, München 1994; Marc Raeff: Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration, 1919–1939, New York 1990.

Johannes Zimmermann

Die Republik erzieht sich ihre Kinder. Vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei

Vorbemerkung1 Die radikalen Veränderungen, die die Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit sich brachten, werden in der deutschen Öffentlichkeit häufig als vornehmlich west- und mitteleuropäisches Phänomen wahrgenommen. Dabei stellten die späten 1910er- und frühen 1920er-Jahre auch für die muslimisch dominierten und geprägten Gesellschaften der sogenannten ›islamischen Welt‹ – und insbesondere für die Gebiete des Osmanischen Reiches – eine tiefe Zäsur dar. Ebenso wie in Europa, wo Krieg und Revolution die alten Regime des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns und des Zarenreichs beseitigten, führte der Erste Weltkrieg auch im Vorderen Orient zum endgültigen Verschwinden eines multiethnisch und multireligiös geprägten Imperiums, das seine beiden europäischen Verbündeten nur um einige kurze und zudem wenig erquickliche Jahre überlebte. Ebenso wie in Europa, so waren die Jahre nach 1918 auch im Vorderen Orient, in Nordafrika und in den ehemals vom zaristischen Russland dominierten Gebieten Zentralasiens geprägt vom Entstehen und Vergehen oftmals ephemerer neuer Staatlichkeiten. Unter ihnen findet sich – und dies ist angesichts der geringen Rolle, die republikanische Ideologien unter muslimischen geistigen Eliten bis dato gespielt hatten, durchaus interessant – eine nicht unerhebliche Anzahl von (oftmals regionalen) Republiken. Viele dieser Staatsgründungen standen zum einen unter dem Vorzeichen nationalistischer Bewegungen. Zum anderen waren sie von einem etatistischen Modernismus geprägt, der – nicht zuletzt auch stimuliert durch 1

Die Wiedergabe türkischer Begriffe folgt der heute üblichen türkischen Orthographie; osmanische Begriffe werden gemäß dem Umschriftsystem der İslâm Ansiklopedisi, arabische Termini nach dem Umschriftsystem der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft wiedergegeben. Personennamen werden – unter Beibehaltung einiger Eigenarten der historischen Schreibung – in einer am modernen türkischen Alphabet orientierten Orthographie wiedergegeben. Für islamwissenschaftliche und türkeigeschichtliche Standardnachschlagewerke werden die folgenden Abkürzungen verwendet: EI2 = Encyclopaedia of Islam, Second Edition; İA = İslâm Ansiklopedisi, TDVİA = Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi.

168

Johannes Zimmermann

die Entwicklung des Sozialismus im postzaristischen Russland – häufig säkularistische Züge annahm.2 In dieses allgemeine Bild fügt sich auf den ersten Blick auch die Gründung der Republik Türkei am 29. Oktober 1923. Sie steht am Ende einer sechsjährigen, von mannigfachen Formen der Krise und der Gewalt geprägten Periode (1918 bis 1923/24), die das Ende des Osmanischen Reiches und seiner zentralen Institutionen markiert und die sich mit Stefan Reichmuth grob in drei Phasen einteilen lässt: Die erste Phase lässt sich hierbei vom Waffenstillstand von Moudros am 30. Oktober 1918 bis etwa zur Unterzeichnung des für das Osmanische Reich extrem harschen und demütigenden Vertrags von Sèvres (10. August 1920) ansetzen. Gekennzeichnet waren diese Jahre nicht zuletzt durch die Bemühungen des letzten osmanischen Sultans, Mehmed VI. (reg. 1918–1922), der erst im Juli 1918 den Thron bestiegen hatte, sich mit den Siegermächten der Entente zu arrangieren und gleichzeitig den verbliebenen jungtürkischen Einfluss in der Istanbuler Regierung zurückzudrängen. Gleichzeitig formierte sich – zuerst im Istanbuler Untergrund, dann immer offener und in ganz Anatolien – der national gesinnte Widerstand, der in Mustafa Kemal seinen Organisator fand und schon bald zur bestimmenden politischen und militärischen Kraft dieser Periode aufsteigen sollte.3 Die zweite Phase von 1920 bis 1922 deckt sich grob mit dem Verlauf des sogenannten »Befreiungs-« oder »Unabhängigkeitskriegs«, in dessen Verlauf die von Mustafa Kemal organisierten nationalen Kräfte zuerst im Osten Anatoliens die Truppen der armenischen Republik zurückdrängten, bevor sie sich ab Januar 1921 unter anderem gegen das Vorrücken griechischer Truppen im Westen wandten, deren vollständigen Rückzug aus Anatolien sie schließlich ebenso erzwangen wie den Abzug der anderen europäischen Mächte. Auf dem Weg zum Waffenstillstand von Mudanya (11. Oktober 1922) hatte sich das Ankaraer Regime nicht nur intern organisiert, sondern sich auch international – etwa durch einen Freundschaftsvertrag mit Russland – abgesichert. 4 2

3

4

Für einen konzisen Überblick über die muslimischen Republikgründungen der Nachkriegszeit und ihre jeweiligen ideologischen, politischen und kulturellen Ausrichtungen vgl. Stefan Reichmuth: Der Erste Weltkrieg und die muslimischen Republiken der Nachkriegszeit, in: Geschichte und Gesellschaft 40.2 (2014): Der Erste Weltkrieg in globaler Perspektive, S. 184–213. Für einen Überblick über diesen Zeitraum vgl. Reichmuth, Republiken (wie Anm. 2), S. 196 f. sowie Erik J. Zürcher, Turkey. A Modern History, London/New York 1993, S. 138–158. Für einen detaillierteren Überblick vgl. Reichmuth, Republiken (wie Anm. 2), S. 198 sowie Zürcher, Turkey (wie Anm. 3), S. 158–167.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

169

Die dritte und letzte Phase dieser Transitionsperiode (1922–1923/24) schließlich umfasst das faktische wie auch symbolische Ende des Osmanischen Reiches. An ihrem Anfang steht die Abschaffung des Sultanats am 1. November 1922 durch die Nationalversammlung in Ankara, der ein Streit zwischen den Vertretern des ancien régime über die Entsendung einer gemeinsamen Delegation zu den sich an den Waffenstillstand anschließenden, extrem langwierigen Friedensverhandlungen von Lausanne (1922/23) vorausgegangen war. Resultat der Unterzeichnung des Friedens von Lausanne am 24. Juli 1923 – der nicht nur die im Vertrag von Sèvres festgeschriebenen territorialen Verluste ›der Türkei‹ rückgängig machte, sondern durch den bereits im Januar 1923 vereinbarten Bevölkerungsaustausch auch die Grundlage für die ethno-religiöse Homogenisierung des späteren Staatsgebietes der Republik legte – war auch die Gründung der Republik Türkei selbst im Oktober 1923. Ihr folgten nur wenige Monate später, im März 1924, die Abschaffung des Kalifats und die Ausweisung aller Angehörigen der früheren Herrscherdynastie.5 So fügt sich die Republik Türkei durchaus prinzipiell in das von Reichmuth skizzierte Panorama muslimischer Staats- und Republikgründungen der Nachkriegszeit: Sie beerbt – unter den Vorzeichen eines ›zu spät gekommenen‹ türkischen Nationalismus – ein ausgedehntes, in seiner Spätphase als leidlich funktionierende konstitutionelle Monarchie strukturiertes, multiethnisches und multireligiöses Imperium; sie schreibt den Etatismus als eines der Leitprinzipien ihrer Staats- und Wirtschaftsführung fest, verpflichtet sich im Sinne eines ›nach Westen‹ orientierten Modernismus auf eine umfassende Gesellschafts- und Kulturrevolution, beseitigt unter dem Schlagwort des Republikanismus die letzten Spuren der alten Ordnung und mobilisiert durch ihren Populismus im Sinne Atatürks die Bevölkerung für den Aufbau eines ›modernen Staates‹, der vor allem auch durch sein spezielles Verständnis von Laizismus seine Abgrenzung von der imperialen und islamischen Vergangenheit des Osmanischen Reiches sucht.6 Was sie jedoch von vielen ihrer nahöstlichen und zentralasiatischen ›Schwestern‹ unterscheidet, ist nicht zuletzt ihre prinzipielle Stabilität und Langlebigkeit – ein Umstand, der wohl nicht zuletzt auch der spätestens ab 1926 quasi 5 6

Genauere Einblicke gibt Reichmuth, Republiken (wie Anm. 2), S. 198–200. Außerdem: Zürcher, Turkey (wie Anm. 3), S. 167–175. Die hier genannten Schlagworte – Republikanismus (cumhuriyetçilik), Nationalismus (milliyetçilik), Laizismus (laiklik), Populismus (halkçılık), Etatismus (devletçilik) und Reformismus/Revolutionismus (inkılapçılık) – schrieb die Cumhuriyet Halk Fırkası (CHF) bei ihrem Kongress im Mai 1931 als Grundprinzipien ihres politischen Handelns fest. Diese auch als »die sechs Pfeile« bekannten Prinzipien stellten bis in die 1990erJahre die politische Grunddoktrin der späteren CHP dar.

170

Johannes Zimmermann

unangefochtenen Machtposition ihres ›Gründers‹ geschuldet ist. Dieser trieb – nachdem er jedwede Opposition de facto beseitigt und erstickt hatte – den fundamentalen Umbau der Gesellschaft in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und vor allem auch religiöser Hinsicht mit derartiger Radikalität voran, wie man sie andernorts im Vorderen Orient kaum findet. Dass die junge Republik nur dem Namen nach eine ›Republik‹ im umfassenden Sinne, in Wirklichkeit jedoch, trotz aller Interludien und zeitweisen Ansätze zu einer Liberalisierung, zuvorderst ein auf die Person Mustafa Kemals als »nationaler Führer« zugeschnittenes, später dann, von seinem Tod bis nach Ende des Zweiten Weltkrieges, ein als Einparteienherrschaft fortgeführtes, weitgehend autokratisches System war, steht sicherlich außer Frage. In diesem Beitrag soll der Entstehung dieses ›Sonderfalles‹ nachgespürt werden. Dabei soll es nicht darum gehen, die einzelnen Etappen der Republikgründung sowie die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen ihrer ersten Jahre und Jahrzehnte chronologisch in einem ereignisgeschichtlichen Abriss nachzuvollziehen. Hierfür steht heute eine Vielzahl von auch an eine breitere Leserschaft gerichteten, leicht zugänglichen Publikationen zur Verfügung.7 Vielmehr ist es Ziel dieses Beitrages, das geistige Klima der Jahre des sogenannten »Türkischen Befreiungskrieges«, wie er heute in der türkischen Geschichtsschreibung allgemein genannt wird, und des knappen ersten Jahrzehnts nach der Republikgründung im Jahre 1923 anhand einzelner Schlaglichter auf Politik, Wirtschaft, Kultur und Religion zu umreißen und in einer essayistischen Panoramaskizze fassbar zu machen. Dabei soll es zum einen darum gehen, das aus europäischer Perspektive oftmals kaum verständliche Ausmaß und den radikalen Zuschnitt der aufs Engste mit dem republikanischen Projekt verbundenen kemalistischen (Kultur-)Revolution deutlich zu machen. Zum anderen aber soll auf die in der Öffentlichkeit oftmals wenig wahrgenommenen vorrepublikanischen, also osmanischen, Vorbilder verwiesen werden, die viele Denk- und Handlungsansätze der frühen Republikzeit maßgeblich beeinflusst und teilweise vorweggenommen haben. Gerade durch Letzteres soll der nicht nur in der älteren türkischen Nationalgeschichtsschreibung häufig zu begegnenden Auffassung entgegengetreten werden, dass die Republik und die mit ihr verbundenen, von oben verordneten Umwälzungen gleichsam Ausdruck einer auf die zwangsläufige Nationswerdung ›des Türkentums‹ gerichteten teleo7

Hier wären unter anderem die folgenden einführenden Kleinmonographien zu nennen: Klaus Kreiser: Geschichte der Türkei. Von Atatürk bis zur Gegenwart, München 2012; Udo Steinbach: Geschichte der Türkei, München 2000; Klaus Kreiser/Christoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, Stuttgart 2003; sowie Zürcher, Turkey (wie Anm. 3).

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

171

logischen und beinahe heilsgeschichtlich aufgeladenen Fortschrittsgeschichte waren. Vielmehr ist es Anliegen dieses Beitrags, das Augenmerk darauf zu lenken, dass diese Entwicklungen das durchaus radikalisierte Produkt von Diskursen und Debatten waren, deren Wurzeln bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich lagen und die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bereits deutlich zugespitzt hatten. Es lässt sich aufgrund seiner zentralen politischen Stellung kaum vermeiden, dass immer wieder auch die Person Mustafa Kemals, der später den Beinamen »Atatürk«, »Vater der Türken«, erhielt, eine wichtige Rolle in den Ausführungen spielen wird.8 Dies geschieht aber nicht etwa zum Zweck, den historischen Prozess der Republikgründung und seine Vorgeschichte nur auf seine Person zuzuspitzen und in ihm – wie es in der kemalistischen Geschichtsschreibung oftmals üblich ist – einen quasi-messianischen Heilsbringer im Sinne einer historischen Unausweichlichkeit und Vorherbestimmung türkischer Nationswerdung zu sehen.9 Vielmehr geschieht dies deshalb, weil sich an ihm und seinem Umfeld 8

9

Die überbordende und häufig ideologisch gefärbte türkische Literatur über Mustafa Kemal soll hier nicht im Detail aufgeführt werden. Auch zahlreiche der in europäischen Sprachen erschienen Biographien sind nicht vollständig frei von politisierten Perspektiven. Als leicht zugängliche und bedeutsame Beispiele für die verschiedenen biographischen Blickwinkel auf Mustafa Kemal seien hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – genannt: Patrick Kinross: Atatürk. The Rebirth of a Nation, London 1964; Andrew Mango: Atatürk, London 1999; Klaus Kreiser: Atatürk. Eine Biographie, München 22008 (dort ein detaillierterer und erläuternder Überblick über die (auch türkischsprachige) biographische Literatur, S. 311–319) sowie M. Şükrü Hanioğlu: Atatürk. An Intellectual Biography, Princeton 2011. Als besonders verdichtetes Beispiel einer solchen teleologischen Atatürk-Rezeption sei hier etwa der umfangreiche Eintrag »Atatürk« (Salih Omurtak/Hasan-Âli Yücel/İhsan Sungu u. a. in: İA, Bd. 1, S. 719–804) genannt, der den ersten Band der türkischen İslam Ansiklopedisi (İA) gleichsam als Anhang beschließt. Die Enzyklopädie erschien zwischen 1940 und 1987 sukzessive als (historisches) Standardnachschlagewerk in der Türkei. Ihren Kern bildet dabei die Übersetzung der vierbändigen, deutschsprachigen Enzyklopädie des Islam (erschienen 1913–1934) ins Türkische, die um zahlreiche Einträge zur türkisch-osmanischen Geschichte ergänzt wurde (die İslam Ansiklopedisi selbst umfasst 15 Bände). Der beinahe einhundert Druckseiten umfassende Eintrag wartet nicht nur mit zahllosen biographischen Details auf, welche die besondere Rolle Mustafa Kemals in der ›Geschichte der Türken‹ und seine Vaterrolle für das türkische Volk unterstreichen (so wälzt sich der »Vater der Türken« etwa schlaflos in seinem Bett, weil ihm die Sorge um Volk und Vaterland nicht zur Ruhe kommen lassen). Vielmehr kodifiziert er auch in Form des normativ zu lesenden Enzyklopädie-Eintrages die Vorstellung des beinahe ›übermenschlichen‹ und ›überzeitlichen‹ »Vaters der Türken«, auf den die Geschichte jener Nation zwangsläufig zustrebe und der sie zu ihrer Erfüllung geführt habe. So lassen die sieben Autoren des Eintrages ihre quasi-hagiographischen Schilderungen nicht von

172

Johannes Zimmermann

viele der tiefgreifenden Veränderungen pointiert deutlich machen lassen, die für die Bevölkerung mit der Gründung der Republik Türkei einhergingen und die in ihrer Radikalität wohl kaum überschätzt werden können. Ideologische Grundlagen und geistiges Klima Ende Oktober 1938, nur wenige Tage vor Mustafa Kemals Tod, beging Ankara den 15. Jahrestag der Gründung der Republik Türkei in Abwesenheit ihres Gründers, der zu jenem Zeitpunkt bereits schwer erkrankt im DolmabahçePalast in Istanbul darniederlag. Begleitet wurden die Feierlichkeiten zum Jahrestag des »paradiesischen Vaterlands«, wie die Republik bis heute in der national gesinnten und propagandistischen Rhetorik gerne genannt wird, auch durch eine rege Publikationstätigkeit in beinahe allen Bereichen der Gesellschaft: Regierung, staatliche Einrichtungen bis hin zu Stadt- und Kreisverwaltungen, aber auch Stiftungen, Vereine und natürlich die Presse überboten sich im Jubiläumsjahr mit Festschriften, Alben und Artikelserien, die die Republik, ihren Gründer und die Fortschritte der türkischen Nation feierten.10 Auch die Literaten der jungen Republik machten hier keine Ausnahme. So entstanden anlässlich des Jubeltages etwa zahllose »Heldenepen«, die die Opferbereitschaft und den Mut der türkischen Soldaten auf dem Weg zur nationalen Unabhängigkeit und Befreiung in markigen Worten und mit großem Pathos besangen. Die Motive jener Gedichte wurden dabei vor allem den Kriegen entnommen, in die das späte Osmanische Reich verwickelt war und an die sich die von Mustafa Kemal und seiner nationalen Sammlungsbewegung geführten Kriegshandlungen zwischen 1919 und 1922 fast nahtlos anschlossen. Und so beschworen die Dichter das heldenhafte Opfer der osmanisch-türkischen Soldaten in der Schlacht von Gallipoli 1915/16 ebenso, wie sie den glorreichen Sieg der Türken über die griechischen Besatzer bei Dumlupınar im August 1922 besangen – denjenigen Sieg, der das Ende der griechischen Präsenz in Anatolien markieren sollte. Denn die Republik war in den Augen ihrer Gründergeneration zuvorderst eines: ein Kind der Krise und ein Kind des Krieges, geboren als ›Phönix aus der Asche‹ durch den unerschütterlichen Heldenmut, das selbstlose Opfer und den un-

ungefähr mit der Formulierung »Atatürk […] gilt als eine der wahrhaftigsten Zierden der Menschheit« (S. 800) enden und weisen ihrem Darstellungsobjekt so selbst noch einen Platz in der Erfüllung des Laufes der Weltgeschichte zu. 10 Ein Überblick über die diversen Publikationen zum 15. Jahrestag der Republik findet sich in: Murat Karataş: Türkiye Cumhuriyeti’nin On Beşinci Yıldönümü Anısına Yapılan Yayın Faaliyetleri, in: Ankara Üniversitesi Dil ve Tarih-Coğrafya Fakültesi Dergisi 54.1 (2014), S. 81–104.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

173

verbrüchlichen Überlebenswillen der türkischen Nation – einer türkischen Nation, deren Wurzeln zwar bis an den Anbeginn der menschlichen Kulturentwicklung zurückreichten, die aber eben erst in der vom »Vater der Türken« 1923 gegründeten Republik ihre eigentliche Bestimmung erfüllen und den ihr zugedachten Platz in der Geschichte einnehmen sollte. Wohl kaum eine andere der zahllosen in jenem Jahr verfassten Oden und Hymnen hat so viel Berühmtheit erlangt, wie jene zwei Zeilen des 1885 geborenen Dichters, Romanciers und Juristen Mithat Cemal (Kuntay), die bis heute als emblematische Maximen des türkischen Nationalismus auf Landkarten, Postkarten und Postern prangen.11 Dem Staatsgründer gewidmet, der bereits 1922 zwei Verse einer Heldenode des Dichters auf den Sieg von Dumlupınar vor der Türkischen Nationalversammlung zu Gehör gebracht hatte, lässt Kuntay – seinerseits selbst Veteran der Dardanellenschlacht und des Unabhängigkeitskampfes – sein Gedicht »Beim Begrüßen der fünfzehn Jahre« in folgendem Zweizeiler kulminieren: »Was die Flaggen zu Flaggen macht, ist das Blut auf ihnen/Der Boden ist dann das Vaterland, wenn es jemanden gibt, der um seinetwillen stirbt.« Es ist eben dieser Zusammenhang von Selbstopfer, Nation und Republik, der eine entscheidende Rolle in den Diskursen der Eliten der frühen Republik spielte und der sich bis heute wie ein roter Faden durch das nationalistische Sprechen der türkischen Politik und Gesellschaft zieht.12 Die türkische Republik ist ohne die Existenz einer türkischen Nation nicht denkbar und vice versa. Diese Nation aber verkörpert sich zuvorderst im Heldenmut ihrer Angehörigen, im Selbstopfer ihrer Kinder. Auch der von Mehmet Âkif (Ersoy) (1873–1936)13 – übrigens ein enger Freund Kuntays – noch während der Jahre des Befreiungskampfes verfasste Text der türkischen Nationalhymne beschwört diese Zusammenhänge in religiös aufgeladenen Bildern und Metaphern, wenn er dem Halbmond der im Morgenrot wehenden karminroten Flagge etwa sein Blut und Leben als »reines Opfer« anbietet und

11 Zur Biographie Mithat Cemal (Kuntays) vgl. Kemal Kahraman: Kuntay, Mithat Cemal, in: TDVİA, Bd. 26, S. 379–380. 12 In jüngster Zeit erfährt diese Idee des Selbstopfers für die Nation nicht nur durch Vertreter der AKP, sondern auch in breiteren Kreisen des gesellschaftlichen Lebens und der Kulturproduktion eine zunehmend islamische Ausdeutung. Vgl. hierzu: Johannes Zimmermann: Islamische Visionen der Nation: Das Motiv der Eroberung Konstantinopels und Meḥmeds II. im neueren türkischen historischen Film, in: Sarah Kiyanrad/ Rebecca Sauer/Jan Scholz (Hrsg.): Islamische Selbst-Bilder. Festschrift für Susanne Enderwitz, Heidelberg 2020, S. 127–177. 13 Zur Biographie Mehmet Âkif (Ersoys) vgl. M. Ertuğrul Düzdağ/M. Orhan Okay: Mehmed Âkif Ersoy, in: TDVİA, Bd. 28, S. 432–439.

174

Johannes Zimmermann

die Unabhängigkeit der Nation als unveräußerliches Recht des gottesfürchtigen türkischen Heldengeschlechts preist.14 Woher aber stammt dieses überbordende Pathos und diese martialische Aufladung der frühen republikanischen Identitätsdiskurse? Mehrere Elemente sind es, die hier hervorzuheben sind: Zum einen waren es sicherlich die Erfahrungen der Jahre 1911 bis 1922, die dieses Verständnis maßgeblich mitgeprägt haben. Denn die Gründung der Republik steht tatsächlich am Ende eines ›langen Krisenjahrzehnts‹ des Osmanischen Reiches und seiner Gesellschaft, das durch faktisch ununterbrochene Kriege mit wechselnden externen europäischen Gegnern und – damit verbunden – Flüchtlingsströmen, Genozid, Hungersnöten und Seuchen gekennzeichnet war, die auch zu fundamentalen demographischen Umwälzungen auf dem Balkan, aber auch in Anatolien führen sollten. Wurde die Bevölkerung der Halbinsel 1911 noch auf ca. 13,7 Millionen Menschen mit komplexer ethnischer, linguistischer und konfessioneller Zusammensetzung geschätzt, so betrug die Einwohnerzahl Anatoliens 1922 nur noch 11,2 Millionen. Die Verluste resultierten dabei Schätzungen zufolge zu zwei Dritteln aus den eigentlichen Kriegshandlungen, den in ihrem Gefolge aufkommenden Epidemien und den »mörderischen Verfolgungen« der Armenier in den Jahren 1915 und 1916.15 Das letzte Drittel, das vor allem aus Nichtmuslimen bestand, war zur Flucht gezwungen und wurde nur zum Teil durch den Zustrom muslimischer Flüchtlinge aus dem Balkan, Griechenland und teilweise dem Kaukasus ersetzt. Hatte die Anzahl von Nichtmuslimen zu Beginn des genannten Zeitraums noch ca. 2,5 Millionen betragen, so waren 1923 nur noch um die 300.000 Menschen nicht-muslimischer Religions­ zugehörigkeit in Anatolien ansässig.16 14 Der vollständige Text der türkischen Nationalhymne mit Übersetzung in: Reiner Knieriem (Hrsg.): Nationalhymnen. Texte und Melodien, Stuttgart 1982, S. 179. 15 Kreiser, Geschichte der Türkei (wie Anm. 7), S. 11. 16 Die Bevölkerungszahlen Anatoliens – nicht nur zur Zeit des Ersten Weltkriegs – stellen ein besonderes Problem für die historische Forschung dar. Auch der genaue Umfang der Kriegsverluste sowie der Bevölkerungsrückgang durch Seuchen, Flucht und Vertreibung lässt sich oft eher nur schätzen als genau bestimmen. Einen auf osmanische und frühe republikanische Bevölkerungsdaten gestützten Versuch stellt dar: Justin McCarthy: Muslims and Minorities. The Population of Ottoman Anatolia and the End of the Empire, New York 1983. Eine konzise Zusammenfassung dieser demographischen Brüche und Verschiebungen findet sich auch bei Kreiser, Geschichte der Türkei (wie Anm. 7), S. 10–11; detaillierter und auf jeweils unterschiedliche Phasen der demographischen Entwicklung konzentriert sind: Bruce Clark: Twice a Stranger. The Mass Expulsions that Forged Modern Greece and Turkey, Cambridge 2009; Justin McCarthy: Death and Exile. The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims, 1821–1914, Princeton 1995 sowie Frederic

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

175

So tritt uns die Gesellschaft der jungen Republik vor allem auch als ein Gemeinwesen gegenüber, das hinsichtlich seiner demographischen, vor allem aber auch seiner religiösen und ›konfessionellen‹ Zusammensetzung weitaus homogener erscheint als die osmanische Gesellschaft nur wenige Jahrzehnte zuvor. Es ist nicht zuletzt diese mit allerlei Formen der Gewalt assoziierte demographische ›Homogenisierung‹ des Territoriums der späteren Republik, die die Durchsetzung einer türkischen Nationalidee in der nur wenig homogenen nationalen Sammlungsbewegung und somit auch die Gründung einer ›türkischen Republik‹ maßgeblich befördert und erleichtert haben dürfte.17 Entscheidend für die Situation von Land und Bevölkerung aber waren sicherlich die de facto ununterbrochenen Kriegshandlungen jener Jahre: Auf den Tripoliskrieg gegen Italien, in dem das Osmanische Reich seine Besitzungen in Libyen sowie zahlreiche Ägäische Inseln verlor, folgten 1912 und 1913 die aus den beiden Balkankriegen resultierenden massiven Gebietsverluste in Europa.18 1914 trat die Jungtürkische Regierung, deren Triumvirat zu jenem Zeitpunkt bereits seit geraumer Zeit diktatorisch regierte, trotz heftiger Parlamentsdebatten an der Seite der Mittelmächte in den Ersten Weltkrieg ein, der in der Besetzung Istanbuls durch britische, französische und italienische Truppen im November 1918 nur wenige Tage nach dem Waffenstillstand von Moudros und schließlich im Diktatfrieden von Sèvres im August 1920 seinen für das Osmanische Reich katastrophalen Ausgang nahm.19 Denn der Vertrag sah vor, dem Osmanischen Reich nichts weiter als einen wirtschaftlich wie politisch kaum lebensfähigen Rumpfstaat in den klimatisch, topographisch wie infrastrukturell benachteiligten Regionen Zentralanatoliens zu überlassen, der von einem Istanbul aus mehr verwaltet als regiert werden sollte, dessen Status wenig sicher erscheinen musste. Gleichzeitig sollten die Meerengen internationalisiert und große Teile Westanatoliens und Thrakiens Griechenland, das sich der so lange gehegten Megáli Idéa, also der Wiederbelebung des Byzantinischen Reiches, einen großen Schritt näher wähnte, zugeschlagen werden. Die etwa auf das Jahr 1921 zu datierende zeitgenössische Karte, die in Abb. 1 zu sehen ist, mag diese griechischen Ambitionen und das damit verbundene

C. Shorter: The Population of Turkey after the War of Independence, in: International Journal of Middle East Studies 17.4 (1985), S. 417–441. 17 Zur demographischen Zusammensetzung der »nationalen Sammlungsbewegung«, vgl. Bayram Sakallı: Milli Mücadelenin Sosyal Tarihi: Müdafaa-i Hukuk Cemiyetleri, Istanbul 1997. 18 Vgl. Zürcher, Turkey (wie Anm. 3), S. 108–112. 19 Vgl. ebd., S. 116 ff.

176

Johannes Zimmermann

Bedrohungsszenario für die türkischen Unabhängigkeitskämpfer augenfällig illustrieren. Dort prangt – vor der Karte »Großgriechenlands« – in der linken oberen Ecke das Konterfei von Eleftherios Venizelos (1864–1936) in einem Siegerkranz, während eine an die Siegesgöttin Nike gemahnende Hellás auf den Betrachter zuschreitet.20 Aber auch für die Franzosen und Italiener waren Zonen im Süden der Halbinsel vorgesehen, deren Ostteil schließlich zwischen Armeniern und – prospektiv – den Kurden aufgeteilt werden sollte. In den früheren arabischen Besitzungen des Reiches aber wurden britische und französische Mandatsgebiete eingerichtet. Sie waren für das Reich endgültig verloren.

Abb. 1: Karte »Großgriechenlands« nach dem Vertrag von Sèvres (ca. 1920/21). Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Megali_Idea.jpg.

20 Es ist interessant, dass zum Teil von Hand nachgezeichnete Kopien derartiger Karten (inklusive wechselnder Porträts verschiedener griechischer Politiker) schon in den 1910er-Jahren in jungtürkischen Kreisen kursierten. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurden diese Karten als Indizien für die große Gefahr gewertet, die ›den Türken‹ aus den großgriechischen Träumen zu erwachsen drohte. Zu einem besonders interessanten Spezimen dieser Karten vgl. Johannes Zimmermann: Individuelle und kollektive Krisenbewältigung am Ende des Reichs: Biographie und Nachlass des kretischen Publizisten İbrāhīm Ẕekī Cāfādzāde, Frankfurt a. M. u. a.: 2021 (im Druck).

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

177

Nicht zuletzt dieser drohende vollständige Verlust jedweder staatlicher Souveränität und Integrität des Reiches aber war es, der zur Haupttriebfeder der von Mustafa Kemal bereits ab 1919 in Opposition zur osmanischen Regierung in Istanbul in Anatolien organisierten nationalen Sammlungs- und Verteidigungsbewegung werden sollte. Sein Ziel – festgeschrieben im sogenannten »Nationalpakt«, der von der Nationalversammlung im Januar/Februar 1920 verabschiedet und veröffentlicht wurde – war es, die dem Osmanischen Reich im Waffenstillstands­ abkommen von Moudros ursprünglich zugesicherten Grenzen wiederherzu­ stellen und die Besatzer aus diesen Gebieten zu vertreiben. Dies sollte schließ­lich nach erbitterten und verlustreichen Kampfhandlungen vor allem gegen Griechenland, aber auch gegen italienische, britische und französische Truppen gelingen. Im Vertrag von Lausanne (24. Juli 1923) wurde der von Mustafa Kemal vertretenen Nationalen Regierung – inzwischen auch von den Europäern anerkannt – eben dies zugesichert. Es ist nicht zuletzt dieser Zustand jahrelanger Belagerung und Besatzung und der für viele Zeitgenossen gleichsam wundersame Erfolg des anfangs so aussichtslos erscheinenden Kampfes Mustafa Kemals und seiner nationalen Sammlungsbewegung, die dem türkischen Nationalismus der frühen Republik sein blutiges und martialisches Gepräge verliehen und sich als eine Art spezifisch ›türkischer Paranoia‹, als eine obsession territoriale, bis heute in den nationalistischen Diskursen des Landes eingenistet hat.21 Die autokratische Republik Doch der Schlüssel zum tieferen Verständnis dieses bis in jüngste Zeit für die politischen Debatten der Türkei prägenden kämpferischen und pathetischen Duktus liegt zu einem großen Teil auch in der Tatsache, dass die von den Zeitgenossen beschworene »türkische Nation«, deren endgültiges Konzept von Mustafa Kemal in der durchaus heterogenen Sammlungsbewegung schließlich – auch gewaltsam – durchgesetzt wurde, in vielerlei Hinsicht eine ›zu spät gekommene Nation‹ war; eine ›zu spät gekommene Nation‹ überdies, deren Grundidee und Grundkonzepte weniger in der islamisch geprägten Geistesgeschichte des Reiches und seiner traditionellen Eliten, als vielmehr in der Stimulation bestimmter reformorientierter Kreise der osmanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts durch europäische Ideen und Konzepte fußte, also in gewisser Weise einen ›Import‹ darstellte, der weder in der Geisteswelt der breiteren Bevölkerung, noch der Gesellschaft der urbanen Eliten verankert war.

21 Vgl. Stéphane Yerasimos: L’obsession territoriale ou la douleur des membres fantômes, in: Semih Vaner (Hrsg.): La Turquie, Paris 2005, S. 39–60.

178

Johannes Zimmermann

Dies lässt sich augenfällig bereits an der Selbstbezeichnung illustrieren, die die Gründer ihrem neuen Staatswesen gaben: Türkiye Cumhuriyeti (»Republik Türkei«). Denn den beiden Bestandteilen dieser Eigenbezeichnung ist gemein, dass es sich dabei im konkreten historischen Zusammenhang jeweils um Neologismen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft handelte, die jeweils auf die in diesem Zusammenhang zentralen geistesgeschichtlichen Konfliktfelder verweisen. So leitet sich die Bezeichnung der Staatsform – cumhuriyet (»Republik«, teilweise auch »Republikanismus«) – durch arabische Abstraktbildung vom arabischen Nomen gˇumhu ¯ r ab, das so viel wie »Menge, Menschenmasse«, aber auch »Öffentlichkeit« bedeutet und seinerseits das Verbalsubstantiv des ersten Stammes des arabischen Verbums gˇamhara – »sammeln, sich versammeln, versammeln« – darstellt. Geprägt wurde der Begriff in diesem Sinne bereits im Laufe des späten 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der intellektuellen Auseinandersetzung osmanischer Staatsmänner und Literaten mit der Französischen Republik. Auch zuvor findet er sich vereinzelt, wenn osmanische Staatsmänner etwa auf Venedig rekurrieren.22 Im Rahmen der gesellschaftlichen Debatten in der Zeit der sogenannten »Jungosmanen« ab der Mitte der 1860er-Jahre taucht er dann zum ersten Mal als allgemeine Bezeichnung für Formen parlamentarischer und konstitutioneller Staatlichkeit innerhalb der osmanischen Reformdebatten der Tanz. īmāt-Periode auf. Er stellt somit – wie zahlreiche der politischen Termini jener Jahrzehnte – eine Lehnübersetzung aus dem Französischen dar.23 Bis heute hat das Türkische trotz aller sprachreformerischer Verve gerade auch des Kemalismus keinen eigenen, ›urtürkischen‹ Begriff entwickelt. Noch deutlicher liegen die Dinge jedoch im Falle der Bezeichnung »Türkiye«. Sicherlich, der Begriff ›Türkei‹ war in Europa bereits seit den späteren Kreuzzügen auch als Bezeichnung für das Osmanische Reich und seine Gebiete in Gebrauch. Von den Osmanen selbst aber wurde diese Bezeichnung außer in den späten Phasen der Geschichte des Reiches nicht verwendet. Vielmehr bezeichnete sich das Reich, etwa auf Münzen, seinen offiziellen Dokumenten und später auch seinen Briefmarken, gemeinhin als der »erhabene osmanische Staat« und bezog sich so – ebenso wie die Bezeichnung seiner staatstragenden Elite – weder auf ethnische, territoriale oder religiöse, noch auf sprachliche

22 Zur (osmanischen) Geschichte des Begriffs cumhuriyet vgl. Bernard Lewis: Djumhūriyya, in: EI2, Bd. 2, S. 594–595. 23 Zu den zahlreichen politischen Neologismen des 19. Jahrhunderts und ihrer Bildung im Arabischen, Persischen und auch Osmanischen vgl. Bernard Lewis: Die politische Sprache des Islam, Übers.: Susanne Enderwitz, Berlin 1991.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

179

Kategorien, sondern wählte als Bezugspunkt seiner Eigenbezeichnung die Dynastie des Hauses Osman, die die Geschicke des Staates seit seiner Gründung um das Jahr 1300 gelenkt hatte. Mehr noch, die Bezeichnung »Türk« (»Türke«), von der sich »Türkiye« parallel zu »cumhuriyet« ableitet, die Eigenbezeichnung des Staatsvolks der späteren Republik also, galt der imperialen Elite noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also kaum 20 Jahre vor der Gründung der Republik, über weite Strecken als herabwürdigende und pejorative Bezeichnung. Denn der Begriff bezeichnete vor allem eines: die ungewaschenen, ungebildeten und groben Bauernlümmel des platten Landes, die anstelle des verfeinerten Elitenidioms des Osmanischen, das in Lexikon und Grammatik ein Amalgam türkischer, arabischer und persischer Elemente darstellte, nur das primitive anatolische Türkisch sprachen, also eben gerade jenes Türkisch, das von den Ideologen der Republik schließlich im Rahmen der berühmten »Sonnensprachentheorie« zur ›Ursprache der Menschheit‹ er- und verklärt werden sollte.24 Der radikale Wandel im Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft, der uns hier im Zeitraum weniger Krisenjahre und verdichtet in Gestalt zweier Begriffe entgegentritt, war jedoch kein unumstrittener und nur bedingt so plötzlich, wie es die bisherigen Schilderungen erscheinen lassen, auch wenn seine Geschwindigkeit immer wieder überrascht. Denn weder die Staatsform der Republik, noch die von den Dichtern des Jahres 1938 beschworene türkische Nation mit ihren Wurzeln in der vorislamischen ›Urheimat der Turkvölker‹ standen zu Beginn des Widerstands gegen die Besatzer im Mittelpunkt der Rhetorik ihrer späteren Architekten und Gründerväter. Zur Organisation des Widerstandes waren Mustafa Kemal und seine Getreuen vor allem auch auf die Unterstützung der religiösen Eliten Anatoliens angewiesen, die den radikalen Nationaldiskursen nicht zuletzt der Jungtürken über weite Strecken im besten Falle kritisch, meist jedoch offen ablehnend gegenüberstanden. Gleichsam aber lehnten sie die Besatzung des Osmanischen Reiches ab. Für Mustafa Kemal und seine Mitstreiter hatten gerade die islamischen Eliten zentrale Bedeutung bei der Organisation des Widerstandes. Zum einen spielte die Predigt beim muslimischen Freitagsgebet seit alters her eine zentrale Rolle als Legitimationsort von Staat und Herrschaft. Zum anderen war sie eines der wenigen ›Massenmedien‹, über die die Widerständler im infrastrukturell wenig durchdrungenen Anatolien unter den Be24 Zur sogenannten »Sonnensprachentheorie« vgl. Jens Peter Laut: Das Türkische als Ursprache? Sprachwissenschaftliche Theorien in der Zeit des erwachenden türkischen Nationalismus, Wiesbaden 2000.

180

Johannes Zimmermann

dingungen der Besatzung Kontrolle erlangen konnten. Hinzu kam, dass die anatolische Gesellschaft engmaschig von religiösen islamischen Netzwerken und Patronage-Verhältnissen durchzogen war, in denen nicht zuletzt die mystischen Bruderschaften eine wichtige Rolle spielten. Diese galt es für die Sache des Widerstands zuvorderst nutzbar zu machen. Darüber hinaus arbeiteten weite Teile der anfangs noch dezentralen und kaum vernetzten Widerstandskräfte nicht etwa auf die Gründung eines neuen Staates hin, sondern sahen ihre Aufgabe und ihr Ziel zuvorderst in der Rettung und Wiederherstellung des Reiches und seiner zentralen Herrschaftsinstitutionen. Republikanisch-laizistische und in diesem Sinne nationalistische Kräfte stellten nur einen kleinen Teil der sich unter der Führung Mustafa Kemals ab Mai 1919 organisierenden Bewegung dar. So verwundert es wenig, dass Mustafa Kemal und sein engerer Zirkel Bezugnahmen auf die etwaige Gründung einer Republik ohne Sultanat und Kalifat anfangs vermieden. Weder bei den westanatolischen Regionalkongressen noch beim berühmten Kongress von Sivas 1919, in dessen Verlauf der spätere »Nationalpakt« gleichsam vorformuliert wurde, wurde ein derartiges Ziel explizit ausgesprochen. Auch die Eröffnung der ersten Türkischen Nationalversammlung am 23. April 1920 stand noch ganz im Zeichen aus osmanischer Zeit überkommener Formen des auf Reich und Sultan-Kalif ausgerichteten Patriotismus. So vermied Mustafa Kemal in seiner Rede jeglichen Rückgriff auf Begriffe wie »Republik« oder »Regierung«, denn es war ihm sehr wohl bewusst, dass die überwiegende Mehrheit der Delegierten, die sich aus ehemaligen Politikern des jungtürkischen »Komitees für Einheit und Fortschritt«, sogenannten »Liberalen« und zu einem großen Teil auch aus Religionsgelehrten zusammensetzten, die »Große Nationalversammlung der Türkei« vor allem als »eine Art ausgelagertes osmanisches Parlament« verstand, wie Klaus Kreiser es formuliert.25 Das unbestrittene Oberhaupt des Staates, so Mustafa Kemal dann auch in seiner Rede, sei natürlich der Sultan, Träger der religiösen Autorität des Kalifats und somit Oberhaupt und Vorbeter der gesamten muslimischen Gemeinschaft. Ihn, der von den ungläubigen Besatzern derzeit gleichsam gefangen gehalten wurde, zu retten und zu befreien, sei die heilige Pflicht des Widerstands. Mit diesen Formulierungen passt sich Mustafa Kemal nahtlos ein in den Duktus des religiös konnotierten Patriotismus jener Jahre, der auch bei den konservativen religiösen Eliten Anklang finden konnte. Denn derartige religiös aufgeladene Formen des Patriotismus hatten durchaus eine

25 Kreiser, Atatürk (wie Anm. 8), S. 152.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

181

osmanische Vorgeschichte, die in ihren ›moderneren‹ Formen bis in hamidische Zeit zurückreichen.26 Als Beispiel sei hier etwa der Mufti von Denzili, ein gewisser Ahmed Hulusi Efendi (1861–1931),27 angeführt, der in einer Rede an die Bevölkerung von Denizli am 15. Mai 1919 nur einige Stunden nach dem Bekanntwerden der Besetzung Izmirs davon sprach, dass es sich beim bewaffneten Kampf gegen die Besatzer um nicht weniger als »eine religiöse Pflicht« handle.28 Nur einige Tage später rief sein Standeskollege, Ahmet İzzet (Çalgüner) Efendi (1875–1952) die Bevölkerung bei einer Versammlung im kaum hundert Kilometer entfernten Çal mit einer bemerkenswerten Analogie zum Widerstand gegen die Feinde auf. Dabei verknüpfte er – unter Rückgriff auf Denkfiguren, die bereits im Ersten Weltkrieg eine Rolle bei der Mobilisierung der Bevölkerung gespielt hatten – den Gedanken der göttlichen Einheit mit der Unteilbarkeit des Vaterlandes. Seine Formulierungen stehen exemplarisch für das rhetorische Repertoire und die Gedankenwelt dieses mehr islamisch und osmanisch als türkisch konnotierten Vaterlandsbegriffes. So formulierte er am 17. Mai 1919 in seiner Predigt an die in der »Marktmoschee« von Çal versammelte Bevölkerung: »Da unser Gott, unser Prophet, unser Buch [d. h. der Koran, JZ] und [eben auch] unser Vaterland eines sind, sind wir zu seiner Verteidigung verpflichtet«.29 Aber auch die von Mustafa Kemal selbst geplante und minutiös choreographierte Eröffnungszeremonie der Nationalversammlung stand ganz im Zeichen dieses islamisch-patriotischen Geistes und griff auf zahlreiche Formen vorrepublikanischer osmanischer Herrschaftslegitimation zurück. So fand sie natürlich direkt nach dem hoch politisierten Freitagsgebet statt, an dem alle Abgeordneten in der Hacı Bayram Moschee in Ankara teilnehmen mussten. Im Anschluss an das Gebet marschierte das XVI. Armeekorps auf und demonstrierte die militärische Stärke des neuen Regimes. Sodann wurden – ganz in muslimischer Tradition – mehrere Hammel geopfert, bevor schließlich das Heilige Banner und ein Behälter mit einem Barthaar des Propheten Muhammad – beides zentrale Instrumente bereits osmanischer Herrschafts26 Als »hamidisch« wird die Regierungszeit des gerade in der republikanischen Geschichtsschreibung nicht unumstrittenen osmanischen Sultans Abdülhamid II. (reg. 1876–1909) bezeichnet. 27 Für eine Kurzbiographie Ahmed Hulusi Efendis vgl. Ali Sarıkoyuncu: Milli Mücadelede Din Adamları, Bd. 2: Fetvalar ve Fetvaları Tasdik Eden Din Adamları, Ankara 2002, S. 139–148. 28 Ebd., S. 141. 29 »Allahımız bir, peygamberimiz bir, kitabımız bir, vatanımız bir olduğuna göre muhafazasına mecburuz«, zitiert nach: ebd., S. 265.

182

Johannes Zimmermann

legitimation – öffentlich gezeigt und vorgeführt wurden.30 Dann erst trat die »Meclis« zu ihrer ersten Sitzung im unbeheizten Clubhaus der ehemaligen Ortsgruppe des »Komitees für Einheit und Fortschritt« zusammen. Gleichzeitig wies Mustafa Kemal an, dass anlässlich der Eröffnung Lesungen aus dem Koran, der Prophetenüberlieferung und den Texten zum Prophetenleben in allen erreichbaren Dörfern und Städten abgehalten werden sollten, um die Loyalität der Meclis zu Sultan und Kalif allenthalben bekannt und rituell erfahrbar zu machen. Auch die ersten Gesetzesinitiativen legen Zeugnis ab sowohl von dieser ›konservativen‹ Orientierung großer Teile der Abgeordneten, als auch von der Heterogenität der Versammlung, die sich bald schon in zwei zwar nicht gänzlich gegensätzliche, doch aber unterscheidbare Gruppen teilen sollte, die beinahe den Charakter von Fraktionen annahmen. Sicherlich greift es zu kurz, der kemalistisch geprägten Geschichtsschreibung zu folgen und in der ersten Gruppe die ausschließliche progressive Hausmacht Mustafa Kemals und in der zweiten seine reaktionären Opponenten zu sehen. Auch eine allzu rigide soziale Profilierung der beiden Gruppen – wobei die erste vor allem mit den Vertretern von Zivilverwaltung und Militär, die zweite hingegen mit den Religiösen, Kleingewerbetreibenden aus der Provinz sowie den Großgrundbesitzern gleichzusetzen wäre – wird den historischen Realitäten kaum gerecht.31 Sicher ist aber, dass sich die Vertreter einer unbedingten Verteidigung von Sultanat und Kalifat vor allem in der zweiten Gruppe konzentrierten, ebenso wie sich dort Abgeordnete sammelten, die schon früh autoritäre und autokratische Tendenzen beim Organisator des Widerstandes zu erkennen glaubten und diese kritisierten. Diese grundsätzliche Zweiteilung der ersten Nationalversammlung – die ethnisch und konfessionell längst nicht mehr so vielgestaltig war wie die osmanischen Parlamente der sogenannten »Zweiten Konstitutionellen Periode« – wird auch an den ersten Gesetzesvorhaben deutlich, die in der Versammlung diskutiert und abgestimmt wurden. So waren es denn zu Anfang vor allem religiös und moralisch geprägte Gesetzesinitiativen, die in Angriff genommen und verabschiedet wurden. Dazu gehörte etwa der Gesetzesvorschlag zum Verbot von Alkohol ebenso wie Gesetzesinitiativen,

30 Zu den Reliquien des Propheten und seiner Gefährten vgl. Nebi Bozkurt: Mukaddes Emanetler, in: TDVİA, Bd. 31, S. 108–111 sowie Hilmi Aydın/Bahadır Taşkın: The Sacred Trust. Pavilion of the Sacred Relics, Somerset 2004. 31 Zur inneren Gliederung der Nationalversammlung vgl. Fahri Çoker: Türk Parlamento Tarihi: Millî Mücadele ve T.B.M.M. I. Dönem 1919–1923, Bd. 1, (Türkiye Büyük Millet Meclisi Vakfı Yayınları; 4), Ankara 1994, S. 289–317 sowie insbesondere zur zweiten Gruppe: Ahmet Demirel: Birinci Meclis’te Muhalefet: İkinci Grup, Istanbul 1994.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

183

die den Schutz des Propheten Muhammad vor Beleidigung, Schmähung und Herabwürdigung sicherstellen sollten.32 Gleichzeitig aber wurde Mustafa Kemal zum Präsidenten der Versammlung, zum Regierungschef und – unter dem Eindruck der ersten großen Siege gegen die Griechen – 1921 auch zum Oberkommandierenden der Streitkräfte mit weitreichenden Vollmachten ernannt. Dies – und die Unausweichlichkeit des Faktischen – sollten schon bald dazu führen, dass sich Mustafa Kemal und seine Anhänger in der Lage sahen, den weiteren Verlauf des politischen Prozesses in ihrem Sinne zu beeinflussen und letztendlich zu diktieren. Bereits im Juli 1920 hatte die Meclis der Einrichtung sogenannter »Unabhängigkeitsgerichte« zugestimmt.33 Ihre Aufgabe bestand anfangs eigentlich nur darin, Deserteure abzuurteilen. Aber schon bald wurden die Kompetenzen dieser Sondergerichte auch auf die Verfolgung von Hochverrat und Spionage ausgeweitet – Tatbestände, deren unklare Definition man sich bald zunutze machen sollte, um oppositionelle Gruppen systematisch zum Schweigen zu bringen. Weiter befördert und ausgeweitet wurde dieser kaum mehr kontrollierbare Zugriff der Regierung vermittels der Sondergerichte auch durch die Ernennung Mustafa Kemals zum Oberkommandierenden mit quasi unbegrenzten Vollmachten für anfänglich drei Monate, in deren Zusammenhang ihm diese Gerichte direkt unterstellt wurden – ein Umstand, den der spätere Republikgründer effizient dazu einsetzte, unliebsame Mitglieder der Nationalversammlung zu ersetzen, indem er ihre Nachfolger direkt und persönlich bestimmte. Zwar wehrten sich die betroffenen Abgeordneten und ihre Gruppe, doch gelang es Mustafa Kemal und seiner hinter ihm stehenden Mehrheit schnell, die Kritik mit dem Verweis auf die dringend gebotene Handlungsfähigkeit der Regierung und der Versammlung angesichts des militärischen Konfliktes an vielen Fronten im Keim zu ersticken.34 Das zunehmende direkte Eingreifen des Staatsgründers und seiner Entourage in die politischen Freiheitsrechte beschränkte sich aber nicht nur auf die politischen Akteure innerhalb der Meclis. Spätestens ab 1922 häuften sich auch die Eingriffe des nun beinahe schon autokratisch regierenden Vorsitzenden und Oberkommandierenden nicht nur in die Publikations- und Pressefreiheit, sondern auch in andere Grundrechte der Bevölkerung.35 Gestärkt durch seine militärischen Erfolge und getragen von der breiten und stetig wachsenden Zu-

32 Einen Überblick über die wichtigsten Gesetzesinitiativen gibt: Çoker, Türk Parlamento Tarihi (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 645 ff. 33 Vgl. Zürcher, Turkey (wie Anm. 3), S. 159 und S. 175 ff. 34 Vgl. Kreiser, Geschichte der Türkei (wie Anm. 7) S. 31–32. 35 Vgl. Zürcher, Turkey (wie Anm. 3), S. 166 f.

184

Johannes Zimmermann

stimmung der Öffentlichkeit, die diese Fortschritte vor allem und zuvorderst seiner Person zusprach, gelang es Mustafa Kemal, die Wahlen zur zweiten Meclis im August 1923, kaum einen Monat nach der Unterzeichnung des Vertragswerks von Lausanne, in dem die Ziele des nationalen Widerstands erfüllt wurden, ganz im Sinne seiner politischen Agenda zu beeinflussen. De facto kam diese zweite Wahl einem weitgehenden Austausch des politischen Personals der nationalen Widerstandsbewegung in Vorbereitung der Republikgründung im Oktober desselben Jahres gleich. Von den ca. 400 Abgeordneten der letzten drei Jahre traten insgesamt nur noch 123 auch zu den Wahlen für die zweite Nationalversammlung als Kandidaten an.36 Unter ihnen fand sich kein einziges Mitglied der zweiten Gruppe mehr. War die politische Macht anfangs zuerst von Istanbul de facto auf die Nationalversammlung und ihre Regierung übergegangen, so lag sie seit August 1923 endgültig in den Händen Mustafa Kemals, der die Mitglieder des Parlaments ebenso beliebig ersetzen konnte, wie er die Entscheidungswege und -verfahren der immer weiter konsolidierten Verwaltung der Proto-Republik auf sich zugeschnitten hatte. Und so umweht auch den eigentlichen Gründungsakt der Republik mehr als nur ein Hauch von Autokratie. Klaus Kreiser hat pointiert darauf hingewiesen: Keine andere Republikgründung der Geschichte wurde so »hastig«, so konspirativ und auf so »schwache[m] rechtlichen Fundament« durchgeführt wie die türkische.37 Bereits in den Tagen von Lausanne hatte Mustafa Kemal seine »Volkspartei« gegründet und sich zu ihrem Vorsitzenden wählen lassen. Diese »Volkspartei« war es schließlich auch, die am Vormittag des 29. Oktober 1923 zu Beratungen zusammenkam, um die Abstimmung eines schlichten Verwaltungsgesetzes mit dem technokratischen Titel »Abänderungsgesetz betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen des Verfassungsgesetzes erläuterungshalber« am Abend desselben Tages vorzubereiten. Mit diesem schmucklosen Verwaltungsakt wurde die Republik gegründet, das Sultanat (vorerst nicht aber das Kalifat) aufgehoben und Mustafa Kemal zum ersten Staatspräsidenten der Republik Türkei ernannt. Selbst viele enge Vertraute wurden von Mustafa Kemal nicht in diesen Vorgang eingeweiht, mancher erfuhr davon sogar erst aus der Presse.38 So sehr sich in diesem Vorgehen auch die politische Uneinigkeit selbst zentraler Akteure in der Frage um die ›richtige‹ Zukunft nach Lausanne widerspiegeln mag, so sehr verweist es aber auch auf die gewaltigen politischen Spielräume, die sich Mustafa Kemal zu diesem Zeitpunkt gesichert hatte und die er in den 36 Kreiser, Geschichte der Türkei (wie Anm. 7), S. 32. 37 Ebd., S. 39–40. 38 Ebd.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

185

Folgejahren weidlich zu nutzen und weiter auszubauen wusste. Bis zu seinem Tode 1938 sollte er es sein, der den Verlauf des republikanischen Projekts nicht nur grundsätzlich steuern, sondern in fast all seinen Facetten maßgeblich festlegen, bestimmen und ausgestalten sollte. Dabei stand Mustafa Kemal nicht weniger vor Augen als die radikale und vollständige Umgestaltung nicht nur der politischen und administrativen Strukturen jenes Nachfolgestaats des Osmanischen Reiches, sondern vielmehr auch und zuvorderst der tiefgreifende und fundamentale Umbau seiner Gesellschaft. Aus den Osmanen sollten – per Erlass und Dekret – die einstmals als Bauernlümmel geschmähten Türken werden. Gestützt auf eine frührepublikanische Elite von Militärs und Ziviladministratoren, also auch Teile der alten Reformeliten der jungtürkischen Bewegung, schickte er sich in den Folgejahren an, dieses Projekt der Schaffung und Verankerung des eingangs beschriebenen türkischen Nationalismus ins Werk zu setzen. Wie früh die Grundkonstanten seiner politischen Weltsicht und seiner Pläne bereits grundsätzlich ausformuliert waren, mag eine Tagebuchaufzeichnung illustrieren, die bereits aus den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs datiert. Am 6. Juni 1918 – Mustafa Kemal befand sich damals nach seinem Einsatz an der Palästinafront gerade in Wien auf der Durchreise ins böhmische Karlsbad, wo er ein Nierenbeckenleiden auskurieren wollte – notiert er in sein Tagebuch: »Falls mir eines Tages großer Einfluss und Macht zufallen sollten, denke ich, dass ich die in unserem gesellschaftlichen Leben erwünschte Umwälzung in einem Augenblick, mit einem ›Coup‹ ins Werk setzen werde. Denn ich akzeptiere nicht wie einige [andere], dass sich dies dadurch umsetzen lässt, dass man das Denken des gemeinen Volkes und der Rechtsgelehrten [nur] ganz langsam dazu erzieht, dass es gemäß meinen Vorstellungen denkt und fühlt. Gegen ein solches Vorgehen sträubt sich mein Innerstes. Warum sollte ich mich, nachdem ich so viele Jahre hohe Bildung erfahren habe, nachdem ich das zivilisatorische und soziale Leben genau studiert und so viel Lebenszeit darauf verwendet habe, die Freiheit Stück für Stück zu erfahren, auf die Ebene der gemeinen Bevölkerung zurückbegeben? Ich will sie [vielmehr] auf meine Stufe heben. Nicht ich will wie sie sein. Sie sollen wie ich werden.«39 Diese Notiz ist nicht nur aufgrund ihres frühen Entstehungsdatums von einigem Interesse. Vielmehr liegt ihr Reiz vor allem darin, dass sie bereits zahlreiche Grundkonstanten des von Mustafa Kemal spätestens ab 1926/27 schließlich 39 Mustafa Kemal Atatürk: Atatürk’ün Karlsbad Hatıraları, hrsg. von Afet İnan, Istanbul 1999, S. 57.

186

Johannes Zimmermann

autokratisch durchgesetzten Reformwerks ebenso in einer Nussschale umfasst, wie sie auf die Grundlagen des Selbstverständnisses der Reformeliten der frühen Republik und den Charakter der Reform an sich verweist und dabei die Brücke zu den vorrepublikanischen osmanischen Identitätsdiskursen der »Zweiten Konstitutionellen Periode« von 1908 bis 1918 schlägt. Es ist vor allem das elitäre Selbstverständnis des Schreibers, das ins Auge sticht und das sich ohne Weiteres auf das Selbstverständnis vieler der ihn umgebenden Weggefährten, aber auch der frührepublikanischen Eliten übertragen lässt. Wohl ahnend, dass Unterstützung für die angestrebten Veränderungen aus der Bevölkerung nicht zu erwarten sein dürfte und auch die islamischen Rechtsgelehrten nur schwer zu überzeugen sein dürften, konzipiert der Schreiber sein Reformwerk daher konsequent und radikal als einen verordneten und kontrollierten, schlagartigen Prozess ›von oben‹. Nicht schrittweise Veränderung, sondern Umwälzung und Revolution sind dabei das Ziel, der radikale Bruch mit der überkommenen und obsolet gewordenen Vergangenheit nicht nur Mittel zum Zweck, sondern eigentliche Agenda. Seine Führungsposition gegenüber der implizit als rückständig verstandenen »gemeinen Bevölkerung«, aber auch der ebenso als Hemmnis der Weiterentwicklung der Gesellschaft verstandenen islamischen Rechtsgelehrten leitet er vor allem aus seiner (westlichen) Bildung her, einer Bildung, deren Grundkonstituenten er schlaglichtartig umreißt und deren Ziel – »Freiheit« (hürriyet) – ein zentrales Schlagwort der national gesinnten politischen Diskurse auch der Jungtürkenzeit darstellte. Dabei fällt vor allem auf, durch welche Schlagwörter Mustafa Kemal diese überlegene Bildung charakterisiert bzw. welche er ausspart: Kein Wort von einem in der islamischen Bildungsgeschichte verankerten Kanon, keine Silbe von traditionellen osmanischen Bildungsfeldern wie arabischer Sprache, Dichtung, Persisch oder gar von den klassischen Disziplinen der religiösen Gelehrsamkeit, wie sie für viele Intellektuelle auch der zweiten Verfassungsperiode neben europäischen Bildungselementen noch recht selbstverständlicher Bestandteil der eigenen Sozialisation waren. Vielmehr liest sich seine kurze Aufzählung wie das kondensierte Bildungsprogramm der positivistisch gesinnten und auf die radikale und auf der Überlegenheit der europäischen Wissenschaft gründenden Gestaltund Konstruierbarkeit von Gesellschaft gerichteten jungtürkischen Bewegung: Denn es sind die Zivilisations- und die Sozialgeschichte, aus denen Mustafa Kemal seine Schlüsse zieht und die ihm Pate stehen für sein politisches und gesellschaftliches Projekt. Hier ist der osmanische Offizier ganz Kind seiner Zeit, denn nicht zuletzt das Argument vermittels der Geschichte war es, das für die jungtürkischen Denker am Vorabend der Republik eine maßgebliche Rolle auch und gerade bei der Entwicklung konkreter politischer Handlungsfelder spielte.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

187

Das Dilemma des späten Reiches sollte aus seiner Geschichte verstanden werden, der Weg zur Überwindung der staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Krise eben auch von den Lehren aus jener Geschichte gewiesen werden. Zusammen mit der jungtürkischen Rezeption früher europäischer soziologischer und massenpsychologischer Ideen entstand so die Vorstellung von der bewussten und zentralistischen Gestaltbarkeit sozialer Realitäten, die im social engineering der Atatürk’schen Republik ihre praktische Erprobung finden sollte. Die Radikalität des gesellschaftlichen und kulturellen Umbaus im Verlauf der ersten Jahre nach der Republikgründung lässt sich an einigen wichtigen symbolischen Wegmarken fest- und greifbar machen. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn man diesen revolutionären Umbau als einen für viele Teile der von Mustafa Kemal in seinem Tagebucheintrag bemühten »einfachen Bevölkerung« traumatischen Prozess beschreibt, kam er doch einem Bruch mit der islamischen Vergangenheit und den muslimischen Kulturtraditionen der Gesellschaft gleich, wie er radikaler wohl kaum zu imaginieren ist. 40 Wichtigstes Ziel und Voraussetzung für den kulturrevolutionären Prozess war dabei vor allem die Neutralisierung und Domestizierung der alten religiösen Eliten, die sich bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts immer wieder offen gegen die ›westlich orientierten‹ Reformvorhaben erst des Sultanats (etwa eines Selim III., reg. 1789–180741 oder eines Mahmud II., reg. 1808–1839), später der Tanz. īmātAdministratoren und schließlich der Jungtürken gestellt hatten. 42 So verwundert es wenig, dass nur kurze Zeit nach Gründung der Republik auch das letzte Rudiment osmanischer Herrschaft – nicht zuletzt auch wegen seiner symbolischen Bedeutung – beseitigt werden musste: Das Kalifat, dessen transnationale Autorität im diametralen Widerspruch zur Idee einer türkischen Nation stand, in der die Religionszugehörigkeit zumindest explizit keine Rolle spielen und in der das Türkentum in der Theorie zumindest qua Staatsangehörigkeit erwerbbar sein sollte. 43 Nur folgerichtig und jenseits der symbolischen Dimension auf

40 Einen Einblick in die Auswirkungen dieser Umwälzungen auf die ›einfache Bevölkerung‹ gibt Hale Yılmaz: Becoming Turkish. Nationalist Reforms and Cultural Negotiations in Early Republican Turkey, 1923–1945, Syracuse 2013. 41 Zu den unter dem Schlagwort niz. ām-i cedīd (»Neue Ordnung«) in die osmanische Geschichte eingegangenen Reformversuchen Selims III. vgl. Stanford Shaw: Between Old and New: The Ottoman Empire under Sultan Selim III., 1789–1807, Cambridge 1971. 42 Für einen Überblick über die sogenannten Tanz. īmāt-Reformen im Osmanischen Reich vgl. Roderic H. Davison: Reform in the Ottoman Empire 1856–1876, Princeton 1963. 43 So formuliert die Verfassung von 1924 in ihrem 88. Artikel bereits: »In der Türkei wird jeder – ohne Ansehen von Glauben und Rasse – in Hinsicht auf die Staatsangehörigkeit ›Türke‹ genannt«.

188

Johannes Zimmermann

die praktische Domestizierung des religiösen Milieus ausgerichtet war somit auch die Gründung des »Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten«, das als oberste Religionsbehörde an die Stelle des Amtes des sogenannten osmanischen Obermuftis trat, das seitens des osmanischen Sultanats mehrfach gegen die anatolischen Widerstandskämpfer instrumentalisiert worden war. 44 Indem die Republik die religiösen Eliten – die Vorbeter und Gebetsrufer in den Moscheen ebenso wie die Religionslehrer – auf diese Weise unter staatliche Aufsicht stellte und zu Beamten der Republik machte, ihre Ausbildung aus den ebenfalls auf zentralen Erlass hin geschlossenen religiösen Bildungseinrichtungen in die staatlichen Universitäten verlagerte und sie staatlichen Disziplinarmaßnahmen unterwarf, wurde der Islam in der frühen Republik zumindest im Bereich der schriftgelehrten Eliten nachhaltig säkularisiert und dem laizistischen Regime unterworfen. Dabei führte die Republik ein System fort, das bereits im Osmanischen Reich Anwendung gefunden hatte, denn auch dort waren die islamischen Religionsgutachter und Richter sultanischer Aufsicht unterstellt und Verwaltungsbeamte des Staates, die wichtige Funktionen (z. B. notarielle Aufgaben) in der Provinzverwaltung des Reiches innehatten. 45 Schwieriger war indessen die Domestizierung der weniger offiziösen Bereiche des religiösen Establishments, das sich in den die türkische Gesellschaft sowohl in den Städten, aber vor allem auch auf dem Land durchziehenden Sufi-Bruderschaften und religiösen Klientelnetzwerken manifestierte. 46 Zur Hilfe kam dem bis dato relativ liberal auftretenden republikanischen Regime dabei das Losbrechen der als »Scheich-Said-Aufstand« bekannt gewordenen Revolte im Februar 1925. 47 Dieser Aufstand, der seinen Ursprung in der Provinz Diyarbakır hatte, und seine Niederschlagung markieren nicht nur den endgültigen Bruch der nationalistischen Republik mit den ehemals verbündeten

44 Vgl. Kreiser, Atatürk (wie Anm. 8), S. 153 ff. 45 Zur Rolle des ›religiösen Establishments‹ in den ersten Jahrzehnten der Republik vgl. Amit Bein: Ottoman Ulema. Turkish Republic: Agents of Change and Guardians of Tradition, Stanford 2011. 46 Zu den institutionellen, sozialen und kulturellen Konfigurationen nicht nur des sunnitischen Islams vom Ende des Osmanischen Reiches bis in die ersten Republikjahre vgl. Faruk Bilici: L’islam à la fin de l’Empire ottoman et dans la république kémaliste: diversité et modération, in: Vaner, Turquie (wie Anm. 21), S. 291–310, insbes. S. 295–299. Einen Überblick über die verschiedenen Strömungen (politisch) islamischen Denkens am Ende des Reiches gibt: Ahmet Şeyhun: Islamist Thinkers in the late Ottoman Empire and Early Turkish Republic, Leiden u. a. 2015. 47 Zum Aufstand vgl. Robert W. Olson: The Emergence of Kurdish Nationalism and the Sheikh Said Rebellion, Austin 1989.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

189

Kurden. 48 Vielmehr stehen sie auch am Beginn des rigorosen Vorgehens der Republik gegen die mystischen Bruderschaften und die ›volksreligiösen‹ Strömungen im Rahmen der durch das bereits Anfang März 1925 erlassene »Gesetz zur Wiederherstellung der Ordnung« geschaffenen quasi-diktatorischen Zustände. 49 Diese sollten bis 1929 in Kraft bleiben und auch zu massivsten Eingriffen in die Publikations- und Pressefreiheit der jungen Republik führen. Im Zuge dieser Eingriffe wurden zahlreiche einflussreiche Istanbuler Zeitungen, deren Geschichte teilweise bis in die jungtürkische Epoche zurückreichte und die immer wieder als Publikationsforum für alternative und oppositionelle Stimmen gedient hatten, geschlossen. So nicht zuletzt auch das ehemals inoffizielle Mitteilungsorgan des jungtürkischen »Komitees für Einheit und Fortschritt«, »Ṭanīn« (»Das Dröhnen«), dessen Herausgeber Hüseyin Cahit (Yalçın) (1874–1957) schließlich verbannt wurde. Übrig blieben vorerst einzig die Zeitungen »Hakimiyet-i Milliye« (»Nationale Souveränität«) und »Cumhuriyet« (»Die Republik«), deren erste in Ankara, letztere in Istanbul erschien. Bei beiden handelte es sich um Regierungsorgane.50 Zu weiteren massiven politischen ›Säuberungen‹ kam es im Gefolge des Attentatsversuchs auf Mustafa Kemal im Sommer 1926 – eine Gelegenheit, die das neue Regime auch nutzte, um sich alter, aber unliebsam gewordener Weggefährten zu entledigen. Dabei zielten die großen Schauprozesse in Izmir und Ankara vor allem auch auf ranghohe und in den diskursiven Auseinandersetzungen der Zeit immer noch einflussreiche Figuren der jungtürkischen Bewegung, die bei weitem nicht alle Ziele der ›Kemalisten‹ teilten. Denn die Idee einer türkischen Republik mit zunehmend radikaler Distanz zur Sphäre des Religiösen und immer exklusiverem türkisch-nationalistischen Gepräge – dies hatten spätestens die Reaktionen auf die Abschaffung des Kalifats gezeigt – war bei weitem nicht für alle Akteure des Befreiungskrieges die ausschließlich favorisierte Staats- und Gesellschaftsform. Manche der jungtürkischen Politiker und einstmals osmanischen Militärs, die im Befreiungskrieg gekämpft hatten, waren der Vorstellung einer Art konstitutionellen Monarchie, wie sie in der »Zweiten Verfassungsperiode« vor den ›Auswüchsen‹ jungtürkischer Machtpolitik bestanden hatte, durchaus immer noch zugetan oder aber unterhielten ein verdächtig enges Verhältnis zum Milieu der früheren dynastienahen Eliten. So nutzte das republikanische Regime diese Prozesse auch, um weitere Teile des jungtürkischen Milieus 48 Vgl. Zürcher, Turkey (wie Anm. 3), S. 176 ff. 49 Vgl. ebd., S. 187–189. 50 Vgl. ebd., S. 179.

190

Johannes Zimmermann

wenn nicht zu beseitigen, dann doch zumindest nachhaltig zum Schweigen zu bringen, sofern sie sich nicht in die von Mustafa Kemal und seinem engen Zirkel vorgegebenen politischen Leitlinien einordneten. Dabei schützte auch früheres politisches Gewicht nicht vor dem Zugriff des Regimes. So wurde etwa Mehmed Cavid Bey (1875–1926) aufgrund seiner angeblichen Verwicklung in den Attentatsversuch zum Tode verurteilt und hingerichtet.51 Cavid Bey, der erstmals 1909 im Kabinett Ahmed Tevfik Paşas das Amt des Finanzministers innegehabt und dieses auch in den Folgejahren mit Unterbrechungen immer wieder ausgeübt hatte, hatte zwar noch zu den Teilnehmern der türkischen Delegation in Lausanne gehört, sich jedoch bereits in deren Verlauf mit Mustafa Kemals späterem Nachfolger İsmet (İnönü) überworfen. Bereits 1921 hatte er in der Schweiz Nazlı Aliye Hanım, die frühere Ehefrau Mehmed Burhaneddin Efendis (1885–1949), eines Sohnes des osmanischen Sultans Abdülhamid II., geheiratet. Zusammen mit ihm fanden auch weitere prominente Vertreter des früheren jungtürkischen Milieus, die abweichende Ansichten vertraten, auf die eine oder andere Weise den Tod.52 Andere wiederum verfolgten innerhalb der republikanischen Bewegung liberalere politische Konzepte oder plädierten für eine weniger radikale Haltung in religiösen Fragen wie etwa die Angehörigen der 1924 gegründeten oppositionellen »Fortschrittlichen Republikanischen Partei«. Zu ihnen zählten ehemals zentrale militärische und politische Weggefährten Mustafa Kemals aus dem Befreiungskrieg wie Musa Kâzım (Karabekir) (1882–1948)53, Hüseyin Rauf (Orbay) (1881–1964)54 oder Ali Fuad (Cebesoy) (1882–1968)55 ebenso wie kritische Intellektuelle. Als prominente Vertreter letzterer Gruppe sind hier zuvorderst der Arzt, Schriftsteller, Historiker und Politiker Dr. Abdülhak Adnan (Adıvar) (1882–1955) und natürlich seine Frau, die bedeutende türkische Schriftstellerin, Revolutionärin und Galionsfigur der türkischen Frauenbewegung Halide Edib (Adıvar) (1884–1964),56 zu nennen, die bis 1939 im Exil lebten. Letztere hatten die Türkei – unter dem Eindruck der autokratischen und diktatorischen Tendenzen Mustafa Kemals und seiner zunehmend systematischen Marginalisierung sowohl konservativer als auch liberaler oppositio-

51 Zur Biographie Mehmed Cavids vgl. Selim İlkin: Câvid Bey, Mehmed, in: TDVİA, Bd. 7, S. 175–176. 52 Vgl. Zürcher, Turkey (wie Anm. 3), S. 182. 53 Vgl. W. F. Weiker: Kāzım Karabekir, in: EI2, Bd. 4, S. 853–854. 2 54 Vgl. W. M. Hale: Orbay, H . üseyin Raʾūf, in: EI , Bd. 8, S. 174. 55 Vgl. Ayfer Özçelik: Cebesoy, Ali Fuat, in: TDVİA, Bd. 7, S. 194–195. 56 Vgl. Fahir İz, Khālide Edīb, in: EI2, Bd. 4, S. 933–936.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

191

neller Kräfte – bereits vor dem Attentatsversuch verlassen. Andere Angehörige seiner Partei folgten ihm, wurden durch politische Betätigungsverbote mundtot gemacht oder gingen in eine Art innere Emigration. Musa Kâzım (Karabekir) etwa lebte, nach seiner zwangsweisen Versetzung in den militärischen Ruhestand ab 1927 zuerst zurückgezogen, bevor er nach Atatürks Tod politisch rehabilitiert wurde. In dieser Zeit des ›inneren Exils‹ war er vor allem schriftstellerisch tätig: »Seit dieser Zeit [d. h. nach 1927, J.Z.] war ich zuhause mit meinen Studien auf wissenschaftlichem Gebiet und der Abfassung einiger Werke beschäftigt,« heißt es lapidar in seinem offiziellen Kandidatenlebenslauf zur Parlamentswahl 1939.57 Bei den hier gleichsam en passant erwähnten »Werken« handelte es sich vornehmlich um ›historische‹ Schriften, die Ereignisse des Ersten Weltkrieges oder des sogenannten »Unabhängigkeitskrieges« aufgriffen und die in weiten Teilen dem Genre der Memoiren- oder Erinnerungsliteratur zuzuordnen sind. Dieses Genre war bereits 1927 alles andere als unpolitisch. Denn gerade hier, im autobiographischen Bericht – nicht selten angereichert mit einer Vielzahl von historischen Dokumenten in Transkript und Faksimile, die die Authentizität und Richtigkeit des persönlich Geschilderten verbürgen sollten – formulierten sich die alternativen und oppositionellen Erzählungen der Geschichte des »Freiheitskrieges« und der Republikgründung. Auf diese hatte Mustafa Kemal spätestens durch seine sechstägige Mammutrede (15. bis 20. Oktober 1927) vor dem Kongress der »Republikanischen Volkspartei« das abschließende Deutungsmonopol beansprucht.58 In der Rede, die in der Türkei unter dem Titel »Nutuk« (»die Ansprache«) später als quasi-sakralisierter Grundlagentext der nationalen Geschichtsschreibung kanonisiert wurde, legt Mustafa Kemal seine Sicht der Ereignisse in Form einer stets eng am Ego des Staatsgründers geführten Ich-Erzählung vor, die »alle vorausgehenden Formen des Widerstands überging.«59 Im Duktus dieser Ansprache konvergierten ›Autobiographisches‹ und Geschichte in einem Maße, dass die Grenze zwischen ›objektiver Wahrheit‹ und persönlichem Bericht praktisch aufgelöst wurde.60

57 »Bu zamandan beri evimde, ilmî sâhada tetebbularımla ve bazı eserler yazmakla meşgul oldum«, Fahrettin Kırzıoğlu, Kâzım Karabekir: Kendi Eserleri, Haltercümeleri ve Arşiv Belgeleri’ne Göre, Ankara 1991, S. 221. 58 Zu großen Ansprache Mustafa Kemals vgl. Kreiser, Atatürk (wie Anm. 8), S. 214 ff. 59 Ebd., S. 215. 60 Vgl. Yasemin Ipek: Autobiography and Conservative-Nationalist Political Opposition in Early Republican Turkey, in: Turkish Studies 19.1 (2018), S. 139–165, hier: S. 142.

192

Johannes Zimmermann

Wie stark Zuschnitt und Charakter der Rede die Politisierung der türkischen Memoirenliteratur beschleunigt und intensiviert haben dürften, lässt sich nicht zuletzt auch an den direkten Reaktionen der teilweise exilierten früheren Weggefährten Mustafa Kemals ablesen. Schon am 21. Oktober 1927 veröffentlichte die »Times« in London unter dem Titel »The Ghazi’s Speech« einen Leserbrief, in dem Halide Edib (Adıvar) die Öffentlichkeit in klaren Worten darüber in Kenntnis setzte, dass gewisse Punkte der Rede Kemals dringend der Korrektur bedürften. Dass sie dabei gleichsam als Beweis für die Richtigkeit ihrer Version der Ereignisse auf den damals gerade in Druck befindlichen zweiten Band ihrer englischsprachigen Memoiren verwies,61 war kein Zufall.62 Sicherlich, viele der damals entstandenen Erinnerungstexte konnten erst mit großer zeitlicher Verspätung in der Türkei veröffentlicht werden, manche gar erst nach dem Tod ihrer Autoren.63 Gleichzeitig waren es auch nicht nur die Stimmen der Opposition, die sich in diesem Genre formulierten. Denn auch in Mustafa Kemals Entourage entstanden zahlreiche, manchmal beinahe hagiographisch anmutende Lebensberichte, die weniger auf ihre Autoren, als auf die Person des Staatsgründers fokussierten und zur Fortschreibung, Festigung, Bestätigung oder Ausschmückung seiner Legende beitrugen. Dennoch bot die Memoirenliteratur einen Raum, in dem sich von der nunmehr offiziell kanonisierten Linie deutlich unterscheidbare Positionen zum Projekt der Republikgründung formulieren und konservieren konnten. Was viele dieser Texte verbindet, ist ihr Anliegen, der Sichtweise des Befreiungskampfes als ausschließliche Leistung eines Tek Adam (also eines »einzigen Mannes«) – so der pointierte Titel der im türkischen Vergleich recht ausgewogenen, dreibändigen Atatürk-Biographie von Şevket Süreyya Aydemir aus dem Jahre 1966 – ein differenziertes Bild der Epoche entgegenzusetzen und dabei jeweils auch die eigenen Leistungen und die Verdienste der eigenen Entourage nicht zu kurz kommen zu lassen. Und so sprechen noch 1960 die Töchter Musa Kâzım (Karabekirs) im Vorwort zur posthumen Ausgabe des nicht nur in Hinblick auf seinen Umfang gewichtigen Werks ihres Vaters »Unser Unabhängigkeitskrieg« davon, die Veröffentlichung »dieser Erinnerungen [sei …] eine […] Gewissens61 Zum Verhältnis von Halide Edibs Memoiren und Mustafa Kemals Ansprache vgl. Hülya Adak: National Myths and Self-Na(rra)tions: Mustafa Kemal’s Nutuk and Halide Edip’s Memoirs and The Turkish Ordeal, in: South Atlantic Quarterly 102.2–3 (2003), S. 509–527. 62 Vgl. Halidé Edip: The Ghazi’s Speech, in: »The Times« (London) 44718 (21. Oktober 1927), S. 12. 63 So zum Beispiel Musa Kâzım (Karabekirs) dicht mit historischen Dokumenten angereichertes Werk İstiklâl Harbimiz, das erst 1960 – auch damals noch unter großen Schwierigkeiten – im Druck erscheinen konnte.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

193

frage«64 für sie und formulieren programmatisch und stellvertretend für viele Werke dieses Genres: »Der Nationale Kampf, das ist die Wahrheit, war nicht das Werk einer einzigen Person.«65 Die republikanischen Reformen und ihre Vorläufer So markiert spätestens die Kanonisierung der kemalistischen Geschichtserzählung in Mustafa Kemals »Ansprache« den Punkt, an dem der Weg frei war für die tiefgreifenden Umwälzungen, die als »kemalistische Reformen« in die Geschichte der türkischen Republik eingehen sollten und die sich ihr Organisator bereits 1918 zum Ziel gesetzt hatte. Diese hatten schon in den Jahren zuvor begonnen und waren nicht zuletzt gegen die religiösen Eliten gerichtet, deren Einfluss in Staat und Gesellschaft beseitigt werden sollte, um die junge Republik auf einen klaren und eindeutig säkularistischen ›Kurs Richtung Westen‹ zu setzen, der als unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung eines ›modernen‹ Staates gesehen wurde. So richtete sich bereits das Hutgesetz aus dem Jahre 1925 gegen die genannten ›Überreste der reaktionären religiösen Eliten‹.66 Ähnlich wie bereits unter Mahmud II., der 1827 per Dekret Uniform und Fes als Kleidung des Hofes und als Zeichen der Modernisierung anordnete, sollte durch das Hutgesetz versucht werden, die Kleidung vornehmlich der männlichen Bevölkerung zu reglementieren.67 Denn durch die Verordnung des europäischen Herrenhutes anstelle des imperialen Fes und vor allem anstelle des Turbans – unter anderem auch augenfälliges Würdezeichen der Sufi-Scheichs und Derwische in Anatolien – sollte dieses Milieu auch in der Öffentlichkeit sichtbar seiner Sonderstellung enthoben werden, bevor die Sufi-Orden und Bruderschaften nur kurze Zeit später (1926) gänzlich verboten wurden. Gleichzeitig löste das Hutgesetz und die Verpflichtung der männlichen Bevölkerung auf das Tragen der ›nationalen Kopfbedeckung‹ auch die in der osmanischen Gesellschaft nicht selten gerade durch spezielle Kopfbedeckung signalisierte Aufteilung der Gesellschaft in ethnische und konfessionelle Gruppen auf und setzte ihr das Konzept des national gekleideten Staatsbürgers der Republik entgegen.68 64 Karabekir, İstiklâl Harbimiz, Önsöz (wie Anm. 63), ohne Seitenzahl. 65 Ebd. 66 Zum Hutgesetz vgl. Camilla T. Nereid: Kemalism on the Catwalk. The Turkish Hat Law of 1925, in: Journal of Social History 44.3 (2011), S. 707–728. 67 Zu den diversen Kleidungsreformen seit der Herrschaftszeit Mahmuds II. vgl. Klaus Kreiser: Turban and türban: ›Divider between Belief and Unbelief‹. A Political History of the Modern Turkish Costume, in: European Review 13.3 (2005), S. 447–458. 68 Vgl. Kreiser, Atatürk (wie Anm. 8), S. 239–243.

194

Johannes Zimmermann

Ähnliches ließe sich auch über den ›republikanischen‹ Bart sagen, der unterschiedliche politische Milieus unter der männlichen Bevölkerung der Türkei bis heute gegeneinander abgrenzt.69 Besonders radikal aber muss der vielleicht größte Kraftakt der Atatürk’schen Kulturrevolution erscheinen: die 1928 begonnene und binnen nur weniger Monate durchgepeitschte Schriftreform, in der das arabische Alphabet ›schlagartig‹ durch ein modifiziertes Lateinalphabet ersetzt wurde, um die Abwendung der Republik Türkei von der islamischen Welt und ihre Hinwendung nach Europa allenthalben sichtbar zu machen.70 Ganz gemäß seiner bereits im Tagebucheintrag von 1918 formulierten Überzeugungen war auch dieser radikale Bruch mit der osmanischen und islamischen Vergangenheit der ›türkischen‹ Kulturgeschichte als von oben verordneter und mit Formen der Gewalt durchgesetzter Prozess gestaltet. So wurde verordnet, dass Behörden die »neuen Buchstaben« bereits ab dem Jahr 1929 zu verwenden hatten und dass deren Einführung bereits kurze Zeit später auch für den privaten Wirtschaftssektor verpflichtend sein sollte.71 Vor allem aber sollten – ganz im Sinne der Vorstellung, der Übergang zu einem ›modernen und zivilisierten‹ Staats- und Gesellschaftswesen sei zuvorderst auch eine Frage der Volkserziehung – auch die Massen möglichst schnell und nachhaltig alphabetisiert und mit dem neuen ›nationalen Schriftsystem‹ vertraut gemacht werden. Zu diesem Zweck wurden seitens des Bildungsministeriums sogenannte »Schulen der Nation« eröffnet.72 Als Lehrpersonal wurden neben den Fremdsprachenlehrern der weiterführenden Schulen vor allem auch europäisch gebildete Beamte des höheren Dienstes rekrutiert, die die Kurse abhielten.73 Die Abschaffung der arabischen Schrift war dabei weit mehr als nur ein kosmetischer Verwaltungsakt, war sie doch aufs Engste mit der kulturellen und vor allem auch religiösen Identität der muslimischen Bevölkerung des Reiches verbunden. In ihr hatte sich der Herrschaftsanspruch des osmanischen Staates über lange Jahrhunderte manifestiert, sie war es, die das islamisch geprägte Erbe arabischer, persischer und türkisch-osmanischer Kultur 69 Zur sozio-politischen Relevanz des Bartes in der Türkei vgl. Nazlı Alimen: The Fashions and Politics of Facial Hair in Turkey. The Case of Islamic Men, in: Anna-Mari Almila und David Inglis (Hrsg.): The Routledge International Handbook of Veils and Veiling, London/New York 2018, S. 116–124. 70 Für eine durchaus ›kritische Würdigung‹ der türkischen Sprachreform vgl. Geoffrey Lewis: The Turkish Language Reform. A Catastrophic Success, Oxford 2002 [Repr.]. Zum neuen Lateinalphabet, vgl. ebd., S. 27 ff. 71 Vgl. Kreiser, Geschichte der Türkei (wie Anm. 7), S. 52. 72 Zu den Millet Mektepleri vgl. Kreiser, Atatürk (wie Anm. 8), S. 274–276. 73 Vgl. Kreiser, Geschichte der Türkei (wie Anm. 7), S. 52.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

195

vermittelte und verkörperte, und schließlich war sie – auch diese Dimension darf nicht vernachlässigt werden – die Schrift des Korans. Bereits unter jungtürkischen Intellektuellen war die Notwendigkeit einer Reform des für die weniger gebildeten Bevölkerungsteile schwer zugänglichen und zudem den Bedürfnissen der türkisch-osmanischen Sprache wenig angepassten arabo-persischen Alphabets mit nationalem Eifer diskutiert worden.74 Insbesondere im Bereich der Vokalzeichen, von denen das arabische Alphabet nur drei besitzt, derer das Osmanische aber (zumindest) neun benötigt, wurden Reformvorschläge entwickelt.75 Dabei waren sprach- und schriftreformerische Ideen meist aufs Engste mit nationalistischen Diskursen verschränkt und nahmen oftmals nicht nur das Osmanische Reich, sondern die Gesamtheit der von vielen osmanisch-türkischen Intellektuellen recht neu zur Kenntnis genommenen ›Turkvölker‹ als ›nationale Gemeinschaft‹ (auch im Sinne eines Pan-Turkismus) in den Blick. Unter den Sprach- und Schriftreformern jener Jahre finden sich daher auch nicht zuletzt viele Russlandmuslime, die ihre Vorstellungen auch in der osmanischen Hauptstadt verbreiteten und die jungtürkischen Diskussionen stimulierten. Bereits in den 1860er-Jahren waren sowohl unter den unter russischer Herrschaft lebenden Turkvölkern76 als auch unter osmanischen Intellektuellen77 Stimmen laut geworden, eine radikale Reform des Alphabets anzustreben, jedoch war diesen Vorschlägen – wie zum Beispiel dem 1863 seitens des aserbaidschanischen Literaten Mirzä Fätäli Axundov (1812–1878) in Istanbul vorgelegten Lateinalphabets – kein Erfolg beschieden.78

74 Vgl. etwa die Positionen Celal Nuri (İleris) zu einer radikalen Schriftreform: Christoph Herzog: Geschichte und Ideologie. Mehmed Murad und Celal Nuri über die historischen Ursachen des osmanischen Niedergangs, Berlin 1996, S. 183 ff. 75 Eine sicherlich auch für den Laien ebenso nachvollziehbare wie eindrucksvolle Darstellung der grammatischen Komplexität des Osmanischen findet sich in: Lewis, Language Reform (wie Anm. 70), S. 5–26. 76 Einen detaillierten und materialreichen Überblick über die sprach- und schriftreformerischen Debatten und Diskurse der Russlandmuslime im 19. und 20. Jahrhundert bietet Ingeborg Baldauf: Schriftreform und Schriftwechsel bei den muslimischen Russland- und Sowjettürken (1850–1937). Ein Symptom ideengeschichtlicher und kulturpolitischer Entwicklungen, Budapest 1993. 77 Ein konziser Überblick über frühe Forderungen nach einer Vereinfachung des Osmanischen findet sich bei Şerif Mardin: The Genesis of Young Ottoman Thought. A Study in the Modernization of Turkish Political Ideas, Syracuse 2000, S. 225 ff. sowie bei Niyazi Berkes: The Development of Secularism in Turkey, New York 1998, S. 194 ff. 78 Eine Wiedergabe des von Axundov vorgeschlagenen Lateinalphabets findet sich bei Farid Alakbarov: Mirza Fatali Akhundov. Alphabet Reformer Before his Time, in: Azerbaijan International 8.1 (2000), S. 50–53.

196

Johannes Zimmermann

Deutlich lebhafter hingegen wurde auch im Osmanischen Reich eine Modernisierung der Sprache an sich, ihres Lexikons und ihrer grammatischen Strukturen diskutiert. Selbst frühe Jungosmanen wie der 1840 in Tekirdağ geborene Dichter und Publizist Namık Kemal – einer der ersten patriotischen Dichter des Reiches und Verfasser der ersten osmanischen Theaterstücke – strebte dieses Ziel an und äußerte sich in einem längeren Artikel auch programmatisch dazu.79 Denn die osmanische Sprache – die häufig als Zusammenfluss dreier Meere in einem Ozean beschrieben wurde (gemeint sind die Sprachen Arabisch, Persisch und Türkisch) – wurde nicht nur im Bereich der Dichtung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts als zunehmend erstarrt und in formelhafter Manieriertheit gefangen wahrgenommen.80 Vor allem für die einfache Bevölkerung, so der Befund bereits der frühen osmanischen Patrioten, war diese Sprache der Eliten, deren Verständnis die grundsätzliche Beherrschung der drei Bildungssprachen Arabisch, Persisch und Türkisch bis hin zu ihren grammatischen Feinheiten notwendig machte, kaum zugänglich. Somit aber war sie auch als Vehikel neuer politischer Ideen ungeeignet, die sich an die Bevölkerung jenseits der traditionell gebildeten Hauptstadteliten richten sollten. Sicherlich, die Bemühungen jungosmanischer Literaten vom Zuschnitt eines Namık Kemal führten noch nicht zu einer signifikanten Vereinfachung und nachhaltigen ›Turkifizierung‹ des Osmanischen, die späterhin zu den wichtigsten Schlagworten der jungtürkischen, aber vor allem der kemalistischen Sprachreform werden sollten. Doch sie führten zu einer grundsätzlichen Reflexion über den Sinn einer Sprache, die den veränderten politischen und sozialen Gegebenheiten angepasst war. Spätestens aber seit der Jungtürkischen Revolution im Jahre 1908 wandten sich turkistische Literaten und Dichter zunehmend dem ›Türkischen‹ – das nun auch offensiv so bezeichnet wurde – zu und versuchten, den nationalen Eifer der Bevölkerung durch Gedichte, Oden, Hymnen und Epen zu wecken. Diese Texte, die teilweise auch öffentlich vorgetragen wurden, bedienten sich bewusst einer einfach und ›türkisch‹ gehaltenen Sprache. Exemplarisch hierfür mögen die nationalistischen Gedichte etwa eines Mehmet Emin (1869–1944),81 der sich 79 Für eine Skizze des politischen Denkens Namık Kemals vgl. Mardin, Genesis of Young Ottoman Thought, (wie Anm. 7), S. 283 ff. 80 Zu den reformerischen Literaturströmungen der Tanz. īmāt-Periode vgl. M. Orhan Okay: Tanzimatçılar. Yenileşmenin Öncüleri (1860–1896), in: Talât Sait Halman (Hrsg.): Türk Edebiyatı Tarihi, Bd. 3, Ankara 2006, S. 53–74. 81 Zu Mehmed Emins Leben und Werk vgl. Abdullah Uçman: Yurdakul, Mehmet Emin, in: TDVİA, Bd. 43, S. 613–614. Für eine kurze Diskussion der mobilisierenden Wirkung seiner nationalistischen Dichtung vgl. Jacob M. Landau: Pan-Turkism. From Irredentism to Cooperation, London 1995, S. 33 ff.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

197

später den programmatischen Familiennamen Yurdakul, (dt. »Knecht/Diener des Heimatlandes«) geben sollte, aus den späten 1890er-Jahren gelten, die sich auch an Formen und Motiven der türkisch-anatolischen Volksdichtung bedienten und die Grundlage für die weitere Entwicklung der türkischen Literatur in republikanischer Zeit legten. Mit Beginn der Schriftreform im Jahre 1928 – spätestens aber ab den Anfängen der 1930er-Jahre – verfolgte auch die kemalistische Kulturrevolution immer deutlicher und offener sprachreformerische Ziele. Bereits im Jahre 1932 wurde – als Vorläufer der späteren »Türkischen Sprachgesellschaft« – die »Gesellschaft für die Erforschung der türkischen Sprache« gegründet, die die Turkifizierung und Nationalisierung der türkischen Sprache ins Werk setzen sollte.82 Neben der Geschichte – die »Türkische Geschichtsstiftung« war bereits 1931 gegründet worden83 – wurde die Linguistik so zu einer der wichtigsten Leitwissenschaften der politischen Identitätsdiskurse der frühen Republik. Denn die »Türkische Sprachgesellschaft« hatte nicht weniger zur Aufgabe, als das Türkische radikal und nachhaltig von seinem arabo-persischen Erbe zu befreien und zu einem wahrhaft ›türkischen‹ Idiom zu machen – frei von Fremdwörtern, arabischen und persischen Ausdrücken und Grammatikelementen. Diese Entwicklungen kulminierten – auch stimuliert von der europäischen Turkologie jener Jahre84 – in der Entsendung zahlloser junger Linguisten nicht nur in entlegene Siedlungsgebiete von Turkvölkern in und jenseits von Zentralasien, wo die eigentliche ›Urheimat der Türkischen Nation‹ verortet wurde, sondern vor allem in die türkischen Dörfer Anatoliens, wo man das ›unverfälschte Türkisch‹ vermutete.85 Diese engagierten jungen Forscher machten sich an die Sammlung ›urtürkischer‹ Wörter, Ausdrücke und Wortwurzeln auf deren Grundlage die normative Neudefinition des türkischen Lexikons durchgeführt werden sollte. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Noch immer veröffentlicht die »Türkische Sprachgesellschaft« – normative Letztinstanz in

82 Zur Geschichte der »Türkischen Sprachgesellschaft«, ihren Vorläufern und wechselnden Aufgabengebieten vgl. Lewis, Language Reform (wie Anm. 70), S. 45 ff. 83 Vgl. ebd. 84 Bereits der Mitbegründer der türkischen Soziologie und – wie er oft bezeichnet wird – ideologische Vordenker des türkischen Nationalismus (später kemalistischer Prägung), Ziya Gökalp (1876–1924) verwies gleich zu Beginn seiner Schrift »Die Grundlagen des Turkismus« auf die Ergebnisse der europäischen Turkologie und zog sie als Beweis für Alter und Bedeutung der ›türkischen Nation‹ heran. Vgl. Ziya Gökalp: Türkçülüğün Esasları, Hrsg.: Salim Çonoğlu, Istanbul: 2014, S. 22 ff. 85 Zur Mobilisierung und Entsendung dieser »Sprachsammler« vgl. Lewis, Language Reform (wie Anm. 70), S. 49.

198

Johannes Zimmermann

allen sprachlichen Fragen – Listen mit Wortvorschlägen, um noch bestehende Fremdwörter zu ersetzen. Darunter finden sich viele Blüten, die sich praktisch niemals durchgesetzt haben, wie etwa der häufig kolportierte »çok oturgaçlı götürgeç«, ein ›urtürkisches‹ Wortungetüm, das das aus dem Französischen stammende otobüs (Autobus) ersetzen sollte und wörtlich übersetzt wohl noch am ehesten als »mit vielen Sitzgelegenheiten versehener Hol-Bringer« wiedergegeben werden kann. Doch trotz derartiger Exotika kann die Wirkung der Sprachreform auf das Geistes- und Kulturleben der türkischen Republik kaum überschätzt werden. Bereits in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten selbst junge Türken, die das staatliche Schulsystem komplett durchlaufen hatten, massive Probleme mit dem Verständnis in Lateinschrift abgefasster Texte, die gerade einmal 50 Jahre zuvor, also in den 1940er-Jahren, verfasst worden waren – von den Zeugnissen osmanischer Literatur und Kultur ganz zu schweigen. Somit wurden ganze Generationen von der direkten Rezeption ihres kulturellen Erbes abgeschnitten.86 Wo Textbestände von der ebenfalls national gesinnten türkischen Literatur- und Geschichtswissenschaft als so wichtig eingestuft wurden, dass sie auch in die neue Zeit transponiert werden sollten, so geschah dies in Ausgaben, die weit mehr waren als reine Überführungen der alten Texte in das neue Alphabet. »Bereinigt« und »authentifiziert« oder »angeeignet« prangt nicht selten auf den Titelblättern dieser Publikationen, die ebenso wie das Sprachsystem im Allgemeinen im Sinne der Sprachreform »modernisiert« wurden – oftmals auf Kosten ihres ursprünglichen Sinngehaltes und ihrer kulturellen Vieldeutigkeit. Eine ihrer deutlichsten Ausdrucksformen aber fand die Abwendung der Republik von der osmanischen Vergangenheit sicherlich in der auch unter Zeitgenossen umstrittenen Verlegung der Hauptstadt aus dem imperialen Istanbul mit seiner bereits vorosmanischen hauptstädtischen Tradition in das selbst heute noch oft von Türken als »staubig und seelenlos« bezeichnete Ankara (1923), relativ im geographischen Zentrum der anatolischen Territorien der heutigen Türkei gelegen.87 Eine Rückkehr auch der neuen republikanischen Regierung nach Istanbul wäre nach dem Ende der Besatzung durch die Alliierten durchaus möglich gewesen und wurde von einigen Akteuren auch favorisiert. Ankara war in ihren Augen ein Provisorium, den Umständen der Jahre des 86 Zur Illustration können die von Geoffrey Lewis in der Einleitung seiner bereits mehrfach zitierten Studie gegebenen Textbeispiele herangezogen werden: Lewis, Language Reform (wie Anm 70), S. 3 f. 87 Vgl. Kreiser, Atatürk (wie Anm. 8), S. 184 ff.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

199

Widerstandkampfes gegen die Besatzer geschuldet. Für Mustafa Kemal hingegen stellte die Wahl einer im anatolischen Hochland und zentral gelegenen neuen Hauptstadt – neben infrastrukturellen Erwägungen – ein wichtiges identitätspolitisches Instrument der jungen Republik dar. Immer wieder ist auf die Radikalität dieses Projektes verwiesen worden. In nur wenigen Jahren stampfte die türkische Republik in Ankara eine neue Hauptstadt aus dem Boden und machte aus der Mittelstadt (ca. 20.000– 30.000 Einwohner um 1920) eine großstädtische Metropole, die bald (1928) über 100.000 Einwohner zählen sollte.88 Selbst auf den türkischen Banknoten aus der Zeit vor der letzten Währungsreform, also bis in die frühen 2000erJahre, wird die Vorstellung von Ankara als das naturgegebene Zentrum einer türkischen Nation frei von jeglichem osmanischen und islamischen Ballast deutlich. Denn auf dem 5.000.000-Lira-Schein (Abb. 2) – einem der häufigsten Geldscheine jener Jahre – ist links oben neben dem Porträt Atatürks der Umriss der Republik Türkei abgebildet, die von einer ›türkischen‹ Sonne erleuchtet wird, deren Zentrum sicherlich nicht von ungefähr in Ankara liegt, das seine Strahlen aussendet.

Abb. 2: 5.000.000-Lira-Banknote mit Umriss der Türkei. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:5_Million_TL_obverse.jpg.

88 Einen guten Überblick über die Transformation Ankaras von einer Stadt mittleren Größe zur Hauptstadt gibt: Ali Cengizkan: Die Gründung einer modernen und nach Plan errichteten Hauptstadt für die Türkei: Ankara 1920–1950, Übers.: Christoph K. Neumann, Ankara: 2010 (verfügbar auf: http://www.goethe.de/ins/tr/ank/prj/urs/geb/ sta/deindex.htm, zuletzt abgerufen: 2. April 2020).

200

Johannes Zimmermann

Doch selbst hier, wo die Symbolpolitik des Kemalismus endgültig den Alltag der türkischen Bürger durchdrang, standen spätosmanische Debatten und Diskurse Pate. Bereits mehr als ein Jahrzehnt vor Beginn des Unabhängigkeitskampfes hatte der jungtürkische Historiograph und Publizist Celal Nuri (İleri) (1881–1938) eine radikale Erneuerung des ›türkischen Volkes‹ gefordert.89 Unter Rückgriff auch auf den oftmals als ›arabischen Proto-Soziologen‹ bezeichneten spätmittelalterlichen Philosophen und Rechtsgelehrten Ibn Ḫaldūn (1332–1406),90 der in der Vorrede zu seinem »Buch der Beispiele« betitelten Geschichtswerk ein zyklisches Geschichtsbild entworfen hatte, argumentierte Celal Nuri in zahlreichen seiner Schriften, dass die türkische Nation sich dringend vom imperialen Ballast befreien müsse, wolle sie ihre Krise überwinden und so den ihr zustehenden Platz unter den Völkern und Nationen der Welt erlangen und behaupten. Die »Krankheit« –, auch in dieser Metaphorik prägte die jungtürkische Sprache diejenige des Kemalismus vor –, die das Osmanische Reich und somit auch die türkische Nation befallen habe, sei nichts anderes als eine ›Byzantinitis‹, die »byzantinische Krankheit«, welche – ausgehend von Konstantinopel – nicht nur die Dynastie, sondern das gesamte »türkische Volk« infiziert habe und maßgeblich für dessen schleichenden Untergang verantwortlich sei.91 Istanbul erscheint dabei in der Darstellung Celal Nuris als nichts anderes als ein Krankheitsherd, eine eitrige Wunde im einstmals gesunden Körper der türkischen Nation. So schildert er in blühenden Farben die fauligen Gerüche und Dämpfe, die dieses Furunkel umhüllten. Wie anders, so Nuri weiter, sei hingegen die klare Luft des anatolischen Hochlandes, wo der Wind der Freiheit und nationalen Selbstfindung um die Nasen der hoffnungsfroh in die Zukunft blickenden Türken wehen würde. Ankara – so sein Fazit – würde sich aufgrund seiner geographischen und symbolischen Lage im Zentrum des türkischen Anatoliens besonders eignen, um die Heilung und Erneuerung der türkischen Nation zu befördern. So formuliert er im Sommer 1912:

89 Zu Leben und Werk Celal Nuris vgl. Herzog, Geschichte und Ideologie (wie Anm. 74), S. 88 ff. 90 Vgl. M. Talbi: Ibn Khaldūn in: EI2, Bd. 3, S. 825–831. Zu seinem Einfluss auf das Denken osmanischer Gelehrter und Intellektueller vgl. Z. Fahri Fındıklıoğlu: Türkiye’de Ibn Haldunizm, in: Osman Turan (Hrsg.): Fuad Köprülü Armağan: 60. Doğum Yılı Münasebetiyle/Mélanges Fuad Köprülü, Istanbul 1953, S. 153–163. 91 Vgl. Herzog, Geschichte und Ideologie (wie Anm. 74), S. 177–179.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

201

»Dieser unser Lebensraum ist kein anderer als jener, der schon die Oströmer verdorben hat. Istanbul ist kein türkisches Zentrum. Gott behüte. […] Deshalb liebe ich unsere Stadt auch nicht. […] Lasst uns […] Peter den Großen zum Vorbild nehmen und dieses Rest-Byzanz aufgeben. Denn im Rußland der Zeit Peters des Großen erkennen wir die Türkei der Gegenwart. Lasst uns den Dschihad ausrufen gegen die Kräfte der Vergangenheit«.92 Wie sehr diese Argumentation Celal Nuris bereits zahlreiche konzeptionelle Grundideen des kemalistischen Nationalismus, sein Geschichtsverständnis und seine Stoßrichtung vorformuliert, dürfte vor dem Hintergrund des bereits Gesagten augenfällig sein. Ähnlich wie im Falle Celal Nuris ließen sich an dieser Stelle noch zahlreiche weitere Vorläufer anderer Reformschritte Mustafa Kemals und der jungen Republik aufzählen, die nicht weniger revolutionär waren als die genannten und gleichzeitig nicht weniger pointierte Vorläufer in den Identitäts- und Reformdiskursen des späten Osmanischen Reiches hatten: Die Reform des Systems der Maßeinheiten etwa gehört ebenso in diese Reihe wie die Kalenderreform, die den islamischen Lunarkalender und auch das bereits mehrfach reformierte sogenannte türkische Finanzjahr durch den gregorianischen Kalender mit christlicher Jahreszählung ersetzte. Gemein aber war all diesen Reformschritten und -projekten jenseits ihres grundsätzlichen Bruches mit der als ›islamisch‹ wahrgenommenen osmanischen Vergangenheit und ihrer Hinwendung nach Europa vor allem eines: ihr Charakter als von oben verordnete und von Atatürk und seiner »Republikanischen Volkspartei« autokratisch durchgesetzte Veränderungen, zu deren effizienter und umfassenden Implementation sich die junge Republik nicht selten auch Formen der institutionellen, diskursiven und oft sogar militärischen Gewalt bediente. Atatürk und die ihn umgebende republikanische Elite sahen sich dabei – entgegen mancher Selbstdarstellung – weniger als ›Lehrer‹, als vielmehr als ›Erzieher des Volkes‹, das auf den rechten Pfad geführt werden musste, weil es (noch) nicht wusste, was gut für es war. Ihren ikonischen Ausdruck fand diese Haltung etwa in der berühmten Fotografie vom September 1928, die Mustafa Kemal zeigt, wie er vor einer mobilen Schultafel unter freiem Himmel der Bevölkerung des anatolischen Kayseri das neue Alphabet gleichsam als 92 Zitiert nach Michael Ursinus: Byzanz, Osmanisches Reich, türkischer Nationalstaat: Zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: Richard Lorenz (Hrsg.): Das Verdämmern der Macht: Vom Untergang großer Reiche, Frankfurt a. M. 2000, S. 153–172.

202

Johannes Zimmermann

Abb. 3: Mustafa Kemal als »Oberlehrer der Nation«, Kayseri, 20. September 1928. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ataturk-September_20,_1928.jpg.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

Abb. 4: Volkserzieherisches Plakat (undatiert). Quelle: https://galeri.uludagsozluk.com/r/atatn%C3%BCrk-devrimleri-k%C3%B6% C5%9Fesi-1337509/

203

204

Johannes Zimmermann

hinwendungsvoller, doch aber strenger »Oberlehrer« der Nation vermittelt (Abb. 3). Diese Haltung bezog sich sogar auf den Kern des politischen Systems der Republik selbst, das – nach einem kurzlebigen Experiment in Sachen Oppositionsparteien in den ersten Republikjahren – bis nach dem Zweiten Weltkrieg als Einparteienherrschaft von wechselnder Rigidität angelegt war, da man argumentierte, das Volk müsse erst langsam an die Verantwortung, die demokratische Entscheidungsprozesse mit sich brächten, gewöhnt und herangeführt werden. Das Konzept von ›Volkserziehung‹ – weniger von Volksbildung – war dabei ein durchaus autoritäres, seine Kommunikationsformen oft zugespitzt und essentialistisch, wie das in Abbildung 4 wiedergegebene volkserzieherische Plakat aus den 1940er-Jahren augenfällig illustriert. Das Plakat vermittelt die ›Segnungen‹ der Atatürk’schen Reformen in Form stereotyper Vorher-Nachher-Bilder an die breiten Massen und zeigt auf, wie die republikanischen Reformen die Türkei und ihr Volk aus der rückständigen Unmündigkeit einer islamischen Vergangenheit in die zivilisierte Gegenwart eines modernen, westlichen Landes geführt haben. Kein Gesellschaftsbereich, so will es die Bilderfolge des Plakats, der von den Reformen unberührt geblieben wäre: Von links oben nach rechts unten zählen die Bilder in ihren Überschriften die Bereiche Recht, Sitten und Gebräuche, Kleidung, Maße, Kalender und Zeitmessung, Schrift, Wirtschaft, Bildung und schließlich Militär auf. Dabei spart die Darstellung nicht mit propagandistischer Zuspitzung und Verzerrung: Dem bärtigen und beturbanten, grimmig den Rohrstock gegen seine Schüler erhebenden ›Einpeitscher‹ der islamischen Schule setzt das Plakat unten links etwa die Darstellung der berufstätigen und europäisch gekleideten Lehrerin gegenüber, deren auf die nationale Erziehung (man achte auf die Landkarte im Hintergrund!) gerichteter Unterricht ihre Schüler dazu befähigt, später moderne Ärzte und Forscher im Dienste der Nation zu werden. Zudem richtete die Türkei ab 1932 sogenannte »Volkshäuser« ein – zuerst nur sieben an der Zahl, wenige Jahre später aber schon in die tausende gehend – die als Bildungs- und Erziehungsanstalten für Erwachsene in Städten und Dörfern die Türken auf den Nationalismus kemalistischer Prägung einschwören und einerseits türkische Folklore (ebenfalls im Sinne einer Domestizierung lokaler und regionaler Partikularkulturen), andererseits aber auch europäische Kultur vermitteln und in das kollektive Gedächtnis implantieren sollten.93

93 Zu den Halkevleri vgl. Neşe Gurallar Yeşilkaya: Halkevleri. Ideoloji ve Mimarlık, Istanbul 1999.

Die Republik erzieht sich ihre Kinder

205

Zum Schluss Dass diese Bemühungen zwar nicht fruchtlos, aber auch nicht flächendeckend erfolgreich waren, zeigt nicht nur ein kurzer Blick auf die Ergebnisse der ersten freien Parlamentswahlen im Jahre 1950.94 Hier war es nicht die CHP, sondern die Demokratische Partei (DP) von Adnan Menderes (1899–1961), die die Wahlen nicht zuletzt mit den Stimmen der vom Reformprozess benachteiligten konservativen Landbevölkerung gewann, der sie jenseits des starren Nationalkonzepts des Kemalismus ein Angebot machte, das – neben allen wirtschaftlichen Potenzialen – durchaus auch wieder dadurch markiert war, dass es unverkrampfter mit der osmanischen Vergangenheit und dem islamischen Erbe des Landes umging. Vielmehr wird die Fortdauer anderer Bezugssysteme türkischer Identität auch dort deutlich, wo sich der Blick in den Folgejahrzehnten etwa auf die Populärkultur der Türkei richtet. Dort fanden sowohl osmanische Kunstformen wie die vom Kemalismus geschmähte türkische Hofmusik in vulgarisierter Form in den popkulturellen Varianten der Türk Sanat Müziği und der Arabesk-Musik ein Fortleben,95 wie auch die Filme der großen Ära des Türkischen Kinos, der sogenannten Yeşil-Çam-Periode, die bis in die 1980er-Jahre hinein Dorfschmonzetten und Historienschinken en masse produzierten, deren türkische Helden eben nicht nur Türken, sondern oft gerade auch Muslime waren, die gegen die durchaus auch als Platzhalter für alle (nicht-muslimischen) ausländischen Mächte zu verstehende »Schlampe Byzanz« zu Felde zogen.96 Auch die schiere Anzahl der in Zeiten nach Ende der Mehrparteienherrschaft ›verschlissenen‹ türkischen Regierungen sowie die Regelmäßigkeit, mit der das Militär – seit Beginn der Republik Garantie- und Schutzmacht des Kemalismus im Staat – aus Sicht der republikanischen Elite unliebsame politische Entwicklungen per Militärputsch stoppen musste, verweisen darauf, wie instabil und wie gespalten Staat und Gesellschaft in der Türkei waren und bis heute

94 Vgl. Zürcher, Turkey (wie Anm. 3), S. 227–228. 95 Zur Musikpolitik vgl. Sami Sadak: Les musiques: Expression d’une société en mutation, in: Vaner, Turquie (wie Anm. 21), S. 609–626, insbes. S. 622 ff. Zur Arabesk-Musik im Speziellen vgl. Nedim Karakayalı: Arabesk, in: Virginia Danielson/Dwight Reynolds/ Scott Marcus (Hrsg.): The Garland Encyclopedia of World Music, Bd. 6: The Middle East, London 2002, S. 255–259, inbes. S. 255–256. 96 Zum türkischen Kino im Allgemeinen vgl. Nicolas Monceau: Cinéma et identité nationale, in: Vaner, Turquie (wie Anm. 21), S. 627–642, insbes. S. 631 ff. Zu den nationalistischen Motiven und Tropen des historischen Films vgl. Zimmermann, Islamische Visionen (wie Anm. 12), S. 139 ff.

206

Johannes Zimmermann

sind.97 Dabei haben sich die Grundkonstanten der innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen seit dem Ende des Osmanischen Reiches zwar verschoben, aber eben nur zum Teil. Auf der einen Seite stehen die westorientierten Eliten, bei weitem nicht mehr nur kemalistischer Prägung, auf der anderen Seite die Nachfolger und Vertreter der über Jahrzehnte klein und subkutan gehaltenen konservativ und somit oft auch religiös orientierten Bevölkerungsteile, denen auch unter den Bedingungen der Republik lange Zeit der soziale Aufstieg verwehrt geblieben war.98 Aber auch bereits unter den Intellektuellen und Literaten der frühen Republikjahre gab es manchen prominenten Vertreter, der sich von den auch die Literatur erfassenden, zentralisierten republikanischen Erneuerungszwängen der Kemalisten nur wenig beeindrucken ließ. Einer ihrer prominentesten Vertreter ist mit Sicherheit Yahya Kemal (Beyatlı),99 geboren 1884 in Skopje, gestorben 1958 in Istanbul, der es als einer der wenigen Kritiker des Atatürk’schen Reformwerks nicht nur zur Kanonisierung als türkischer Nationaldichter, sondern auch zu politischen Ehren als Abgeordneter der Nationalversammlung und Botschafter der Republik Türkei gebracht hat. Von ihm ist eine Anekdote überliefert, die die innergesellschaftlichen Spannungen, die der Kemalismus stets nur mit wechselndem Erfolg zu kaschieren und zu unterdrücken in der Lage war, auf den Punkt bringt. Stellvertretend für sicherlich nicht wenige Staatsbürger der Republik Türkei soll der Dichter – ganz Diplomat – auf die Frage Mustafa Kemals danach, was ihm an der neu gestalteten Hauptstadt Ankara denn am besten gefalle, geantwortet haben: »Am besten an Ankara gefiel mir der Weg, der zurück nach Istanbul führt.«100

  97 Vgl. hierzu den Epochenüberblick in: Kreiser/Neumann, Kleine Geschichte (wie Anm. 7), S. 423 ff.   98 Vgl. Steinbach, Geschichte der Türkei (wie Anm. 7), S. 117 ff.   99 Zu Yahya Kemal (Beyatlıs) vgl. M. Orhan Okay: Beyatlı, Yahya Kemal, in: TDVİA, Bd. 6, S. 35–39. 100 »Ankara’nın en çok İstanbul’a dönüş yolunu sevdim.«

Moritz A. Sorg

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik? Rumänien zwischen Niederlage und Sieg im Ersten Weltkrieg

Am 9. Dezember 1917 endeten mit dem Waffenstillstandsabkommen von Focşani die Kämpfe zwischen den verbündeten Truppen Deutschlands, Bulgariens und Österreich-Ungarns und der rumänischen Armee. Der Waffenstillstand und das am 7. Mai 1918 unterzeichnete Friedensabkommen von Bukarest besiegelten vorläufig die katastrophale Niederlage Rumäniens, das Ende August 1916 auf Seiten der Entente in den Krieg eingetreten war. Obwohl die rumänische Armee anfänglich in das von zahlreichen Rumänen besiedelte ungarische Siebenbürgen vorgerückt war, wurden die schlecht vorbereiteten Truppen von den militärisch überlegenen Mittelmächten rasch vernichtend zurückgeschlagen. Schon Anfang Dezember 1916 rückten deutsche Soldaten in die rumänische Hauptstadt Bukarest ein. Während die Mittelmächte einen großen Teil Rumäniens besetzten, zog sich der rumänische König Ferdinand, gemeinsam mit seiner Regierung, nach Iaşi – der Hauptstadt der rumänischen Region Moldau – zurück. Mit Hilfe einer französischen Militärmission gelang es, die rumänische Armee umzustrukturieren, sodass diese ein weiteres Vorrücken der Mittelmächte im Jahr 1917 verlangsamen und einige militärische Achtungserfolge erzielen konnte. Als das revolutionäre Russland im Herbst 1917 in Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten eintrat, musste jedoch auch das von russischer Unterstützung abhängige Rumänien seinen Widerstand endgültig aufgeben und die Niederlage eingestehen. Die Stimmung in Iaşi war zu diesem Zeitpunkt verzweifelt und die Lebensverhältnisse vor Ort äußerst prekär. Tausende Flüchtlinge drängten sich in der Stadt, die Nahrungsmittelversorgung war dürftig und Krankheiten griffen um sich.1 Die Mittelmächte stellten Rumänien harte Friedensbedingungen mit schmerzhaften Gebietsverlusten und unterwarfen die besetzten Landesteile einem strengen militärischen Okkupationsregime, das Lebensmittel und Rohstoffe aus dem

1

Ion Agrigoroaiei: Oraşul Iaşi. Capitala rezistenţie până la capăt (1916–1917), Iaşi 2016, S. 139.

208

Moritz A. Sorg

Land extrahierte und nach Mitteleuropa verbrachte.2 Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt erahnen, dass sich Rumänien nach der endgültigen Niederlage der Mittelmächte im November 1918 auf der Pariser Friedenskonferenz noch in einen der größten Gewinner des Krieges verwandeln sollte. Unter Verweis auf die dort lebenden rumänischen Bevölkerungsgruppen sollten die Pariser Vorortverträge von 1919 und 1920 die rumänische Annexion weiter Teile Transsylvaniens, Bessarabiens und der Bukowina sanktionieren. Damit verdoppelte der rumänische Staat innerhalb kürzester Zeit sein Territorium sowie seine Bevölkerung und realisierte vorübergehend das nationale Ideal Großrumäniens.3 Diese Wendung lag für die Zeitgenossen zu Beginn des Jahres 1918 jedoch in weiter Ferne. Es herrschte eine allgemeine Niedergeschlagenheit, die sich deutlich in einem Schreiben der rumänischen Königin Marie an ihren Cousin, den englischen König Georg V., wiederspiegelt: »Luck was against us, not a single event came to our rescue. I saw every hope crumble; we had no one and nowhere to turn, and we have known everything of pain, suffering and disappointment.«4 Trotz dieser desaströsen Lage blieb der revolutionäre Umbruch, der die politische Topographie weiter Teile Europas am Ende des Ersten Weltkriegs umgestaltete, in Rumänien aus. Obwohl das Jahr 1918 als Durchbruchsstunde der Republik in Europa gelten kann, führte der Krieg in Rumänien zu keinem fundamentalen Wechsel des politischen Systems. Ungeachtet der Bedeutung, welche die Forschung der militärischen Niederlage als letztem Sargnagel der europäischen Monarchien zuweist, behauptete sich die rumänische Monarchie angesichts der militärischen und nationalen Katastrophe.5 Während die umliegenden, traditionsreichen Monarchien in Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich von Republiken verdrängt wurden, hielt sich die vergleichsweise junge rumänische Dynastie auf dem Thron. Diese Widersprüchlichkeit des historischen Moments von 1918 unter-

2

3

4 5

Lisa Mayerhofer: Zwischen Freund und Feind. Deutsche Besatzung in Rumänien 1916– 1918, München 2010; David D. Hamlin, Germany’s empire in the east. Germans and Romania in an era of globalization and total war, Cambridge 2017. Sherman David Spector: Romania at the Paris Peace Conference. A Study of the Diplomacy of Ioan I. C. Brătianu, Iaşi 1995, S. 289–298; Jörn Leonhard: Der überforderte Friede. Versailles und die Welt, 1918–1923, München 2018, S. 736–739. Zitiert nach Marie, Königin von Rumänien: The Story of my Life. Vol. 3, London/ Toronto/Sydney/Melbourne 1935, S. 348. Vgl. für den Zusammenhang von Niederlage und Revolution zuletzt: Dieter Lange­ wiesche: Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, München 2019, S. 215–260.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

209

streicht die Bedeutung zeitgenössischer Handlungsspielräume sowie situativer Konstellationen. Dies macht den unzureichenden Charakter deterministischer Erklärungen für die Entstehung von Republiken in weiten Teilen Europas deutlich. Eine Analyse des rumänischen Fallbeispiels kann dazu beitragen, verallgemeinernde Kausalitätsannahmen von Niederlage und Revolution zu differenzieren. Hierzu ist es notwendig, nicht nur nach einer möglicherweise besonderen Resilienz der rumänischen Monarchie zu fragen, sondern genauso verpasste Chancen oder strukturelle Hindernisse für die Errichtung einer Republik in Rumänien aufzuzeigen. Daher wird im Folgenden zunächst das Wirken revolutionärer beziehungsweise republikanischer Gruppierungen in Rumänien untersucht. Dabei sollen Faktoren herausgearbeitet werden, die dazu beitrugen, dass in dem Land am Ende des Ersten Weltkriegs keine erfolgreiche revolutionäre Dynamik entstand und ein politischer Umbruch ausblieb. In einem zweiten Schritt richtet sich der Blick anschließend direkt auf die Stellung und das Handeln König Ferdinands und der rumänischen Monarchie. Dabei werden weitere Gründe für das Fortbestehen der Dynastie, trotz der vorrübergehenden Niederlage in den Jahren 1917 und 1918, aufgezeigt. Durch einen Ausblick auf die Entwicklungen nach dem Kriegsende im November 1918 verdeutlicht das rumänische Fallbeispiel zudem die langfristige Wirkkraft von Kriegsnarrativen, die noch heute einen Einfluss auf die in Rumänien virulente Debatte um eine mögliche Restauration der Monarchie ausüben. Revolutionäre und republikanische Aktivitäten Die rumänische Geschichtswissenschaft diskutierte schon in der kommunistischen Ära über die Frage, ob für Rumänien im Jahr 1918 von einer Situation mit revolutionärem Potenzial gesprochen werden kann. Tatsächlich scheinen die Voraussetzungen für einen Umsturz in Rumänien durchaus vorhanden gewesen zu sein: Krieg und Besatzung hatten die soziale Lage weiter Teile der rumänischen Bevölkerung verschärft. Die Niederlage hatte die politische Autorität der rumänischen Regierung untergraben. Durch die Anwesenheit fremder Streitkräfte im Land war die Regierung in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt und hatte selbst in den unbesetzten Teilen Rumäniens Schwierigkeiten, die Staatsmacht durchzusetzen. Zudem erhielt die Agrarfrage, die seit dem 1907 blutig niedergeschlagenen Bauernaufstand weiter geschwelt hatte, durch die Mobilisierung der rumänischen Landbevölkerung für die Armee eine neue Dynamik. Während sich der größte Teil der landwirtschaftlichen Nutzflächen Rumäniens in den Händen von Großgrundbesitzern befand, lebten viele der Landarbeiter und Kleinbauern, die nun zu den Waffen gerufen wurden, mit ihren Familien am Existenzminimum. Diese Umstände boten den geeigneten

210

Moritz A. Sorg

Nährboden für einen Einflussgewinn revolutionärer Kräfte im Land und ließen die Forderungen nach einer grundlegenden Umgestaltung der rumänischen Gesellschaftsordnung immer lauter werden.6 Dabei darf der Einfluss der Russischen Revolution auf das Nachbarland nicht unterschätzt werden, standen doch aufgrund des militärischen Bündnisses beider Länder große Kontingente russischer Truppen auf rumänischem Boden. Im Februar 1917 waren die Ereignisse von Petrograd in großen Teilen der rumänischen Gesellschaft noch positiv aufgenommen worden. In einem Zeitungsartikel lobte der nationalistische Politiker und Dichter Octavian Goga zum Beispiel: »Innerhalb weniger Tage hat sich in den unermesslichen Weiten des moskowitischen Staates ein politischer Wandel, orientiert an den avanciertesten Fortschrittsideen, vollzogen.«7 Doch schon bald sorgten die Auswirkungen der Revolution auch in Rumänien für Unruhe. Immer mehr russische Soldaten weigerten sich, weiter an der rumänischen Front zu kämpfen und desertierten, um nach Hause zurückzukehren. Plündernd und brandschatzend zogen Gruppen russischer Soldaten auf ihrem Rückweg durch das Hinterland der rumänischen Front. Die Ereignisse vertieften den Spalt weiter, der sich zwischen den Russen und ihren rumänischen Verbündeten schon vor der Revolution aufgetan hatte. Die Rumänen machten die russische Führung für den deutschen Vormarsch durch die Walachei verantwortlich, den sie auf die mangelnde Unterstützung durch die russische Armee zurückführten.8 Aufgrund dieser Ereignisse standen viele Rumänen den politischen Einflüssen aus dem revolutionären Russland erst einmal skeptisch gegenüber. Nichtsdestotrotz verbreiteten die Soldatenräte der in Rumänien stationierten russischen Regimenter revolutionäre Propaganda unter den rumänischen Soldaten und Zivilisten. Am 1. Mai 1917 kam es so in Iaşi erstmals zu einer größeren gemeinsamen Demonstration militanter rumänischer Sozialisten und russischer Soldaten. Auf der Kundgebung sprachen unter anderem russische Offiziere und riefen den Zuhörern zu: »Wir müssen bis zur Befreiung des rumänischen Volkes aus der Sklaverei kämpfen und dem König von Rumänien den Weg weisen, den jetzt auch Zar Nikolai genommen hat«.9 Die Stimmung 6

Keith Hitchins: The Russian Revolution and the Rumanian Socialist Movement, 1917– 1918, in: Slavic Review 27 (1967), S. 268–289; Mirel Gheonea/Cristian Constantin: Chestiunea Agrară în România. Consideraţii (1859–1907), in: Hiperboreea Journal 1 (2014), S. 57–81. 7 »România«, 14. März 1917. 8 Ion Agrigoroaiei: România în relaţiile internaţionale. 1916–1918, Iaşi 2008, S. 43. 9 Bericht des rumänischen Geheimdienstes bezüglich der Demonstrationen am 1. Mai 1917, in: Florian Tănăsescu (Hrsg.): Ideologie şi structuri comuniste în România. Vol. I: 1917–1918, Bukarest 1995, S. 221–224.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

211

auf der Demonstration eskalierte und endete in der gewaltsamen Befreiung des bulgarisch-rumänischen Sozialisten Christian Rakowski, der nach dem Kriegseintritt Rumäniens 1916 aufgrund seiner pazifistischen Äußerungen inhaftiert worden war. Die rumänischen Autoritäten erkannten in den Einflüssen der revolutionären, russischen Truppen eine ernsthafte Bedrohung. Auf ähnlichen Demonstrationen in Galaţi wurde ebenfalls eine Republik gefordert. Gleichzeitig verbreiteten sich Nachrichten über die geplante Verhaftung der rumänischen Königsfamilie durch russische Soldaten. Vorsorglich verließ König Ferdinand mit seiner Familie Iaşi und begab sich in das Hauptquartier der rumänischen Armee nach Bacău, wo er sich vor den Zugriffen der russischen Truppen sicher fühlte. Kurz darauf wurde das 9. Rumänische Jägerregiment nach Iaşi verlegt, um die Ruhe in der Stadt wiederherzustellen. Dennoch beschränkte die Königsfamilie ihren öffentlichen Auftritt am rumänischen Nationalfeiertag, dem 10. Mai, auf ein Minimum, um etwaige weitere antidynastische Demonstrationen zu vermeiden.10 Eine erneute Verhaftung fürchtend, begab sich Rakowski nach seiner Befreiung mit weiteren rumänischen Sozialisten nach Odessa, wo sie das »Rumänische Sozialdemokratische Aktionskomitee« (Comitet de Acţiune Social-Democrat Român) gründeten. Mit russischer Unterstützung organisierte das Komitee revolutionäre Propaganda unter den zahlreichen nach Odessa evakuierten rumänischen Industriearbeitern und Soldaten.11 Alles in allem blieb der propagandistische Erfolg der militanten rumänischen Sozialisten, die sich nach der Oktoberrevolution eng an die Bolschewiki anlehnten, in Rumänien selbst jedoch gering. Trotz einzelner Ereignisse wie in Iaşi oder Galaţi, erhielten die sogenannten »Maximalisten« – die Vertreter eines revolutionären Umsturzes nach russischem Vorbild mit dem Ziel einer sozialistischen Republik – wenig Zulauf und scheiterten besonders an der Werbung rumänischer Soldaten.12 Die Lage im gesamten rumänischen Staatsgebiet blieb vergleichsweise ruhig. Dies lässt sich auf mehrere strategische und strukturelle Faktoren zurückführen: Vor dem Ersten Weltkrieg war die 10 Constantin Găvănescu: Fapte mari în zile grele. 1917–1918, Bukarest 1921, S. 76; Ion G. Duca: Amintiri Politice. Vol. 2, München 1981, S. 179–180; Henri-Mathias Berthelot: La Roumanie dans la Grande Guerre et l’effondrement de l’Armée russe. Édition critique des rapports du général Berthelot, chef de la Mission militaire française en Roumanie, 1916–1918, hrsg. v. Jean-Noël Grandhomme u. a., Paris 2000, S. 219–220. 11 Manifest des »Comitet de Acţiune Social-Democrat Român«, Odessa, Juni 1917, in: Tănăsescu, Ideologie (wie Anm. 9), S. 241; Francis Conte: Christian Rakovski (1873– 1941). Essai de biographie politique. Vol. 1, Lille/Paris 1975, S. 169. 12 Tănăsescu, Ideologie (wie Anm. 9), S. 343–347.

212

Moritz A. Sorg

rumänische Gesellschaft bäuerlich geprägt und wenig industrialisiert gewesen. Ungefähr 80 Prozent der Bevölkerung lebten auf dem Land, sodass die ideologisch auf das Proletariat ausgerichteten Sozialisten Rumäniens nur auf eine kleine politische Basis zurückgreifen konnten. Zwar unterstrich die rumänische Linke die dringende Notwendigkeit einer Agrarreform, die eine Umverteilung des Landbesitzes mit sich bringen und der Bewegung damit eine bäuerliche Anhängerschaft gewinnen sollte, doch forderten die Sozialisten dabei nach russischem Vorbild eine Kollektivierung. Die Idee der Kollektivierung war für rumänische Bauern jedoch wenig attraktiv. Diese hofften vielmehr, durch eine Enteignung von Großgrundbesitzern die von ihnen bewirtschafteten Güter selbst in Besitz nehmen zu können. Dies trug dazu bei, dass der Einfluss der revolutionären Bewegungen gerade auf die hauptsächlich aus der bäuerlichen Bevölkerung rekrutierte Armee gering blieb.13 Zudem trennte die Besetzung eines großen Teils Rumäniens durch die Mittelmächte und die dort herrschende Militärverwaltung nicht nur das rumänische Territorium in zwei Hälften, sondern auch die Strukturen der politischen Bewegungen des Landes. Dies traf besonders die noch kleine rumänische Linke. Eine Kommunikation mit politischen Sympathisanten über die Fronten hinweg war lange Zeit kaum möglich und erschwerte eine effektive Koordination größerer Aktionen sowie die Mobilisierung einer kritischen Masse politisierter Menschen. Obwohl die deutschen Behörden sozialistische Versammlungen im Okkupationsgebiet anfangs in der Hoffnung den Feind zu destabilisieren erlaubten und mit Rakowksi verhandelten, erkannten die Besatzungsmächte bald, dass sich die sozialistische Bewegung ebenso schnell gegen sie selbst richten konnte. Daraufhin verschärfte die deutsche Verwaltung die Zensur und unterdrückte ungewünschte politische Aufwallungen mit der militärischen Macht des Besatzungsheeres. Im Untergrund agierende Gruppierungen, wie das kommunistische Bukarester Aktionskomitee unter dem Gewerkschaftsführer Alecu Constantinescu, wurden immer wieder von Verhaftungswellen erschüttert.14 Gleichzeitig griff auch die rumänische Regierung in Iaşi zu weitreichenden 13 Blagovest Njagulov: Early Socialism in the Balkans. Ideas and Practies in Serbia, Romania and Bulgaria, in: Diana Mishkova/Rumen Daskalov (Hrsg.): Entangled histories of the Balkans. Vol. 2: Transfers of political ideologies and institutions, Leiden 2014, S. 241–242. 14 Hitchins, Revolution (wie Anm. 6), S. 282–288; Flavius Solomon: În căutarea unei dinastii sau a unei republici. România în proiecţiile postbelice ale puterilor centrale şi ale rusiei sovietice, in: Anuarul Institutului de Istorie ›George Bariţiu‹ din Cluj-Napoca, 53 (2014), S. 279; Alexandru Marghiloman: Note Politice. Vol. 2: 1916–1917, Bukarest 1927, S. 478, 525.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

213

Repressionsmaßnahmen, um den Einfluss revolutionärer Ideologien in den unbesetzten Landesteilen zu minimieren. Die rumänische Geheimpolizei ließ bekannte Agitatoren engmaschig überwachen, schloss sozialistische Zeitungen und Versammlungsräume und verhaftete bekannte Parteiführer.15 Die effektive Repression der aufgespaltenen revolutionären Kräfte in beiden Teilen Rumäniens verhinderte schwerwiegendere Unruhen. Nach längerem Zögern entschied sich die rumänische Regierung letztendlich auch, konsequent gegen die Unterstützer der »Maximalisten« in der russischen Armee vorzugehen. Die Aufrufe des russischen Befehlshabers in Rumänien, General Dmitri Schtscherbatschow, an seine Soldaten, sich nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen, hatten spätestens mit der Oktoberrevolution jegliche Wirkung verloren. Daraufhin entschied der rumänische Kronrat im Dezember 1917, die durch den Waffenstillstand mit den Mittelmächten freigewordenen rumänischen Kräfte zur Entwaffnung und Deportation der aufrührerischen russischen Truppen einzusetzen. Im Unterschied zu anderen von Unruhen erschütterten Staaten setzte der vergleichsweise frühzeitige Waffenstillstand in Rumänien also militärische Ressourcen frei. Diese waren von besonderer Bedeutung für die Stabilität des rumänischen Staates, der diese Truppen somit effizient im Inneren einsetzen konnte, ohne laufende Operationen an der Front zu gefährden.16 Dennoch bewahrheitete sich auch die von mehreren Seiten geäußerte Befürchtung, das Vorgehen gegen russische Soldaten könne die Konflikte mit der Sowjetregierung verschärfen. Die russische Führung verhaftete kurzzeitig den rumänischen Gesandten in Petrograd und ließ diesen erst auf internationalen Protest wieder frei. Zu dieser Situation trat ein weiterer Konfliktpunkt hinzu, nachdem die russische Provinz Bessarabien im Dezember 1917 ihre Autonomie als Moldauische Demokratische Republik erklärte. Der durch Soldatenräte, Bauernverbände und andere Gruppierungen gewählte Sfatul Ţării, eine Art Landrat des von einer rumänisch sprechenden Mehrheit bewohnten Gebietes, formte eine politisch heterogene Regierung unter dem Sozialrevolutionär Ion Inculeţ. Diese strebte weitreichende Reformen und die Sicherung der politischen Autonomie an. Die schwache Autorität dieser Regierung wurde jedoch von mehreren Gegenkomitees, marodierenden Banden und zunehmenden Aggressionen bolschewikischer Truppen bedroht, die sich Anfang 1918 anschickten, den Landrat zu stürzen. Daher griffen Teile der moldauischen Re15 Bericht der rumänischen Geheimpolizei, Iaşi, 26. April 1917, in: Tănăsescu, Ideologie (wie Anm. 9), S. 217–220. 16 Agrigoroaiei, »România« (wie Anm. 8), S. 46.

214

Moritz A. Sorg

gierung zu der umstrittenen Maßnahme, die rumänische Armee einzuladen, in die Provinz einzurücken und die öffentliche Ordnung dort wiederherzustellen.17 Am 23. Januar 1918 überquerten rumänische Truppen die Grenze und vertrieben die bolschewikischen Verbände innerhalb weniger Tage aus der Provinzhauptstadt Chişinău. Die russische Regierung brach daraufhin die diplomatischen Beziehungen zu Rumänien ab, konfiszierte den in Petrograd deponierten rumänischen Staatsschatz und initiierte gewalttätige Repressionen gegen rumänische Zivilisten in Odessa. Nachdem die durch die Anwesenheit der rumänischen Armee gestärkten, antibolschewikischen Kräfte im Sfatul Ţării Anfang Februar die Unabhängigkeit der Republik erklärt hatten, wurde schnell deutlich, dass diese auf Dauer ohne externe Unterstützung nicht zu halten war. Daraufhin begann eine kontroverse Diskussion um eine Union mit Rumänien, für die der Landrat – unter Enthaltung der dort vertretenen ethnischen Minderheiten – im April 1918 votierte. Der Streit um Bessarabien zog sich bis in den Zweiten Weltkrieg hinein und beeinflusst bis heute das Verhältnis zwischen Rumänien und Russland.18 Das rumänische Aktionskomitee in Odessa stellte sich in diesem Konflikt entschieden auf die Seite der Bolschewiki und begann sogar mit der Aushebung revolutionärer Bataillone unter den sich dort aufhaltenden Rumänen, die zwischenzeitlich in Bessarabien gegen die rumänische Armee eingesetzt wurden. Rakowski und seine Anhänger verurteilten das rumänische Vorgehen als einen kriminellen Akt gegen das revolutionäre Russland. Noch 1924 unterstütze die Kommunistische Partei Rumäniens mit Blick auf Bessarabien die Ansprüche der Sowjetunion und das Sezessionsrecht der Minderheiten im eigenen Land.19 Dieses Verhalten schreckte einen großen Teil der Rumänen ab, da das Komitee stärker russische denn rumänische Interessen zu verfolgen schien und dadurch an Glaubwürdigkeit verlor. Die rumänische Regierungspropaganda stellte dementsprechend den Kommunismus als Werkzeug der Feinde der rumänischen Nation dar, die auf diesem Weg versuchten, die seit dem 19. Jahrhundert mythisierte Vereinigung aller Rumänen in einem Staat zu verhindern. Seit der Gründung des rumänischen Nationalstaats im Jahr 1866 spielten Forderungen nach einer

17 Charles King: The Moldovans. Romania, Russia, and the Politics of Culture, Stanford 2000, S. 32–35; Constantin Argetoianu: Pentru cei de mîine. Amintiri din vremea celor de ieri. Bd. 4: 1917–1918, hrsg. v. Stelian Neagoe, Bukarest 1993, S. 67. 18 Marcel Mitrasca: Moldova. A Romanian Province under Russian Rule. Diplomatic History from the Archives of the Great Powers, New York 2002, S. 35–39. 19 Hitchins, Revolution (wie Anm. 6), S. 277–278; Vladimir Tismăneanu: Stalinism for all seasons. A political history of Romanian communism, Berkeley 2004, S. 55–56.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

215

Irredenta der von Rumänen besiedelten Gebiete in angrenzenden Staaten eine wichtige Rolle im politischen Diskurs des Landes. Gerade das ungarische Siebenbürgen und das russische Bessarabien wurden dabei als historisch und ethnisch rumänisch betrachtet. Als es im Sommer 1919 zu militärischen Auseinandersetzungen mit der ungarischen Räterepublik unter Béla Kun kam, bestärkte dies das Narrativ vom Kommunismus als Werkzeug der nationalen Feinde. Die kommunistische Regierung Ungarns versuchte vergeblich, die von der Entente zugesicherte Inbesitznahme weiter Teile Siebenbürgens durch die rumänische Armee zu verhindern. Rumänische Kommunisten wurden in diesem Zusammenhang als ausländische Agenten und Agitatoren diffamiert, die im Auftrag Russlands, Deutschlands oder Ungarns gegen Rumänien arbeiteten. Unter dem Titel »Komplott gegen das Land« schrieb die konservative Zeitung »Viitorul« am 23. März 1919 beispielsweise: »Unsere öffentliche Meinung und besonders die Arbeiterklasse hat von den kriminellen Schlichen erfahren, die von Budapest, Berlin und Moskau auf den Weg gebracht wurden, mit dem Ziel eine soziale Revolution […] zu provozieren.«20 Diese Anschuldigung zeigte sich besonders verfänglich, da viele prominente rumänische Linke tatsächlich ausländischer Herkunft waren, wie zum Beispiel der aus Bulgarien stammende Rakowski. Darüber hinaus instrumentalisierte die antibolschewikische Propaganda den in der rumänischen Gesellschaft tief verwurzelten Antisemitismus. Im Zuge der russischen Revolution verbreitete sich in ganz Europa die Angst vor einer jüdisch-bolschewistischen Verschwörung. Diese Angst basierte auf verschiedenen älteren antisemitischen Stereotypen, die durch die kontinentale Unsicherheit in der Endphase des Kriegs radikalisiert wurden und neue Verbreitung erhielten. Prominente jüdische Akteure unter den europäischen wie auch den rumänischen Sozialisten bildeten dabei eine Projektionsfläche, um antisemitischen Hass gegen sozialistische Ideen und Akteure zu schüren.21 In Rumänien, wo es seit der Staatsgründung im 19. Jahrhundert wiederholt zu antijüdischen Pogromen gekommen war, viel diese Propaganda auf besonders fruchtbaren Boden. Zusätzlich waren während des Ersten Weltkriegs zahlreiche rumänische Juden von den Behörden verfolgt und der Spionage für die

20 »Viitorul«, 23. April 1919; vgl. zudem: Irina Livezeanu: Cultural Politics in Greater Romania. Regionalism, Nation Building and Ethnic Struggle, 1918–1930, Ithaca 2000, S. 249; Grigore Procopiu: Parlamentul în pribegiem, 1916–1918. Amintiri, note și impresii, hrsg. v. Daniel Cain, Bukarest 2018, S. 201. 21 Paul Hanebrink: A Specter Haunting Europe. The Myth of Judeo-Bolshevism, Cambridge [MA] 2018, S. 11–45; Robert Gerwarth: The Vanquished. Why the First World War failed to end, 1917–1923, London 22017, S. 88 und S. 142–147.

216

Moritz A. Sorg

Mittelmächte beschuldigt worden, was die Ressentiments gegen die Minderheit weiter befeuert hatte. So überrascht es nicht, dass das Aktionskomitee in Odessa schon im Dezember 1917 die »wilde und blutige Verfolgung jüdischer Sozialisten« in Rumänien beklagte.22 Die Stilisierung des Kampfes gegen den Kommunismus zu einer Frage der nationalen und territorialen Integrität sowie die Assoziation kommunistischer Ideen mit antisemitischen Feindbildern trugen daher ebenfalls dazu bei, dass es den rumänischen »Maximalisten« trotz der prävalenten Staatskrise nicht gelang, eine Massenbasis aufzubauen. Vielmehr führte die notwendige Positionierung der rumänischen Sozialisten gegenüber den Forderungen der Bolschewiki zu einer zunehmenden Spaltung der sich noch im Anfangsstadium befindenden rumänischen Linken. Während die militanten Sozialisten und Kommunisten um Rakowski sich bereitwillig in den Dienst der Bolschewiki stellten, lehnte ein Großteil der gemäßigten Sozialisten den russischen Führungsanspruch ab. Sie strebten eine spezifisch rumänische Gesellschaftsentwicklung an. Durch die Annexionen des wesentlich stärker industrialisierten Siebenbürgens und die Rückkehr politisierter Kriegsgefangener verbreiterte die rumänische Linke ihre gesellschaftliche Basis. Der schwelende innere Konflikt sorgte allerdings dafür, dass keine ausreichend große Bewegung koordiniert werden konnte, um einen etwaigen Umsturz tatsächlich anzugehen.23 Zudem waren beide Flügel der Sozialistischen Partei (Partidul Socialist) – 1918 als Nachfolgerin der 1916 verbotenen Sozialdemokratischen Partei gegründet – massiven Repressionen ausgesetzt. Die landesweiten Arbeiterstreiks in den Jahren 1919 bis 1921, bei denen immer wieder republikanische Forderungen aufkamen und an denen sich die Partei aktiv beteiligte, wurden von der rumänischen Regierung mit dem Verweis auf den Einfluss bolschewikischer Provokateure brutal niedergeschlagen. Allein das Vorgehen des Militärs gegen den Streik der Bukarester Druckereiarbeiter am 26. Dezember 1918 forderte nach Schätzungen bis zu 100 Tote. Eine erneute Welle von Verhaftungen und kriegsgerichtlichen Verurteilungen erschütterte die Parteistrukturen. Der staatliche Druck nahm noch weiter zu, nachdem Extremisten aus dem kommunistischen Flügel der Partei Ende 1920 mehrere hochrangige Politiker bei einem

22 Memorandum des »Comitet de Acţiune Social– Democrat Român«, Odessa, 17. Dezember 1917, in: Tănăsescu, Ideologie (wie Anm. 9), S. 293–297; Livezeanu: Cultural Politics (wie Anm. 20), S. 250–254; zur Entwicklung des Antisemitismus in Rumänien vgl. Mariana Hausleitner: »Rumänien«, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1: Länder und Regionen, München 2008, S. 290–298. 23 Tismăneanu, Stalinism (wie Anm. 19), S. 42.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

217

Bombenattentat auf den rumänischen Senat töteten. Aufgrund der anhaltenden Unruhen beendete die rumänische Regierung erst 1922 den noch seit dem Krieg geltenden Belagerungszustand und lockerte nur in kleinen Schritten die Zensur. In der Zensur sah das rumänische Innenministerium einen Teil der notwendigen »vereinten Aktionen aller Menschen rumänischer Gesinnung gegen die Gefahr des Bolschewismus.«24 Die fehlende Einheit der Linken ermöglichte der rumänischen Regierung und dem Militär ein punktuelles, äußerst scharfes Vorgehen gegen einzelne aufrührerische Gruppen. Nach der Institutionalisierung der Spaltung der Bewegung durch die Gründung der kommunistischen Partei im Jahr 1921 trafen diese repressiven Maßnahmen weiterhin beide Teile der rumänischen Linken. Die weitreichenden und teils brutalen Repressionsmaßnahmen wurden dabei durch die Verbindungen der Sozialisten mit ihren russischen und ungarischen Genossen legitimiert, wobei eine Differenzierung zwischen den verschiedenen politischen Ausrichtungen bewusst unterlassen wurde. Die Organisation der Arbeiterbewegung in Rumänien wurde dadurch auf Jahre hin weiter behindert, weshalb die republikanischen Ideen dieser Gruppen auch in der Zwischenkriegszeit wenig Wirkmacht entfalteten. Abgesehen von dem gescheiterten sozialistischen Republikanismus traten im Rumänien des Ersten Weltkriegs noch weitere politische Gruppen mit republikanischen Tendenzen auf. Diese verringerten die Unterstützung der Sozialisten im Land weiter und fanden deutlich größere Zustimmung in der rumänischen Bevölkerung. Eine bedeutende Rolle kam dabei der im April 1918 gegründeten »Volksliga« (Liga Poporului) zu, deren Erfolg hauptsächlich auf die Beliebtheit des rumänischen Generals Alexandru Averescu zurückzuführen war, der als Galionsfigur der populistisch agierenden Partei fungierte. Der eigentlich konservative Averescu erkannte die gesellschaftliche Überzeugungskraft linker Ideen in dieser Periode und bewegte sich diesen Vorstellungen entgegen. Er vereinte in der Liga eine sehr heterogene Gruppe von Politikern, die sich für eine strengere Einhaltung der rumänischen Verfassung, Agrarreformen und ein allgemeines Wahlrecht einsetzten. Im Umfeld Averescus fanden sich somit auch einige entschiedene Kritiker König Ferdinands, die unter Einhaltung der Verfassung besonders die bessere Durchsetzung der dort verankerten Volks-

24 Telegramm des rumänischen Innenministeriums an alle Präfekturen, Bukarest, 28. Februar 1919, in: Florian Tănăsescu (Hrsg.): Ideologie şi structuri comuniste în România. Vol. II: 1918–1919, Bukarest 1997, S. 180; Tismăneanu, Stalinism (wie Anm. 19), S. 48 f.; Neculai Moghior/Ion Dănilă/Vasile Popa: Ferdinand I. Văzut de contemporanii săi, Bukarest 2006, S. 207 und S. 247; Charles J. Vopicka: Secrets of the Balkans. Seven Years of a Diplomat’s Life in the Storm Centre of Europe, Chicago 1921, S. 287–89.

218

Moritz A. Sorg

souveränität verstanden und die Kompetenzen des Königs verringern wollten. Zu diesen gehörte beispielsweise auch der konservative Politiker Constantin Argetoianu, dessen Beziehung zu dem Monarchen von gegenseitiger Abneigung geprägt war.25 Die Anhänger des langjährigen liberalen Ministerpräsidenten Ion Brătianu nutzten diese Tendenzen bei der Konkurrenz, um Averescu und seine Liga in den Augen König Ferdinands als antidynastische Organisation zu diskreditieren. Dies führte zu zunehmendem Misstrauen zwischen dem Monarchen und dem ehrgeizigen General. Duiliu Zamfirescu, ein Anhänger Averescus, wies diese Vorwürfe in einem Ende 1919 erschienen Artikel zurück und behauptete: »Republikaner oder Dynastiker zu sein, sind relative Werte. In Frankreich dynastisch zu sein, ist fast eine Monstrosität; Republikaner zu sein, ist in England definitiv eine Monstrosität. Wir glauben, dass es ein staatliches Dogma ist, in Großrumänien dynastisch zu sein.«26 Obwohl Averescu die unter Ferdinands Oberbefehl begangenen Fehler des rumänischen Militärs öffentlich kritisierte, blockte er Versuche von Revolutionären und Republikanern – auch aus der eigenen Partei – ihn für einen Umsturz zu gewinnen stets ab. Stattdessen folgte er im Januar 1918 bereitwillig dem Ruf des Königs zur Bildung einer kurzlebigen Regierung, auf die weitere kurze Amtsperioden als Premierminister von März 1920 bis Dezember 1921 und von März 1926 bis Juni 1927 folgten. Obwohl er 1919 mit den Sozialisten über eine Kooperation verhandelte, zeigte sich Averescu an der Regierung wenig zimperlich, das Militär gegen streikende Arbeiter einzusetzen und setzte ein scharfes Vorgehen gegen die kommunistischen Umtriebe im Land durch.27 Averescu gelang es also durch die Einbindung republikanisch gesinnter Akteure in seine Partei, diese unter Kontrolle zu halten und das umstürzlerische Potenzial in Rumänien dadurch zu verringern. Zudem bot Averescu, der besonders unter den Soldaten und Bauern Rumäniens beliebt war, diesen Gruppen nicht nur eine politische Alternative zur revolutionären Linken, sondern dämmte diese als effizienter und loyaler Vollstrecker der Staatsmacht noch weiter ein. Neben der Partei Averescus sorgte auch die sich immer besser organisierende Bauernbewegung dafür, dass sozialistisch-revolutionäre Gruppen in Rumänien keine breite Unterstützung erhielten. Die Bewegung, zu deren

25 Constantin Argetoianu: Pentru cei de mîine. Amintiri din vremea celor de ieri. Bd. 3: 1916–1917, hg. v. Stelian Neagoe, Bukarest 1992, S. 106 f.; Petre Otu: Alexandru Averescu. Marschall, Politiker, Legende, Hainburg 2011, S. 235. 26 »Îndreptarea«, 12. November 1919. 27 Otu, Averescu (wie Anm. 25), S. 242–245; Elisa Brătianu/Ion I. Brătianu: Memorii involuntare, hrsg. v. Marian Ştefan, Bukarest 1999, S. 87–92.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

219

Begründern der sozialkritische Politiker und Jurist Constantin Stere gehörte, forderte ebenfalls eine Agrarreform, um die Lebensumstände der ländlichen Bevölkerung zu verbessern. Dabei lehnten die Vertreter des sogenannten Poporanismus jedoch westliche Entwicklungsmodelle und kommunistische Kollektivierungsideen ab. Bei ihrer Gründung als ganzrumänische Partei im Dezember 1918 distanzierte sich die Bauernpartei (Partid Ţărănesc) daher sowohl deutlich von den Bolschewiki als auch von den etablierten Parteien Rumäniens und forderte stattdessen eine bäuerliche Demokratie nach dem Vorbild dörflicher Selbstverwaltung.28 Obwohl König Ferdinand die Bauernpartei noch 1923 aufgrund ihrer »weit nach links neigenden Elemente[…]« zu einer »nicht regierungsfähigen Partei« erklärte, verhinderte diese auch in der Zwischenkriegszeit lange politische Einbrüche von links. Ein erneuter kommunistischer Umsturzversuch in Bessarabien scheiterte 1923 bezeichnenderweise an der Gegenwehr der Bauern.29 Ein Faktor, der die radikalen Elemente der Bauernbewegung in der Periode zwischen 1914 und 1918 abschwächte, war die widersprüchliche Haltung Constantin Steres. Obwohl Stere in Rumänien als überzeugter Republikaner galt, hatten republikanische Forderungen für ihn während des Krieges keine Priorität. Königin Marie charakterisierte Stere in ihren Erinnerungen als einen »absolute Socialist, who was anything but loyal towards us, but who has many excuses, as his one ideal had always been the reunion of Bessarabia and Roumania.«30 Für den aus Bessarabien stammenden Politiker stellte der Weltkrieg eine einmalige Gelegenheit zur Vereinigung seiner Heimatregion mit dem Rest Rumäniens dar. Deshalb setzte er sich seit 1914 entschieden für eine Kooperation mit den Mittelmächten gegen Russland ein und vertrat auch nach dem rumänischen Kriegseintritt auf Seiten der Entente weiter eine antirussische Position. Angesichts der schweren rumänischen Niederlagen schlug er mehrmals sogar eine Personalunion mit dem Habsburgerreich unter dem österreichischen Kaiser vor, um dadurch die Chancen Rumäniens 28 Protokoll zur Gründung der Partid Ţărănesc, 5. Dezember 1918, in: Vasile Niculae/Ion Ilincioiu/Stelian Neagoe: Doctrina ţărănistă în România, Bukarest 1994, S. 78; Roumen Daskalov, Agrarian Ideologies and Peasant Movements in the Balkans, in: Diana Mishkova/Rumen Daskalov (Hrsg.): Entangled histories of the Balkans. Vol. 2: Transfers of political ideologies and institutions, Leiden 2014, S. 283–311. 29 König Ferdinand von Rumänien an Fürst Wilhelm von Hohenzollern-Sigmaringen, Bukarest, 23. Mai 1923, Staatsarchiv Sigmaringen (StAS), FAS HS 1-80 T 9 R53 Nr. 215; Otto Rudolf Liess: Rumänische Bauernparteien, in: Heinz Gollwitzer (Hrsg.): Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 448. 30 Marie, Story (wie Anm. 4), S. 363.

220

Moritz A. Sorg

auf eine Annexion Bessarabiens aufrechtzuerhalten.31 Als er aufgrund seiner deutschfreundlichen Ansichten 1916 sein Amt als Rektor der Universität Iaşi aufgeben musste, begab er sich nach Bukarest und verblieb dort während der deutschen Besatzung. Nachdem König Ferdinand im März 1918 als Bedingung für den Frieden der Bildung einer Regierung unter dem ebenfalls in Bukarest verbliebenen Germanophilen Alexandru Marghiloman zustimmen musste, fungierte Stere als wichtiger Vermittler in der Bessarabien-Frage und hatte einen entscheidenden Anteil am Erfolg der Union.32 Der Blick auf die Person Constantin Steres zeigt exemplarisch die Konkurrenz sozialer und nationaler Fragen in der rumänischen Öffentlichkeit und macht deutlich, wie nationale Belange gerade im Kontext des Ersten Weltkriegs oftmals soziale Thematiken überdeckten. Die Dominanz des nationalen Ideals entzog der Möglichkeit, einen sozialen und politischen Umbruch zu erreichen, die Aufmerksamkeit und befestigte dadurch das gesellschaftliche System des Landes. Neben Steres Idee einer Personalunion kursierten in den Kreisen der in Bukarest zurückgebliebenen Germanophilen weitere Vorschläge zum Sturz König Ferdinands, der für die militärische und politische Katastrophe verantwortlich gemacht wurde. Dabei traten die meist konservativen Politiker jedoch nicht für republikanische Modelle ein, sondern forderten, in Anbiederung an die deutschen Besatzer, die Monarchie unter einer neuen, deutschfreundlicheren Dynastie beizubehalten. Auch hier verwiesen Akteure wie Petre Carp auf das Motiv, die nationalen Interessen Rumäniens im Moment der Niederlage zu sichern. Deshalb wurden häufig Prinz Eitel-Friedrich, der zweite Sohn des deutschen Kaisers, und Prinz Friedrich Karl von Hessen, ein Schwager Wilhelms II., als aussichtsreiche Kandidaten für die Nachfolge König Ferdinands genannt.33 Allerdings zeigten sich die in Bukarest verbliebenen Akteure in dieser Frage ähnlich uneinig wie die Mittelmächte selbst, sodass es letztendlich zu keiner Umsetzung dieser Ideen kam. Vielmehr konnte Alexandru Marghiloman als Regierungschef die Zusage der Mittelmächte erwirken, die Dynastiefrage als interne Angelegenheit Rumäniens zu behandeln und einen Verbleib des Königs auf dem Thron zu akzeptieren. Einerseits erhofften sich die Mittelmächte

31 Alexandru Marghiloman: Note Politice. Vol. 3: 1917–1918, Bukarest 1927, S. 286; Titu Maiorescu: România şi Războiul Mondial. Însemnări zilnice inedite, hrsg. v. Stelian Neagoe, Bukarest 1999, S. 243. 32 Grigore Georgiu: Constantin Stere and His Original Perspective on the Mordernization of Romania, in: Cogito 8 (2016), S. 98. 33 Siehe z. B. Maiorescu, România (wie Anm. 31), S. 232; Solomon, În căutarea (wie Anm. 14), S. 279.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

221

davon einen rascheren Friedensschluss mit Rumänien, andererseits erkannte man auch in Berlin und Wien das gefährliche Potenzial einer erzwungenen Abdankung in Zeiten bolschewikischer Agitationen.34 Das nachlassende Interesse der Besatzungsmächte an einem Regimewechsel wirkte sich konsolidierend auf die Position der Monarchie in Rumänien aus. Diesen Effekt verstärkte auch die Haltung der Entente, die Vorschläge zur Gründung einer Republik in Rumänien grundsätzlich ablehnte. Aus französischer Sicht bestand ein Interesse an einem stabilen Rumänien unter einer ententefreundlichen Dynastie, das als zukünftiger Ordnungsfaktor in der Region agieren konnte.35 Beide Kriegsparteien erkannten, dass der Monarch trotz der verheerenden Niederlagen und der revolutionären Propaganda großen Rückhalt in der rumänischen Gesellschaft genoss und daher einen stabilisierenden Faktor darstellte. So konstatierte ein Wochenbericht des in Rumänien agierenden Oberkommandos Heeresgruppe Mackensen am 5. Januar 1918, also ungefähr einen Monat nach dem Waffenstillstand von Focşani: »Die Stellung des Königs, der viel bei den Soldaten sein soll, hat sich seit Kriegsbeginn anscheinend eher gefestigt.«36 Um diesen Umstand zu erklären, ist im Folgenden ein genauerer Blick auf das Verhalten der königlichen Familie während des Ersten Weltkriegs zu richten. Die rumänische Monarchie im Ersten Weltkrieg Zum Zeitpunkt des Kriegseintritts Rumäniens im Jahr 1916 waren König Ferdinand und die Monarchie in der rumänischen Gesellschaft keineswegs unumstritten. Als Ferdinand im Oktober 1914 seinem kinderlosen Onkel König Carol I. auf den Thron folgte, hatte dieser gerade eine der schwersten innenpolitischen Krisen seiner beinahe fünfzigjährigen Regierungszeit hinter sich gebracht. Carol, ein deutscher Prinz aus dem Haus HohenzollernSigmaringen, war 1866 zum Fürsten des neugegründeten Staates Rumänien gewählt und 1881 zum ersten König des jungen Landes ausgerufen worden.37 Durch einen geheimen Beistandsvertrag mit den Mittelmächten verbündet, wollte König Carol 1914 auf Seiten Deutschlands und Österreich34 Elke Bornemann: Der Frieden von Bukarest 1918, Frankfurt a. M./Bern/Las Vegas 1978, S. 56 f. 35 Auguste de Saint-Aulaire an Alexandre Ribot, 10. April 1917, Archives de Ministère des Affaires Étrangères Français (AMAEF), La Courneuve, Série Guerre, Roumanie, S. 346; Berthelot, La Roumanie (wie Anm. 10), S. 149. 36 Wochenbericht des Oberkommandos Heeresgruppe Mackensen, 5.  Januar 1918, Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg (BAMA), PH 5-I/135. 37 Siehe dazu: Edda Binder-Iijima: Die Institutionalisierung der rumänischen Monarchie unter Carol I. 1866–1881, München 2003.

222

Moritz A. Sorg

Ungarns in den Krieg eintreten. Obwohl der König die Außenpolitik Rumäniens lange Zeit eigenhändig bestimmt hatte, stieß er mit diesem Vorhaben auf den entschiedenen Widerspruch der meisten rumänischen Politiker. In der frankophilen Öffentlichkeit des Landes lösten Carols Pläne eine vehemente Ablehnung aus. Aufgrund seiner prodeutschen Haltung wurde er in der ententefreundlichen Presse Rumäniens und von den frankophilen Bewohnern Bukarests des Verrats an der rumänischen Nation bezichtigt. Einige Demonstranten schmierten sogar die drohenden Worte »zu vermieten« auf die Mauern des königlichen Palastes.38 Der König musste sich dem Druck der Öffentlichkeit beugen und erklärte Rumäniens Neutralität im beginnenden Weltkrieg. Kurz darauf starb er im Alter von 75 Jahren, sodass sich nun sein ebenfalls aus Deutschland stammender Neffe mit dieser schwierigen Situation auseinanderzusetzen hatte. Obwohl König Ferdinand an der durch seinen Onkel verkündeten Neutralität festhielt, wurden die öffentlichen Angriffe auch gegen seine Person fortgesetzt. Unter der Führung der bekannten Politiker Niculae Filipescu und Take Ionescu formierte sich eine Gruppe rumänischer Interventionisten, die versuchte, den König durch eine aggressive Medienkampagne zum Kriegseintritt auf Seiten der Entente zu drängen.39 Ein Bündnis mit der Entente erschien diesen als der vielversprechendste Weg einen Anschluss des ungarischen Siebenbürgens an Rumänien zu erwirken und dadurch die idealisierte Einheit aller Rumänen in einem Nationalstaat zu erreichen. Der König wurde beschuldigt, durch die Neutralität mehr die Interessen seines Herkunftslandes Deutschland als die Interessen der rumänischen Nation zu verfolgen. Republikanische Ideen und Rufe nach dem Sturz des Monarchen waren auf den zahlreichen interventionistischen Demonstrationen verbreitet. Der bekannte Historiker und Nationalist Nicolae Iorga erhielt stürmischen Applaus als er der Menge auf einer Kundgebung in Craiova zurief: »Wenn der Krieg endet, ohne dass Siebenbürgen bei uns ist, und wenn wir in der heutigen Scham und Untätigkeit bestehen bleiben, muss sich jeder, der sich als wahrer Rumäne fühlt, von seiner Loyalität gegenüber dem König als frei betrachten.«40 König Ferdinand, der bei seiner Thronbesteigung 1914 versprochen hatte als »guter Rumäne« herrschen zu wollen, gab dem öffentlichen Druck letztendlich nach. In einem Kronrat am 27. August 1916 informierte er die führenden 38 Arabella Yarka: Au jour le jour. Carnet intime, 1913–1918, Bukarest 1937, S. 59. 39 Siehe z. B. Niculae Filipescu: Însemnări, 1914–1916, hrsg. v. Nicolae Polizu-Micşuneşti, Bukarest 2017, S. 205. 40 Zitiert nach: Ion Bulei: »Bunul nostru rege, Ferdinand«, Bukarest 2017, S. 114.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

223

Politiker des Landes über den unmittelbar bevorstehenden Kriegseintritt. Auf die Einwände des radikalen Germanophilen Petre Carp, der den König aufforderte, an die Interessen seiner deutschen Dynastie zu denken, antwortete Ferdinand mit großem Pathos: »Ich kenne die Interessen der Dynastie nicht, ich kenne nur die Interessen des Landes. In meinem Bewusstsein sind diese beiden Interessen verwoben. Wenn ich mich zu diesem schweren Schritt entschlossen habe, dann, weil ich nach reichlicher Überlegung zu der Überzeugung gelangt bin, […] dass es den wahren Sehnsüchten des Volkes entspricht, für das ich in der gegenwärtigen Zeit die Verantwortung trage. […] Denn vor allem, müssen Sie wissen, Herr Carp, dass meine Dynastie eine rumänische ist.«41 Mit diesem klaren Bekenntnis zur rumänischen Nation ließ König Ferdinand die kritischen Stimmen verstummen, die die Fremdheit der Dynastie angeprangert hatten. Zudem legte der König dadurch den Grundstein für ein wirksames Narrativ, das seine Stellung in der rumänischen Gesellschaft festigen und ihm den Ehrennamen »Ferdinand cel loial« einbringen sollte. Durch die Entscheidung zum Kriegseintritt hatte Ferdinand sich an die Spitze des Strebens nach der Einigung aller Rumänen gestellt, was seine Popularität in der Bevölkerung enorm steigerte. 42 Die rumänische Propaganda glorifizierte dabei die Tragweite, die diese schwere Entscheidung für den König bedeutet habe. Durch den Kriegseintritt habe dieser der rumänischen Nation aus Pflichtgefühl jegliche Verbindung zu seiner alten Heimat, seiner Vergangenheit und seiner Familie geopfert, gegen die er sich nun im Krieg befand. Durch dieses Opfer sei die Nationalisierung der fremdstämmigen Hohenzollern-Dynastie vollendet worden. In einer Rede im Dezember 1916 vor dem nach Iaşi evakuierten rumänischen Parlament pries Nicolae Iorga beispielsweise, ganz gegensätzlich zu seinen obenstehenden Äußerungen, »das hervorragende moralische Vorbild, das König Ferdinand, der heute nur König Rumäniens ist, vor der Welt erbracht hat. Es ist leicht […] eine Entscheidung zu treffen, […] ohne diesen Kampf mit allen Fasern seiner Selbst führen zu müssen, durch welchen der König Rumäniens bei der Entscheidung aus dem August 1916 angelangt ist; sich selbst zu besiegen, seine 41 Ion G. Duca: Amintiri Politice. Vol. 1, München 1981, S. 277. 42 Raoul V. Bossy: Recollections of a Romanian diplomat, 1918–1969. Diaries and memoirs, hrsg. v. George H. Bossy u. Michel-André Bossy, Stanford 2003, S. 49.

224

Moritz A. Sorg

stolze Rasse, seine Kindheitserinnerungen, die gesamten Jahrhunderte seiner an ein anderes Land gebundenen Vorfahren, um uns von neuem nicht nur seine Person, sondern das Opfer all seiner Ahnen darzubringen.«43 Dieses Narrativ betonte die Opferbereitschaft des Königs aus monarchischem Pflichtgefühl und stärkte dessen Funktion als nationale Symbolfigur. Zudem sollte der Eindruck verstärkt werden, dass die königliche Familie, im Streben nach einem übergeordneten Ziel, die durch den Krieg von der Bevölkerung geforderten Opfer zu teilen bereit war. Dieses propagierte gemeinsame Leiden sollte ein emotionales Band zwischen der Dynastie und der rumänischen Bevölkerung schaffen und somit die Legitimation der Monarchie stärken. Anders als Lothar Machtan dies für die deutschen Bundesfürsten konstatiert, gelang es der rumänischen Monarchie auch, diese Verbundenheit durch geteilte Kriegserfahrungen glaubhaft zu vermitteln. 44 Ein Sachverhalt der sich auf mehrere Faktoren stützte: Erstens, stellte die Erfahrung der Flucht nach Iaşi eine gemeinsame Basis dar. Genauso wie viele gewöhnliche Rumänen, musste die Königsfamilie vor den deutschen Invasoren aus ihrem Zuhause fliehen. Dabei wehrte sich König Ferdinand standhaft gegen Vorschläge seiner Verbündeten, die Königsfamilie außer Landes in Sicherheit zu bringen. Stattdessen bestand er mit Verweis auf das Vorbild des belgischen Königs Albert darauf, mit seiner Armee in den unbesetzten Teilen des Landes auszuharren. Die Anwesenheit der Königsfamilie bildete in Iaşi einen wichtigen Ordnungs- und Moralfaktor, der das Ansehen des Königs und seiner Familie in der rumänischen Gesellschaft weiter erhöhte. Die Beibehaltung des königlichen Protokolls im Exil demonstrierte den Bewohnern von Iaşi die Kontinuität des rumänischen Staates und ermutigte sie, trotz Krankheitswellen und Nahrungsmittelknappheit weiter durchzuhalten. 45 Zweitens, bemühte sich die Königsfamilie ein intimes Band zu den rumänischen Soldaten aufzubauen und besuchte zu diesem Zweck regelmäßig die 43 Vasile Bianu: Însemnări din războiul României Mari. Vol. 1: De la mobilizare până la Pacea de la Bucureşti, Cluj-Napoca 1926, S. 76. 44 Lothar Machtan: Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, Berlin 2. Aufl. 2008, S. 93–97; vgl. zur Bedeutung von Emotionen für monarchische Legitimität am Beispiel Großbritanniens Walter Bagehot: The English Constitution, London 2. Aufl. 1873, S. 64. 45 Jean-Noël Grandhomme: Le général Berthelot et l’action de la France en Roumanie et en Russie méridionale, 1916–1918. Genèse, aspects diplomatiques, militaires et culturels avec leurs incidences, prolongements et perspectives, Vincennes 1999, S. 235 f.; Agrigoroaiei, Oraşul (wie Anm. 1), S. 133 f.; Duca, Amintiri Vol. 2 (wie Anm. 10), S. 96 f.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

225

Truppen an der Front. Die königliche Familie zeigte sich während dieser Besuche äußerst nahbar und verhinderte damit eine Entfremdung von den Soldaten, wie sie beispielsweise die durchinszenierten Frontbesuche des deutschen Kaisers zuweilen auslösten. 46 Der König speiste zusammen mit den Soldaten und feierte gemeinsame Feldgottesdienste. Dabei spielte der katholische König Ferdinand in der Kriegsliturgie der zuvor eher distanzierten rumänisch-orthodoxen Kirche erstmals eine zentrale Rolle. Unter der religiösen, ländlichen Bevölkerung Rumäniens konsolidierte auch dies die Legitimität der Dynastie. 47 Darüber hinaus veranlasste der Monarch früh die rasche Beförderung zahlreicher junger Offiziere und erzeugte dadurch eine ihm geneigte Stimmung in den mittleren Rängen der Armee. 48 Dahingegen bewies das auch in anderen europäischen Monarchien oftmals bemühte Motiv des Königs, der sich bei Frontbesuchen furchtlos in die Gefahrenzone an vorderster Front begab, auch in Rumänien nur begrenzte Überzeugungskraft. Zwar wurde die Anwesenheit des Königs an der Front als weiterer Beweis für die vorbildliche Pflichterfüllung des Monarchen angeführt, doch erhoben sich gegen diese Darstellung auch kritische Stimmen. Der bereits erwähnte Constantin Argetoianu, zum Beispiel, zweifelte an Ferdinands Anwesenheit an der Front. Argetoianu sprach dem König in seinen »Erinnerungen« sogar jegliche Bedeutung für das rumänische Durchhalten ab und lobte stattdessen die Kriegsleistungen von Ferdinands Frau Königin Marie. Argetoianus Kritik an den Versuchen, den König mitten in die Gefahrenzonen des Kriegs hineinzuschreiben, scheint durchaus gerechtfertigt. Seine Zurückweisung jeglicher Bedeutung des Monarchen für den Zusammenhalt der rumänischen Kriegsgesellschaft widerspricht allerdings den Berichten zahlreicher anderer Zeitgenossen und scheint auf das angespannte persönliche Verhältnis zu Ferdinand zurückzugehen. Folgt man Lothar Machtans These, dass die Ruinierung der deutschen Monarchien durch das Fehlverhalten ihrer Protagonisten einen großen Anteil am Zusammenbruch der Institution im Herbst 1918 hatte, wirft dies ein positiveres Licht auf das Handeln Ferdinands, der sein Ansehen während des Krieges keineswegs ruinierte. 49 Dem rumänischen König gelang es vielmehr, sich auch nach dem Waffenstillstand mit

46 Moghior, Ferdinand (wie Anm. 24), S. 122 f. 47 Marcel Fontaine: Journal de guerre. Mission en Roumanie, Novembre 1916–avril 1918, Bukarest 2009, S. 360. 48 Bornemann, Frieden (wie Anm. 34), S. 56. 49 Argetoianu, Amintiri Vol. 3 (wie Anm. 25), S. 108–119; Universul, 21. November 1916; Neculai Moghior/Ion Dănilă/Vasile Popa: Ferdinand I. Cuvânt pentru întregirea neamului românesc, Bukarest 1994, S. 37; Machtan, Abdankung (wie Anm. 44), S. 351.

226

Moritz A. Sorg

den Mittelmächten in der rumänischen Öffentlichkeit unbeschadet zu halten. Im Sommer 1918 zog sich König Ferdinand zusammen mit Königin Marie auf ein abgeschiedenes Gut in den Bergen zurück und vermied auf diese Weise jeglichen kompromittierenden Kontakt mit den Besatzern. Darüber hinaus verzögerte der König dadurch bewusst die notwendige Ratifizierung des von Vertretern beider Parteien bereits unterzeichneten Friedensvertrags mit den Mittelmächten. Somit konnte er sich seine Funktion als nationales Symbol des Widerstands bis zum 10. November 1918 erhalten, als Rumänien für die Dauer eines Tages erneut auf Seiten der Entente in den Krieg eintrat.50 Allerdings schließt dies nicht aus, dass die gelungene propagandistische Inszenierung von Königin Marie ein dritter Faktor für das erfolgreiche Narrativ geteilter Kriegserfahrungen zwischen Monarchie und rumänischer Nation war. Dabei profitierte das Königshaus von der extrovertierten Persönlichkeit der Königin, die dadurch das eher schüchterne Auftreten König Ferdinands in der Öffentlichkeit kompensierte. Königin Marie begleitete Ferdinand bei Armeebesuchen, verteilte Liebesgaben an die Soldaten und besuchte regelmäßig Verwundete in den Lazaretten. Darüber hinaus fungierte sie als Namensgeberin eines ganzen Netzwerks von Krankenwägen, Lazaretten und Waisenhäusern, in denen große Namensschriftzüge die Wohltätigkeit von »Regina Maria« allgegenwertig werden ließen. Bei öffentlichen Auftritten trug die Königin beinahe ausschließlich die Uniform einer Krankenschwester, mit einem Schleier, der an Darstellungen der Heiligen Maria erinnert. Bezeichnenderweise wurde Königin Marie während des Kriegs in der Öffentlichkeit oft als »Mama Regina« oder »Mama Răniților« (Mutter der Verwundeten) bezeichnet, was deutlich den Versuch erkennen lässt, eine Assoziation mit der Mutter Jesu zu erzeugen.51 Eine Strategie, deren Wirksamkeit sich angesichts des Legendenstatus abzeichnet, den die Königin in der rumänischen Erinnerung an die Monarchie bis heute einnimmt. Ohne Königin Maries Einfluss negieren zu wollen, muss jedoch angemerkt werden, dass die Königin durch die Publikation ihrer »Erinnerungen« selbst einen großen Anteil zu ihrer Nachkriegsheroisierung beisteuerte. Nichtsdestotrotz entfaltete das Bild von Königin Marie als Mutter der Nation und das Narrativ der durch die Königsfamilie geteilten Kriegsleiden in der rumänischen Öffentlichkeit eine besondere Wirkkraft. Dazu trug entscheidend bei, dass der jüngste Sohn des Königspaars, Prinz Mircea, im 50 Moghior, Ferdinand (wie Anm. 24), S. 156 f.; Bornemann, Frieden (wie Anm. 34), S. 33 f. 51 Marie, Story (wie Anm. 4), S. 55, 57, 187; Maria Bucur: Between the Mother of the Wounded and the Virgin of Jiu. Romanian Women and the Gender of Heroism during the Great War, in: Journal of Women’s History 12 (2000), S. 30–56.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

227

November 1916 im Alter von drei Jahren aufgrund einer durch den Krieg beförderten Typhuswelle verstarb. Die Symbolrolle der Königin, die repräsentativ für alle Frauen und Mütter Rumäniens stand, erhielt durch die persönliche Tragödie eine in der europäischen Monarchie einzigartige Authentizität. So reflektierte die Königin in einem 1919 verfassten Brief an ihren Neffen Prinz Friedrich Viktor von Hohenzollern-Sigmaringen: »Mircea’s Tod war für mein Volk das Zeichen, das auch ich das schwerste Opfer für mein Land bringen musste, und die einfachen Leute glaubten, dass Gott ihn zu sich gerufen um für sein Land zu beten [sic].«52 Neben der dargestellten Etablierung eines emotionalen Bandes zwischen Dynastie und Nation, das sich auf die glaubhafte Vermittlung des Opfernarrativs um die königliche Familie stützte, war die frühzeitig verkündete Reformbereitschaft des Monarchen ein weiterer wichtiger Punkt für die Abwehr republikanischer Ideen in Rumänien. In seinem Buch zur Restauration monarchischer Legitimität im 19. Jahrhundert argumentiert Volker Sellin, dass bei einer konsequenteren Bereitschaft zu rechtzeitigen demokratischen Konzessionen in Europa bis heute nur Monarchien existieren würden.53 Angesichts des durch die Sowjetunion erzwungenen Sturzes der rumänischen Monarchie im Jahr 1947 greift diese These wohl zu weit. Allerdings ist die legitimierende Wirkung der durch König Ferdinand bei einem Frontbesuch öffentlich zugesicherten Wahlrechts- und Agrarreformen im Rumänien des Ersten Weltkriegs kaum zu überschätzen. Den Soldaten der zweiten rumänischen Armee verkündete Ferdinand am 4. April 1917: »Euch, den Söhnen der Bauern, die ihr mit euren Armen das Land verteidigt habt, auf dem ihr geboren und aufgewachsen seid, euch sage ich als euer König, dass ihr euch […] das Recht verdient habt, das Land, auf dem ihr gekämpft habt, in einem größeren Maße zu besitzen. Euch wird Land gegeben werden. Ich euer König werde als Erster das Beispiel dafür geben. Auch wird euch größere Beteiligung an den Angelegenheiten des Staates gewährt. Zeigt euch, meine teuren Soldaten, würdig des Vertrauens, welches das Land und euer König in euch setzen und erfüllt eure heilige Pflicht wie bisher.«54

52 Königin Marie von Rumänien an Prinz Friedrich Viktor von Hohenzollern-Sigmaringen, Florenz, 8. November 1919, StAS, FAS HS 1-80 T 11 Nr. 7. 53 Volker Sellin: Das Jahrhundert der Restaurationen. 1814 bis 1906, München 2014, S. 139. 54 Rede König Ferdinands vom 22. März/4. April 1917, zitiert nach: Moghior, Cuvânt (wie Anm. 49), S. 127 f.

228

Moritz A. Sorg

Anders als Kaiser Wilhelm, der sich bis kurz vor dem Fall der deutschen Monarchie im November 1918 gegen demokratische Reformen sperrte, erkannte der königliche Hof, dass die Opfer des Kriegs zu gesteigerten Partizipationserwartungen geführt hatten.55 In seiner Rede erklärte König Ferdinand diese Forderungen nach größerer materieller und politischer Teilhabe für legitim und kündigte an, seine ausgedehnten Krondomänen an verdiente Soldaten verteilen zu wollen. Allerdings verband der Monarch sein Reformversprechen ausdrücklich auch mit Loyalitätserwartungen an das rumänische Heer. Dabei waren Ort und Zeitpunkt dieser Proklamation äußerst geschickt gewählt. Ferdinand reagierte damit unmittelbar auf die revolutionären Ereignisse in Russland und stellte eine weitgehende Erfüllung zentraler Forderungen der Revolution in Aussicht. Damit bot er eine Alternative zu den Verheißungen der Revolutionäre, die gleichzeitig einen verlässlichen und geordneten Wandel versprach. Zwar wies der rumänische Historiker Florin Constantiniu zu Recht darauf hin, dass Agrar- und Wahlrechtsreformen schon Teil des Vorkriegsprogramms der rumänischen Liberalen waren, doch beschleunigte der Krieg die Umsetzung der Reformen und drängte dazu, diese weitaus umfassender zu gestalten als ursprünglich vorgesehen. Vor dem Kriegsausbruch waren die schon Anfang 1914 im Parlament diskutierten Reformen nur langsam vorangekommen, da sowohl die gesellschaftliche Mobilisierung als auch eine politische Führungsperson gefehlt hatten.56 Dies änderte sich in Reaktion auf die Februarrevolution, die mit ihren Ideen den notwendigen öffentlichen Druck erzeugte und König Ferdinand nötigte, zur politischen Führungsfigur der Reformen zu werden. In einem Brief an seinen Bruder, den Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen, schrieb der König im Jahr 1920 mit Blick auf die durch den Krieg erzeugte Erwartungshaltung: »Man ist dadurch gezwungen in gewissen Reformen wie der Agrarreform ziemlich weit nach links zu gehen und wenn man einen grossen Theil befriedigt, so wachsen einem auf der anderen Seite wieder Feinde«.57 Tatsächlich wurden während der Agrarreformen, die von 1918 bis 1923 schrittweise durchgeführt wurden, beinahe 30 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Rumäniens an fast 1,5 Millionen Familien

55 Vgl. zur Haltung Kaiser Wilhelms: Machtan, Abdankung (wie Anm. 44), S. 160. 56 Florin Constantiniu: Romania. The Home Front, 1914–1918, in: Béla K. Király (Hrsg.): East central European society in World War I (East European monographs, Bd. 196), Boulder 1985, S. 232; Tom Gallagher: Modern Romania. The end of communism, the failure of democratic reform, and the theft of a nation, New York 2005, S. 27. 57 König Ferdinand von Rumänien an Fürst Wilhelm von Hohenzollern-Sigmaringen, Sinaia, 1. März 1920, StAS, FAS HS 1-80 T 9 R53 Nr. 184.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

229

umverteilt. Hierfür waren weitgehende Enteignungen mit nur minimalen Entschädigungen notwendig, die zwar Unmut unter den Großgrundbesitzern erzeugten, bei der Mehrheit der Bevölkerung jedoch das Vertrauen in das Staatssystem stärkten. Dazu trug zusätzlich bei, dass die Hauptenteignungen sich gegen ungarische und deutsche Landbesitzer in den durch den Krieg hinzugewonnen rumänischen Gebieten richteten und neben einer sozialen auch eine nationale Komponente beinhalteten.58 König Ferdinand verkündete seine Reformversprechen während eines propagandistisch intensiv begleiteten Frontbesuchs und setzte sich damit demonstrativ an die Spitze dieses Vorhabens. Durch die angekündigten Agrarreformen erlangte er besonders die Zustimmung der zahlreichen Bauern unter den Soldaten und sicherte sich so die Unterstützung des Militärs, das ein traditionelles Herrschaftsmittel der rumänischen Monarchie bildete.59 Darüber hinaus kam Ferdinand mit seinem Vorstoß anderen Akteuren zuvor, die die seit Jahren schwelende Landfrage für sich auszunutzen gedachten. Die deutschen Besatzungsbehörden hatten beispielsweise bereits versucht, die walachischen Bauern für sich einzunehmen, indem sie ihnen anboten, die königlichen Domänen eigenständig bewirtschaften zu dürfen.60 Aber auch die zuvor nicht eingeweihte Koalitionsregierung um Ministerpräsident Brătianu stach der König damit aus, was gerade bei dem neuen, konservativen Staatsminister Ionescu wütende Reaktionen auslöste. Den darauffolgenden Vorschlag des Innenministers Vasile Morţun, von Regierungsseite aus ebenfalls eine Reformproklamation zu veröffentlichen, um nicht hinter dem Monarchen zurückzubleiben, lehnte Brătianu ab. Der Ministerpräsident erkannte nüchtern, dass eine eigene Erklärung neben der des Königs keine Aufmerksamkeit mehr erhalten würde. König Ferdinand war es gelungen, trotz der konstitutionellen Verfassung des Landes das Prestige der Reformen auf sich zu konzentrieren und die Regierung dabei in den Schatten zu stellen.61 Die Inszenierung des Königs als Triebfeder der Reform stärkte die Legitimität der Monarchie und 58 Liess, Bauernparteien (wie Anm. 29), S. 447; Michael Kroner: Die Hohenzollern als Könige von Rumänien. Lebensbilder von vier Monarchen. 1866–2004, Heilbronn 2004, S. 90. 59 Günter Klein: Das Militär als Herrschafts– und Legitimationsinstrument der Monarchie in Rumänien 1866–1947, in: Edda Binder-Iijima/Heinz-Dietrich Löwe/Gerald Volkmer (Hrsg.): Die Hohenzollern in Rumänien 1866–1947. Eine monarchische Herrschaftsordnung im Europäischen Kontext, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 59. 60 Grandhomme, Berthelot (wie Anm. 45), S. 242 f. 61 Argetoianu, Amintiri Vol. 3 (wie Anm. 25), S. 199–201; Marie, Story (wie Anm. 4), S. 429.

230

Moritz A. Sorg

machte die Union mit dem Königreich Rumänien für viele Bewohner des revolutionären Bessarabiens akzeptabel. In Chişinău veröffentliche der Schriftsteller Ion Mateiu in der Zeitung »România Nouă«1918 einen Artikel über Ferdinand unter dem Titel »Regele ţăranilor« (König der Bauern); ein Ehrentitel, den Ion Inculeţ zitierte, als er die Union vor dem Landrat Bessarabiens verkündete.62 Während in anderen europäischen Ländern – wie zum Beispiel in Deutschland – militärische Führungsfiguren den Monarchen mit Hilfe des im Krieg erworbenen Prestiges als nationale Symbolfigur verdrängten, gelang es König Ferdinand den Machtgewinn Averescus zu begrenzen. Auch Averescu hatte die Landfrage als entscheidenden Streitpunkt in der rumänischen Gesellschaft ausgemacht, musste sich dabei letztendlich jedoch wie Brătianu hinter dem König einreihen. Averescus kurzes Zwischenspiel an der Regierung, das den Übergang von Brătianu zu Marghilomans prodeutschem Kabinett überbrückte, bot dem Umfeld des Königs im Nachhinein zudem Angriffspunkte gegen den General. Als Regierungschef hatte Averescu Anfang 1918 mit Rakowski verhandelt, um weitere Ausschreitungen der Bolschewiki gegen die nach Odessa geflohenen rumänischen Zivilisten zu verhindern. Dabei hatte Averescu einem Abzug rumänischer Truppen aus Bessarabien zugestimmt, der jedoch kurz darauf aufgrund der Einnahme Odessas durch deutsche Truppen obsolet wurde. Die vorrübergehende Aufgabe Bessarabiens nutzten Averescus Gegner jedoch genauso wie sein Eintreten für einen Separatfrieden mit den Mittelmächten für eine massive Pressekampagne gegen den General, die König Ferdinand begünstigte. Der König erkannte in Averescu einen ambitionierten Konkurrenten und war bemüht, diesem so wenig Raum wie möglich zu geben. Der triumphale Einzug der königlichen Familie in Bukarest nach dem Ende des Kriegs im Dezember 1918 illustriert dies besonders deutlich. Während der König und die Königin zusammen mit dem Leiter der französischen Militärmission Henri Berthelot in die Hauptstadt einritten, war für den im Krieg verdienten Averescu kein Platz in der Parade.63 In diesem strategischen Vorgehen lässt sich eine Facette des Monarchen als kompetenter Machtpolitiker erkennen, die aufgrund seiner vielfach betonten Schüchternheit meist übersehen wird, für die Resilienz der rumänischen Monarchie aber von großer Bedeutung war.

62 »România Nouă«, 5. April 1918; Moghior, Ferdinand (wie Anm. 24), S. 153. 63 Otu, Averescu (wie Anm. 25), S. 201–210; Duiliu Zamfirescu: În Basarabia, hrsg. v. Ioan Adam, Bukarest 2012, S. 139 f.

Reformfähige Monarchie – Verpasste Republik?

231

Fazit Zusammenfassend zeigt der Blick auf das Fallbeispiel Rumäniens im Kontext des republikanischen Moments von 1918 also, dass der Erste Weltkrieg nicht zwangsläufig zu einer Delegitimierung der Monarchie führen musste. Im Gegenteil konnte der Krieg auch als eine Probe monarchischer Loyalität fungieren und den König in seiner Rolle als nationales Symbol stärken. Selbst im Falle einer militärischen Niederlage und revolutionärer Unruhen in den Nachbarstaaten mussten die Voraussetzungen für einen politischen Umbruch nicht unausweichlich gegeben sein. Strukturelle Bedingungen, wie die Stärke revolutionärer Bewegungen, die Loyalität des Militärs als wichtiger Machtfaktor oder die Auswirkungen von internationalen Konflikten, dürfen dabei in ihrem Einfluss nicht unterschätzt werden. Der rumänische Fall betont zudem die konservierende Kraft, die rechtzeitig zugesagte, politische Reformen während des Ersten Weltkriegs noch besaßen und lässt ähnliche Szenarien für andere europäische Staaten durchaus möglich erscheinen. Der Blick auf König Ferdinand und Königin Marie demonstriert, dass eine Mischung aus strukturellen Begebenheiten und dem strategischen Handeln der Monarchie die Entwicklung der Ereignisse am Ende des Ersten Weltkriegs auch zu Gunsten der Monarchie wenden konnte. Entscheidend für die Stellung des Königs war dabei ein effektives Narrativ, das die repräsentative Funktion der Königsfamilie als Vorbild für die gesamte Nation aufgriff und glaubhaft auf die Kriegssituation übertrug. Dabei war es wichtig, gemeinsame Kriegserfahrungen der Bevölkerung und der königlichen Familie in den Vordergrund zu rücken. Die Kriegsentscheidung König Ferdinands gegen sein Herkunftsland, das Ausharren in Iaşi und der Tod Prinz Mirceas verliehen der Legitimationsstrategie der rumänischen Monarchie dabei eine besondere Glaubwürdigkeit. Das in den Jahren nach dem Weltkrieg weiterhin gepflegte Narrativ über das Pflichtbewusstsein von »Ferdinand cel loial« und die Wohltätigkeit von »Regina Maria« prägt bis heute die Erinnerung vieler Rumänen an die Monar­ c­hie. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes 1989 stellten sich die post-sozialistischen Eliten rasch gegen eine Restauration der Monarchie und versuchten lange Zeit gar, eine Einreise des 1947 entthronten Königs Michael (Mihai) – dem Enkel König Ferdinands – zu verhindern.64 Dennoch kamen in den letzten Jahren immer wieder Ideen für ein Referendum über die Wiederherstellung der rumänischen Monarchie auf. Die Befürworter der Monarchie vereint dabei besonders die Frustration über die Korruption der aktuellen

64 Gallagher, Modern Romania (wie in Anm. 56), S. 98, 148.

232

Moritz A. Sorg

politischen Eliten des Landes. Sie erhoffen sich von der Monarchie eine übergeordnete Aufsichtsinstitution, die diesen Missstand beheben könnte. Die kollektive Erinnerung fokussiert sich dabei auf eben dieses Pflichtbewusstsein und die Ehrlichkeit der rumänischen Monarchen. Nach Umfragen von 2016 assoziieren auch heute noch über 60 Prozent der Rumänen diese Werte mit dem Königshaus. Allerdings darf man dabei nicht vergessen, dass gemäß dieser Umfrage bei einem Referendum nur circa 20 Prozent für eine Restauration der Monarchie stimmen würden. Gegner der Monarchie bezeichnen diese als überholte Institution und zweifeln berechtigterweise an ihrem Nutzen in der aktuellen politischen Lage. Darüber hinaus führen sie in der Erinnerung an die rumänischen Könige die Dekadenz und die diktatorische Herrschaft Carols II. – König Ferdinands Sohn – in den 1930er Jahren an. Diese dominierten in der kommunistischen Periode den geschichtspolitischen Umgang mit der monarchischen Vergangenheit des Landes, spielen aber im Narrativ der aktuellen Befürworter der Monarchie selten eine Rolle.65

65 Adrian-Paul Iliescu: Monarhia şi probleme – cheie als societăţii, in: Liviu Brătescu/ Ştefania Ciubotaru/Adrian-Silvan Ionescu (Hrsg.): Monarhia în România – o evaluare. Politică, memorie şi patrimoniu, Iaşi 2012, S. 168; siehe für die Umfrage des Institutul Român pentru Evaluare și Strategie (IRES): http://www.ires.com.ro/articol/314/casaregala-a-romaniei---perceptii-si-reprezent-ri (zuletzt abgerufen am 2. Juni 2019).

Markus Wien

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik. Verfassungsfragen in Bulgarien 1918 bis 2005

Bei der Suche nach Gründen für die recht späte Abschaffung der Monarchie in Bulgarien im Jahre 1946 zeigt sich eines der erstaunlichsten Kennzeichen der Geschichte des modernen, im Jahre 1878 nach der Abtrennung vom Osmanischen Reich gegründeten Nationalstaates: die lange Dauer und wenigstens scheinbare Stabilität der konstitutionell-monarchischen Ordnung. Das Erstaunen gründet sich dabei nicht nur auf die große Zahl der Brüche im staatlichen Leben Bulgariens, welche die Verfassung zwischen 1878 und 1947 überstand, sondern auch auf die Qualität dieser Brüche, von denen an dieser Stelle lediglich die Weltkriegsniederlage von 1918 beispielhaft genannt sei. Während dieser ganzen Periode, eigentlich jedoch erst nach dem Inkrafttreten 1879, galt die Verfassung von Tărnovo, bis sie im Jahre 1947 schließlich durch die sozialistische, nach dem ersten kommunistischen Nachkriegs-Machthaber benannte »Dimitrov-Verfassung« ersetzt wurde. Obsolet war sie freilich bereits mit der kommunistischen Machtübernahme im September 1944 geworden. Etwa eineinhalb Jahre später wurde die Monarchie in Bulgarien formell abgeschafft und das Staatswesen in eine Republik verwandelt, wenn es auch als stalinistisch geprägte »Volksrepublik« den landläufigen Vorstellungen von einer »res publica« sicherlich nicht entsprach. Diese scheinbare Ironie der Geschichte wird jedoch durch eine weitere, wohl wichtigere ergänzt: Die politisch vergleichsweise stabile, bisweilen als stagnierend empfundene, rund 45 Jahre währende Zeit der kommunistischen Diktatur erlebte in der Tat eine Verfassungsreform – die »Živkov-Verfassung« von 1971 –, während in den knapp 70, wesentlich instabileren Jahren vor 1947 die Verfassung von Tărnovo ungeachtet einiger Änderungen durchgehend beibehalten wurde.1 Diese 70-jährige Kontinuität garantierte vor allem eines: das Fortbestehen der konstitutionellen Monarchie als Staatsform Bulgariens. Es darf wohl mit gewissem Recht vermutet werden, dass es dieser Zusammenhang war, der die politischen Eliten des Landes bei aller Verachtung für den in Tărnovo ver1

Zur bulgarischen Geschichte in Grundzügen vgl.: Richard J. Crampton: Bulgaria, Oxford 2007.

234

Markus Wien

abschiedeten Parlamentarismus stets vor einer vollständigen Aufhebung der Verfassung zurückschrecken ließ. Zu groß war das Risiko, dass konstitutionelle Experimente am Ende entgegen ihrer Absicht in eine Republik münden konnten. So erklärt sich, dass Konflikte um Monarchie und Verfassung von 1879 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges immer unterhalb der Schwelle einer endgültigen Aufhebung ausgetragen wurden. Dies gilt auch für die vorübergehenden Suspendierungen der Verfassung von 1881 bis 1883 und 1923 sowie die des Parlaments von 1934 bis 1938.2 Die Zwischenkriegszeit sowie die Jahre des Zweiten Weltkrieges sind in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung – und dies nicht nur, weil es sich um die Endphase der bulgarischen Krone handelt, sondern weil die Monarchie aus der schweren Krise, in die sie der Ausgang des Ersten Weltkrieges gestürzt hatte, in den 1920er Jahren gestärkt hervorging und im folgenden Jahrzehnt ihre Machtposition noch so weit ausbauen konnte, dass sie fast die Form einer Königsdiktatur annahm.3 Offensichtlich war nach 1918 die Zeit für eine bulgarische Republik noch nicht reif, so dass zu erörtern bleibt, welche Faktoren der Monarchie selbst nach der Kriegsniederlage das Überleben sicherten, und welche ihr nach dem Zweiten Weltkrieg ein Ende bereiteten, das auch nach 1989 nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wurde. Die bulgarische Monarchie und die Verfassung von Ta˘rnovo Die erwähnte Funktion der Verfassung von Tărnovo als Bestandsgarantie für die Monarchie muss stets im Zusammenhang mit dem ebenfalls angedeuteten Spannungsverhältnis – wenn nicht Gegensatz – zwischen Monarchie und Verfassung gesehen werden. Dieses Verhältnis war das Ergebnis einer permanenten Neigung der bulgarischen Regierungspolitik, die Verfassung als hinderlich für die Verwirklichung der eigenen Ziele zu betrachten und sie dementsprechend zu umgehen oder, wie nicht selten geschehen, offen zu brechen. In anderen Worten: Alle Herrscher Bulgariens zwischen 1878 und 1944, Alexander v. Battenberg, Ferdinand v. Sachsen-Coburg-Gotha und dessen Sohn Boris III., räumten ihren nationalen und machtpolitischen Zielsetzungen Priorität gegenüber verfassungsrechtlichen Normen ein. Solange sie dabei auf keinen substantiellen Widerstand stießen, gab es für sie keinen Grund, die Verfassung zu ändern oder aufzuheben. Hatte Fürst Alexander anfangs, im

2

3

Zur Suspendierung der Verfassung: Jordanka Geševa: Režimăt na palnomoštijata (1881– 1883) – svoeobrazna forma na upravlenie na dăržavata, in: Bălgarska akademija na naukite. Institut po istorija (Hrsg.): 120 godini izpălnitelna vlast v Bălgarija, Sofia 1999, S. 91–103. Ebd.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

235

Jahr 1881, noch geglaubt, sich der Verfassung vollständig entledigen zu müssen, so gab seinem Nachfolger ab 1887, Fürst bzw. ab 1908 König Ferdinand, die Entwicklung bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges Grund zu der Annahme, dass die Verfassung sowie mit ihr das Prinzip der parlamentarischen konstitutionellen Monarchie kein ernsthaftes Hindernis bei der Durchsetzung seines Herrschaftsanspruchs war. 4 Ein genauerer Blick auf diese Entwicklung erweckt den Eindruck, als sei der Verfassung von Tărnovo bereits aus ihrer Beziehung zur Monarchie bzw. der in der Verfassung festgeschriebenen Position des Monarchen im staatlichen Gefüge Bulgariens eine stete Bedrohung erwachsen. Hierzu passt die Annahme, dass sowohl Fürst Alexander v. Battenberg als auch seine Nachfolger sich durch die Konstitution in ihren Entfaltungsmöglichkeiten als Herrscher offenbar eingeengt sahen. Diese Annahme bestätigt sich nicht nur durch den unmissverständlichen Schritt der Suspendierung der Verfassung zwischen 1881 und 1883, sondern auch durch die ehrgeizige Politik der »nationalen Vereinigung«, die Fürst Alexander, aber auch Fürst bzw. König Ferdinand betrieben. Es scheint, als hätten sie in erster Linie versucht, sich als erfolgreiche »Herrscher« Legitimität zu verschaffen – ein Unterfangen, das sie durch Unterwerfung unter den Primat der demokratischen Institutionen, also etwa des Parlaments, nicht erfüllen zu können glaubten. Ihren »Erfolg« definierten sie indes als die Vollendung der nationalen Mission Bulgariens, womit die Vereinigung aller als ethnisch bulgarisch reklamierten Territorien mit dem »Mutterland« gemeint war. Im Zusammenhang mit dieser Mission lässt sich schließlich auch König Boris III. als ein Herrscher betrachten, der gewillt war, die Verfassung dem vermeintlichen »nationalen« wie auch dem eigenen persönlichen Machtinteresse zu opfern.5 In der »Verfasstheit« der bulgarischen Außenpolitik, basierend auf den Bedingungen, unter denen das Land 1878 seine Unabhängigkeit als Fürstentum erlangte, zeigte sich auch der Umstand, dass die Verfassung von Tărnovo nicht allein das Ergebnis autonomer Entscheidungsfindung in Bulgarien war, sondern auch starker äußerer Einflussnahme seitens der Großmächte. Denn obwohl es Bulgarien nach dem Berliner Kongress zunächst verwehrt blieb, die ihm von St. Petersburg nach dem Präliminarfrieden von San Stefano zugedachte Rolle als machtvoller Außenposten der russischen Südosteuropa-Politik zu spielen, so

4

5

Markus Wien: Die bulgarische Monarchie: Politisch motivierte Revision eines Geschichtsbildes in der Transformationsgesellschaft, in: Helmut Altrichter (Hrsg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument, München 2006, S. 219–236, hier: S. 222 f. Crampton, Bulgaria (wie Anm. 1), S. 123–127.

236

Markus Wien

erwartete die russische Führung auch von dem wesentlich kleineren »KongressBulgarien«, dass es seine Außenpolitik im Gleichklang mit ihren Interessen betreiben würde. Lässt sich also diese Grundannahme als Teil der außenpolitischen Verfasstheit Bulgariens betrachten, so darf nicht vergessen werden, dass diese von einem weiteren fundamentalen Faktor beeinflusst wurde: dem genannten Frieden von San Stefano und den darin vorläufig gezogenen Grenzen des Landes. Die Erwartung, diese Grenzen für Bulgarien zu verwirklichen, wurde in den folgenden Jahrzehnten zu einem Grundanliegen bulgarischer Außenpolitik und nahm damit praktisch verfassungsmäßigen Charakter an. Diesen behielt er auch dann, wenn die Politik dadurch in Konflikt mit den russischen Erwartungen geriet, wie es etwa 1885/86 im serbisch-bulgarischen Krieg geschah. Der Krieg war eine Folge der aus russischer wie serbischer Sicht »eigenmächtig« von Bulgarien betriebenen Politik der Vereinigung des Fürstentums mit der nach 1878 osmanisch gebliebenen Provinz Ostrumelien, also im Wesentlichen als südbulgarisch erachteten Gebieten.6 Als Reaktion auf die Vereinigung beendete Russland seine militärische Zusammenarbeit mit Bulgarien, und Serbien erklärte dem nun ohne russische Unterstützung vermeintlich geschwächten Nachbarland den Krieg, den letzteres jedoch gewann und sich daraufhin von seiner Rolle als russischer »Satellit« auf dem Balkan emanzipierte. Als höchstes, gewissermaßen konstitutionelles Leitprinzip der bulgarischen Außenpolitik verblieb in der Folge allein das Ideal der nationalen Vereinigung gemäß San Stefano.7 Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge sollen im Folgenden die Entwicklungen in den Beziehungen zwischen der monarchischen Institution und den verfassungsrechtlichen Grundlagen in Bulgarien betrachtet werden, um daraus Schlüsse bezüglich der Möglichkeit einer Republikanisierung des Landes zu ziehen. Wie erwähnt, wurde die Verfassung von Tărnovo, kaum, dass sie in Kraft getreten war, sogleich wieder von Fürst Alexander suspendiert. Konkret dauerte die Außerkraftsetzung von 1881 bis 1883, wobei ursprünglich geplant war, diese bis 1888 andauern zu lassen. Fürst Alexander erhielt für diese Zeit vom Parlament unbeschränkte, geradezu diktatorische Macht zugestanden – das sogenannte Regime der Vollmachten –, welche er in erster Linie für die Erweiterung des bulgarischen Territoriums und zur Modernisierung des Landes nach seinen Vorstellungen zu nutzen gedachte. Auch wenn die Suspendierung der Verfassung bereits nach zwei Jahren wieder aufgehoben wurde und Alexander seinen größten Erfolg im Dienste der »nationalen Vereinigung« erst danach, im Jahre 1885, mit der Angliederung Ostrumeliens erzielte, wobei 6 7

Crampton, Bulgaria (wie Anm. 1), S. 116–122. Ebd., S. 123–127.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

237

er dies letztlich mit seiner von Russland erzwungenen Abdankung bezahlen musste, so bleibt von seiner Regierungszeit doch der starke Eindruck eines unversöhnlichen Gegensatzes zwischen monarchischem Herrschaftsanspruch und Verfassungsrecht in Bulgarien.8 Diesem Eindruck wirkte auch Alexanders Nachfolger, Fürst Ferdinand aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha-Kohàry, in keiner Weise entgegen. Acht Jahre nach seiner Inthronisierung, im Jahre 1895, implementierte er ein »persönliches Regime«, das formal bis 1912 andauerte. Dieser Schritt folgte auf die Entlassung des Ministerpräsidenten Stefan Stambolov, der danach durch makedonisch-bulgarische Nationalisten aufgrund seiner moderaten Makedonien-Politik gegenüber dem Osmanischen Reich ermordet wurde.9 Nach der russischen Anerkennung als Fürst von Bulgarien übernahm Ferdinand nun direkt die Kontrolle über die Regierungsgeschäfte, indem er von ihm abhängige Kabinette ernannte, zunächst unter Konstantin Stoilov, und nach eigenem Gutdünken umgestaltete oder gänzlich auswechselte. Unter diesen Umständen war es nicht notwendig, in dieser Zeit substantielle, die Machtstrukturen beeinflussende Veränderungen am Verfassungstext vorzunehmen oder die Verfassung erneut ganz oder teilweise zu suspendieren. Somit hatte Ferdinand auch freie Hand, was die Verfolgung irredentistischer Bestrebungen anbelangte. Wie Alexander schien auch er zunächst einen erfolgversprechenden Weg einzuschlagen und erreichte 1908 unter Ausnutzung der durch die Jungtürkische Revolution bedingten Schwäche des Osmanischen Reiches die vollständige formale Unabhängigkeit Bulgariens, welches daraufhin zum Königreich proklamiert wurde. Wenn diese Vorgänge auch verfassungsund staatsrechtlich für Bulgarien überaus bedeutsam waren, so brachten sie jedoch keine tiefgreifenden Veränderungen im inneren Machtgefüge des Staates.10 Zu solchen kam es erst im Jahre 1911, also gegen Ende des persönlichen Regimes Ferdinands, als der König bzw. »Zar« seine seit 1895 bestehende Vormachtstellung auch durch Modifikationen des Verfassungstextes festigte. Neben der Einführung des Herrschertitels »Zar der Bulgaren« wurde etwa Artikel 17 der Verfassung dahingehend geändert, dass der Monarch künftig internationale Verträge ohne Zustimmung des Parlaments abschließen konnte, also die Außenpolitik an sich zog. Außerdem wurde die Legislaturperiode des Parlaments von fünf auf vier Jahre verkürzt.11   8   9 10 11

Wien, Monarchie (wie Anm. 4), S. 222. Crampton, Bulgaria (wie Anm. 1), S. 142–144. Ebd., S. 174–179. Ebd.

238

Markus Wien

Kurz nach dieser Machtkonsolidierung schlug das Regime König Ferdinands eine kriegerische Richtung auf seiner »Mission« der nationalen »Arrondierung« des bulgarischen Staatsgebietes ein – eine Zielsetzung, die, wie bereits angedeutet, als paradigmatisch für die Außenpolitik des Landes gelten darf und damit quasi Verfassungsrang besaß. Die Entscheidung, zusammen mit Montenegro, Serbien und Griechenland das Osmanische Reich militärisch von der Balkanhalbinsel zu verdrängen, die zum Ersten Balkankrieg 1912 führte, verdeutlicht, wie sehr das Regime die Frage seines Erfolges mit der Erfüllung der nationalen Mission verknüpfte und ihr dementsprechend hohe Priorität einräumte.12 Sie war zweifellos auch der Hauptgrund für das von der späteren, sowjet-marxistischen Geschichtsschreibung so genannte Abenteurertum, in das sich Ferdinand in den folgenden Jahren stürzte: den Zweiten Balkankrieg 1913 aufgrund der im Ersten Balkankrieg nicht erfüllten Ambitionen bezüglich Makedoniens sowie ab 1915 den Ersten Weltkrieg zur Revision der Kriegsniederlage von 1913.13 Da auch dieses Unterfangen scheiterte, sah sich Ferdinand 1918 zur Abdankung und zur Übergabe des Thrones an seinen Sohn Boris III. gezwungen. Als letztlich allgemein für gescheitert erachteter Monarch hinterließ er nicht nur aus national-, sondern auch aus verfassungspolitischer Sicht einen Scherbenhaufen.14 Es scheint nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass unter Ferdinands Regierung die politische Kultur Bulgariens sich dahingehend entwickelt hatte, dass der allgemeine Respekt vor der Verfassung von Tărnovo als für die politische Entscheidungsfindung normgebendem Gesetzestext erheblichen Schaden erlitten hatte. Zu sehr hatte sich ausgerechnet die Monarchie als eine im Grunde in Gegnerschaft zur verfassungsmäßigen Ordnung stehende staatliche Institution erwiesen, die bereit war, diese Ordnung ihren nationalpolitischen Prioritäten jederzeit unterzuordnen. Schon Alexander v. Battenberg hatte sein fürstliches Herrscheramt in dieser Haltung angetreten, wobei er zeigte, dass er nicht nur bereit war, durch die Suspendierung der Verfassung die innenpolitische Stabilität Bulgariens zu riskieren, sondern durch seine von Russland nicht gedeckte Politik der Angliederung Ostrumeliens auch die äußere Sicherheit des

12 Crampton, Bulgaria (wie Anm. 1), S. 196–198. 13 Vgl. David Koen: Die monarchofaschistische Oberschicht, Hitlerdeutschland und die Judenfrage, in: Bulgarische Akademie der Wissenschaften. Institut für Geschichte (Hrsg.): Bulgarisch-deutsche Beziehungen und Verbindungen, Bd. 4, Sofia 1989, S. 20–41, hier: S. 20–22. 14 Vgl. Martin Petrov: Nacionalnijat văpros v politikata na bălgarskite pravitelstva (1879– 1919), in: 120 godini (wie Anm. 2), S. 128–147.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

239

Fürstentums. Ähnlich verfuhr im Wesentlichen sein Nachfolger Ferdinand, nur wandte er in rechtlicher Hinsicht behutsamere Methoden an und verzichtete auf eine formale Aufhebung der Verfassung.15 Es wäre wohl zu erwarten gewesen, dass die in Bulgarien gemeinhin als »nationale Katastrophe« empfundene Kriegsniederlage in Verbindung mit dem ähnlich wie in Deutschland als Diktat betrachteten Friedensvertrag von Neuilly zu einer revolutionären Beseitigung der Monarchie hätte führen können, jedoch blieb Bulgarien der einzige europäische Verliererstaat des Ersten Weltkrieges, in dem kein Systemwechsel stattfand, sondern sich eine geordnete und verfassungsmäßige Abdankung des Herrschers und Übernahme der königlichen Insignien durch den Thronfolger vollzog.16 Für eine Umwandlung des Landes in eine Republik hätte indes neben dem Ausgang des Krieges auch die in den vorangegangenen Jahrzehnten praktizierte Gegnerschaft der Monarchen zur verfassungsmäßig verankerten parlamentarischen Demokratie gesprochen. Stattdessen erlebte, wie eingangs erwähnt, Bulgarien während der Zwischenkriegszeit nicht nur das Fortbestehen der Monarchie, sondern sogar deren erhebliche machtpolitische Stärkung. Das offensichtliche Ausbleiben einer breiten öffentlichen Bewegung, einer »Volksbewegung«, einer Revolution gar zugunsten einer republikanischen Verfassung wirft die Frage auf, ob es entsprechende Kräfte in der bulgarischen Gesellschaft nach Kriegsende überhaupt gab oder ob sie gegebenenfalls unterdrückt oder kanalisiert und damit entschärft werden konnten. Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielte sicherlich die Tatsache, dass König Ferdinands Abdankung zugunsten seines Sohnes, König Boris III., bereits am 3. Oktober 1918, also nur fünf Tage nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstandes von Thessaloniki, vollzogen wurde. Es gab also weder eine längere Übergangsphase mit einem als dem Schuldigen an der »nationalen Katastrophe« gebrandmarkten Ferdinand an der Spitze des Staates, noch gab es ein Interregnum, welches als Gelegenheit zur Abschaffung der Monarchie hätte dienen können. Vielmehr verlief das politische Leben Bulgariens in einer angesichts der Krisenlage und der Unzufriedenheit der Bevölkerung bemerkenswerten Ordnung weiter. Trotz hoher Kriegsverluste und -zerstörungen, trotz der Schwierigkeit, Flüchtlinge aus abgetretenen oder abzutretenden Gebieten aufzunehmen, trotz der kriegsbedingten Wirtschaftskrise brachte die

15 Ebd. 16 Zwar blieb auch Ungarn formal Königreich, jedoch nur mit einem »Reichsstatthalter« angesichts des Fehlens einer Dynastie nach dem Abtreten der Habsburger.

240

Markus Wien

Bevölkerung erst in den Parlamentswahlen vom August 1919 ihren politischen Willen eindeutig zum Ausdruck.17 Dieser Wille bestand in einer klaren Ablehnung der traditionellen politischen Eliten und ihrer Parteien, also der Konservativen und der Liberalen, die weniger als 40 Prozent der Stimmen erhielten. Klare Sieger diese Wahl waren indes mit 31 Prozent der Bulgarische Bauernvolksbund (Bălgarski Zemedelski Naroden Săjuz – BZNS) mit seinem charismatischen Führer Aleksandăr Stambolijski an der Spitze, die Kommunisten mit 18 sowie die Sozialdemokraten mit 13 Prozent. Knapp zwei Drittel der Wähler hatten also für Parteien gestimmt, die in Gegnerschaft zur Monarchie standen. Bei erneuten Wahlen im März 1920 erhielt der BZNS sogar eine knappe absolute Mehrheit.18 Auch wenn es paradox erscheinen mag, so trugen wohl gerade diese Wahlerfolge republikanisch orientierter Parteien dazu bei, dass sich die Monarchie in Bulgarien halten konnte. Denn die Wahl vom August 1919, noch mehr aber die vom März 1920 hatte erwiesen, dass »linke« Parteien im Rahmen der konstitutionellen Ordnung an die Macht kommen und regieren konnten, so dass ein revolutionärer Umsturz der Monarchie nicht mehr als notwendig erscheinen mochte. Vor allem unter der Alleinregierung Stambolijskis ab 1920 war König Boris III. offenbar kein Hindernis mehr auf dem Weg zur Verwirklichung bäuerlicher Klasseninteressen. Auf die Frage, warum auf die Kriegsniederlage von 1918 in Bulgarien keine Revolution zur Abschaffung der Monarchie folgte, scheint es also eine Antwort zu geben: Ein revolutionärer Umsturz erschien schlicht als nicht notwendig, und dies um so weniger, als mit Stambolijski ein Ministerpräsident an der Macht war, der zu Beginn der 1920er Jahre zunehmend anti-monarchische Tendenzen zeigte und es außerdem vorzog, sich zum Vollzug der Regierungspolitik weniger der staatlichen Bürokratie als vielmehr seiner Parteistrukturen zu bedienen, so dass zumindest teilweise so etwas wie ein Parallelstaat entstand. Dieser verfügte mit der »Orangenen Garde« auch über paramilitärische Kräfte, die beispielsweise eingesetzt wurden, um eine Bodenreform durchzusetzen, die darauf abzielte, praktisch alle Angehörigen des Bauernstandes zu Landeigentümern zu machen und auf diese Weise die Massenbasis des BZNS zu konsolidieren.19

17 Richard J. Crampton: Historical Foundations, in: Klaus-Detlev Grothusen (Hrsg): Südosteuropa-Handbuch, Bd. VI, Bulgarien, Göttingen 1990, S. 27–55. 18 Crampton, Bulgaria (wie Anm. 1), S. 224–227. 19 Nikolaj Poppetrov: Autoritarismus und autoritäres Regime in Bulgarien, in: Erwin Oberländer/Rudolf Jaworski u. a. (Hrsg.): Autoritäre Regime in Ostmitteleuropa 1919–1944, Mainz 1995, S. 181–195, hier: S. 185–187.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

241

Diese und andere Maßnahmen, wie etwa auch die Einführung einer allgemeinen Arbeitsdienstpflicht im Jahre 1922, verstärkten indes unter den monarchisch und nationalistisch gesinnten Eliten die Befürchtung, Stambolijski ginge es in der Tat um einen grundlegenden Systemwechsel, eine »Diktatur des Bauernstandes«, die letztlich auch zur Abschaffung der Monarchie führen würde. Folge davon waren Bestrebungen, die Regierung des Bauernbundes zu stürzen. Eine aus nationalistischer Sicht zusätzliche Rechtfertigung erhielten diese durch Stambolijskis Politik der Annäherung an den SHS -Staat und eines Ausgleichs bezüglich der Makedonien-Frage, also des traditionellen bulgarischen Anspruchs, bei der Bevölkerung Makedoniens handele es sich »in Wirklichkeit« um Bulgaren. Dieser Zusammenhang ermöglichte die Beteiligung der den bulgarischen Anspruch vertretenden »Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation« (IMRO) an der sonst von monarchistischen Eliten, wie etwa dem Bund der Reserveoffiziere und anderen Veteranenverbänden, getragenen Verschwörung gegen Stambolijski. Sie resultierte in dem auch von Boris III. mit Wohlwollen verfolgten Putsch vom 9. Juni 1923, der den BauernVolksbund von der Macht entfernte, eine neue Regierung der Bewegung »Demokraticˇeski sgovor« (Demokratische Eintracht) unter Ministerpräsident Aleksandăr Cankov einsetzte und darüber hinaus gefolgt wurde von der Ermordung Stambolijskis durch Aktivisten der IMRO.20 Das folgende Jahrzehnt brachte einen eindeutigen Rechtsschwenk in der bulgarischen Politik, der nicht nur jeglichen Zweifel am Fortbestehen der Monarchie beseitigte und die Protagonisten des Republikanismus durch vielfache Terrormaßnahmen politisch marginalisierte, sondern auch die Jahre von 1919 bis 1923 in der Rückschau als einen lediglich temporären Rückzug des monarchistischen Lagers erscheinen lässt. Letzteres profitierte nun von der eigenartig anmutenden Kombination zweier Faktoren während dieser Jahre: zum einen der ungebrochenen Kontinuität der Verfassung von Tărnovo, welche dem Fortbestehen der konstitutionellen Monarchie die verfassungsrechtliche Grundlage verlieh, und zum anderen der ebenfalls verfassungsmäßig zustande gekommenen Regierung republikanisch gesinnter Parteien, die etwaigen umstürzlerisch-antimonarchischen Strömungen die Schärfe nahm. Dafür, dass es sich wirklich nur um einen vorübergehenden Rückzug der hergebrachten Eliten gehandelt hatte, sprach eine Reihe politischer Ereignisse und Entwicklungen, die teils bereits in die Regierungszeit Stambolijskis fielen, teils darauf folgten und zeigten, dass diese Eliten die Verfassung, die ihren Status

20 Ebd.

242

Markus Wien

während der frühen Nachkriegsjahre erhalten half, zutiefst verachteten – eine Haltung, die sie in den vorangegangenen Jahrzehnten wiederholt eingeübt hatten. Der Schaden, den vor allem Fürst Alexander und König Ferdinand der Verfassungsordnung in Bulgarien zugefügt hatten, wurde bereits bei der Thronbesteigung Boris’ III. 1918 deutlich. Anlässlich des Antritts seines Herrscheramtes wäre er nämlich verpflichtet gewesen, einen Eid auf die Verfassung abzulegen, unterließ dies aber einfach. Zwar sah die Verfassung hierfür keine Frist vor, so dass man zumindest anfangs auch vermuten konnte, die Eidesleistung sei lediglich aufgeschoben. Da diese aber während der gesamten Regierungszeit bis zum Tode Boris’ im Jahre 1943 unterblieb, darf wohl mit Recht angenommen werden, dass es sich hierbei um ein bewusstes Verhalten des Königs handelte, durch welches er seine Geringschätzung gegenüber der Konstitution absichtsvoll zum Ausdruck brachte. Untermauert wird diese Annahme durch die Entwicklung von Monarchie und Regierung im Bulgarien der Zwischenkriegszeit. Diese mündete letztlich in einer Regierungsform, für welche die Bezeichnung »Königsdiktatur« vielfach verwendet und die im sowjet-­ marxistischen Jargon »Monarcho-Faschismus« genannt wurde.21 Auch das angenommene stillschweigende Einverständnis König Boris’ zum Juni-Putsch von 1923 positionierte die Monarchie als staatliche Institution in der Reihe der Gegner der demokratischen Ordnung und erscheint in der Rückschau als ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine monarchisch-autoritäre Regierungsform.22 Aus dieser Perspektive betrachtet, schlug Bulgarien bereits 1923 einen Weg ein, der etwa in Jugoslawien im Jahre 1929 zur Errichtung einer Königsdiktatur und in den meisten anderen Ländern Ostmittel- und Südosteuropas zu rechtsgerichteten, von den jeweiligen Monarchen entweder gelenkten oder gestützten autoritären Regimen führte. Nach 1923 scheint demnach die bulgarische Verfassung weiter an Relevanz verloren zu haben – zumindest, was ihre Funktion zur Einhegung regierungsseitiger Machtausübung betraf. Eindrückliches Beispiel hierfür ist der nach dem neuen Ministerpräsidenten benannte Cankov-Terror, der der Absetzung der Regierung Stambolijski direkt folgte. Er brachte unter anderem eine gewaltsame Abrechnung mit den führenden Funktionären des BZNS sowie ein Verbot der kommunistischen Partei nach dem von ihr initiierten »September-Aufstand« von 1923 und dem Attentat auf König Boris in der Sofioter Sveta-Nedelja-Kirche im Jahre 1924. Diese Maßnahmen gingen einher mit einer Gesetzgebung, die in deutlichem Gegensatz zur verfassungsmäßigen Ordnung Bulgariens stand. Das »Gesetz zum Schutze 21 Poppetrov, Autoritarismus (wie Anm. 19), S. 195. 22 Ebd.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

243

des Staates« von 1924 drohte für jede als »verbrecherisch« oder gewaltsam eingestufte politische Tätigkeit, ob physisch oder lediglich publizistisch oder künstlerisch, drakonische Strafen an und ermöglichte der Regierung nach eigenem Gutdünken die völlige Beseitigung grundlegender bürgerlicher Freiheiten. Es diente als legale Grundlage für den Cankov-Terror, der erst ab 1926 unter dem neuen Ministerpräsidenten Andrej Ljapcˇev eine Abmilderung erfuhr.23 Somit lässt sich für die Zeit nach 1923 ein drastischer »Rechtsruck« in der bulgarischen Politik unter der Regierung Cankov feststellen, wobei verfassungsmäßige Normen willkürlich umgangen oder offen gebrochen wurden. Auch die weniger radikalen Kabinette unter Ljapcˇev bzw. ab 1931 Aleksandăr Malinov und Nikola Mušanov vom »Naroden blok« (Volksblock) verschafften der Verfassung kaum mehr Geltung. Die Rolle des Monarchen ist in diesen Entwicklungen indes schwer zu bestimmen. Klar ist lediglich, dass sich Boris III. zwischen 1923 und 1935 nicht als politischer Entscheider in den Vordergrund schob. Es besteht aber weitgehende Übereinstimmung darüber, dass er den Gang der Dinge spätestens ab Mitte der 1930er Jahre wesentlich beeinflusste. Auch im Zusammenhang mit dem Putsch vom 19. Mai 1934, durch den der elitäre, rechtsgerichtete sowie ständestaatlich orientierte Bund »Zveno« unter Ministerpräsident Kimon Georgiev an die Macht kam – erneut unter Mithilfe des Bundes der Reserveoffiziere –, verharrte Boris in einer wohlwollenden Beobachterrolle und erwies sich damit nach 1923 zum zweiten Mal wenigstens als Sympathisant rechtsautoritärer oder gar faschistoider Akteure. Der als vergleichsweise liberaler Ausgleichspolitiker geltende Mušanov fand sich daraufhin in einer oppositionellen Rolle wieder.24 Rückblickend betrachtet, führten die Entwicklungen in Bulgarien zwischen 1923 und 1934 zu einigen für die Position der Monarchie im politischen Leben Bulgariens bedeutsamen Ergebnissen: Zum einen resultierten sie in einer beinahe vollständigen Marginalisierung der »linken«, republikanisch gesinnten Parteien, so dass der Republikanismus in Bulgarien in der Öffentlichkeit nicht mehr politisch repräsentiert war. Der Bulgarische Bauern-Volksbund versank nach dem Juni-Putsch ohne seine herausragende Führungspersönlich-

23 Vgl. ausführlich zum »Gesetz zum Schutze des Staates« Fani Milkova: Bălgarskata daržava i izkljucˇ itelnoto i zakonodatelstvo prez perioda 1923–1944, Sofia 1991, S. 119– 149. 24 Zu den politischen Auswirkungen des Putsches vgl. Nikolaj Poppetrov: Der Übergang vom System der bürgerlichen Demokratie zum parteilosen autoritären Regime in Bulgarien nach dem 19. Mai 1934, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 36 (1988), H. 4., S. 530–551.

244

Markus Wien

keit, Aleksandăr Stambolijski, in der Bedeutungslosigkeit; die »Bulgarische Arbeiterpartei (Kommunisten)« wurde nach dem September-Aufstand von 1923 gar in die Illegalität abgedrängt, so dass ihre Führungspersönlichkeiten gezwungen waren zu emigrieren – unter ihnen der erste Staats- und Parteichef des kommunistischen Bulgarien nach dem Zweiten Weltkrieg, Georgi Dimi­ trov. Ernsthaft bedroht oder auch nur in Frage gestellt wurde die Monarchie fortan nicht mehr – ganz im Gegensatz zur Verfassung, die in den Jahren nach dem Mai-Putsch von 1934 kurz davor stand, aufgehoben zu werden und ihr Überleben allein dem Mangel an überzeugenden Alternativen verdankte.25 Gekennzeichnet waren diese Jahre jedoch durch wiederholte offene Brüche der Verfassung, die das Putsch-Regime ohne nennenswerte Widerstände durchsetzen konnte, ohne dabei die Verfassung formal außer Kraft zu setzen. Zu den bekanntesten Maßnahmen in diesem Zusammenhang gehörten die dauerhafte Auflösung des Parlaments bis 1938, also die faktische Beseitigung der parlamentarischen Demokratie, sowie das Verbot aller politischen Parteien, also die Einführung des sogenannten parteilosen Regimes. Hinzu kam eine verfassungswidrige Zentralisierung der staatlichen Verwaltung, die die regionalen und kommunalen Strukturen weitgehend ihrer Einflussmöglichkeiten beraubte.26 Wie sehr der König bereits zu dieser Zeit die politische Entwicklung in Bulgarien kontrollierte, zeigte sich, als er Georgiev, der sich als unfähig erwiesen hatte, den erwünschten monarchisch-ständestaatlichen Umbau des politischen Systems einzuleiten und im Gegenteil überraschenderweise sogar anti-monarchische Tendenzen gezeigt hatte, im April 1935 entließ und Andrej Tošev zum neuen Regierungschef ernannte. Dieser war vollständig abhängig von Boris, der nun faktisch selbst die Macht übernommen hatte. Mit Tošev sowie dessen Nachfolger ab 1936, Georgi K’oseivanov, wurde jetzt die Errichtung eines monarchisch-autoritären Staates offen betrieben und dabei auch letztendlich die Aufhebung der Verfassung von Tărnovo direkt erwogen.27 Nachdem sich jedoch einige neu ausgearbeitete Verfassungsentwürfe nicht durchzusetzen vermocht hatten, entschloss sich der Monarch, unter formaler Beibehaltung der bestehenden Konstitution autoritär weiter zu regieren. Das Regime propagierte eine neue Form des »nationalen Staates« mit

25 Ebd. 26 Vgl. Vasil Georgiev: Buržoaznite i drebnoburžoaznite partii v Bălgarija 1934–1939, Sofia 1971, S. 347–396. 27 Nikolaj Poppetrov: Verfassungsrechtliche Probleme in Bulgarien während der Regierung von Zar Boris III. (1918–1943), in: Südostforschungen 44 (1985), S. 205–221, hier: S. 212–215.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

245

einer konfliktfreien Gesellschaft, die fleißig der Entwicklung des Bulgarentums dienen sollte, und umgab Boris mit dem Nimbus eines nur »vor Gott und der Geschichte« verantwortlichen Führers.28 Zwar müssen diese Entwicklungen auch vor dem Hintergrund der rechtsautoritären Tendenzen in ganz Europa zu jener Zeit betrachtet werden sowie im Zusammenhang mit der sich intensivierenden Annäherung Bulgariens an NS-Deutschland; der innerbulgarische Kontext scheint jedoch eine mindestens ebenso wichtige Rolle zu spielen. Insbesondere der bis in die Anfangszeit des post-osmanischen Bulgarien zurückreichende und nahezu ununterbrochen bestehende Konflikt zwischen der Institution des Monarchen und der parlamentarisch-demokratischen Verfassungsordnung erlaubt es, die Entwicklungen der 1930er Jahre rückblickend auch als Fortsetzung machtpolitischer Traditionen und, wenn man so will, einer verfassungspolitischen »Kultur« des Landes zu interpretieren. Von der Verwirklichung eines totalitären Systems kann in Bulgarien allerdings nicht gesprochen werden, und besonders nach 1935 hielt König Boris rechtsradikale oder als faschistisch einzustufende Gruppierungen geflissentlich von der Macht fern. Hierzu gehörten unter anderem Organisationen, die sich am italienischen Faschismus oder am deutschen Nationalsozialismus orientierten, wie etwa die »Nationalsozialistische Bulgarische Arbeiterpartei«, der »Verband der bulgarischen nationalen Legionen« oder der ausgesprochen antisemitisch eingestellte »Heimatschutzbund«. All diese Gruppierungen hatten keinen nennenswerten politischen Einfluss.29 Nach der Suspendierung des Parlaments, dem Verbot der Parteien und der Errichtung einer monarchisch-autoritären Regierung 1934/35 erscheint dann die, wenn auch sehr eingeschränkte, Rückkehr zum Parlamentarismus im Jahre 1938 als ein bemerkenswerter Vorgang.30 Denn einerseits war dem königlichen Regime offenbar daran gelegen, zumindest den Anschein einer verfassungsmäßig-demokratischen Regierung zu wahren, so dass der Eindruck entsteht, dass aus der Sicht der Machthaber die Verfassung nach wie vor als normsetzendes Regelwerk nicht einfach ignoriert werden konnte. Andererseits boten sogar die sehr eng gesetzten Grenzen parlamentarischer Teilhabe oppositionellen Kräften 28 Ebd., S. 217 f. 29 Nikolaj Poppetrov: Faschismus in Bulgarien. Geschichte und Geschichtsschreibung, in: Südostforschungen 41 (1982), S. 199–218, hier: S. 204. 30 Hans-Joachim Hoppe: Bulgarien. Hitlers eigenwilliger Verbündeter. Eine Fallstudie zur nationalsozialistischen Südosteuropapolitik, Stuttgart 1979, S. 42; vgl. auch Vladimir Migev: Formirane na parlamentarnija model na bălgarskata monarchofašistka dăržava (1937–1938), in: Bălgarska Akademia na Naukite. Institut po istorija (Hrsg.): Obštestveno-politicˇeskijat život na Bălgarija 1878–1944, Sofia 1990, S. 289–326.

246

Markus Wien

zwar nicht die Möglichkeit, den politischen Entscheidungsprozess zu beeinflussen, aber doch die eigenen Auffassungen hörbar zu vertreten. In anderen Worten, es existierte weiterhin eine politische Öffentlichkeit, und das Parlament erwies sich als mehr denn ein reines Akklamationsorgan der Regierung. Insgesamt lässt sich dieser vom König gewollte, beschränkte Parlamentarismus weniger als Zugeständnis an die Demokratie deuten, sondern vielmehr als Versuch, dem monarchisch-autoritären Regime nach offenen Verfassungsbrüchen zumindest den Anschein von Legalität und Konstitutionalität zu verleihen. Nachdem neue Verfassungsentwürfe offenbar nicht überzeugen konnten,31 gab es keine andere Wahl, als bei der Verfassung von Tărnovo zu bleiben, die ein wie auch immer gewähltes Parlament nun einmal vorsah. Solange sie in Kraft war – dies lehrte der Blick in die jüngere Vergangenheit –, wirkte sie als Bestandsgarantie für die Monarchie. Zudem bot diese Konstruktion Boris die Möglichkeit, Verantwortung in solchen Fällen zu teilen bzw. abzuwälzen, in denen die volle Übernahme der Verantwortung durch den Herrscher die Monarchie vielleicht doch destabilisieren konnte. Zu denken war hier sicherlich in erster Linie an etwaige riskante militärische Unternehmungen. Bulgarien ging also nicht zur Gänze den Weg Jugoslawiens. Zustande gekommen war dieser kontrollierte Parlamentarismus durch den Erlass eines neuen Wahlgesetzes im Jahre 1937. Es gewährleistete eine komfortable Mehrheit für die jeweilige, vom König abhängige Regierung. Von den 160 Abgeordneten etwa der 25. »Narodno Săbranie« (»Volksversammlung«), die im Winter 1939/40 gewählt wurde, galten 140 als regimeloyal, 20 als oppositionell. Da Parteien weiterhin verboten blieben, durften Kandidaten nur als Einzelpersonen antreten und mussten dazu gerichtlich erklären, keinerlei Verbindungen zu Parteien zu besitzen. Missliebige Kandidaten wie auch bereits gewählte Abgeordnete konnten entfernt werden, da es die Möglichkeit gerichtlicher Beschwerde gegen das Antreten von Bewerbern bzw. der Aberkennung des Mandats bei »staatsfeindlicher Agitation« gab. In Ergänzung dazu enthielt das Wahlgesetz Regeln, die es dem Regime erleichterten, die Wahl erwünschter Kandidaten durchzusetzen. So galt ein Kandidat als gewählt, wenn er der einzige in seinem Wahlkreis war. Eine Stimmabgabe fand dann nicht mehr statt. Mit Hilfe der genannten Beschwerdemöglichkeit ließ sich eine solche Situation herbeiführen. Da außerdem die relative Mehrheit zur Erringung eines Mandats ausreichte, konnte man Oppositionellen auch durch die Aufstellung vieler Kandidaten Stimmen entziehen. Schließlich waren Manipulationen des

31 Poppetrov, Verfassungsrechtliche Probleme (wie Anm. 27), S. 217–218.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

247

Wahlergebnisses auch dadurch möglich, dass die Stimmabgaben in den verschiedenen Wahlkreisen über den Zeitraum von einem Monat verteilt waren und somit bei einem für das Regime unbefriedigendem Abstimmungsverlauf noch eingegriffen werden konnte.32 Für die Jahre bis 1944, in denen die 1947 schließlich formell aufgehobene Verfassung von Tărnovo noch galt, verbietet es also der stark eingeschränkte Parlamentarismus, von Bulgarien zu jener Zeit als einer Demokratie zu sprechen. Immerhin aber bot dieses System, das ohne Suspendierung der Verfassung wie in den Jahren 1881 bis 1883 angewandt wurde, oppositionellen Politikern nach wie vor Artikulationsmöglichkeiten und ermöglichte beispielsweise im 1938 gewählten 24. Narodno Săbranie einige Abstimmungsniederlagen für die Regierung, da auch regimetreue Abgeordnete gelegentlich mit der Opposition votierten. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, warum das Regierungssystem im damaligen Bulgarien nicht ohne weiteres als »faschistisch« oder »monarcho­ faschistisch« bezeichnet werden kann, wie es die sowjet-­marxistische Historiographie bis 1989 tat. Nach Nikolaj Poppetrov war das System zwischen 1934 und 1944 »ein autoritäres Regime mit einigen Elementen der Faschisierung zu Beginn der 40er Jahre, die jedoch nicht einheitlich und konsequent durchgeführt wurden.«33 Zweifellos aber hatten die Veränderungen seit dem 19. Mai 1934 das traditionelle Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und Monarchie beinahe vollständig zugunsten von König Boris aufgelöst. Auch das bisweilen »widerspenstige« Parlament von 1938 konnte seiner fast unumschränkten Machtfülle nicht wirklich Grenzen setzen. Im Folgejahr löste er es kurzerhand auf, entließ außerdem Ministerpräsident K’oseivanov und setzte für die Jahreswende 1939/40 Neuwahlen an.34 Insgesamt erscheint die Zwischenkriegszeit ebenso wie die Jahrzehnte davor als eine Zeit des permanenten Gegensatzes zwischen der konstitutionellen Grundordnung und der Institution der Monarchie in Bulgarien. Perioden, in denen im Land durch eine parlamentarische Mehrheit abgesicherte Regierungen an der Macht waren, stellten weitaus eher die Ausnahme als die Regel dar. Charakteristisch für die bulgarische Politik waren vielmehr fortgesetzte Versuche, autoritäre Regierungsformen zu etablieren. Angesichts der Tatsache, dass die Monarchie stets – zumindest bei einer verfassungsrechtlichen Betrachtungsweise – ein Unruhefaktor im staatlichen Gefüge Bulgariens war, mag es erstaunen, dass die Forderung nach der Einführung der Republik kaum im 32 Ebd. 33 Poppetrov, Verfassungsrechtliche Probleme (wie Anm. 27), S. 221. 34 Hoppe, Verbündeter (wie Anm. 30), S. 42.

248

Markus Wien

Zentrum der politischen Auseinandersetzungen stand. Autoritäre Tendenzen zeigten sich eher unabhängig von dieser Frage und schienen eher mit einem allgemeinen Sehnen nach charismatischen Führungspersönlichkeiten verbunden zu sein, das sowohl der Bauernführer Stambolijski als auch später König Boris III. selbst erfüllen konnten. Den Republikanismus als substantielle und einflussreiche politische Strömung sucht man im Zwischenkriegs-Bulgarien jedenfalls vergebens. Daher kann auch von einer »verspäteten« Republikanisierung des Landes, als sie sich 1946 tatsächlich vollzog, keine Rede sein, denn die Monarchie hatte sich davor nie einer entsprechenden machtvollen – »geschichtlichen« – Kraft entgegenstellen müssen. Auch der plötzliche Tod von König Boris im Jahre 1943 brachte die Monarchie noch nicht ins Wanken. Der Übergang von ihm zum dreiköpfigen Regentenrat, der die Herrschaft im Namen des erst sechs Jahre alten Simeon II. ausübte, vollzog sich jedenfalls reibungslos. Zwar lässt sich als Grund hierfür sicherlich die Lage Bulgariens im Zweiten Weltkrieg als Verbündeter NS-Deutschlands anführen; die unsichere Zeit »verbat« gewissermaßen einen Systemwechsel. Zudem standen deutsche Truppen im Lande, die zwar nicht als Besatzungsmacht fungierten, einen solchen Wechsel aber möglicherweise als Anlass für eine Okkupation – ähnlich wie ein Jahr später in Ungarn – genommen hätten. Jedoch sollten auch längerfristig wirksame gesellschaftliche Faktoren in Betracht gezogen werden, um zu erklären, warum die Monarchie in Bulgarien kaum jemals ernsthaft in Frage gestellt wurde.35 Einer der wichtigsten Faktoren dafür besteht sicherlich in den sozioökonomischen Gegebenheiten Bulgariens zur Zwischenkriegszeit, genauer: im überwiegend traditionell-agrarischen Charakter der Gesellschaft. Für die Frage der Verfasstheit des bulgarischen Staates als konstitutionelle Monarchie oder Republik ist dies insoweit von Bedeutung, als sich aus dem fortdauernden agrarischen Charakter von Wirtschaft und Gesellschaft in Bulgarien manche Erklärungsansätze dafür ableiten lassen, dass die Verfassung von Tărnovo nur einen sehr begrenzten Einfluss auf die politischen und sozialen Realitäten im Lande hatte und diese ebenso wenig reflektierte. Auch wenn die in den jeweiligen historischen Situationen, wie etwa dem Ende des Ersten Weltkrieges, herrschenden Bedingungen bedeutsam waren, so ist für den verfassungsgeschichtlichen Befund von zentraler Wichtigkeit, dass in Bulgarien bis zum Ersten Balkankrieg, im Grunde aber bis zum Ende gar des Zweiten Weltkrieges »vor«-industrielle und, auf dem Lande, subsistenzwirtschaftliche und somit »vor«-kapitalistische Wirtschaftsformen dominant blieben. Daher ist die von

35 Ebd.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

249

der marxistischen Historiographie vertretene These abzulehnen, in Bulgarien habe es nach 1878 eine Zeit des Kapitalismus und der industriellen Revolution, mithin also eine Epoche der Herrschaft der »Bourgeoisie« gegeben.36 Vielmehr war für die in ihrer überwältigenden Mehrheit kleinbäuerlich und dörflich geprägte Gesellschaft eine deutliche Staatsferne kennzeichnend, die durch eine hohe Analphabetenrate, Folge eines wenig effizienten Bildungssystems, noch verstärkt wurde.37 Beispielhaft verdeutlichen lässt sich diese Staatsferne durch einen Blick auf die begrenzten Möglichkeiten, die der bulgarische Staat bis zum Zweiten Weltkrieg besaß, in die Gesellschaft hineinzuwirken und etwa seine Modernisierungskonzepte umzusetzen. Das fast vollständige Fehlen einer bürgerlichen Mittelschicht, die als Bindeglied zwischen den dünnen städtischen Eliten und der Landbevölkerung hätte dienen können, wirkte sich unter anderem überaus hemmend auf die staatlich initiierten Versuche einer wirtschaftlichen Modernisierung bzw. Industrialisierung aus. Sichtbar wurde dies zum Beispiel daran, dass signifikante Industrien nur dort entstanden, wo der Staat direkt als Investor tätig wurde – so etwa im Kohlebergbau oder bei den Eisenbahnen –, während die ab 1894 betriebene Politik, die Industrialisierung mit Hilfe steuerlicher Vorteile anzuregen, fast ohne jede Wirkung blieb, da die betreffenden Regelungen bereits für Kleinbetriebe ab 10 Mitarbeitern galten.38 Diesen sozialen Verhältnissen entsprach, dass für die meisten Bürger die Frage von Monarchie oder Republik ebenso fern war wie der Staat insgesamt und wohl erst dann Bedeutung erlangen konnte, wenn eine Führungspersönlichkeit den Belangen der bäuerlichen Bevölkerung eine Stimme verlieh, ob dies der Herrscher oder eine andere populäre bzw. »populistische« Gestalt war. In anderen Worten: Die Frage von Monarchie oder Republik besaß nur geringes Mobilisierungspotential, und die Republikanisierung war selbst zu Zeiten Stambolijskis kein offen erklärtes politisches Ziel.

36 Cvetana Todorova: Industrialisierung und Strukturveränderungen in Bulgarien vor dem Ersten Weltkrieg aus wirtschaftsgeschichtlicher Sicht, in: Collegium Germania 2 (1997), S. 187–215, hier: S. 187; vgl. außerdem Ljuben Berov: Položenieto na rabotnicˇeskata klasa pri kapitalizm, Sofia 1968. 37 Vgl. Alexander Gerschenkron: Some Aspects of Industrialization in Bulgaria 1878–1939, in: ders.: Economic Backwardness in Historical Perspective, New York 1965, S. 233–298; außerdem Wolfgang Höpken: Die »fehlende Klasse«? Bürgertum in Südosteuropa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Ulf Brunnbauer/Wolfgang Höpken (Hrsg.): Transformationsprobleme Bulgariens im 19. und 20. Jahrhundert. Historische und ethnologische Perspektiven, München 2007, S. 33–70. 38 John R. Lampe: The Bulgarian Economy in the Twentieth Century, London/Sydney 1986, S. 21–23.

250

Markus Wien

Bulgarien als Republik Virulent wurde die Systemfrage erst nach der Machtübernahme der Kommunisten am 9. September 1944 infolge des wenige Tage zuvor begonnenen Einmarsches sowjetischer Truppen. Auch wenn eine Parteidiktatur stalinistischer Art nicht sofort installiert wurde, sondern zunächst die »Vaterländische Front« (Otecˇestven Front – OF) regierte, war klar, dass die Entwicklung auf eine solche Diktatur hinauslaufen würde – entsprechend dem Sowjetisierungsprozess in anderen ostmitteleuropäischen Ländern. Ebenso klar war, dass im Verlaufe dieses Prozesses die Monarchie einer republikanischen Staatsform würde weichen müssen. All dies galt, obwohl die OF anfangs noch ein beschränktes Maß an Pluralität zuließ: Neben den Kommunisten in Schlüsselpositionen gehörten der Regierung auch Vertreter politischer Richtungen an, die nicht als Unterstützer des bisherigen »faschistischen« Regimes galten. Insgesamt erscheint die Entwicklung vom 9. September 1944 bis zur Abschaffung der Monarchie im Jahre 1946 als folgerichtig und unter den gegebenen Umständen auch als unvermeidlich. Ein anderes Ergebnis wäre angesichts der anstehenden Eingliederung Bulgariens in den sowjetischen Machtbereich auch dann nicht vorstellbar gewesen, wenn die Monarchie nicht durch den Tod Boris’ III. im Jahre 1943 geschwächt gewesen wäre. Somit darf auch die formale Abschaffung der Monarchie auf Grundlage eines am 8. September 1946 abgehaltenen Referendums nicht als Erfolg einer breiten republikanischen Bewegung gewertet werden. Die Ausrufung der »Volksrepublik Bulgarien« durch Georgi Dimitrov am 15. September wurde zwar mit einer offiziellen Zustimmungsrate von über 95 Prozent gerechtfertigt. Es besteht jedoch ein weitgehender Konsens darüber, dass die Abstimmung manipuliert war, zumal sie von den oppositionellen Parteien und Gruppierungen boykottiert wurde.39 Wie immer man die Rolle der Monarchie im politischen Leben Bulgariens vor 1946 sowie die Umstände ihrer Abschaffung auch bewertete – die Herrschaft der kommunistischen Partei war bis 1989 eine Realität, mit der es sich zu arrangieren galt, und an eine Rückkehr zur Monarchie war unter diesen, von der Sowjetunion abgesicherten Bedingungen nicht zu denken. Ob es eine solche Sehnsucht überhaupt gab, lässt sich angesichts der Unterdrückung der Meinungsfreiheit in der stalinistischen Diktatur nicht zuverlässig ermitteln. Klar ist jedoch, dass das Regime derartige Wünsche im Keim zu ersticken suchte, indem es die Monarchie im historischen Diskurs als »monarcho-faschistisch«

39 Vgl. Crampton, Historical Foundations (wie Anm. 17).

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

251

delegitimierte, wobei dieses Etikett vor allem für die Zeit nach der faktischen Machtübernahme durch König Boris im Jahre 1935 verwendet wurde. Der Gebrauch des Kampfbegriffes »faschistisch« in Verbindung mit der Monarchie ergab sich insoweit aus der Logik der kommunistischen Herrschaft, als er dem Regime erlaubte, sich selbst und auch die kommunistischen Widerstandskämpfer in Bulgarien während des Zweiten Weltkrieges als »anti-faschistisch« zu adeln. Für die früheren Perioden der bulgarischen Monarchie wurden üblicherweise weniger drastische Begriffe verwendet. Hervorheben lässt sich in diesem Zusammenhang am ehesten der Vorwurf des »Abenteurertums«, der König Ferdinand wegen der Verwicklung Bulgariens in die Balkankriege sowie den Ersten Weltkrieg gemacht wurde. Alexander v. Battenberg, der erste Fürst Bulgariens, erhielt hingegen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit von der sozialistischen Historiographie. 40 Bemerkenswert ist hierbei, dass für die Beurteilung der Leistungen Alexanders wie auch Ferdinands als Herrscher keineswegs ausschließlich die Kriterien der marxistisch-leninistischen Auffassung von Geschichte als Klassenkampf, sondern durchaus auch die Interpretationsmuster des traditionellen nationalhistorischen Narrativs herangezogen wurden. So ging Ferdinand in erster Linie deswegen als im Ganzen gescheiterter Monarch in die sozialistische Geschichtsschreibung ein, weil er aufgrund seiner »abenteuerlichen« Entscheidungen, Kriege zu führen, das Ziel der Annexion als bulgarisch reklamierter Gebiete und damit der »nationalen Vereinigung« verfehlt hatte. Die Legitimität des Zieles an sich galt auch im kommunistisch beherrschten Bulgarien als gegeben. Entsprechend wurde Alexander v. Battenberg milder beurteilt als Ferdinand, da er immerhin die Vereinigung Ostrumeliens mit dem Fürstentum im Jahre 1885 als Aktivposten in seiner Regierungsbilanz verbuchen konnte. 41 Insgesamt jedoch galt die Monarchie in der Volksrepublik Bulgarien als bereits zu ihrer Zeit reaktionäre, aber letztlich überwundene Staatsform. Auch der Systemwechsel von 1989 brachte sie nicht als ernsthafte Alternative zurück auf die politische Tagesordnung. Allerdings änderte sich mit Beginn der 1990er Jahre fast sofort die historische Bewertung der bulgarischen Monarchie. Dieser Wandel betraf vor allem die Könige Ferdinand und Boris. Zwar galt nun Ferdinand immer noch als im Endergebnis gescheiterter Herrscher, man richtete den Blick aber verstärkt auf seine durchaus vorhandenen Erfolge, darunter in erster Linie die Abschüttelung der seit 1878 bestehenden osmanischen Tributhoheit im Jahre 1908 in Verbindung mit der Erhebung Bulgariens vom 40 Vgl. Koen, Die monarchofaschistische Oberschicht (wie Anm. 13). 41 Ebd.

252

Markus Wien

Fürstentum zum Königreich. Außerdem zeigte man zunehmend Verständnis für seine kriegerische Politik der Jahre 1912 bis 1918. Die beiden Balkankriege sowie der Erste Weltkrieg, an dem Bulgarien sich ab 1915 auf Seiten der Mittelmächte beteiligte, wurden nun als »nationale Einigungskriege« gerechtfertigt und Ferdinand somit zumindest ehrenwerte Motive zugestanden. Die Kritik an ihm reduzierte sich auf »handwerkliche Fehler«. 42 Einer der prominentesten und einflussreichsten Vertreter dieser, bereits aus der vor-sozialistischen Zeit bekannten, Bewertungsmuster war der 2018 verstorbene, deutlich nationalistisch eingestellte Historiker Božidar Dimitrov, bekannt aus zahlreichen Fernsehauftritten und während der 2000er Jahre Direktor des Nationalen Historischen Museums in Sofia. Seine Ansichten und Darstellungen speziell zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die populären Geschichtsbilder des Landes deutlich geprägt. 43 Die größte Aufmerksamkeit im Rahmen dieser Wende des historischen Diskurses erhielt indes König Boris III., und dabei besonders die Jahre zwischen 1935 und 1943. Sie definieren die Periode seines persönlichen Regimes, die unter der kommunistischen Herrschaft im engeren Sinne als »monarcho-faschistisch« bezeichnet wurde. Nach 1989 diente Boris in den meisten Debatten gewissermaßen als Personifizierung der Monarchie, deren Fluch und Segen weniger auf einer abstrakten verfassungsrechtlichen Ebene erörtert wurden, sondern vielmehr anhand der konkreten Politik des Königs. Aufgrund der monarchischautoritären Regierungsform, die seit 1935 in Kraft war, war Boris der eigentliche Entscheider im Lande und bestimmte somit die innen- wie außenpolitischen Geschicke Bulgariens grundlegend. Die Tatsache, dass er aufgrund seiner Politik, die er in dieser Rolle betrieb, beurteilt wurde, führte während der ersten Hälfte der 1990er Jahre zu einer erheblichen Zunahme der Sympathien, die nicht nur Boris selbst, sondern auch die Monarchie als Staatsform in Bulgarien genoss. Weitgehend unberücksichtigt blieb im öffentlichen Diskurs Bulgariens damals allerdings die Tatsache, dass die Monarchien im Europa des späten 20. Jahrhunderts durchweg parlamentarische Demokratien waren, in denen die gekrönten Staatsoberhäupter lediglich repräsentative Funktionen innehatten, und dass in Bulgarien eine Wiedereinführung der Monarchie keine Rückkehr zu einem Regime wie zwischen 1935 und 1943 bedeuten konnte. 44

42 Vgl. Božidar Dimitrov: Vojnite na Bălgarija za nacionalno obedinenie, Sofia 2010. 43 Ebd. 44 Evgenia Kalinova/Iskra Baeva: Bălgarskite prechodi 1944–1999, Sofia 2000, S. 13; Plamen Cvetkov: Demokracijata i nejnite alternativi v Bălgarija meždu dvete svetovni vojni, in: 120 godini (wie Anm. 2), S. 177–187.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

253

Nichtsdestotrotz bereitete die positive Neubewertung Boris’ III. zumindest einer Renaissance des monarchischen Gedankens in Bulgarien den Weg. Boris erschien in den Debatten der 1990er Jahre nicht mehr als faschistischer Diktator, sondern als fürsorglicher Landesvater, der seine Nation durch die internationalen Unbilden der späten 1930er und frühen 1940er Jahre umsichtig hindurchgelenkt habe. Als sein größtes Verdienst hervorgehoben wurde seine Entscheidung vom März 1943, die 48.000 im bulgarischen Staatsgebiet nach dem Stand von 1939 lebenden Juden nicht in die Vernichtungslager im deutsch besetzten Polen deportieren zu lassen. Vor 1989 war dieses Verdienst allein der kommunistischen Widerstandsbewegung während des Zweiten Weltkrieges zugeschrieben worden. Durch ihre hartnäckigen Aktionen, besonders durch den von ihnen organisierten breiten Widerstand der »Volksmassen« sei der König schließlich gezwungen worden, die Deportation zu stoppen. Nach 1989 hingegen wurde die »Errettung« der Juden zunehmend allein als Resultat der integren Führung durch Boris dargestellt. Seine Verantwortung für die Politik der weitgehenden Entrechtung der Juden, die Bulgarien als Verbündeter NSDeutschlands etwa durch das »Gesetz zum Schutze der Nation« seit 1940 betrieb, sowie für die tatsächliche Deportation von ca. 11.000 Juden aus den bulgarisch besetzten Gebieten in Thrakien und Makedonien, wurde hingegen entweder heruntergespielt oder ganz ausgeblendet. Sie sei allein Ergebnis des deutschen Drucks und somit nicht zu verhindern gewesen. 45 Im Laufe der 1990er Jahre zeitigte diese deutliche Verbesserung des historischen Ansehens König Boris’ und damit der Monarchie insgesamt konkrete politische Auswirkungen. Eines der ersten sichtbaren Zeichen hierfür war die Wiedereinführung des königlichen Staatswappens im Jahre 1997. 46 Zwar erlangte während des gesamten Jahrzehnts keine politische Kraft in Bulgarien nennenswerten Einfluss, die sich direkt für die Wiedereinführung der Monarchie aussprach, jedoch erhielt die Idee dieser Staatsform auf anderer Ebene und auf andere Weise Auftrieb: Nach der »Wende« von 1989 war es nämlich dem letzten König von Bulgarien, Simeon II., wieder erlaubt, den Boden seines Heimatlandes zu betreten, nachdem er nach dem Referendum von 1946 ins Exil gezwungen worden war. Im Jahre 1996 kehrte er zum ersten Mal wieder nach Bulgarien zurück und besuchte es in den folgenden Jahren regelmäßig. Wenn daraus auch keine breite politische Bewegung zur Wiedereinführung der Monarchie resultierte, so wuchs doch Simeons Popularität erheblich an, 45 So z. B. Christo Bojadžiev: Spasjavaneto na bălgarskite evrei prez Vtorata svetovna vojna, Sofia 1991. 46 Dăržaven vestnik, 67/1997.

254

Markus Wien

da die Öffentlichkeit von jedem seiner Besuche deutlich Notiz nahm. Eine politische Perspektive eröffnete sich ihm erst um die Jahrtausendwende, als sich in Bulgarien zunehmend Enttäuschung über alle etablierten Parteien und deren Repräsentanten breitmachte und man nach völlig neuen Kräften zu suchen begann. Anscheinend war Simeon überrascht von der Gelegenheit, in das »Vertrauensvakuum« zu stoßen, das ihm die anderen Parteien boten. Dies ist zumindest der Eindruck, den die überstürzte Art und Weise vermittelt, in der er seinen Wahlkampf zur Parlamentswahl vom 17. Juni 2001 eröffnete. Als Simeon zu Beginn jenes Jahres seine Wahlkampagne begann, war es bereits zu spät, seine Gruppierung, die »Nationale Bewegung Simeon II.« (NDSV – Nacionalno Dviženie Simeon Vtori), als Partei für die Wahl anzumelden, so dass schließlich der Umweg über ein Wahlbündnis mit einer Splitterpartei gegangen werden musste. 47 Auch wenn die NDSV zu keinem Zeitpunkt die Wiedereinführung der Monarchie offiziell zu ihrem politischen Ziel erklärte, war unübersehbar, dass ihr Erfolgsrezept einzig und allein auf den monarchischen Nimbus Simeons gegründet war. Schon durch die Namensgebung seiner »Bewegung« unter Einschluss seiner herrscherlichen »Nummerierung« sowie durch die Entgegennahme der Anrede als »Majestät« durch seine Mitarbeiter suggerierte er die Inanspruchnahme königlicher Würde. Von größerer Bedeutung war aber sicherlich, dass seine Sympathisanten die vorgeblichen Eigenschaften und Verdienste seines Vaters, Boris’ III., auf ihn projizierten. Dass in dieser Atmosphäre Gerüchte und Verdächtigungen aufkamen, Simeon strebe insgeheim doch die Rückkehr auf den Thron an, erscheint nicht weiter verwunderlich, zumal weder er noch das übrige Führungspersonal der NDSV derartige Behauptungen klar dementierten. Weithin angenommen wurde, dass er nach einem guten Ergebnis bei der Parlamentswahl das Amt des Staatspräsidenten anstreben und dieses dann mit Hilfe einer Verfassungsänderung »monarchisieren« würde. 48 Eine scheinbare Bestätigung erfuhren diese Spekulationen nach dem mit rund 43 Prozent erdrutschartigen Triumph der NDSV am 17. Juni. Denn nun war der allgemein, besonders aber von Simeon unerwartete und wohl auch nicht wirklich erwünschte Fall eingetreten, dass seiner Gruppierung als der weitaus stärksten Kraft im Parlament die Regierungsbildung oblag. 49 Dass

47 Markus Wien: Ab heute ist Bulgarien nicht mehr dasselbe Land. Die Parlamentswahlen vom 17. Juni 2001, in: Südosteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsforschung, 4/2001, S. 13–32, hier S. 13. 48 Ebd., S. 15. 49 Ebd.

Zwischen Bauerndiktatur und Königsrepublik

255

Simeon nach der Wahl ungefähr zwei Wochen zögerte, bevor er den vom Staatspräsidenten erteilten Auftrag zur Regierungsbildung annahm, zeigt, dass er sich des Dilemmas, in dem er sich befand, bewusst war. Denn nun bestand die Gefahr, dass er, der als König nie formal abgedankt hatte, sich als Ministerpräsident nicht nur in die republikanische protokollarische Hierarchie, also unterhalb des Staatspräsidenten, einordnen, sondern sich auch in die Niederungen der Tagespolitik begeben musste. Dies konnte seinen royalen Nimbus durchaus gefährden, sobald größere Schwierigkeiten auftraten, was in Bulgarien, einem der ärmsten Länder Europas, zu Beginn der 2000er Jahre nicht unwahrscheinlich schien. Andererseits war es gerade diese königliche Aura, die allseitige Identifikation Simeons mit seinem Vater und der Idee der Monarchie im Allgemeinen, welche entscheidend zu seinem Wahlsieg beigetragen hatte. Sie waren verbunden mit der Erwartung, dass Simeon als Verkörperung vermeintlich besserer Zeiten und einer idealeren Staatsform die von den anderen Parteien nicht bewältigten oder sogar geschaffenen Probleme würde lösen können. Er selbst versprach bei der Annahme des Regierungsmandats, innerhalb von 800 Tagen eine spürbare Verbesserung der Verhältnisse herbeizuführen. Sein vermeintlicher ursprünglicher Plan, sich als integre, mahnende Stimme im Parlament eine gute Ausgangsposition für eine Bewerbung um das Amt des Staatsoberhauptes und womöglich auch für die Rückkehr zur Monarchie zu schaffen, war nun nicht mehr zu verwirklichen.50 Dass ihm der Erfolgsfall als Ministerpräsident ebenso eine Chance für die »Re-Monarchisierung« Bulgariens eröffnet hätte, bleibt zwar Spekulation, ist aber angesichts des überdeutlich »royalen« Charakters seines Wahlkampfes und des Echos, das er in der Bevölkerung fand, nicht vollständig von der Hand zu weisen. In Wirklichkeit jedoch trat dieser Erfolgsfall nicht ein, und Simeon »schrumpfte« während der von 2001 bis 2005 dauernden Legislaturperiode auf die Statur eines »normalen« bulgarischen Ministerpräsidenten zusammen. Die Wiederwahl verfehlte er, diente noch eine weitere Periode als Abgeordneter, zog sich dann aus der Politik zurück und verlegte seinen Lebensmittelpunkt wieder nach Spanien, wo er von 1951 bis 2000 im Exil gelebt hatte.51 Diese Entwicklung verriet viel über die Substanz des bulgarischen »Monar­ chie-Hypes« der Jahrtausendwende. Denn als sich zeigte, dass auch Simeon

50 Ebd. 51 Vgl. https://www.mdr.de/heute-im-osten/bulgariens-zar-simeon-verklagt-sein-land-100. html, zuletzt aufgerufen am 26. März 2020. Simeons Rückkehr nach Spanien hinderte ihn freilich nicht daran, gerichtlich um die Rückgabe der nach 1946 enteigneten königlichen Besitztümer in Bulgarien zu streiten – bisher ohne Erfolg.

256

Markus Wien

keine Wunder bewirken, den Lebensstandard der breiten Bevölkerung nicht durch schlichtes »Durchregieren« von oben herab anheben und damit dem Durchschnittsbürger jegliche Verantwortung abnehmen konnte, ebbte die Begeisterung sowohl für ihn als auch für die Idee der Monarchie recht schnell ab. Seine erzielten objektiven Erfolge, wie etwa die für bulgarische Verhältnisse bemerkenswerte Tatsache, dass er überhaupt die ganze Legislaturperiode durchgehalten hatte, der NATO -Beitritt 2004 sowie der Abschluss der EUBeitrittsverhandlungen 2005, fielen nicht weiter ins Gewicht. Eine Wiedereinführung der Monarchie steht seitdem in Bulgarien nicht mehr zur Debatte. Schlussbemerkung Von der Betrachtung des Konfliktes zwischen den Konzepten von Monarchie und Republik in Bulgarien bleibt der Eindruck, dass er zwei Grundzüge der bulgarischen politischen Kultur verdeutlicht, die freilich die beiden Seiten ein und derselben Medaille sind: zum einen die in den kleinbäuerlichen Traditionen wurzelnde Staats- und somit Politikferne weiter Teile der Bevölkerung, zum anderen das Bedürfnis, Politik und Problemlösung autoritären Führern zu überlassen. Die Frage, ob es sich bei diesen um Monarchen, kommunistische Diktatoren oder Populisten oligarchischer Herkunft, wie den derzeitigen Ministerpräsidenten Bojko Borisov, handelt, scheint zweitrangig. Darauf deuten vor allem die beiden Figuren hin, die in ihrem Kontext die Alternative zur jeweils bestehenden Staatsform repräsentierten: Aleksandăr Stambolijski, der als Bauernführer wenn nicht die Abschaffung, so doch zumindest die Entmachtung der Monarchie anstrebte, sowie der ehemalige König Simeon, der als Ministerpräsident in der post-sozialistischen Republik die Idee der Monarchie verkörperte und Gerüchten, er strebe ihre Wiedereinführung an, nie unmissverständlich entgegentrat. Der Unterschied zwischen beiden Fällen bestand im Gewicht, das der Frage »Monarchie oder Republik« im jeweiligen Zusammenhang beigemessen wurde. Während sie bei Stambolijski eher von untergeordneter Bedeutung war, da er ohnehin im Begriff schien, sich mit oder ohne König diktatorische Macht zu sichern, war sie bei Simeon entscheidend, da seine königliche Herkunft nicht nur für seine Popularität unverzichtbar war, sondern auch zumindest unterschwellig die Option einer Rückkehr zur Monarchie in sich trug. Eigene Tragfähigkeit als politisches Thema besaß diese Frage in Bulgarien indes wohl nie. Stattdessen war sie immer mit Einzelpersönlichkeiten und deren Taten verbunden. Verschwanden diese aus dem politischen Leben – durch Tod oder Abwahl –, so verschwand auch die Frage nach Monarchie oder Republik aus dem politischen Diskurs.

Anhang

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber Steffen Arndt (*1972), Dr. phil., Archivrat am Staatsarchiv Gotha; Veröffentlichungen u. a.: 125 Jahre Erfurter Parteitag der SPD. Quellen zur Geschichte der sozialen Demokratie im Staatsarchiv Gotha 1848–1920, Gotha 2016; 100 Jahre Novemberrevolution in Gotha und Erfurt. Quellen aus dem Staatsarchiv Gotha und dem Stadtarchiv Erfurt, Gotha 2018; Wilhelm Bock. Im Dienste der Freiheit, kommentierte Herausgabe der Lebenserinnerungen, Gotha 2018. Bernd Braun (*1963), Dr. phil., Stellv. Geschäftsführer der Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg; Honorarprofessor am Historischen Seminar der Universität Heidelberg, Veröffentlichungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung und des Parlamentarismus sowie der badischen Landesgeschichte, u. a.: Die Weimarer Reichskanzler. Zwölf Lebensläufe in Bildern, Düsseldorf 2011; Die Reichskanzler der Weimarer Republik. Von Scheidemann bis Schleicher, Stuttgart 2013. Frank Engehausen (*1963), Dr. phil., apl. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Heidelberg; jüngste Veröffentlichungen: Hrsg. mit Sylvia Paletschek und Wolfram Pyta: Die badischen und württembergischen Landesministerien in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2019; Hrsg. mit Marie Muschalek und Wolfgang Zimmermann: Deutsch-französische Besatzungsbeziehungen im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018; Hrsg. mit Reinhold Weber: Baden und Württemberg 1918/19. Kriegsende – Revolution – Demokratie, Stuttgart 2018; Bearb. mit Katrin Hammerstein: Friedrich Karl Müller-Trefzer, Erinnerungen aus meinem Leben (1879–1949). Ein badischer Ministerialbeamter in Kaiserreich, Republik und Diktatur, Stuttgart 2017. Lothar Machtan (*1949), Dr. phil., Professor an der Universität Bremen 1995 bis 2015; zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, zuletzt: Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen, München 2016; Der Endzeitkanzler. Prinz Max von Baden und der Untergang des Kaiserreichs, Stuttgart 2018; Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht, Darmstadt 2018. Stefan März (*1980), Dr. phil., Wissenschaftsmanager an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Historiker und freiberuflicher Autor mit Schwer-

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

259

punkt Königreich Bayern; Veröffentlichungen u. a.: Das Haus Wittelsbach im Ersten Weltkrieg. Chance und Zusammenbruch monarchischer Herrschaft, Regensburg 2013; Ludwig III.: Bayerns letzter König, Regensburg 2014; Das Haus Wittelsbach im Zeitalter der Hochmoderne. Bayerns Monarchie zwischen Prinzregentenzeit und Ende des Ersten Weltkriegs, in: Wolfgang Wüst (Hrsg.): Bayerns Adel. Mikro- und Makrokosmos aristokratischer Lebensformen, Frankfurt a. M. 2018.; Prinzregent Luitpold. Herrscher ohne Krone, Regensburg 2021. Manfried Rauchensteiner (*1942), Dr. phil., Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien 1992 bis 2005, seit 1996 außerordentlicher Universitätsprofessor für Österreichische Geschichte an der Universität Wien; Professor an der Diplomatischen Akademie Wien; Koordinator und Berater beim Aufbau des deutschen Militärhistorischen Museums in Dresden 2005 bis 2011; Autor zahlreicher Publikationen, u. a.: Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien/Köln/Weimar 2013; Unter Beobachtung. Österreich seit 1918, Wien/Köln/Weimar 2017. Ursula Rombeck-Jaschinski (*1955), Dr. phil., apl. Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Stuttgart; Veröffentlichungen u. a.: Nordrhein-Westfalen, die Ruhr und Europa: Föderalismus und Europapolitik 1945–1955, Essen 1990; Das Londoner Schuldenabkommen. Die Regelung der deutschen Auslandsschulden nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2005; From Confrontation to Cooperation: The London Debt Agreement of 1953 and Later Debt Crisis, in: Journal of Modern European History, Vol. 15 (2017), 4, S. 503–528; Überlebte Tradition? Das Ende der Monarchien in Südwestdeutschland, in: Von der Monarchie zur Republik, hrsg. von Sabine Holtz/ Gerald Maier, Stuttgart 2019, S. 47–62. Moritz A. Sorg (*1993), Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Doktorand im Rahmen des DFG -Projekts »Fremdheit und monarchische Herrschaft. Der Erste Weltkrieg als Krise der Transnationalen Monarchie«.; Veröffentlichungen: From Equilibrium to Predominance. Foreign Princes and Great Power Politics in the Nineteenth Century, in: Journal of Modern European History, Vol. 16 (2018), S. 81–104; Of Traitors and Saints: Foreign Consorts between Accusations and Propaganda in the First World War, in: Court Historian Journal Vol. 24 (2019) S. 1–16.

260

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

Matthias Stadelmann (*1967), Dr. phil., apl. Professor für Osteuropäische und Neuere Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Produktmanager Russland/Ukraine/Baltikum bei Kästlworld; Veröffentlichungen u. a.: Das revolutionäre Rußland in der Neuen Kulturgeschichte. Diskursive Formationen und soziale Identitäten, Erlangen 1997; Isaak Dunaevskij. Sänger des Volkes. Eine Karriere unter Stalin, Köln/Wien/Weimar 2003; Die Romanovs, Stuttgart 2008; Großfürst Konstantin Nikolaevicˇ. Der persönliche Faktor und die Kultur des Wandels in der russischen Autokratie, Wiesbaden 2012. Markus Wien (*1970), Dr. phil., Professor für Europäische Geschichte an der Amerikanischen Universität in Bulgarien; Veröffentlichungen u. a.: Markt und Modernisierung. Deutsch-bulgarische Wirtschaftsbeziehungen 1918–1944 in ihren konzeptionellen Grundlagen, München 2007; Selektive Wissensimporte. Die Beispieldörfer des »Mitteleuropäischen Wirtschaftstags« im Kontext des bulgarischen landwirtschaftlichen Ausbildungswesens, in: Carola Sachse (Hrsg.): »Mitteleuropa« und »Südosteuropa« als Planungsraum. Wirtschaftsund kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, Göttingen 2010, S. 340–362. Johannes Zimmermann (*1977), Dr. phil., akademischer Rat in der Abteilung Islamwissenschaft des Seminars für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients der Universität Heidelberg; Veröffentlichungen u. a.: Die Übernahme byzantinischer Feld- und Ackermaße durch den osmanischen Staat, Frankfurt a. M. 2015; Hrsg. (zus. mit Janina Karolewski und Robert Langer): Between Innovation and Reconstruction: Transmission Processes of Religious Knowledge and Ritual Practice in Alevism, Frankfurt a. M. 2017; Kollektive und individuelle Krisenbewältigung am Ende des Reichs: Biographie und Nachlass des kretischen Publizisten İbrahim Zeki Cafadzade, Frankfurt a. M. 2020.

Verzeichnis der Abkürzungen AKP Bay. HStA Best. BZNS CHP CSU DDP DDR DP EI Hrsg. HStAS IA IMRO K. u. K. LMU München MA MSPD NATO NDSV NL NSDAP OeSTA OF SHS -Staat SKH SPD StA STaS

Adalet ve Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), Türkei Bayerisches Hauptstaatsarchiv Bestand Bălgarski Zemedelski Naroden Săjuz (Der bulgarische Bauernvolksbund) Cumhuriyet Halk Partisi, Türkei Christlich Soziale Union Deutsche Demokratische Partei Deutsche Demokratische Republik Demokratische Partei, Türkei Encyclopaedia of Islam, 2. Edition (Enzyklopädie des Islam) Herausgeber Hauptstaatsarchiv Stuttgart İslâm Ansiklopedisi (Islam Enzyklopädie) Innere Makedonische Revolutionäre Organisation kaiserlich und königlich Ludwig-Maximilians-Universität München Morgenausgabe Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands North Atlantic Treaty Organization (Organisation des Nordatlantikvertrags) Nacionalno Dviženie Simeon Votri (Nationale Bewegung Simeon II.), Bulgarien Nachlass Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Österreichisches Staatsarchiv Otecˇestven Front (Vaterländische Front), Bulgarien Država Slovencev, Hrvatov in Srbov (Staat der Slowenen, Kroaten und Serben) Seine königliche bzw. kaiserliche Hoheit Sozialdemokratische Partei Deutschlands Stadtarchiv Staatsarchiv Sigmaringen

262

Verzeichnis der Abkürzungen Verzeichnis der Abkürzungen

TDVIA Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi (Enzyklopädie der Islamischen Religionsstiftung der Türkei) USA United States of America USPD Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands VfB Verein für Ballspiele

Personenverzeichnis Abdülhamid II., Sultan des Osmanischen Reiches 190 Adalbert, Prinz von Bayern 54 Adenauer, Konrad 127 Ad var, Abdülhak Adnan 190 Ad var, Halide Edib 190, 192 Albert I., König von Belgien 224 Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, britischer Prinzgemahl 17, 111 Albrecht, Herzog von Württemberg 16, 77 f., 82, 88 Albrecht Eugen, Herzog von Württemberg 78, 88 Aleksandr II., Zar von Russland 155, 159 Alekseev, Michail 148, 152 Aleksej, Sohn von Zar Nikolaj II. von Russland 147 f., 152, 164 Alexander I. (von Battenberg), Fürst von Bulgarien 234–236, 238, 242, 251 Alexandra, Prinzessin von SachsenCoburg und Gotha 114 Alexandra Feodorowna, Zarin von Russland 18, 139, 148, 159 f., 164 Alfons, Prinz von Bayern 54 f. Alfred, Erbprinz von SachsenCoburg und Gotha 112 Alfred, Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha 111 f., 122 Alice, Countess of Athlone 125 Anastasija, Tochter von Zar Nikolaj II. von Russland 147 f., 164

Antonia, Prinzessin von Luxemburg 70 Arco auf Valley, Anton Graf von 65 Argetoianu, Constantin 218, 225 Arndt, Steffen 17 Arthur, 1. Duke of Connaught and Strathearn 112 f. Arthur, Prince of Connaught 113 Atatürk, Mustafa Kemal 18 f., 168–173, 177, 179–187, 189–194, 199, 201, 204, 206 Auer, Erhard 60 f. Averescu, Alexandru 217 f., 230 Axundov, Mirzä Fätäli 195 Aydemir, Şevket Süreyya 192 Bassewitz, Hans Barthold von 118–120 Bauer, Otto 133, 137, 142 Benedikt XV., Papst 139 Berinkey, Dénes 137 Berthelot, Henri 230 Bethmann Hollweg, Theobald von 24, 91, 109, 115 Bey, Mehmed Cavid 190 Beyatl , Yahya Kemal 206 Bezobrazov, Vladimir 147 Bismarck, Otto von 75, 106–108, 124 Bock, Wilhelm 107, 118, 120 f. Bodman, Heinrich von und zu 91, 93 f., 96 f. Bolz, Eugen 85 Borgmann, Thomas 72

264

Personenverzeichnis

Boris III., Zar von Bulgarien 20, 234 f., 238–248, 250–255 Borisov, Bojko 256 Bosch, Robert 76 Brătianu, Ion Ion Constantin 218, 229 f. Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf von 142 Brümmer, Hans 96, 98, 101 Cankov, Aleksandăr 241–243 Carl Eduard, Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha 17, 20, 106, 110 f., 113–116, 118–127 Carol I., König von Rumänien 221 f. Carol II., König von Rumänien 232 Carp, Petre 220, 223 Cebesoy, Ali Fuad 190 Charlotte, Königin von Württemberg 74, 76, 78, 81, 88 Christoph, Herzog von Bayern 54 Clémenceau, Georges 143 Constantinescu, Alecu 212 Constantiniu, Florin 228 Cromwell, Oliver 8 Dandl, Otto von 59, 61 Delbrück, Hans 41 Dietrich, Prinz zu Wied 77 Dimitrov, Božidar 252 Dimitrov, Georgi 233, 244, 250 Dörfler, Peter 66 Dusch, Alexander Freiherr von 91 Ebert, Friedrich 15, 26 f., 29, 31–36, 43 f., 118 f. Ebhardt, Bodo 117 Edward VII., König von Großbritannien 114

Edward VIII., König von Großbritannien 126 Efendi, Ahmed Hulusi 181 Efendi, Ahmet İzzet 181 Efendi, Mehmed Burhaneddin 190 Ehrhardt, Hermann 122 Eisner, Kurt 16, 58, 61–65, 102 f. Eitel Friedrich, Prinz von Preußen 220 Emin, Mehmet 196 Engehausen, Frank 16 Engels, Friedrich 163 Erdogan, Recep Tayyip 19 Ernst, Prinz von Sachsen-Meiningen 124 Ernst II., Fürst zu HohenloheLangenburg 114 Ernst II., Herzog von Sachsen-­ Coburg und Gotha 17, 111 Ersoy, Mehmet Ak f 173 Faulhaber, Michael Kardinal von 65 Ferdinand I., König von Rumänien 19, 207, 209–211, 217–231 Ferdinand I., Zar von Bulgarien 20, 122, 234 f., 237–239, 242, 251 f. Filipescu, Niculae 222 Fitzgerald, Mabel 112 Franz II., Kaiser von Österreich 9 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 20, 114 Franz Maria Luitpold, Prinz von Bayern 54 Friedrich I., Großherzog von Baden 16, 91 Friedrich II. (der Große), König von Preußen 127 Friedrich II., Großherzog von Baden 16, 20, 90–94, 96–99, 102, 105

Personenverzeichnis

Friedrich, Erbprinz zu Wied 77 Friedrich, Prinz von Württemberg 73 Friedrich Karl, Prinz von Hessen 220 Friedrich Viktor, Prinz von Hohenzollern-Sigmaringen 227 f. Geiß, Anton 17, 91 f., 94–99, 101, 103 f. Geithner, Otto 117, 119 Georg V., König von Großbritannien 114, 126, 164, 208 Georg, Prinz von Bayern 54 Georgiev, Kimon 243 f. Giese, Torben 71 f. Gisela, Prinzessin von Bayern 55 Glaser, Hubert 49 Globke, Hans 127 Gneisenau, August Neidhardt von 127 Goga, Octavian 210 Gökalp, Ziya 197 Golicyn, Nikolaj 149 Grabow, Emil 120 Groener, Wilhelm 43 Groh, Dieter 37 Gundelinde, Prinzessin von Bayern 55 Güntzel, Karl 124 Haas, Ludwig 96, 101 Ḫaldūn, Ibn 200 Han m, Nazl Aliye 190 Hardenberg, Karl August von 127 Heinrich, Prinz von Bayern 54 Helene, Prinzessin von WaldeckPyrmont 113 Hellingrath, Philipp von 57, 63 Helmtrud, Prinzessin von Bayern 55

265

Hermann, Erbprinz zu Wied 77 Hertling, Georg Graf von 59, 61 Hieber, Johannes 85 Hildegard, Prinzessin von Bayern 55 Hindenburg, Paul von 43, 69, 116 Hirohito, Kaiser von Japan 126 Hitler, Adolf 14, 17 f., 42, 68 f., 122–127 Hoffmann, Konrad 86 f. Horthy, Miklós 12 Hubertus, Prinz von Sachsen-­ Coburg und Gotha 124 İleri, Celal Nuri 200 Inculeț, Ion Constantin 213, 230 İnönü, İsmet 190 Ionescu, Take 222, 229 Iorga, Nicolae 222 f. Jensen, Katharina, Freifrau von Saalfeld 124 Karabekir, Musa Kâzim 190–192 Karl der Große, Kaiser des Frankenreiches 140 Karl, Prinz von Bayern 54 Karl I., Kaiser von Österreich 129–131, 138–140 Karl I., König von Württemberg 16, 73 f. Károlyi, Alexander 134, 136 f. Katharina, Prinzessin von Württemberg 73 Katharina II., Zarin von Russland 154 Kemal, Mustafa siehe Atatürk Kemal, Namik 196 Kleist, Paul von 127 Kleist-Schmenzin, Ewald von 127

266

Personenverzeichnis

Königbauer, Heinrich 66 Konrad, Prinz von Bayern 54 Konstantin II., König von Griechenland 13 Kopf, Ferdinand 91 K’oseivanov, Georgi 244, 247 Kreiser, Klaus 180, 184 Kronfeld, Arthur 97 Kuhn, Fritz 71 Kühlmann, Richard von 24 Kun, Béla 137, 141, 215 Kuntay, Mithat Cemal 173 Kyrill Romanow, Großfürst von Russland 122 Lenin, Wladimir Iljitsch 18, 137, 155, 163, 165 Leopold, Prinz von Bayern 54 Leopold, 1. Duke of Albany 113 Liebknecht, Karl 33 Ljapcˇev, Andrej 243 Lloyd-George, David 142 Ludendorff, Erich 24, 68, 116 Ludwig Ferdinand, Prinz von Bayern 55 Ludwig I., König von Bayern 45 Ludwig II., König von Bayern 45, 47 Ludwig III., König von Bayern 15, 45 f., 48–61, 63–67 Ludwig Wilhelm, Herzog in Bayern 54 Luitpold Emanuel, Herzog in Bayern 54 Luitpold, Prinzregent von Bayern 15, 45–48 Machtan, Lothar 15, 224 f. Mahmud II., Sultan des Osmanischen Reiches 187, 192

Maier, Emil 101 Malinov, Aleksandăr 243 Mann, Thomas 62, 106 Margareta, Prinzessin von Rumänien 19 Margarete Sophie, Herzogin von Württemberg 77, 88 Marghiloman, Alexandru 220, 230 Maria Alexandrowna, Herzogin von Sachsen-Coburg und Gotha 112 Maria del Pilar, Prinzessin von Bayern 55 Maria José, Herzogin von Bayern 55 Marie, Königin von Rumänien 19, 208, 219, 225 f., 230 f. Marie, Königin von Württemberg 74, 86 Marie Therese, Königin von Bayern 55, 64 Marie Therese von Österreich 88 Marija, Tochter von Zar Nikolaj II. von Russland 147, 164 Marinus, Heiliger 8 Marum, Ludwig 17, 93–95, 99 f. März, Stefan 15 Marx, Karl 155, 163 Masaryk, Tomáš Garrigue 142 Mateiu, Ion 230 Max, Prinz von Baden 24–27, 32 f., 79, 93, 118 f. Maximilian I., Kaiser von Mexiko 7 Maximilian II., König von Bayern 48 Mehmed VI., Sultan des Osmanischen Reiches 168, 180, 182 Menderes, Adnan 205 Michael I., König von Rumänien 13, 231 Michail Aleksandrovicˇ, Großfürst von Russland 148, 153

Personenverzeichnis

Miller, Oskar von 49 Mircea, Prinz von Rumänien 19, 226 f., 231 Møller, Jes Fabricius 11 Montenuovo, Alfred von 139 Morțun, Vasile 229 Müller, Karl Alexander von 65 Mušanov, Nikola 243 Mussolini, Benito 13 Nadejda, Prinzessin von Bulgarien 88 Napoleon I., Kaiser von Frankreich 8 f., 107, 127 Nikolaj II., Zar von Russland 18, 139, 147–153, 158–162, 164–166, 210 Nuri, Celal 201 Ol’ga, Tochter von Zar Nikolaj II. von Russland 147, 164 Orbay, Hüseyin Rauf 190 Paşa, Ahmed Tevfik 190 Pauline, Prinzessin von Württemberg 74, 77 Paulssen, Arnold 118 Peter I., Zar von Russland 154, 201 Philipp, Prinz von Sachsen-Coburg und Gotha 122 Philipp Albrecht, Herzog von Württemberg 78, 88 Poppetrov, Nikolaj 247 Preuß, Hugo 35 Protopopov, Aleksandr 147 Rakowski, Christian 211 f., 214–216, 230 Rasputin, Grigori 159 Rathenau, Walther 35

267

Rauchensteiner, Manfried 17 Rehlein, Wilhelm 124 Reichmuth, Stefan 168 f. Remmele, Adam 101 Renner, Karl 138, 140, 142, 145 Rilke, Rainer Maria 58 Rodzjanko, Mikhail 151 f. Rombeck-Jaschinski, Ursula 16 Roosevelt, Franklin D. 126 Rupprecht, Kronprinz von Bayern 16, 54, 57, 59 f., 63, 65–69 Ruzskij, Nikolai 152 Sauer, Heinrich 96 Scharnhorst, Gerhard von 127 Schauder, Adolf 120 Scheidemann, Philipp 38, 43 Schober, Johann 141 Schopenhauer, Arthur 21 Schtscherbatschow, Dmitri 213 Schwarz, Adolf 101 Schwede, Franz Reinhold 125, 127 Segré, Giulio 141 Selim III., Sultan des Osmanischen Reiches 187 Sellin, Volker 227 Siegfried, Herzog von Bayern 54 Siegrist, Karl 95 Simeon II., Zar von Bulgarien 13, 20, 248, 253–256 Sorg, Moritz A. 19 Špidla, Vladimír 15 Stadelmann, Matthias 18 Stalin, Josef 18, 166 Stambolijski, Aleksandăr 240–242, 244, 248 f., 256 Stambolov, Stefan 237 Stauffenberg, Alfred Schenk Graf von 86

268

Personenverzeichnis

Stein, Karl Freiherr von und zum 127 Steinmeier, Frank-Walter 14 Stere, Constantin 219 f. Sternberg, Adalbert Graf von 140 Stoilov, Konstantin 237 Stojanow, Petar 255 Stolzenburg, Albert 102 Strasser, Gregor 123 Tat’jana, Tochter von Zar Nikolaj II. von Russland 147 f., 164 Tenner, Albin 120 Therese, Prinzessin von Bayern 55, 64 Thoma, Ludwig 52 Tomasi di Lampedusa, Giuseppe 11 Tošev, Andrei 244 Troeltsch, Ernst 28, 30, 36 Trunk, Gustav 96 Ulrich, Prinz von Württemberg 74, 86 Venizelos, Elefhterios 176 Victoria, Königin von Großbritannien 17, 111, 113 Victoria Melita, Prinzessin von Sachsen-­Coburg und Gotha 122 Viktor Emanuel III., König von Italien 12 Viktoria Adelheid, Herzogin von Sachsen-Coburg und Gotha 123 f. Vul’fert, Vladimir 153 Wagner, Winifred 124 Weber, Alfred 26, 28

Weber, Max 41, 157 Weizsäcker, Karl von 77, 79 f., 87 Weizsäcker, Viktor von 87 Wien, Markus 19 Wilhelm, Fürst von HohenzollernSigmaringen 228 Wilhelm, Kronprinz von Preußen 62 Wilhelm I., Deutscher Kaiser und König von Preußen 108 Wilhelm I., König von Württemberg 73, 75 Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen 15 f., 20, 23 f., 26, 29 f., 32, 38–43, 58, 62 f., 75 f., 78–80, 84, 89–91, 93, 109, 113 f., 116–119, 121, 130, 220, 225, 228 Wilhelm II., König von Württemberg 16, 20, 71–89 Wilson, Woodrow 12, 25, 41, 142 f. Wiltrud, Prinzessin von Bayern 54 f., 59 Wirth, Joseph 101 Wolff, Theodor 34, 42 Yalç n, Hüseyin Cahit 189 Zamfirescu, Duiliu 218 Zeppelin, Ferdinand Graf von 76 Zimmerle, Hermann-Christian 71 Zimmermann, Johannes 18 f. Zinov’ev, Grigorij 165 Zita, Kaiserin von Österreich 139 Živkov, Todor 233 Zweig, Stefan 139