Der Erste Weltkrieg im filmischen Gedächtnis: Kulturelles Trauma und Transnationale Erinnerung in Europa und dem Nahen Osten 9783110654431, 9783110653519

This monograph examines the development of television and cinema productions on the centenary of the First World War fro

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Der Erste Weltkrieg im filmischen Gedächtnis: Kulturelles Trauma und Transnationale Erinnerung in Europa und dem Nahen Osten
 9783110654431, 9783110653519

Table of contents :
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Trauma als Geschichte
1 Der Erste Weltkrieg als Genrekino
2 Ein Film, der nie gedreht wurde: Der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten der Mittelmächte
3 Erinnerungskulturelle und filmische Entwicklungen im Zentenarium
4 Was gibt es Neues im Nahen Osten?
5 Transnationale Rahmungen des Großen Krieges: Arte und das europäische Narrativ im Zentenarium
6 Eine Geistergeschichte – statt eines Schlusswortes
Literaturverzeichnis
Filmografie
Schaubild: Kulturelles Trauma im Film
Personen- und Filmindex

Citation preview

Michael Elm Der Erste Weltkrieg im filmischen Gedächtnis

Medien und kulturelle Erinnerung

Herausgegeben von Astrid Erll · Ansgar Nünning Wissenschaftlicher Beirat Aleida Assmann · Mieke Bal · Vita Fortunati · Richard Grusin · Udo Hebel Andrew Hoskins · Wulf Kansteiner · Alison Landsberg · Claus Leggewie Jeffrey Olick · Susannah Radstone · Ann Rigney · Michael Rothberg Werner Sollors · Frederik Tygstrup · Harald Welzer

Band 7

Michael Elm

Der Erste Weltkrieg im filmischen Gedächtnis

Kulturelles Trauma und Transnationale Erinnerung in Europa und dem Nahen Osten

Die Publikation erfolgt mit freundlicher Unterstützung der Ernst Reuter Gesellschaft und des Fachbereiches Geschichte der Freien Universität Berlin.

ISBN 978-3-11-065351-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-065443-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065357-1 ISSN 2629-2858 Library of Congress Control Number: 2021940952 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: © M. Elm. Motiv: Osmanische Zugstation in Be’er Sheva mit einer Büste von Mustafa Kemal (Atatürk) im Vordergrund. Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Für Rubi und Vivi und eine weniger furchteinflößende Welt.

Danksagung Ein derart umfangreiches Projekt kommt nicht ohne die Unterstützung Vieler zustande. Auf akademischer Seite geht mein Dank an die begleitenden Personen und fördernden Institutionen. Oliver Janz danke ich für die Ausrichtung eines gemeinsamen Universitätsseminares an der Freien Universität Berlin sowie für die Gelegenheit, weite Teile der Arbeit in seinem Forschungskolloquium vorstellen zu dürfen. Die an der FU-Berlin angesiedelte und von Oliver Janz mitherausgegebene 1914-1918 Online. International Encyclopedia of the First World War stellt ein unerschöpfliches Reservoir an aktueller Forschung zum Ersten Weltkrieg dar, deren exzellente Mitarbeiter_innen bei Materialbeschaffung und Literaturrecherche halfen. Eine vom DAAD geförderte Forschungsreise an die Universität von New South Wales nach Canberra ermöglichte einen intensiven Austausch mit der Perspektive von Down Under auf die europäischen und nahöstlichen Kriegsschauplätze. Galili Shahar vom Minerva Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv ermöglichte den notwendigen Zugang zur Forschungsliteratur in Israel sowie die universitäre Präsentation und Diskussion von Forschungsergebnissen zum Nahen Osten. Teile der Arbeit konnten an den Universitäten in Haifa (Haifa Center for German and European Studies) und der Ben-Gurion Universität des Negevs bei Guy Beiner vorgestellt und diskutiert werden. Last but not least, danke ich Astrid Erll (Frankfurt Memory Studies Platform) von der Goethe Universität Frankfurt, die mich mit eigenen Texten versorgte sowie zahlreiche Literaturhinweise gab, die insbesondere für das expandierende Feld der Cultural Memory Studies unentbehrlich waren. Der Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaft der Freien Universität Berlin sowie die Ernst Reuter Gesellschaft haben großzügig und unbürokratisch einen Druckkostenzuschuss für die Publikation gewährt. Dafür herzlichen Dank. Ein besonderer Dank geht an Marc Grellert, der die Entwicklung des Forschungsprojektes von Anfang an begleitete und mit Rat und Tat zur Seite stand. Julia Meyer und Stefan Vogt haben einzelne Kapitel durchgesehen und wertvolle Rückmeldungen geliefert. Der Salon Tel Aviv unter Mitwirkung von Silja Behre und Maimon Maor sowie das dortige Goethe Institut verhalfen mir zu einem weiteren wichtigen Diskussionsrahmen. Für das Lektorat und der geduldigen Diskussion von Unklarheiten und Formulierungen danke ich Jens Hoffmann. Eine besondere Freude und unschätzbare Hilfe bereitete das gemeinsame Schauen von Filmen mit meiner Frau, Milett Biberman Elm, deren Expertise in Theater und Literatur die Analyse einzelner Filme entscheidend vorangebracht hat.

https://doi.org/10.1515/9783110654431-202

Inhaltsverzeichnis Danksagung

VII

Einleitung: Trauma als Geschichte Kapitelübersicht 9

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Der Erste Weltkrieg als Genrekino 13 Was unterscheidet die Darstellung des Ersten Weltkrieges von anderen Kriegsfilmen? 13 Genremuster des Ersten Weltkrieges 20 Nationale Kritik militärischer Befehlshierarchien – 26 KING AND COUNTRY Filmgeschichtliche und historiografische Einschnitte 27 Der Erste Weltkriegsfilm nach 1989 30 Das Motiv der Suche als antitraumatischer 31 Verarbeitungsprozess – LA VIE ET RIEN DʼAUTRE Individualisierung nationaler Masternarrative – THE TRENCH und COMPANY C 36 Ästhetische und narrative Ausdifferenzierung von Traumadarstellungen 40 Poesie und Politik des Traumas – REGENERATION. BEHIND THE FRONTLINE 41 Kriegsverstümmelung als gueule cassée in LA CHAMBRE DES OFFICIERS (DIE OFFIZIERSKAMMER) 44 Die Abwesenheit des Traumas im NS-Film – UNTERNEHMEN MICHAEL 47 Kulturelles Trauma als Epochenschwelle ‒ WAR HORSE und DAS WEIßE BAND 49 Zusammenfassender Ausblick 55

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Ein Film, der nie gedreht wurde: Der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten der Mittelmächte 57 Die Vorgeschichte des osmanischen Kriegseintritts 57 Die Julikrise in Istanbul 59 Der Admiral vom Bosporus 63

X

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Inhaltsverzeichnis

Erinnerungskulturelle und filmische Entwicklungen im Zentenarium 68 Gedenktage und Erinnerungskultur 68 Was gibt es Neues im Zentenarium? 72 Der Genozid an den Armeniern in Zentenariumsfilmen 75 1915 und die Identitätspolitik der armenischen Diaspora 78 Kampf um Hegemonie – THE PROMISE versus THE OTTOMAN LIEUTENANT 82 Reise und Suche als antitraumatische Erinnerungsmotive ‒ 90 THE CUT Die Feminisierung der Weltkriegserinnerung 100 Emanzipation weiblicher Kriegserfahrung – TESTAMENT OF YOUTH Sisterhood of War – Zivile Krankenschwestern in THE CRIMSON FIELD und ANZAC GIRLS 113 Gertrude Bell – Wiederentdeckung einer britischen 121 Erinnerungsikone in QUEEN OF THE DESERT Dokumentarisches Bilderspektakel um Gertrude Bell – LETTERS FROM BAGHDAD 126 Was gibt es Neues im europäischen Kino? – Frankreich 136 137 La Grande Guerre à la Campagne – LES GARDIENNES 140 Reise zur anderen Seite des Traumas ‒ FRANTZ Das Heimisch-Werden des Unheimlichen 146 151 Karneval des Traumas ‒ AU REVOIR, LÀ-HAUT

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Was gibt es Neues im Nahen Osten? 154 Aljazeera Englisch – Ein neuer Akteur betritt die mediale Bühne 155 Der Untergang des Osmanischen Reiches ‒ WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES 158 Historiografische Elemente eines kulturellen Traumas im Nahen Osten 169 Multiperspektivische Konfliktgeschichte des Nahen Ostens – 172 SYKES-PICOT und BALFOUR DECLARATION AT 100 Der Große Krieg als ‚Urkatastrophe‘ des modernen Nahen Ostens? 182 Der Erste Weltkrieg als Coming-of-Age-Geschichte eines 185 Beduinenjungen ‒ THEEB

Inhaltsverzeichnis

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Transnationale Rahmungen des Großen Krieges: Arte und das europäische Narrativ im Zentenarium 194 Der Untergang des Osmanischen Reiches aus französisch-europäischer 195 Perspektive – LA FIN DES OTTOMANS (DAS ENDE DES ERHABENEN STAATES) Die Europäisierung des Großen Krieges im Format der 205 TV-Miniserie – 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS Vergleich der Arte und Aljazeera-Produktionen 220 Ein Zweiter Dreißigjähriger Krieg im deutschen 224 Geschichtsfernsehen – WELTENBRAND Hegemoniale Neuausrichtung des deutschen Kriegsgedächtnisses? 232 Der filmische Schlusspunkt des Zentenariums und die Zukunft des 233 Großen Krieges – THEY SHALL NOT GROW OLD

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Eine Geistergeschichte – statt eines Schlusswortes

Literaturverzeichnis Filmografie

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Schaubild: Kulturelles Trauma im Film Personen- und Filmindex

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XI

Einleitung: Trauma als Geschichte Hundert Jahre nach dem Waffenstillstand vom 9. November 1918 und dem brüchigen Friedensvertrag von Versailles ist der Erste Weltkrieg das erste Kriegsereignis der europäischen Moderne, dessen Zentenarium begangen wurde. Es liegt nahe zu fragen, wie dieses fundamentale Gewaltereignis jenseits der Generationenschwelle des ‚kommunikativen Gedächtnisses‘ (Aleida Assmann 1999; Jan Assmann 2008) erinnert wird. Das vorliegende Buch nimmt sich dabei insbesondere der filmischen und traumatheoretischen Diskurse an, die bekanntlich durch den Ersten Weltkrieg entscheidend beeinflusst wurden und umgekehrt dessen Wahrnehmung geprägt haben. Welche Umschreibungen, Bewältigungsstrategien aber auch Kontinuitäten von Gewaltgeschichte lassen sich hundert Jahre später in Gegenwartsfilmen ausmachen? Wie übersetzt sich die aus der Historiografie bekannte Zuschreibung des Krieges als „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Kennan 1979) in filmische Narrative? Und gilt diese Zuschreibung ebenfalls für Darstellungen des Nahen Ostens, zumal der Krieg durch den Untergang des Osmanischen Reiches diesen in seiner modernen und problembehafteten Form hervorbrachte? Das sind die zentralen Fragestellungen der Untersuchung, die die akademischen Bereiche von Filmwissenschaft, Historiografie und kulturwissenschaftlicher Erinnerungsforschung verbindet und seit geraumer Zeit die Arbeitsschwerpunkte des Verfassers bilden. Die Kennzeichnung des Ersten Weltkriegs als „Urkatastrophe“ oder „great seminal catastrophe“ geht auf den amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan zurück (1979, 3). Sie wurde Ende der 1970er Jahre geprägt und schreibt dem Großen Krieg1 die zentrale Stellung an den an gesellschaftlichen Katastrophen nicht gerade armen zwanzigsten Jahrhundert zu. Der retrospektive Blick des einflussreichen Diplomaten und Mitentwickler des Marshallplans sieht – wie schon der von Walter Benjamin beschriebene Engel der Geschichte (Benjamin 1991) – nicht nur den ersten großen Krieg vor sich, sondern auch die sich auftürmenden Katastrophen des Zweiten Weltkrieges, des Holocaust, des Vietnamkrieges und zahlreicher anderer Gewaltereignisse. Er verdichtet diese zu einem epochalen Grundereignis, das den Krieg, der alle Kriege beenden sollte, zu seinem Ausgangspunkt macht.2 Bedient man sich der von Jan und Aleida Ass1 Die Bezeichnungen Erster Weltkrieg und Großer Krieg werden in der vorliegenden Publikation weitgehend gleichlautend verwendet. Allerdings hat der Ausdruck vom Großen Krieg eine größere Nähe zu den im Englischen und Französischen gebräuchlichen Begriffen vom Great War und Grande Guerre, was für eine Arbeit, die sich auf ein europäisches Kriegsgedächtnis bezieht, nicht unwichtig erschien. 2 Das Bild des Angelus Novus von Paul Klee, das Walter Benjamin zu dieser Sichtweise inspirierte, geht nach einer Spekulation Theodor W. Adornos werkgeschichtlich auf Klees Zeichnunhttps://doi.org/10.1515/9783110654431-001

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Einleitung: Trauma als Geschichte

mann geprägten Gedächtnistheorie, könnte man darin den Übergang zu einer mythologischen Grunderzählung inmitten der säkularen europäischen Moderne sehen, wie es der Übergang vom kommunikativen Gedächtnis der Zeitgenossen zum mediengestützten kulturellen Gedächtnis nahelegt (vgl. 1999; 2008). Allerdings vollzog sich die Formierung des generationenübergreifenden Geschichtsnarratives bereits lange vor dem Tod der letzten soldatischen Zeitzeugen des Großen Krieges in den 1920er und 30er Jahren (vgl. Horne 2014, 620). George F. Kennan war mit den literarischen Kriegsdarstellungen dieser Zeit und den historischen Quellen sehr genau vertraut.3 Allgemein wird die Abkehr von den heroisch nationalen Gedächtnissen, in deren Zentrum der soldatische Opfertod für die Gemeinschaft steht, erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1960er Jahren veranschlagt. Das „leidende Opfer ersetzt das heroische sterbende Opfer als Leitbild“ (Bauerkämper 2014, 84) in den postheroischen europäischen Erinnerungskulturen. Insofern reicht die generationelle Schranke nicht aus, um die Entstehung eines transgenerationellen oder mythologischen Narratives zu erklären. Die historische und kulturwissenschaftliche Forschung geht mehrheitlich davon aus, dass Kriegssituationen mit ihren massenhaften Gewalterfahrungen nicht unmittelbar zu Memorialpraxen führen (vgl. Alexander 2012; Assmann 2008; Erll 2017; Levy 2015; Winter 2006). Vielmehr durchlaufen Gewalterfahrungen wie Memorialpraxen eine kulturelle und gesellschaftliche Formung, die auch die individuelle Verarbeitung erlittenen Leides beeinflusst. Die Ausprägung epochenübergreifender, mythologischer Narrative von Gewaltereignissen setzt schon vor dem Ableben der Zeitzeugen ein und endet nicht mit diesen. Die vorliegende Untersuchung bedient sich zur Untersuchung der Konstruktion von Epochenschwelle und transgenerationeller Verarbeitung der Gewalterfahrungen der Theorie des kulturellen Traumas, wie sie unter anderem vom US-amerikanischen Kultursoziologen Jeffrey C. Alexander geprägt wurde (vgl. Alexander 2004 und 2012; Eyerman 2004; Giesen 2004). Das diskurstheoretische Konzept untersucht einen gesellschaftlichen und erinnerungskulturellen Prozess, in dem verschiedene gesellschaftliche Akteure und Gruppen Gewalterfahrungen derart mit Bedeutung ausstatten, dass diese sich zu einem sogenannten „kulturellen Trauma“ verdichten. Alexander hat dafür folgende Definition geliefert: „when members of a collective feel they have been subjected to a horrendous event that leave indelible marks upon their group consciousness, mar-

gen von Kaiser Wilhelm II. als „Eisenfresser“ (Adorno 2003, 430) zurück und hätte demnach tatsächlich einen direkten Bezug zum Ersten Weltkrieg (vgl. Winter 1995, 223). 3 Eine ausführlichere Darlegung zu Kennans Person und seiner Ausformulierung der europäischen Urkatastrophe findet sich zu Beginn des dritten Kapitels im Abschnitt Gedenktage und Erinnerungskultur.

Einleitung: Trauma als Geschichte

3

king their memories forever and changing their future identity in fundamental and irrevocable ways“ (2012, 4). Der Ansatz betont das Moment der sozialen und kulturellen Konstruktion von Erinnerung, da sich insbesondere auf gesellschaftlicher Ebene der traumatische Gehalt nicht einfach aus dem Ereignis ergebe (vgl. Alexander 2016, 14). Alexander untersucht diese gesellschaftlichen Erinnerungskonstruktionen im sogenannten Trauma-Prozess, an dessen Anfang das Behaupten einer Verletzung durch eine sozial verursachte Gewalterfahrung steht. Dieses „claim-making“ kann von jeder Stufe der sozialen Leiter ausgehen, reicht in der Regel aber nicht aus, um gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Dazu bedarf es gewisser „carrier groups“ [Unterstützergruppen; M.E.] von Graswurzelinitiativen bis hin zu Vereinen, Lobbys, zivilgesellschaftliche und staatliche Trägergruppen, um dessen Anerkennung und kulturelle Institutionalisierung zu erwirken. (Vgl. Alexander 2012, 15‒28) Eine erfolgreiche Durchsetzung zeichnet sich durch die Erlangung einer kulturellen Hegemonie aus, die diskursiv in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Politik, Medizin, Psychologie, Gesetzgebung und Rechtsprechung, Literatur, Theater oder Film verankert wird. Mit der Untersuchung des Politologen José Brunner über die Politik des Traumas ist zu betonen, dass jede dieser spezifischen Aneignungsformen einen Übersetzungsvorgang beinhaltet, der die individuell einzigartigen Leiderfahrungen in seine Fachsprache überträgt und gemäß den dort geltenden diskursiven Bestimmungen umformt (vgl. 2014, 48‒50). Das Medium Film partizipiert an diesem Trauma-Prozess, wobei dessen konzeptuelle Stellung in Alexanders Ansatz nicht systematisch ausgewiesen wird. Dies ist die erinnerungskulturelle Leerstelle, der sich die vorliegende Arbeit durch ihren film- und traumatheoretischen Fokus annimmt. Die Entwicklung einer solchen Betrachtungsweise von Gewaltgeschichte reicht historisch weit über den Ersten Weltkrieges hinaus und lässt sich im gesellschaftlich-kulturellen Kontext einer „gewaltempfindlich gewordenen Moderne“4 (Reemtsma 2009, 262‒266) situieren. (Vgl. auch Brunner 2007; Levy/Sznaider 2001). Es wird versucht, den Beitrag der filmischen Narrative zur Ausprägung eines neuen Umgangs mit Gewalterfahrung und deren medialer Erinnerung zu bestimmen. Die filmische Inszenierung von Gewalterfahrungen ist ein integraler Bestandteil einer solchen „moralischen Grammatik“ (Brunner 2014, 23), die deren historische und kulturelle Verarbeitung im populären Gedächtnis nicht nur repräsentiert, sondern anleitet.

4 Jan Philipp Reemtsma argumentiert in seinem Buch Vertrauen und Gewalt, dass es trotz der inhärenten Gewalthaftigkeit der Moderne ein „Ziel des Zivilisationsprozesses sei, uns alle immer leichter traumatisierbar [und damit gewaltempfindlicher; M.E.] zu machen“ (2009, 136).

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Einleitung: Trauma als Geschichte

Der mit dem Traumadiskurs verbundene Signifikationsprozess leistet etwas, was in säkular-postmodernen Gesellschaften fast unmöglich erscheint: Er schafft kulturhistorische Artefakte, die gleichermaßen konstruiert wie unhintergehbar sind. An die Stelle primordialer, häufig religiös fundierter Gedenktage treten im Zuge der Nationalstaatsentwicklung soziale, auf die je eigene Geschichte bezogene Memorialereignisse. Das macht die Kodierung von Gewalterfahrungen durch den Traumadiskurs für gegenwärtige Gesellschaften so attraktiv. Theoriesprachlich tritt an die Stelle der sperrigen Entgegensetzung von ‚History‘ und ‚Memory‘ ‒ wie man sie aus der gedächtnistheoretischen Pionierarbeit von Maurice Halbwachs kennt (vgl. Halbwachs 1985, 66‒67) ‒ ein Modell, das die gesellschaftliche Durchdringung individueller Erinnerung ebenso beschreibt wie die aktive, individuelle und soziale Gestaltung gesellschaftlicher Memorialpraxen untersucht wird.5 Man kann für den deutschen Kontext an Theodor W. Adornos berühmtes Auschwitz-Diktum denken, das auf nicht weniger als die Implementierung eines neuen „kategorischen Imperativs“ zielt (vgl. Adorno 1992). Insgesamt vermag der Theorieansatz des kulturellen Traumas zu verdeutlichen, wie der Holocaust im Land der Täter während der deutschen Nachkriegsgeschichte in den Rang einer Gründungserzählung aufsteigen konnte (vgl. Elm 2015; Giesen 2004; Olick 2003). Kaum zufällig wurde Alexanders Theoriemodell vor allem anhand der Erinnerungskultur von Holocaust und Zweitem Weltkrieg entwickelt (vgl. Alexander 2012, 42‒55 und 2016). Kennans Bezeichnung der „Urkatastrophe“ lässt sich als eine Ausweitung des mit moralischen und politischen Wertungen versehenen Modells auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges verstehen. Es wurde argumentiert, dass der aus Psychiatrie und Psychoanalyse stammende Traumabegriff irreführend für die Kategorisierung gesellschaftlicher Gewalterfahrung ist und angesichts einer im öffentlichen Diskurs inflationären Verwendung besser in den damit befassten Wissenschaften belassen wird. Dafür gibt angesichts kulturwissenschaftlicher Überdehnungen der Traumametaphorik und damit einhergehender Versuche der Aneignung oder Verewigung fremder Leiderfahrungen gute Gründe (vgl. Kansteiner 2004). Umgekehrt findet sich die Überschreitung des Traumabegriffs aus verschiedenen psychologischen und psychoanalytischen Ansätzen heraus (vgl. Bar-On 1999; Becker 2011; Hirsch 2011, 27). Schon bei Freud, der bekanntlich verschiedene Traumamodelle entwickelte, spielt in der ursprünglichen Verführungstheorie die soziale Dimension des Missbrauchs durch eine nahestehende Person eine entscheidende Rolle für die Ausprägung der traumatischen Reaktionsbildung (vgl. Hirsch 2011, 18‒19). Das misshandelte

5 Ein anderer Aspekt der Theorie von Halbwachs, die soziale Rahmung von Erinnerung, kann unterdessen als ungebrochen aktuell gelten. (Vgl. Assmann 2015).

Einleitung: Trauma als Geschichte

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Kind muss die erfahrene Gewalt verinnerlichen und gegen sich wenden, weil es keine Alternative zu der Bezugsperson hat, die sich an ihm vergeht. Dem sozialen Aspekt des Beziehungsverhältnisses – der seinerseits in Macht- und Herrschaftsverhältnisse eingebettet ist –, wird also eine entscheidende Bedeutung bei der Ausprägung einer Gewalterfahrung als Trauma beigemessen. Gleichzeitig berücksichtigt Freud mit dem Konzept der Nachträglichkeit, dass die Erinnerung traumatischer Erfahrung in anderen Lebensabschnitten nur assoziativ verdeckt erfolge (vgl. Hirsch 2011, 19). Dieser soziale Aspekt von Gewalterfahrung kommt ebenso in den ätiologisch anders gelagerten Akuttraumata zum Tragen. Die schockhaften Überwältigungserfahrungen im Krieg sind in Befehlshierarchien und Machtverhältnisse eingebunden, die bereits vor Ort deren Verarbeitung beeinflussen. Erst recht aber in den Nachkriegsgesellschaften oder an den Heimatfronten, wo es zumeist verpönt war und ist, „Schwäche“ (Bar-On 1999, 80) zu zeigen. Im Ersten Weltkrieg erlangte das Phänomen der sogenannten Simulanten eine hohe Bedeutung, die bis weit in die Weimarer Zeit hinein in Deutschland die Gerichte beschäftigte (Brunner 2014, 32‒38). Nach der von dem niederländischen Psychoanalytiker Hans Keilson entwickelten Theorie der sequenziellen Traumatisierung ist im Umgang mit Traumata nicht nur das Ursprungserlebnis zu beachten, sondern ebenso die anschließenden individuellen und kollektiven Verarbeitungsprozesse (vgl. Quindeau 1995, 43). Ob Opfer sich zu Wort melden oder ihre Leiden mit sich selbst und im Kreis ihrer engsten Angehörigen ausmachen, hängt stark von einer emphatischen oder abwesenden Öffentlichkeit ab.6 Der Sozialpsychologe David Becker hat dieses Konzept weiterentwickelt und auf politische Konflikte in post-kolonialen Ländern und postautoritären Systemen angewendet (vgl. Becker 2011). Hier gilt es die unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen postkolonialer Gesellschaften zu berücksichtigen, die mitunter von einem westlich geprägten Verständnis von Trauma und Leiden ignoriert oder und neoimperialistisch überformt werden (Craps 2014). Die soziale, politische und kulturelle Neuordnung von Nachkriegsgesellschaften regelt den Umgang mit massenhaften Gewalterfahrungen und entscheidet darüber, ob diese kommuniziert werden können. Es sind jene individuellen, sozialen, kulturell-medialen und politischen Verarbeitungs- und Deutungsmuster, die aus Gewalterfahrungen eine nachhaltig wirkende Zäsur individuellen oder kollektiven Leidens machen oder eben nicht. Dieser Themenkomplex wird durch den bereits er-

6 Das trifft auch auf nicht-kombattive Gewalterfahrungen wie Flucht, Vertreibung oder erzwungene Migration zu und hat sich genderspezifisch zuletzt in der durch das Öffentlichmachen von sexuellen Übergriffen geprägten #MeToo-Kampagne gezeigt.

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Einleitung: Trauma als Geschichte

wähnten Ausdruck der moralischen Grammatik umrissen. Die Ausdifferenzierung des Traumadiskurses geht weit über eine einfache Viktimisierungserzählung hinaus und ist nicht mit einer „universalisierten Leidkultur“ (Bauerkämper 2014, 84) gleichzusetzen. Durch Ansätze wie Täter- oder Bystandertrauma (vgl. Bajohr 2015) kann ein sehr viel umfassenderes Bild von Gewaltereignissen gezeichnet und die innerfamiliäre transgenerationale Weitergabe von Traumata medienspezifisch untersucht werden (vgl. Hirsch 2001; Seider 2019). Es stellt sich allerdings die Frage, ob in Alexanders soziokultureller Traumatheorie das pathologische Moment des psychischen Traumas eine Entsprechung auf der kulturellen Ebene findet. Eventuell kann man auf den Traumabegriff verzichten und spricht besser von einer Epochenschwelle oder einem historischen Tabu. Beide Begriffe verdecken im Unterschied zu Alexanders Traumatheorie allerdings den Prozess, aus dem sie hervorgehen. Der Epochenbegriff tendiert dazu, sich im Stile althergebrachter Historiografie als selbstverständlich vorauszusetzen. Die durch ihn markierten Umbrüche werden wie historische Tatsachen behandelt. Der Terminus des historischen Tabus7 gemahnt zwar an die kollektiv begangene Grenzüberschreitung mitsamt einer expliziten moralischen Wertung, schließt aber Selbstreflexion fast schon kategorisch aus und mutet daher vormodern an. Alexander hat darauf reagiert, indem er hegemonietheoretische Überlegungen in die Ausarbeitung seiner Traumatheorie einbezieht und damit den sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Prozess der Bedeutungsgenerierung erfasst. Die vorliegende Untersuchung geht mit Jan Philipp Reemtsmas Ausführungen in Vertrauen und Gewalt davon aus, dass der Traumabegriff bei Alexander normative und kulturelle Gehalte im Umgang mit Gewalt kommuniziert, indem er dessen zivilgesellschaftliche Ablehnung als Mittel der Politik signalisiert (vgl. Reemtsma 2009, 474–481). Der Traumadiskurs erweitert die von Jay Winter beschriebenen kulturellen und religiösen Muster der Trauerverarbeitung (Winter 2006), indem er eine neue Sprache entwickelt hat, die erinnerungsgeschichtlich direkt auf die neuartigen Erfahrungen des Großen Krieges bezogen ist (vgl. Hanna 2007a, 90‒91). Das pathologische Ele-

7 Die von Martin Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1998 ausgelöste Kontroverse um das öffentliche Gedenken des Holocaust mit ihrer medialen „Dauerpräsentation unserer Schande“, bringt die unterschiedlichen Sichtweisen auf den Punkt (Walser 1998). Der öffentliche Erinnerungsdiskurs tritt nach Walsers Auffassung als historisches Tabu in einen notwendigen Widerspruch zur Moralität des individuellen Gedenkens, dem nichts vorgeschrieben werden dürfe. Walser behandelt die mit der öffentlichen Erinnerung an Auschwitz gesetzte moralische Zäsur als historisches Tabu. Ihm entgeht die Prozesshaftigkeit des Aushandelns historisch begründeter Moralvorstellungen, die gemäß seiner Vorstellung nur als entweder individuell wählbar oder gesellschaftlich gesetzt denkbar sind.

Einleitung: Trauma als Geschichte

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ment der zwanghaften Wiederkehr des Verdrängten wird – zumindest in der Theorie – zu einer andauernden Erinnerungsleistung sublimiert. Die angeführten kultur- und traumatheoretischen Überlegungen werden in die Untersuchung dokumentarischer und fiktionaler Filme zum Ersten Weltkrieg während der Periode des Zentenariums einbezogen. Die Verschränkung von historiografischen, erinnerungskulturellen und filmischen Diskursen soll einen erweiterten Blick auf die Kodierung und Verarbeitung von Gewaltgeschichte ermöglichen. Es kann als übergreifende These für die untersuchten Produktionen formuliert werden, dass die Inszenierung und Darstellung von Traumata zu einem zentralen Motiv für die Verarbeitung und Erinnerung von Gewaltgeschichte geworden sind. Die Herausarbeitung dieser traumabezogenen Inszenierungsformen vertieft das Verständnis von Gedächtnis- oder Erinnerungsfilmen (vgl. Erll 2017, 156) einerseits werkästhetisch und wird andererseits durch den Bezug auf deren „plurimedialen Konstellationen“ (Erll/Wodianka 2008, 6) erinnerungskulturell verortet und genretheoretisch reflektiert (Kuhn/Scheidgen/Weber 2012, 18). Die Filme werden in diesem Sinne nicht einfach als kulturelle Speichermedien aufgefasst, sondern in ihrer dynamischen Interaktion mit anderen Filmen, erinnerungskulturellen, historiografischen und marktförmigen Diskursen analysiert. Diese erweiterte filmtheoretische Betrachtung wird anhand des Filmsamples der Zentenariumsproduktionen durchgeführt. Das Sample wurde im Hinblick auf den Produktionszeitraum zwischen 2013 bis 2018, der ästhetisch-narrativen Kodierung von Gewalterfahrungen, dem regionalen Fokus auf die Kriegsereignisse im ehemaligen Osmanischen Reich sowie einer vorhandenen internationalen Distribution zusammengestellt. Einzelne Filmanalysen sowie die im zweiten Kapitel des Buches durchgeführte filmgeschichtliche und genretheoretische Untersuchung von Filmen zum Ersten Weltkrieg bedienen sich stärker einer werkästhetisch-dramaturgietheoretischen Betrachtung. Dabei wird nach den filmischen Mustern einer ästhetischen und narrativen Kodierung von Traumata gefragt sowie punktuell die Einbettung der filmischen Narrative in historiografische und zeitgeschichtliche Erinnerungskontexte berücksichtigt. Im filmwissenschaftlichen Bereich existieren eine ganze Reihe verschiedener Studien und Ansätze, die sich aus unterschiedlichen thematischen und fachlichen Perspektiven auf die Analyse von Gewaltgeschichte im Film beziehen (vgl. Carroll 1990; Elm/Kabalek/Köhne 2014a; Elsaesser 2006; Kaes 2011; Kansteiner/Classen 2009; Kaplan 2005; Kappelhoff 2013; Köhne 2012 und 2009; Kracauer 1985 und 1984; Landsberg 2004; Löschnigg/Sokolowska-Paryz 2014; Lowenstein 2005; Morag 2013; Röwekamp 2011; Stiasny 2009; Wende 2002; Wollnik/Ziob 2010; Yosef/Hagin 2013). Keiner der Ansätze hat allerdings den hier anvisierten Themenkomplex der Kodierung eines kulturellen Traumas zum Gegenstand. Selbst breiter angelegte kulturhistorische Studien zum Ersten Welt-

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Einleitung: Trauma als Geschichte

krieg haben eine solche Perspektive bislang nicht eingenommen (vgl. Piper 2014; Schivelbusch 2001). Als geografischer Fokus dient ein Vergleich von Produktionen, die sich mit der Geschichte in der Region des ehemaligen Osmanischen Reiches und Europas befassen. Der regionale Vergleich soll Rückschlüsse über die transkulturelle und transnationale Ausbildung der erinnerungskulturellen, historiografischen und filmischen Diskurse erlauben. Die imperiale Aufteilung der Region des Nahen Ostens hat die Verarbeitung und Erinnerung der weit über die Kriegshandlungen hinausreichende Gewaltgeschichte entscheidend beeinflusst (Fawaz 2014). Andere, kriegsgeschichtlich nicht weniger bedeutsame Staaten und Gebiete in Osteuropa, dem Balkan, dem Mittleren und Fernen Osten, Afrika südlich der Sahara sowie die beiden Amerikas konnten nur eingeschränkt berücksichtigt werden. Kleinere Exkurse beleuchten einige Beiträge des australischen und neuseeländischen Films. Der Erste Weltkrieg figuriert in den beiden letztgenannten Ländern als nationaler Gründungsmythos, wobei die filmischen Narrative sich erinnerungsgeschichtlich auf die Beteiligung an den Kriegshandlungen gegen das Osmanische Reich im Nahen Osten beziehen. Aufgrund der historischen Situierung als ehemalige britische Dominions, die erst nach dem Krieg ihre Unabhängigkeit erlangten, nehmen die filmischen Narrative Abgrenzungen zur angelsächsisch-europäischen Sichtweise vor, die für die vorliegende Untersuchung von Interesse sind. Das Zentenarium hat erwartungsgemäß eine Reihe von Spielfilmen, TVDokumentationen und TV-Miniserien hervorgebracht, die die Gewaltgeschichte des Krieges entlang bestehender Bild- und Erzähltraditionen ausrichten und mit Desideraten und Erwartungshaltungen gegenwärtiger Akteure ausstatten. Anstatt einer Aufzählung der einzelnen Produktionen und Thematiken soll die Darstellung einer kurzen Sequenz aus Fatih Akins THE CUT dazu dienen, einige Entwicklungslinien der filmischen Darstellungsweisen während des Zentenariums zu umreißen. Akins Film erzählt die Geschichte des Genozids an den Armeniern als eine ins Globale gewendete Odyssee von Gewalt, Flucht und Heimkehr. Der armenische Hauptcharakter Nazaret (Tahar Rahim) besucht am zentralen Wendepunkt des Films – nachdem er von seiner Familie getrennt, aus seinem Heimatdorf vertrieben wurde und die Arbeit in einem Zwangsarbeitskommando nur mit Glück überlebte – ein Freilichtkino. Dort sieht er, etwas unzeitgemäß, Charlie Chaplins THE KID. Die anrührende Darstellung des Hauptdarstellers, der sich des Waisenkindes annimmt, erwecken in Akins Protagonisten Gefühle des eigenen Verlustes, von Weinen und Lachen, die er unter den Bedingungen von Vertreibung und Genozid verloren hatte. Nach der Vorstellung erfährt Nazaret, dass seine Töchter noch am Leben sein könnten und er macht sich auf die Suche nach ihnen. Damit beginnt eine grenzüberschreitende Reise, deren Gegenstand weniger die

Kapitelübersicht

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unmenschlichen Bedingungen eines industriell geführten Krieges als die Untersuchung und Verarbeitung seiner Folgen sind. Die Suche, der gleichsam ein therapeutisches Moment eingeschrieben wird, nimmt als filmisches Motiv in einigen Zentenariumsproduktionen wie FRANTZ, THE WATER DIVINER (DAS VERSPRECHEN EINES LEBENS) oder THE CUT eine zentrale Stellung ein. Sie dient dem Aufspüren, Erinnern und Durcharbeiten von Gewaltgeschichte und wird nicht selten mit der Möglichkeit eines Neubeginns verknüpft. Gemeinsam ist den Produktionen mit anderen Filmen des Zentenariums wie TESTAMENT OF YOUTH, 1915, THEEB, FRANTZ, AU REVOIR, LÀHAUT (SEE YOU UP THERE) oder LES GARDIENNES (THE GUARDIANS), dass sie den Blick auf die Verarbeitung der Kriegserfahrungen richten und dabei Teile der Zivilbevölkerung in den Vordergrund treten, die oft genauso hart vom Krieg betroffen waren wie die Soldaten an der Front. Eine solche Ausweitung des Blickes geht weit über pazifizierende Opfererzählungen hinaus. Vielmehr finden Reflektionen darüber statt, wie das Erleben an der Heimatfront sich mit der Fronterfahrung verbindet (TESTAMENT OF YOUTH), welche gesellschaftlichen Transformationen und Langzeitfolgen mit Gewalterfahrungen einhergehen (14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS, WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES, LA FIN DES OTTOMANS/DAS ENDE DES ERHABENEN STAATES) und wie geschlechtsspezifische Wahrnehmungen und Rollenzuweisungen eine quantitativ und qualitativ neue Bedeutung annehmen (THE CRIMSON FIELD, ANZAC GIRLS, LETTERS FROM BAGDAD). Schließlich gelangt – wie schon dem vorangestellten Beispiel zu entnehmen ist – die genozidale Gewalt gegen die Armenier in gleich vier Produktionen (THE PROMISE; THE OTTOMAN LIEUTENANT; 1915) auf die Leinwand.

Kapitelübersicht Im ersten Kapitel wird die Entwicklung von Darstellungen des Ersten Weltkrieges im Kontext des Kriegsfilmgenres besprochen. Es werden filmgeschichtliche und genretypische Charakteristiken der Produktionen zum Ersten Weltkrieg herausgearbeitet, die mit der erinnerungskulturellen Behandlung von Gewaltgeschichte verknüpft werden. Woran erkennen Zuschauer_innen, dass ein Film in der Zeit des Ersten Weltkriegs angesiedelt ist? Welche Genremuster und Ikonografien haben sich für dessen Darstellung etabliert? Eine schwerpunktmäßige Betrachtung liegt auf Produktionen zwischen 1989 und 2013. Diese Periode nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und vor dem Beginn des Zentenariums wurde bislang noch nicht systematisch untersucht. Der analytische Fokus richtet sich dabei auf die filmische Kodierung von Traumata und deren narrative Funktionen bei der Erinnerung von Gewaltgeschichte.

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Einleitung: Trauma als Geschichte

Das zweite Kapitel des Buches legt den historiografischen Grundstein für den regionalen Vergleich der ‚Urkatastrophe‘ des Großen Krieges in Europa mit den Ereignissen im ehemaligen Osmanischen Reich. Mit dem Kriegseintritt der Osmanen auf Seiten der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn wird ein historisches Ereignis beleuchtet, das erinnerungskulturell erstaunlich wenig Beachtung gefunden hat, obwohl seine Auswirkungen – die unter anderem zur Entstehung des modernen Nahen Ostens führten – von erheblicher Bedeutung sind. Kein Film erzählt die Geschichte des verhängnisvollen Bündnisses zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich. Das historiografisch-erinnerungskulturell angelegte Kapitel fokussiert die Periode des Kriegseintritts und fragt nach den Gründen für die ausbleibende Repräsentation und Memoralisierung. Das dritte Kapitel wendet sich den Zentenariumsproduktionen zwischen 2013 und 2018 zu und stellt die filmischen Neuerungen und Umschreibungen der Weltkriegserinnerung heraus. Im ersten Unterkapitel werden mit THE PROMISE, THE OTTOMAN LIEUTENANT, 1915 und THE CUT eine Reihe von fiktionalen Filmen zum Genozid an den Armeniern betrachtet. Der Genozid war bislang aufgrund einer umstrittenen Historiografie nur sehr eingeschränkt in international distribuierten Filmen dargestellt worden, so dass die Häufung der Produktionen eine durch das Zentenarium begünstige Neuerung darstellt. Es werden die historiografischen und erinnerungskulturellen Distinktionslinien der teilweise gegensätzlichen Filmnarrative herausgearbeitet. Das Unterkapitel bespricht die einzelnen Produktionen und zeigt auf, wie sehr der Kampf um die kulturelle und historiografische Hegemonie der Gewaltgeschichte über den Bezug zum USamerikanischen Publikum und Markt ausgetragen wird. Als weitere Neuerung im Rahmen des Zentenariums lässt sich eine ‚Feminisierung der Weltkriegserinnerung‘ ausmachen. Diese äußert sich zunächst auf der Produktionsseite in einem erhöhten Anteil von Filmen, die auf Regisseurinnen, Drehbuchschreiberinnen oder biografischen Werken von Frauen zurückgehen. Deren Darstellungsweisen des weiblichen medizinischen Personals hinter der Frontlinie oder von Arbeiterinnen an der Heimatfront akzentuieren eine andere Perspektive auf die Gewaltgeschichte des Krieges, die mit anderen Formen der Kodierung von Trauma einhergeht. Es wird darüber hinaus danach gefragt, ob mit den Filmen ebenso eine Überwindung des männlichen Blicks verbunden ist oder ob es bei einer thematisch genderspezifischen Erweiterung bleibt. Das anschließende Unterkapitel wendet sich der französischen Kinotradition im Zentenarium zu, das mit vier international distribuierten Produktionen deren reiche Filmgeschichte fortsetzt. Die Filmhandlungen akzentuieren das Kriegsgeschehen an der Heimatfront während des Kriegs oder unmittelbar danach und lassen sich als kritische Erinnerungsgeschichten verstehen, die klas-

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sen- und genderförmige Themen verfolgen. François Ozons FRANTZ setzt ein Ausrufezeichen im Umgang mit der traumabehafteten Gewaltgeschichte des Krieges, indem er der Adaption von Ernst Lubitschs LULLABY aus den 1930er Jahren eine neue Wendung gibt. Im vierten Kapitel werden drei dokumentarische TV-Produktionen von Aljazeera Englisch untersucht. Mit dem 2006 gegründeten Ableger des in Katar ansässigen arabischen Mutterkonzerns betritt ein neuer Akteur die medienpolitische Bühne. Dessen nachrichtenpolitischer, aber auch historiografischdokumentarischer Anspruch besteht in der Repräsentation des „global south“ (Figenschou 2014) und der arabischen Länder. Die dreiteilige TV-Miniserie WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES beleuchtet die nordafrikanische, arabische sowie osmanisch-türkische Perspektive des Krieges und gibt einen Ausblick auf die Entstehung des modernen Nahen Ostens mit seinen fortbestehenden Konflikten. Diese Betrachtung wird durch die ereignisgeschichtlichen Dokumentationen SYKES-PICOT. LINES IN THE SAND und BALFOUR DECLARATION AT 100: SEEDS OF DISCORD des Senders ergänzt. Es zeigt sich, dass der Erste Weltkrieg in den untersuchten Produktionen keine geringere historische Zäsur als in den europäischen Filmen darstellt, nur dass sich dessen historiografische Komponenten erheblich unterscheiden. Das Kapitel arbeitet die historiografischen Differenzen heraus und fragt danach, ob die Inszenierung der erinnerungskulturellen Zäsur die Gestalt eines kulturellen Traumas annimmt. Zum Abschluss des Kapitels wird die jordanisch-englische Kinoproduktion THEEB betrachtet. Diese erzählt vom verheerenden Einfluss des Krieges auf die Region in Form einer Coming-ofAge-Parabel eines Beduinenjungen. Die Filmparabel lässt sich als Einschreibung eines regionalen kulturellen Traumas auslegen und wird in dieser Hinsicht kurz mit David Leans Klassiker LAWRENCE VON ARABIEN verglichen. Das fünfte Kapitel analysiert einige Produktionen des ‚europäischen Kultursenders‘ Arte. Die TV-Miniserien 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS und LA FIN DES OTTOMANS (DAS ENDE DES ERHABENEN STAATES) werden wie die vorher besprochenen Aljazeera-Produktionen auf die Konstruktion transnationaler Narrative und die Ausprägung kultureller Traumata befragt, zumal beide Sendeanstalten ein explizit internationales Publikum adressieren. Ein kurzer Exkurs zu deutschen TV-Produktionen rundet die europäische Betrachtung der Zentenariumsproduktionen ab. Das Kapitel endet mit einer Untersuchung von Peter Jacksons THEY SHALL NOT GROW OLD, der aufgrund seine Premiere im Oktober 2018 als filmischer Schlusspunkt der Zentenariumsproduktionen gelten kann. Das abschließende Kapitel legt dar, wie die Filmsprache des kulturellen Traumas sich in die Verarbeitung von Gewaltgeschichte einfügt und dabei bestehende Erinnerungsformen und Memorialtraditionen fort- und umschreibt. Anhand der

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Einleitung: Trauma als Geschichte

Untersuchungsergebnisse wird diskutiert, inwiefern sich die ästhetische und narrative Kodierung von Trauma als Ausprägung einer moralischen Grammatik der Erinnerung verstehen lässt, die die filmische Verarbeitung von Gewaltgeschichte in ein neues Licht rückt. Dabei entpuppt sich die Anwesenheit von filmischen Geistern und Gespenstern als eine erinnerungskulturell und gesellschaftlich notwendige Fiktion.

1 Der Erste Weltkrieg als Genrekino Le cauchemar … les rêves … La vie … la guerre … Les morts … et les vivants … Je ne sais plus!.. Jʼaccuse! JʼACCUSE, Abel Gance – FR 1919

Was unterscheidet die Darstellung des Ersten Weltkrieges von anderen Kriegsfilmen? Woran erkennt man, dass ein Film zur Zeit des Ersten Weltkriegs spielt? Das ikonografisch hervorstechendste Motiv sind zweifelsohne die Gräben, in denen die Soldaten sich verschanzen, auf und ab rennen, auf dem Boden kauern, um sich vor Beschuss zu schützen, Angriffsbefehle gebellt werden oder man miteinander eine Zigarette teilt. Der von oben mit dem Kamerakran gefilmte Überblick über den Grabenkrieg, wie er erstmals in ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (IM WESTEN NICHTS NEUES) zum Einsatz kam, oder die Kamerafahrt durch den Graben selbst, wie sie stilbildend in Stanley Kubricks PATHS OF GLORY (WEGE DES RUHMS) verwendet wurde, haben das Motiv fest in die Sehgewohnheiten von Generationen von Kinogängern und Fernsehzuschauern eingeschrieben. Dabei spielt es zunächst keine große Rolle, ob die Soldaten deutsche Pickelhauben oder die suppenschüsselartigen britischen Helme tragen. Gegen Ende des Krieges sollten auch die deutschen Soldaten mit einem Stahlhelm ausgestattet werden, der die durch kriegstechnischen Fortschritt hervorgebrachte Angleichung versinnbildlicht. Dem Motiv des Grabenkrieges ist eine Szene zugeordnet, die es mit einem erinnerungskulturell noch bedeutsamerem, weil wertenden Narrativ verbindet. Ein Soldat klettert aus dem Graben und wird, noch bevor er losrennen kann, erschossen. Das ikonografische Motiv wurde in Klassikern des Genres wie WESTFRONT 1918, WEGE DES RUHMS oder GALLIPOLI ausgebildet und setzt sich bis in die Zentenariumsproduktionen hinein ungebrochen fort. Der französische Filmtheoretiker Pierre Sorlin hat neben dem Grabenkampf zwei weitere kinematografische Stereotype identifiziert, die bereits in Filmen der frühen 1930er Jahre wie IM WESTEN NICHTS NEUES (US 1930), WESTFRONT 1918 (DE 1930), JOURNEYʼS END (GB 1930), DIE ANDERE SEITE (DE 1931) oder LES CROIX DES BOIS (HÖLZERNE KREUZE, FR 1931) ausgeprägt wurden. Diese beinhalten den allgegenwärtigen Stacheldraht, in dem sich die kämpfenden Soldaten oder Nachtpatrouillen verfangen sowie die verwüstete Landschaft des Schlachtfeldes selbst. Die drei bildlichen Motive fügen https://doi.org/10.1515/9783110654431-002

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1 Der Erste Weltkrieg als Genrekino

sich unter dem Topos des Niemandslandes zum Landschaftsstereotyp des Großen Krieges zusammen. Das Niemandsland bezeichnet die Zone zwischen den Schützengräben, in der im wörtlichen Sinn kein Mensch leben kann. Die Bezeichnung hat sich sprachlich im Englischen [No-Man’s-Land; M.E.] und im Deutschen eingeschliffen und unterstreicht die tiefliegende Verankerung in den jeweiligen Gedächtnissen (Abb. 1).1

Abb. 1: IM WESTEN NICHTS NEUES – Maschinengewehrseinsatz im Niemandsland. Die neue Waffengattung des Maschinengewehrs führt den Angriffskrieg ad absurdum. Die frühen Filme etablieren dieses Motiv, indem sie die Kampfhandlungen aus der Position des Schützen präsentieren, der die heranstürmenden Soldaten reihenweise niederstreckt.

Sorlin macht darauf aufmerksam, dass diese Stereotype nicht als falsche – da sie nur eine eingeschränkte Realität zu einer bestimmten Phase des Krieges bezeichnen – sondern eher als begrenzende Faktoren in der Darstellung der Kriegshandlungen verstanden werden sollten (Sorlin 1999, 22). Die ikonografischen und narrativen Stereotype des Krieges haben sich in filmgeschichtlicher und erinnerungskultureller Hinsicht als genreprägend ausgewirkt und werden von den Regisseuren dazu genutzt, ihre jeweilige Geschichte zu entfalten. In narrativer Hinsicht (Abb. 2)

1 Im Französischen wird der englischsprachige Ausdruck verwendet, was darauf hindeutet, dass der überwiegend auf französischem Territorium ausgetragene Krieg an der Westfront dort kaum als Niemandsland bezeichnet werden konnte.

Was unterscheidet die Darstellung des Ersten Weltkrieges

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Abb. 2: WESTFRONT 1918 – Tod im Stacheldrahtverhau. Lange Einstellungen zeigen die Kampfhandlungen im Stacheldrahtverhau des Niemandslandes, bei dem die Soldaten meist zu Tode kommen.

stellt Sorlin eine Differenz zu Filmen über den Zweiten Weltkrieg heraus, die für die Ausprägung der Genrekonvention ebenfalls von großer Bedeutung ist. Während in Filmen zum Zweiten Weltkrieg die Geschichte häufig durch einen Überlebenden – rückblickend – erzählt wird, enden die genannten Filme mit dem Tod aller Protagonisten. Sorlin meint gar, dass die frühen Filme auf dominante Charaktere zugunsten der Gruppeninszenierung verzichten, was man im Hinblick auf die Rollen von Paul (Lewis Ayres) in IM WESTEN NICHTS NEUES oder Karl (Gustav Diessl) in WESTFRONT 1918 sicher anzweifeln kann. Erinnerungskulturell verbindet sich der Tod der Gruppe mit der Thematik ‚der verlorenen Generation‘, die sich in der Nachkriegszeit schnell ins Standardrepertoire der Kriegserzählungen eingliederte (vgl. Schneider/Leineweber/ Stillke 2000; Elm 2008, 50). Von dieser Thematik ist es nur noch ein kleiner Schritt zu dem Motiv der Sinnlosigkeit des Krieges insgesamt. Das derart gezeichnete Geschichtsbild beschränkt sich auf die Darstellung der Kämpfe an der Westfront, die allerdings lange als pars pro toto für den Krieg insgesamt standen. Eine ins populäre Gedächtnis ausstrahlende filmgeschichtliche Veränderung der Darstellung anderer Kriegsschauplätze tritt erst mit David Leans LAWRENCE OF ARABIA (LAURENCE VON ARABIEN) und Anfang der 1980er Jahre mit Peter Weirs GALLIPOLI ein. Die Kämpfe an der Ostfront, in Afrika und Asien, die militärisch

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stärker den Strategien von Bewegungskriegen folgten, fanden demgegenüber kaum Repräsentationen. Das Kriegsfilmgenre wurde insgesamt stark durch die frühen Filme zum Ersten Weltkrieg beeinflusst. Das ist angesichts der gleichzeitigen Entwicklung des Mediums Film mit den Kriegsereignissen kaum weiter verwunderlich. Ebenso machten Staat und Militär sich die bewegten Bilder für ihre Propagandazwecke zunutze, wie die englische und deutsche Bebilderung der Somme-Schlacht von 1916 verdeutlicht (vgl. Georgen 2009; Rother 1999, 220‒222). In deutschen Kultur- und Politikkreisen fühlte man sich in der Entwicklung von medialer Propaganda den verfeindeten Angelsachsen unterlegen und führte das Argument bereits kurz nach dem Krieg als einen Grund für die erlittene Niederlage an (vgl. Schivelbusch 2001, 257; Piper 2014, 205‒206). Das vermeintliche Fehlen einer ausgearbeiteten Propaganda wurde für die angeblich mangelnde Unterstützung durch die Heimatfront verantwortlich gemacht. Hitler und Goebbels sollten daraus die Konsequenz ziehen und die Propaganda zum Staatsinstrument perfektionieren (vgl. Schivelbusch 2001, 256‒274). Der Erste Weltkrieg war aber auch im Kino jene ‚Urkatastrophe‘, für die eine filmische Sprache gefunden werden musste. Das lässt sich an ganz frühen Produktionen wie Abel Gance JʼACCUSE, Rob Reiners NERVEN oder Charlie Chaplins SHOULDER ARMS ablesen. Diese, teils noch während des Krieges begonnenen Filme, kündigten auf ganz unterschiedliche Weise etwas Unerhörtes an. Die Nervosität der Moderne mit ihrem Hang zu selbstdestruktiven Akten hatte hier ihren ersten großen Auftritt. Die Themen von Erschütterung, Schock und Trauma begleiten die Filme von Anfang an und reichen weit über die Fronterfahrung hinaus. Mit der Einführung des Tonfilms Ende der 1920er Jahre konnte endlich der ohrenbetäubende Lärm der Materialschlachten den Zuschauern als ein neues Element des filmischen Realismus entgegentösen und die stummen Filme wurden – zum Bedauern manch ihrer Liebhaber_innen2 – von ihren theatralisch träumerischen Bildwelten erlöst. In Gances noch stummem, aber poetisch bildgewaltigem JʼACCUSE spielt das Verhältnis zur Heimatfront und der durch die beiden Soldaten Jean Diaz und François verehrten Geliebten eine größere Rolle als der Kampf an Front. Die Verarbeitung – oder Nicht-Verarbeitung – der Kriegserfahrung, die den Hauptprotagonisten in den Wahnsinn treibt und die Frage nach dem Umgang mit Schuld und Verantwortung sind zentrale Themen der filmischen Erzählung. Da der Film, der noch zu Kriegszeiten begonnen wurde, viel von dem vorwegnimmt, was sich im zwanzigsten Jahrhundert erinnerungsgeschichtlich zutragen sollte, lohnt sich ein kleiner Rückblick. Die vermutlich berühmteste Szene des

2 In Bezug auf die Bedeutung dessen für die Entwicklung Filmtheorie vergleiche insbesondere die wunderbar geschriebene Kinotheorie von Heide Schlüpmann (2002).

Was unterscheidet die Darstellung des Ersten Weltkrieges

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Films, als sich die Toten vom Schlachtfeld erheben und in die französische Ortschaft zurückkehren, um die Lebenden danach zu fragen, ob sie ihnen die Ehre erwiesen und ein ihres Opfers würdiges Leben geführt haben, bringt die Motive von Trauer, Schuld und Verantwortung mit dem Erinnern zusammen (Abb. 3).

Abb. 3: JʼACCUSE. Die Toten erheben sich von den Schlachtfeldern, um die Lebenden nach dem Wert ihres Opfers zu befragen. Die berühmte Szene aus Abel Gances JʼACCUSE inszeniert durch seine Nachkolorierung ein surreal anmutendes Geistermotiv, das angesichts hunderttausender vermisster Soldaten allein in Frankreich eine Wirklichkeit bezeichnete, die ebenso real war wie der konkrete Tod selbst.

Es überrascht wenig, dass in der Szene keiner der Lebenden dieser Prüfung gerecht zu werden vermag und dem Überleben ein Element von Schuld zugewiesen wird. Der millionenfache Tod wird als Überwältigungserfahrung ins kollektive Gedächtnis der Nachkriegsgesellschaft eingeschrieben, was einer traumatischen Kodierung der Kriegsgeschichte gleichkommt. Hauptdarsteller ist der Soldat Jean Diaz (Romuald Joubé), der selbst am Krieg irre geworden ist. Er fungiert als Wächter der Toten und überbringt den Hinterbliebenen die Einladung zur Ortsversammlung mit den Gefallenen. In der Schluss-Szene betritt Jean seine alte Wohnung und ruft den Namen des Mannes, der er war, in der Hoffnung, sein früheres Ich mit den Kriegserlebnissen zu konfrontieren. Die dargestellte Dissoziation seiner Persönlichkeit, die heute zweifelsohne als Bebilderung einer posttraumatischen Reaktionsbildung bezeichnet würde, wird in den Zwischentiteln als ein Verrücktwerden [fou; M.E.]

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benannt. Das Trauma hat als psychologisches und erinnerungskulturelles Motiv noch nicht den Platz des Wahn-Sinns eingenommen. Ästhetisch und erzählerisch sind mit der surreal anmutenden Bebilderung und der offenkundigen Dissoziation des Hauptcharakters aber bereits alle Anlagen der Inszenierung von Trauma vorhanden. Der amerikanische Kulturhistoriker Jay Winter hat eine solche Persönlichkeitsdissoziation, wonach der Protagonist sein früheres Leben nicht mehr mit dem Leben nach dem Krieg verbinden kann, als grundlegende Definition eines Kriegstraumas bezeichnet (Winter 2006, 53).3 Und in der Tat kann erinnerungskulturell eine solche Kodierung von Trauma als stilbildend für die Inszenierung des Großen Krieges angesehen werden. Das Motiv findet sich ebenso in IM WESTEN NICHTS NEUES oder WESTFRONT 1918 und wird in Zentenariumsproduktionen wie TESTAMENT OF YOUTH oder FRANTZ an prominenter Stelle aufgegriffen. Die Inszenierung der Dissoziation erfolgt zumeist, wenn die Protagonisten von der Fronterfahrung zurück nach Hause kommen und mit dem Unverständnis ihrer nächsten Angehörigen oder den Requisiten ihrer alten Identität konfrontiert werden. Diese treten ihnen als fremd gegenüber. Die dissoziative Erfahrung, die Jeans Charakter durchläuft, endet aber nicht einfach mit der Abspaltung des alten Selbst vom neuen. Jean findet den Gedichtband – Les Pacifiques – aus dem er seiner verstorbenen Mutter in schönen Stunden vorlas. Sein neues Selbst zerreißt wütend die nun als wertlos empfundene Dichtung. Für eine am Zweiten Weltkrieg orientierte Erinnerungskultur wie die Deutsche wird damit das von Theodor W. Adorno geprägte Diktum einer Kulturkritik nach Auschwitz evoziert. Adorno hatte mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Ermordung der europäischen Juden ein ähnlich schroffes Urteil über die Vorkriegskultur getroffen (vgl. Adorno 1975, 65), das er in der Negativen Dialektik geringfügig korrigierte. Die Kultur, die den Krieg nicht verhindern konnte, hat ihre autonome Stellung und zivilisierende Kraft eingebüßt. Sie ist mitschuldig, zu „Müll“ geworden (Adorno 1992, 359; Elm 2008, 92‒93). Abel Gance steigert das kulturkritische Element der Schluss-Szene noch, indem er den ehemaligen Dichter kurz Einhalt gewähren lässt, bevor er seinem liebsten Gedicht ‚Ode au Soleil‘ (Abb. 4)

3 Winter weist auf die Ausnahmestellung hin, die Gances Film in der Geschichte des Propagandafilms einnimmt. JʼACCUSE wurde zwar von der französischen Armee beauftragt, seine Anklage [Jʼaccuse, M.E.] richtet sich aber nicht nur gegen den deutschen Feind, sondern ebenso gegen den Krieg, an die Sinnhaftigkeit der Opfer, die Verantwortung der Überlebenden sowie schließlich die Kultur, die ihn nicht verhinderte. Winter vermutet, dass die Beteiligung des französischen Veteranen Blaise Cendrars am Filmprojekt entscheidend zu dieser kriegskritischen Wendung beigetragen hat. (Vgl. Winter 1995, 133‒136).

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Abb. 4: JʼACCUSE. Jean Diaz (Romuald Joubé) ist am Krieg irre geworden. Er kann keine Verbindung mehr mit seinem Vorkriegs-Ich aufnehmen. Der in die Ferne gerichtete Blick findet keinen Halt an den lebensweltlichen Horizonten. Die Inszenierung bebildert einen Moment des Zögerns, bevor er seine frühere Dichtung zerreißt. Seine Anklage ist so allumfassend, dass sie ihn unweigerlich selbst mit in den Abgrund zieht.

zu Leibe rückt. Es ist absehbar, dass die Vernichtung dieses Gedichtes auch das Ende des Protagonisten mit sich bringen wird. Jean klagt selbst die Sonne an, die unbarmherzig weiter auf die Erde strahlt, als ob nichts geschehen sei und fällt dann tot zu Boden. Man kann diese letzte Szene unterschiedlich auslegen. Zweifellos nimmt sie durch die Grenzenlosigkeit der Anklage, die Extreme der politischen Antworten vorweg, die viele der Zeitgenossen angesichts des Untergangs der alten Systeme finden werden. Wenn alle Werte verfallen sind, wird alles möglich. Umgekehrt wohnt der Anklage jener kritische Funke inne, der den Ausgangspunkt jeder grundlegenden Untersuchung einer mitschuldig gewordenen Kultur und Gesellschaft bildet. Dieser Funke sollte im zwanzigsten Jahrhundert als Selbstkritik der Moderne von zahlreichen Intellektuellen entfacht werden. Knapp 20 Jahre später realisierte Gance eine Neuinszenierung seines überaus erfolgreichen Films, die am Vorabend eines weiteren großen Krieges allerdings – wie Jean Renoirs LA GRANDE ILLUSION – die revanchistische nationalsozialistische Aggression nicht mehr aufhalten konnte. Nicht zuletzt aufgrund von Filmen wie JʼACCUSE weicht die hier vorliegende Fassung des Kriegsfilmgenres von einer engen Definition, die sich auf „den Kampf zwischen Soldaten im Rahmen historisch verbürgter Kriege des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts“ (Hißnauer 2013, 168) beschränkt, explizit ab.

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Der erste totale4, das heißt alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte mobilisierende Krieg (vgl. Janz 2013, 10) lässt sich ohne den Einbezug der Heimatfront ebenso wenig verstehen, wie moderne Kriege insgesamt nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern ebenso in den Köpfen und auf den Bildschirmen, in den Fabriken und der Landwirtschaft stattfinden und mit neuen Kommunikations-, Verkehrs- und Transportmitteln ausgetragen werden. Im Medium Film wurde die ganze Bandbreite der kriegsrelevanten Themen von Anfang an behandelt und dargestellt.

Genremuster des Ersten Weltkrieges – Eine erinnerungskulturelle Fassung Das nachfolgende Schema soll helfen zu verstehen, wie die verschiedenen Fachdisziplinen und diskursiven Systeme von Historiografie (historische Referenzialität), Kino- und Filmwissenschaft (Narrativierung und filmische Referenzialität) sowie Erinnerungsforschung und Genretheorie (kulturelle Gedächtnisse und kommerzielle Vermarktungserwartung) zur Ausprägung von Genremustern und Superzeichen des Großen Krieges beitragen. Dazu werden den historischen, kriegsspezifischen Themen dramaturgische Konfliktkonstellationen zugewiesen, die der filmischen Narrativierung von Geschichte dienen (vgl. Stutterheim 2011 und 2013). Die Konfliktkonstellationen dramatisieren die historischen Themen derart, dass sie daraus spannungsgeladene Geschichten machen, die in den Filmen visuell entfaltet werden. Man kann dabei an Standardmotive des Kriegsfilmgenres wie das Bootcamp, der erste Kampfeinsatz/Feuertaufe, die Darstellung von Grenzerfahrungen wie Töten, Verwundung und Sterben oder die enge Gemeinschaft der Truppe als Bruderschaft des Krieges denken. Diese allgemeinen Motive nehmen mit Bezug auf den Ersten Weltkrieg eine spezifische Ausprägung an, aus denen die Genremuster und Superzeichen (vgl. Elm 2008, 289; Erll 2017, 159‒162) des Großen Krieges hervorgehen. Zur Veranschaulichung soll eines der bedeutendsten Motive des Kriegsfilmgenres, die ‚Bruderschaft des Krieges‘ herausgegriffen werden. Es dient normalerweise vor dem Hintergrund nationaler Heterogenität dazu, die Probleme bei der Etablierung einer Gruppe von Männern – und zunehmend auch Frauen – darzustellen. Man kennt die Szenen, in denen Soldaten verschiedener sozialer

4 Nach Ian Kershaw wurde der Ausdruck vom totalen Krieg 1917 durch die französische Presse als ‚la guerre totale‘ geprägt und bezog sich damals schon auf die geteilte Kriegsanstrengung von Heimatfront und Frontlinie (vgl. Kershaw 2015, 45).

Genremuster des Ersten Weltkrieges – Eine erinnerungskulturelle Fassung

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oder regionaler Herkunft sich zunächst wie Fremde begegnen, um in einem häufig grobhumorigen Prozess wiederholter Auseinandersetzungen zueinander zu finden.5 Die Protagonisten müssen ihre individuellen Unterschiede aus dem Zivilleben aufgeben oder für die Gruppe nutzbar machen, um angesichts der Ausnahmesituation des Krieges Erfolg haben zu können. Es entsteht eine verschworene Gruppe von Menschen, die bereits sind, füreinander den ultimativen Preis zu zahlen. Das filmische Standardmotiv hat einen Nachhall in der Realität soldatischer Kriegserfahrung – die dessen historische Referenzialität bezeichnet. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Samuel Hynes hält in seiner breit angelegten Studie soldatischer Selbstbeschreibungen A Soldierʼs Tale. Bearing Witness to Modern War fest: „not to an army or a nation or cause, but to a battalion, a company, a platoon. For a man adrift in alien space, his unit becomes the focus of his love and loyalty, like a family, and his feelings for it may be as strong as complex, as family feelings are“ (Hynes 1998, 10). Hynes Verweis auf die tiefe und komplexe Struktur von Beziehungen, die zwischen Soldaten im Kriegseinsatz entstehen, eröffnet ein weites Feld medialer und filmischer Repräsentationen. Bemerkenswert an seiner Beschreibung ist, dass die Soldaten im Allgemeinen trotz der jeweiligen staatlichen Propaganda eher dazu neigen, eine Gruppenethik zu entwickeln, als sich in ideologische Krieger zu verwandeln. Dieser Themenkomplex wird im filmischen Motiv der Bruderschaft des Krieges ausgehandelt. Im Kontext des Ersten Weltkrieges transformiert sich dies – wie von Sorlin anhand der Filme der 1930er Jahre beschrieben – zum Tod aller Protagonisten und einer damit verknüpften Anklage gegen die Sinnlosigkeit des Opfers, das als spezifisches Genremuster hervortritt. Die unten vorgenommene tabellarische Verknüpfung von historischer Referenzialität, dramaturgischer Konfliktkonstellation sowie den Genremustern und Superzeichen des Großen Krieges geht auf die Analysen des Filmsamples, der Untersuchung der Filme zwischen 1989 bis 2013 sowie die rezipierte filmwissenschaftliche Literatur zurück. In den einzelnen Filmbesprechungen treten diese Verknüpfungen immer wieder hervor und schaffen so ein detaillierteres Verständnis für die filmische Umsetzung der historischen Stoffe. Das tabellarische Schema von historischen Themen mit dramaturgischen Konfliktkonstellationen macht deutlich, dass das populäre Medium Film sich keineswegs einfach zugunsten kommerzieller oder unterhaltungsbezogener Zwecke von seinem historischen Gegenstand ablöst. Es zeigt vielmehr, wie Genremuster und Superzeichen auf historische Stoffe bezogen bleiben, auch wenn sie von film-

5 Idealtypisch ist das in Filmen wie WESTFRONT 1918, IM WESTEN BATTLION zu sehen.

NICHT

NEUES oder THE LOST

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A: Vorkriegsgeschichte und Kriegsbeginn – Initiation in Gewalt. Historische Referenzialität

Dramaturgische Konfliktkonstellation

Genremuster/Superzeichen WWI

 Vorgeschichte des Krieges, Ideologisierung, Mobilmachung und Casus Belli

Friedenszeit versus Kriegsbeginn

Europas letzter Sommer/ Einkreisungsparanoia, Julikrise, Kriegsbegeisterung

 Rekrutierung und Ausbildung

Ziviles versus militärisches Selbst

Ausbildungslager-Bootcamp/ Der Spieß, Das Schleifen

 Kriegsbeginn und erster Kampfeinsatz

Feuertaufe. Macht versus Ohnmacht als Teil der Kampferfahrung

Industriell geführter Krieg/ Kriegszitterer, shell shock

B: Kriegsverlauf – Anpassung und Normalisierung. Historische Referenzialität

Dramaturgische Konfliktkonstellation

Genremuster/Superzeichen WWI

 (Zwangs)-Gemeinschaft einer soldatischen Einheit

Konflikte um die Etablierung einer neuen Wir-Gruppe

Bruderschaft des Krieges/ Tod aller Charaktere

 Befehl und Gehorsam. Staatliche und klassenbezogene Militärordnung

Fremd- versus Selbstbestimmung. Militärische Rationalität versus Selbsterhaltung und common sense

Sinnlosigkeit der Opfer/ arrogante und zynische militärisch-politische Elite

 Töten und Sterben. Umgang mit ultimativen Grenzerfahrungen im Kampfeinsatz

Tötungslust und Allmacht versus Schock, Trauer, Verwundung und Ohnmacht

Erfahrung des industriellen Krieges/Grabenkampf, Stacheldraht, Gaskrieg, Niemandsland, Battle Shock, Maschinengewehr

Genremuster des Ersten Weltkrieges – Eine erinnerungskulturelle Fassung

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C: Kriegsrahmung und -ende – Mediale und Politische Einbettung des Krieges. Historische Referenzialität

Dramaturgische Konfliktkonstellation

Genremuster/Superzeichen WWI

 Der Andere – Nationale und ethnische Zugehörigkeiten

Feind versus Gegner, nationale Gemeinschaft versus Fremde, Othering

Verteidigung von Heimat und Nation/Hunne, Poilu, Tommy, Mehmet etc.

 Heimatfront – Emotionale und physische Versorgung. Ökonomische Realität eines totalen Krieges

Liebe versus Tod Unterstützung versus Verrat, Fronterfahrung versus Zivilleben

verlorene Generation/ soziales Trauma der inkommensurablen Kriegserfahrung, Kriegsarbeiterinnen

 Kriegsende und Übergang ins Niederlage versus Sieg Zivilleben Soldatisches versus ziviles Selbst, Rache versus Versöhnung

Sinnlosigkeit des Krieges/ Vertrag von Versailles, Dolchstoßlegende, SykesPicot-Abkommen, etc.

D: Nachkriegszeit – Kriegserinnerung und Rekonstruktion. Historische Referenzialität

Dramaturgische Konfliktkonstellation

Genremuster/Superzeichen WWI

 Filmisches und historisches Archivmaterial

Authentifizierung: Filmische Jetztzeit versus selbstreflexive Inszenierung

Schwarz-Weiß Ästhetik/ Grabenkrieg im Niemandsland

 Nachkriegsgeschichte und Sinnsuche.

Aussöhnung versus Revanchismus, Trauer versus Verdrängung

Suchmotiv/ KriegsvermissteUnbekannter Soldat Rückkehr der Toten

 Posttrauma/Das Nachleben des Krieges in Körper, Psyche, Kultur und Gesellschaft

Narrative und ästhetische Kodierung von Gewalterfahrung. Verarbeitung versus Reaktionsbildung

Wundmotiv-Kriegsversehrte/ gueule cassée (individuell), Kenotaph (kollektiv-staatlich), Urkatastrophe (gesellschaftlich-kulturell) Klatschmohn (Poppies)

geschichtlichen, marktförmigen und erinnerungskulturellen Aspekten durchdrungen sind. Im Verlauf der Untersuchung wurde eine Pfadgebundenheit6 der wäh-

6 Das Konzept der Pfadgebundenheit weist auf spezifische Verschränkungen von historischen Themen mit erinnerungskulturellen Formen hin (vgl. Levy 2015, 3). Durch die Betonung der

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rend des Zentenariums produzierten Filme kenntlich, die den genretheoretischen und erinnerungskulturellen Ausdruck des Zentenariumsfilms zu rechtfertigen scheint. Die Pfadgebundenheit der Produktionen räumt den historischen Bezügen keineswegs eine Priorität ein, sondern akzentuiert das Zusammenspiel der verschiedenen Betrachtungsweisen und bedingt eine konzeptuelle und temporale Ausweitung des Kriegsfilmgenres. Erinnerungskulturelle Formung und historiografische Prägung treten so nicht in ein Gegensatz- sondern in ein Ergänzungsverhältnis. Die weite Fassung des Kriegsfilmgenres ermöglicht es, Filme in die Untersuchung einzubeziehen, deren Schwerpunkt auf der Vor- oder Nachgeschichte der Kriegshandlungen liegt. Denkt man etwa an Produktionen wie DER UNTERTAN oder DAS WEIßE BAND und deren Abhandlung der Vorgeschichte des Krieges, wird deutlich, dass sie die erinnerungsgeschichtliche Vorstellung vom Krieg und den Kriegsgründen erheblich beeinflussen. Umgekehrt sind Bedeutungszuschreibungen des Krieges in Darstellungen der Nachkriegsgeschichte in DAS LEBEN UND NICHTS ANDERES, ARARAT oder FRANTZ – die teilweise kurze Rückblenden auf die Kriegszeit beinhalten – kaum weniger relevant für die Wahrnehmung des Krieges als solche Filme, die sich auf die Kriegszeit und Kampfhandlungen kaprizieren. Die vorliegende Untersuchung wählt daher eine erinnerungsgeschichtliche Konzeption des Genres, die von einer engeren filmtheoretischen Klassifizierung abweicht. Diese ermöglicht es, die historiografischen, sozial- und kulturgeschichtlichen Diskurse enger auf die Filmgeschichte zu beziehen. Hinzu kommt, dass durch die traumatheoretische Perspektive der vorliegenden Untersuchung Gewaltgeschichte nicht erst mit den Kampfhandlungen des Krieges beginnt und auch nicht mit dem letzten Schuss endet. Die filmische Kodierung eines Ereignisses als traumatisch für bestimmte Ereignisse, Personengruppen oder Gesellschaftsformationen kann als wirkungsmächtiges Instrument der Einflussnahme auf gesellschaftliche Gedächtnisse aufgefasst werden. Damit geht eine andere Temporalität für die Ausprägung und Deutung von Gewalthandlungen einher, die einem umfassenderen Verständnis der Kriegslogik sowie ihrer erinnerungskulturellen Formung gerecht werden sollen. Der Rekurs auf den Genrebegriff bietet die Möglichkeit, die Verschränkung von filmischem Narrativ, Publikumserwartungen und Produktionsbedingungen genauer zu erfassen. Das Genre prägt einerseits die Erzählstruktur der Filme, dient

Verweisungszusammenhänge tritt es sozial-konstruktivistischen Modellen entgegen, die von einer Loslösung der Erinnerung von ihrem Gegenstand ausgehen. Dies trifft teilweise auch auf das Konzept des kulturellen Traumas zu, das mit seiner strikten Trennung von individueller und gesellschaftlicher Kodierung von Leiden nicht dem hier verwendeten Ansatz entspricht (vgl. Erll 2020, 2).

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aber ebenso als Kommunikationsmittel mit dem Publikum, welche das Sehverhalten beeinflusst und Rezeptionserwartungen weckt. Zudem reicht es als Element des Produktions- und Vermarktungsprozesses über den Bereich der Rezeptionsästhetik hinaus (vgl. Kuhn/Scheidgen/Weber 2012, 17‒18). Genrekonventionen korrespondieren mit den Filmkulturen, aus denen sie hervorgehen und lassen Rückschlüsse auf geschichtliche Selbstinszenierungen zu, wie der Filmwissenschaftler Hermann Kappelhoff in einer Untersuchung zum amerikanischen Kriegsfilm angemerkt hat (vgl. Kappelhoff 2013, 191‒201). Nach Kappelhoff lasse sich der Kriegsfilm zugespitzt auf vier klassische Genre zurückführen: Western, klassischer Horrorfilm, Actionfilm und Melodrama (2012, 191), deren Affektpoetiken7 von „euphorischer Schaulust über sentimentale Rührseligkeit bis hin zu Ekel und Angst“ (Kappelhoff/Gaertner/Pogodda 2013, 14) reichen. Das Genresystem wird von den Autoren als dynamisches Kommunikationssystem aufgefasst, das nicht nur im Falle des US-amerikanischen Kriegsfilms starken Umbrüchen unterworfen ist, so dass Genremischungen heute eher die Normalität als die Ausnahme darstellen. Kappelhoff präsentiert als Zwischenresultat des Forschungsprojektes, dass im amerikanischen Kriegsfilm nach 1945 vor allem ein Gemeinschaftserleben von Zuschauerinnen und Zuschauern hergestellt werden soll. Der geschichtliche Aspekt der Handlung bilde lediglich den Hintergrund der Kriegserzählungen (Kappelhoff/Gaertner/Pogodda 2013, 12). Dies trifft auf den größten Teil der Zentenariumsproduktionen des Ersten Weltkrieges nicht zu. Eine genretheoretische Beschränkung auf die gegenwartsbezogene Funktion der filmischen Kriegserzählungen zwecks nationaler Vergemeinschaftungspraxen wäre für die vorliegende Untersuchung inhaltlich zu eng gefasst, da historische Referenzialität und erinnerungskulturelle Formung die Narrative deutlich mitbestimmen. Die filmischen Erzählungen des Großen Krieges bleiben bis etwa Ende der 1980er Jahre weitgehend national eingehegt, danach lassen sich vermehrt Produktionen finden, die sowohl die innere wie die äußere Einheit nationaler Vergemeinschaftungspraxen in Frage stellen und damit auch eine andere Publikumsadressierung vornehmen. In diesem Kontext ist anzumerken, dass die Anti-Kriegsfilme der 1950er, 1960er und 1970er Jahre wie WEGE DES RUHMS, OH! WHAT A LOVELY WAR oder KING AND COUNTRY nur wenig an der nationalen Rahmung der Erzählung rütteln. Sie führen die Klassen- und Standesunterschiede durch die Arroganz der militärischen und politischen Elite vor oder prangern durch die beschriebenen filmischen Muster den Krieg als Mittel zur Lösung politi-

7 Die Affektpoetiken artikulieren sich nach Kappelhoff in den sogenannten Pathosszenen als „Standardszenen des Genres“, die Handlungskonstellationen wie Sterbe- oder Kampfszene mit Affektbereichen wie Trauer oder Angst- und Kampflust verknüpfen (vgl. Kappelhoff 2013).

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scher Konflikte an, ziehen daraus aber nicht die Konsequenz, die Nation-Form8 selbst zu diskreditieren oder gar transnationale Alternativmodelle zu offerieren. Als Beispiel einer solchen Produktion, in der darüber hinaus die Behandlung des Traumamotives eine herausragende Rolle spielt, kann Joseph Loseys Film KING AND COUNTRY von 1964 herausgegriffen werden.

Nationale Kritik militärischer Befehlshierarchien – KING AND COUNTRY Der Film erzählt die Geschichte eines britischen Soldaten, der nach einer der fürchterlichen Schlachten im belgischen Paesschendale [Flandernschlachten; M.E.] wegen Desertion angeklagt wird. Im Zentrum der Filmhandlung steht die Vorbereitung und Durchführung des Militärprozesses gegen Private Hamp (Tom Courtenay) und die den dramaturgischen Spannungsbogen eröffnende Frage, ob sich der Soldat aufgrund eines ‚shell shock‘ von der Truppe entfernte oder einfach nur ‚kalte Füße‘ bekommen habe. Hamp war vor der Filmadaption durch Joseph Losey eine Theater- und TV-Produktion, die auf die Aufzeichnungen eines tatsächlichen Feldgerichtsprozesses zurückgeht. Nach Losey waren diese Aufzeichnungen eine Art „remembered transcript of the trial“ (Losey zitiert nach Kelly 1997, 176), die allerdings schon die Charakteristiken einer leidenschaftlichen Gerechtigkeitssuche wie das Motiv traumatischer Erinnerung aufweisen (ebd.). Zu Beginn des Films gibt es eine längere Gesprächsszene zwischen Private Hamp und Captain Hargreaves (Dirk Bogarde). Letzterer holt als pflichtbewusster Militärverteidiger vor Prozessbeginn Informationen von dem angeklagten Soldaten ein. Sprache und Habitus exponieren den Klassenunterschied zwischen den beiden Protagonisten. Durch das Herausstellen der Unterschiede tritt Hamp als einfacher Soldat hervor, der seinen Dienst bis zu den traumatischen Vorkommnissen ohne Murren ausführte. Der anfänglich arrogant wirkende Captain gewinnt ein Verständnis von Hamps sozialem Hintergrund und setzt sich im späteren Prozess leidenschaftlich für dessen Freispruch ein, auch wenn die Klassenschranken zwischen den beiden Protagonisten nie ganz fallen. In der Schluss-Szene des

8 Ich wähle hier den von Etienne Balibar geprägten Terminus der Nation-Form, weil er die Historizität nationalstaatlicher Vergesellschaftung als eine Form kollektiver politischer Selbstbestimmung herausstellt und diese in die Herrschaftszusammenhänge von Klasse und ‚Rasse‘ einbindet (vgl. Balibar 1991). Diese begriffliche Zusammenführung ist für den historischen Kontext der Durchsetzung des nationalstaatlichen Prinzip und seiner häufig ethnisch angelegten Fundierung insbesondere im Kontext des Genozids an den Armeniern, aber auch in der Diskussion um transnationale Alternativen im vierten und fünften Kapitel dieses Buches relevant. Andere, stärker kulturell-historiografisch argumentierende Ansätze sind einschlägig (vgl. Anderson 1996).

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Films – nachdem die zur Exekution abgeordneten Soldaten ihr Ziel absichtlich verfehlen – kommt es Captain Hargreaves selbst zu, das gegen seine Überzeugung verhängte Urteil zu vollziehen. Nach Loseys Kommentierung handelt der Film von der Begegnung dieser durch einen Klassengegensatz gekennzeichneten Perspektiven: In which the officer is educated by the boyʼs simplicity. So that when that pistol, that coup de grâce [kursiv im Original], has to be fired at the end, in a sense Hargreaves is ending his own life as well as the boyʼs. Like the man who wrote Hamp, he will never be able to get that out of his system. (Losey zitiert nach Kelly 1997, 178)

In der Intention des Regisseurs setzt sich somit das vom einfachen Soldaten erlittene Trauma – vermittelt über eine unbarmherzige Militärjustiz, die die Interessen der herrschenden Elite verkörpert ‒ in der unauslöschlichen Erinnerung des Offiziers fort. Und in der Tat gelingt dem Film eine eindrückliche Inszenierung persönlicher Entscheidungszwänge innerhalb einer militärischen Disziplinierungsstruktur, die die Belastungen soldatischer Kriegserfahrung nur unzureichend berücksichtigt. Die nationale Rahmung der Erzählung wird jedoch zu keinem Zeitpunkt verlassen. Damit stellt der Film bereits Mitte der 1960er Jahre ein Narrativ aus, in dem die traumatische Kriegserfahrung einen zentralen Platz einnimmt. Sie dient hier allerdings zuvorderst der Infragestellung einer kultur- und klassenspezifischen Militärordnung und des mit dieser korrespondieren juristischen und politischen britischen Regierungssystems. Letzteres kann aus Sicht der zeitgenössischen Filmzuschauer_innen als Vergangenheit angesehen werden, da es ein überkommenes, imperial-feudalistisches Gesellschaftssystem repräsentiert. Die Nation-Form in Gestalt des bürgerlich-demokratischen Staates geht unbeschädigt aus der filmischen Erzählung hervor, während das zentrale Genremuster der Bruderschaft des Krieges in der entscheidenden Exekutionsszene durch die Verweigerung der Soldaten bestätigt wird.

Filmgeschichtliche und historiografische Einschnitte Filmgeschichtlich konstatiert der Medienwissenschaftler Burkhard Röwekamp eine neue Entwicklung des Antikriegsfilms zu Beginn der 1970er Jahre. Waren zuvor entweder realistisch wirkende Bewegungsbilder9 (IM WESTEN NICHTS NEUES/WESTFRONT 1918) oder abstrakte Denkbilder (DIE KARABINIERI/WEGE DES RUHMS/IWANS

9 Röwekamp bezieht sich mit den Begrifflichkeiten des Bewegungs- und Denkbildes auf die Filmtheorie von Gilles Deleuze (vgl. Deleuze 1989 + 1990).

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KINDHEIT) zur Dekonstruktion militaristischer Gewalt verwendet worden, vollzieht sich nun ein Wandel. In einer Übergangsphase entstehen etwa seit Mitte der 1960er Jahre zunächst recht erfolgreiche kriegskritische Satiren und mit dem Anbruch der 1970er Jahre reüssiert schließlich jener erneuerte Typus Antikriegsfilm, der die bisherigen Bildtraditionen zu einer neuen Ausdrucksform verdichtet, deren mehrdeutige Vexierbilder auf Widersinnigkeiten und Unentscheidbarkeiten des Kriegssujets verweisen. Diese Vexierbilder zeigen ein verändertes ‚kinematographisches Bewusstsein‘ des Antikriegsfilms an. (Röwekamp 2011, 128)

Röwekamp hat dabei Filme wie FULL METAL JACKET, THE DEER HUNTER oder TAXI DRIVER vor Augen. Es liegt erinnerungstheoretisch nahe zu vermuten, dass die kriegskritische soziale Bewegung um den Vietnamkrieg, die nicht zuletzt medial die Kriegsbilder an die US-amerikanische Heimatfront brachte, die Eindeutigkeit des filmisch damals vorherrschen Kriegssujets mit dem moralisch gerechten Zweiten Weltkrieg zunichtemachte. Davon wurden die Darstellungen des Ersten Weltkrieges mit einiger Verzögerung und trotz erheblicher Pfadgebundenheit der beschriebenen Genremuster ebenfalls beeinflusst. Das Pendel kriegskritischer Darstellungen schlug erst in den 1980er Jahren mit der Geschichte von dem bei seiner Rückkehr an der Heimatfront verpönten Vietnamveteranen GI RAMBO (Sylvester Stallone) wieder in eine andere Richtung aus. Demgegenüber weist der historiografische Diskurs des Ersten Weltkrieges in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts andere Schwerpunkte auf, zeigt aber gerade gegen Ende der 1980er Jahre einige auffallende thematische Überschneidungen mit dem filmgeschichtlichen Diskurs. In einer systematischen Analyse der historiografischen Untersuchungsmethoden des Ersten Weltkrieges kommt der Historiker Jürgen Kocka zu folgender Chronologie: Dominierten bis Ende der 1950er Jahre politik-, militär- und diplomatiegeschichtliche Studien das wissenschaftliche Feld, so gewann in den 60er Jahren Sozialgeschichte an Bedeutung. Militärische Entscheidungen wurden nun verstärkt auf innenpolitische Konflikte bezogen. Der methodologische Zugang war „highly structural, macro-historical, and analytical“ (Kocka 2010, 104) und brachte Studien wie Gerald D. Feldmans Army, Industry and Labor sowie Eric Hobsbawms Wendung von Sozial- zu Gesellschaftsgeschichte oder den Ansatz von Fritz Fischer10 hervor. Strukturen und Prozessen wurde eine höhere Erklärungskraft als Ereignissen und Handlungen zugesprochen (Kocka 2010, 110). In den 1970er Jahren fand durch alltagsge-

10 Fischers 1961 publiziertes Buch Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914–1918 stellte insbesondere für die bundesdeutsche Historiografie eine entscheidende Weichenstellung dar, die in Bezug auf die sogenannte Kriegsschuldfrage zur Schulenbildung unter deutschen Historikerinnen und Historikern führte.

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schichtliche Betrachtungen ein Abrücken von Strukturgeschichte statt. Geschichte von Unten, dichte Beschreibungen sowie feministische Ansätze sorgten für eine weitere Ausdifferenzierung der sozialgeschichtlichen Studien. Seit den 1980er Jahren konstatiert Kocka eine Zunahme kulturgeschichtlicher und konstruktivistischer Ansätze, die die Prozesse von historischer Bedeutungsgenerierung untersuchen. Dabei komme der Diskurstheorie von Michel Foucault ein nicht unerheblicher Einfluss zu (Kocka 2010, 106). Schließlich wurde die Erinnerung selbst zum Subjekt historischer Studien. Jay Winter untersuchte die Geschichte psychischen und mentalen Leidens und deren kulturgeschichtliche Darstellungsformen (vgl. Winter 1995). Erinnerung und Gedächtnis werden im Zuge des sogenannten Memory Booms11 Gegenstand kulturwissenschaftlicher Untersuchungen, die zunehmen komparatistisch verfahren. Zur gleichen Zeit rücken Europäisierung, Transnationalisierung und Globalisierung in den Vordergrund und verdrängen die Dominanz nationalgeschichtlicher Betrachtungen. Postkoloniale Theorie und Verflechtungsgeschichte etablieren sich als methodologische Instrumentarien, während die Arbeitergeschichte marginal wird. Die Verwendung von gemischten Ansätzen, die methodologisch nicht ausschließend verfahren, entwickeln sich zum Standard historiografischer Verfahren (Winter 1995, 107).12 Obwohl man davon ausgehen muss, dass das historiografisch-erinnerungskulturelle und das filmgeschichtliche Gedächtnis nur lose synchronisiert sind, kommt es zum Ende des kurzen zwanzigsten Jahrhunderts zu einer Überschneidung in der Auseinandersetzung mit Erinnerung und Gedächtnis als filmgeschichtliche wie historiografische Themen. Die methodologische Öffnung im Bereich der Historiografie mit ihrem erinnerungskulturellen Fokus korrespondiert mit einer filmgeschichtlichen Veruneindeutigung in der Entwicklung des Kriegsfilmgenres, die die Betrachtung von Trauma und Leiden akzentuiert. Die oben beschriebene Wendung zur Anerkennung der Kriegsleiden heimgekehrter Veteranen in den Filmen zum Vietnamkrieg setzt die Trennung von Kriegsgründen und den posttraumatischen Belastungsstörungen der ehemaligen Soldaten voraus. Moderne Armeen führen psychotherapeutische Einheiten ein, die sich direkt um die Behandlung von Kriegstraumata kümmern.13 Erinnerungskulturell halten Begriffe

11 Der Memory Boom wird von Mitte der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre angesiedelt (vgl. Winter 2007). Wie in der Einleitung dieses Buches ausgeführt, kulminieren darin verschiedene Erinnerungsstränge von Gewaltgeschichte, in deren Zentrum der Holocaust an den europäischen Juden steht. 12 Ähnliche Charakterisierungen der historiographischen Entwicklung und Forschungsmethodologie zum Ersten Weltkrieg finden sich bei Arnd Bauerkämper (2014) sowie John Horne (2014). 13 Vergleiche Dan Bar-On (1998, 10).

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wie ‚perpetrator‘ oder ‚bystander‘-Trauma Einzug in den historiografischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs (Bajohr 2015; Brunner 2014) und wirken auf die Entwicklung filmischer Narrative zurück (vgl. Morag 2012 und 2013).

Der Erste Weltkriegsfilm nach 1989 Da die Phasen der Zwischenkriegszeit sowie die bedeutenden Produktionen bis in die 1970er Jahre recht gut untersucht sind (vgl. Herbst-Messlinger/Rother 2009; Kaes 2011; Kelly 1997; Paris 1999; Stiasny 2009), wird die genretheoretische Betrachtung mit Filmen ab Ende der 1980er Jahre fortgeführt. Diese wurden bislang nicht zusammenhängend betrachtet, obgleich die Vermutung nahe liegt, dass mit dem Ende der Systemkonfrontation und des Kalten Krieges sich auch die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg verschiebt. Zumal es die Oktoberrevolution von 1917 war, die dem konkurrierenden staatssozialistischen Modell zum Aufstieg half. Es ist davon auszugehen, dass das sozialistische Narrativ – das den Großen Krieg als Zuspitzung einer imperialistischen Logik des Kapitalismus ansah, der durch Befreiung vom inneren Klassenfeind und nicht dem Kampf gegen die Arbeiter anderer Nationen entgegen zu treten sei – kaum noch filmische Umsetzungen finden wird. Die entsprechende DEFA-Tradition, die auch genrekritische Filme wie DIE FRAU UND DER FREMDE hervorbrachte, dürfte einstweilen keine Fortsetzung finden.14 Der Film, der die betreffende Region und das dort entstandene staatssozialistische Regierungssystem erinnerungskulturell gerahmt hat, ist zweifelsohne David Leans 1965 realisierter DOKTOR SCHIWAGO. Im populären Gedächtnis des Westens hat die Verfilmung von Boris Pasternaks Roman das Bild des Krieges und dessen Folgen als tragisches und unheilvolles Ende einer Epoche weitgehend bestimmt. Auch wenn sich die Geschichte in weiten Teilen um den Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution dreht, deckt sie durch ihr epochales Narrativ weit mehr als nur diese Phase ab. In Leans filmischer Adaption verkörpert der tapfere Doktor Schiwago (Omar Sharif) die humanistischen und individualistischen Ideale des Bürgertums, die den ideologischen Umwälzungen der kommunistische Revolution zum Opfer fallen. Pasternaks Roman fand 2002 eine filmische Neuadaption mit Keira Knightley als Lara Antipova in der Hauptrolle. Die Starbesetzung mit Knightley verschiebt den Fokus mehr auf Laras Erleben der historischen Ereignisse, hat aber

14 Die Historikerin Susanne Brandt weist in einer filmgeschichtlichen Betrachtung der diesbezüglichen DEFA-Produktionen auf eine individualistische Unterwanderung der Kriegsthematik bei einigen der bedeutenden DDR-Regisseuren hin (vgl. Brandt 2009, 238).

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dem Klassiker von Lean wenig hinzuzufügen.15 Nahezu analog dazu hat ein anderer Film von David Lean, LAWRENCE VON ARABIEN, die westliche Erinnerung an den Nahen Osten zur Zeit des Großen Krieges geprägt. Es ist von erheblichem Interesse zu sehen, dass die beiden Gebiete, die nach Beendigung der Kriegshandlungen in Europa am meisten zu leiden hatten, durch diese Filme erinnerungskulturell eingehegt werden konnten. Offenkundig gelang es durch die epochalen Rahmungen, die räumlich distanzierten westlichen Betrachter mit geschichtsübergreifenden Narrativen auszustatten. Beide Filme kodieren die epochalen Umbrüche als kulturelle Traumata, indem ihre Hauptprotagonisten zu Tode kommen oder als unauslöschlich geschädigte dargestellt werden. Insbesondere auf LAWRENCE VON ARABIEN wird im vierten Kapitel dieses Buches noch zurückzukommen sein.

Das Motiv der Suche als antitraumatischer Verarbeitungsprozess – LA VIE ET RIEN DʼAUTRE Ein bemerkenswerter Film an der Schwelle der zeitgeschichtlichen Wende 1989 ist Bertrand Taverniers LA VIE ET RIEN DʼAUTRE (DAS LEBEN UND NICHTS ANDERES). Bemerkenswert, weil er selbst reflektierend in diese Zeit des Memory Booms am Ende der 1980er Jahre eintritt und dazu ein dramaturgisches Konzept verwendet, das sich bis in die Zentenariumsproduktionen hinein immer größerer Beliebtheit erfreuen sollte. Der Plot verdeutlich zudem, dass der Memory Boom zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts mit demjenigen kurz nach dem Ersten Weltkrieg verbunden ist.16 Die Filmhandlung wird durch das Motiv der Suche nach einem persönlichen Angehörigen in Gang gesetzt, wodurch dem retrospektiven Narrativ Authentizität verliehen wird. Zugleich dient das Motiv der Suche einer kritischen Prüfung und Verarbeitung dieser Vergangenheit und ähnelt den Stationen eines Trauerprozesses, an dessen Ende die Möglichkeit eines Neuanfangs auf-

15 Die vorliegende Untersuchung konnte die kriegsgeschichtlich bedeutsamen Regionen Ostund Mitteleuropas aufgrund der komplexen Erinnerungsgeschichte und des umfänglichen Materials leider kaum berücksichtigen (vgl. Gerwarth 2017). Es scheint filmgeschichtlich allerdings so zu sein, dass sich der Prozess des Verdrängens und Vergessens des ungeheuren Leidens in der Region fortsetzt. Mit BATTALION und THE ROAD TO CAVALRY besichtigen lediglich zwei größere russische Produktionen das Feld, wobei letzterer sich primär auf die Russische Revolution bezieht und das Kriegsgeschehen sich vorwiegend auf die im Stile eines Aktionsfilms anlegten Befreiungsversuche des Hauptdarstellers aus einem deutschen Gefangenenlager beschränkt. Auf lokalgeschichtlicher Ebene hingegen zeigen sich einige Initiativen, die dieser Tendenz entgegenwirken (vgl. Zamoiski [im Erscheinen]). 16 Jay Winter meint gar, dass das Element der traumatischen Erinnerung im Memory Boom der 1980er Jahre „by and large a product of World War I“ sei (vgl. Winter 2007, 385).

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scheint. Mit der Inszenierung dieses Prozesses geht die Kodierung der Ereignisse als traumatische einher. Der Krieg hat tiefe Wunden bei den Überlebenden hinterlassen, die in Form von Verarbeitungs- und Trauerprozessen bewältigt werden müssen. Dies beinhaltet die emotionale Loslösung von den geliebten Personen, die sich im Verlauf der Filmhandlung vollzieht. DAS LEBEN UND NICHTS ANDERES entfernt sich vom Horror des Grabenkriegs und wendet sich den Schwierigkeiten der Erinnerung von Verlust und Leid zu. Geschichtlich ist er mit einem Ereignis verbunden, bei dem die französische Regierung dem öffentlichen Druck von Angehörigen der gefallenen Soldaten nachgeben musste. Etwa 300.000 Soldaten wurden exhumiert und an ihren Heimatorten begraben (Kershaw 2015, 99‒100). Der Film erzählt mit Witz und Ironie eine Geschichte über die unmittelbare Nachkriegszeit in dem durch Krieg zerstörten französischen Orten und Landschaften. Die Hauptpersonen sind Irène (Sabine Azéma) und der Major Dellaplane (Philippe Noiret). Irene ist auf der Suche nach ihrem verschollenen Ehemann, während der Major die Identifikation der Verschollenen verantwortet. Dabei spiegeln sich Irenes persönliche Suche mit der durch die vom Major autorisierte Katalogisierung aller Vermissten französischer Soldaten. Der zentrale Konflikt der Filmhandlung zeichnet sich durch die Frage aus, wie die allgemeine staatliche Verantwortung für die Toten und das öffentliche Gedenken mit dem persönlichen Umgang von Verlust und Erinnerung zusammenfinden sollen. Dies situiert das filmische Geschehen im erinnerungskulturellen Rahmen von Kriegserinnerung und Rekonstruktion. Das staatliche, offizielle Gedenken wird einer Prüfung ausgesetzt. Die filmische Erzählung wählt als Repräsentanz der staatsoffiziellen Ebene die Suche nach dem Leichnam eines unbekannten Soldaten, der am Fuße des Arc de Triomphe als der unbekannte Soldat beigesetzt werden soll. Dieser ‒ unter anderem von Major Dellaplane angeleitete Auswahlprozess ‒ wird durch den nachlässigen Umgang der staatlichen Organe mit den übrigen Gefallenen und Irènes persönlicher Suche konterkariert. Dabei finden der penible Major und die unnachgiebige Irène durch ihr leidenschaftliches Engagement allmählich zueinander. Die Stationen ihrer Suche umfassen den Politik- und Kulturbetrieb der Nachkriegszeit ebenso wie ökonomische Interessen, die sich mit politischer Unterstützung Geltung verschaffen wollen. Eine im Krieg von der Zerstörung bewahrte Fabrik soll wieder in Betrieb genommen werden. Der Einfluss der Geschäftsinteressen und politischen Repräsentanten verkürzt die dem Major zur Verfügung stehende Zeit für seine Identifizierungsarbeit enorm. Ein Bildhauer begeistert sich für die Renaissance seines Geschäftszweiges: Ein ‚lʼage d’or‘ selbst für ‚shitty artists‘ – 300 Künstler kommen auf 35.000 Ortschaften und Dörfer, von denen jede ihr eigenes kleines Denkmal haben will (DAS LEBEN UND NICHTS ANDERES 50:30‒51:00) – und versucht, in jeder Hinsicht daraus für sich Nutzen zu schlagen. Der zynische Umgang auf der öffentlichen Ebene wird mit der ernsthaften Suche der

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Hinterbliebenen und des Majors konterkariert. Die filmische Erzählung ironisiert so öffentliche Trauerrituale als possenhafte Inszenierungen von Politik- und Geschäftsinteressen und lässt auch den memorialen Kulturbetrieb nicht gut aussehen. Die Filmhandlung selbst wird durch eine weitere Nebenfigur vorangetrieben. Die junge Alice (Pascale Vignal) verliert in einer Szene gleich zu Beginn des Films ihre Arbeit und sucht ebenfalls ihren im Feld vermissten Verlobten. Alices Charakter verkörpert die Not der Durchschnittsbevölkerung, die der Film durch die Darstellung der miserablen Wohn- und Lebensverhältnisse immer wieder in Szene setzt. Durch eine etwas gewollt wirkenden dramatische Verknüpfung erweisen sich der vermisste Liebhaber von Alice und Irènes Mann als ein und dieselbe Person. Diese Erkenntnis wird allerdings vom Major gegenüber den beiden Frauen zurückgehalten. Lediglich Alice bekommt mitgeteilt, dass ihr Geliebter bereits verheiratet war. Am Ende ist es für beide Frauen nicht mehr so wichtig, den Leichnam des Ehemanns oder den Geliebten zu finden. Sie erkennen inmitten des allgemeinen Leids und durch den Prozess ihrer Suche, dass sie sich von ihrer Vergangenheit lösen müssen und entscheiden sich für einen Neuanfang. Alice begegnet einem neuen Mann, Irène trägt dem Major ihre Liebe an. Dieser ist allerdings von der Offerte wie erstarrt und bringt die entscheidenden Worte nicht über die Lippen. Erst in einem poetischen Brief, der Irene in den USA erreicht, gelingt es ihm, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Der Schluss lässt es offen, ob die beiden nochmals zueinander finden. Das Such-Motiv fungiert als Trauer- und Abschiedsprozess und bindet geschickt historische Vorkommnisse und psychologische Verarbeitungsmechanismen17 in die Entfaltung des filmischen Narratives ein. Das nämliche Motiv kann sich aber auch – wie im nächsten Abschnitt zu sehen sein wird ‒ als ein heroisches Wiederfinden der vermissten Person ereignen, das romantisch und antitraumatisch gezeichnet ist. Die dritte, gegenwärtig gebräuchlichste Variante des Such-Motives, lässt die Charaktere als vom Verlust gezeichnete zurück (Motiv der Narbe) und verbindet den Prozess des Durcharbeitens von Gewaltgeschichte mit dem des Traumas, da die Charaktere durch diesen Prozess unwiderruflich verändert werden. Auf diese Erzählungs- und Inszenierungsstrategien wird in Zentenariumsproduktionen wie FRANTZ, THE CUT, THE WATER DIVINER oder 1915 zurückzukommen sein. Eine weitere französische Produktion UN LONG DIMANCHE DE FIANÇAILLES (MATHILDE – EINE GROßE LIEBE) von Regisseur Jean Pierre Jeunet treibt das Motiv der Suche ins Fantastische und akzentuiert den Gegensatz zwischen Heimatfront und

17 Filmgeschichtlich wurde die Verwendung psychoanalytischer Theoreme – wie der hier implizit verhandelte Abzug libidinöser Energien im Trauerprozess – bereits in den HitchcockFilmen von Mitte der 1940er bis Anfang der 1950er Jahre popularisiert (vgl. Elm 2014, 48).

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Fronterlebnis noch weiter. Die Konfliktdynamik wird durch die Geschichte von fünf Soldaten bestimmt, die sich verstümmeln, um dem Militärdienst zu entrinnen und allesamt zum Tode verurteilt werden. Die Exekution soll nicht durch französische Soldaten vollzogen werden, sondern man schickt sie unbewaffnet ins Niemandsland, wo der Feind die Erschießung erledigen soll. Der Kontrast zur Heimatfront wird durch die Hauptfigur Mathilde (Audrey Tautou) erzeugt, die den Tod ihres Geliebten nicht wahrhaben will und sich zwei Jahre nach Kriegsende auf die Suche nach ihm macht. Der Film ist gespickt mit filmgeschichtlichen Anspielungen von IM WESTEN NICHTS NEUES, WEGE DES RUHMS und anderen Filmen, die die Formung und Verarbeitung von Gewaltgeschichte thematisieren (vgl. DVD-Extra/Audiokommentar Jeunet). Ästhetisch wirken die Charaktere durch kontrastreiche Farbgebung, hyperrealistisches Close-Up, Figurenzeichnung und hohe filmgeschichtliche Referenzialität gelegentlich wie aus einer Graphiknovel. Der bildlichen Inszenierung und Filmhandlung kommen ein derealisierender Effekt zu, der das romantische und magische Element von Mathildes Suche noch verstärkt. Sicher nicht zufällig erinnert die Inszenierungsweise an Jeunets äußerst erfolgreichen Film DIE FABELHAFTE WELT DER AMELIE. Die Zuschauer werden in die Lebenswelten der Partnerinnen der fünf Verurteilten eingeführt, die aus verschiedenen sozialen Milieus stammen und den Verlust auf unterschiedlichste Weise verarbeiten. So wird durch das Motiv der Suche eine überzeichnete Form weiblicher Trauerarbeit oder Reaktionsbildung vorgeführt und zugleich eine Hommage an die Leidenschaftlichkeit französischer féminité abgeliefert, die den Krieg zum nachgeordneten Geschehen macht. Dennoch ist seine Kodierung als sinnloses Geschehen ein entscheidender Impuls der Filmhandlung, dessen Grausamkeit und Ungerechtigkeit durch einzelne retrospektive Kampfszenen noch verstärkt wird und der sich letztlich auf traumatische Art und Weise in den Körper des Vermissten eingeschrieben hat. Es scheint aufgrund der häufig weiblichen Charaktere nahezuliegen, dem Motiv der Suche ein genderspezifisches Element zuzuschreiben, allerdings findet es sich in den Zentenariumsproduktionen THE CUT, THE WATER DIVINER oder FRANTZ auch bei männlichen Protagonisten. Beide Filme, DAS LEBEN UND NICHTS ANDERES und MATHILDE – EINE GROßE LIEBE, lassen sich als im engeren Sinne als Erinnerungsfilme bezeichnen. Im Verlauf der Untersuchung stellte sich heraus, dass es eine ganze Reihe von Filmen gibt, deren erzählte Zeit nach dem Krieg angesiedelt ist, die sich aber konstitutiv auf die Ereignisse des Krieges beziehen. Diese werden im Folgenden als Erinnerungsfilme bezeichnet, wenn die Filmhandlung oder die Zeichnung der Hauptcharaktere wesentlich durch kriegsbezogene Ereignisse angetrieben wird. Dabei können diese Filme selbst Historienfilme sein, wie FRANTZ, THE CUT, THE WATER DIVINER, AU REVOIR, LÀ-HAUTE oder aus ihrer jeweilig inszenierten Gegenwart wie ARARAT oder 1915 heraus, die Zeit des Krieges erinnern. Dies erlaubt die Unterscheidung zwischen

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Erinnerungs- und Historienfilmen, die beide auf „plurimediale Weise“ (vgl. Erll/Wodianka 2008) in ein breites Netzwerk der Erinnerungsgenerierung einbezogen sind. Die hier vorgenommene Definition des Erinnerungsfilms weicht von der bei Astrid Erll und Stephanie Wodianka verwendeten ab. Diese argumentieren, dass mediale wie diskursive Erweiterungen an die Filmanalyse heranzutragen sind und es auf die soziale Aushandlung der Bedeutungsgenerierung ankomme, die dann als „Erinnerungsfilme“ (vgl. Erll/Wodianka 2008, 11) aufzufassen seien. Erst der Einbezug solcher intermedialen Texte (oder Paratexte) könne erklären, warum bestimmte Filme eine öffentliche Wirkung entfalten, während andere weitgehend ungehört verhallen. Dem soll hier keinesfalls widersprochen werden. Rezeptionstheoretisch ist es unstrittig, dass Filme nicht allein aus sich heraus ihre Wirkung entfalten. Aus genretheoretischer Sicht liegt allerdings eine begriffliche Überdeterminierung vor, da damit alle Historienfilme zu Erinnerungsfilmen werden und die oben vorgenommene Differenzierung nicht sinnvoll zu leisten wäre.18 Erinnerungsfilme tendieren strukturgemäß dazu, die Verarbeitung der Kriegsgeschehnisse an der ehemaligen Heimatfront in den Vordergrund zu rücken, während der Krieg selbst zumeist nur in kurzen Rückblenden zu sehen ist. Sie kodieren den Krieg etwa in MATHILDE – EINE GROßE LIEBE, THE WATER DIVINER oder 18 Das Konzept der plurimedialen Erinnerung weist den Vorzug auf, den Beitrag verschiedener medialer Diskursive im Kontext filmischer Generierung von Erinnerung zu reflektieren sowie deren soziale Rahmung zu beachten. Der Klassiker einer solchen intertextuellen Um- und Fortschreibung von Erinnerung ist die filmische Adaption eines historischen Romans oder einer Biografie. Heute ist angesichts von unzähligen Medienvarianten von der Museumsausstellung, über DVD- und Fernsehadaptionen, den Kommunikationsplattformen der social-media bis hin zu Computerspielen der Vergleich zum Buch als ‚die‘ Messlatte einer historischer Erzählung anachronistisch geworden. Mit dem Konzept der plurimedialen Erinnerung wurde auf diese Medienvielfalt reagiert und zurecht eine Ausweitung der medialen und sozialen Rahmung von Erinnerung vorgenommen (Erll 2012, 234). Analytisch ist jedoch keineswegs gesagt, dass es die Summe dieser intertextuellen, sozialen und medialen Verknüpfungen ist, die die Dynamik von Erinnerung bestimmt. Vielmehr müsste durch Rezeptionsforschung ermittelt werden, welche Kräfte- und Austauschverhältnisse zwischen diesen medialen Formen und ihren Nutzern existieren. Das entspricht nicht dem Ansatz der vorliegenden Arbeit, der sich primär für film- und erinnerungsgeschichtliche Diskurse im Zusammenhang mit der Entwicklung der historiografischen Forschung interessiert. Aus der erweiterten Medienvielfalt folgt keineswegs, dass weniger intertextuelle, etwa filmgeschichtliche Erinnerungslinien gänzlich an Bedeutung verlieren. Vielmehr dürften sich die diversen diskursiven und medialen Felder als relativ stabil erweisen. So ist bekanntlich das Buch als Medium und mit ihm die entsprechende Konsumentengruppe keinesfalls am Verschwinden. Filme beziehen sich für gewöhnlich vor allem auf Filme und eine genaue Kenntnis von Filmgeschichte, die für viele Regisseure inszenierungsrelevant ist, erweitert nicht nur den Deutungsrahmen der Filmhandlung, sondern erlaubt ein besseres Verständnis ihrer gedächtnisproduktiven Effekte (vgl. Ebbrecht 2011, 36‒37).

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FRANTZ als traumatisch, indem die kriegsbezogenen Szenen die Formung einzelner Charaktere und Filmhandlungen der Erzählzeit erklären. Die retrospektive Erzählhaltung der Erinnerungsfilme bedeutet allerdings keinesfalls, dass das dominierende Erzählmuster des Grabenkampfes an der Westfront und der Bruderschaft des Krieges aus den Erste Weltkriegsfilmen verschwindet. Vielmehr kommt es zu einer Aktualisierung der bekannten Motive, die der allgemeinen Entwicklung des Kriegsfilmgenres mit mehr Kriegsspektakel und plastischeren Gewaltdarstellungen nachkommen. In den Filmen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden sind, wie THE TRENCH (GB 1999), THE LOST BATTALION (US 2001), COMPANY K (US 2004), JOYEUX NOËL (FR/DE 2005), PAESSCHENDAELE (CA 2008), BENEATH HILL 60 (AU 2010), PRIVATE PEACEFUL (GB 2012), FORBIDDEN GROUND (AU/CA/NZ/GB 2013) bleibt das Narrativ des ‚sinnlosen Krieges‘ ebenso bestehen wie der heroische Kampf einzelner Soldaten und Einheiten (THE LOST, HILL 60, FORBIDDEN GROUND) gegen den äußeren Feind, der den jeweiligen nationalen Gedächtnissen seine Rechenschaft ablegt. Dennoch lassen sich in einzelnen Produktionen kleinere, aber nicht unbedeutende Verschiebungen in der Darstellung des Grabenkampfes, der Bruderschaft des Krieges sowie der Verbindung zur Heimatfront ausmachen. Diese indizieren eine Ausdifferenzierung der Gedächtnisse mit der Tendenz, die ‚nationalen Container‘ (vgl. LevyLevy, Dani/Sznaider 2001; Levy 2015) durch individualisierende und humanisierende Narrative zu erweitern oder gar zu unterwandern. Im Folgenden soll durch die Analyse einzelner Filme diese Entwicklung näher betrachtet werden.

Individualisierung nationaler Masternarrative – THE TRENCH und COMPANY C Die britische Produktion mit dem programmatischen Titel THE TRENCH (1999) variiert das Motiv der Bruderschaft des Krieges und öffnet es für individuelle Differenzen unter den jungen Soldaten, ordnet sich aber letztlich dem dominanten nationalen Erinnerungsrahmen unter. Die filmische Erzählung beginnt mit einer Reflexion medialer Kriegsinszenierungen, wenn ein Film-im-Filmverweis zu den ‚Dokumentaraufnahmen‘ des britischen Propagandafilms THE BATTLE OF THE SOMME inszeniert wird. In der ironisch konnotierten Szene müssen die Soldaten vor dem Angriff für die Kamera posieren. Der Colonel verspricht ihnen einen ungefährdeten und schnellen Sieg. Jubeln für die Kamera (THE TRENCH 35:21). Ein bissiger Kommentar von einem der Soldaten, dass der Colonel ja nicht am Angriff teilnehmen werde, wird durch den straffen Sergeant Telford Winter (Daniel Craig) später geahndet. Craig spielt den harten Hund, der die ‚boys‘ zu Männern machen muss. Überraschend ist zunächst, dass entgegen der genretypischen Inszenierung der Bruderschaft des Kriegs die Differenzen zwischen den jungen Soldaten nicht bei-

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gelegt werden. Die Truppe muss keine inneren Konflikte überwinden, um dann im Kampf zusammenstehen zu können. Man gerät in Streit über eine verschwundene Nacktfotografie, die einer der jungen Rekruten vorher seinen Kameraden gegen Geld zur Ansicht dargeboten hatte. Das unterscheidet die Erzählung von früheren Filmen, in denen bei aller Sinnlosigkeit des Opfers doch der innere Zusammenhalt der Truppe, ein Sinnangebot und Surrogat für den Verrat der militärischen und politischen Führung liefern konnte. Nur der Tod als großer Gleichmacher bleibt – wie schon von Sorlin bekundet – als narrative Grundstruktur des Genres in Kraft. Die Schluss-Szene, in der die Männer die beklemmende Enge des Grabens verlassen und die Kamera in die Totale geht, ist gleichzeitig der filmische Todesgruß für die Truppe. Sergeant Winter versichert der Hauptfigur Billy (Paul Nicholls) noch vor dem Losstürmen, dass er die Typen kenne, die durchkommen. Und Billy gehöre dazu. Der Sergeant wird getroffen, kaum dass er den Graben verlassen hat. Er stürzt zurück auf Billy und dieser wird vom Offizier der Truppe dazu gezwungen, den Angriff fortzusetzen. Danach laufen die Soldaten auf einer grünen Wiese dem unsichtbar bleibenden Gegner, aber mehr noch dem Tod entgegen. Als letzter der Truppe stirbt Billy. Beim Einschlag der Kugel gefriert das Bild vor einem weißen Hintergrund und der Film entsendet sein memento mori. Die bildliche Referenz zur Schlusseinstellung in Peter Weirs GALLIPOLI liegt bedrückend nahe. Im Abspann wird darüber informiert, dass an diesem blutigsten Tag der britischen Militärgeschichte im Juli 1916 60.000 britische Soldaten getötet oder verwundet wurden. Insofern bestätigt THE TRENCH die traumatische Erfahrung einer ‚lost generation‘, schweißt aber die Individuen nicht wieder durch das Motiv der Bruderschaft des Krieges zugunsten einer kleineren Einheit zusammen. Individualisierung und Entindividualisierung der Kriegserzählung liegen jedoch eng beieinander. Denn wenn alle sterben, spielen die vorher inszenierten Differenzen zwischen ihnen keine große Rolle mehr und können umso deutlicher hervortreten. Der Historiker John Horne hat diesen Trend zur Hervorhebung individueller Unterschiede und lokaler Besonderheiten als „variety of ‚ordinary‘ experience“ des Krieges beschrieben, der sich kulturgeschichtlich seit Ende der 1980er Jahre bemerkbar mache (vgl. Horne 2014, 638). Die Kodierung der Schlacht als kulturelles Trauma im britischen Gedächtnis verzichtet auf die Verbrüderung im Schützengraben, behält aber seine Konnotation als nationales Trauma bei. Die nur fünf Jahre später realisierte US-amerikanische Produktion COMPANY C von Robert Clem macht die individuelle Kriegserfahrung und eine damit verbundene Auflösung der Bruderschaft des Krieges zu seinem zentralen Inhalt. Der Film eröffnet mit einem Zitat aus dem Buch von William March, das ihm zugrundeliegt: „I have watched the reactions of many men to war – to pain, hunger and to death – but all I have learned is that not two men act alike, and that not one

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man comes through the experience unchanged“ (Expositionssequenz, COMPANY C). William March war ein hochdekorierter amerikanischer Marinesoldat, der Anfang der 1930er Jahre ein auf 113 Kriegsberichten fußendes Buch verfasste. Der Film adaptiert die berichtartige Erzählstruktur des Buches, indem er die einzelnen Kriegserlebnisse als aneinander gereihte Fragmente vorführt. Das weite Spektrum soldatischer Kriegserfahrung wird lediglich durch die innere Stimme des Hauptprotagonisten, die als Hintergrundkommentar dient, zusammengehalten. Das subjektiv angelegte Voice-Over umschließt die Filmfragmente durch eine genretypische Bootcamp-Szene zu Beginn und eine Schluss-Szene, in der der Hauptprotagonist und Marchs Alter Ego (Ari Fliakos) das alte Ausbildungslager besucht und feststellt, dass er sich an die Gesichter seiner Kameraden kaum noch erinnern kann. Individualität scheint hier als Thematisierung von Vergessen auf. Das Narrativ versucht sich nicht an einer inhaltlichen Einordnung der Kriegsfragmente etwa in einer Form der Kritik oder Rechtfertigung von Militärhierarchie oder Kriegszielen. In der erwähnten Schluss-Szene wird in einem inneren Monolog des Hauptcharakters ein Chor von Schreien als übergreifendes Motiv benannt, in dem die Soldaten auf unterschiedliche Weise ihr Leid herausbrüllen und so ein (Klang-) Bild des Krieges erzeugen. Ein Fragment fängt auf bemerkenswerte Weise die Langzeitstruktur und soziale Rahmung von traumatischer Kriegserfahrung ein. Es führt den unterschiedlichen Umgang mit einer illegal angeordneten Erschießung von deutschen Kriegsgefangenen durch zwei Soldaten einer US-amerikanischen Einheit vor. Während ein Soldat sich dem Exekutionsbefehl widersetzt, durchsucht ein anderer nach der Vollstreckung die Erschossen nach brauchbaren Wertgegenständen. Der Soldat, der sich der Exekution verweigerte, ist kurz darauf in einer Szene zu sehen, die nach dem Krieg angesiedelt ist. Er sitzt in einer Todeszelle und hat sich wegen der Ermordung eines Polizisten zu verantworten. Ein Priester versucht vergebens ihn dazu zu überreden, mit sich und seinem Leben ins Reine zu kommen. Die Montage der Szenen verbindet die erschütternde Kriegserfahrung mit der Nachkriegszeit und führt eine sarkastische Umkehrung von Moral vor. Es ist der als integer inszenierte Soldat, der durch den Krieg den Glauben an die sittliche Ordnung der eigenen Gesellschaft verloren hat und zum Delinquenten wird. Die Episode fokussiert die Barbarei des Krieges mit ihrer langfristigen Unterwanderung von sozialen und moralischen Standards, die weit über das Kampfgeschehen hinausreichen. Durch die neutrale, berichtartige Struktur der Erzählung werden die Zuschauer in eine Position der Zeugenschaft gesetzt, von der aus ihnen das Urteil selbst überlassen bleibt.19

19 Robert Clem hat punktgenau zum Zentenarium des US-amerikanischen Kriegseintrittes im April 1917 einen neunzigminütigen, halbdokumentarischen Film zur Person von William March

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Es stellt sich die Frage, warum die Darstellung individueller Unterschiede der Kriegserfahrung zu einem verbreiteten Phänomen in diesen Filmen wird. Man kann erinnerungstheoretisch spekulieren, dass die relative innere Stabilität der westlichen Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges die Ausprägung differenzfreundlicher Narrative begünstigte. Diese mussten soziale und kulturelle Unterschiede nicht mehr zugunsten eines gemeinsamen, nationalen Zusammenhalts einebnen. Ein Trend, der sich zu Beginn der 1990er Jahre etwa an der zunehmenden Auseinandersetzung mit Nazi-Kollaborationen in verschiedenen europäischen Ländern ablesen lässt.20 Erinnerungskulturell tritt nach der Etablierung eines Narratives im nationalen Diskurs meist eine Differenzierung der Erzählungen ein, wie man es von der Holocausterinnerung in den USA, Israel und Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre kennt (vgl. Levy/Sznaider 2001; Goldman 2006). Steven Spielbergs Inszenierung von Oskar Schindler als wankelmütiger, deutscher Judenretter wäre vor der Anerkennung der Verantwortung Deutschlands für den Holocaust undenkbar gewesen.21 Man könnte mit Michael Rothberg bei der differenzfreundlichen Ausweitung der Erinnerung von einem Fall von „multidirectional memory“22 (2009, 3) spre-

vorgelegt. Die TV-Produktion THE TWO WORLDS OF WILLIAM MARCH hat allerdings keine internationale Vermarktung erfahren und konnte bislang nicht gesichtet werden. 20 Diese selbstkritische Ausweitung nationaler Narrative ist nicht zu verwechseln mit der Einbeziehung kultureller und ethnischer Minderheiten ins eigene nationale Narrativ, die in durch Immigration geprägte Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten deutlich früher einsetzt. Das bekannteste filmische Beispiel hierfür mag die ethnisch heterogene Besatzung von RAUMSCHIFF ENTERPRISE sein. 21 Auf Spielbergs anderen Film über den Zweiten Weltkrieg, SAVING PRIVATE RYAN, trifft das Individualisierungsmotiv nur bedingt zu. Hier wird zwar die Geschichte einer individuellen Rettung erzählt. Diese ist aber im Herzen der US-amerikanischen Kriegserzählung angesiedelt, in der die Rettung eines Einzelnen als kriegsrelevante Operation darstellt wird. Individualisierung, die aufgrund ihrer dialektisch-relationalen Struktur immer in ein soziales Verweisungsverhältnis eingebunden bleibt, wird dadurch nicht aus ihrer nationalen, militärgeschichtlichen Umklammerung gelöst. Eine substanzielle Individualisierung kann sich nur dort zutragen, wo die gesellschaftliche und kulturelle Struktur des nationalen Verweisungsverhältnisses selbst thematisch wird. Dies lässt sich eher in Clint Eastwoods FLAGS OF IWO JIMA finden, der den ideologischen Zuschnitt des US-amerikanischen Armeemotivs ‚No one is left behind‘ weit kritischer beleuchtet. 22 Rothberg ist in seiner Kritik der „competitive memory“ (2009, 3) zweifelsohne Recht zu geben, wenn diese so konzipiert ist, dass eine Erinnerung die andere verdrängen oder verfälschen muss, um sich Platz im Feld der kollektiven Erinnerung zu verschaffen. Sein eigenes Konzept knüpft sich an eine Vorstellung von zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit, deren Raum erweiterbar und heterogen ist und die Differenzen auszuhalten vermag. Multidirectional Memory stellt somit eine auf Anerkennung und Reflexion basierende Erweiterung von hegemonietheoretischen Überlegungen zu Erinnerung und Identität dar, bei der beide in produktive, nicht-ausschließende soziale und gesellschaftliche Relationen zueinander treten können.

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chen, bei der ein allgemeiner Trend zur Individualisierung von Erinnerung nun auch den Ersten Weltkrieg erfasst. Es gilt allerdings zu beachten, dass solche differenzfreundlichen Ein- und Umschreibungen sich zumeist auf der Grundlage historischer und politischer Aussöhnung zutragen. So wird sich zeigen, dass die filmische Erinnerung an den armenischen Genozid, der nicht auf eine solche erinnerungskulturelle Fundierung zurückgreifen kann, weit davon entfernt ist, im Zentenarium die nämliche Tendenz anzunehmen.23 Ebenso weichen die in Kapitel 4 besprochenen Aljazeera-Englisch-Produktionen vor dem Hintergrund postkolonialer Erfahrungsgehalte und fortbestehender Konfliktverhältnisse erheblich vom Konsens westlicher Kriegsdeutungen ab.

Ästhetische und narrative Ausdifferenzierung von Traumadarstellungen Wie bereits angeführt, stellt die Kodierung von Kriegserfahrungen als traumatisch in zahlreichen Filmen ein zentrales Motiv dar. Betroffen davon sind einzelne Individuen, Familien, lokale Gruppen oder Ortschaften,24 Regionen, religiöse oder ethnische Gemeinschaften bis hin zu ganzen Nationen, die britischen Dominions, die Menschheit oder Natur und Kreaturen. Ob in WARHORSE Joey, stellvertretend für Millionen andere Nutztiere, die Sinnlosigkeit des Krieges in den Pferdekörper eingeschrieben wird und den Menschen die eigene Kreatürlichkeit offenbart oder in der Tradition des französischen Kinos die gueules cassées [zerrissenen Fressen; M.E.] die Zuschauer direkt anblicken, immer geht es darum, die Gewalterfahrung des Krieges erinnernd ins kulturelle Gedächtnis einzuschreiben. Die filmische Kodierung von Trauma kann historiografisch wie erinnerungskulturell mit allen unter A‒D aufgeführten Genremustern und Superzeichen verbundenen werden.

Für den Gegenstandsbezug der Erinnerung mag gelten, was Aleida Assmann mit ihrer Unterscheidung zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis ausgeführt hat (Assmann 1999, 136) und was ich als eine Erweiterung der historischen Tiefenschärfe in der Monografie Zeugenschaft im Film beschrieben habe. Wie in der Fotografie sollte es bei Geschichtsbetrachtungen möglich sein, die Tiefenschärfe zu erhöhen, indem mit dem Abgleich von Abstand, Linse, Filmempfindlichkeit und Belichtungszeit mehr als nur ein Objekt scharf abgebildet wird. Freilich sollte die aus der Fotografie herangezogene Metapher nicht über den Konstruktionscharakter hinwegtäuschen, den sowohl die Objekte wie ihr Verhältnis zueinander annehmen (vgl. Elm 2008, 51‒52). 23 Vergleiche dazu den Abschnitt Der Genozid an den Armeniern in Zentenariumsfilmen zu Beginn des dritten Kapitels. 24 Wie die Pals Battalions in England, wo der lokale Zusammenhalt unter Kollegen, Nachbarn, Freunden zur Bildung von militärischen Einheiten genutzt wurde. Dies führte mitunter zu so schockhaften Ereignissen, wie dass eine ganze Ortschaft auf einmal ihre ‚Söhne‘ einbüßte.

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Entscheidend dabei ist, wie die dramaturgischen Konfliktkonstellationen aufgelöst werden und welche Affektpotenziale bei den Rezipienten geweckt werden oder – kognitivistisch gesprochen – welche Rezeptionsangebote ans Publikum ergehen. Film kann auf ganz unterschiedliche Weisen traumatische Gehalte darstellen und dem Publikum offerieren. Schockbilder, die plastische Darstellung von Abjekten, die das Trauma ästhetisch ganz direkt auf die Leinwand oder den Bildschirm bringen, sind genauso verbreitet wie melodramatische Geschichten von Verlust und Trauer.25 Man kann ganz allgemein zwischen Darstellungen unterscheiden, die den Schock der historischen Erfahrung durch geschlossene Erzählungen einzuhegen versuchen und solchen, die durch eine offene Erzählung die Wucht der historischen Erfahrung an das Publikum weitergeben. Letztere nehmen genretheoretisch Anleihen beim Horrorfilm (vgl. Elm/Kabalek/Köhne 2014), während erstere häufig Elemente des Melodrams verwenden. Insgesamt lässt sich aber verstärkt eine Mischung der Genres und Filmgattungen26 beobachten, die sowohl auf eine Ausdifferenzierung der filmischen Darstellung von Gewaltgeschichte verweist wie auf deren komplexe mediale, soziale und psychologische Rahmung hindeutet.

Poesie und Politik des Traumas – REGENERATION. BEHIND THE FRONTLINE Ein weiterer Film aus der Periode nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der sich der Thematik traumatischer Kriegserfahrung explizit annimmt, ist die britische Produktion REGENERATION – BEHIND THE FRONTLINE von Gillies MacKinnon. Im Zentrum der Filmhandlung steht die Behandlung von ‚shell shock‘ durch den britischen Arzt und Psychologen W.H. Rivers (Jonathan Pryce) und seine berühmten Offiziersinsassen im schottischen Sanatorium Craiglockhart. Insbesondere Rivers freundschaftliches Verhältnis zu Lieutenant Siegfried Sassoon, Robert Graves und Wilfried Owen, deren literarische Verarbeitungen ihrer Kriegserlebnisse bis heute das britische Gedächtnis des Großen Krieges anleiten, sorgt für die fortdauernde Aufmerksamkeit dieser Kriegsepisode. Dabei klingt schon im Titel von RE-GENERATION die komplexe Thematik von psychologischer Pionierarbeit im Umgang mit den sogenannten Kriegsneurosen inmitten militärischer Hierarchien

25 Siehe dazu das Schema der Kodierungsmuster von Traumata in Erste-Weltkriegsfilmen im Anhang des Buches. 26 Fiktionale Produktionen streuen mitunter dokumentarisches Material in ihre Erzählungen ein, um ihre Darstellungen zu authentifizieren (etwa in THE OTTOMAN LIEUTENANT), während Dokumentarfilme und TV-Dokumentationen nicht selten auf fiktionales – häufig zu Propagandazwecken inszeniertes – Filmmaterial zurückgreifen oder Reenactment-Szenen verwenden.

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und dem Einbruch unausdenklicher Gewalt in die Lebenswelt einer privilegierten Schicht von britischen Männer an. Diese Motive werden in der Expositionssequenz des Films zusammengeführt. In der Eingangsszene gleitet die Kamera aus der Vogelperspektive über das ikonografisch gezeichnete Niemandsland. Man sieht in den Schlamm gedrückte Körper, die fast eins mit ihrer Umgebung geworden sind. Einige wenige dieser Körper regen sich noch und geben Laute von sich. Die Kamera kommt schließlich über einem Graben zum Stehen. Ein Soldat trinkt Kaffee. Um ihn herum liegen die Körper von Männern, die vermutlich tot sind. Man mag darin eine Reminiszenz an JʼACCUSE von Abel Gance ausmachen, der eine ähnliche Szenerie vorführt, wenn die beiden Hauptprotagonisten inmitten von Toten angeregt über ihre gemeinsame Geliebte plaudern. Das Grauen ist zur Normalität geworden. Es folgt ein scharfer Schnitt auf einen idyllisch wirkenden Wald. Die Sonne scheint durch das Blätterdach und erzeugt einen friedlichen Eindruck. Doch schon bald erkennt man getötete Tiere in den Ästen. Ein Soldat folgt der Spur der hingemetzelten Waldtiere. Er kommt zu einem nackt auf dem Boden sitzenden Mann. Ein Kreis toter Tiere, Vögel, Eichhörnchen, ein Fuchs umgibt ihn. Sein Gesichtsausdruck ist angsterfüllt, seine kauernde Körperhaltung hat selbst etwas Animalisches. Der Soldat beugt sich vorsichtig zu ihm hinunter und nimmt ihm einen toten Vogel aus der Hand. Die Kodierung des Traumas ist klar und eindrücklich. Der Krieg hat sich in die Körper und Seelen der Soldaten eingefressen und diese in eine kreatürliche, vorsprachliche Welt eingesperrt. So wird der Zuschauerblick an den zentralen Ort der Filmhandlung, das Militärsanatorium in der Nähe von Edinburgh, herangeführt, an dem sich die zweite Expositionsszene zuträgt. Und obgleich die beiden Eingangsszenen reich an der Darstellung von Abjekten sind, wendet sich die Filmhandlung mehr der Geschichte der Heilung, der Einhegung des Traumas zu. Das macht den Unterschied zu Loseys KING AND COUNTRY aus, bei dem die psychischen Verletzungen ebenfalls im Mittelpunkt der Filmhandlung stehen, aber deren Anerkennung oder gar Versorgung noch Lichtjahre entfernt scheinen. Der Plot von REGENERATION fokussiert mit der Behandlung der psychischen Versehrtheit der Soldaten den Beginn einer ‚Politik des Traumas‘ (Brunner 2014), die – wie im Falle von Siegfried Sassoon – auch zur Ausgrenzung und Pathologisierung verwendet werden kann. Es entspricht den historischen Gegebenheiten, dass Sassoon in seiner am 30. Juli 1917 im House of Commons verlesenen ‚Soldierʼs Declaration‘,27 die tags darauf in der London Times publiziert wurde, den Krieg als Angriffskrieg verurteilt hatte. Der für seine Tapfer-

27 Vergleiche den Wortlaut des Aufrufs von Sassoon „Finished with the War: A Soldier’s Declaration“, https://www.bl.uk/collection-items/siegfried-sassoons-statement-of-protest-against-thewar-and-related-letters (02. September 2019).

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keit ausgezeichnete Sassoon sorgte damit für großes Aufsehen und entging nur durch die Initiative seines Freundes Robert Graves einem Militärgericht. Der Preis dafür – seine Einweisung nach Craiglockhard in eine Klinik für mental Versehrte – kann berechtigterweise als eine Form der politischen Delegitimierung seines Aufrufs angesehen werden. Diese Delegitimierung von Kritik wird in der Filmhandlung von den entscheidenden Protagonisten offen artikuliert und bildet am Ende des Films selbst einen entscheidenden Teil im dramaturgischen Spannungsbogen des Plots. Neben dieser ideologischen Auseinandersetzung um die Anerkennung traumatischer Verletzungen, die sich als Inszenierung eines militärmedizinischen Diskurses vollzieht, wird durch einen historisch-fiktiven Charakter ebenso die unmittelbare Traumatisierung durch Kriegshandlungen sowie das Motiv der Bruderschaft des Krieges thematisiert. Billy Prior (Jonny Lee Miller) repräsentiert einen aus den unteren Schichten zum Lieutenant aufgestiegenen einfachen Soldaten. Der durch die Romanvorlage von Pat Barker geschaffene Charakter bringt die Dimensionen von sozialer Ungleichheit und Klassenkampf in die Geschichte und die Ausprägung posttraumatischer Symptombildung ein. Billy hat sein Gedächtnis der letzten Tage sowie seine Stimme verloren. Rivers führt in einer Szene aus, dass der Stimmverlust typisch für die niederen Ränge sei, während adelige Offiziere zum Stottern neigten. Billys Heilung trägt sich als gelingende Gesprächstherapie zu, welche es ihm erlaubt, durch die Beziehung mit Rivers sowohl Stimme wie Gedächtnis wiederzuerlangen. Die visuelle Inszenierung des Heilungsprozesses findet durch Rückblicke auf das Kampfgeschehen im Schlachtfeld statt. Ganz klassisch wird das Durcharbeiten des Traumas als dessen Überwindung präsentiert, bei der sich Billy bestimmten Schockerfahrungen stellen muss. Parallel dazu wird seinem Charakter eine Liebesbeziehung zu einer Munitionsarbeiterin gestattet, die ein wenig Erotik und Melodram in die Geschichte bringt und gleichzeitig Billys einfache Herkunft unterstreicht. Nach der Wiedergenesung will Billy zurück an die Front, wird aber vom Medizinausschuss nur noch als heimatdiensttauglich eingestuft. Seine diesbezügliche Enttäuschung und sein schlechtes Gewissen betitelt Rivers als Überlebensschuld und rückt es damit in ein solidarisches Verhältnis zur Bruderschaft des Krieges, das als dominantes Motiv und Genremuster die Inszenierung durchzieht. Auch der eingangs beschriebene Spannungsbogen um die anhand von Siegfried Sassoons Charakter vollzogene Politik des Traumas findet seine Auflösung durch die Inszenierung einer Sitzung des militärischen Medizinausschusses. Während Sassoon dem behandelnden Arzt Rivers versprochen hatte, dort seine politische Haltung zurückzunehmen, bekräftigt er diese noch. Trotz oppositioneller Haltung wird Sassoon für diensttauglich befunden und an die Front zurückgeschickt. Beide Charaktere stellen am Ende die Bruderschaft des Krieges höher als alle anderen Belange und bekräftigen damit deren Geltung auf politischer wie

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persönlicher Ebene. Insgesamt inszeniert die Filmhandlung Craiglockhart als medizinische Oase. Und dies umso mehr, als eine Sequenz einen Besuch von Rivers bei dessen mit Elektroschocks arbeitenden Kollegen zeigt. Die Brutalität und Roheit der dort an den niederen Armeerängen vorgenommenen Behandlung erzeugt einen enormen Kontrast zu den „gentle miracles“, die Rivers nach Sassoons Worten vollbringe. Der Film führt die enge Verschränkung medizin-psychologischer Diskurse mit der literarisch-politischen Verarbeitung des Krieges vor, die für das englische Gedächtnis charakteristisch geworden ist (vgl. Hanna 2007a, 93). Der Inszenierung des Traumas kann durch die Genremotive der Bruderschaft des Krieges, der Behandlung von Kriegsneurosen sowie der gesellschaftlichen Anerkennung der psychischen Wunden an der Heimatfront ein viel größerer Raum zugestanden werden, als dies für frühere Produktionen gilt.

Kriegsverstümmelung als gueule cassée in LA CHAMBRE DES OFFICIERS (DIE OFFIZIERSKAMMER) Eine weitere Ausdifferenzierung bei der Kodierung posttraumatischer Verarbeitungsgeschichte lässt sich in der französischen Produktion LA CHAMBRE DES OFFICIERS (DIE OFFIZIERSKAMMER) VON François Dupeyron kurz nach dem Millennium beobachten. Diese variiert mit der Inszenierung von Gesichtsentstellungen – den sogenannten gueules cassées28 – ein ikonographisches Motiv des Großen Krieges, das insbesondere im französischen Gedächtnis29 prävalent ist und an prominenter Stelle in zwei französischen Zentenariumsfilmen wiederkehrt (FRANTZ /AU REVOIR, LÀ-HAUT). Der Film beginnt mit einer Abschiedsszene am Bahnhof. Man sieht die gewohnten Bilder der anfänglichen Kriegsbegeisterung, ein junges Paar verabschiedet sich unter Tränen. In das konventionelle Intro wird eine eher ungewöhnliche Sequenz eingeflochten. Adrian (Eric Caravaca) hat die Trennung der Liebenden beobachtet. Nachdem der Zug abgefahren ist, spricht er die zurückgelassene junge Dame an. Diese entzieht sich zunächst seinen Avancen, doch Adrians charmante Hartnäckigkeit führt dazu, dass sie seiner Einladung auf einen Kaffee folgt. Adrian

28 Ernst Piper führt ‚kaputte Mäuler‘ als Übersetzung an und nennt den französischen Oberst Yves Picot als denjenigen, der den Ausdruck geprägt hat (vgl. Piper 2014, 401). Im Deutschen ist ebenfalls der Ausdruck der ‚Kriegszermalmten‘ gebräuchlich. In der vorliegenden Arbeit wird mitunter die Übersetzung ‚zerrissene Fressen‘ verwendet, die mir näher an der metaphorischen Bedeutung der gueules cassées zu liegen scheint. 29 Die französische Delegation führte bei der Eröffnung der Konferenz von Versailles eine kleine Gruppe kriegsversehrter Soldaten mit sich (vgl. Pudget 1999 sowie den Abschnitt Was gibt es Neues im Europäischen Kino in Kapitel 3).

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unterscheidet sich von den gewöhnlichen Soldaten durch eine Zurückhaltung, die schließlich auch ihre Wirkung auf Clémence (Géraldine Pailhas) nicht verfehlt. Die beiden verbringen eine zärtliche Liebesnacht. Am nächsten Morgen hinterlässt Adrian der noch schlafenden Clémence eine Nachricht. Danach sehen wir Adrian in seiner Funktion als Offizier. Der studierte Ingenieur wird als ein in allen Lebenslagen versierter Mann präsentiert. Sein erster Einsatz führt ihn in Frontnähe, wo er durch einen Granatsplitter schwer verletzt wird. Der Unterkiefer wird abtrennt, die Zunge halbiert. Adrian verwandelt sich von einem Moment auf den anderen zu einer gueule cassée, einer kriegsentstellten Kreatur. Aus dem ästhetischen Gegensatz wird die dramaturgische Wahl der Eingangsszene verständlich. Adrian lag die Welt zu Füßen und nun ist er ein ‚Monster‘, das niemand ohne Schrecken anschauen kann. Die durch Abjektdarstellungen30 (Kristeva 1982) vollzogene Kodierung eines Traumas als Folge der industriellen Kriegsführung ist offenkundig. DIE OFFIZIERSKAMMER erzählt die Geschichte aus der Innenansicht des jungen Soldaten. Für lange Zeit zeigt die Kamera die Entstellung nur durch die angeekelten oder erschrockenen Gesichter der anderen. Durch die soziale Spiegelung der physischen Entstellung wird deren Wirkung sowohl auf Adrian wie auch der Aushandlungsprozess, den der Umgang mit der Verletzung umfasst, ins Zentrum der Erzählung getragen. Das ist fraglos eine fantasievollere Inszenierungsstrategie als die plastische Bebilderung entstellter Körper, die an späterer Stelle allerdings noch zu ihrem Recht kommt. Das medizinische Personal, die Krankenträger, Krankenschwestern und Ärzte nehmen in diesem Aushandlungsprozess und seiner Bewältigung eine herausgehobene Rolle ein. Es ist die liebevolle Hinwendung der Krankenschwester (Sabine Azéma), die Adrians Wiedergewinnung des Lebenswillens in einer PietàSzene befördert. Ab und an sind Adrians Gedanken eingesprochen, um die Wahrnehmung der Innenperspektive seines Charakters zu artikulieren. Die zweite Hälfte des Films handelt davon, wie die entstellten Soldaten ihren Lebenswillen zurückgewinnen oder daran scheitern. Zunächst findet das Motiv der Bruderschaft des Krieges eine neue Inszenierungsvariante als Kameraderie der versehrten Offiziere, die sich wechselseitig Rückhalt verschaffen. Der Blick der Anderen, insbesondere der ehemaligen Angehörigen wird zur schwersten Prüfung. Einer der Insassen begeht Selbstmord, nachdem das Wiedersehen mit Frau und Kindern misslingt. Die Szene verdeutlicht die Konfliktkonstellation der zweiten Hälfte des Films. Die Wiedergewinnung von Selbstsicherheit bedarf der Ak-

30 Das Konzept der Abjektion befasst sich aus psychoanalytischer Perspektive mit den Affekten von Ekel und Abstoßung und geht auf die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Julia Kristeva zurück (vgl. Kristeva 1982). Für die Beschreibung und Anwendung der Abjekttheorie in der Filmwissenschaft siehe: https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag= det&id=4515 (22. November 2019).

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zeptanz durch andere, hängt aber wesentlich von der Eigenakzeptanz der neuen Situation ab. Einer der drei französischen Soldaten ist Jude, was mehrfach thematisch wird, ohne dabei eine Sonderstellung zu erzeugen. Regisseur François Dupeyron beweist hier ein Gespür für die Fallstricke von positiver Diskriminierung. Nachdem sich die Gruppe gefestigt hat, stößt eine weibliche Insassin hinzu, was einen zusätzlichen Genderaspekt in die Thematisierung von physischer Entstellung bringt. Gegen Ende des Films kommt es zu einer Wiederbegegnung mit Clémence, aber die Liebesgeschichte vom Anfang findet keine Fortsetzung. Sie erkennt den ehemaligen Liebhaber bei einer zufälligen Begegnung in der Oper nicht wieder. Das bezeichnet einen weiteren Wendepunkt in Adrians Entwicklung. Er lernt sich als der andere zu akzeptieren, der er geworden ist. Eine anrührende Szene in einer Metro, in der er den Schrecken seiner Entstellung nonverbal mit einem ihm gegenübersitzenden Mädchen kommuniziert, bekräftigt die Entwicklung. Die Wendung in Adrians Leben führt ihn auch wieder zu den Frauen zurück, wie die letzte Szene des Films andeutet. Unzweifelhaft gelingt es der Inszenierung, das ikonografische Motiv der gueules casseés einer vertiefenden Betrachtung zu unterziehen. Die elaborierte Narration rückt gekonnt die Akzeptanz der Entstellung durch andere und die Selbstwahrnehmung der Protagonisten in den Vordergrund der Erzählung. Der Umgang mit der abjekthaften Entstellung an der Heimatfront und bei der Rückkehr ins Zivilleben führt die feine Grenze zwischen physischer und mentaler Verletzung vor und thematisiert deren individuelle, soziale und gesellschaftliche Aushandlungsebenen. Man mag darüber spekulieren, inwiefern es sich um eine rückwärtsgewandte Projektion handelt, die nur wenig mit der historischen Realität im Umgang mit solchen Verletzungen zu tun hat. Es ist für die französischen Filme aber insgesamt typisch, sich für die heilende Kraft von Liebe, Zuwendung und Akzeptanz zu interessieren, ohne diese Haltung mit der historischen Realität gleichzusetzen. Die Filme verweisen durch die parabelhafte Form ihrer Erzählung oder ästhetischen Überzeichnungen auf die ahistorische Form der Filmhandlung und damit auf den normativen und projektiven Charakter der filmischen Erinnerung. Diese Formsprache setzt sich in den französischen Zentenariumsproduktionen fort und unterstreicht die Bedeutung der kulturellen Rahmung sowie die Pfadgebundenheit der Inszenierungen im Umgang mit den historischen Traumata. Die historische Gleichzeitigkeit der Entwicklung von Film als Technologie und von Trauma als psychologisch-medizinischem Diagnosesystem geistiger und körperlicher Verletzungen findet in zahlreichen Filmen seinen Niederschlag. Der Umgang mit kriegstraumatisieren Soldaten ist zu einem Standardmotiv des Kriegsfilmgenres aufgerückt. Hier bildet der Erste Weltkrieg sicher keine Aus-

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nahme, kann aber aus medizinhistorischer und erinnerungskultureller Sicht als dessen Geburtsstunde gelten (vgl. Lerner 2003; Köhne 2009), weshalb die Zuordnung dieses Motives als Genremuster folgerichtig erscheint. Dabei wird eine Pfadgebundenheit der Erinnerung durch die Themenwahl und ikonografische Bebilderung deutlich, die sich bis in die Zentenariumsfilme hinein fortsetzt. Die filmgeschichtliche Entwicklung lässt sich in nuce an der Neuadaption von JOURNEYʼS END (2017) durch Regisseur Saul Dibb ablesen. Hier wird im Unterschied zu der Fassung von James Whale von 1930 der zentrale Charakter (Captain Stanhope/Sam Caflin) einer Psychologisierung unterzogen. Diese vollzieht sich durch zahlreiche Close-ups, die den inneren Kampf vorführen, den der alkoholsüchtige Protagonist durchlebt. Die Nahaufnahmen seines Gesichts rücken den problematischen Verarbeitungsmechanismus des Alkoholismus stärker ins Zentrum der Filmhandlung und vollziehen eine partielle Individualisierung des Charakters vor dem aufopferungsvollen Hauptmotiv der Bruderschaft des Krieges.

Die Abwesenheit des Traumas im NS-Film – UNTERNEHMEN MICHAEL Dass diese Entwicklung keineswegs alternativlos war, wird deutlich, wenn man einen Blick auf den nationalsozialistischen Film wirft. In einem der wichtigsten NS-Filme zum Ersten Weltkrieg, UNTERNEHMEN MICHAEL31 von Karl Ritter aus dem Jahre 1937, der die Frühjahrsoffensive von 1918 thematisiert, sucht man vergleichbare Motive vergebens. Hier marschieren die deutschen Soldaten noch im vierten Kriegsjahr freudig im Stechschritt ihrer nationalen (und völkischen) Pflicht entgegen. Die kriegskritischen Narrative der Weimarer Zeit vom sinnlosen, durch eine korrumpierte militärische und politische Elite geführten Krieg werden anhand zweier Sequenzen vorgeführt und entwertet. In der ersten Sequenz sinniert ein klavierspielender Rittmeister darüber, dass der Krieg zu einem aussichtslosen Blutvergießen auf allen Seiten geworden ist und dass „wenn die Vernunft spricht, man sie nicht mehr versteht, weil man schon zu lange im Tollhaus lebt“ (UNTERNEHMEN MICHAEL 29:00). Dem nostalgisch, effeminiert gezeichneten Rittmeister von Wengern (Chrisian Kayßler) tritt die Hauptfigur des Films, Major zur Linden

31 Der Filmhistoriker Rainer Rother hebt den Film aus anderen NS-Produktionen heraus, da dieser das zentrale Motiv der Nazi-Propaganda eines ‚notwendigen Opfers‘ am deutlichsten zelebriere (vgl. Rother 1999, 240). Er führt in einem weiteren Aufsatz aus, dass die Inszenierung der Fronterfahrung in den NS-Filmen von 1933‒39 zum Kernbestand revisionistischer Identitätsbildung des Regimes gehört habe (vgl. Rother 2009, 154).

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(Mathias Wieman), mit finsterem Pathos32 entgegen: „Das Unabänderliche ist niemals ohne Sinn, Wengern.“ Es folgt ein verbales Scharmützel über die Möglichkeit von Friedensschlüssen, welches der Major Linden mit einem Satz beendet, der deutlich auf den Zeitgeist der späten 1930er Jahre verweist. „Wir zählen 70 Millionen. Die 70 Millionen wollen leben, arbeiten, essen, trinken. Die Erde ist groß genug, um ihnen Raum zu geben. Die Welt wird das einsehen müssen“ (UNTERNEHMEN MICHAEL 28:20‒30:16). Ganz unverhohlen mischt sich die nationalsozialistische Ideologie von Lebensraum und Volksgemeinschaft in die Periode des Ersten Weltkriegs. Das ideologische Motiv wiederholt sich, wenn der befehlshabende General die einfachen Soldaten als ‚Kameraden‘ anspricht und ihnen in einem führergemäßen Sprachduktus die Schwere der bevorstehenden Aufgabe verkündet. Der Kommandant des Sturmbataillons antwortet mit einer Art Treueschwur unter den Hurra-Rufen der Soldaten. Es folgt eine Sequenz, die man als Schwelle zum faschistischen Film auffassen kann, in der wiederum ein kriegskritisches Narrativ der Weimarer Zeit verhandelt wird. Ein Suppe löffelnder Soldat verhöhnt das Generalkommando, das immer nur die einfachen Soldaten in den Tod schicke und dem die Kriegsdauer aufgrund der komfortablen Unterkunft und Verpflegung herzlich egal sein könne. Das sozialund klassenkritische Narrativ wird von einem ‚Kameraden‘ demontiert. Dieser entlarvt den nörgelnden Soldaten als Drückeberger, der erst vor kurzem rekrutiert wurde: „Hast in der Munitionsfabrik klotzige Gelder verdient, dicke Zigarren geraucht, was? Hast dir in die Hose gemacht und Schnaps gesoffen, bis du impotent geworden bist, was?“ (UNTERNEHMEN MICHAEL 39:49) Die von pathologischen Projektionen der imaginierten Volksgemeinschaft durchzogene Rede gipfelt in der Drohung, den ‚Drückeberger‘ zu erschießen, wenn er sich beim Kampfeinsatz in einem Bombenkrater verstecken sollte. Der unverhohlen inszenierte Hass wird durch das Lächeln der umstehenden Soldaten noch verstärkt. Die in Abgrenzung zum ‚Drückeberger‘ konstruierte Volksgemeinschaft spricht aus, wie man mit Abweichlern umzugehen gedenkt. Konnte in der vorangehenden Szene, die Kritik des Rittmeisters noch verbal eingemeindet werden, wird nun unverhohlen mit Vernichtung gedroht. Das letzte Drittel des Films dreht sich um die „notwendigen Opfer“ (Rother 1999), die persönlich und militärisch zu erbringen sind, um die englische Festung zu überwinden und den deutschen Vormarsch fortsetzen zu können. Major zu Linden, der die Strategie für die Offensive entwickelt hat, meldet sich freiwillig, den

32 Dieses finstere Pathos der nationalsozialistischen ‚Weltanschauung‘ mit seiner Verknüpfung von Gewalt und Todessehnsucht findet sich vorzüglich analysiert in Saul Friedländers Kitsch und Tod.

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verwundeten Kompanieführer zu ersetzen und an seiner Stelle den fast unmöglichen Plan doch noch umzusetzen. Eine überraschende englische Gegenoffensive führt zur Einkesselung der deutschen Kompanie, der der Major mit heldenhaftem Kampf und heroischem Selbstopfer begegnet. Die auch aus anderen Kriegsfilmen bekannten Motive von Heldentum und Selbstopfer bekommen durch die Glorifizierung des Opfertodes und den Vernichtungsdrohungen gegenüber Abweichlern ihren faschistischen Anstrich. Auffallend ist das Fehlen persönlicher, individueller Verbindungen zur Heimatfront und die völlige Abwesenheit jeglicher Kodierung von traumatischen Erfahrungen. Das heroische Opfer für Volk und Vaterland und die Bereitschaft zum Kampf lassen nicht zu, dass der komplexe Umgang mit Kriegsgefahren oder -verletzungen einen allzu großen Raum einnehmen oder gar das letzte Wort behalten kann (vgl. Krumeich 2009). Der am Vorabend des Zweiten Weltkrieges produzierte Film stellt eine klare Kampfansage an die versöhnlicheren Narrative der Weimarer Zeit dar und macht deutlich, wie man mit den Gewalterfahrungen des Ersten Weltkrieges auch umgehen kann.

Kulturelles Trauma als Epochenschwelle ‒ WAR HORSE und DAS WEIßE BAND Eine weitere Ausdifferenzierung des Traumamotives, diesmal im Hinblick auf den Epochencharakter des Großen Krieges, lässt sich in so unterschiedlichen Produktionen wie Steven Spielbergs WAR HORSE oder Michael Haneckes DAS WEIßE BAND ausmachen. Während Spielbergs Adaption von Michael Morpurgos gleichnamigem Roman den Großen Krieg durch das Leiden einer einfachen Kreatur erzählt, lässt sich Hanekes Film als Versuch auffassen, eine Kontinuitätslinie der Gewalt im Deutschland des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu zeichnen. Beide Filme markieren den Krieg als Epochenschwelle, verknüpfen aber unterschiedliche historiografische Narrative und Erinnerungsmotive damit. WAR HORSE ist ein perfekt inszeniertes Kriegsmelodram. Die Schluss-Szene, in der Albert (Jeremy Irvine) ‒ der Farmersohn aus Dartmoor ‒ mit Joey (dem Kriegspferd) zu seinen Eltern zurückkehrt, ist in tiefes Abendrot getaucht. Trauer und Melancholie über das erfahrene ungeheure Leid vermischen sich mit der beglückenden Rückkehr des Sohnes und der dem Tod entrungenen Kreatur in Gestalt des Pferdes. Die Rottönung des Abendhimmels macht es schwer, dabei nicht an die farblich ähnlich gestaltete Schlusseinstellung in GONE WITH THE WIND zu denken. Wie damals geht es um den Untergang einer Ära, der in eine mythologische Bilderwelt gepackt wird. Im Unterschied zum filmischen Epos über den amerikanischen Bürgerkrieg und das Ende der Sklavengesellschaft des Südens gelingt es Spielberg allerdings nur ansatzweise, die gesellschaftlichen Umbrüche des Großen Krieges nachzuzeichnen. Der Machtverlust des Adels kommt im Verhältnis

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von Farmerssohn Albert und dem zunächst arrogant auftretenden, nahezu gleichaltrigen Jamie Steward (Benedict Cumberbatch) zum Ausdruck. Im Verlauf der Handlung wird sich Albert dessen Respekt durch seinen heldenhaften Einsatz erwerben. Im Mittelpunkt von Spielbergs Filmadaption steht die Kreatur, die die Menschen durch ihr unverschuldetes Leiden an ihre Verantwortlichkeit für den Krieg und Gewalt erinnert. Das hat, angesichts von geschätzten acht Millionen gestorbener Pferde im Militärdienst (vgl. Pöppinghege 2014, 77) durchaus eine historische Grundlage. Entscheidender aber noch ist die symbolische Ebene der edlen und geschundenen Kreatur. Diese motiviert den Plot, in dem Joey seine englische Heimat verlässt und in den Besitz verschiedener Kriegsparteien gerät. Das prächtige Tier weckt Begeisterung bei Kennern und findet jeweils einen Liebhaber oder eine Liebhaberin, die sich seiner annehmen. Dabei gesellt sich gleich zu Beginn ein nicht minder stolzer schwarzer Rappen, Tophtorn, zu Joey. Die beiden Pferde bilden eine Einheit und helfen sich gegenseitig in verschiedenen Szenen. Die recht kitschig in Szene gesetzte Tiersolidarität erinnert stellenweise stark an Tierserien wie LASSIE oder FLIPPER. Wenn Joey beispielsweise anstelle des geschwächten Tophtorns einspringt, um mit anderen Pferden ein tonnenschweres Geschütz einen verschlammten Hang hinaufzuziehen, werden die ohnehin dünnen Genregrenzen zum Tier- und Jugendfilm recht unbekümmert überschritten. Umgekehrt gibt es auch Ironisierungen des Genres, wenn etwa Joey mit dem von der amerikanischen Rockgruppe Status Quo bekannten Song- und Albumtitel You are in the Army now angesprochen wird. Das zentrale Motiv kreatürlichen Leidens, das etwa auch in Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues zu finden ist,33 hat seine stärkste Szene in der Begegnung eines britischen mit einem deutschen Soldaten im Niemandsland. Joey geriet beim überstürzten Rückzug der deutschen Truppen in Panik und flüchtete über alle Kriegslinien hinweg direkt in die stacheldrahtdurchzogene Todeszone. Dort bleibt das schwer verletzte Tier von Stacheldraht umfangen liegen. Nachdem die englischen Soldaten das Pferd entdecken, entschließt sich einer von ihnen mit erhobener weißer Flagge das Tier zu befreien. Unter den Warnrufen seiner Kameraden nähert er sich Joey. Als er ankommt, muss er feststellen, dass er keine Drahtschere mitgenommen hat, um das Pferd loszuschneiden. Ein deutscher Soldat taucht aus dem Nichts auf und offeriert mit

33 Das nämliche Motiv wird in einer Sequenz in WALTZ WITH BASHIR bebildert, die das Vorrücken der israelischen Armee im ersten Libanonkrieg zeigt. Ein Soldat, der als Kriegsfotograf zum Einsatz kommt und sich das ihn umgebende Leiden bislang durch die Kamera vom Leibe halten konnte, erleidet einen Zusammenbruch als er verendete Pferde sieht. Der Anblick der unschuldigen Kreatur durchbricht den psychischen Reizschutz, der gegenüber dem Leiden der Menschen aufrechterhalten werden konnte.

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dem entsprechenden Gerät ausgestattet seine Hilfe. Die beiden befreien das leidende Tier schließlich, sind sich dann aber uneins, wer es nun mit auf seine Seite nehmen darf. Der deutsche Soldat insistiert auf seinen Beitrag zur Rettung und schlägt vor, den Besitz durch einen Faustkampf zu entscheiden. Der englische Soldat hält dem ironisch entgegen, dass eine solch feindselige Auseinandersetzung einen Krieg provozieren könnte. Man könne die Angelegenheit durch Münzwurf entscheiden. Der englische Soldat gewinnt und zieht mit Joey von dannen. Die Geschichte enthält in nuce den gesamten Plot des Films. Beide Seiten dispensieren die kriegerische Auseinandersetzung im Angesicht der leidenden Kreatur. Die Deutschen zeigen eine Neigung zur Aggression, wo die Briten in der Lage sind, Konflikte als Fair Play auszutragen. Wie erfolgt aber die Kodierung von traumatischen Erfahrungen in WAR HORSE? Zunächst gibt es Alberts Vater, der, von seinen früheren Kriegserfahrungen geprägt, dem Alkohol zuneigt und durch das harte Leben als Farmer verbittert ist. Das Motiv der traumatischen Verletzung figuriert hier als eine Form von Abstumpfung, die eine Abkehr vom Versuch, das Leben und die Welt zum Besseren zu wenden, darstellt. Gegen diese Haltung tritt Albert schon im ersten Teil des Films an, indem er erfolgreich versucht, Joey für die Feldarbeit abzurichten. Das antitraumatische Motiv von Handlungsfähigkeit inmitten von Tod und Leid taucht in verschiedenen Szenen wieder auf und kann als zentraler Konflikt der Filmhandlung angesehen werden. Wenn der englische Captain etwa mit Joey den Sturmangriff auf die deutsche Stellung reitet, sieht man nicht, wie der pferdefreundliche Soldat getötet wird, sondern nur die dahinjagenden Pferde ohne Reiter. Diese werden von den Deutschen eingefangen und Joey kommt so an einen neuen Besitzer. Den Zuschauern wird die visuelle Todeserfahrung zugunsten von Joeys vitaler Präsenz erspart. Das Motiv wiederholt sich mit leichten Variationen beim Wechsel der jeweiligen Besitzer, bis Joey und Albert sich schließlich wiederfinden. In dieser letzten, traumaimprägnierten Szene ist es allerdings Joey, der vom Veterinärmediziner durch einen Gnadenschuss von seinem Leiden befreit werden soll. Nachdem Joey das Unmögliche gelungen ist, indem er aus dem Niemandsland des Todesstreifens hinter die Frontlinie zurückgekehrt ist, droht ihm nun das gleiche Schicksal, das schon seine vorherigen menschlichen Besitzer erlitten haben. Die traumatische Todesdrohung gilt nun dem Symbol der Vitalität selbst. Es ist angesichts der dramaturgischen Struktur der filmischen Erzählung wenig überraschend, dass Albert in letzter Sekunde das Unheil abwenden kann. Der durch Kriegshandlungen versehrte Soldat und die im Krieg geschundene Kreatur finden in der anrührenden Szene durch ihren alten, vor dem Krieg entwickelten PfeifCode zueinander. So kann die traumatische Gewalt, die im Film nie zu sehen war und doch als Spannungsmoment präsentiert wurde, in die historische Gesellschaft nach dem Krieg zurückgeführt werden. Der rote Horizont bei Alberts Rückkehr,

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das filmische Zitat aus GONE WITH THE WIND, ist die ästhetische Übersetzung der ausgeblendeten Gewalt. Die Welt ist eine andere geworden, aber das Motiv der Hoffnung und die kreatürliche Verbundenheit von Mensch und Tier haben in ihr überlebt. Insgesamt verschenkt der Film einiges von seinem Motiv zugunsten kitschiger Bilder und der familienfreundlichen Rückkehr des Farmersohns. Ein Tierfilm, der signalisiert, dass alles doch noch mal gut gegangen ist. Weder die globale Dimension des Krieges noch die durch diesen bewirkte Zertrümmerung eines technisch und wissenschaftlich angeleiteten Zukunftsoptimismus werden kenntlich. Die Form der Überschreitung der Epochenschwelle macht auf Differenzen zwischen dem US-amerikanischen und europäischen Gedächtnis des Krieges aufmerksam. Das zugrundeliegende universalistische Narrativ mit seinem handlungspragmatischen Optimismus und filmgeschichtlichen Anleihen spiegelt mehr die amerikanische denn die britische, französische oder deutsche Kriegserfahrung wider. Historiografisch stimmig daran ist, dass die ‚europäische Urkatastrophe‘ durch den Niedergang mehrerer Imperien, die bald schon die Siegermächte umfassen sollte, das amerikanische Jahrhundert mitsamt einer neuen Weltordnung eröffnet. Der nur kurze Zeit früher realisierte Film DAS WEIßE BAND. EINE DEUTSCHE KINDERGESCHICHTE ist an der Schwelle zum Großen Krieg angesiedelt, setzt aber einen Moment zuvor an. Der Regisseur, Michael Haneke, hat den Film so angelegt, dass eine mentalitätsgeschichtliche Erklärung des Nationalsozialismus in Aussicht gestellt wird, indem die formativen Jahre jener Generation erzählt werden, aus der sich die späteren Parteigänger der Bewegung rekrutieren sollten. Die Erzählung eröffnet damit, dass man die Stimme des Hauptcharakters, des Dorflehrers, aus dem Off hört und dieser ankündigt, eine subjektiv gefärbte Erinnerungsgeschichte zu erzählen, die möglicherweise ein Licht auf die Ereignisse in diesem Land zu werfen vermag. Diese Andeutung einer gedächtnisreflexiven Ebene hat zuvorderst die erzählerische Funktion, den Geltungshorizont des präsentierten filmischen Narrativs zu eröffnen. Insofern zielt es weniger auf eine Erklärung des Ersten Weltkrieges ab, sondern eröffnet eine Betrachtung der deutschen Gewaltgeschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Film trägt damit, vielleicht unbeabsichtigt, zum besonders im deutschen kulturellen Gedächtnis verbreiteten Narrativ eines Zweiten Dreißigjährigen Krieges34 bei, welches die beiden Weltkriege zu einer blutigen Abfolge verbindet.

34 Vergleiche dazu den Abschnitt: Ein Zweiter Dreißigjähriger Krieg im deutschen Geschichtsfernsehen – WELTENBRAND, in Kapitel 5. Eine weiterreichende filmwissenschaftliche Einbettung des Plots von DAS WEIßE BAND findet sich bei Roger Hillman (2014, 66–70).

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Die narrative Struktur des Films hat die Form eines epischen Dramas (vgl. Stutterheim 2009, 179–186). Dessen zentraler Konflikt handelt nicht von einem bestimmten Charakter, sondern wird von einem strukturellen Prozess vorangetrieben, der sich an vielen Stellen gleichzeitig ereignet und so den Blick auf die gesellschaftlichen Gründe des Konflikts lenkt. Der Charakter des Lehrers kann in diesem Sinne als brechtsche Mittelpunktfigur verstanden werden, der diesen Prozess nicht wie der Held eines Dramas durch seine Handlung beeinflusst, sondern eher durchlebt und sichtbar macht (vgl. Stutterheim 2009, 181). Die Filmhandlung organisiert sich entlang der Fragestellung, wie eine ganze Generation von Kindern eine Disposition zu Gewalt und Grausamkeit entwickeln kann. Gleich zu Beginn des Films kommt es zu einem Vorfall, bei dem sich der Doktor des Dorfes schwer verletzt. Unbekannte hatten ein Seil gespannt, das Pferd und Reiter zu Fall brachten. Die Schuldigen können nicht ausgemacht werden. Stattdessen ereignen sich im Laufe des Films immer weitere und schwerwiegendere Grausamkeiten, die keine Auflösung finden, obgleich die Narration auf die Dorfkinder und insbesondere die Kinder des Pfarrers hindeutet. Haneke führt eine Gesellschaft im Verfall vor. Keine der maßgeblichen Familien der Dorfgemeinschaft, deren soziale und generationelle Bande nicht beschädigt oder gerissen wären. An vorderster Stelle stehen der Pfarrer und dessen Kinder als Repräsentanten der moralischen Ordnung. Die protestantischen Anstandsregeln und Disziplinierungen in Sachen Benimm und Sexualität fördern weniger eine moralisch integre Gesinnung als Selbstverachtung, Grausamkeit und Gewalt (Abb. 5). Das weiße Band, welches der Pfarrer seinen Kindern umbindet, versinnbildlicht das puristische Streben nach einer Reinheit, der niemand genügen kann und die unweigerlich als Hass und Gewalt in die Gesellschaft zurückschlägt. In einer zentralen Szene zahlt ihm seine älteste Tochter die emotionale Kälte und den puristischen Eifer heim, indem sie das einzig offen geliebte Objekt des Vaters, seinen Kanarienvogel Piepsi, tötet. Aber auch die Familien des Bauers, des Verwalters, des Doktors und des Barons bewahren ihre Ordnung durch eine patriarchale Gewalt, die generationell zunehmend als unakzeptabel empfunden wird. Die grausamen Vorfälle, die sich vorwiegend gegenüber den Schwachen und Außenseitern ereignen, erhalten angesichts der kulturellen und sozialen Normen den Anstrich einer Notwendigkeit. Im Verlauf der Filmhandlung erfährt man, dass der Landarzt seine eigene Tochter missbraucht, was die zunächst offengebliebene Täterschaft in der beschriebenen Eingangsszene, in der das Pferd des Doktors zu Fall gebracht wurde, in ein neues Licht rückt. Die einzige Hoffnung kommt von außerhalb der dörflichen Gemeinschaft in Gestalt des zugereisten Lehrers. Dessen innere Monologe kommentieren den Fortgang der Ereignisse und repräsentieren eine Fähigkeit zur Distanznahme

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Abb. 5: DAS WEIßE BAND – Entstellte Unschuld. Die Verstümmelung eines Symbols der Unschuld und der beraubten Freiheit, der Kanarienvogel des Pfarrers, durch eines seiner Kinder markiert das zentrale Thema in DAS WEIßE BAND. Dessen bildliche Inszenierung arrangiert den zum Kruzifix entstellten Vogel in der Mitte des ordentlich aufgeräumten Schreibtischs mit seinen Arbeitsobjekten und bringt jene Grausamkeit zum Ausdruck, die im Zentrum der Welt des protestantischen Pfarrers herrscht. Kruzifix und Tatwaffe werden identisch. Die schwarz-weiß gehaltene Bilderwelt des ländlichen Deutschlands lässt sich als ästhetische Übersetzung einer manichäischen Gut-Böse Moral verstehen.

und Reflexion, die andere Handlungslogiken als möglich erscheinen lassen, beziehungsweise diese im Verhältnis zu seiner Verlobten bereits vorführen. Haneke gelingt nicht zuletzt durch die ausgezeichneten Set-Konstruktionen der unterschiedlichen Lebenswelten eine alle gesellschaftlichen Schichten umfassende Charakterzeichnung, die sich durch die mit rauem deutschen Sprachduktus gestaltete Dialogführung zu einem düsteren Portrait des ausgehenden Kaiserreiches verdichtet. Dieses führt die Formbarkeit und Zerbrechlichkeit kindlicher Unschuld als eine negative Generationengeschichte vor. Historiografisch deutet die filmische Erzählung auf das Epochennarrativ eines Zweiten Dreißigjährigen Krieges hin, welches die Gewaltgeschichte der beiden Kriege vereint. Interessant an der mentalitätsgeschichtlichen Deutung ist weniger, ob sie ein derart weitgestecktes historisches Narrativ befriedigend zu erklären vermag, als dass eine kritische Gewaltgeschichte entworfen wird, die die Zäsur an der Schwelle zum Großen Krieg genauso erfasst, wie sie die darüber hinausreichenden Gewalt- und Kon-

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fliktpotentiale kenntlich macht.35 Damit wird ein wenig dem Mythos von ‚Europas letztem Sommer‘ entgegenwirkt, der insbesondere in TV-Dokumentationen36 gerne verklärend zur Kennzeichnung der Epochenschwelle herangezogen wird, ohne den unverkennbaren Bruch der Gesellschaftsordnungen zu übergehen. Die Kodierung der Geschichte als kulturelles Trauma überdauert in dieser Variante die unmittelbar bezeichnete Periode und kann – gerade mit Bezug auf Hanekes weiteres Filmschaffen – als eine bis in die Gegenwart fortwährende „Katastrophe in Permanenz“ (Benjamin 1991, 697‒698) aufgefasst werden.

Zusammenfassender Ausblick Das vorliegende Kapitel sollte helfen, die Verknüpfung von filmgeschichtlichen, historiografischen und erinnerungskulturellen Diskursen in Bezug auf den Großen Krieg besser zu verstehen, indem einige der bislang nicht zusammenhängend betrachteten Filmproduktionen von 1989 bis 2013 eingehender untersucht wurden. Es zeigt sich, dass in der Periode von 1989 bis zu Beginn der Zentenariumsproduktionen eine ganze Reihe historiografischer und ikonografischer Motive des Großen Krieges eine vertiefte Darstellung erfahren haben. Zwar bleiben die Genrekonventionen vom sinnlosen Stellungskrieg und der verlorenen Generation, die schon in den 1920er Jahren etabliert wurden, prävalent, werden aber zeitgeschichtlich aktualisiert. Die individualisierenden Darstellungen der ‚Bruderschaft des Krieges‘ signalisieren eine Lockerung der nationalen Rahmenerzählungen, die zumindest lose mit der politischen Ordnung nach dem Ende der Systemkonfrontation korrespondiert. Zahlreiche Produktionen diversifizieren die zentralen Genremotive von ‚shell shock‘, Kriegsverstümmelung, dem Spannungsverhältnis zur Heimatfront und den Bemühungen die Wunden des Krieges in der Nachkriegsgesellschaft zu lindern. Der Inszenierung von Trauma kommt dabei eine hervorgehobene Stellung zu, die erinnerungsgeschichtlich mit der Verarbeitung anderer Kriege und Gewalterfahrungen wie dem Vietnamkrieg und dem Holocaust einhergeht.

35 In CHILDHOOD OF A LEADER unternimmt Brady Corbet zum Zentenarium ein ähnliches Unterfangen in der fiktionalen Ausgestaltung einer formativen Kindheitserfahrung. Corbets Geschichte ist zur Zeit der Konferenz von Versailles in einem US-amerikanisch-französischen Diplomatenmilieu angesiedelt. Seine Darstellung eines gesellschaftlichen Epochenportraits, das die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts überschatten wird, kann aber weit weniger als Hanekes Film überzeugen, da die Entwicklung des kindlichen Charakters zum autoritären Führer zu sehr im familiären Rahmen befangen bleibt. 36 Vgl. EUROPAS LETZTER SOMMER oder WELTENBRAND.

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Für die untersuchte Periode wurde deutlich, dass die filmische Rahmung des Großen Krieges einem zentraleuropäischen oder US-amerikanischen Zuschnitt folgt, der die anders gelagerte Erinnerungsgeschichte in Mittel- und Osteuropa oder im Nahen und Mittleren Osten ausklammert. Demgegenüber hat der historiografische Diskurs durch den Einbezug komparatistischer, verflechtungs- und globalgeschichtlicher Methodologien schon früher eine Ausweitung seiner Betrachtungen vollzogen. Es wird sich zeigen, dass diese Rahmung in den Zentenariumsproduktionen durch Filme zum Genozid an den Armeniern und durch die Beteiligung neuer medialer Akteuren aus der Region des Nahen Ostens zumindest angekratzt wird. Mit diesen neueren Entwicklungen wird die Fragestellung verknüpft, ob in den Zentenariumsproduktionen insgesamt eine erinnerungsgeschichtlich neue moralische Grammatik zutage tritt, die die Kodierung von Trauma auch geografisch ausweitet. Der Analyse des Filmsamples mit Produktionen aus den Jahren zwischen 2013 bis 2018 wird ein Exkurs vorangestellt, der anhand des Kriegseintrittes des Osmanischen Reiches auf Seiten der Mittelmächte die historiografischen und erinnerungskulturellen Grundlagen für ein Verständnis der regionalen Entwicklungen schaffen soll.

2 Ein Film, der nie gedreht wurde: Der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten der Mittelmächte Das zweite Kapitel hat den Zweck, in die historisch-politischen Hintergründe des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches einzuführen. Es wird davon ausgegangen, dass diese einer filmgeschichtlich interessierten Leserschaft zumeist nicht bekannt sind. Durch die Verknüpfung der historisch-politischen mit der erinnerungskulturellen Perspektive wird gleichzeitig das eigentümliche Fehlen dieses Ereignisses in den nationalen europäischen Gedächtnissen beleuchtet. In den späteren Betrachtungen der Zentenariumsproduktionen zum Genozid an den Armeniern (Kap. 3) sowie den Aljazeera Englisch und Arte Dokumentationen (Kap. 4 und 5), die sich mit dem Niedergang und der Neuaufteilung des Reiches beschäftigen, ist eine ausführlichere historische Erörterung kaum möglich. Ohne diese Vorgeschichte blieben bedeutende Aspekte des Verhaltens der politischen Führung während des Kriegs und der späteren türkischen Staatsgründung durch Mustafa Kemal (Atatürk) unverständlich. Zudem hat der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten der Mittelmächte xxÖsterreich-Ungarn und dem Deutschen Kaiserreich dazu geführt, dass die Entente-Mächte sich nach dem Krieg den Nahen Osten einverleiben konnten und eine neue Ära der Region begann. Es ist bemerkenswert, dass dieses historische Schlüsselereignis im populären Gedächtnis nur wenig bekannt ist und kein historischer Spielfilm seine Geschichte erzählt. Selbst in der heutigen Türkei, die unter ihrem Präsidenten Erdoğan mit erheblichem Stolz auf ihre osmanische Vergangenheit zurückblickt, erinnert man sich eher ungern an die letzten Tage des Imperiums. Dabei hat die Geschichte des Kriegseintrittes des Osmanischen Reiches einigen Stoff zu bieten, der sich mit ein wenig Fantasie leicht zu einer filmischen Erzählung, wenn nicht zu einer historischen Possengeschichte mit tragischem Ende ausarbeiten ließe.

Die Vorgeschichte des osmanischen Kriegseintritts In the global ocean all states were sharks, and all statesmen knew it. Eric Hobsbawm (1989) – Age of Empire

Seit dem Krimkrieg zwischen dem zaristischen Russland und dem Osmanischen Reich von 1853‒1856 kursiert die Redewendung vom ‚Kranken Mann am Bospo-

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rus‘.1 England und Frankreich greifen aus stark innenpolitisch motivierten Gründen in das Kriegsgeschehen ein (Zürcher 2003, 53), aber auch um zu verhindern, dass Moskau seine militärische Dominanz im Schwarzen Meer ausbauen kann. Letztere zielt darauf, sich den lang gehegten Traum von der Eroberung der Dardanellen und Istanbuls wahrzumachen. Der Bosporus, die Wasserstraße zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer, würde Russland einen direkten Zugang zum Mittelmeer verschaffen. Aus Sicht des britischen Empires käme dadurch allerdings die Landverbindung nach Indien unter Kontrolle einer mächtigen und potenziell feindlichen Großmacht. Nach Einstellung der Kriegshandlungen folgt an der Hohen Pforte in Istanbul eine Periode von Reformen unter englischem und französischem Einfluss, die einerseits als notwendige Modernisierung angesehen wird, andererseits mit einer zunehmenden Staatsverschuldung und neuen Abhängigkeiten einhergeht. Kulturell wie politisch sind die Reformen umstritten, führen insgesamt aber zu einer Verlagerung der politischen Macht vom Sultan an den ministerialen Verwaltungssitz der Hohen Pforte. (Vgl. Zürcher 2003, 50‒71) Ökonomische Krisen, Hungersnöte in Anatolien und politische Unruhen auf dem Balkan kulminieren in einem Staatsstreich in Istanbul, in dessen Zuge 1877 eine Verfassung verkündet wird, deren Einführung rudimentär bleibt. Zeitgleich spitzt sich die Lage auf dem Balkan weiter zu. Massaker an Christen, politische Unabhängigkeitsbestrebungen und die pro-slawische Politik Russlands münden in einen weiteren Krieg zwischen dem zaristischen Russland und dem Osmanischen Reich. Die militärische Auseinandersetzung von 1877‒1878 endet katastrophal für die Osmanen und wird in ihrer Reichweite nur durch die Intervention Englands und der Habsburgermonarchie auf der Konferenz von Berlin begrenzt. Die beiden intervenierenden Großmächte schlagen daraus ihrerseits Kapital, indem sie sich Gebiete des Imperiums einverleiben. Die Staatsgründungen auf dem Balkan und die Eroberung Ägyptens durch das britische Empire 1882 führen zu einem politischen Kurswechsel in Istanbul. Das Regime von Sultan Abdülhamid II., welches von 1878 bis 1908 die osmanische Politik bestimmt, kann als Versuch angesehen werden, das angeschlagene Reich autoritär zu stabilisieren (vgl. Rogan 2015, Pos. 212). Allerdings hat der nationalistische Funke Teile der militärischen und politischen Elite ergriffen. Diese organisieren sich unter anderem als Committee of Union und Progress (CUP) und sinnen darauf, dem Regime von Abdülhamid II. ein Ende zu machen. Dies wird im Militärputsch von 1908 schließlich realisiert, bei dem die aus dem CUP hervorgehenden, sogenannten Jungtürken die Reform des Reiches

1 Der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Europa verbreitete orientalistische Sprachgebrauch wurde später im türkischen Nachfolgestaat aufgegriffen, um sich vom eigenen osmanischen Erbe abzusetzen (vgl. Aksakal 2014, 463).

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fortsetzen wollten. Für den vorliegenden Kontext der erinnerungskulturellen Rekonstruktion der Transformationsperiode während des Ersten Weltkrieges ist es entscheidend, zu verstehen, dass die Machthaber in Istanbul schon lange vor dem Kriegsausbruch im Sommer 1914 mit dem Rücken zur Wand standen und unterschiedliche Kräfte um eine Reformierung des Reiches kämpften. Den eigentlichen Auftakt zu einem zeitlich erweiterten großen Krieg im Osmanischen Reich bildet die italienische Annektierung Lybiens 1911. Da die traditionelle Schutzmacht England nicht interveniert, wird das von den Balkanstaaten als Chance aufgefasst, auch auf dem europäischen Kontinent den Osmanen weitere Gebiete streitig zu machen. Es folgen 1912 und 1913 die Balkankriege, bei dem sich zunächst ein Bündnis von Serben, Bulgaren, Griechen, Montenegrinern gegen die Osmanen richtet und sich weite Teile des Balkans aneignet. Insgesamt ist es aus Sicht der heutigen Türkei mehr als schlüssig, eine andere Chronologie des Großen Krieges zu veranschlagen. Im Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches wird von einem zehnjährigen Krieg gesprochen, der mit dem Lybienkrieg 1911/12 beginnt und 1922 mit dem Türkisch-Griechischen Krieg endet (vgl. Aksakal 2014), ohne die zentrale Stellung der Periode des Großen Krieges zu übergehen. (Vgl. Yanıkdağ 2014, 1‒3)

Die Julikrise in Istanbul Die seit 1908 in der Regierungsmacht befindliche CUP-Führung von Mehmet Talaat, Damad İsmail Enver und Ahmet Cemal sind nach den Balkankriegen darauf bedacht, einen Bündnispartner unter den europäischen Großmächten zu finden, der das Osmanische Reich vor weiteren Gebietsverlusten schützen und die Modernisierung des Staates voranbringen soll (Fromkin 1989, 46‒49). Die Modernisierung sieht zunächst ein multiethnisches Konzept vor, indem mit Unterstützung von England und Frankreich mehr Partizipationsrechte für Minderheiten vorgesehen sind. Von Mai bis Juli 1914 versucht die Führung in Istanbul, Frankreich, Deutschland und selbst das als feindlich angesehene Russland als Bündnispartner zu gewinnen. Die Briten hatten ein solches Ansuchen bereits 1911 zurückgewiesen und sind mit dem heraufziehenden Krieg darauf bedacht, das zaristische Russland in der Allianz der Entente-Mächte zu halten. Letztere haben ihre früheren Kriegsziele der Einnahme von Istanbul und den Zugang zum Mittelmeer keineswegs aufgegeben. Der pro-französische Cemal Pascha schrieb mit Bezug auf den von Enver Pascha favorisierten deutschen Partner: „I should not hesitate to accept any alliance which rescued Turkey from her present position of isolation“ (Cemal Pascha zitiert nach Fromkin 1989, 48).

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Wie kommt es nun zum Bündnis zwischen den ‚Jungtürken‘ und dem Deutschen Kaiserreich, das den osmanischen Kriegseintritt nach sich zieht? Schließlich meint der deutsche Botschafter in Istanbul, Hans von Wangenheim, noch Mitte Juli 1914, dass das Osmanische Reich nur zu einer Belastung werden könne. Von deutscher Seite sind auf der Pro-Seite der Bündnisbestrebungen Kaiser Wilhelms patronale Haltung gegenüber den Arabern sowie die Aussicht, die Muslime des Osmanischen Reiches in Nordafrika sowie Indien zum Aufstand gegen ihre englischen und französischen Imperialherren zu bewegen. Hinzu kommen militärstrategische Erwägungen, wie den Seeweg nach Russland für England und Frankreich zu blockieren und so die russische Kriegsanstrengung zu schwächen. Der Historiker Mustafa Aksakal führt als weiteren Beweggrund an, dass insbesondere der habsburgischen Seite daran gelegen ist, das Bündnis mit Bulgarien gegen den russischen und serbischen Gegner zu stärken und mit Bulgarien eventuell eine zweite Front gegen Serbien zu schaffen. Bulgarien hatte mit den Jungtürken seit dem Zweiten Balkankrieg ein inoffizielles Bündnis geschlossen, das sich gegen russisch-serbische Aggressionen richtet. Nach Einschätzung des Habsburgischen Außenminister Graf Berchtold würde ein solch regionales Bündnis Gewicht für die Kämpfe in der Region haben. Die Jungtürken fordern im Gegenzug für ihre Bündniszusagen eine deutsche Unterstützung in dem zu erwartenden Kampf in Ostanatolien und im Kaukasus. Dies stellt eine unabdingbare Bedingung von osmanischer Seite dar, die später auch eintreten sollte. In Berlin ist man trotz der sich zuspitzenden Lage im Juli 1914 noch nicht bereit, eine solche Verpflichtung einzugehen. Insbesondere der Minister des Auswärtigen Amtes in Berlin, Gottlieb von Jagow, halten dem die militärische Schwäche der osmanischen Streitkräfte entgegen. Ein Einwand, den Botschafter Wangenheim und der Militärattaché Liman von Sanders teilen. Umgekehrt musste man allerdings einkalkulieren, was die Konsequenzen wären, sollten die Jungtürken doch ein Bündnis mit der Triple Entente zustande bringen, um aus ihrer zunehmend unerträglichen diplomatischen Isolation auszubrechen. (Vgl. Aksakal 2008; Fawaz 2014, Pos. 834; Yanıkdağ 2014, 4)2 Der zögerliche Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten ÖsterreichUngarns und dem Kaiserreich vollzieht sich über den Zeitraum von Ende Juli bis Anfang November 1914. Fast zeitgleich mit der britischen Annexion zweier Kriegsschiffe für die osmanische Flotte durch den Admiral zu See, Winston Churchill, schließen Teile der Jungtürken [Enver und Talaat, nicht Cemal; M.E.] Anfang August ein Geheimabkommen mit dem Kaiserreich, das ihnen deutsche Protektion

2 Lokalgeschichtliche Betrachtungen, insbesondere zur deutschen Kriegsbeteiligung in der Region enthalten die Sammelbände von Farschid/Kropp/Dähne (2006) sowie Loth/Hanisch (2014).

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im Falle feindlicher Angriffe zusichert.3 Im Gegenzug erklärt man sich in Istanbul dazu bereit, die Kriegsanstrengungen auf Seiten der Mittelmächte zu teilen, sollte der deutsch-habsburgische Bündnisfall eintreten (Fromkin 2009, 59). Ein wichtiges Vertragsdetail ist, dass der Bündnisfall nur dann Geltung erlangt, wenn Russland einen der Unterzeichner zuerst angreift.4 Da aber das Kaiserreich dem zaristischen Russland den Krieg erklären wird, nutzen die Jungtürken diese Klausel, um zunächst Neutralität waren zu können, was die ohnehin präferierte Alternative an der Hohen Pforte war. Dies zögert den Kriegseintritt bis November hinaus. Die Beschlagnahmung der osmanischen Schiffe durch die Briten hatte großen Einfluss auf die öffentliche Stimmung in Istanbul, da der Bau der mächtigen Dreadnaughts-Schlachtschiffe durch öffentliche und private Gelder finanziert worden war. Die Nicht-Auslieferung wurde als Betrug am türkischen Volk wahrgenommen. Es ist fast unmöglich einzuschätzen, wie die politischen Entscheidungsprozesse verlaufen wären, hätte man den Jungtürken diesen Vertrauensbeweis entgegengebracht. Es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass die Alliierten sich die osmanische Neutralität hätten sichern können. Unklar ist vielmehr, ob das tatsächlich in deren Interesse war. In London herrschte die Einschätzung vor, dass man die osmanische Armee „im Spaziergang werde zerschlagen können“ (Lawrence 2013, Pos. 1090) und es winkte die Einverleibung der erdölreichen Gebiete in Mesopotamien. Dies schien durch den militärischen Verlauf der Balkankriege kurz zuvor mehr als realistisch. Zudem hätte man bei einer Annäherung an die Jungtürken wiederum das Bündnis mit dem zaristischen Russland gefährdet, das seinerseits ein beträchtliches Interesse an einem Zugang zum Mittelmeer und Gebietsgewinnen im Kaukasus und Anatolien hatte (vgl. Fromkin 2009, 127; James 2014, 93 + 105). Der jungtürkischen Führung waren die Interessen der Entente-Mächte nicht verborgen geblieben. Aus abgefangenen Nachrichten des russischen Botschafters in Paris wusste man, dass sich russische und französische Autoritäten nach dem Krieg nicht an territoriale Zusagen halten würden (vgl. Aksakal 2010, 189‒194; ebenso Suny 2015a, 215). Wie schwerwiegend die russische Territorialinteressen waren, zeigte sich bereits während des frühen Kriegsverlaufs noch vor der Gallipoli-Offensive im Frühjahr 1915, als der russische Außenminister Sazonov durchblicken ließ, dass man die weitere Kriegsbeteiligung von entspre-

3 Eine detaillierte Darlegung der geheimen Bündnisverhandlungen zwischen dem Großwesir Said Halim und Jagow und der jungtürkischen Hinhaltetaktik beim Kriegseintritt findet sich bei Aksakal (2008). Eine jüngere Untersuchung von Rashid R. Subaev kommt zu dem Schluss, dass die Betrachtung der personalen Entscheidungsprozesse zum Kriegseintritt über das Triumvirat von Talaat, Enver und Cemal Pascha hinaus zu erweitern ist, um eine adäquate Einschätzung der Entscheidungsfindung zu erhalten (vgl. Subaev 2015, 148). 4 Eine Auflistung der Vertragspunkte findet sich bei Zürcher (2003, 111).

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chenden Zugeständnissen abhängig machen würde. Frankreich selbst bekundete einen Anspruch auf Gebiete entlang der Levante und in Syrien, die einen hohen christlichen Bevölkerungsanteil hatten. Im Resultat lenkten Briten und Franzosen im Abkommen von Konstantinopel im April 1915 gegenüber den zaristischen Interessen ein, wobei man im Gegenzug Zugeständnisse über die Kontrolle anderer Teile des osmanischen Reiches erhielt.5 Das Abkommen schlug Istanbul, deren heilige Stätten unter muslimischer Obhut bleiben und einen Freihafen erhalten sollte sowie die gewünschten Territorien dem zaristischen Russland zu. Die geheime Abmachung zwischen den Entente-Mächten wurde – wie das weit bekanntere Sykes-Picot-Abkommen ‒ durch die Bolschewiki im November 1917 veröffentlicht. Während letzteres aufgrund seiner symbolischen Bedeutung für den Nahen Osten im erinnerungskulturellen Gedächtnis fest verankert ist, geriet das Vorläuferabkommen, welches Sykes-Picot überhaupt erst ermöglichte, nahezu in Vergessenheit.6 Beide Geheimabkommen wurden aufgrund der russischen Revolution nicht umgesetzt. Sykes-Picot blieb als Vorlage für die regionalen Folgeverträge allerdings richtungsweisend. Der historische Beitrag des zaristischen Russlands auf die Entwicklungen hin zum Kriegseintritt des Osmanischen Reiches und der daran geknüpften Bündnisse geriet durch die Umwälzungen der Novemberrevolution nahezu in Vergessenheit. Umgekehrt zeigte auch der türkische Nachfolgestaat kein allzu großes Interesse an der historischen Misere des delegitimierten Reiches, so dass im „kollektiven Gedächtnis der heutigen Türkei die Osmanen den Ersten Weltkrieg verloren und die Türken ihn gewonnen haben“ (Aksakal 2014, 464). Filmisch findet das Abkommen von Konstantinopel lediglich in einer TVDokumentation des Zentenariums eine historisch adäquate Erwähnung. Dabei handelt es sich kaum zufällig um eine Aljazeera Englisch Produktion SYKES-PICOT. LINES IN THE SAND, die der arabisch-muslimischen Seite der Geschichte mehr Aufmerksamkeit entgegenbringt. Im vierten Kapitel dieses Buches wird darüber hinaus dargelegt, wie das Sykes-Picot-Abkommen insgesamt in den dokumentarischen Narrativen des Senders zum Bestandteil eines kulturellen Traumas im Nahen Osten aufsteigt. Die Kenntnis der historischen Ereignisse soll verdeutlichen helfen, was für die historischen Akteure insbesondere im Osmanischen Reich auf dem Spiel

5 Vergleich die Korrespondenz, sogenannte aide-mémoire, zwischen den russischen, englischen und französischen Diplomaten: http://www.self.gutenberg.org/articles/eng/Constantinople_ Agreement (11. Oktober 2017). 6 Der Historiker und Experte für die Geschichte des Osmanischen Reiches, Eugene Rogan, hat in einer Vorlesung zu den jüngeren Forschungsentwicklungen auf diese Leerstelle im erinnerungskulturellen Gedächtnis hingewiesen. Seiner Einschätzung nach kam durch das Zentenarium etwas Bewegung in die unterbelichtete Geschichte des Nahen Ostens zur Zeit des Großen Krieges. Vgl. Rogan: https://www.youtube.com/watch?v=pyKoqjFD9TU (25. Juli 2018).

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stand. Man mag sich die Tragweite dessen durch eine kontrafaktische Annahme vergegenwärtigen: Ohne die russische Revolution wäre Istanbul als Kriegsbeute dem zaristischen Russland zugefallen und hätte – gemäß dem Abkommen von Konstantinopel – den Status eines internationalen Freihafens unter Moskaus Kontrolle eingenommen.

Der Admiral vom Bosporus Eine besondere Bedeutung beim Kriegseintritt des Osmanischen Reiches kommt der Entsendung zweier deutscher Schlachtschiffe, der Goeben sowie deren Begleitschiff, der Breslau, zu. Die Entsendung und ihr Einfluss auf den Kriegseintritt der Jungtürken gleicht einer historischen Possengeschichte, die den Einfluss kontingenter individueller Entscheidungen auf geschichtliche Prozesse auch angesichts überwältigender struktureller Probleme unterstreicht. Sie beginnt mit der zwischen Enver Pascha und dem deutschen Botschafter in Istanbul Hans von Wangenheim sowie dem Militärattaché Otto Liman von Sanders beim Geheimabkommen am 2. August 1914 getroffenen Vereinbarung, die deutsche Mittelmeerflotte an den Bosporus zu verlegen. Dies sollte der osmanischen Armee den Rücken für eine bevorstehende Offensive gegen die zaristischen und serbischen Streitkräfte freihalten. Die beiden Schiffe stehen unter dem Kommando von Admiral Wilhelm Souchon. Schon wenige Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens zeigt sich, dass Teile der CUP-Führung keineswegs deutsche Kriegsschiffe am Bosporus sehen wollen: Sie bitten Berlin um eine entsprechende Anweisung an Admiral Souchon. Dieser erhält ein Telegramm, wonach die Weiterfahrt nach Konstantinopel/Istanbul „not possible“ (Fromkin 2009, 63) sei.7 Nach Fromkin interpretiert der Admiral die Anordnung aber lediglich als eine Warnung und nicht als einen Befehl. Er entschließt sich zur Weiterfahrt. Die Engländer wissen um die deutschen Kriegsschiffe, die kurz vorher die algerischen Häfen angegriffen hatten und versuchen sie abzufangen. Admiral zur See Winston Churchill ordnet den beiden dort befindlichen britischen Schlachtschiffe an, sich westlich von Sizilien zu platzieren, um einen wiederholten Angriff zu verhindern. Niemand geht davon aus, dass die Schiffe auf dem Weg nach Istanbul sein könnten, weshalb der überraschte Souchon freie Fahrt in die Adriatische See hat. Als die deutschen Kriegsschiffe in die Dardanellen einlaufen wollen, hat sich die Situation allerdings verkompliziert. Istanbuls Großvizier, Said Halim, stellt harsche Bedingungen an die Aufnahme der Kriegs-

7 Vergleiche zu weiteren Details der Entscheidung von Admiral Souchon den online publizierten Aufsatz von Rolf Bürgel (2005): „S.M.S. Goeben – Ein Kapitel deutsch-türkischer Beziehungen“.

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schiffe, die formal keine Genehmigung zum Einlaufen haben. Da die britischen Schlachtschiffe mittlerweile den deutschen dicht folgen, ist an eine Umkehr nicht zu denken. Botschafter Wangenheim bleibt nichts übrig, als die Bedingungen des Großveziers zu akzeptieren, um die beiden Schiffe und ihre Besatzung nicht zu gefährden. Damit hat sich das Problem noch lange nicht erledigt. Die Goeben und die Breslau kompromittieren die osmanische Neutralität. London verlangt, dass die Schiffe entweder interniert oder in internationale Gewässer zurückgeschickt werden. Allerdings geht insbesondere Churchill davon aus, dass es sich ohnehin nur um eine deutsche Finte ob eines schon beschlossenen Bündnisses handelt. Dies ist angesichts der unter den Jungtürken präferierten Neutralitätsbewahrung trotz des unterzeichneten Geheimbündnisses keineswegs der Fall. Der Großvezier hat indes andere Pläne. Er drängt die Deutschen dazu, einem fiktiven Verkauf der Schiffe zuzustimmen. Berlin fordert im Gegenzug den unmittelbaren Kriegseintritt der Osmanen, was diese ablehnen. Ohne einen Kompromiss zu erreichen, gibt die osmanische Regierung am 14. August 1914 den Erwerb der Schiffe zum Preis von 80 Millionen Mark bekannt. Die Nachricht findet großen Anklang im Osmanischen Reich. Wangenheim rät Berlin dazu, dem unfreiwilligen Verkauf zuzustimmen, um die öffentliche Meinung nicht gegen die Deutschen aufzubringen. Am 16. August nimmt der Marineminister, Cemal Pascha, die Schiffe offiziell in die osmanische Flotte auf. In London herrscht die Einschätzung vor, dass man es mit einem geschickt kalkulierten Manöver der Deutschen zu tun hat, die durch den großzügigen Verkauf der Schiffe ihr Bündnis festigen wollen und dabei die vertragswidrige NichtAuslieferung der in England gefertigten osmanischen Schiffe ausnutzen. Eine bemerkenswerte Überschätzung deutscher diplomatischer Finesse, die sich auch heute noch in der englischsprachigen Historiografie finden lässt (vgl. James 2013, 105). Eine Strafaktion des verärgerten Churchills gegen die Osmanen, der britische Zerstörer zur Versenkung der deutschen Schiffe durch das Marmara-Meer in den Bosporus schicken wollte, kann durch die Intervention des Kriegskabinetts gerade noch verhindert werden (vgl. Fromkin 2009, 65). Unterdessen mangelt es der osmanischen Marine an ausgebildeten Offizieren und einer Mannschaft, die die modernen Kriegsschiffe führen könnten. Die deutsche Besatzung bleibt an Bord und wird mit osmanischen Uniformen und Fez ausgestattet und einer Einlistungsprozedur unterzogen. Entgegen der englischen Einschätzung war man auf deutscher Seite äußerst verärgert über die Hinhaltetaktik der jungtürkischen Führung. Insbesondere der Botschafter Wangenheim sowie General Liman von Sanders zeigten sich in Istanbul hochgradig frustriert. Die Unstimmigkeiten reichten bis dahin, dass von Sanders davon sprach, Enver und Cemal zum Duell zu fordern und mit Abzug der deutschen Militärmission drohte (vgl. Fromkin 2009, 68).

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Es dürfte bis hierher schon klargeworden sein, warum Personal und Handlung sich zum Filmstoff eignen. Würde man noch eine deutsche oder englische Diplomatentochter hinzufügen, die sich in Istanbul zwischen zwei Männern entscheiden muss, hätte man die melodramatische Figurenkonstellation beisammen, die im Historienfilm gerne zur Dramatisierung großer historischen Entscheidungen herangezogen wird. Die kriegsentscheidende Wendung vollzieht sich weit weniger glamourös in einer Mischung aus strukturellen Zwängen, machtpolitischen Ambitionen, diplomatischen Missverständnissen, Zeitnot und Großmannssucht, die der australische Historiker Christopher Clark so glänzend zur Charakterisierung der Entscheidungsträger während Periode des Kriegseintritts herausgearbeitet hat (vgl. Clark 2013, 515–551). Das jungtürkische Umschwenken von Neutralität zur Kriegsbeteiligung wurde nach Fromkin durch die von Enver Pascha und anderen geteilte Einschätzung vorangetrieben, dass nach dem deutschen Sieg über Russland bei Tannenberg, der Gesamtsieg der Deutschen kaum noch aufzuhalten gewesen sei (2009, 70‒71). Die Abkehr von der bislang erfolgreichen Neutralitätsstrategie zu einer aggressiveren Kriegsbeteiligung versprach Territorialgewinne vor allem im Kaukasus, die man bei fortgesetzter Neutralität nicht hätte realisieren können. Allerdings reichte selbst das nicht aus, um eine endgültige Kriegsbefürwortung in Istanbul durchzusetzen. Da die osmanische Armee bekanntermaßen auf finanzielle Zuschüsse angewiesen war, forderte man am 12. Oktober 1914 zwei Millionen Türkische Pfund in Gold. Die Deutschen entsandten das Gold in zwei Teilen über das neutrale Rumänien nach Istanbul. Nach Erhalt der zweiten Marge änderten Talaat und Halil wiederum ihre Position, was Enver den Deutschen am 23. Oktober berichtete. Nun entschloss sich Enver mit Cemal zu einer anderen Strategie. Anstatt Partei und Regierung vom Pro-Interventionskurs zu überzeugen, wollte man durch eine Provokation eine Kriegserklärung der Entente bewirken. „Enver and Cemal issued secret orders allowing Admiral Souchon to lead the Goeben and Breslau into the Black Sea to attack Russian vessels. Enver’s plan was to claim that the warships had been attacked by the Russians and had to defend itself.“ (Fromkin 2009, 71‒72) Admiral Souchon nutzte die Gelegenheit, um eigenwillig die russische Küste zu bombardieren und so den Kriegseintritt zu erzwingen. Souchon schien allerdings die Gewissheit zu haben, dass führende Teile des osmanischen Kabinetts seiner Aktion zustimmen würden (vgl. Suny 2015a, 218). Dennoch versuchte das Kabinett auch nach dem Beschuss der Küste, durch eine Entschuldigung bei den Russen den Krieg abzuwenden. Enver vereitelte die Beschwichtigungsbemühungen wiederum, indem er der offiziellen Note an den Zaren eine Formulierung hinzufügte, welche besagte, dass Russland die Attacke provoziert hätte. Die zaristische Regierung formulierte ein Ultimatum und erklärte am 2. November 1914 dem Osmanischen Reich den Krieg. (Vgl. Fromkin 2009, 72‒74)

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Entscheidend für den Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten der Mittelmächte sind also einerseits das eigenwillige Handeln des Flottenadmirals Souchon, der sich zuerst entgegen einer Anordnung aus Berlin dazu entscheidet, Kurs auf Istanbul zu nehmen und dann durch ein Bombardement der russischen Küste Kampfhandlungen in Gang setzt. Andererseits ist das nur möglich, weil eine Gruppe um Enver Pascha sich damit durchsetzt, die Provokationen zu befürworten, um mit der Neutralität des Osmanischen Reiches zu brechen. Hätten die Mittelmächte zusammen mit den Jungtürken den Krieg gewonnen, wäre die Geschichte längst mehrmals verfilmt und in den Status nationaler oder imperialer Mythen umgedichtet worden. Für Admiral Souchon hätte man sicher das ein oder andere Denkmal in den Hauptstädten der Mittelmächte errichtet. So aber ist die Episode, die maßgeblich zum Untergang des Osmanischen Reiches und der Entstehung des modernen Nahen Ostens beigetragen hat, in der populärkulturellen deutschen und türkischen Erinnerung nahezu in Vergessenheit versunken und durch die erheblichen Fehleinschätzungen auf britischer Seite ebenso zum Anathema geworden. Die kaum schmeichelhaftere russische Perspektive wurde durch die Novemberrevolution und das sowjetische Regime unter Stalin komplett überlagert. Im Zentenarium begegnet man der Episode nur beiläufig im fiktionalen Film THE PROMISE, der die Bedeutung der Einfahrt der deutschen Schlachtschiffe in Istanbul verzerrt wiedergibt. Ein US-amerikanischer Journalist, der in der Filmhandlung zur Bezeugung des Genozids an den Armeniern herangezogen wird,8 kommentiert die Salutschüsse der Schlachtschiffe als Bestätigung des Bündnisses zwischen Türken und Deutschen, das auf eine aggressive Ausweitung der Grenzen des Osmanischen Reiches ziele. Die historische Realität sah, wie oben beschrieben, aus der Perspektive des zur Zerstückelung freigegebenen Imperiums etwas anders aus. Die militärgeschichtlichen Konsequenzen für den Verlauf des Ersten Weltkrieges selbst waren ebenso weitreichend. Kein geringerer als der ehemalige Reichsmarschall Paul von Hindenburg merkte nach dem Krieg an, dass die Beteiligung des Osmanischen Reiches auf Seiten der Mittelmächte den Krieg etwa um zwei Jahre verlängert hat, gleichzeitig aber auch eine Schwachstelle des Bündnisses war (vgl. Fromkin 2009, 265). Die Seeblockade des Schwarzen Meeres war eine empfindliche Beeinträchtigung für das zaristische Russland und dessen Versorgung durch alliierte Industrie- und Rüstungsgüter, die nach Kriegseintritt der Osmanen um fünfundneunzig Prozent sank. Eigene Exporte gingen sogar noch mehr zurück, was nach dem Historiker Jörn Leonhard den kurze Zeit später einsetzenden Gallipoli-Feldzug erklärt, der die Meerengen der Dardanellen unter Alliierte

8 Vergleiche dazu die Besprechung des Films in Kapitel 3 dieses Buches.

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Kontrolle bringen sollte (vgl. Leonhard 2014, 161). Die insbesondere im australischen und neuseeländischen Gedächtnis legendäre Gallipoli-Schlacht hätte nicht stattgefunden und der sicher noch verheerendere Genozid an den Armeniern wäre vermutlich auf einzelne, seinerzeit durchaus übliche Pogrome und Vertreibungen beschränkt geblieben.9 Insgesamt wäre bei einem Eintritt auf Seiten der Entente-Mächte oder einer fortbestehenden Neutralität die Aufteilung der Region des Osmanischen Reiches entscheidend anders ausgefallen. Der Nahe Osten, so wie wir ihn heute kennen, wäre nicht entstanden. Für die Analyse der Kodierung von kulturellen Traumata im Medium Film ist die hier vorgenommene historische Betrachtung von erheblicher Bedeutung. Nur so wird die häufig implizit bleibende Auswahl der historischen Bezugspunkte kenntlich, die die Filme erinnerungskulturell vornehmen und in das ihnen nahestehende populäre Gedächtnis einspeisen. Diese historische Referenzialität begleitet die im folgenden Kapitel untersuchten Zentenariumsfilme des Ersten Weltkrieges und dient dazu, den Vergleich mit den bekannteren historischen Ereignissen in Westeuropa nachvollziehbarer zu machen.

9 Eine solche Einschätzung vertritt der Historiker Gregor Suny. Die Folgen des Kriegseintrittes durch die Entscheidungen einiger „higly placed men in Istanbul and St. Petersburg“ (Suny 2015b, 216) habe eine ganz andere Geschichte des Nahen Ostens aber auch der Armenier mit sich gebracht. Wären die mit den Entente-Mächten begonnenen Reformen in Anatolien fortgesetzt worden, die eine proportionale Einbindung von Christen in die Polizeikräfte vorsahen, hätte sich der Genozid an den Armeniern aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zugetragen (ebd.). Zudem wäre der Hauptvorwand gegen die Armenier, das vermeintlich umfassende Bündnis mit dem zaristischen Russland, weggefallen.

3 Erinnerungskulturelle und filmische Entwicklungen im Zentenarium Gedenktage und Erinnerungskultur Jahrestage sind von sich aus nicht unbedingt dazu angetan, neue erinnerungskulturelle Entwicklungen hervorzubringen. Vielmehr stellen sie Foren bereit, in denen sich stark ritualisierte Formen der Erinnerung mit verschiedenen künstlerischen und medialen Ausdruckformen verbinden, die im Falle des Ersten Weltkrieges in Ländern wie Australien, Belgien, England, Frankreich mehr und in anderen wie Deutschland oder den Staaten des Nahen Ostens weniger staatliche Unterstützung unterhalten.1 Der Potsdamer Zeithistoriker Martin Sabrow konstatiert eine „fortschreitende Medialisierung und jubilarische Eventisierung“, die als „erinnernde Annäherung und zugleich lernwillige Distanzierung“ nun auch den Ersten Weltkrieg erfasst habe (Sabrow 2014, 142). Die zeitgeschichtliche erinnerungskulturelle Konstellation in Deutschland verschränkt 2014 den fünfundsiebzigsten Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges, den fünfundzwanzigsten Jahrestag der friedlichen Revolution von 1989 und eben die ‚Jahrhundertfeier‘ des Großen Krieges. Das begünstigt die Klammerfunktion des Zentenariums der bereits benannten „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Kennan 1979) im europäischen und speziell deutschen Kontext. Gleichzeitig lassen sich Tendenzen ausmachen, die Zentenariumsfeierlichkeiten als Türöffner für kolonial- und globalgeschichtliche Betrachtungen zu verstehen, die bestehende Trends von verflechtungsgeschichtlicher Forschung in Historiografie (Bauerkämper 2014; Janz 2014, Kramer 2014) und Cultural-Memory-Forschung (Rigney 2017, 171) fortsetzten. Im deutschen kulturellen und kommunikativen Gedächtnis (Aleida Assmann 1999; Jan Assmann 2008) wird dabei unter anderem verhandelt, wie eine wiedergewonnene ökonomische Vormachtstellung in Europa in eine gesamteuropäische Erinnerungskultur einzubetten sei. Das ist der erinnerungspolitische Hintergrund, vor dem die in Deutschland so emotional geführte Debatte um die Kriegsschuldthese und deren „Rangordnung der Verantwortung“ (Mombauer 2014, 319) sich zuträgt. (Vgl. Clark 2013; Kramer 2014, 9‒12; Krumeich 2014; Münkler 2013) In anderen europäischen Ländern erlangte die Diskussion um Christopher Clarks Sleepwalker, welches die

1 Vergleiche für einen allgemeinen Überblick von Aktivitäten und Ausgaben im Bereich der Visual Arts den Aufsatz von Paul Gough (2019) sowie für die allgemeinen staatlichen Aufwendungen in Europa und Australien (Beaumont 2018; Janz [im Erscheinen]). https://doi.org/10.1515/9783110654431-004

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Julikrise in den europäischen Machtzentren und auf dem Balkan Revue passieren lässt, keine vergleichbare Aufmerksamkeit.2 Insgesamt lässt sich die sogenannte Kriegsschuldfrage insbesondere im populärkulturellen Gedächtnis als Evergreen innerhalb der Debatten um den Ersten Weltkrieg bezeichnen. Entsprechend setzen sich Publikationen und filmische Verarbeitung in Produktionen wie 37 DAYS oder EUROPAS LETZTER SOMMER unter Beflügelung des Zentenariums fort.3 Die ungeheure Aufladung der Kriegsschuldfrage hängt damit zusammen, dass der Erste Weltkrieg in den nationalen Gedächtnissen der Nachfolgestaaten der Entente und Mittelmächte als Ausgangspunkt der historischen Katastrophen des „Short Twentieth Century“ (Hobsbawm 1994, 6) bewertet wird. Diese mehr oder weniger direkte Verknüpfung zu den autoritären Umbrüchen im Europa der Nachkriegszeit wird durch eine anhaltende Fachdiskussion gespeist (vgl. Kershaw 2015; Kramer 2014; Mombauer 2014; Wehler 2004), die im Falle Deutschlands mit der unzweideutigen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und Holocaust verknüpft ist. Die moralische und politische Bewertung der Frage nach Verursachung und Verantwortung des Großen Krieges weisen daher über diesen hinaus und werden mit enormer Bedeutung ausgestattet. Eine solche Bedeutungszuweisung kann nur retrospektiv vorgenommen werden. Es lohnt sich, einen kurzen Blick in George F. Kennans Decline of Bismarck’s European Order zu werfen, in dem der amerikanische Diplomat und Historiker die Bezeichnung „the [Kursivsetzung im Original; M.E.] great seminal catastrophe

2 In Deutschland wurde Clarks Buch in allen maßgebliche Feuilletons besprochen. Die gegensätzlichen Besprechungen in der Zeit von Heinrich August Winkler (2014) und Jens Jessen (2014) veranschaulichen die fortbestehende Kontroverse um die historische Verantwortung der Deutschen, die weit über die Julikrise hinausweist. 3 Eine detaillierte Betrachtung der Thematik und Produktionen wäre auf ein eigenes Kapitel hinausgelaufen, was aufgrund der speziell in diesem Bereich enormen historiografischen Literatur zeitlich nicht zu leisten war. Erinnerungskulturell auffallend an beiden Produktionen ist, dass sie ein Bild der Julikrise zeichnen, wie sie aus der Feder von Fritz Fischer stammen könnte. Die preußische Militärführung hat im Verbund mit Reichskanzler Bethmann Hollweg den Krieg schon in der Schublade und muss lediglich den eitlen und letztlich unfähigen Kaiser aus dem Entscheidungsprozess herausdrängen. Eine solche Beschreibung mag historisch einigermaßen zutreffend sein, übergeht aber komplett eine kritisch-international vergleichende Betrachtung der anderen Machtzentren sowie eine adäquate historische Situierung der Krisenpolitik im ‚Zeitalter des Imperialismus‘ (Hobsbawm 1994, 312‒322) mit seinen eigenen Moralund Politikvorstellungen. Den erinnerungskulturellen Gegenentwurf dazu liefert die unter der Leitung von Guido Knopp entstandene dreiteilige TV-Miniserie WELTENBRAND. Diese greift das Narrativ vom Zweiten Dreißigjährigen Krieg auf und versucht den erheblichen Beitrag des Deutschen Kaiserreichs zur Kriegsentwicklung durch eine allgemeine Opfergeschichte zu nivellieren. Der WELTENBRAND erfährt eine eingehendere Betrachtung im letzten Kapitel dieses Buches.

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3 Erinnerungskulturelle und filmische Entwicklungen im Zentenarium

of the century“ (1979, 3) formuliert hat. Dessen Einleitung wurde Ende der 1970er Jahre verfasst und liest sich heute noch unverbraucht. Vier Aspekte, die über die bekannte außenpolitische Situierung seiner Abfassung zur Zeit des Kalten Krieges hinausreichen, sind erinnerungstheoretisch daran bemerkenswert. Zum einen nennt Kennan als wichtige Bezugsgröße seines Kriegsverständnisses vorwiegend literarische Werke, namentlich „Remarque, Haček, Hemingway, Bulgakov“ (ebd.), die er als junger Diplomat im Baltikum, der Sowjetunion und im Deutschland der Weimarer Republik las. Er führt zweitens aus, dass man gegen Ende der 1930er Jahre der Diskussion um Kriegsschuld bereits überdrüssig geworden war und dass unter „reasonable and thoughtful people“ (ebd.) ein Konsens bestand, die Ursachen jenseits einzelner Regierungen oder Regierungsgruppen [gemeint sind wohl die diplomatischen Bündnisse der Entente und Achsenmächte; M.E.] der Julikrise zu suchen. Drittens wird ein generationeller Bezug zu Personen hergestellt, die nur etwa fünf bis zehn Jahre älter als er selbst waren und die millionenfach ihr Leben auf den Schlachtfeldern ließen. Die generationelle Bezugnahme ist von einem Bewusstsein der Zufälligkeit der eigenen Herkunft und Geburt geprägt. Er reflektiert, dass – wenn er nur vier bis fünf Jahre älter gewesen wäre – er vielleicht an dem verheerenden Krieg teilgenommen hätte, anstatt nun die Aussicht auf ein erfülltes Leben zu haben. Kennan weist auf die religiösen und sozialen Konnotationen seiner Gedanken hin, ohne diese genauer zu spezifizieren. Er bezeichnet viertens die Jahre von 1914 bis 1918 explizit als „Holocaust“ (Kennan 1979, 3), was mit dem zeitgeschichtlichen Kontext seiner Publikation 1979 zu tun haben mag. Sein Buch erschien gerade mal ein Jahr nachdem die gleichnamige US-amerikanische TV-Serie hundertzwanzig Millionen amerikanische Zuschauer vor die Fernsehgeräte zog, um dem Schicksal der fiktiven deutsch-jüdischen Familien Weiss und Dorf durch den Zweiten Weltkrieg und Holocaust zu folgen. Die Weimarer Zwischenkriegszeit, Stalinismus und Nationalsozialismus als politische Bewegungen sowie der Zweite Weltkrieg selbst scheinen ihm auf Engste mit den furchtbaren Ereignissen des Großen Krieges verbunden. Aus dieser Zusammenführung erwächst die schwergewichtige Formulierung der „great seminal catastrophe“ [Urkatastrophe; M.E.] des zwanzigsten Jahrhunderts, die er nicht als seine originäre Einsicht ausgibt, sondern als zeitgeschichtlichen Konsens beschreibt. Implizit wird durch die Bezugnahmen auf Antikriegsliteratur sowie durch eine nationen- und generationenüberschreitenden Betrachtungsweise, die sich mit einem Bewusstsein der Zufälligkeit der eigenen Herkunft verbindet, ein universalistischer Standpunkt der moralischen Bewertung eingenommen. Es ist sicher kein Zufall, dass eine solche weitreichende Charakterisierung und Einordnung des Großen Krieges von einem der Architekten der Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen wurde. Kennan, der als ameri-

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kanischer Diplomat in Russland und Deutschland arbeitete, wird ein maßgeblicher Einfluss auf die Entwicklung der Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion und der damit verbundenen Implementierung des Marshallplans zugeschrieben (Gaddis 2012, 227). Seine Umschreibung und Kodierung der Gewaltgeschichte als europäische Urkatastrophe korrespondieren in mehrfacher Hinsicht mit der Konstruktion eines kulturellen Traumas. Sie definiert sich als erinnerungskulturelle Konstruktion eines medienvermittelten Epochenbruchs, die sich weniger durch die Verarbeitung eines direkten Erlebens, denn als kulturelle Sinngebung auszeichnet. Damit geht eine moralische, auf Leiden bezogene Dimension der Betrachtung einher, die die Zufälligkeit der eigenen Herkunft4 zum Ausgangspunkt nimmt. Und schließlich wird eine auf politische Selbstkorrektur ausgelegte Analyse historischer Prozesse in demokratischen Gesellschaften vorausgesetzt. Diese wurde mit Kennans Unterstützung als Einsicht der siegreichen Westmächte nach dem Zweiten Weltkrieg zum Zwecke der Demokratieentwicklung in Europa aktiv umgesetzt und nicht – wie nach Ersten Krieg durch die Versailler-Verträge – erschwert. All diese Elemente sind Bestandteile der moralischen Grammatik bei der Konstruktion eines kulturellen Traumas, dessen medienförmige Rekonstruktionen der gewaltvollen Vergangenheit (1) auf die Abschaffung oder Reduzierung von Leiden zielt (2) und notwendig einen zivilgesellschaftlichen, politischen Aushandlungsprozess (3) der historischen Akteure umfasst.5 Die Geltung der von Kennan vorgenommenen Kodierung der Gewaltgeschichte als kulturelles Trauma reicht bis tief ins Zentenarium und dessen Memorialveranstaltungen und -politiken hinein. Die Homepages der beiden deutschen öffentlichrechtlichen Sendeanstalten bewerben ihre historischen Schwerpunktprogramme mit der ‚Urkatastrophe‘ im Titel6 oder verweisen gleich eingangs darauf.7 Es ist allerdings zu betonen, dass damit keineswegs dessen allgemeine Geltung in den unterschiedlichen Ländern und Regionen unterstellt werden kann. Vielmehr wird in dieser Untersuchung davon ausgegangen werden, dass es zu nationalen, kulturellen, fach- und medienspezifischen Adaptionen des Narratives kommt und auch neue Perspektiven auf die Gewaltgeschichte des Großen Krieges entworfen werden.

4 Eine solche Betrachtungsweise ist wiederum eng mit den universellen, auf formaler Gleichheit basierenden Wertsystemen einer politischen und kulturellen Moderne verbunden. 5 Jeffrey C. Alexander hat mit der Kategorie des ‚Trauma-Prozess‘ die einzelnen gesellschaftlichen und kulturellen Schritte bei der Konstruktion und Etablierung eines solchen kulturellen Traumas ausgewiesen. Vergleiche dazu die Einleitung dieses Buches sowie Alexander 2012. 6 ARD: https://www.ard.de/home/wissen/Erster_Weltkrieg/629098/index.html (01. Juli 2020). 7 ZDF: https://www.zdf.de/dokumentation/momente-der-geschichte/der-erste-weltkrieg-104. html (01. Juli 2020).

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3 Erinnerungskulturelle und filmische Entwicklungen im Zentenarium

Der folgende Abschnitt dient dazu, die Neuerungen im engeren Bereich der filmischen Produktionen zu umreißen. Diese werden im Anschluss in den einzelnen Abschnitten dieses Kapitels ausführlich dargelegt und besprochen. Es wird danach gefragt, welche Themenkomplexe und Betrachtungsweisen während des Zentenariums hervortreten. Mit welchen narrativen und ästhetischen Strategien die Zentenariumsfilme die zentralen Metaphern der Weltkriegserinnerung mitsamt ihren gesellschafts- und moraltheoretischen Implikationen fort- und umschreiben und ob sich neue Entwicklungen in Abgrenzung zur jüngeren Filmgeschichte ausweisen lassen. Kapitel 4 und Abschnitte aus Kapitel 5 greifen die nämlichen Fragestellungen mit Bezug auf die erinnerungskulturelle Konstruktion der Kriegsgeschichte im Nahen Osten auf.

Was gibt es Neues im Zentenarium? Im Zentenarium lassen sich eine Reihe von Entwicklungen ausmachen, die oft mit allgemeineren erinnerungskulturellen und filmgeschichtlichen Tendenzen verbunden sind, aber durch das Jubiläum einen besonderen Antrieb erhalten haben. Die allgemeinen erinnerungskulturellen Feierlichkeiten und oft staatlich geförderten Gedenkveranstaltungen während des Zentenariums konnten nur punktuell in Bezug auf einzelne Filme betrachtet werden und sind nicht Bestandteil der folgenden Aufzählung: Der Genozid an den Armeniern: Dieser etabliert sich auf filmischer Ebene als Bestandteil des umstrittenen Erinnerungsdiskurses. Mit gleich vier international distribuierten Produktionen wird die Darstellung der gewaltsamen Vertreibung und Ermordung der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches ein zentrales erinnerungskulturelles Thema. Das mag angesichts der unabgegoltenen Anerkennung des Genozids durch den türkischen Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches keine große Überraschung sein, bedurfte aber anscheinend der erinnerungskulturellen Rückendeckung durch das Zentenarium. Den Auftakt machte Fatih Akins THE CUT (DE/FR/IT/RU/PL/TR/EU 2013), gefolgt von der US-amerikanischen Produktion 1915 von Garin Hovannisian und Alec Mouhibian (US 2015). Es schlossen sich nahezu zeitgleich die erinnerungskulturell spiegelbildlichen Produktionen THE PROMISE (US-Premiere 21.04.2017) und THE OTTOMAN LIEUTENANT (US-Premiere 10.03.2017 & TR-Premiere 19.05.2017) an. Während THE PROMISE die armenische Perspektive melodramatisch ins Zentrum der Erinnerung rückt, akzentuiert THE OTTOMAN LIEUTENANT die entgegengesetzte Perspektive für das Masternarrativ des türkischen Gedächtnisses. Bemerkenswerterweise wird in beiden fiktionalen Plots die Kodierung und Authentifizierung der traumatischen Gedächtnisse über den US-amerikanischen Erinnerungsdiskurs

Gedenktage und Erinnerungskultur

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vermittelt, indem entsprechende historische Protagonisten in die filmischen Narrative eingebunden werden. Die Feminisierung der Weltkriegserinnerung: Zahlreiche TV- und Kinoproduktionen rücken die Perspektive von weiblichen Charakteren in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen. Die TV-Miniserien8 ANZAC GIRLS (AU 2014) oder THE CRIMSON FIELDS (GB 2014) behandeln die Kriegsereignisse aus Sicht von Krankenschwestern, die ihren oft selbstgewählten ‚patriotischen Pflichten‘ in Militärhospitälern und Feldlazaretten nachkommen. Sie entwerfen ein komplexes Bild weiblicher Lebenswirklichkeiten, die weit über das klassische dramaturgische Liebesdreieck des Kriegsfilms hinausreichen. Als Grunderzählung dessen kann Vera Brittains autobiografische Erinnerung Testament of Youth (GB 2014) gelten, die ebenfalls eine neue filmische Adaption im Zentenarium gefunden hat. Aufgrund des regionalen Fokus nehmen zwei filmische Adaptionen der Lebensgeschichte der englischen Orientalistin und Archäologin Gertrude Bell, die auch für den britischen Geheimdienst im Osmanischen Reich arbeitete, einen zentralen Platz bei dieser Betrachtung ein. Die beiden Produktionen ‒ Werner Herzogs QUEEN OF THE DESERT (US 2015) sowie der Dokumentarfilm LETTERS FROM BAGDAD (US 2015) von Sabine Krayenbühl und Zeva Oelbaum ‒ behandeln auf ganz unterschiedliche Weise die Biografie der Protagonistin, die für die Entstehung des modernen Nahen Ostens durch ihre beratende Tätigkeit für die britische Regierung von erheblicher Bedeutung war. TV-Miniserien und genrespezifische Neuformatierung von Kriegsnarrativen: Auf formaler, genretheoretischer Ebene lässt sich eine verstärkte Behandlung des historischen Sujets durch TV-Miniserien ausmachen. Der allgemeine Trend verändert weniger die historiografischen Narrative, als dass er die dramaturgische Struktur der Erzählungen variiert. Dies wird anhand der TV-Miniserien von THE CRIMSON FIELD (GB 2014, 6 Folgen) sowie 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS (DE/FR 2014, 8 Folgen) insbesondere in Hinsicht auf den traumatheoretischen Fokus untersucht. Es wird darüber hinaus gefragt, welche Veränderungen der dramaturgischen Struktur für die historischen Erzählungen damit verbunden sind und ob diese angesichts meist höherer Budgets und einer Vielzahl von Filmcharakteren komplexere historische Narrative entwickeln können. Kinofilme: Das europäische Kino hat zum Zentenarium einige bemerkenswerte Filme hervorgebracht, die die lange Tradition des Genres fortsetzen. Die

8 Die Nomenklatur der vorliegenden Arbeit folgt bei der Bezeichnung der TV-Miniserien, der von der Hollywood Foreign Press Association vorgenommen Definition einer ‚limited series‘. Diese müssen zwei oder mehr Folgen umfassen und eine abgeschlossene, nicht wiederkehrende Geschichte erzählen. Vgl. https://www.goldenglobes.com/sites/default/files/media/golden_ globe_awards_eligibility_descriptions_final.pdf (08. Dezember 2019).

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Produktionen werden vorgestellt und filmgeschichtlich eingeordnet: FRANTZ (François Ozon, DE/FR 2016), AU REVOIR, LÀ HAUT (Albert Dupontel, FR/CA 2017), TESTAMENT OF YOUTH (James Kent, GB 2014), LES GARDIENNES (Xavier Beauvois, FR 2017). Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt wiederum auf dem filmischen Umgang mit Gewaltgeschichte. Regionale Neuerungen im Nahen Osten: Der englischsprachige Ableger von Aljazeera (AJE) interveniert mit drei TV-Dokumentationen in den westlich dominierten Erinnerungsdiskurs des Ersten Weltkrieges. Dies kann aufgrund der erst 2006 gegründeten englischsprachigen Senders und der noch jüngeren Dokumentarfilmsparte als eine neuere Entwicklung gelten, der ein eigenes Kapitel gewidmet wird. Die Untersuchung beinhaltet eine Einführung in die Kontroversen und Programmstruktur von AJE, die anhand der Analysen von WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES (QA 2014) und SYKES-PICOT. LINES IN THE SAND (QA/GB 2016) sowie BALFOUR DECLARATION AT 100. SEEDS OF DISCORD (QA/GB 2017) diskutiert werden. Das Kapitel nimmt eine kulturwissenschaftliche Einbettung der Produktionen in den regionalen Erinnerungsdiskurs vor und untersucht, welche historiografischen Narrative und filmästhetische Formgebungen zur Darstellung der Gewaltgeschichte herangezogen werden. Es wird danach gefragt, ob diese die Form eines kulturellen Traumas annehmen oder es gar zu einer Kodierung des Großen Krieges als einer ‚Urkatastrophe‘ des modernen Nahen Ostens kommt. Die Betrachtung wird durch die Analyse des ‚ersten beduinischen Westerns‘ (Nowar 2015) und Coming-of-Age-Film THEEB (JO/GB 2014) ergänzt.

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Der Genozid an den Armeniern in Zentenariumsfilmen Das begriffliche Konzept des Genozids kann als extreme Zuspitzung eines kulturellen Traumas aufgefasst werden. Beide Termini sind immer mit politisch-moralischen Wertungen versehen. Sie erfordern die Angabe, wer die Opfer und Täter sind, welche Verantwortlichkeiten vorhanden sind, ob strafrechtlich relevante Delikte vorliegen und eventuell Kompensationszahlungen zu leisten sind oder zumindest eine moralische Anerkennung stattfindet (vgl. Brunner 2014). Bekanntlich hat der jüdisch-polnische Jurist Raphael Lemkin die Begrifflichkeit des Genozids mit einem direkten Bezug auf die Gräueltaten gegen die Armenier entwickelt (vgl. Suny 2015a, 346–347). Die während des Ersten Weltkrieges an der armenischen Bevölkerung verübten Vertreibungen und Pogrome ragen bis heute aus dessen Gewaltgeschichte heraus. Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wird meist nicht direkt mit dem Genozid an den Armeniern verknüpft. Wie im Falle des Holocaust an den europäischen Juden und dem Zweiten Weltkrieg kommt dem armenischen Genozid erinnerungskulturell und -politisch eine gesonderte Stellung zu, die ihn aus dem Zusammenhang der Kampfhandlungen herauslöst. Dafür gibt es gute und weniger gute Gründe. Die jungtürkische Regierung versuchte, die von Cemal Pascha zu verantwortende Niederlage des Kaukasusfeldzuges bei Sarıkamış im Winter 1914/15 gegen die Truppen des zaristischen Russlands den Armeniern zuzuschieben. Es gibt kaum eine TV-Dokumentation der letzten Jahre, die nicht auf diesen direkten Zusammenhang hinweisen würde.9 Kleinere armenische Verbände hatten sich der zaristischen Armee angeschlossen, rechtfertigten aber nicht die Politik ethnischer Säuberungen durch die Jungtürken, die sich in einem Prozess kumulativer Radikalisierung zum Genozid ausweiten sollte.10 Im Unterschied zur Situation der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges gab es innerhalb der armenischen Bevölkerung schon vor dem Krieg Gruppen, die auf eine nationale Unabhängigkeit im Reichsgebiet sannen. Dies war ein weit verbreitetes Symptom innerhalb der multiethnischen Imperien, die ihre Minderheiten nach Kräften klein zu halten versuchten. Die punktuellen armenischen Unabhängigkeitsbestrebungen wurden im Kontext der militärisch sich zuspitzenden Lage vom jungtürkischen Triumvirat unter Talaat, Cemal und Enver Pascha dahingehend genutzt, sich des ‚armenischen Problems‘ zu entledigen (Suny 2015a, 269‒270). Der Große Krieg hatte für das Osmanische Reich somit die Funktion einen internen, unabhängigen Konflikt zuzuspitzen und gewaltsam aufzulösen. 9 Vergleiche etwa 1914–1918 – THE GREAT WAR; 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGES; AGHET; LA GUERRE MONDIALE; WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES. 10 Eine solche Betrachtungsweise hat sich international durchgesetzt. Vgl. dazu Taner Akçam (2008 und 2012); Robert Melson (2013); Jörn Leonhard (2014, 406–415) sowie Suny (2015).

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Dabei spielte es eine ausschlaggebende Rolle, dass durch die Kriegssituation kein politischer Einfluss durch die Imperialmächte wie England, Frankreich oder Russland auf die osmanische Minoritätenpolitik mehr möglich war (vgl. Suny 2015a, 268). Umgekehrt weist das Kriegsbündnis des Deutschen Kaiserreiches mit den Osmanen jenem eine besondere Mitverantwortung am Völkermord zu. In Berlin hatte man aufgrund der engen militärischen Zusammenarbeit schon früh Kenntnis von den Deportationen und Säuberungen. Man entschied sich aber auf höchster Regierungsebene dazu, es bei Ermahnungen zu belassen, um den Verbündeten nicht zu brüskieren und dessen Ausscheren aus dem Militärbündnis zu riskieren.11 Der mit dem armenischen Wort für Katastrophe betitelte Dokumentarfilm AGHET von Eric Friedler hat diesen Zusammenhang in beeindruckender Weise mit Hilfe nachgesprochener Briefe und Communiqués sowie historischer Aufnahmen nachgezeichnet. Der deutschen Produktion wurde die ungewöhnliche Aufmerksamkeit zuteil, 2010 im US-amerikanischen Kongress vorgeführt zu werden. Die Anerkennung des Genozids durch eine Resolution des Deutschen Bundestages im April 2016 war erinnerungspolitisch von deutscher Seite überfällig.12 Diese Ausgangssituation wird historisch und erinnerungskulturell noch dadurch verkompliziert, dass es nach Kriegsende zunächst durchaus die Bereitschaft zur Anerkennung des Genozids durch Mustafa Kemal (Atatürk) gab. Die politischen Prozesse gegen hochrangige Mitglieder der Jungtürken brachte aber nicht die erhofften Zugeständnisse von Seiten Englands und Frankreichs mit sich. Daraufhin erfolgte eine Abwendung von der Anerkennungspolitik und die erinnerungskulturelle Etablierung der Jungtürken zu Vorkämpfern eines türkischen Nationalstaates. Diese Verknüpfung erzeugt bis auf den heutigen Tag die existenziellen erinnerungspolitischen Reaktionen in der Türkei, wenn es um den Genozid an den Armeniern geht. (Vgl. Akçam 2008, 236) Der Vertrag von Sèvres im August 1920, in dem weite Gebiete Anatoliens für einen armenischen und kurdischen Staat vorgesehen waren, gilt im türkischen und armenischen Gedächtnis 11 Hier ist vor allem die Korrespondenz mit Paul Graf Wolff Metternich zur Gracht (Kaiserlichdeutscher Botschafter in Konstantinopel 1915–1916) von Bedeutung. Der Botschafter gab detailgenaue Berichte an den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, die aber auf Ablehnung und Unverständnis stießen. Nach nur zehn Monaten Amtszeit wurde der Botschafter auf Druck des osmanischen Bundesgenossen nach Berlin zurückbeordert. Aufgrund der militärischen Dominanz der Deutschen wäre den Jungtürken kaum eine Wahl geblieben, als die ethnischen Säuberungen und Pogrome einzustellen. Die Aussagen von Graf Wolff-Metternich zur Gracht und Reichskanzler Bethmann Hollweg finden sich u. a. im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. 12 Siehe https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2016/kw22-de-armenier/423826 (29. Mai 2017).

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aus entgegengesetzten Gründen als ein „Gespenst“ (Suny 2015a, 341). Umgekehrt hat für die Nachkommen der Armenier die verweigerte Anerkennung zu einer „gestauten Zeit“ (Diner 2003, 27) geführt, bei der die Geschichte der Leugnung des Genozids immer mehr mit diesem verschmilzt und sich für die armenischen Diasporagemeinden zu einem Element ihrer historischen Identität verdichtet. Es ist daher kaum verwunderlich, dass der erste international distribuierte Film, ARARAT, sich mehr auf die Erinnerungsgeschichte als auf den Genozid selbst bezieht. Der Film des kanadischen Regisseurs Atom Egoyan kann aufgrund seiner komplexen narrativen und ästhetischen Struktur als Meisterwerk des Erinnerungsfilms gelten.13 Er verknüpft geschickt generationale mit medialen Formen der Erinnerung in einer durch Migration und Trauma gezeichneten kanadisch-armenischen Diaspora-Gesellschaft, die sowohl einen Neubeginn verheißt wie sie die Gefahr eines Erinnerungs- und Identitätsverlustes verkörpert (vgl. Elm 2017). Ohne auf Details des Films hier eingehen zu können, sind zwei Elemente der Darstellung für den vorliegenden Kontext von besonderer Bedeutung. Zum Ersten die ästhetische und erinnerungskulturelle Rahmung der geschichtlichen Ebene als Film-imFilm, der die artifizielle Qualität der historischen Erinnerung unterstreicht und sichtbar macht. Der Plot erzählt die Geschichte einer Filmcrew, die einen ästhetisch konventionellen Historienfilm über den Genozid dreht, dessen Produktion die zentrale Filmhandlung auf die Gegenwartsebene verlegt. Durch die zusätzliche Zeitebene des Film-im-Films wird eine Kodierung der historischen Ereignisse als traumatisch möglich, ohne dass diese in einem unmittelbaren Zuschreibungsverhältnis für die Charaktere der Gegenwartsebene gilt, die diese Vergangenheitserzählung herstellt. So verbindet die generations- und medienspezifisch inszenierte Aneignung von Gewaltgeschichte die Charaktere mit ihren Lebenswirklichkeiten im heutigen Kanada. Dergestalt situiert (zweitens) das filmische Narrativ die Charaktere derart, dass deren familiäre und lebensgeschichtliche Prädispositionen kenntlich werden, ohne dass damit der Umgang mit den personalen und historischen Identitätszuschreibungen vorherbestimmt würde. Die Filmhandlung tritt aus einer häufig anzutreffenden urteilenden und zuschreibenden Erzählpraxis heraus und eröffnet ein geschichtlich bestimmtes und dennoch offenes Handlungsfeld. Im Film selbst wird dies ästhetisch durch die Bebilderung des Motives der Handlungsfähigkeit (vgl. Elm 2017, 37‒40) markiert, dem ein antitraumatischer Impuls eingeschrieben ist. Mit dieser komplexen Darstellungsweise von Gewaltgeschichte hat Egoyans ARARAT Maßstäbe gesetzt, die in den Zentenariumsfilmen aufgegriffen und variiert werden.

13 Vgl. vertiefend zum filmischen Narrativ: Baronian 2010; Carter 2015; Daldal 2007; Kramer 2012 sowie für Egoyans frühe Filme: Kraus 2000; Nacify 1997.

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Genretheoretisch lassen sich Darstellungen des Genozids an den Armeniern kaum dem klassischen Kriegsfilm zuordnen und sind dennoch historiografisch wie erinnerungskulturell nicht vom Ersten Weltkrieg zu trennen. Ikonografie und Erzählstruktur nehmen notwendig eine andere Gestalt an, bei der der totalisierende Angriff auf die Gesamtheit einer ethnischen Gruppe, deren Identitätsmerkmale selbst in ein Kampffeld verwandelt. Dies gilt umso mehr, als dass durch die anhaltende Leugnung des Genozids durch den türkischen Nachfolgestaat eine Erinnerungsstruktur ganz eigener Art erzeugt wird. Produktionen, die die armenische Perspektive übernehmen, legen besonderen Nachdruck auf die Darstellung der systematischen Vernichtungsabsicht und dessen Wirkung auf die armenische Diaspora, wie sich an ARARAT und 1915 ablesen lässt. Die historische Katastrophe muss einem häufig nicht mit den geschichtlichen Hintergründen vertrauten Publikum bildlich und erzählerisch darlegt sowie durch die Etablierung einer Position der Zeugenschaft glaubhaft gemacht werden. Das gilt jedenfalls noch weitgehend für die Zentenariumsfilme, die den erinnerungsgeschichtlichen Teil entsprechend historisch situieren.

1915 und die Identitätspolitik der armenischen Diaspora Ein Erinnerungsfilm, der sich dieser Thematik im Hinblick auf die Identitätsentwürfe der US-amerikanischen Diasporagemeinde zuwendet, ist 1915 von Garin Hovannisian und Alec Mouhibian. Die Filmhandlung ist in der Gegenwart in einem als legendär geltenden Theater an der amerikanischen Westküste angesiedelt. Der hundertste Jahrestag des Genozids steht bevor und ein armenischstämmiger Theaterdirektor plant die einmalige Aufführung eines kontroversen Stückes über den Genozid. Vor dem Theater hat sich eine Menschenmenge versammelt, die gegen die Aufführung des Stückes protestiert. Erst nach und nach wird klar, dass dessen Umstrittenheit nicht durch staatlich-türkische Interventionen aufgrund der Genozidthematik bedingt ist, sondern ihren Grund in der für das armenische Gedächtnis problematischen Inhalt des Stückes hat. Dieses dreht sich um die Rettung einer armenischen Frau durch einen türkischen Offizier, der sich in sie verliebt. Die verheiratete Frau gibt in der Aufführung ihr Kind und ihre Familie für das Weiterleben auf, was von der vor dem Theater protestierenden Diasporagemeinde als verräterische Haltung und Beschmutzung des armenischen Gedächtnisses gewertet wird. Die Stimmung im Theater ist allerdings eine ganz andere. Hier begegnet uns mit Simon Abkarian als Theaterregisseur ein Schauspieler wieder, dem schon in Atom Egoyans eine geisterhafte Rolle als Mittler zweier Welten zukam. Abkarians Charakter Simon schwankt zwischen einer messianischen Erlöserfigur, einem diktatorischen Regisseur und einem traumati-

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sierten Vater. An seiner Seite spielt die nicht weniger geisterhafte Angela (Angela Safaryan) die Rolle der historischen Ehefrau im Stück sowie die der depressiven Schauspielerin und Gattin von Simon auf der Gegenwartsebene. Die Identitäten der Charaktere des Theaterstückes wie die der Akteure der Jetztzeit vermischen sich, was Simon als programmatische Haltung für die Inszenierung des Theaterstückes und der Erinnerung an die traumatische Vergangenheit des armenischen Volkes anführt: „We will become them or die with them“. Der düsteren und fast schon pathologischen Atmosphäre im Theater sind mit dem Manager des Theaters Jeffrey (Jim Piddock) und James (Sam Page), der die Rolle des türkischen Offiziers spielt, zwei normative Charaktere der US-amerikanischen Gesellschaft gegenübergestellt, die narratorisch als Gegengewicht zur armenischen Minderheitenperspektive der restlichen Theatergruppe fungieren. Insbesondere James kommt in seiner historischen Rolle als türkischem Offizier und als distanziertem Akteur der Gegenwartsebene die Funktion zu, das symbiotische Verhältnis von Simon und Angela zu hinterfragen. Die Pointe der Filmhandlung besteht darin, dass Simons und Angelas persönliche Tragödie – der Verlust des gemeinsamen Sohnes – sich über die historische Katastrophe des Genozids legt und mit dieser verschmilzt. Man erfährt im Verlauf der Filmhandlung, dass Simons primäre Motivation für die Inszenierung des Stückes darin liegt, seine Frau aus ihrer diesbezüglichen Depression zu befreien. In einem kathartischen Prozess soll Angela – wie die historische Ehefrau in der Aufführung – sich für das Weiterleben entscheiden und ihre Familie zurücklassen. Dazu bedient sich der eigentlich für seine leichten Komödien bekannte Charakter des Theaterregisseurs der Gewaltgeschichte des armenischen Genozids. Die skurrile Verdrehung der Geschichte kann als selbstkritische Intervention in den Erinnerungsdiskurs der armenischen Diasporagemeinde ausgelegt werden, die durch ihre identitäre Fixierung auf den Genozid diesen für ihre persönlichen Probleme heranzieht, beziehungsweise die Möglichkeit zu einem Neuanfang verstellt. Diese Lesart wird durch die erinnerungspolitische Rahmung des Protestes der armenisch-stämmigen Aktivisten vor dem Theater bestärkt, die in der Inszenierung von Anis Flucht mit einem türkischen Offizier nur den Verrat an Volk und Familie, nicht aber deren Rettung sehen können. Dennoch sträubt sich die Inszenierung von Hovannisian und Mouhibian gegen eine simplifizierende Auslegung der traumatischen Vergangenheit in Form eines auf die Zukunft gerichteten positiven Denkens. Wenn Simon nach seiner gescheiterten Aufführung durch die wütende Menge der protestierenden Diaspora-Armenier läuft, verwandelt sich die Umgebung in das historische Anatolien des Osmanischen Reiches von 1915. Die Inszenierung legt nahe, dass die Amalgamierung des historischen Traumas mit der verweigerten Anerkennung über die zeitliche Dauer von hundert Jahren eine ganz eigene Wirklichkeit hervorgebracht hat. Bevor Simon das Thea-

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ter verlässt, ist aus dem Off seine Stimme vernehmbar, die wie zu Beginn das Thema einer geisterhaften Existenz der armenischen Diaspora aufnimmt. We are the descendant of those who escaped and survived. We continue to live without a homeland … in various corners of the world. We have been living among you, trying to forget what happened to our families. And, of course, we pretend that we are just like you. This is our greatest role. But really, we are nothing more than actors. We are ghosts. (1915 – Schluss-Sequenz)

Der Appell, sich der Wahrheit zu stellen und die Geister der Geschichte hinter sich zu lassen, wird während Simon die wütende Menge durchschreitet durch die Off-Stimme an Türken wie Armenier gerichtet. Beide Völker werden als beschädigte adressiert, deren Befreiung sich nur durch die Anerkennung des Völkermordes vollziehen kann. Das jedenfalls ist die unzweideutige Message des Films an dieser Stelle. Die Erinnerungsgeschichte der historischen Realität wird mit einem eigenständigen Gravitationszentrum ausgestattet, das breite Teile der armenischen wie türkischen Nachkommen auf dessen Boden gefangen hält. Das im Film verwendete Geistermotiv ist mit der Kodierung eines kulturellen Traumas eng verbunden. Wie die zwanghaft wiederkehrenden Erinnerungen und Alpträume im Trauma sind die Geister Wiedergänger einer früheren Zeit, die an das Unabgegoltene der gewaltvollen Vergangenheit gemahnen. Das Motiv wird im konkreten Fall identitätspolitisch dadurch zugespitzt, dass es die lebenden Menschen selbst – und insbesondere die exilierten Nachkommen der Armenier – sind, die zu ‚lebendenden Geistern‘ erklärt werden. Einmal mehr zeigt sich wie die soziale Rahmung, die hier zwischen den Anforderungen der Eigen- und den Zumutungen der Fremdgruppe hin- und hergerissen wird, die historische Erinnerung prägt. Letztere nimmt durch die generationelle Exilerfahrung und verweigerte Anerkennung eine eigene Form- und Filmsprache bei der Kodierung des Traumas an, die sich durch ihren radikalen Gegenwartsbezug von den Genremustern der Erste Weltkriegs-Darstellungen abhebt. Man kann dies als extreme Form einer pfadspezifischen Gebundenheit traumatischer Erinnerung ansehen, deren personelle Dynamiken sich besser mit dem für die transgenerationelle Weitergabe von Trauma verfassten Postmemory-Konzept von Marianne Hirsch (2012) verstehen lassen. In gewisser Weise variiert das filmische Narrativ einen Befund der klinischen Traumaforschung. Durch die machtvolle Einschreibung der erfahrenen Gewalt geht die individuelle Fähigkeit zur Symbolbildung verloren. Dies verunmöglicht die kreative Selbstgestaltung der eigenen Identität und verstellt die Einsicht in den Konstruktionscharakter sozialer Realität (vgl. Hirsch 2011, 65‒66). Die Filmhandlung bestätigt und widerlegt die Geltung dieses Befundes für die transgenerationelle kollektive Ebene durch die komplexe Gestaltung ihrer Charaktere gleichermaßen.

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Die filmische Kodierung von kollektiver Gewaltgeschichte zeigt eine Verschlungenheit von gesellschaftlichen Zu- und individuellen Umschreibungen an, die – wie schon Atom Egoyans ARARAT – darauf zielt, sich aus der historischen Umklammerung zu lösen. Der filmisch inszenierte Aushandlungsprozess verdeutlicht die enorme Bedeutung, die der gesellschaftlichen Anerkennung von Leid und Gewalt zukommen. Es wird sich zeigen, dass ähnliche Muster der Erinnerung von historischer Gewalt bei der Rekonstruktion des Krieges im Nahen Osten eine Rolle spielen, wo durch die Kontinuität militärisch ausgetragener Konflikte eine permanente Aktualisierung der Gewalterfahrungen stattfindet. Zunächst wird die Thematik der Darstellung des Genozids an den Armeniern aber anhand der übrigen Zentenariumsproduktionen weiterverfolgt und die historiografischen Differenzen bei der Kodierung kultureller Traumata herausgearbeitet. Die schauspielerisch eindrückliche Angela Sarafyan sollte nur kurze Zeit später in einer weiteren Zentenariumsproduktion reüssieren. Diesmal allerdings in einer Nebenrolle in dem als klassischen Historienfilm angelegten THE PROMISE, der fast zeitgleich mit der US-amerikanisch-türkischen Produktion THE OTTOMAN LIEUTENANT erschien. Beide Filme sind als Zentenariumsproduktionen im engeren Sinne anzusehen, da ihre nahezu spiegelbildlichen Narrative Ende 2016, Anfang 2017 in den zeitgeschichtlich absehbaren Kampf um die Deutungshoheit der gegensätzlichen armenischen und türkischen Masternarrative eingreifen. Interessant an beiden Filmen ist weniger die dramaturgische oder historiografische Herangehensweise, als dass sie ihre Geschichte vermittelt über das US-amerikanische Gedächtnis erzählen. Diese erinnerungskulturelle Situierung bringt den fortbestehenden Kampf um Hegemonie zum Ausdruck, innerhalb deren die konventionell angelegten filmischen Erzählungen zu verstehen sind. Beide setzen bei der Inszenierung ihrer Kriegsmelodrame auf ein Liebesdreieck mit amerikanischen Charakteren. Diese – Who-gets-the-girl-Dramaturgie – meint erkannt zu haben, dass der Weg zur Durchsetzung des eigenen Narratives über Hollywood führt. Es ist in diesem Kontext nicht unwichtig darauf hinzuweisen, dass der circa vierzig Millionen Dollar schwere THE OTTOMAN LIEUTENANT an den Kinokassen ebenso floppte wie der mit einem geschätzten Budget von hundert Millionen Dollar ausgestattete THE PROMISE (vgl. Sharam 2017). Inwiefern die Negativpropaganda der jeweils anderen Seite dazu beigetragen hat, ist schwer einzuschätzen.14 Von Seiten der Filmkritik werden die eher dürftig gezeichneten Filmcharaktere und eine klischeehafte Geschichtsinszenierung angeführt (vgl. Linden 2017). Es wäre

14 Vergleiche dazu den Abschnitt über die Internetbewertungen auf der Filmhomepage IMDb im Abschnitt nach der Besprechung von THE PROMISE.

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dennoch vorschnell, den einseitigen Geschichtszeichnungen und deren Inszenierungsstrategien die Verantwortung für den Misserfolg zuzuschreiben. Bekanntlich hat sich eine ähnlich melodramatische Rezeptur bei der Verfilmung des Untergangs der Titanic recht gut bewährt. In jedem Fall lohnt sich ein Vergleich der Narrative, die den Stand der erinnerungskulturellen Kontroverse während des Zentenariums wiedergeben.

Kampf um Hegemonie – THE PROMISE versus THE OTTOMAN LIEUTENANT Hätte man aus erinnerungstheoretischer Sicht eine Prognose für eine Zentenariumsproduktion zum Genozid an den Armeniern im Stile Hollywoods entwerfen müssen, wäre man vermutlich bei THE PROMISE von Terry George gelandet. Der Regisseur Terry George, der mit HOTEL RUANDA bereits einen Welterfolg zum Völkermord der Hutu-Milizen an den Tutsi abgeliefert hatte, schien wie kaum ein anderer für die Bearbeitung der umstrittenen Thematik geeignet. Trotz der alleinigen Finanzierung des Films durch Kirk Kerkorian, der als ehemaliger Besitzer von MGM über beste Kontakte in Hollywood verfügt, ließ sich kein Filmstudio zur Zusammenarbeit bewegen.15 Das mag verdeutlichen, wie geschäftsschädigend die Befassung mit der Thematik dort nach wie vor eingeschätzt wird. Die Filmhandlung eröffnet mit einer Szene, die das idyllische Zusammenleben von Armeniern und Türken in einer postkartenhaft-schönen Landschaft zeigt. Eine armenische Apothekerfamilie hat sich dazu entschieden, ihren vielversprechenden Spross Mikael (Oscar Isaac) nach Istanbul zu schicken, um ein Studium der Medizin zu absolvieren. Seine Verlobte Maral (Angela Sarafyan) muss zurückbleiben, während die Aussteuer ihrer Familie Mikaels Studium überhaupt erst ermöglicht. Mikael verspricht ihr und seiner Familie das Studium schnell abzuschließen und zurückzukehren. In Istanbul freundet er sich während des Studiums mit dem aus einer einflussreichen türkischen Familie stammenden Emre (Marwan Kenzari) an. Der lebenslustige Emre fungiert als Gegenbild zum unbarmherzigen Ethnozentrismus der übrigen osmanisch-türkischen Charaktere und wird die Freundschaft zu Mikael mit seinem Leben bezahlen. Schließlich treten mit dem amerikanischen Journalisten Chris Myers (Christian Bale) und der armenischen Tanzlehrerin Ana (Charlotte Le Bon) noch die beiden anderen

15 Der amerikanische Multimilliardär und frühere Eigentümer von MGM hatte sich mit der Produktion einen Herzenswunsch erfüllt, dessen Fertigstellung er allerdings nicht mehr erleben durfte. Er starb 2015 im Alter von 98 Jahren als die Dreharbeiten gerade begannen (vgl. Brent Lang [2017] in Variety: http://variety.com/2016/film/news/promise-film-armeniangenocide-1201892838/ [09. März 2017]).

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Hauptcharaktere hinzu, die das Istanbuler Liebesdreieck vervollständigen. Mikaels Versprechen seiner Verlobten und der Familie die Treue zu halten, wird durch die aufkeimende Liebesaffäre mit Ana auf die Probe gestellt (Abb. 6).

Abb. 6: THE PROMISE – Liebesdreieck in Istanbul. Der amerikanische Journalist Chris Myers (Christian Bale, links) und die armenische Tanzlehrerin Ana (Charlotte Le Bon, Mitte) bilden zusammen mit Mikael (Oscar Isaac, rechts) das melodramatische Herzstück der Erzählung, das hier bildkompositorisch angeordnet wird. Der Blickwechsel gibt unschwer zu verstehen, für welchen der Männer Ana sich entscheiden wird. Kostüm und Pastelltöne zeichnen das Bild einer wohlhabenden Istanbuler Vorkriegsgesellschaft und erzeugen einen visuellen Kontrast zu den kurze Zeit später einsetzenden Kriegshandlungen.

Die Stimmung in Istanbul ist bereits nationalistisch erhitzt. Während eines Geburtstagsempfangs bei Emre ist in einer kurzen Szene die Einfahrt der beiden deutschen Kriegsschiffe in Istanbul zu sehen.16 Der angetrunkene Myers gerät über den Sinn dieses „Geschenks an die türkische Marine“ (THE PROMISE 19:25) in einen Disput mit einigen der anwesenden deutschen Offiziere, die daraufhin die erste Strophe des Deutschlandliedes mit ‚Deutschland, Deutschland über Alles‘ anstimmen. Der dürftig gezeichnete historische Rahmen positioniert die verschiedenen ethnischen und nationalen Gruppen und Personen in antagonistischer Weise und bereitet auf das weitere Geschehen vor. Am Schicksal der drei Hauptfiguren wird die Dynamik des sich entfaltenden Genozids vorgeführt und gleichzeitig ein Zeugen-

16 Vergleiche zum historischen Hintergrund der Entsendung der deutschen Kriegsschiffe nach Istanbul den entsprechenden Abschnitt in Kapitel 2 dieses Buches.

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blick inszeniert, der die Filmhandlung für ein internationales Publikum aufbereitet. Myers erfährt durch seine investigative Arbeit17 als erster von den sich ausweitenden genozidalen Praktiken der Jungtürken. Der US-amerikanische Charakter dient der Objektivierung und Authentifizierung der historischen Erzählung. Im Weiteren entspannt sich nicht nur eine Konkurrenz der beiden Männer um Ana, sondern ebenso um den ‚richtigen‘ Umgang mit dem um sich greifenden Völkermord. Es ist vor allem den schauspielerischen Leistungen von Oscar Isaac und Christian Bale zu verdanken, dass es dem Film trotz der durchschaubaren Inszenierungsstrategie gelingt, etwas vom schockhaften Prozess des Genozids zu vermitteln. Die Darstellung des genozidalen Prozesses verschränkt die Anlage der Charaktere mit der Dramaturgie der Filmhandlung und der Adressierung des Publikums. So wie den Charakteren nach und nach klar wird, dass sie sich nicht nur einem der seinerzeit keineswegs seltenen Pogrome, sondern einem Völkermord ausgesetzt sind, führt die Filmhandlung dessen einzelne Stufen einer internationalen Öffentlichkeit vor, welche meist nur über rudimentäre Kenntnisse verfügt.18 Die Inszenierung verzichtet bis auf wenige Szenen auf die Darstellung graphischer Gewalt. Die visuelle Zurückhaltung kommt der erzählerischen Seite eher zugute, da eine gängige Schockästhetik vermieden wird. In einer Schlüsselszene sieht Mikael die hingemetzelte Bevölkerung seines Heimatortes im Wald an einem Bach liegen, darunter seine hochschwangere Frau Maral. Das wird grafisch nun nicht ausgeweidet, sondern die Einstellungen bleiben nahe an Mikaels Mimik, der seine noch lebende Mutter unter den Leichen auffindet. Die Konzentration auf den persönlichen Verlust und der damit einhergehende Schock werden durch die visuell zurückhaltende Inszenierung eher gesteigert.19 Die Inszenierung des Schocks wird unterdessen nicht zur Darstellung eines Traumas transformiert, was mit dem Verlauf der weiteren Filmhandlung zusammenhängt. Mikael wird eine auf der Flucht befindliche armenische Dorfgemeinschaft davon überzeugen, dass nur der Tod auf sie wartet, wenn sie sich nicht

17 Myers Charakter als American Press Journalist ist ein ‚fictitious composite‘ [fiktionaler Charakter mit realhistorischen Bezügen; M.E.], der durch die Arbeit des AP Korrespondenten J. Damon Theron inspiriert wurde (vgl. Horgan 2017). 18 Oscar Isaac und Christopher Bale bewerben den Film unter anderem mit der Vermittlung von Geschichtskenntnissen in der CBS This Morning Show (vgl. https://www.youtube.com/ watch?v=wB6lK-NaPEM [09. Mai 2017]). 19 Terry George bestätigt in einem weiteren TV-Interview die Zurückhaltung in der Darstellung von Gewalt als intentionale Inszenierungsstrategie (vgl. https://www.youtube.com/watch?v= CaRkG1JWd04&t=184s [09. Mai 2017]). Er beabsichtigte darüber hinaus die Altersfreigabe gering zu halten, damit der Film für Jugendliche in pädagogischen Kontexten Verwendung finden kann. Schauspieler, Regisseur und Produzenten weisen in den angeführten Interviews darauf hin, dass alle Einnahmen des Films NGOs und Wohltätigkeitsorganisationen zugutekommen.

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wehren. Es folgt die durch Franz Werfels literarische Bearbeitung bekannt gewordene Geschichte der armenischen Gegenwehr am Musa Dagh [Berg Moses; M.E.]. Die damit verbundene Hinwendung zu Kampf und Widerstand aktiviert die Handlungsfähigkeit und Resilienz der Charaktere und lässt wenig Raum für Trauma. Ein weiteres antitraumatisches Element liegt in der Maxime, die Ana (Charlotte Le Bon) ihren beiden Geliebten mit auf den Weg gibt: „Wir rächen uns dadurch, dass wir überleben“. Damit wird der retrospektive Blick der Überlebenden vorweggenommen, die in genozidalen Katastrophen ihr bloßes Davongekommensein häufig mit einem Schuldgefühl gegenüber den getöteten Freunden und Angehörigen verbinden. Das Motiv der ‚Rache durch Überleben‘ im Film reagiert auf eine psychologisch verständliche Selbstkasteiung, verlegt diese aber etwas unzeitgemäß bereits in die Zeit des Geschehens. Dem Journalisten Myers gelingt es unterdessen durch Mithilfe von Emre und dem amerikanischen Botschafter in Istanbul, Henry Morgenthau (James Cromwell), aus osmanischer Gefangenschaft zu entkommen und auf die fatale Lage der Freunde aufmerksam zu machen. Dabei wird eine Szene eingestreut, in der Botschafter Morgenthau um die Freilassung des amerikanischen Journalisten bei Talaat Pascha ersucht und dieser im Gegenzug eine Namensliste von armenischen Lebensversicherungsinhabern bei amerikanischen Banken haben will. Der Botschafter schlägt den zynischen Deals aus und die Filmhandlung nimmt durch den historischen Bezug auf Henry Morgenthaus einflussreiche Darstellung der Ereignisse einen weiteren Brückenschlag zum US-amerikanischen Gedächtnis und Publikum vor (vgl. Suny 2015a, 263‒275). Kaum zufällig zelebriert die Schluss-Szene des Films den Neuanfang jener durch die französische Marine geretteten Gruppe von Armeniern in den USA. Damit schließt die filmische Erzählung an die Erinnerungsgeschichte der exilierten Armenier an und vollendet den Zirkel von historischer Katastrophe, Exodus und Diasporagemeinschaft, die sich ihrer Geschichte versichert.20 Der Genozid an den Armeniern wird in eine melodramatische Liebesgeschichte mit amerikanischer Beteiligung eingebettet und greift die aus der Holocaust-Ikonografie bekannten filmischen Motive von Deportation und Massenmord auf, um einen epischen Kampf zwischen Gut und Böse in Szene zu setzen. Diese erinnerungskulturelle und filmsprachliche Rahmung steht in der Tradition US-amerikanischer Narrative von Gewaltgeschichte, wurde aber trotz der eingängigen und vertrauten Erzählstruktur vorerst nicht vom Publikum angenommen.

20 Die Struktur der Filmerzählung erinnert stark an jene von HOTEL RUANDA, an deren Ende ebenfalls die Rettung der dem Genozid Entronnenen steht.

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Der Kampf um erinnerungskulturelle Hegemonie trägt sich ebenfalls im Internet zu. So hagelte es extrem negative oder positive Bewertungen der Filme auf IMDb, lange bevor diese in den jeweiligen Ländern zu sehen waren. Das hatte schon im Falle von Atom Egoyans ARARAT dazu geführt, dass sich die durchschnittliche Bewertung nicht über 6,6 Prozentpunkte der abgegebenen Voten erheben konnte. Seit dem 2002 realisierten ARARAT hat sich die Auseinandersetzung via Internet und sozialen Medien zweifelsohne zugespitzt. Lag der Antagonismus der Bewertungen zwischen Eins bis Zehn damals noch im Verhältnis von 16,0% zu 36% bei 10.909 abgegebenen Stimme, so waren es bei THE PROMISE bereits 41,4% (1 Punkt) zu 51,5% (10 Punkte) bei 162.329 IMDb Nutzern [Durchschnitt 6,1; M.E.].21 Das Verhältnis der Punkte-Bewertungen für den zwei Jahre früher produzierten Film 1915 ist bei einem Bewertungsdurchschnitt von 4,8 nahezu identisch mit THE PROMISE.22 Demgegenüber fällt der Gegensatz der Bewertungen für die türkisch-amerikanische Produktion THE OTTOMAN LIEUTENANT mit 15,2% (1 Punkt) zu 47,5% (10 Punkte) und einem Durchschnitt von 6,7 Punkten bei 21.370 abgegebenen Bewertungen weniger extrem aus.23 Eine sicher tentative Interpretation dieser Daten – die sich einzig auf die IMDb Voten stützt – lässt auf eine gewisse Dominanz derjenigen Kräfte schließen, die das türkische Masternarrativ fördern. Erinnerungskulturell verdeutlicht diese internet-basierte Auseinandersetzung den plurimedialen Rahmen der Bedeutungsgenerierung historischer Narrative. Staatliche und lobbyistische Akteure haben offensichtlich längst erkannt, welche Kenngrößen die Rezeption der Filme beeinflussen und ihre Konsequenzen gezogen. Die harmlos wirkenden Sternchen oder Punktebewertungen erweisen sich als Bestandteile einer Prämediation24, die die Rezeption der Filme anleitet oder gar unterbindet. Der fast zeitgleich produzierte THE OTTOMAN LIEUTENANT nimmt – wie bereits angesprochen – eine spiegelbildliche Position zu THE PROMISE ein. Im Zentrum der von Joseph Ruben realisierten türkisch-amerikanischen Produktion steht das Dreiecksverhältnis zwischen dem osmanisch-türkischen Offizier Ismail (Michiel Huisman), der amerikanischen Krankenschwester Lillie (Hera Hilmar) und dem amerikanischen Arzt Jude (Josh Hartnett) zur Zeit des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges. Die Eröffnungsszene spielt in Philadelphia, wo ein afroamerikanischer 21 Vgl. IMDb, https://www.imdb.com/title/tt4776998/ratings?ref_=tt_ov_rt (9. September 2018). 22 Vgl. IMDb, https://www.imdb.com/title/tt3781762/ratings?ref_=tt_ov_rt (16. September 2018). 23 Vgl. IMDb, https://www.imdb.com/title/tt4943322/ratings?ref_=tt_ov_rt (9. September 2018). 24 Vgl. zum Konzept der Prämediation Fußnote 48 in Kapitel 5.

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Arbeiter mit einer schweren Halsverletzung in ein Krankenhaus eingeliefert wird. Lillie bedrängt das verdutzte Personal den Verletzten umgehend zu behandeln und beginnt sogleich damit, ihm einem Druckverband anzulegen (Abb. 7).

Abb. 7: THE OTTOMAN LIEUTENANT – Türkisches Masternarrativ für US-amerikanisches Publikum. Lillie (Hera Hilmar) behandelt entgegen den rassistischen Konventionen einen afroamerikanischen Arbeiter in einem Krankenhaus in Philadelphia. Die bildliche Inszenierung rückt sie in die Nähe des Verletzten und prädisponiert die Rezeption ihres Charakters in der Filmhandlung als emanzipiert und progressiv. Lillies Charakter wird so mit einem Zeugenblick ausgestattet, der die spätere Erzählung in Ostanatolien anleitet.

Das Verhalten des übrigen medizinischen Personals indiziert, dass die Notversorgung von Afroamerikanern im sklavenfreien Amerika jener Epoche keine Selbstverständlichkeit ist. Ein vorgesetzter Arzt betritt den Behandlungsraum, verweist den Schwerverletzten an eine andere Einrichtung und erteilt Lillie eine scharfe Rüge. Die zweite Expositionsszene führt Lillie direkt zu einem Vortrag über die Lage der armenischen Minderheit in Ostanatolien durch den idealistischen Krankenhausarzt Jude (Josh Harnett), der um amerikanische Spenden wirbt. Dessen leidenschaftliche Selbstaufopferung für die christliche Minderheit signalisiert eine Seelenverwandtschaft der beiden Charaktere. Lillie bietet dem Doktor die Versendung eines kleinen Lastwagens an, der ihrem verstorbenen Bruder gehörte. Ein wenig knistert die kinematische Luft angesichts der offenkundigen wechselseitigen Zuneigung. Die starrköpfige Lillie wird gegen den ausgesprochenen Willen ihrer Eltern die Überbringung des Lastwagens selbst durchführen. Damit legt die Exposition die Grundpfeiler für das Identifikationsangebot ans US-amerikanische Publikum. Freiheitsliebe, Schutz von Minderheiten und christliche Nächstenliebe werden als Grundwerte eines progressiven Moralsystems offeriert, der Lillies Reise ins schon von Kriegsgerüchten umtobte Istanbul vorbereitet.

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Dort angekommen, trifft Lillie auf den Leutnant und Gentleman Ismail (Michiel Huisman), der den Transport ins abgelegene Anatolien begleiten und schützen soll. Was Lillie verschwiegen wird, ist, dass Ismael mit einem Auftrag versehen wurde, die Loyalität der armenischen Bevölkerung angesichts der bevorstehenden Auseinandersetzung mit dem zaristischen Russland zu erkunden. Der Rest der Geschichte wäre schnell erzählt, müsste man nicht die implizite Rechtfertigung der genozidalen, osmanischen Aggression klarstellen. Auf ihrem Weg zum abgelegenen Hospital werden die beiden von armenischen Banditen überfallen, ihres Transports beraubt und entkommen nur knapp mit ihrem Leben. Die als niederträchtige Halunken gezeichneten Banditen besitzen später die Dreistigkeit, die erbeuteten Güter dem Hospital zum Verkauf anzubieten. Jude erklärt der empörten Lillie, dass die Banditen als lokale armenische Helden gelten, da sie gegen die türkisch-islamische Herrschaft kämpfen. Er führt aus, dass der europäische Krieg Anatolien zwischen Christen und Türken spalten und einen hohen Blutzoll auf beiden Seiten fordern werde. Die medizinische Hilfe des Hospitals aber soll allen zukommen (OTTOMAN LIEUTENANT: 15:00–30:45). Das filmische Narrativ stellt damit den amerikanisch-christlichen Idealismus und Humanismus außerhalb der Konfliktparteien und rechtfertigt gleichzeitig das türkische Masternarrativ der armenischen Aufständischen inmitten der allgemeinen Kriegswirren, die zu bekämpfen seien. Lillies Stimme fungiert in einigen in die Spielhandlung eingebetteten Dokumentationssequenzen als Voice-Over und situiert die komplexe historische Situation für ein internationales Publikum. Während Archivbilder des Krieges in Europa zu sehen sind, kommentiert Lillie fatalistisch, dass der europäische Krieg auf kurz oder lang auch die abgelegene osmanische Provinz erreichen wird. Die dokumentarischen Einstreuungen dienen sowohl der historischen Authentifizierung der Spielhandlung (OTTOMAN LIEUTENANT: 33:04‒34:50) wie sie durch Lillies auktoriale Sprechposition ein besonders Gewicht für die historiografische Bewertung des Konflikts bekommen. Kaum zufällig wird als Ort der Filmhandlung die Gegend um Van gewählt. Die Stadt nimmt im armenischen wie türkischen Gedächtnis einen prominenten Platz ein und wechselte im Krieg mehrfach zwischen Osmanen und Russen hin und her (vgl. Suny 2015a, 253‒263). Zudem befinden sich auf dem angrenzenden See die Insel Akdamar mit ihren altertümlichen Kirchen, die lange Zeit das kulturelle Zentrum der armenischen Gemeinde in der Region waren. Bei einem Ausflug nach Akdamar werden Lillie und Ismail zum Paar. Hier wird es auch sein, wo Lillie sich von ihrem Geliebten endgültig verabschieden muss, wodurch eine symbolische Kodierung des Ortes zugunsten der türkischen Perspektive vorgenommen wird. Ismails Figur kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Nachdem dieser sowohl gegen armenische Aufständische gekämpft wie eine armenische Dorfbevölkerung vor einem Massaker durch osmanische Soldaten bewahrt hat, muss er von

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den heranrückenden Kosaken fliehen, die das Hospital besetzen. Bei seiner Rettungstat gegenüber der armenischen Dorfbevölkerung wurde er schwer verletzt. Lillie versucht ihn zu seiner Truppe auf der anderen Seite des Sees in Sicherheit zu bringen. Auf der Überfahrt verstirbt er in ihren Armen. Das Kriegsmelodram zeichnet durch die unterschiedlichen Vorkommnisse ein durchmischtes Bild der Ereignisse, rechtfertigt aber letztlich auf subtile Weise das türkische Masternarrativ, indem verschiedene Perspektiven innerhalb der Kriegswirren vorgeführt werden, aber keine systematische Vernichtungsabsicht von Seiten der Jungtürken auszumachen ist. Insbesondere Ismails militärischer Vorgesetzter, der für die türkisch-osmanische Seite steht, wird in zwei Szenen als ein vorsichtig abwägender Charakter inszeniert. Seine artikuliert vorgetragene historische Einschätzung zu Beginn der Kriegshandlungen, dass Europäer und Amerikaner, Griechen und Römer kommen und gehen, während die eigene Kultur alle überleben wird, bedient auch ein konservativ muslimisches Publikum (OTTOMAN LIEUTENANT: 1:09:00). Es repräsentiert ein imaginäres türkisch-islamisches Ewigkeitsnarrativ, das gegenüber der kurzlebigen westlichen Moderne in Stellung gebracht wird. Die Kodierung von Trauma richtet sich auf den Opfertod von Ismail, den Lillie auf ewig zu erinnern verspricht. Berücksichtigt man den weiteren historiografischen Rahmen, der in den kurzen Dokumentationssequenzen skizziert wird, lässt sich ein Narrativ ausmachen, wonach es der europäische Krieg war, der Unheil und Gewalt ins entlegene Anatolien getragen hat und für die blutigen Verwerfungen zwischen Türken und Armeniern verantwortlich zeichnet. Die im türkischen Geschichtsverständnis nachvollziehbare Kritik an der imperialen europäischen Aggression vermengt sich mit der Abwehr für die Verantwortung am Völkermord und wird zur eigenen Entschuldung herangezogen. THE OTTOMAN LIEUTENANT liefert ein filmisches Identifikationsangebot ans US-amerikanische Publikum, erweitert das Spektrum dargestellter Kriegsgräuel und schwächt die Verteufelung der Armenier etwas ab, wenn man es mit dem knapp 10 Jahre früher produzierten türkischen Historienfilm 120 vergleicht. Hier werden die Armenier noch in eine aufständische Mörderbande und gute, weil vor den Kriegswirren davonlaufende Flüchtlinge aufgeteilt, während die türkisch-osmanische Aggression reine Verteidigung ist. Der von Özhan Eren und Murat Saraçoglu realisierte Film bezieht sich auf eine im türkischen Gedächtnis legendäre Geschichte vom Kriegseinsatz von 120 Kindern aus Van, die einer eingeschlossenen osmanischen Kompanie in Erzurum Waffen und Munition bringen sollen und größtenteils dabei zu Tode kommen. Die emotionsgeladene Geschichte operiert in ihrer Figurenzeichnung von inneren und äußeren Feinden mit düsteren Gegensätzen, die zu Revanchismus und autoritärem Verhalten einladen. So werden die armenischen Charaktere und deren türkische Kollaborateure entweder verweichlicht und geldgierig oder mordlüstern und hinterlistig dargestellt. In jedem

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Fall hilft nur unmittelbare Härte und Gewalt, um sich ihrer zu entledigen. Ein armenischer Arzt, der unterschiedslos Patienten behandelt, wird dafür von den Aufständischen ermordet und scheinheilig vom am Komplott beteiligten armenischen Geistlichen zu Grabe getragen. Die Inszenierung operiert mit hasserfüllten Verschwörungsklischees und atmet einen Hauch genozidalen Ressentiments. Demgegenüber mag man THE OTTOMAN LIEUTENANT als Fortschritt einstufen, der die entscheidende Schwelle zur Anerkennung der systematischen Vernichtung der Armenier aber nicht überschreitet. Insgesamt konnten die weiteren türkischen Zentenariumsproduktionen aus forschungspragmatischen Gründen leider nur sehr eingeschränkt berücksichtigt werden. Mit ÇANAKKALE. YOLUN SOLU (GALLIPOLI: END OF THE ROAD) von Kemal Uzun, Serdar Akar und Ahmet Karaman sowie SON MEKTUP wiederum von Regisseur Özhan Eren wurden zu Beginn des Zentenariums zwei Produktionen realisiert, die das Masternarrativ eines heldenhaften Opfers angesichts der erdrückenden feindlichen Übermacht bedienen.25 Die bemerkenswerteste Produktion dürfte die TV-Serie DIRILIŞ: ERTUĞRUL (RESURRECTION: ERTUĞRUL) sein, die nicht den Untergang, sondern die Gründung des Osmanischen Reiches behandelt. Die überaus erfolgreiche, von 2014 bis 2019 produzierte TV-Serie zeigt den Aufstieg des turkmenischen Stammes und Vater des Reichsgründers Ertuğrul, der sich gegen eine Unzahl von inneren und äußeren Gefahren sowie feindlichen christlichen Templern behaupten muss. Präsident Erdoğans wiederholte Bezugnahmen auf die Serie, in denen er eine Kontinuitätslinie dieser Kämpfe und Auseinandersetzungen für die heutige Türkei bekundet, verdeutlichen die zeitgeschichtliche Bedeutung der mythologischen Erzählung (Armstrong 2017; Arango/Gordon 2016). Mit knapp 450 Episoden aufgeteilt in fünf Staffeln handelt es sich um ein TV-Epos, das auch als türkisches GAME OF THRONES bezeichnet wurde und eine regional sehr unterschiedliche Aufnahme erfahren hat (vgl. Pandya 2020).

Reise und Suche als antitraumatische Erinnerungsmotive ‒ THE CUT Der vermutlich originellste der Zentenariumsfilme über den armenischen Genozid, THE CUT von Fatih Akin, hat ebenfalls nur eine verhaltende Aufnahme bei Publikum und Filmkritik gefunden. In dem schon erwähnten IMDb-Bewertungssystem landet der Film bei einem Durchschnitt von 6,3, wobei der Antagonismus zwischen Ein-Punkt- zu Zehn-Punktbewertungen mit (15,7% zu 29,4%) bei 4.537 abge-

25 Vergleiche zur allgemeineren Tradition des Historienfilms im türkischen Kino die Monografie von Dönmez-Colin (2008), insbesondere 33–36.

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gebenen Voten relativ moderat ausfällt.26 Der Filmkritik war der Film zu harmlos oder versöhnlerisch (vgl. Kniebe 2014; Ostwald 2014), was nicht zuletzt mit der Politisierung des Genozids in Deutschland zusammenhängt, die eine hohe Erwartungshaltung an dessen explizite Darstellung heranträgt (vgl. Grimnitz 2014). Dabei wurde mitunter übergangen, dass Akin durch seinen Rekurs auf die Motive von Vertreibung und Suche, Heimat und Diaspora eine ins globale gewendete Erinnerungsperspektive an Genozid und Ersten Weltkrieg heranträgt, die, ohne einen vordergründigen Bekenntnischarakter auszustellen, keineswegs die genozidale Realität verschweigt. Die verschiedenen Erinnerungsmotive sind durch die Thematik der Reise, die in der Exposition des Films selbstironisch eröffnet wird, untereinander verbunden. Als Nazaret (Tahar Rahim) seine beiden Töchter von der Schule in Mardin, einer kleinen Stadt im südöstlichen Anatolien abholt, zieht ein Kranich über die Köpfe der armenischen Familie hinweg. Der Vater erklärt den Zwillingen mit einer gewissen Vorfreude, dass ihnen eine lange Reise bevorstünde. Die Reise, die daraufhin folgt, verläuft freilich entschieden anders als sich der Vater imaginierte. Die genozidale Katastrophe entfaltet sich in einer Dramaturgie der Ereignisse, die einer etablierten Erzählstruktur folgt und bestimmten historischen Stationen nachgebildet ist. Der Unterwanderung der multiethnischen Identität des Reiches folgen die gewaltsame Vertreibung aus Haus und Stadt, die sklavenhafte Beschäftigung in den Zwangsarbeitereinheiten, die Vernichtung der männlichen Arbeitskräfte, die Misshandlung von Frauen und Kindern, Versuche von Gegenwehr und Widerstand, die Todesmärsche in die syrische Wüste und schließlich die Erinnerung des Ganzen durch die entronnene Diasporagemeinde. Dies sind Stationen der Reise, die der Hauptprotagonist Nazaret in THE CUT absolviert. Akin fügt ihnen allerdings durch das antitraumatische Motiv der Suche ein Element hinzu, das die gesamte zweite Hälfte des Films bestimmt und das Überleben in der Diaspora als poetische Wiedergewinnung von ‚Heimat‘ bebildert. Heimat ist bei Akin kein topografischer Ort, sondern bewegt sich, wie Daniela Berghahn mit Bezug auf Akins frühe Filme herausgestellt hat, zwischen „structuring absense as well as utopian promise“ (Berghahn 2006, 143). THE CUT stellt den dritten Teil einer Filmtrilogie dar, die Akin mit GEGEN DIE WAND und AUF DER ANDEREN SEITE begonnen hatte. Die Situierung von THE CUT als deren Endpunkt kontextualisiert die Erzählung in den Spannungsfeldern von erzwungener Migration, hybriden Identitäten und der angesprochenen Sehnsucht nach ‚Heimat‘. Akins Verfilmung des Genozids war lange erwartet worden, nachdem ein vorangegangener Versuch die Lebensgeschichte von Hrant Dink, einem 2007 in Istanbul ermordeten türkisch-armenischen Journa-

26 Vgl. IMDb, https://www.imdb.com/title/tt2245171/ratings?ref_=tt_ov_rt (16. September 2018).

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listen, gescheitert war.27 Entsprechend muss man bei der Verfilmung der umstrittenen Thematik durch Akin von einem breiten geschichtspolitischen und medialen Kontext ausgehen, welcher die Auslegung der filmischen Erzählung begleitet und anleitet. Für die hier vorliegende Betrachtung des Films sind zwei eng miteinander verbundene Fragestellungen wichtig. Zum einen, wie erfolgt die filmische Kodierung von Trauma angesichts der grassierenden Gewalt während des Krieges und zum anderen, ob und wie es Akin gelingt, den systematischen Charakter der Vernichtungspolitik des jungtürkischen Regimes darzustellen? Akin verzichtet weitgehend auf eine explizite politische und historische Rahmung seiner Geschichte, so dass die Entfaltung der armenischen Katastrophe sich zumindest vordergründig als Familiengeschichte vollzieht. Nazarets erste Station nach der Trennung von seiner Familie ist ein Zwangsarbeitsregiment, in dem er der grausamen, in Vernichtung kulminierenden Gewalt der osmanischen Einsatzkräfte unterworfen ist. Nach Beendigung des Arbeitseinsatzes werden diejenigen Männer, die sich einer Zwangskonversion zum Islam verweigerten, zur Ermordung in eine nahegelegene Schlucht verbracht. Nazaret entgeht seinem Verhängnis nur, weil der türkische Kriminelle Mehmet (Bartu Küçükçaglayan), der seine Ermordung vollstrecken soll, Skrupel hat, ihm die Kehle durchzuschneiden. Mehmet durchtrennt ihm ‚nur‘ die Stimmbänder und bemerkt, dass sein Opfer überlebt hat. In der Nacht kommt er zurück, um Nazaret mit Wasser zu versorgen. Die beiden fliehen zusammen vor den jungtürkischen Soldaten und schließen sich einer marodierenden Bande desertierter Soldaten an. Nach einer kurzen Zeit der Regenerierung entscheidet sich Nazaret dazu, nach seiner Familie zu suchen, von der er erfahren hat, dass sie nach Raʾs al-ʿAin deportiert wurde. Die Verabschiedungsszene von Mehmet – was die geläufige Bezeichnung für einen osmanisch-türkischen Soldaten auf Seiten der Alliierten war – kann als Versöhnungsangebot an die entgegengesetzten armenischen und türkischen Gedächtnisse aufgefasst werden. Mehmet, der Nazaret gleichermaßen seine Stimme genommen hat, wie er sein Leben rettete, bietet ihm seine Stiefel zum Abschied als Geschenk an und bittet ihn um Verzeihung. Nazaret gewährt ihm diese durch ein stummes Nicken. Die Adressierung an das türkische Publikum liegt auf der Hand. Die weitere Reise und Suche führen den Protagonisten nach Raʾs al-ʿAin. Die an der nördlichen Grenze des heutigen Syriens gelegene Wüstenstadt war

27 Akin konnte für die Realisierung des Films keine türkischen Schauspieler für sein Vorhaben finden, beziehungsweise war nach eigenen Angaben nicht bereit, deren persönliche Sicherheit zu gefährden (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=RwCUGyDmWJ4 [25. September 2018]).

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im Osmanischen Reich als Durchgangsstation für die armenischen Flüchtlinge gewählt worden. Außerhalb des Stadtgebiets wurden die Lager für die Deportierten armenischen Flüchtlinge angelegt, die – ähnlich wie das noch weiter südlich liegende Der El-Zor – als Synonyme für die Vernichtung an den Armeniern stehen (vgl. Suny 2015a, 314‒315). Es verwundert daher nicht, dass Akin die zentrale Szene für die systematische Vernichtung der Armenier hier angelegt hat.28 Bevor der Protagonist das Todeslager betritt, streut Akin noch einen kleinen Hinweis auf die deutsche Beteiligung an dem Völkermord ein. Eine Gruppe armenischer Kinder, die von einer in Lumpen gekleideten Frau angeführt wird, wird von einem deutschen Aufseher der Bahnstrecke von den Gleisen verjagt. „He da, ihr Gesindel, runter von meinen Schienen. Ab ins Lager mit euch. Zack, zack“ lässt sich in der englischen Originalfassung des Films auf Deutsch vernehmen. Akin hatte aus Gründen der internationalen Vermarktung, aber auch wegen konzeptueller Gründe, Englisch als Filmsprache der 20 Millionen Dollar Produktion gewählt. Die kurze Szene markiert das Deutsche, wenn nicht als Tätersprache, so doch eindeutig als Sprache von Kollaborateuren am Genozid, bei der der Regisseur sich an Polanskis THE PIANIST orientierte. (Vgl. Heyman 2014; Elm 2007) Das Lager wird durch einen langsamen, in der Totalen gefilmten Kameraschwenk von der Wüstenstadt zu den Fetzen und Lumpen, unten denen sich die Vertriebenen von der Sonne zu schützen versuchen, ins Bild gerückt. Der Schwenk ist mit düsterer und spannungsgeladener Musik untermalt. Die Bilder, die hier inszeniert werden, lassen keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um ein Todeslager handelt. Der systematische Charakter der genozidalen Deportationen bekommt hier seinen klarsten Ausdruck. Die ausgemergelten und geschundenen Menschen werden nirgendwo hin mehr aufbrechen. Nazaret findet als einzige Überlebende seiner großen Familie die Schwägerin, die ihm vom Tod seiner Frau und den anderen erzählt. Sie selbst ist zu schwach, um sich noch zu erheben. Akin wählt für die ikonografische Zeichnung des Genozids eine Umkehrung der christlichen Pietà-Motivik (Abb. 8). Nazaret hält die sterbende Schwägerin auf seinem Schoss in den Armen. Diese bittet ihn unaufhörlich, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Er kommt ihrer Bitte schließlich nach und verurteilt sich selbst zum Überleben. Die schwer erträgliche Szene lässt den Protagonisten in seinem christlichen Glauben erschüttert zurück. In der nächsten Sequenz flüchtet sich Nazaret vor einem osmanischen Soldaten auf einen vorbeifahrenden Zug, der ihn in die Nähe von Aleppo als 28 Wie vergessen diese Städte und die mit ihnen verbundenen Gräueltaten im europäischen Gedächtnis sind, lässt sich daran ablesen, dass die Kämpfe um die nordsyrische Stadt Raʾs alʿAin und die Vertreibung der Kurden durch die türkische Armee im Oktober 2019 keinerlei mediale oder öffentlichen Erinnerungen weckte.

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Abb. 8: THE CUT – Pietà-Motiv/Ausschnittsvergrößerung. Die Bildsprache lässt keine Zweifel an der ausweglosen Situation der Deportierten. Sie zeigt Tote und zerlumpte Gestalten, die nicht mehr in der Lage sind, sich aus eigener Kraft zu versorgen. In deren Mitte platziert Akin Nazaret mit seiner Schwägerin in einer Pietà-Pose als christliches Trauermotiv. Die verwaschene Farbgebung erinnert an nachkolorierte Schwarz-Weiß-Aufnahmen und bekräftigt die Historizität der Filmhandlung mit seinem alptraumhaften Geschehen.

weitere Station seiner Reise bringen wird. Hier trägt sich die nächste Episode zu, die der Filmhandlung eine entscheidende Wendung gibt. Der arabische Seifenhändler Omar (Makram Khoury) zeigt sich barmherzig und nimmt den erschöpften und zerlumpten Nazaret als Arbeiter in seine Fabrik in Aleppo auf. Nazaret trifft auf weitere vertriebene Armenier, vor allem Krikor, der von Simon Abkarian verkörpert wird und durch seine Rollen als Schauspieler die Filme von ARARAT, 1915 und THE CUT verbindet. Die beiden Männer freunden sich an und Nazaret regeneriert sich physisch. Die Episode in Aleppo enthält angesichts des seit 2011 andauernden Syrienkriegs zweifelsohne einen zeitgeschichtlichen Fingerzeig. Omar, der arabische Seifenfabrikant, nimmt trotz eigener Gefährdung durch die jungtürkischen Autoritäten Flüchtlinge auf und bietet ihnen Schutz und Arbeit an. Den zentralen Wendepunkt der Geschichte hat Akin – nicht ohne selbstreflexives Augenzwinkern – in einem Kinobesuch seines Hauptprotagonisten angelegt. Nachdem Krikor und Nazaret spüren, wie ihr sexuelles Verlangen nach dem Kriege wiedererwacht, entscheiden sie sich, eines der zahlreichen Bordelle aufzusuchen. Die Bordelle sind voll mit verwitweten armenischen Frauen und verwaisten Töchtern und es ist klar, dass Nazarets eigene Töchter ein ebensolches Schicksal teilen könnten. Als die beiden Männer an einem Freilichtkino vorbeikommen, vollzieht sich ihre Trennung. Nazaret bevorzugt es, sich dem

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Zauber eines neuen Mediums hinzugeben und schaut sich Charlie Chaplins THE KID an, während Krikor zu den Bordellen weiterzieht. Der Kinobesuch bringt Gefühle von Lachen und Weinen zurück, die in Nazarets vernarbtem Seelenleben längst keinen Raum mehr hatten. Akins Inszenierung schafft es, mit dem verwendeten Filmzitat etwas vom Zauber des frühen Kinos zu vermitteln, das die überwältigende Macht der Realität und des Traumas für einen Moment außer Kraft zu setzen vermag. In dieser Sequenz erfährt Nazaret von seinem ehemaligen Lehrgesellen aus Mardin, den er nach der Vorstellung im Publikum trifft, dass seine Töchter noch am Leben sein könnten. Er entschließt sich, sie ausfindig zu machen, womit die Geschichte seiner Odyssee29 als ‚Heimreise‘ beginnt, die die gesamte zweite Hälfte des Films bestimmt.30 Die unermüdliche Suche des Protagonisten nach seinen verschollenen Töchtern bringt ihn zu christlichen Waisenhäusern im Libanon, einer exilarmenischen Familie auf Kuba, in die Mangrovensümpfe von Florida, zu einer Textilfabrik in Minneapolis, zu Gleisarbeiten nach North Dakota und schließlich ins entlegene Ruso, einer winzigen Siedlung nahe der kanadischen Grenze. Die Länge der Irrfahrt unterstreicht gleichermaßen die Anstrengungen und das Risiko des Unterfangens, wie sie die Sehnsucht und die Einsamkeit des armenischen Helden bebildern. Nazaret muss sich behaupten, indem er zwischen rettenden und todbringenden Inseln von Menschlichkeit navigiert. Es ist die archetypische Darstellung eines Exilierten und Suchenden. Die migrantische Irrfahrt zwischen Skylla und Charybdis endet aber nicht mehr mit der Rückkehr in die Heimat. Die Vereinigung von Vater und Tochter – die zweite Tochter verstirbt durch Krankheit – vollzieht sich auf fremdem und neuem Terrain. Was dem Film seine erinnerungskulturelle Kraft verleiht, ist die gelungene Verquickung der mythologischen, all-

29 Astrid Erll hat in einem Aufsatz auf die Odyssee als „narrative template“ [Erzählvorlage; M.E.] hingewiesen, die im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie bei der Konstruktion kultureller Traumata fungiere. Aufgrund ihrer narrativen Formung neige die Odyssee in ihrer langen Aneignungsgeschichte weniger dazu, kollektive Identitäten mit kulturellen Traumata zu verknüpfen – im Gegensatz etwa zur biblischen Exodus-Erzählung (vgl. Erll 2020). In gewisser Weise bestätigt sich dies für die hier vertretene Lesart von THE CUT, da die Motive der Suche und Irrfahrt traumatische mit antitraumatischen Erzählelementen kombinieren und zur Etablierung einer Heimat führen, die den Protagonisten neue Möglichkeiten eröffnet und sie nicht auf ihre kollektive Identität festschreibt. Die derart gewonnene Heimat speist sich aus dem sozialen, familiären Verhältnis zwischen den Protagonisten, nicht aus deren territorialer Herkunft. 30 Damit wird seine Geschichte zugleich die einer Triebsublimierung, ohne dass dieser Aspekt allzu weit reichen würde. Die weiblichen Charaktere kommen in THE CUT weitgehend nur als Objekte vor. Sie sind Leidende, Objekte von Begierde und rettende Traumgestalten. Akin erzählt die Geschichte der Vernichtung, Zerstreuung und Suche nur aus der Perspektive des Vaters und nimmt damit eine genderspezifische Begrenzung des historischen Narratives in Kauf.

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gemeinmenschlichen mit den spezifisch historischen Elementen. Sowenig den Armeniern ihre alte Heimat geblieben ist, sowenig sind Vater und Tochter in dem neuen Land zuhause. Und doch erzählt der Film die Verewigung der Diaspora ohne Anklage. Vermutlich, weil die Heimat die Menschen sind und weniger das Land.31 In dieser Hinsicht konvergiert die Erzählung von Fatih Akin mit der von Atom Egoyan. Auch bei Egoyan sind es am Ende die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen, die diesen das Gefühl von Heimat geben. Diese vollziehen sich aber über die territorialen und ethnischen Grenzen hinweg und werden geschichtsmächtig, indem sie einen neuen Anfang verheißen (THE CUT) oder die geschichtliche Wiederholung der Trennung von Mutter und Sohn (ARARAT) verhindern. Dabei trägt Akins eigene, migrantische Sprechposition nicht unerheblich zur Glaubwürdigkeit der Erzählung bei. Die gleiche Filmhandlung von einem als nationalistisch gesinnten türkischen Regisseur würde durch die glückhafte Vereinigung von Vater und Tochter auf fremdem Territorium einen anderen Zungenschlag bekommen. Das Motiv der Suche fungiert bei Akin als eine antitraumatische Fabel, insofern es zur zumindest partiellen Wiedervereinigung der Familie führt und enthält darüber hinaus eine ins globale gewendete Kodierung der Exil- und Fluchterfahrung. Durch die verschiedenen Stationen der Reise und Suche wird jene cineastische Erfahrung kreiert, die die weltweiten Auswirkungen und Nachbeben des Krieges vorführt. Kadrierung und Bildästhetik heben die Verlorenheit von Nazarets hervor, indem Anleihen beim Westerngenre gemacht werden und mit in die Totale gerückten Einstellungen die endlose Weite der Landschaften gezeigt wird. So wird über die Bildästhetik der Landschaftsaufnahmen wie in den anderen Produktionen ein Bezug zum US-amerikanischen Gedächtnis hergestellt. Laut Regisseur bezieht sich die ästhetische Rahmung dabei auf Terrence Malik, Martin Scorsese und vor allem Elia Kazans Klassiker AMERICA, AMERICA.32 Der Rekurs

31 Akin bestätigt eine solche Lesart in einem Interview, das er zur armenischen Premiere des Films in Jerewan gegeben hat. Er betont, dass seine Protagonisten eher nach dem Modell gelungener Familienbande konstruiert sind, als dass sie Glück und Geborgenheit territorial an ‚Boden‘ heften, was ein Ausdruck seiner eigenen Überzeugungen und Lebenserfahrungen sei. Vgl. Fatih Akin (2015): „It is also my Genocide“, https://www.youtube.com/watch?v=RwCU GyDmWJ4 (21. September 2018). 32 Kazans Film spielt zur Zeit der Hamidischen Massaker (vgl. Suny 2015, 105‒106) an den Armeniern gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Osmanischen Reich unter Abdülhamid II., die eine Welle christlicher Emigration mit sich brachten. Die Filmhandlung des Klassikers besticht durch die Darstellung des Migrationsprozesses ihres Hauptprotagonisten, der mehr als nur einmal knapp dem Tode entkommt und persönlich eine keineswegs nur positive Transformation durchläuft. Die sozialpsychologische Vielschichtigkeit der Darstellung des Charakters steht in Verbindung mit Kazans eigener familiengeschichtlicher Migrationserfahrung, der

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auf den US-amerikanischen Bild- und Geschichtsdiskurs (vgl. Heyman 2014) wird durch die Einbettung in die Filmhandlung allerdings weit kritischer verhandelt, als dass dies in den anderen Zentenariumsproduktionen der Fall ist. Der auf seiner Suche umherirrende Nazaret wird fast von rassistischen Ku-Klux-KlanLeuten in Florida erschossen, oder von kaum weniger fremdenfeindlichen Bahnarbeitern erschlagen. Das Nordamerika des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ist kein sicherer Hafen für die Flüchtlinge des Großen Krieges oder glücklicher Endpunkt der armenischen Odyssee. Die Stationen seiner Reise dekonstruieren klare ethnische und religiöse Zuordnungen. Dabei lassen sich insbesondere Identifikationsangebote für ein türkisches und arabisches Publikum ausmachen: Mehmet, der türkische Gauner, der es nicht fertigbringt, Nazaret zu ermorden und dem Nazaret am Ende seine Komplizenschaft verzeiht. Ebenso Omar, der hilfsbereite arabische Geschäftsmann, der Schutz und Arbeit anbietet. Die Filmhandlung bringt immer wieder allgemeinmenschliche Motive wie Selbsterhaltung (Mehmet), Sexualität (Krikor, der Freund in Aleppo), Rachegefühle (Nazaret in der Szene des Abzugs der Osmanen aus Aleppo) mit spezifischen Gewalterfahrungen des armenischen Helden zusammen. Deren antitraumatische Auflösung gibt die Richtung des filmischen Narratives vor und kann – je nach Blickwinkel des Betrachters – als Verharmlosung der historischen Gewalt wie als Versuch, die Erinnerungsblockaden zu durchbrechen, gelesen werden. An vorderster Stelle bei der Kodierung des Traumas steht freilich die Stummheit des Protagonisten. Diese lässt sich metaphorisch in viele Richtungen auslegen. Sie signalisiert einerseits die Unfähigkeit, Worte und Gehör für das ungeheure Verbrechen zu finden, das dabei ist sich zu ereignen und auch auf späteren Etappen der Reise unerzählbar bleibt. Zum anderen fungiert sie als körperliche Einschreibung der Gewalt in den Protagonisten, um den Preis des Überlebens zu markieren. Gleichzeitig hat sie durch das fortgesetzte Leugnen des Genozids von türkischer Seite auch eine erinnerungskulturelle Konnotation, die über die erzählte Zeit hinausreicht. Die Produktivität der Metapher besteht gerade in ihrer Vieldeutigkeit. Gegen Ende des Films scheint sich in der Begegnung von Nazaret mit der überlebenden Tochter die Stummheit des armenischen Helden zu lichten, wodurch die antitraumatische Stoßrichtung des Narratives bekräftigt wird. In zwei Szenen, in denen der Held zu sterben droht, sind es Mutter und Töchter, die als Traumfiguren zu Hilfe kommen. Einmal bricht Nazaret in der Wüste auf dem Weg nach Ras Al-Ayn zusammen und seine Frau erinnert ihn daran aufzuste-

der in Istanbul geborene, griechischstämmige Regisseur eine künstlerische Form verleiht. Der 1963 produzierte AMERICA, AMERICA kann zweifellos als filmischer Meilenstein einer kritischen Reflexion von erzwungener Migration gelten.

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hen, als müsste er zur Arbeit gehen. Ein andermal sind es seine Töchter, die den Erfrierenden in North Dakota an seine Vaterpflichten gemahnen. Die anrührende Inszenierung der verinnerlichten Objekte dient gleichermaßen der Kodierung von Trauma wie sie einen Bewältigungsmechanismus vorführt, der die familiäre Rahmung der Geschichte hervorhebt. Somit beinhaltet Akins Variante der Kodierung eines kulturellen Traumas gleichzeitig dessen Eindämmung, indem die stärkende Kraft sozialer Beziehungen im familiären Rahmen wie in den stützenden Begegnungen jenseits ethnischer Bande in Aleppo und anderswo inszeniert werden. Insgesamt stellt sich die Frage, ob der melodramatische Appell ans Familiengedächtnis den Genozid und die armenische Identität nicht zu sehr auf den familiären Rahmen verkürzt. Dies berührt die bekannte Problematik um den Disput zwischen Popularisierung und Emotionalisierung der umstrittenen genozidalen Erinnerung, die schon bei der Inszenierung der Shoah in der US-amerikanischen TV-Produktion HOLOCAUST von 1978 eine zentrale Rolle spielte. Hier wurde der Genozid an den europäischen Juden anhand der Geschichte einer mehrheitsdeutschen und einer deutsch-jüdischen Familie erzählt, der es um den Preis historiografischer Verkürzungen gelang, eine bestehende Erinnerungsblockade ‒ speziell in Deutschland ‒ aufzuweichen (vgl. Reichel 2004; Elm 2008). Der ausgebliebene Publikumserfolg von THE CUT weist auf eine geringere Verankerung der Thematik in den populären Gedächtnissen hin, hat aber andererseits vermutlich mit einem Missklang der Publikumsadressierung zu tun. Da der Genozid an den Armeniern aus gegensätzlichen Gründen kaum im Familiengedächtnis außerhalb der betroffenen armenischen und türkischen Gemeinden etabliert ist, wird die auf Emotionalisierung setzende Familiengeschichte thematisch als unzureichend wahrgenommen. Aufgrund der fehlenden oder umstrittenen staatlichen Anerkennung des Genozids steht in vielen Ländern die politische Anklage deutlich vor einer emotionalen Einfühlung. Jene aber ist Akins Anliegen nicht. Letztlich teilt THE CUT die Geschichte des Genozids an der armenischen Bevölkerung in zwei Hälften. In der ersten wird die Vernichtungspraxis des jungtürkischen Regimes an ihren armenischen Opfern vorgeführt, ohne dass die Täter allzu sichtbar werden, während die zweite Hälfte sich den Folgen sowie der Abwehr der traumabehaftenden Geschichte zuwendet. THE CUT ist kein deutscher, türkischer, amerikanischer, englischer, französischer oder armenischer Film. Vielmehr ist es die ins Globale gewendete Geschichte von Krieg und Völkermord, von Vertreibung und Migration und der Suche nach familiärem Zusammenhalt in einer Welt, die die gewohnten Strukturen zerbrochen hat. Die Konzentration auf die letztgenannten Elemente erlaubt es Akin, ein versöhnlicheres Portrait der historischen Gewalt vorzuführen, die noch deren unmittelbare Konsequenzen umfasst. Zugleich wird durch den migrationsgeschichtlichen Bezug ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht zu gegenwärtigen Themen und Problematiken

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eröffnet, die sich erinnerungstheoretisch als „social framing“33 (Erll 2012, 234) des Genozids an den armenischen Genozid verstehen lassen, ohne dass dies dem Film den angestrebten Publikumserfolg beschert hätte. Es könnte aber sehr wohl die Grundlage dafür bieten, die ihm ein vielgestaltiges Weiterleben verleiht.

33 Erll bezeichnet damit die diskursive Einbindung filmischer Narrative in kulturelle und soziale Kontext im Rahmen ihrer Theorie der ‚plurimedialen Konstellationen‘, die die filmische Erinnerung entscheidend anleitet (vgl. dazu den Abschnitt Genremuster des Großen Krieges in Kapitel 1).

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Die Feminisierung der Weltkriegserinnerung Im Laufe der Untersuchung fiel die hohe Anzahl von Produktionen auf, die die Perspektive von weiblichen Charakteren in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen rücken. Mit FRANTZ, TESTAMENT OF YOUTH, LES GARDIENNES, THE CRIMSON FIELD, THE ANZAC GIRLS, CLARA IMMERWAHR, QUEEN OF THE DESERT ragen eine Reihe von Filmen aus dem Feld der fiktionalen Zentenariumsproduktionen heraus. Diese werden durch dokumentarische Produktionen wie LETTERS FROM BAGDAD, WOMEN OF WORLD WAR ONE oder 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN KRIEGS ergänzt. Es wäre allerdings völlig verfehlt, die Darstellung von weiblichen Akteuren als filmgeschichtliches Novum der Zentenariumsproduktionen anzusehen. Wie bereits in der genretheoretischen, filmgeschichtlichen Betrachtung ausgeführt, sind weibliche Charaktere in den Kriegsdarstellungen von Anfang an präsent. Das hat von der historischen Seite mit der Länge und Intensität des Krieges zu tun, der die mehrheitlich weiblichen Zivilistinnen in Akteurinnen des Kriegsgeschehens verwandelte. Die Materialschlachten des Großen Krieges konnten nicht ohne die Arbeitsleistungen von Frauen und die politische Unterstützung der Heimatfront gewonnen werden. Entscheidend für das mediale Aufleben weiblicher Erzählungen dürfte aber auch die Mittelstellung sein, die den Frauen etwa als Krankenschwestern in den Kriegsdramen zugewiesen wird. Diese sind räumlich und symbolisch zwischen Heimatfront und Frontlinie stationiert und erlauben die Gestaltung von Charakteren, die einen Blick auf die häufig disparaten Orte der Kampfhandlungen eröffnen. Was sich in den Zentenariumsproduktionen verändert, ist weniger die Exposition weiblicher Charaktere als deren Sprechposition. Die Charaktere werden von erzählten zu erzählenden. Sie treten in den historischen Narrativen aus ihren Nebenrollen als Geliebte, versorgender Krankenschwester, leidender Arbeiterin, Ehefrau, Schwester oder Mutter an der Heimatfront hinaus. In der zum fünfzigsten Jahrestag des Kriegsbeginns produzierten 26-teiligen BBC TV-Dokumentation THE GREAT WAR waren von den siebzehn Stunden Sendezeit nur wenige Minuten den weiblichen Protagonistinnen gewidmet (vgl. Bostridge 2015, Pos. 1866). Ob die veränderte Aufmerksamkeitsökonomie die narrativen und ästhetischen Zuschreibungen von Frauen als Objekte von Begierde, seelsorgende Krankenschwestern oder (symbolisch) als zu verteidigende Heimat – kurz den männlichen Blick34 ‒ überschreitet, ist eine andere Frage, die im Folgenden zu erörtern sein wird.

34 Vergleiche zur Debatte um die filmtheoretischen Grundlagen des männlichen Blickes das entsprechende Kapitel in Shohini Chaudhuris Abhandlung feministischer Filmtheoretikerinnen (2006, 35‒44).

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Bei der quantitativ zu beobachtenden Ausweitung handelt es sich trotz der geschichtlichen Plausibilität der Betrachtung weniger um ein Phänomen, das sich historiografisch vom Weltkrieg herleitet, als um die Auswirkungen einer Geschichte der Kämpfe um Emanzipation, die eine andere geschichtliche Betrachtung ermöglichen. Diese findet nicht nur in den filmischen Narrativen, sondern auch auf der Produktionsseite ihren Niederschlag. In THE CRIMSON FIELD kann die britische Drehbuchautorin Sarah Phelps als Hauptverantwortliche für die Entwicklung der TV-Miniserie gelten. Ähnliches gilt für die von Felicity Packard entwickelten ANZAC GIRLS. In LETTERS FROM BAGHDAD entwerfen die Dokumentarfilmerinnen Sabine Krayenbühl und Zeva Oelbaum ein vielschichtiges Bild der bedeutenden Historikerin und Archäologin Gertrude Bell, die oft als weiblicher Lawrence von Arabien bezeichnet wurde, aufgrund ihrer Stellung und Tätigkeiten diesen in ihrer historischen Bedeutung aber bei weitem übersteigt. Auf vergleichbare Weise löst sich die Lebensgeschichte der Chemikerin Clara Immerwahr in der gleichnamigen deutschen TV-Produktion von der lange Zeit dominierenden Figur ihres Ehemannes Fritz Haber, Nobelpreisträger und Entwickler von Kampfgas, ab. Zunächst soll der Blick auf die Neuverfilmung von Vera Brittains TESTAMENT OF YOUTH gelenkt werden, dem durch seine frühe autobiografische Beschreibung der Erfahrungen einer Voluntary Aid Detachment (V.A.D.) eine historische Sonderstellung zukommt. Die häufig mit der eigentümlich bürokratischen Abkürzung V.A.D. bezeichneten Krankenschwestern rekrutierten sich im Unterschied zu militärischen Krankenschwestern aus der Zivilbevölkerung, was deren Bedeutung für den öffentlichen Diskurs und die Selbstwahrnehmung der Heimatfront nur erhöht. Angesichts der übergreifenden sozialen und politischen Bedeutung der Genderkategorie ist davon auszugehen, dass auch die Kodierung von Trauma eine spezifische Formung erhält, beziehungsweise in ihrer auf männliche Gewalterfahrungen bezogenen Normalitätsdisposition kenntlich wird.

Emanzipation weiblicher Kriegserfahrung – TESTAMENT OF YOUTH Vera Brittain hatte ihr Studium in Oxford und ihre behütete Stellung als Tochter einer Familie aus der gehobenen Mittelschicht Englands aufgegeben, um die britischen Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Ihr autobiografisch angelegtes Buch, das sie erst fünfzehn Jahre nach Kriegsende35 abschließen konnte, ver35 Das persönliche Ringen und die zeitliche Dauer um die Formgebung der Erinnerung an die geliebten männlichen Gefallenen lassen Parallelen zu Käthe Kollwitz künstlerischer Arbeit erkennen. Beide Frauen brauchten fast die Zeitspanne einer Generation, um einen ihren künstlerischen Ansprüchen genügenden Ausdruck zu finden.

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steht sich explizit als Darlegung der besonderen Erfahrungen der freiwilligen Krankenschwestern während des Krieges. Deren Kriegswahrnehmung, so Brittain, unterscheide sich wesentlich von der männlichen Perspektive und bedürfe einer eigenständigen Darstellung, die bislang nicht vorliege (vgl. Bostridge 2014, XV). Brittain verstand Testament of Youth als ein solches Unterfangen, das aber nicht weniger dem Verlobten, dem Bruder und Freunden im Sinne einer persönlichen Zeugnispflicht gewidmet ist. Ihr Buch erlangte den Status einer Ikone des britischen Gedächtnisses im Verlaufe eines langwierigen Rezeptionsprozesses, als dessen endgültiger Durchbruch die gleichnamige TV-Adaption der BBC Ende der 1970er gelten kann36 (Bostridge 2014, XI). Die filmische Adaption von 2014 erzeugt eine neue Station dieses vielgestaltigen Rezeptionsprozesses, dem hier nicht in allen Verzweigungen nachgegangen werden kann. Seit der TV-Produktion ist das Buch permanent in Druck verfügbar und hat sich nach dem Tod von Brittain als Inspiration für viele feministische Autorinnen erwiesen (vgl. Day 2013). Im Zentrum der autobiografischen Erzählung steht das Credo der Frauenbewegung ‚das Persönliche ist politisch‘, dessen Geltung sich auch bei der heutigen Lektüre des Buches fast wie von selbst einstellt. Brittain schildert ausführlich ihre Anstrengungen und Kämpfe, um die provinzielle Enge ihrer Buxtoner Herkunft zu überwinden und ihr erträumtes Studium in Oxford sowie ihre literarischen Schreibversuche zu realisieren. Sie legt minutiös die fortbestehenden gesellschaftlichen Anforderungen an junge Frauen offen, die diese in ihren Positionen als Ehefrauen und Müttern gefangen halten. Die Konflikthemen erinnern an die englische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, erhalten durch den Krieg aber eine spezifische Wendung. Insofern stehen ein Geschlechter- und Generationenkonflikt mit dem entsprechenden Coming-of-Age-Drama nicht weniger im Mittelpunkt von Buch und Film als die sie verschärfenden Kriegsereignisse. Der Profession der Krankenschwester kreidet Brittain ein viktorianisches Erbe an, das mit seinem fast klösterlichen Ehrenkodex und umständlichen Kleidungsvorschriften nach dem Krieg noch lange kein Ende fand (vgl. Brittain 2014, 414‒418) (Abb. 9). Brittains Biograf, Mark Bostridge, fungierte als historischer Berater der Neuverfilmung (vgl. Roberts 2014) und hat erheblichen Einfluss auf die Neuverfilmung von Brittains Lebensgeschichte genommen. Bostridge hatte bereits in den 1990er Jahren herausgefunden, dass Veras Bruder Edward sich vermutlich aufgrund einer bevorstehenden Anklageerhebung wegen seiner homosexuellen Orientierung in

36 Die fünfteilige BBC-Serie von 1979 erscheint insbesondere durch den Habitus der männlichen Protagonisten leicht angestaubt. Vergleicht man die Darsteller mit zeitgenössischen Aufnahmen der historischen Personen wird allerdings schnell klar, dass dieser Habitus vermutlich näher an der Lebenswirklichkeit von Vertretern der oberen Mittelschicht war als die Jugendlichkeit der hier besprochenen Neuadaption.

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Abb. 9: Vera Brittain in ihrer Zeit als Krankenschwester. Das Cover der Jubiläumsausgabe von 1978 zeigt ein Bild von Vera Brittain in ihrer Zeit als V.A.D. mit einer roten Klatschmohnblüte als Symbol für die Opfer des Krieges. Die nonnenhafte Aufmachung und Symbolik, mit der die Jubiläumsausgabe der Autobiografie beworben wurde, verdeutlichen die erinnerungsgeschichtliche Etabliertheit der Motive im britischen Kriegsgedächtnis.

die feindlichen Schusslinien begeben hatte. Vera Brittain war dies zum Zeitpunkt der Abfassung ihrer Erinnerungen zwischen 1929 und 1933 nicht bekannt. Ein Briefwechsel von Edward mit einem befreundeten Offizier war durch die Zensur geöffnet worden und führte zu einem Militärgerichtsverfahren gegen Edward, da Homosexualität im Königreich unter Strafe stand. Edwards direkter Vorgesetzter, Colonel Charles Hudson, hatte ihm einen Hinweis auf die bevorstehende Anklageerhebung gegeben. Ein Tag später starb Edward bei einer Offensive gegen habsburgische Truppenverbände auf dem italienischen Asiago-Plateau (vgl. Jones 2014).37

37 Veras Seelenverwandtschaft mit ihrem Bruder, deren Darlegung Testament of Youth eine besondere Note verleiht, äußerte sich nach ihrem Tod darin, dass sie ihrer Tochter auftrug,

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Vera wurde durch ebendiesen Vorgesetzten 1934 in die Hintergründe von Edwards Tod eingeweiht. Zwei Jahre später veröffentlichte sie mit Honourable Estate einen Roman, der die Geschichte eines homosexuellen britischen Offiziers erzählt, der den Tod wählt, um der öffentlichen Schande einer Anklage zu entgehen. Es ist daher mehr als eine Formsache, wenn die Neuverfilmung im Unterschied zur TVSerie von 1979 betont, dass Testament of Youth lediglich ihre Vorlage sei. Edwards Homosexualität wird in einer Szene behandelt, die sich niemals zugetragen hat und gerade dadurch einen guten Einblick in die Struktur der Dramatisierung der Neuverfilmung gewährt. Vera entscheidet sich nach dem Tod von Roland und Viktor, ihren Dienst als Krankenschwester in Frankreich fortzusetzen, um möglichst in der Nähe ihres dort zunächst ebenfalls stationierten Bruders zu sein. Sie erlebt hier die Frühjahrsoffensive der Deutschen von 1918, die den Krieg und eine drohende Niederlage nahe an ihr Feldlazarett rückt. Die Inszenierung bebildert dies mit verletzten und sterbenden Soldaten auf Krankentragen, die aus Platzmangel im Freien aufgebahrt sind. Die düstere Szenerie bekräftigt die Geltung eines kulturellen Traumas, das kaum anders als die Zeppelin-Bombardierungen englischer Städte zu Beginn des Krieges tief im britischen Gedächtnis verankert ist. Inmitten des Durcheinanders teilt ihr ein Soldat mit, dass einer der Verletzten nach einer Vera gefragt habe. Vera durchkämmt daraufhin das Chaos der schwerverletzten und toten Soldaten, bis sie ihren noch lebenden Bruder findet und ihn eilig in eine Krankenstation bringt. Diese Errettungsszene aus einem Haufen Leichen erinnert ästhetisch wie narrativ an eine Traum(a)sequenz, zumal ihr Bruder, der durch Senfgas verletzt wurde, recht schnell aufwacht und bald wieder voll genesen ist. Die starke Dramatisierung dient der Akzentuierung von Veras engem Verhältnis zum geliebten Bruder sowie als Anspielung auf dessen homosexuelle Neigungen, die in der Folgeszene zur Sprache kommen. Vera liest dem rekonvaleszenten Edward mit dessen Zustimmung einen Brief des befreundeten Geoffrey (Jonathan Bailey) vor. Geoffrey schildert eine Epiphanie von Glück und Frieden inmitten der unwirklichen mit Krater überzogenen Kriegslandschaft, die den Zuschauern in glühenden Farben vorgeführt wird. Die Szenerie verwandelt das Niemandsland für einen Augenblick in eine surreale Gefühlslandschaft, die in Verbindung mit dem an Edward gerichteten Brief romantische Untertöne aufweist. Weiter geht die Inszenierung von Edwards Homosexualität allerdings nicht und dem uneingeweihten Betrachter mag die Anspielung vollends entgehen. Die gesamte Sequenz fügt sich als Ausdruck von Vera Ängsten

ihre Asche auf dem Grab ihres Bruders in Italien zu verstreuen. Diese kam der Bitte 1970 auch nach (vgl. für eine detaillierte Darstellung der Ereignisse, Mark Bostridge 2015, Pos. 2464).

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und Wünschen aufs Engste in das geschwisterliche Verhältnis ein und lässt sich als dessen schlüssige Dramatisierung auslegen (Abb. 10).

Abb. 10: TESTAMENT OF YOUTH ‒ Das Niemandsland als Gefühlslandschaft. TESTAMENT OF YOUTH inszeniert die romantischen Gefühle von Veras Bruder Edward zu einem anderen Soldaten durch die ästhetische Transformation der Kriegslandschaft. Das Niemandsland wird für einen Augenblick durch Sonnenstrahlen aufgehellt und in den Wasserlachen der Bombentrichter spiegeln sich die Himmelsfarben.

Der Film selbst eröffnet mit einer Einstellung, in der Vera (Alicia Vikander) direkt in die Kamera blickt und so den Betrachter anschaut. Es ist der Tag des Waffenstillstands und der öffentliche Jubel der sie umgebenden Menschenmenge reißt sie aus der Stille der Selbstbetrachtung. Vera kann in den Jubel nicht einstimmen und flüchtet sich in eine Kirche. Dort entdeckt sie ein Gemälde, das ein religiöses Verdammnis-Motiv zeigt. Die Verdammten drohen zu ertrinken und Vera imaginiert sich selbst als Ertrinkende. Die bildliche Inszenierung reflektiert Veras Seelenleben. Sie hat ihren Bruder, Verlobten und enge Freunde verloren und ist längst nicht nur bei der Frage angelangt, ob der Sieg die Opfer wert war, sondern für was sie eigentlich weiterleben soll. Der Regisseur, James Kent, verwendet die ambivalente Motivik von Wasser als Quelle von Leben und Reinigung, aber auch von Versinken und Ertrinken in einer Überblendung zu Veras jüngster Vergangenheit kurz vor dem Krieg. Die Folgeszene zeigt einen unbeschwerten Tag mit ihrem Bruder Edward (Taron Egerton) und dessen Freund Viktor (Colin Morgan) an einem See im ländlichen England. Die aufblühende und gebildete männliche Jugend strebt die Verwirklichung ihrer intellektuellen und literarischen Ambi-

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tionen durch ein Studium im prestigeträchtigen Oxford an, während für Vera ein wenig klassische Bildung sowie eine frühe Heirat vorgesehen sind. Die Konfliktkonstellation erinnert an die hinlänglich bekannten Geschichten aus dem viktorianischen England des neunzehnten Jahrhunderts. Freilich weiß das Publikum, dass alles anders kommen wird und so kann die Adaption von Kent die Vorkriegsgeschichte deutlich zusammenkürzen. Für die weitere Betrachtung der Filmhandlung ist vor allem die gewählte Struktur der Dramatisierung der Kriegsereignisse durch den Regisseur und die Drehbuchschreiberin Juliette Towhidi aufschlussreich, da diese – wie eingangs beschrieben – erheblich von der literarischen Vorlage abweicht und durch ihren medialen Formwandel die erinnerungskulturelle Kodierung des Traumas prägt. Veras Vorkriegserlebnisse, ihr familiärer Kampf um ein Studium in Oxford, die erfolgreiche Aufnahmeprüfung, das Kennenlernen ihres späteren Verlobten Roland folgen weitgehend der literarisch-autobiografischen Vorlage. Die erste deutliche Abweichung zeigt sich in der genretypischen Szene des Heimaturlaubes, die thematisch die Entfremdung zwischen den kriegserschütterten Soldaten und den zu Hause gebliebenen Zivilisten akzentuiert. Als Vera ihren Geliebten trifft, gibt dieser sich verschlossen und kühl. Ihre Versuche, ihn zum Reden über seine Erfahrungen zu bewegen, werden mit dem Zitat eines anderen Soldaten „Home leave makes you soft“ (TESTAMENT 1:02:00) abgetan. Es kommt zum Disput zwischen den beiden, in dessen Verlauf Roland die gemeinsamen früheren Leidenschaften für Literatur und Poesie als Schwärmereien verächtlich macht. Vera akzeptiert diese Haltung und die zur Schau gestellte, durch die Kriegsrealität vermeintlich erworbene Reife, nicht. Das Trauma der Dissoziation zwischen Vorkriegs-Ich und neuem Ich kann abgewendet werden, indem Veras Insistenz ihn dazu bewegt, ihr Liebesbündnis zu erneuern. Die Darstellung im Film geht weit über die im Buch dargelegte Unfähigkeit hinaus, sich wechselseitig tiefergehende Gefühle mitteilen zu können. Die Genderforscherin Ilya Perkins hat mit Bezug auf den noch ambivalenteren Briefwechsel der beiden Geliebten argumentiert, dass die heteronormative Ordnung der Geschlechterverhältnisse ein soziales Trauma eigenständiger Qualität erzeugt habe, die sich aus einer nicht einzulösenden Zeugnispflicht von Vera gegenüber der soldatischen Erfahrung von Roland ergibt (vgl. Parkins 2007, 103). Danach konnte Vera Brittain durch ihre spezifische Genderposition die männliche soldatische Kampferfahrung nicht nachvollziehen und es kommt zu einem Bruch im Verhältnis der Geliebten, das der allgemeinen Behauptung von der Inkommensurabilität der Kriegserfahrung folgt. Letzteres manifestiert sich darüber hinaus in der Abwertung der als weiblich konnotierten Heimatfront gegenüber der männlichen Fronterfahrung. Parkins arbeitet die Potenzialität dieses sozialen Traumas klarsichtig heraus und macht zu Recht darauf aufmerksam, dass diese verstellte Wahrnehmung und Zeug-

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nisfähigkeit in beiden Richtungen der Geschlechterkonvention gilt (ebd.). Der Autorin Vera Brittain scheint es allerdings weniger um die Inkommensurabilität der genderbedingten Standpunkte gegangen zu sein, insofern ihr Anspruch gerade darin besteht, die bislang männlich dominierte Kriegsliteratur zu erweitern und punktuell zu korrigieren, nicht sie zu negieren (vgl. Bostridge 2014, XVI). Daher bringen die unterschiedlichen Erfahrungsweisen und -gehalte sie gerade nicht zum Schweigen, wie man es für die Ausprägung eines sozialen Traumas annehmen könnte. Vielmehr wird der potenziell traumatische Gehalt zum Gegenstand der autobiografisch-literarischen Bearbeitung im Liebesverhältnis zu Roland Leighton, ihrem Bruder und den männlichen Freunden. Dass dabei einige Ecken und Kanten insbesondere im Verhältnis zum Geliebten abgeschliffen werden (Bostridge XVIII), steht nicht im Widerspruch zu einer selbstreflexiven Verarbeitung der Problematik insgesamt. Brittain schreibt mit Bezug auf die ‚unbeschreibliche Kriegserfahrung‘: „quite early I realized this possibility of a permanent impediment to understanding […] between men and the women whom they loved“ (Brittain 2014, 122). Ihre bewusst literarisch gehaltene Autobiografie kann als Versuch angesehen werden, einer solchen traumatischen Entfremdung entgegenzuarbeiten. Das gilt im Übrigen nicht weniger für Rolands Leightons Poesie, der mit Villanelle sicher eines der eindrucksvollsten Gedichte vorgelegt hat, die sich an der Eindämmung der traumatogenen Diskrepanz zwischen Liebenden durch die Kriegserfahrung versuchen.38 Autobiografische Erinnerung wie filmische Adaptionen bearbeiten also bereits das von Parkins angesprochene soziale Trauma, das durch die soldatischen Kriegserfahrungen in die sozialen und romantischen Beziehungen an der Heimatfront zurückzuwirken droht.39 Gleichzeitig wird damit die heterogene soziale Position von Frauen bestimmt, die als von dieser Erfahrung Ausgeschlossene betrachtet werden, obwohl sie mit deren Konsequenzen konfrontiert sind. Die filmische Dramatisierung entwickelt durch die Betonung von Veras Handlungsfähigkeit ihre eigene Strategie, den Schreibversuchen der Protagonisten eine entsprechende Gestalt zu verleihen. Gemeinsam ist Ihnen, sich an der Überwindung der Gewalt des Krieges und der Sprachlosigkeit des Todes zu versuchen. Diese Inszenierungsstrategie kann als das antitraumatische Motiv in TESTAMENT OF

38 Vgl. Roland Aubrey Leighton: Villanelle, http://www.ox.ac.uk/world-war-1/people/rolandaubrey-leighton (29. Oktober 2018). 39 Filmisch ist die Bearbeitung dieses Konfliktes allerdings keineswegs neu. In WESTFRONT 1918 gibt es eine bemerkenswerte Heimatfrontsequenz, als der Hauptcharakter Karl (Gustav Diessl) auf Fronturlaub nach Hause kommt und seine Verlobte mit einem anderen Mann vorfindet. Diese hatte aus purem Nahrungsmangel eine Affäre angefangen. Die Sequenz führt vor, wie die Protagonisten keine gemeinsame Sprache finden und Karl an die Front in die ‚Bruderschaft des Krieges‘ zurückkehrt und dort den Tod sucht und findet.

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YOUTH angesehen werden, die sich mit der Intention der literarischen Fassung deckt, ohne den wesentlich sachlicheren Stil der Autorin zu imitieren. Dabei wird Veras Figur insbesondere in der Szene des Heimaturlaubes mit einer Handlungsfähigkeit ausgestattet, die sie aus der Passivität ihrer Frauenrolle heraushebt. Nachdem ihr Geliebter gefallen ist, macht Vera sich daran, die Todesumstände zu klären. Der der Familie zugestellten offiziellen Bekundung eines schnellen, schmerzfreien und ehrenhaften Todes schenkt niemand wirklich Glauben. Vera versucht Licht ins Dunkel der Todesumstände zu bringen, indem sie einen bei dem Einsatz gleichfalls verwundeten Offizier zu Rolands Ende befragt. Die Szene akzentuiert wiederum Veras Beharrlichkeit, die den Offizier dazu bewegt, ihr eine andere und genauere Version der Vorkommnisse zu schildern. Bei dieser Begegnung wird klar, dass sich der Tod alles andere als schmerzfrei vollzogen hat. Eine von Vera erhoffte Botschaft durch letzte Worte des Sterbenden erhält sie nicht. Vielmehr werden in dieser Szene die letzten bedeutsamen Worte Rolands als sinnfreies Gestammel eines sterbenden Menschen markiert. Was die Trauer ermöglicht und das Trauma eindämmt, wird erst in der Folgeszene kenntlich. Rolands Familie erhält dessen verschmutze und blutige Uniform zugesandt. Die Mutter reagiert verärgert auf diese unpersönliche Geste der Zustellung der privaten Überbleibsel des Sohnes durch die Militärverwaltung. Inmitten ihrer wütenden Anklage fängt Vera an, die Kleidung nach einer Nachricht zu durchsuchen. Schließlich findet sie ein eingenähtes Gedicht im Mantel. Sie trägt die Zeilen der trauernden Familie vor. Dabei handelt es sich mit Roland Leightons Villanelle genau um jenes Gedicht, das die Kriegserfahrung vom massenhaften Sterben Vera als Bestandteil des gemeinsamen Liebesverhältnisses nahezubringen versucht. Das Gedicht löst die Tränen, ist es doch gleichsam Botschaft eines Versprechens, wie das greifbare Erbe des Gefallenen. Danach sind Bilder des Abschiednehmens zu sehen. So fügt die filmische Narration zwei Motive zusammen. Den physischen Tod als sinnfreies Sterben eines Menschen und das eingelöste Bekenntnis, Worte zu finden, die sich dem Versuch aussetzen, den Tod mit Bedeutung auszustatten. Inhaltlich treffen die scheinbar inkommensurablen Erfahrungen von Heimatfront und Fronterfahrung aufeinander und werden zumindest punktuell überbrückt. Rolands Tod ist aber erst der Auftakt zu einer Serie von Schreckensmeldungen, die Vera neben ihrer eigenen, zunehmend beschwerlichen Arbeit als Militärkrankenschwester zusetzen. Auffallend ist, dass die filmische Adaption auf die gesamte Episode ihres Kriegsdienstes auf Malta verzichtet. Dies unterscheidet sie ebenfalls von der früheren TV-Miniserie, die diesen Aufenthalt noch prominent platziert hatte. In der Autobiografie wird der Dienst auf Malta als eine Art Coming-of-Age-Erfahrung geschildert, bei der Vera Brittain sich zu einer selbständigeren jungen Frau entwickelt, die den Krieg auch als exotisches Abenteuer und

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Reifungsprozess erlebt. Sie durchwandert allein das mediterrane Eiland, findet Freundinnen unter den Krankenschwestern und bekommt Anerkennung für ihre Arbeit. Auf Malta erfährt sie von Geoffreys Tod, Victors Kopfverletzung und Erblindung. Dort entscheidet sie sich, nach England zurückzukehren, um den versehrten Freund zu pflegen und ihn möglicherweise in einem Akt weiblicher Selbstaufopferung zu ehelichen. (Brittain 2014, 263‒314) Die Darstellung überspringt durch die Auslassung einen nicht unwesentlichen Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung und Kriegserfahrung, die offensichtlich nicht in das gewählte Dramaturgiekonzept passte. Infolgedessen wird Veras Charakter stärker durch die Tode des Verlobten, Bruders und der Freunde definiert, was der Darstellung ihrer eigenen Emanzipationsbestrebungen an dieser Stelle entgegenläuft. Biograf Bostridge merkt in seiner Einleitung zur Neuauflage ihres Buches an, dass Brittain ihre eigene intellektuelle Verführbarkeit als junge Frau „to the glamour of war“ (Bostridge 2014, XIX) kaum reflektiere. Dem widerspricht Brittains eigenes Vorwort von 1933 vehement. Hier führt sie die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen als Ausweis einer solchen kritischen Perspektive an, die sie allerdings – wie sie selbst zubilligt – kaum durch Erinnerungen zu rekonstruieren vermag (Brittain 2014, XXVI‒XXVII). Sie weist explizit auf den schwierigen Versuch hin, die eigene Jugendlichkeit aus einer alters- und erfahrungsmäßig fortgeschrittenen Perspektive beschreiben zu können (vgl. ebd.). Die filmische Adaption entscheidet sich in dieser Frage für eine mittlere Position in der Ausgestaltung ihres Charakters, ohne allerdings erinnerungskritische Reflexionen in die eigene Erzählung einzuflechten.40 Veras Entwicklung hin zu einer kriegskritischen Haltung, die sich in der Nachkriegszeit in einen radikalen Pazifismus verwandeln sollte, vollzieht sich im Film über die Darstellung des ungeheuren Leidens und Sterbens in den Feldlazaretten und Militärhospitälern, aber auch in der Begegnung mit der anderen Seite, also zweier klassischer Genremuster des Antikriegsfilms. In der Neuadaption gibt es eine Sequenz, in der Vera als V.A.D. dem Feind in Gestalt verletzter deutscher Soldaten begegnet. Bei ihrer Versetzung nach Frankreich wird sie entgegen ihres patriotischen Willens zur Versorgung von deutschen Kriegsgefangenen eingesetzt.41 Diese werden von einer anderen Schwester abwertend als Huns betitelt und mit Nummern statt Namen belegt. Veras Stimme, die als Voice-Over eingesprochen wird, kommentiert die unfreiwillige Erfahrung

40 Es dürfte bereits im Sommer 2009 bei der Übereinkunft zwischen BBC Films und Heydey Films [letztere zeichnen für die Produktion der Harry Potter Reihe verantwortlich; M.E.] klargeworden sein, dass die Neuadaption sich eher an ein breites, jüngeres Publikum wendet, als dass eine selbstreflexive und erinnerungskritische Arthouse Produktion angestrebt würde (vgl. Bostridge 2014, Pos. 2093). 41 Im Buch wird diese Episode nur kurz thematisiert (vgl. Brittain 2014, 339‒346).

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mit den verwundeten Deutschen in einem Brief an ihren Bruder mit „It makes you wonder“ (TESTAMENT 1:26:07‒1:27:06). Kurz darauf zeigt eine Szene, wie sie dem Todeskampf eines deutschen Soldaten beisteht. Der letal Verwundete halluziniert sich in der britischen Krankenschwester seine Freundin herbei, in dessen Rolle Vera schlüpft. Zur Überraschung der anderen Schwester spricht sie Deutsch und gibt dem Soldaten die Möglichkeit, einige letzte Worte an seine vermeintliche Geliebte zu richten. Das Motiv einer jungen und vergeblichen Liebe dient – nun als Spiegelbild im Feind – als ein die nationalen Gegensätze übersteigendes Element. Die Protagonistin wird in einer späteren Szene auf dieses Erlebnis zurückgreifen, um ihre generelle Kriegsgegnerschaft zu begründen. Leider versäumt die Neuadaption an dieser Stelle, die tieferliegenden, intellektuellen Beweggründe ihrer Entscheidung zum Pazifismus und Internationalismus zu verdeutlichen. Brittain hält in ihrer autobiografischen Kriegserinnerung fest, dass in der technologisch und industriell entwickelten Moderne die Vorstellung reiner privater Existenzen irreführend geworden ist. „It may be that our generation will go down in history as the first to understand that not a single man or woman can now live in disregarding isolation from his or her world.“ (Brittain 2014, 432) Das Private sei politisch geworden – was gleichermaßen für Individuen wie Nationen gelte – und es bedürfe international vermittelnder Instanzen, um die dergestalt entstandenen Interessenskonflikte ohne Krieg auszuhandeln. Daher rührt ihr Engagement für den Völkerbund und „internationalism as a creed“ (Brittain 2014, 433), für deren Eintreten sie bereit war, ihre hart errungene literarische Reputation zu riskieren. Die Neuadaption von Brittains literarischem Erbe beschränkt sich auf die emotionale Seite dieser ins Politische gewendeten Erfahrung und mutet seinem Publikum in Zeiten von Brexit42 und nationalistischem Rechtspopulismus etwas zu wenig zu. Die Nachricht von Edwards Tod an der italienischen Front im Juni 1918 erreicht Vera in der neuen Heimstätte ihrer Eltern, wohin sie von ihren zunehmend von den Kriegsumständen angeschlagenen Eltern zurückgebeten wurde. Eine kurze Szene thematisiert die generationelle Differenz im Kriegserleben von Heimatfront und Frontlinie. Vera findet die Eltern eher mental als physisch angeschlagen vor. Die angeblich kranke und bettlägerige Mutter begrüßt sie im Salon und berichtet von den häuslichen Problemen aufgrund der Kündigung des Koches. Veras Kriegserfahrung wird so als Fronterfahrung markiert und implizit aufgewertet. Es ist nicht ganz ohne Ironie, dass es nun ihrem Charakter

42 Dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus dem Wirtschaftsraum der Europäischen Union mit Wirkung vom 31. Januar 2020.

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nicht gelingt, die Differenz von Fronterfahrung und Heimatfront mit ihren Eltern zu kommunizieren. Veras Reaktion auf Edwards Tod wird durch ein filmisch etabliertes Traumamotiv bebildert. Als sie aus dem elterlichen Fenster sieht, wie sich der Postbote auf dem Fahrrad der Eingangstür nähert, ahnt sie bereits, welche Nachricht er mit sich führen wird. Vera hört das Schluchzen des Vaters an der Haustür und stürmt wortlos aus dem Haus in das umliegende Moor. Dort fällt sie auf die Knie und beschmiert sich mit Schlamm. Der eigentliche Effekt der Szene entsteht durch die Sprachlosigkeit der ansonsten eloquenten und kämpferischen Protagonistin. Diese hat mit ihrem Bruder den letzten und innigsten Weggefährten verloren und ist auf der vorerst tiefsten Stufe ihrer Kriegserfahrung angekommen. Am Ende und in der Schluss-Szene des Films steht das Versprechen, niemals zu vergessen, das mit der Überwindung der Sprachlosigkeit verknüpft wird. Das aus vielen Historien- und Kriegsfilmen bekannte Motiv erhält in TESTAMENT OF YOUTH eine besondere ästhetische Rahmung. Regisseur James Kent re-inszeniert die Eingangsszene, in der die ausgelassenen jungen Leute bei einem sommerlichen Badeausflug zu sehen waren. Die filmische Erinnerung nimmt etwas körperlich Bedrohliches an, wenn Vera halb bekleidet in den abgelegenen und dunklen See steigt. Unweigerlich werden Assoziationen an einen Suizid aufgerufen (Abb. 11).

Abb. 11: TESTAMENT OF YOUTH – Badeszene. Veras weiße Unterwäsche hebt sich deutlich von den dunklen Grün- und Brauntönen der Umgebung ab, die sie zu verschlingen drohen. Die Bildgebung evoziert Assoziationen zum potenziellen Selbstmord der Protagonistin und erzeugt einen scharfen Kontrast zu den lichtdurchfluteten Aufnahmen des Sees zu Beginn des Films. Lyrisches und physisches Gedächtnis durchdringen sich in der Schluss-Szene unentwirrbar. Im Medium Film ist das kein Widerspruch. Die audiovisuelle Erzählung setzt zurecht auf die Kraft der Bilder, die sie von Literatur und Poesie abheben und dem Film sein gelungenes Abschiedsmotiv geben.

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Regisseur und Kameraführung schaffen es meisterhaft, den dünnen Grad zu bebildern, der ihre düstere Verzweiflung der Nachkriegszeit von dem einst gegebenen Versprechen trennt, die Geschichte der Freunde zu erzählen. Letzteres wird nun von Veras Voice-Over eingesprochen, während sie schwimmend den stillen See durchteilt. Die filmische Erzählung entwirft ein differenziertes Bild persönlicher Kriegserfahrung mit deren potenziell traumatogenen Effekten und bindet diese in das größere Kriegsgeschehen ein. Es gibt einzelne Sequenzen, wie die eingangs erwähnte Darstellung der deutschen Frühjahrsoffensive 1918, die sich als Kodierung eines kulturellen Traumas im britischen Gedächtnis verstehen lassen. Im Buch wie im Film wird durch die seinerzeit drohende Kriegsniederlage ein Gefühl von historischer Katastrophe spürbar, die als Bedrohungsszenarium im Zweiten Weltkrieg aktualisiert werden sollte und eine historische Schockerfahrung im britischen Gedächtnis bezeichnet. Diese als kulturelles Trauma inszenierte Erfahrung dient gleichzeitig als impliziter Aufruf zur nationalen Einheit. Vera Brittain erinnert den ‚Special Order of the Day‘ von Oberbefehlshaber Sir Douglas Haig an alle britischen Streitkräfte in Frankreich und Flandern (vgl. 2014, 382‒383) zum Durchhalten ähnlich erhebend, wie es vermutlich eine Generation später den britischen Hörern von Churchills berühmter Ansprache ‚We Shall Fight at the Beaches‘ erging.43 Man mag fragen, ob die inspirierte filmische Adaption die Abgründe von Vera Brittains Kriegserfahrung umfassend in Szene setzen kann. In ihrer literarischen Abfassung erzählt Brittain von posttraumatischen Belastungsstörungen, die sie bereits kurz nach dem Krieg entwickelte und die unzweifelhaft eine genderförmige Gestalt annahmen. Sie halluzinierte, dass ihr ein Bart wachsen und sie sich in eine Hexe verwandeln würde (vgl. Brittain 2014, 454‒455). Es wurde ihr zunehmend unmöglich, sich im Spiegel zu betrachten und der posttraumatischen Fixierung schlossen sich Schlafstörungen an, die weit über ein Jahr andauerten. Autobiografische Selbstinszenierung und filmische Neuadaption stimmen darin überein, dass ihr die Beschäftigung mit Literatur und Poesie sowie der Entschluss, der individuellen Tragödie einen sozialen und politischen Sinn abzuringen, halfen, Depression und Trauma einzudämmen und ein neues Leben aufzubauen (vgl. Brittain 2014, 458). Insofern vollzieht sich die Konstruktion eines kulturellen Traumas über die Inszenierung der literarischen und poetischen Verarbeitungen der Kriegserfahrung. Das generationelle Erbe der ‚lost generation‘ wird durch eine weibliche Perspektive aktualisiert, die nicht zu-

43 Letztere hat ihr filmisches Pendant zu TESTAMENT gefunden.

OF

YOUTH in Christopher Nolans DUNKIRK

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letzt die historische Realität eines totalen Krieges reflektiert. Wie eingangs ausgeführt, liegt die Spezifität der autobiografischen Erzählung darin, dass sie der genderförmig bedingten Dissoziation von männlicher und weiblicher Kriegserfahrung, die das nicht selten aktualisierte Potential eines sozialen Traumas mit sich führt, entgegentritt. Dieser Fokus ist erinnerungsgeschichtlich nicht völlig neu, wird aber anderswo kaum so genau erfasst wie hier. Die filmische Neuadaption leistet die für Klassiker notwendige Fortschreibung und Tradierung der Thematik und sichert Brittains autobiografischer Erzählung einen Platz im Gedächtnis des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu. Kritik und Publikum haben die Neuadaption überwiegend positiv aufgenommen.44 Insofern gelang es der Zehn-Millionen-Dollar-Produktion, sich ins kulturelle Gedächtnis einzuschreiben, ohne ein Kassenschlager zu werden. Dabei ist zu beachten, dass die soziale Situierung der transformativen Erfahrungen sich wie im Falle der männlichen Dichterikonen Siegfried Sassoon oder Wilfried Owen im Milieu der gehobenen Mittelklasse zuträgt. Insofern vollzieht sich die Einschreibung von Protest und die Verarbeitung von Shell Shock in einer klassenoder schichtspezifischen literarischen Form (vgl. Hanna 2007a, 93).

Sisterhood of War – Zivile Krankenschwestern in THE CRIMSON FIELD und ANZAC GIRLS Zentenariumsproduktionen haben die Darstellungen weiblicher Kriegserfahrungen als Militärkrankenschwestern, Arbeiterinnen an der Heimatfront, Expertinnen, Mütter, Geliebte, Prostituierte und vieles mehr einen Schritt weiter ins populäre Gedächtnis gehoben. Man mag über die gewählten Darstellungsformen im Einzelnen streiten. In der Summe lässt sich aber von der Etablierung eines Genremusters sprechen, das in Opposition und Ergänzung zur ‚Bruderschaft des Krieges‘ als Schwesternschaft des Krieges bezeichnet werden kann. Es re-inszeniert und speichert die subalternen Erfahrungen von Frauen aus allen Schichten der Gesellschaft auf und markiert einen Wendepunkt in der männlichen Dominanz von Kriegsdarstellungen. Ein solcher Wendepunkt lässt sich nicht direkt vom Ersten Weltkrieg herleiten, sondern bezieht sich auf die Kämpfe um Emanzipation, die das gesamte zwanzigste Jahrhundert prägen und bis heute andauern, wie sich zuletzt an der #MeToo-Debatte um sexuelle Übergriffe in nach44 Vergleiche etwa die Rezensionen auf Metacritics: https://www.metacritic.com/movie/testa ment-of-youth/critic-reviews (25. Dezember 2018). Zuschauerinnen auf IMDb bewerten den Film in allen Altersgruppen höher als Männer: https://www.imdb.com/title/tt1441953/ratings? ref_=tt_ov_rt (25. Dezember 2018).

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drücklicher Form gezeigt hat. Ähnlich wie die erinnerungskulturelle Verarbeitung von Gewalt in Form kultureller Traumata handelt es sich dabei um einen Prozess, der zahlreiche gesellschaftliche Akteure umfasst und viele historische Ereignisse intermedial miteinander verknüpft. Angesichts der komplexen und weitläufigen Thematik dürfte klar sein, dass der Genderdiskurs hier nur punktuell verfolgt werden kann. Der Periode des Ersten Weltkrieges kommt in historiografischer wie erinnerungskultureller Hinsicht gleichwohl eine Schlüsselstellung zu, da er zentrale Punkte weiblicher Emanzipationsbestrebungen wie die Erlangung des Wahlrechts, die soziale Ablehnung arrangierter Ehen oder berufliche und ökonomische Selbständigkeit miteinander verbindet. Mit der britischen TV-Miniserie THE CRIMSON FIELD von 2014 liegt eine weitere Zentenariumsproduktion vor, die sich aus der Perspektive der zivilgesellschaftlich rekrutierten Krankenschwestern [V.A.D.; M.E.] dieser Problematik angenommen hat. Inspiriert wurde die Drehbuchschreiberin Sarah Phelps von Lyn MacDonalds Buch Roses of No Man’s Land, das bereits Anfang der 1980er erschienen war (vgl. Gilbert 2014). Dieses stellt eine eingehende historische Untersuchung der V.A.Ds und militärischen Krankenschwestern dar. Phleps, die sich als Drehbuchschreiberin bereits mit zahlreichen TV-Produktionen einen Namen gemacht hatte, wurde von der BBC die Entwicklung einer eigenständigen TV-Miniserie anvertraut. Von genretheoretischer Seite sticht dabei insbesondere die Koppelung von historischer Erzählung mit dem Medienformat der TV-Miniserie heraus. So hatte Phelps die Serie auf vier Staffeln angelegt, was die Gestaltung der Charaktere, Handlungsstränge, Konfliktdramaturgie und vieles mehr stark beeinflusst. Die BBC hatte sich trotz hoher Einschaltquoten45 gegen die Fortsetzung der Serie entschieden (vgl. Dowell 2014). Dies führte dazu, dass nach der ersten Staffel zahlreiche Erzählstränge unaufgelöst bleiben. So findet der Konflikt zwischen den Headnurses [Oberschwestern; M.E.], deren Verhältnis zum Leiter des Feldlazarettes, das Dilemma der von ihrer Tochter getrennten Kitty (Oona Chaplin), deren Beziehung zu den um sie konkurrierenden Ärzten, ihr armenischer Nachname und viele weitere Erzählstränge keine wirkliche Auflösung. Die mit den Charakteren verbundenen Haltungen zum Krieg oder dem Verhältnis zur Heimatfront werden dadurch ebenso in der Schwebe gehalten. Das Medienformat beeinflusst damit unfreiwillig die historiografische Erzählung, was im Hinblick auf die Analyse des Narratives sowie rezeptionstheoretisch zu berücksichtigen ist. Inhaltlich erzählt die TV-Miniserie die Geschichten von vier sich freiwillig für den Sanitätsdienst verpflichtenden britischen Krankenschwestern in einem

45 Vgl. https://www.barb.co.uk/viewing-data/weekly-top-30/ (27. Dezember 2018).

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der zahlreichen frontnahen Feldlazarette in Frankreich. Es wird ein vorwiegend britisches Gesellschaftsportrait entfaltet, das über seine weiblichen Protagonistinnen ein genderspezifisch geprägtes Konfliktfeld eröffnet, in dem die auch bei Vera Brittain angesprochene Auseinandersetzung zwischen den professionellen Ansprüchen der Militärkrankenschwestern und den V.A.Ds ausgetragen wird. Dieses Konfliktfeld wird mit den allgemeinen Kriegsereignissen verbunden und erweitert. Die hoch verdichtete TV-Dramaturgie lässt dabei kaum eines der prominenten britischen Kriegsthemen unberührt. Zur Sprache kommen die Loyalitätskonflikte irischer und schottischer Soldaten, Homosexualität, Fraternisieren mit dem Feind, Selbstverstümmelung, die medizinische Bewertung von Shell-ShockSymptomen bis hin zu kolonialgeschichtlichen Verzweigungen wie einem indischen Geliebten der Oberschwester. Es ist den ausgezeichneten Dialogen und schauspielerischen Leistungen zu verdanken, dass diese enorme thematische Bandbreite sich nicht wie eine Kriegsgroteske ausnimmt. Zum Gelingen mag beigetragen haben, dass Phelps zunächst ihre weiblichen Charaktere gestaltete und der Plot sich daraus ergab (vgl. Gilbert 2014).46 Insofern wird das gesamte Kriegspanorama über die Geschichte der weiblichen Hauptcharaktere entworfen, ohne dass ein Eindruck von Mangel entstünde. Die Miniserie verzichtet auf jegliche Frontaufnahmen, obwohl das ein- und ausgehende männliche Personal dafür einige Möglichkeiten geboten hätte. Trotz dieser visuellen Zurückhaltung, die auch produktions- und kostentechnische Gründe gehabt haben mag, ist die Traumathematik von Anfang an präsent. In der ersten Episode wird ein Soldat mit PTSD entgegen der medizinischen Empfehlung des Oberarztes und Leiters des Feldlazarettes zurück an die Front geschickt. Der Lazarettleiter ignoriert die Anweisung eines höher gestellten Offiziers, der aufgrund des Fehlens physischer Verletzungen eine entsprechende Anweisung ausgibt. Damit nimmt der Konflikt von militärischer und ärztlicher Perspektive einen zentralen Platz ein. Der Lazarettleiter wird selbst wiederum von einer Schwester, die sich durch eine ausgebliebene Beförderung benachteiligt sieht, hintergangen. Die Affäre hat weitreichende Konsequenzen, da die Schwester das gegen die militärische Anweisung des Vorgesetzten ausgestellte Attest bei sich behält, um es gegen den Lazarettleiter verwenden zu können. In der vierten Folge wird der entsprechende Soldat mit verschlechterten Symptomen er-

46 Phelps entwickelte einige der Hauptcharaktere wie Kitty, Flora oder Rosalie nach Erlebnissen von Familienangehörigen und deren Erfahrungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Sie betont, dass das Hören von Musik aus der Zeit des Vietnamkriegs sie bei der Entwicklung des Plots inspirierte (vgl. Gilbert 2014). Die kriegs- und epochenübergreifenden historischen Referenzen decken sich mit einer humanistischen Antikriegsbotschaft, die sich selbst der frühzeitig abgesetzten Kriegserzählung entnehmen lässt.

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neut ins Lazarett eingeliefert, wodurch der Lazarettleiter vom Komplott der Krankenschwester erfährt. Insgesamt markiert THE CRIMSON FIELD den kleinen Kosmos des Feldlazarettes als Kampffeld ganz eigener Art und stellt dabei die Eigenmächtigkeit der weiblichen Akteurinnen heraus. Die Inszenierung schafft es, die weitgespannte Thematik durch ihre Charaktere und Handlungsstränge zu einem spannungsreichen und durchaus unterhaltsamen Gesellschaftsportrait zu verdichten. Es ist bedauerlich, dass die BBC der Entfaltung dieses genderspezifisch inspirierten Blickes keinen weiteren (Sende)-Platz eingeräumt hat. Das australische Pendant der ANZAC GIRLS setzt noch stärker auf das Genre des Liebesmelodrams und verlegt in den ersten drei Folgen die zentralen Schauplätze der weiblichen Kriegstaufe nach Kairo und vor die Halbinsel Gallipoli. Erzählt wird die Geschichte von vier australischen und einer neuseeländischen Krankenschwester, die sich freiwillig zum Sanitätsdienst an die entlegene Kriegsfront melden. Auch hier zeichnet mit Felicity Packard eine erfahrene Drehbuchschreiberin und Produzentin für die Entwicklung der sechs Folgen verantwortlich. Packard und die Produzenten waren sich darüber im Klaren, dass es eines besonderen thematischen Zugangs bedürfen würde, um sich innerhalb der zahlreichen Zentenariumsproduktionen [insbesondere in den ehemaligen Dominions und den USA; M.E.] abzuheben (vgl. Packard 2014). Ihre Aufmerksamkeit fiel dabei auf das Buch von Peter Rees The Other ANZAC, das sich der Geschichte der etwa 3.000 australischen und neuseeländischen Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg angenommen hat. So nennt Packard als explizites Anliegen bei der Entwicklung der TV-Miniserie, den dominanten männlichen Blick auf den ANZAC-Mythos47 zu hinterfragen und um eine weibliche Perspektive zu erweitern. Begriffe wie ‚mate-

47 Das Acronym ANZAC steht für die Australian and New Zealand Allied Corps, die als Bestandteile des britischen Empires in die Kriegsanstrengungen der Entente-Mächte einbezogen wurden. Speziell im australischen Gedächtnis hat sich die verlustreiche Gallipoli-Offensive zu einem nationalen Gründungsmythos entwickelt. Dessen bereits kurz nach dem Krieg einsetzende erinnerungskulturelle Genese ist recht komplex (Beaumont 2018) und hat filmgeschichtlich seinen Niederschlag im Peter Weirs GALLIPOLI gefunden. Die Filmhandlung von Weirs Klassiker gipfelt in dem als sinnlos inszenierten Opfertod des Hauptprotagonisten und spaltet erinnerungspolitisch die eigene Kriegsanstrengung vom Vereinigten Königreich ab. Erinnerungskulturell bietet sich die Teilnahme am Großen Krieg – für den man nicht verantwortlich zeichnet – mit den Elementen einer kollektiven Aufopferung, die auch Truppenkontingente der autochthonen Bevölkerung umfasst, weit mehr als national geteiltes Gründungsereignis an, denn der Beginn der Besiedlungsgeschichte, der 1798 mit Kapitän Cooks Landung einsetzte und über hundert Jahre von ‚frontier wars‘ gegen die Aborigines nach sich zog. Das erinnerungskulturell inklusive Gallipoli-Modell (Beaumont 2018, 4) konnte sich seit dem Ende der 1980er Jahre in Australien immer mehr durchsetzen und prägt die filmischen Narrative bis hinein ins Zentenarium.

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ship‘48 und ‚sacrifice‘ seien im herkömmlichen Erinnerungsdiskurs klar männlich besetzt und die anders gelagerten Erfahrungen von Zivilistinnen und Krankenschwestern hätten bislang kaum Eingang in das populäre historische Narrativ gefunden. Dies äußere sich bei der Kodierung von Leiden und der Interpretation von posttraumatischen Symptomen, unter denen viele der V.A.Ds nach ihrer Rückkehr gelitten hätten.49 Nur dreißig Prozent haben später geheiratet und ihre Schlafstörungen bis hin zu Selbstmorden wurden nicht im Kontext ihrer Kriegserfahrungen verstanden. (Vgl. Packard 2014) Die Dramaturgie der TV-Miniserie folgt zunächst den Genremustern des Ersten Weltkriegsfilms in der gewohnten Abfolge von Abenteuer, Schock und Ernüchterung, Durchhaltevermögen und Resilienz bis hin zum Gedenken der Verstorbenen. Insofern muss es nicht überraschen, wenn in der ersten Episode mehr Kuss- als Schusswechsel zu sehen sind und das aus westlicher Perspektive exotische Kairo mit den nahegelegenen Pyramiden mehr als einmal ins Bild gesetzt wird. Die Kriegshandlungen tauchen nur kurz zwischen den Zeltlagern am Fuße der Pyramiden auf, als die osmanische Armee den Suezkanal Anfang 1915 überqueren will und werden in einer weiteren Szene zu Beginn der Gallipoli-Offensive als monumentales Spektakel der britischen und französischen Seeflotte bebildert. Ansonsten bleibt der Nahe Osten lediglich Fassade. Die in den weiteren Episoden gewählten Schauplätze sind in Kairo, Alexandria, auf einem Lazarettschiff und auf der griechischen Insel Lemnos angesiedelt. Insbesondere auf Lemnos wird die Arbeit und Verbundenheit der Schwestern durch die harschen Bedingungen auf die Probe gestellt. Nicht nur mangelt es an einer elementaren sanitären Ausstattung für die Patienten: durch Überarbeitung, schlechte Nahrungsversorgung und Unterbringung kommt es zu Infektionskrankheiten unter den Schwestern, die bis hin zu Todesfällen führen. Hier fällt in der dritten Episode explizit der Ausdruck ‚Band of Sisters‘, um den solidarischen, humorvollen und kommunikativen Austausch und Zusammenhalt der Frauen zu markieren. Packard hat angemerkt, dass sie auf ästhetischer Ebene dem Bild der ‚Rose of No Manʼs Land‘, das die

48 Mateship ist in diesem Kontext der australische Ausdruck für die Bruderschaft des Krieges, die durch den untergeordneten Status einer britischen Dominion den sozialen Zusammenhalt der Soldaten und deren männliche Identität abweichend auffasst. Vergleiche dazu den vorzüglichen Aufsatz von Ina Bertrand (1999) „The ANZAC and the Sentimental Bloke: Australian Culture and Screen Representations of World War One“. Die Inszenierung dieser körperbetonten Männlichkeit setzt sich in Russell Crowes Zentenariumsfilm THE WATER DIVINER ungebrochen fort. 49 Diese Einschätzung gilt sicher nicht weniger für die Kriegsdienst leistenden Krankenschwestern in Europa und der gesellschaftlichen Verweigerung, deren posttraumatischen Störungen in der Nachkriegszeit anzuerkennen (vgl. Leonhard 2014, 995).

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Krankenschwestern zu engelgleichen Wesen ohne eigene Bedürfnisse reduziert, entgegenwirken wollte (vgl. Packard 2014) (Abb. 12 und 13).

Abb. 12: Songposter. Rose of No Manʼs Land mit dem nonnenhaften Bildnis einer Krankenschwester.

Abb. 13: ANZAC GIRLS. Die australische TV-Produktion versucht eine andere Ästhetik der V.A.D. zu entwickeln. Die niederknieenden und aufopferungsbereiten Schwestern erscheinen allerdings allzu oft mehr als eine Aktualisierung dieses des alten Bildes als eine tatsächliche Abkehr davon.

Dies gelingt allerdings bestenfalls punktuell in Szenen, in denen die Schwestern sich über private und berufliche Konflikte und Wünsche austauschen und so ihre Individualität in den Vordergrund stellen. Für V.A.D. wie Militärkrankenschwestern galt gleichermaßen, dass eine Heirat ihre berufliche Karriere unmittelbar beendet hätte. Die Assoziation zur Nonne mit ihrer ästhetischen Verklärung im Bildnis der ‚Rose of No-Man’s-Land‘ kommen also nicht von ungefähr. Ansonsten bewegt sich die bildliche Darstellung der Schwestern formatgetreu recht nahe an den üblichen TV-Ästhetiken. Die ausgedehnte Gestaltung der

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Liebesverhältnisse der attraktiven Schwestern verstärkt die konventionelle Darstellungsweise nur. Auf der narrativen Ebene fällt auf, dass die Charaktere im Unterschied zu denjenigen aus THE CRIMSON FIELD kaum innere Widersprüche oder Konkurrenzverhältnisse untereinander zeigen. Während in der britischen TV-Miniserie drei der vier Schwestern vorwiegend private Gründe für die Entscheidung zu ihrem Dienst als V.A.D. haben – und damit auch von der nationalen Kriegsanstrengung unterschiedene Ziele verfolgen – dienen die ANZAC Girls weitgehend uneigennützig ihren Vaterländern und den Boys. Das rückt sie dann doch wieder sehr nahe an die konventionelle Vorstellung der opferbereiten Krankenschwester.50 Im Unterschied zu den britischen V.A.Ds. ist die Darstellung der australischen und neuseeländischen Krankenschwestern mit der erinnerungskulturellen Hypothek der nationalen Unabhängigkeit vom Empire belastet. Die Zurschaustellung individueller Abweichung geriete leicht in den Verdacht, am nationalen Gründungsmythos zu kratzen und wiegt entsprechend schwerer. Der Konflikt zwischen Militärkrankenschwestern und zivilen Krankenschwestern nimmt in ANZAC GIRLS eine kolonialgeschichtliche Gestalt an. Der symbolträchtige scharlachrote Umhang war nur für Angehörige des Queen Alexandra’s Imperial Military Nursing Service vorgesehen. In einer parallel montierten Szenenfolge wird einer australischen Schwester die symbolische Hierarchie der Kleiderordnung demonstriert, was diese als Zurücksetzung erlebt, schlussendlich aber selbstbewusst zurückzahlen kann. Die Auseinandersetzung zwischen ‚colonials‘ und den britischen Militärkrankenschwestern spitzt sich in der vierten Folge zu, nachdem die Schwestern an die Westfront versetzt wurden und dort zeitweilig von einer britischen ‚Matron‘ [Oberschwester; M.E.] schikaniert werden. Die Konfliktdynamik erinnert an Mateship-Filme wie THE LIGHTHORSEMEN, in denen die australischen Soldaten emotionaler, direkter, humorvoller und körperlicher agieren als die auf Selbstdisziplin gedrillten Engländer. Das Bestreben zur nationalen Unabhängigkeit wird in der TV-Miniserie bereits zur Kriegszeit als Memorialkonflikt inszeniert, wenn die ANZAC Girls im April 1916 den Jahrestag der verlustreichen Gallipoli-Offensive begehen wollen. Das memoriale Anliegen ist der britischen Oberschwester vollends unverständlich. Man kommt schwerlich umhin, die Inszenierung anders als eine retrospektive Generierung von postkolonialer Differenz aufzufassen.

50 Den Krankenschwestern des französischen und britischen Roten Kreuzes war bereits 1918 ein Lied gewidmet worden, das erinnerungskulturell das (Selbst)-Bild der Schwestern lange bestimmt hat. Vgl. Jack Caddigan / James Alexander Brennan / Louis Delamarre, http://scrip torium.lib.duke.edu/sheetmusic/a/a12/a1238, Public Domain, https://commons.wikimedia. org/w/index.php?curid=2977846 (04. Januar 2019).

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Anders als in TESTAMENT OF YOUTH erfährt die Differenz von Heimatfront und Fronterfahrung keine vergleichbare Vertiefung. Einzelne Szenen weisen auf eine für die Krankenschwestern irritierende Presseberichterstattung der Ereignisse hin, die von den eigenen Erfahrungen erheblich abweicht. In den Zeitungsartikeln wird der Heimatfront durch geglättete Presseberichte nur eine unzureichende Darstellung des Leidens angeboten. Die Perspektive der Schwestern rückt somit näher an die soldatische Kriegserfahrung. Nur im Liebesverhältnis von Alice (Georgia Flood) zu Lt. Harry Moffitt (Dustin Clare) flackert kurz der Konflikt zwischen Kampf- und Pflegeerfahrung auf, der das Paar zu trennen droht. Die Kodierung von Trauma wird vorrangig durch Abjektdarstellungen in Form von entstellten und verletzten Männerkörpern evoziert. In jeder Episode bebildern zahlreiche Szenen Wunden von Granatsplittern oder Schussverletzungen, schwarze und grünliche Fleischverfärbungen, amputierte Körperglieder und die Bemühungen der Schwestern, den meist sehr jungen Soldaten emotionalen Beistand zu leisten. Auf psychischer Ebene ist das Trauma hingegen auffällig wenig präsent. Die Affektdynamik von Verlust, Trauer und Depression wird in die melodramatische Beziehungsdynamik der Schwestern zu ihren Geliebten verlegt. Drei der fünf Schwestern müssen mehrfach Verletzungen und in einem Falle den Tod des Geliebten miterleben. Ein Gefühl von Sprachlosigkeit oder gar einer ‚lost generation‘ wie bei Vera Brittain entsteht dabei kaum. Dies ist der unterschiedlichen Erinnerungsperspektive der australischen und neuseeländischen Dominions geschuldet, die – wie ausgeführt – die Katastrophe des Krieges gleichzeitig als konstruktives nationales Gründungsereignis gestalten. Insgesamt folgt die Kodierung der Gewalterfahrungen dem klassischen Muster des Ersten Weltkriegsfilms, das den Krieg insgesamt als sinnlos, die konkreten Anstrengungen der Einzelnen aber als bedeutungsvoll ausweist. An die Stelle der bekannten Bruderschaft des Krieges tritt aber eine weibliche Gemeinschaft, die sich genretheoretisch als Schwesternschaft des Krieges bezeichnen lässt. Diese ist nicht konfliktfrei, zeichnet sich aber vor allem durch weibliche Solidarität und wechselseitige Zuwendung aus. Eine Care-Ethik51 hält hinter den Schützengräben Einzug. Diese überwindet nicht vollumfänglich den männlich dominierten Blick von Gewaltgeschichte, verändert aber das Gesamtbild des Krieges. In allen Produktionen treten die Protagonistinnen aus ihrer den Kampfhandlungen nachgeordneten Funktion hinaus und greifen selbst den Ablauf der Ereignisse ein. Es fällt auf, dass sowohl in den TV-Miniserien wie in der filmästhetisch aufwendige-

51 Die Care-Ethik als Kritik an den Geltungsansprüchen einer Theorie der universalistischen Moralentwicklung wurde bereits Anfang der 1980er Jahre von der US-amerikanischen Psychologin Carol Gilligan in Abgrenzung zu Lawrence Kohlbergs Arbeiten formuliert (vgl. Gilligan 1982).

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ren Kinoproduktion die Erfahrungen der V.A.Ds eher der Fronterfahrung als der Heimatfront zugeschlagen werden. Damit vermeiden es die filmischen Narrative, den weiblichen Charakteren wiederum eine vermittelnde Funktion zwischen Heimatfront und Frontlinie zuzuweisen, wie es deren Genderposition nahelegen würde. Diese Emanzipation des weiblichen Blicks auf die Kriegsereignisse kann in Hinsicht auf die Zentenariumsproduktionen als ein erster Befund ausgewiesen werden. Es wird sich zeigen, dass sich ähnliche Gestaltungsmerkmale in den französischen Zentenariumsproduktionen wie in 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS auffinden lassen. Insofern wird die bislang auf angelsächsische Kino- und TV-Produktionen beschränkte Betrachtung noch zu ergänzen sein.

Gertrude Bell – Wiederentdeckung einer britischen Erinnerungsikone in QUEEN OF THE DESERT Der letzte Abschnitt dieses Kapitels wendet sich den filmischen Adaptionen der Lebensgeschichte einer Protagonistin zu, die sich durch ihre soziale und klassenförmige Herkunft stark von den genannten Krankenschwestern abhebt. Gertrude Margaret Lowthian Bell entstammte einer der einflussreichsten industriellen Familien des viktorianischen und edwardianischen England. Ihr Vater Lowthian Bell gehörte nicht nur zu den vermögendsten Männern Englands, sondern hatte sich als wissenschaftlich gebildeter Industrieller der Bellschen Kohleberg-, Eisenund Stahlwerke einen Namen gemacht (Wallach 2014, 30‒31). Bell verkehrte von Haus aus mit der britischen Oberschicht und ihre spätere Bekanntschaft und Freundschaft mit arabischen Beduinenführern, Emiren und Königshäusern ist sicher nicht ohne diese soziale Herkunft zu verstehen. Dennoch wird sich zeigen, dass der lange Atem des Genderdiskurses auch nicht vor dieser, in vielerlei Hinsicht distinguierten Frau haltgemacht hat. Gertrude Bell, geboren am 24. Juli 1868 in Nordosten Englands, wird zwei Tage vor ihrem achtundfünfzigsten Geburtstag in Bagdad Selbstmord begehen. Sie gehört damit einer Generation von Frauen an, deren soziale Herkunft Emanzipationschancen eröffneten, die jedoch trotz Talent und selbstdisziplinierter Arbeit gesellschaftlich und kulturell ungedeckt blieben. Es kann zu den inneren Widersprüchen ihrer Identität gezählt werden, dass ihr Engagement für die Anti-Suffragettenbewegung [die gegen die Erlangung des Wahlrechtes für Frauen kämpfte; M.E.] dem eigenen Lebensentwurf politisch zuwiderlief. Zumindest ist es nicht ohne Ironie, dass die für ihre Zeit ungemein emanzipierte Bell, die eine zentrale Architektin der politischen Nachkriegsordnung im Nahen Osten werden sollte, ihrem eigenen Geschlecht das Wahlrecht absprach. Damit wird ein Unterschied zur Biografie von Vera Brittain deutlich, deren soziale Herkunft in der oberen Mittelklasse eine Generation später nicht mit einem solchen

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Widerspruch ausgestattet war. Standesgemäß sind bereits einige Biografien zu Gertrude Bell und ihren weitgesteckten Tätigkeiten im Nahen Osten und Persien erschienen.52 Ihre filmische Wiederentdeckung während des Zentenariums vollzieht sich durch zwei Produktionen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Werner Herzogs Wüsten-Melodram QUEEN OF THE DESERT mit Nicole Kidman in der Hauptrolle erinnert nicht nur vom Titel her an David Leans LAWRENCE OF ARABIA.53 Hier wie dort steht die Begegnung und Erkundung der Wüste und ihrer arabischen Bewohner durch eine Außenseitergestalt im Mittelpunkt der Filmhandlung. Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass sowohl Bell wie Lawrence als kundige Archäologen und Orientalisten ihrer Zeit galten. Ihre Reisen durch die teilweise unkartografierten Gegenden des Nahen Ostens sowie ihre archäologischen Forschungen fanden vor dem Krieg statt und verschafften ihnen den Expertenstatus, der dann von Militär und Politik in Dienst genommen wurde. Beiden können sehr persönliche Gründe für ihre als exotisch geltende Beschäftigung unterstellt werden. Gertrude Bell war vierundzwanzig Jahre alt und nach viktorianischen Maßstäben eine ‚alte Jungfer‘, als sie nach vergeblicher Partnersuche unter der britischen und europäischen Elite, ihre erste Reise nach Persien antrat. Lawrence begleitete die Hypothek eines außerehelich geborenen Kindes, was ihm ebenfalls einen Außenseiterstatus verlieh. Für beide ist die abgelegene Region eine Möglichkeit, den steifen Konventionen ihrer Herkunftsgesellschaft zumindest temporär zu entkommen. Umgekehrt sind sie aber auch mit einer Neugierde, Lernbereitschaft und Sensibilität ausgestattet, die ihnen einen genuinen Erfahrungsraum eröffnet, der sich nicht als bloße Fortsetzung einer Fluchtbewegung verstehen lässt. Es ist gerade jene Mischung aus leidenschaftlichem Interesse und Fluchtpunkt britischer Gegenwart, die ihre Biografien zum Spielball und zur Projektionsfläche erinnerungskultureller Erzählungen macht. Die Darstellung der Wüste diente in David Leans Filmepos als ästhetischer Gegenpol zum blutigen Stellungskrieg der Westfront, wo sein von inneren Widersprüchen getriebener Protagonist Katharsis und Erlösung sucht. Dieses Spannungsverhältnis prägt notwendig jede westliche Darstellung der Region des Nahen Ostens und seiner Protagonisten in der Zeit des Großen Krieges und weit darüber hinaus (vgl. Said 1978, 332).

52 Es fällt auf, dass es sich fast durchweg um Autorinnen handelt, die sich Bells Lebensgeschichte angenommen haben: Florence Bell [Gertrudes Stiefmutter; M.E.] (1927); Elisabeth Burgoyne (1961); Susan Goodman (1985); Geogina Howell (2006); Janet Wallach (2015); Harry V. F. Winstone (2004). 53 Eine Filmbesprechung im Independent betitelt Herzogs Unterfangen als Feminist Lawrence of Arabia, um dann festzustellen, dass es wohl Herzogs konventionellster Film im Stile Hollywoods geworden ist (vgl. Macnab 2015).

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Herzog entwickelt Bells Biografie als tragisch gescheiterte Liebesgeschichte einer außengewöhnlichen Frau. In deren Zentrum stehen die unglücklichen Liebschaften zu Henry Cadogan (James Franco) und Richard Doughty-Wylie (Damian Lewis), die von ihren noch vor dem Krieg durchgeführten Wüstenexpeditionen gerahmt werden. Bells erste Reise nach Teheran 1892 wird als exotisches Abenteuer inszeniert, bei dem diese sich nicht nur in die persische Dichtung von Hafis, sondern ebenso in den gesellschaftlich eher unbedeutenden Cadagon verliebt. Während die beiden Protagonisten schnell eine Zuneigung füreinander entwickeln, bleibt der Verbindung der väterliche Segen verwehrt. Der von Gertrude verehrte Vater weist auf verschwiegene Spielschulden des jungen Mannes hin. Sie kehrt nach England zurück und versucht den Vater umzustimmen. Dort erfährt sie von einem tragischen Unfall von Cadogan. Die Filmhandlung legt einen Selbstmord nahe, während die tatsächliche Todesursache durch eine Lungenentzündung nach einem Angelausflug profanere Deutungsmöglichkeiten offenlässt. Trotz der bitteren Enttäuschung – und vielleicht auch aufgrund des erlittenen Verlustes – ist Gertrudes Leidenschaft für die Kultur, Sprache und Geschichte der Region geweckt. Die weitere Inszenierung etabliert Bells Charakter nun als Forscherin und Wüstenreisende und rückt dabei mit großen zeitlichen Sprüngen ins Jahr 1906 vor. Die Dialogführung bekräftigt das Bild einer entschlossenen und selbstbewussten jungen Frau, die sich weder von britischen Botschaftsangehörigen noch der osmanischen Militärverwaltung in ihre Pläne hineinreden lässt. Bei diesen Forschungsreisen lernt sie den britischen Konsul von Beirut, Richard DoughtyWylie (Damian Lewis), kennen. Er scheint als einziger ihre wagemutigen Expeditionen ohne militärische Begleitung zu unterstützen. Es folgt die Darstellung ihrer Reisen in die Drusengebiete und 1914 nach Ha’il, das im Konfliktgebiet der verfeindeten Herrschaftshäuser von Ibn Raschid und Ibn Saud liegt. Diese Territorien waren der Kontrolle Istanbuls weitgehend entzogen. In Ha’il wird Gertrude elf Tage festgesetzt und muss direkt ihre Rückreise antreten, da der Konflikt zwischen den Herrscherhäusern wieder aufgebrochen ist. In einer Parallelmontage der Handlungsstränge werden die Reisedarstellungen mit Szenen über Doughty-Wylie gemischt. Zwischen den beiden entwickelt sich ein immer engeres Verhältnis und Gertrude verfasst für ihn eigens ein Reisetagebuch (Abb. 14). Mit der Entscheidung, Bells Liebesbeziehungen zu Henry Cadogan und Richard Doughty-Wylie in den Mittelpunkt des Films zu rücken, geraten ihre wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten notwendig ins Hintertreffen. Das Persönliche tritt vor das Öffentliche oder Politische, so dass das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Ebenen zugunsten der Lebens- und Liebesgeschichte aufgelöst wird. Dabei sorgen biografische Auslassungen, wie der frühe Tod von Gertrudes leiblicher Mutter im Alter von drei Jahren oder ein kaum mar-

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Abb. 14: QUEEN OF THE DESERT – Motiv der Forschungsreisende. Gertrude Bell (Nicole Kidman) beim Verfassen ihres Reisetagebuches für Doughty-Wylie. Herzog rückt gerne ihren Fotoapparat oder das Vermessungsgerät ins Bild, um die forscherische Seite der Protagonistin zu unterstreichen. Andere Aufnahmen zeigen sie beim Kartografieren oder Baden in ihrer mitgeführten Reisebadewanne. Die Bildkompositionen wirken gewollt und zielen auf die Erzeugung vermeintlich ästhetischer Gegensätze zwischen der weißen Forschungsreisenden und der orientalistisch gezeichneten Umgebung.

kierter Zeitsprung von mehr als zehn Jahren zwischen ihren Liebesverhältnissen dafür, dass die persönliche Seite kaum Tiefe erlangt. Die immer gleich alt wirkende Filmfigur der Gertrude Bell (Nicole Kidman) erscheint zeit- und entwicklungslos. Es lässt sich im Aussehen wie in der Anlage des Charakters kein Unterschied zwischen der vierundzwanzigjährigen und der zweiundvierzigjährigen Gertrude ausmachen. Der biografische Fokus auf die Liebesbeziehungen bringt eine Periodisierung mit sich, die die Filmhandlung vor die Kriegszeit und Bells eigentlicher politischer Wirkungsgeschichte verlegt. Doughty-Wylies Tod während des Gallipoli-Feldzuges im Frühjahr 1915 ereignet sich gegen Ende der Filmhandlung. Es bleiben lediglich einige kurze Sequenzen, um Bells daran anschließenden inneren Rückzug in ihre Arbeit und den Beginn ihrer politischen Wirkungsgeschichte in Szene zu setzen. Als einzig weiterer bedeutender Charakter stellt Herzog ihr T.E. Lawrence (Robert Pattinson) als erzählerisches Bindeglied zwischen ihren archäologischen, politischen und persönlichen Erlebnissen zur Seite. Zunächst kommt es zu einer historisch fiktiven Begegnung während einer Expedition in die ehemalige nabatäische Metropole Petra. Später werden weitere Gesprächsszenen eingestreut, um die zeitgeschichtlichen Entwicklungen entlang von Bells Liebesgeschichten zu verdeutlichen. Diese zeigen einen jugendlichen Lawrence, der ihr als Vertrauter über politische Entwicklungen im krisengeschüttelten Osmanischen Reich dient. Bell und Lawrence teilten in der Tat einige Positionen zur Entwicklung der Region

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durch ihre Arbeit für das Arabische Büro in Kairo, insbesondere in Abgrenzung zu dessen mächtigen Gegenspielern in Indien. Letztere strebten eine Einverleibung Mesopotamiens ins Hoheitsgebiet der britischen Kolonie in Indien an, was sich letztlich – entsprechend den politischen Einschätzungen von Bell und Lawrence – als nicht durchführbar erwies (vgl. Wallach 2015, 235‒236). Herzog entwirft Bildwelten, in denen Kidmans blonde Schönheit vor wüstenhaften Landschaften und eingestreuten Oasen einen exotisch wirkenden Kontrast erzeugen. Schwer vorstellbar, dass eine ähnliche Bildkomposition mit einem männlichen Protagonisten durchgegangen wäre und nicht als neo-orientalistisch gelten würde. Die bereits angesprochenen erzählerischen und ästhetischen Parallelen zu David Leans LAWRENCE VON ARABIEN liegen auf der Hand. Anders als dort, fehlen in der Charakterzeichnung der Hauptfigur aber jene Momente von Flucht und Selbstüberschätzung, die Bells gewagten Wüstenexkursionen jenes Element des Zwanghaften verliehen hätte, das ihnen durchaus auch zukam.54 So wirkt Bells Charakter stets besonnen und nur durch seine Genderposition herausgefordert. Indem Herzog für Bells Lebensgeschichte Position ergreifen zu scheint und ihren Wagemut hervorhebt, versäumt er die Darstellung innerer Widersprüche, die dem Charakter erst Leben eingehaucht hätten. Wenn Bell in der Schluss-Szene nach einem Gespräch mit den Söhnen des Scherifen von Mekka, Faisal und Abdullah, den beiden versichert, dass sie bald Könige sein werden und anschließend allein auf ihrem Kamel in die Wüste reitet, nimmt sich das eher kindisch als tragisch aus. Herzog gelingt es nicht, das Spannungsverhältnis einer Außenseiterfigur zum westlichen Sehnsuchtsort der Wüste in seiner historischen Gestalt zu entwickeln. Die revolutionären Ereignisse des Ersten Weltkrieges in der Region tauchen nur kurz als Fassade der Filmhandlung auf. Insbesondere bleibt aber Bells politisch-kulturelle Wirkungsgeschichte als Orient-Sekretärin in Bagdad und Beraterin von Prinz Faisal, die den Zenit ihrer Karriere bezeichnen, komplett ausgespart (vgl. Wallach 2015, 484). Dadurch wird die Figur der Gertrude Bell auf ihre leidenschaftlich-romantische und abenteuerlustige Seite reduziert, die in Kombination mit der Bildgestaltung ein eher abgegriffenes Frauenportrait ergeben. Publikum und Kritik haben dem Film eine klare Absage erteilt.

54 Es ist weniger bekannt, dass Bell sich ebenfalls als alpine Bergsteigerin einen Namen gemacht hat. Ihre Erstbesteigungen – bei denen sie fast ums Leben kam – zusammen mit den Bergführern Ulrich und Heinrich Fuhrer mögen den inneren Drang nach existentiellen Herausforderungen verdeutlichen, der sicherlich ihre Persönlichkeit prägte. (Vgl. Wallach 2014, 105‒114).

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Dokumentarisches Bilderspektakel um Gertrude Bell – LETTERS FROM BAGHDAD Der filmische und erzählerische Ansatz von Zeva Oelbaum und Sabine Kreyenbühl könnte kaum unterschiedlicher sein. Im Zentrum der Dokumentation stehen Bells weitgesteckte Tätigkeiten als ‚Political Officer‘55 in Kairo sowie ihre Beförderung zur ‚Oriental Secretary‘ im März 1917 durch Sir Percy Cox bis hin zu ihrer Gründung des archäologischen Museums im Bagdad der 1920er Jahre. Die historischen Stationen werden durch archivarisches Bild- und Filmmaterial sowie nachgestellte Interviews aus Briefen, Korrespondenzen und Berichten bebildert. Tilda Swinton konnte als Sprecherin der reiferen Gertrude Bell gewonnen werden. Ihr Liebesverhältnis zu Doughty-Wylie und die Reise nach Ha’il nehmen in der ersten Hälfte der Dokumentation einen zentralen Platz ein, werden aber in ein größeres Gesamtbild ihrer Persönlichkeitsentwicklung eingefügt. Die umfassendere zeitliche Anlage bei der Darstellung von Bells Biografie muss angesichts der verschiedenen Filmgattungen nicht weiter verwundern.56 Bemerkenswert erscheint dennoch, dass es Oelbaum und Kreyenbühl in ihrem Debutfilm gelungen ist, aus dem archivalischen Material ein größeres Bilderspektakel zu entfachen als dem erfahrenen Team um Werner Herzog. Den abgefilmten Schwarz-Weiß-Bildern Gertrude Bells wohnt mehr vom melancholischen Zauber der Begegnung mit einer vielfach untergegangenen Welt inne, als es die bunten CinemascopePanoramen auszudrücken vermögen (Abb. 15). Die Dokumentarfilmerinnen behalten die Schwarz-Weiß-Ästhetik in ihren mit Schauspielern nachgestellten Studio-Interviews bei. Ein wenig erinnert das Interview-Setting an Eric Fiedlers AGHET – EIN VÖLKERMORD, wo eine Studiokulisse mit dezent dunkler Farbgebung gewählt wurde. Professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler übernehmen mit zeitgenössischer Bekleidung und Habitus das Verlesen biografischer Aufzeichnungen. Die historische Persönlichkeit der Gertrude Bell wird – obgleich durchaus eine physiognomische Ähnlichkeit mit Tilda Swinton vorhanden ist – nur durch die Archivbilder sichtbar. Die ästhetische Zurückhaltung rückt das Archivmaterial in den Vordergrund und entlockt ihm einiges von seiner Geschichte. Das gilt auch für die Darstellung von Bell selbst. Man wird lange suchen müssen, um eine historische Frauengestalt zu finden, die derart selbstbewusst und unglücklich in die Kamera blicken konnte wie die Orientreisende. In den meisten Aufnahmen bemüht sich Bell nicht einmal um den Anschein fröhlicher Stimmungen, wie es die Portraitfotografie 55 De facto handelte es sich um eine Tätigkeit zur Informationsbeschaffung für den britischen Geheimdienst (vgl. Wallach 2015, 227). 56 Oelbaum und und Krayenbühl geben im Abspann der Dokumentation die Biografie von Janet Wallach als entscheidenden Anstoß und Quelle an.

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Abb. 15: LETTERS FROM BAGDAD – Archivbilder. Fluss-Schiffer in Bagdad, wo Bell nach der Einnahme durch die Briten im März 1917 bis zu ihrem Lebensende ihren verschiedenen Aufgaben nachkam. Es ist bei der Verwendung der historischen Aufnahmen nicht immer klar, ob sie aus Bells umfangreichem Archiv stammen oder andere Quellen hinzugezogen wurden. (© Fox News outtake 9–678, Copyright University of South Carolina)

ihren Objekten für gewöhnlich nahelegt. Ihre kenntnisreiche und selbstdisziplinierte, auf die Bewältigung ihrer Arbeitsaufgaben gerichtete Persönlichkeit trug zu ihrem Image der El Chatun (Hofdame) bei, die hohe Anerkennung in der arabischen Männerwelt erlangte und von ihren mitunter missgünstigen britischen Kollegen ‚als außergewöhnlich kluge Frau mit dem Hirn eines Mannes‘ (Wallach 2015, 248) charakterisiert wurde. Bells Erfahrungen als ledige Frau in der doppelt männlich kodierten Welt des britischen Militärs ‒ sie war die erste Politische Offizierin im Dienst der Krone überhaupt ‒ und der umgebenden arabischen Gesellschaft sind ein durchgängiges Thema des Dokumentarfilms. Dabei wird ein weites Spektrum von Beziehungen zu verschiedenen Protagonisten vorgeführt, die von väterlich-vertrauensvollen Verhältnissen zu ihrem Vorgesetzten Sir Percy Cox über kollegial-streitbare, wie T.E. Lawrence, bis hin zu offen feindlichen und abwertenden, wie A.T. Wilson, reichen. In der dokumentarischen Darstellung fühlte sie sich in der arabischen Gesellschaft mehr angenommen als im britischen Militär, obgleich sich ein ähnliches Spektrum von Beziehungen auffinden lässt. Eine kurze Szene thematisiert die Aufnahme ihres Berichtes über die militärische Zivilverwaltung in Mesopotamien in der britischen Presse kurz nach dem Krieg. Bell mokiert,

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dass die meisten Artikel sich über die weibliche Urheberschaft des ‚white paper‘57 [Weißbuchs; M.E.] auslassen und darüber eine inhaltliche Auseinandersetzung versäumen (LETTERS FROM BAGDAD 1:01:48‒1:02:18). Zentral im zweiten Teil der Dokumentation ist aber ihr Eintreten für eine arabische Selbstverwaltung, bei der sie vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihrem neuen Vorgesetzten in Bagdad, A.T. Wilson, aneinandergerät. Dieser hält die arabische Selbstbestimmung für puren Unsinn und lässt die nationalistischen Aufstände mit Hilfe britischer Fliegerangriffe blutig niederschlagen. Eine längere Sequenz kontrastiert dabei die Positionen von Bell und Wilson. Letzterer versucht wiederholt, Bell über ihre Genderposition vom politischen Diskurs auszuschließen, indem er etwa bei Einladungen zu Besprechungen ihre weibliche Identität und nicht ihre berufliche Stellung hervorhebt (LETTERS FROM BAGDAD 1:16:45). Die wortgewandte Bell vermeidet eine offene Konfrontation, hält aber nicht mit ihrer inhaltlichen Kritik zurück und bringt ihr Verständnis für die arabischen Aufständischen zum Ausdruck: We had promised an Arab Government with British advisers and have set up a British Government with Arab advisers. It is difficult to be burning villages at one end of the country and assuring people at the other end that we really have handed over responsibility to native ministers. (LETTERS FROM BAGDAD 0:59:45)

Archivbilder und -aufnahmen von Fliegerangriffen, Verletzten und Toten unterstreichen Bells Kommentierung und ihre Bewertung von Wilsons Strategie als historischen Fehler. Am 4. Oktober 1919 wird Wilson von seiner Position als High Commissioner in Bagdad abgelöst und eine moderatere Politiklinie gewinnt die Oberhand. Bells temporärer Sieg geht allerdings vor allem auf eine kriegsmüde britische Bevölkerung zurück, die die hohen Kosten für die Militärpolitik beklagt.58 Historiografisch fährt die dokumentarische Erzählung nach dem Tode von Doughty-Wylie im April mit ihrer Einberufung als politische Offizierin in Kairo Ende November des gleichen Jahres fort. Hier trifft sie auf eine Gruppe alter Bekannter, die sie von ihren Reisen kannte, sowie einige militärische Protagonisten wie den Kommandeur General Gilbert Clayton. Ihre Einberufung zum Militär ver-

57 Ihr Bericht Review of the Civil Administration of Mesopotamia ist online zugänglich: https:// archive.org/details/reviewofciviladm00iraqrich (03. Dezember 2019). 58 Die Assoziation zur US-amerikanischen Politik im Irak hundert Jahre später ist naheliegend. Das dokumentarische Narrativ enthält sich allerdings direkter historischer Bezüge, auch wenn zu Beginn ein textlicher Hinweis auf die hundertjährige Kontinuität von „war, tyranny and sectarian strife“ im Nahen Osten eingeblendet wird. Der Abspann erwähnt zudem die Plünderung des von Bell gegründeten archäologischen Museums in Bagdad nach der US-amerikanischen Invasion 2003.

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dankt sich David Hogarth, der als Leiter der Abteilung des militärischen Geheimdienstes von Bells Kenntnissen und Fähigkeiten überzeugt war (vgl. Wallach 2015, 227). Die Gruppenmitglieder im neu eröffneten Arabischen Büro in Kairo werden aufgrund ihrer unorthodoxen Arbeitsweise als „Intrusives“ (Wallach 2015, 230‒ 231) bezeichnet. Gleichzeitig vereinte die meisten der Gruppenmitglieder die politische Einschätzung, dass ein arabischer Aufstand organisierbar und eine mit dem britischen Empire verhandelte politische arabische Selbstbestimmung in einem Königreich möglich sei. Allen Beteiligten war das Spannungsverhältnis von Versprechungen und einzulösenden Ansprüchen gegenüber paktbereiten Arabern von Anfang an klar (vgl. Howell 2006, 254). Von dieser Initiationssequenz in den Militärdienst springt die dokumentarische Erzählung ins Jahr 1917 zur Einnahme Bagdads durch britisch-indische Truppenverbände und Gertrudes Versetzung dorthin. Ihre gesamte Zeit in Basra, der politisch überaus wichtige Besuch beim Viceroy von Indien, Lord Herdinge in Dehli59 und die verheerende britische Niederlage in Kut al-Amra mit Lawrence vergeblicher Intervention vor Ort werden ausgelassen. Zudem fehlt Bells erste Begegnung mit der Realität des totalen Krieges an der Westfront völlig. Bell hatte sich im November 1914 freiwillig in einem Büro des Roten Kreuzes in der nordfranzösischen Hafenstadt Boulogne verpflichtet. Dort kam ihr die Aufgabe zu, vermisste und verwundete Soldaten für die Angehörigen ausfindig zu machen. Bell hat durch die Briefe der Eltern und Soldaten sowie Krankenhausbesuche, die sie auf eigene Initiative unternahm, einen unmittelbaren Eindruck des modernen Grabenkrieges an der Westfront erhalten. Aufgrund ihres Organisationstalents wurde sie bereits kurze Zeit später zur Leiterin des Büros befördert. Sie veranlasste über ihre Recherche- und Informationstätigkeiten hinaus, dass das Kondolenzschreiben an die hinterbliebenen Familien einfühlsamer formuliert wurden (vgl. Howell 2015, 137). Die Bell-Biografin, Georgina Howell,60 merkt an, dass diese Tätigkeit Bells kritische Haltung zu den staatlichen Autoritäten und deren manipulativen Umgang bei der Darstellung der Kriegsverluste, entscheidend geprägt hat (vgl. ebd., 141). Ihre spätere Neigung, sich der Haltung der „Intrusives“ in Kairo anzuschließen, wurde durch diese Erfahrung mitgeprägt, war aber sicher ebenso in der intellektuellen Unabhängigkeit ihrer Persönlichkeit angelegt.

59 Bell wurde von Percy Cogs dazu beauftragt, die Position des arabischen Büros in Kairo dem Viceroy von Indien verständlich zu machen. Da Bell mit Hardinge persönlich bekannt und befreundet war, eignete sie sich für diese Aufgabe wie kaum eine andere. Hardinge befürchtete, dass ein mit britischer Hilfe durchgeführter arabischer Aufstand und die Idee eines panarabischen Staates insgesamt die muslimische Bevölkerung zur Rebellion gegen das britische Empire veranlassen könnte (vgl. Howell 2015, 251). 60 Das von Georgina Howell editierte Buch Gertrude Bell. A Woman in Arabia enthält eine kommentierte Sammlung von Bells Briefen und Texten.

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Die Auslassungen sind nicht nur der zweifelsfrei erlebnisreichen Biografie der Protagonistin geschuldet, sondern verweisen auf die Erzählstruktur des Dokumentarfilms. Da diese sich nur auf das Verlesen von Primärquellen beschränkt und auf historiografische Rahmungen in Form einer auktorialen Kommentierung verzichtet, werden Zusammenfassungen erzähltechnisch schwierig. Die Regisseurinnen setzen somit vorrangig auf den Authentifikationseffekt der verlesenen Primärquellen, was der Produktion zwar eine zeitgeschichtliche Aura verleiht, aber den erzählerischen und historiografischen Überblick erschwert und Auslassungen erfordert. Dennoch gelingt der dokumentarischen Erzählung eine stimmige Beschreibung von Bells Aktivitäten im Bagdad der Nachkriegszeit, die aufs Engste mit den politischen Entwicklungen der Region verknüpft sind. Die großen Stationen, die die Niederschlagung der arabischen Aufstände während der britischen Mandatszeit begleiten, werden mit Bildern und historischen Aufnahmen der Konferenzen in Versailles und Kairo (1921) inszeniert. Die vermutlich bekannteste historische Aufnahme zeigt Gertrude Bell zusammen mit Winston Churchill und T. E. Lawrence vor der Sphinx und den Pyramiden in Gizeh (Abb. 16).

Abb. 16: LETTERS FROM BAGDAD – Foto-Op Churchill, Bell und Lawrence. Ausschnittsvergrößerung aus dem Gruppenportrait einer Delegation, das anlässlich der Kairo-Konferenz 1921 zwecks Neustrukturierung des Nahen Ostens vor Sphinx und Gizeh-Pyramiden aufgenommen wurde. Die Idee zu der Foto-Op geht auf Churchill selbst zurück, der die propagangiste Wirkung der Aufnahme für die ungeduldig werdende, heimische Politik wollte. Er bestand auf der Verwendung der Kamele, obgleich er beim ersten Versuch hinuntergefallen war und gegenüber Bell und Lawrence ein wenig angespannt und posierend im Sattel sitzt. (© Gertrude Bell Archive, Newcastle University, image code: PERS_F_002)

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Churchill hatte als Kolonialminister im Koalitionskabinett von Premier Lloyd George den Auftrag, den britischen Zugang zum Öl zu sichern sowie die Kosten für die Militärpolitik im Nahen und Mittleren Osten zu reduzieren. Die Einsetzung von Prinz Faisal als König des Iraks, die Bells weitere Arbeit entscheidend bestimmen sollte, wurde auf der Konferenz in Kairo bekanntgegeben, war allerdings schon vorher beschlossen worden. Die dokumentarische Erzählung hebt durch ein Telegramm von Churchill den eher trivial-ökonomischen Hintergrund der Einsetzung Faisals hervor: „Faisal offers hope of best and cheapest solution“ (LETTERS FROM BAGDAD 1:08:00) und unterstreicht damit die koloniale Haltung des Königreichs. Gleichzeitig kamen hier die Bemühungen der „Intrusives“ zu ihrem im wahrsten Sinne des Wortes krönenden Abschluss. Die Gruppe um Sir Percy Cox, Gertrude Bell und T. E. Lawrence hatte seit ihrer Zusammenkunft in Kairo Ende 1915 versucht, ein Bündnis mit arabischen Kräften zu bewirken und dabei erhebliche Widerstände in Dehli und London überwinden müssen. Das nun beschlossene haschemitische Königreich Irak ‒ mit britischer ‚Beratung‘ und unter Wahrung der in Whitehall als ‚vital‘ angesehenen Interessen ‒ sahen insbesondere Lawrence und Bell als Wiedergutmachung gegenüber den gebrochenen Versprechungen mit Scherif Hussein an61 (vgl. Wallach 2015, 485). Bell würde die Aufgabe zufallen, die in jeder Himmelsrichtung umstrittenen Grenzziehungen des Iraks vorzunehmen. Die letzten beiden Sequenzen wenden sich ihrer Zusammenarbeit mit Faisal und der Einrichtung des archäologischen Museums in Bagdad zu. Bell lernte Faisal erst nach der Konferenz in Kairo besser kennen und man entwarf gemeinsam eine Strategie, den aus einer ganz anderen Region stammenden Sohn des Scherifen in Mesopotamien einzuführen. Die entstehende intime Beziehung zwischen Bell und Faisal im Konfliktfeld widerstreitender politischer Interessen wird am treffendsten in einer Interview-Szene der amerikanischen Schriftstellerin Vita Sackville-West (Rachael Stirling) beschrieben, die als Bells Freundin zu Besuch war: „Gertrude seemed to be conversant with every details of his housekeeping as well as with every detail of his government of the kingdom. I watched them both: The Arab prince and the English women, who would trying to build up a new Mesopotamia between them.“ (LETTERS FROM BAGDAD 1:11:20) Sackville-Wests Kommentar hat einen ironischen Zungenschlag, der aber recht genau die Vermengung von Persönlichem und Politischem beschreibt, dem sich die beiden aus unterschiedlichen Welten stammenden Protagonisten auf einem ihnen unbekannten Terrain gegenübersahen (Abb. 17). Der Dokumentarfilm 61 Faisal war von den Franzosen kurz zuvor aus Damaskus vertrieben worden, da diese Syrien für sich beanspruchten. Das britische Versprechen eines arabischen Königreichs an den Scherifen von Mekka, Hussein Ibn Ali, das Lawrence nachhaltig unterstützt hatte, war wegen des Abkommens mit Frankreich fallengelassen worden.

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Abb. 17: LETTERS FROM BAGDAD – Palastruine. Westfassade der sassanidischen Palastruine Taq-e Kisra in Ktesiphon (35 km südlich von Bagdad) deren historisch-archäologische Geschichte Bell Faisal kurz vor seiner Einsetzung als König des Iraks 1921 darlegte. Die Aufnahme nimmt durch den verloren wirkenden Soldaten unfreiwillig etwas von der letztlich ruinösen britischen Kolonialpolitik im Nahen Osten vorweg.

entwirft in knappen Bildern die komplexe Beziehung der beiden, die mit der Mammutaufgabe der Errichtung eines neuen Staates und der nicht weniger großen Herausforderung der Legitimationsgewinnung im neuen multiethnischen Staat verbunden war. Die teilweise erheblichen Spannungen aufgrund politischer Differenzen zwischen Faisal und Bell finden nur am Rande Erwähnung. Die Darstellung schwenkt auf ihre zunehmenden gesundheitlichen Probleme und eine einsetzende Depression um. Nachdem die Staatsgeschäfte eingerichtet waren und Bell aus ihrer beratenden Funktion zurücktrat, konzentrierte sie sich auf ihre archäologische Arbeit. Es werden Bilder von Ausgrabungsarbeiten und ihre Verhandlungen mit britischen Archäologen um die Aufteilung der Fundstücke gezeigt. Die Museumseröffnung im Juni 1926 ist ihr letzter großer Triumph.62 Bell bleibt auch nach der Eröffnung trotz angeschlagener Gesundheit und dem väterlichen Wunsch zur Rückkehr nach England in Bagdad. Sie gibt finan-

62 Das von Gertrude Bell gegründete Archäologische Museum Bagdad hat eine weitreichende Wirkungsgeschichte mit zahlreiche Umwandlungen und Umzügen durchlaufen. Die Umbenennung 1966 in Irakisches Nationalmuseum verdeutlicht, welche erinnerungskulturelle Bedeutung der Institution für den Irak zukommt. Es konnte nach den Plünderungen im Umfeld des USA-Irak-Krieges 2003 im Februar 2015 erweitert wiedereröffnet werden.

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zielle Gründe sowie fortbestehende Arbeiten am Museum als Gründe an. Ihr Selbstmord durch eine Überdosis Schlaftabletten nur zwei Wochen später offenbart, dass ihr die Kraft abhandengekommen war, sich sowohl der problembehafteten Rückkehr wie der Zukunft im Irak zu stellen. Die dokumentarische Erzählung lässt offen, inwiefern der Selbstmord sich auf den vielfachen gesellschaftlichen Ausschluss als Frau zurückführen lässt oder persönliche Gründe im Vordergrund standen. In einem Brief an ihren Freund und Vertrauten Sir Valentin Chirol berichtet sie von ihrer Einsamkeit und der sozialen Isolation in Bagdad. Der ökonomische Niedergang des Bellschen Geschäftsimperiums, der Tod der Geliebten sowie ihres Bruders, der ebenfalls den Vater in tiefe Depressionen stürzte, werden als weitere Faktoren angeführt, die auch unter anderen Umständen erhebliches Gewicht auf Bells Wohlbefinden gehabt hätten. Die Dokumentation schließt mit dem Verlesen ihres letzten Briefes an den Vater, der von der erfolgreichen Museumseröffnung und ihren archäologischen Arbeiten handelt und endet mit den Worten: „There’s the lunch bell. And I am dreadfully in need of some soda water“ (LETTERS FROM BAGDAD 1:24:00). Die bedeutende Orientreisende, Archäologin, Beraterin des Königs und politische Offizierin des Empires ist bis zuletzt Engländerin und Tochter des hochgestellten Industriellen geblieben, scheint das dokumentarische Narrativ zu besagen. Und doch ist es gerade das Spannungsverhältnis zwischen den verschiedenen Identitäten, die LETTERS FROM BAGDAD ins Verhältnis setzt und damit zu einer kritischen Würdigung der Gertrude Bell gelangt. Ihr tragischer Tod führt vor, wie weit der lange Schatten der genderförmigen Diskriminierung selbst im Falle einer privilegierten und talentierten Frau reichte. Erinnerungskulturell und -politisch liegt die Frage nahe, warum ihre Biografie ausgerechnet zum Zentenarium die Aufmerksamkeit zweier filmischer Produktionen gefunden hat?63 Die Gründe dürften zum einen in Bells bleibendem Vermächtnis bei der Entwicklung des Iraks als Vielvölkerstaat liegen, der durch die US-amerikanische Intervention 2003 und den seit 2011 andauernden Bürgerkrieg in Syrien in den Schlagzeilen bleibt. Durch die historischen Grenzziehungen wurden die Kurden im Norden mit den Schiiten entlang des Euphrats und der überwiegend sunnitischen Bevölkerung der Städte in eine nationale Klammer gesetzt, die bis heute von Spannungen und Konflikten geprägt ist. Die zunehmend destabilisierte Region verlangt nach historischen Situierungen. Die beiden Zentenariumsproduktionen bedienen mit der Figur der Gertrude Bell eine derartige Einordnung in unterschiedlichem Maße. Während bei Herzog der westliche Sehnsuchtsort der

63 Auf Nachfrage bei der Vorführung des Dokumentarfilms im Rahmen des Filmfestival in Haifa 2016 bekundeten die Regisseurinnen, dass keine Verbindung zu Werner Herzogs QUEEN OF THE DESERT bestand.

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Wüste durch die weibliche Außenseiterfigur zur Geltung kommt, leuchtet das dokumentarische Narrativ von Oelbaum und Krayenbühl die Umbrüche in der Region über Bells Biografie aus. Mit dem dokumentarischen Narrativ ist die Darlegung einer imperialistischen Herrschaftsstrategie verbunden, die sich darin bewahrheitete, dass sie eine soziale und politische Situation erzeugte, die die autochthone Gesellschaft mit ihren eigenen Mitteln nicht gewaltfrei lösen konnte und daher auf die ‚Unterstützung‘ durch die Kolonialmächte angewiesen blieb. Eine solche postkoloniale Struktur lässt sich für die Mandatszeit nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches zweifelsohne feststellen. Bell war im Unterschied zu der Mehrzahl ihrer Kollegen durch ihre intime Kenntnis der kulturellen und politischen Situation sowie ihrer sozialen Außenseiterstellung in der Lage, sich dieses Widerspruches bewusst zu sein. Daher eignet sich die Darstellung ihrer politischkulturellen Tätigkeiten zum historischen Verständnis der ungelösten Konflikte des Nahen Ostens. Zum anderen hat die Aufmerksamkeitsökonomie des Zentenariums einen medialen Raum eröffnet, in dem die lebensgeschichtliche Tragödie von Gertrude Bell neben diejenige von T.E. Lawrence gestellt werden konnte. Kaum zufällig erscheint dieser in beiden Produktionen an Bells Seite. Lawrence ikonografischer Status wird dazu genutzt, die Geschichte der weit politisch einflussreicheren Bell zu erzählen. Beide Protagonisten waren durch ihre persönlichen Dispositionen und lebensgeschichtlichen Entscheidungen in eine Situation geraten, die sie in gewisser Weise heimatlos gemacht hatten. Die in England unvermählt gebliebene Bell hat durch ihre ausgedehnte Tätigkeiten in Bagdad und im Nahen Osten eine neue Identität ausgebildet, ohne dass eine umfassende Anerkennung ihrer Persönlichkeit in der neuen Umgebung entstanden wäre. Sie selbst konnte und wollte den letzten Schritt, mit der eigenen Herkunft zu brechen, nicht vollziehen. Bis zu ihrem Lebensende blieb sie von der Überlegenheit des britischen Systems und dessen Anspruch auf eine Führungsrolle in der Region zutiefst überzeugt. Den ungelösten Widersprüchen der postkolonialen Geschichte korrespondieren jene der historischen Personen, die zu ihrem Rang als erinnerungskulturelle Ikonen beitragen. Beide bilden eine konflikthafte Identität aus, an der sie letztlich zerbrechen. In der Darstellung der Außenseiterbiografien mit ihren tragischen Enden prägt sich eine Kodierung von Trauma aus, die sich nicht ohne weiteres in ein kulturelles Trauma übersetzt, aber doch etwas von den fortbestehenden Problemen des Westens im Umgang mit der Region widerspiegelt. Für Bell wie Lawrence ist der Nahe Osten gleichermaßen Exil wie kenntnisreich angeeigneter Sehnsuchtsort, dem sie in der Kriegszeit durch ihre militärisch-politischen Aufgaben als Funktionsträger des britischen Empires begegnen. Es ist gerade ihre identitäre Zerrissenheit, die sie aus westlicher Perspektive dazu prädisponiert, das historische Erbe der imperialen Politik in der Region zu besichtigen. Dies gelingt in LETTERS FROM

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BAGDAD weit überzeugender als durch die eher exotisierende Darstellung in Herzogs KÖNIGIN DER WÜSTE. In einer erweiterten erinnerungspolitischen Betrachtung der Region des Nahen Ostens ist es entscheidend zu verstehen, dass die nationalstaatliche Klammer dort eine soziopolitische Form geschaffen hat, die bis heute zu den gesellschaftlichen Konflikten und Verwerfungen beiträgt. Der Krieg und seine Folgen brachten nicht nur einen revolutionären sozialen Wandel mit sich (Fawaz 2014), sondern wurden durch die von außen implementierte geografisch-institutionelle Struktur mit einer konfliktfördernden und letztlich traumatogenen Wirkung versehen (vgl. Giesen 2004). Die Konstruktion eines solchen kulturellen Traumas vollzieht sich entsprechend anders als das für die europäische Erinnerung an den Krieg gilt. Sie berührt die zentrale politische Institution der europäischen Moderne, den Nationalstaat, der in weiten Teilen des Nahen Ostens durch die koloniale Dominanz als Instrument der Fremdbestimmung eingeführt wird. Das hat dessen emanzipative Funktion der demokratischen Selbstbestimmung, die historisch bekanntlich ohnehin nur klassen- und genderförmig eingeschränkt gilt, nachhaltig beschädigt. Diese Frage nach der Darstellung des gesellschaftspolitischen Erbes des Krieges in der Region wird bei der Analyse der Aljazeeraund Arte-Produktionen wieder aufgegriffen und vertieft. Zunächst wird die Betrachtung der Feminisierung der Weltkriegserinnerung mit Blick auf das französische Kino fortgesetzt.

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Was gibt es Neues im europäischen Kino? – Frankreich Auch das französische Kino hat einige bemerkenswerte Filme während des Zentenariums hervorgebracht. In zwei der Produktionen, François Ozons FRANTZ und Xavier Beauvoisʼ LES GARDIENNES (THE GUARDIANS) werden die Geschichten aus Sicht von weiblichen Hauptcharakteren erzählt. Während LES GARDIENNES einen nach innen gerichteten kritischen Blick auf weibliche Lebenswelten an der französischen Heimatfront wirft, greift FRANTZ tief in die europäisch-angelsächsische Filmgeschichte zurück. Es handelt sich bei letzterem um eine Neuadaption des Theaterstücks Lʼhomme que j’ai tué von Maurice Raustand, das bereits 1930 von Ernst Lubitschs verfilmt wurde (THE BROKEN LOLLYBY). Ozon gibt der Geschichte durch den Fokus auf die weibliche Hauptfigur aber eine entscheidend andere Wendung, die mit einer Unterwanderung der nationalen Rahmungen einhergeht. Auch die beiden anderen Filme AU REVOIR, LÀ-HAUT (SEE YOU UP THERE) und CESSEZ-LE-FEU (CEASEFIRE) sind Reflexionen der Kriegsfolgen aus der Perspektive der Heimatfront und damit Erinnerungsfilme im engeren, genretheoretischen Sinne (vgl. Kap. 1). Nicht zufällig bevorzugen Produktionen mit überwiegend französischer Beteiligung (oder von französischen Regisseuren) einen Zugang zur Kriegserinnerung, der weniger von einer Darstellung der Schützengräben als der Spurensuche entlang der Heimatfront geprägt ist. Ob man dabei an Bertrand Taveniers LA VIE ET RIEN D’AUTRE (DAS LEBEN UND NICHTS ANDERES), LA CHAMBRE DES OFFICIERS (DIE OFFIZIERSKAMMER) von François Dupeyron oder an Jean-Pierre Jeunets UN LONG DIMANCHE DE FIANÇAILLES (MATHILDE – EINE GROßE LIEBE) denkt, immer werden die Geschichten aus der Nachkriegszeit heraus erzählt und stehen persönliche Spurensuche und der Umgang mit Verlust im Vordergrund. Die gängige Erklärung dafür ist, dass der Krieg an der Westfront vorwiegend auf französischem Territorium ausgetragen wurde und die Erinnerung daher mehr als die militärische Konfrontation beinhaltet. Der Historiker Jörn Leonhard hat in einem Vergleich der europäischen Kriegsgedächtnisse darauf hingewiesen, dass die rund 250.000 vermissten französischen Soldaten das Trauma des Krieges tief in die Gesellschaft hineingetragen haben, da die Angehörigen sich kaum von den Gefallenen verabschieden konnten. Die zivilen Opfer im besetzten und weitgehend zerstörten Norden des Landes fielen durch das Raster der offiziellen, staatlichen Erinnerungskultur, die sich auf den Poilu, den einfachen Soldaten konzentrierte (vgl. Leonhard 2014, 971). Insofern kann man die dominante Linie der französischen Filmkultur seit Abel Gances JʼACCUSE als Gegenerzählung zum staatlich angeleiteten Gedächtnis verstehen, die einen nach innen gerichteten Blick auf die Folgen des Krieges einnimmt. Das deckt sich mit der Beobachtung des Historikers Romain Fathi, wonach das Interesse an den allgemeinen Zentenariumsfeierlichkeiten in Frankreich eher eine re-

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gionale Form annimmt und den staatsoffiziellen nationalen und europäischen Offerten gegenüber verschlossen bleibt (vgl. Fathi 2018, 550‒551). In den Filmen wird nicht selten die männliche Perspektive des Poilu durch weibliche Charaktere erweitert. Auch die Zentenariumsfilme schreiben diese pazifistische, auf die Heimatfront bezogene Haltung fort, die literarisch und filmisch bereits von der ‚génération du feu‘ in den 1920er Jahren etabliert wurde und bis heute als diskursmächtig angesehen werden kann (vgl. Puget 1999, 118). Mit dieser Haltung geht eine andere Betrachtung von Gewaltgeschichte einher, die auf die Überwindung der als traumatisch kodierten Verletzungen an Front und Heimatfront gleichermaßen zielt.

La Grande Guerre à la Campagne – LES GARDIENNES Der Film von Regisseur Xavier Beauvois lenkt den Blick auf doppelte Weise in die französische Peripherie der Kriegszeit. Zum einen fokussiert LES GARDIENNES die Arbeitsbedingungen und familiären Konfliktlinien des Landlebens auf einem Hof am Rande einer kleinen Ortschaft. Zum anderen werden durch die Einberufung der jungen Männer alle Arbeiten auf die Frauen und Alten übertragen, was die Rollenmuster nachhaltig durcheinanderwirbelt. Um den gestiegenen Anforderungen nachkommen zu können, engagiert Hortense Sandrail (Nathalie Baye) eine neue weibliche Arbeitskraft. So gelangt Francine Riant (Iris Bry) auf den Hof, wo sie von Hortenses kritischen Augen nach ihrer Leistung bewertet wird. Da Francine eine harte Arbeiterin ist, die nach einer langfristigeren Anstellung sucht, findet sie rasch die Anerkennung der Gutsherrin. Beauvois hat die Erzählgeschwindigkeit dem anderen Zeitverlauf des Landlebens angepasst, indem ausführlich einzelne, noch mechanische Arbeitsweisen gezeigt werden (Abb. 18). Gleichzeitig inszeniert der Film den Übergang zur maschinellen Moderne, der parallel zu seiner Vernichtungswut an der Front die Arbeit auf dem Land verändert. Francine erhält das Angebot, auch nach dem Krieg auf dem Hof bleiben zu dürfen. Während man nach der ersten Hälfte des Films an eine Hommage an das Landleben und den aufopferungsvollen Beitrag der Frauen in Kriegszeiten denken mag, nimmt die Erzählung doch noch eine dramatische sozialkritische Wendung. Auf Heimatbesuch verliebt sich George (Cyril Descours) in die fleißige Francine, die keineswegs seiner gesellschaftlichen Stellung als zukünftigem Gutsbesitzer entspricht. Der Krieg hält durch die Geschichten der Soldaten Einzug in der kleinen Gemeinde. Diese erzählen allerdings zumeist andere Dinge, als sie die auf Patriotismus geeichte Heimatfront erwartet. Der älteste Sohn von Hortense (Clovis) berichtet, dass die Deutschen gar nicht die Monster seien, zu denen man sie er-

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Abb. 18: LES GARDIENNES. Francine (Iris Bry) und Hortense (Nathalie Baye) bei der Feldarbeit. Die Inszenierung des Landlebens präsentiert die vorindustriellen Arbeitsvorgänge von Pflügen, Säen und Ernten in archetypischen Einstellungen. Was auf der Bildebene anfangs romantisierend oder gar schulfilmartig anmutet, entpuppt sich im Verlauf der Filmhandlung als Markierung einer arbeits- und sozialgeschichtlichen Epochenschwelle, die eine kritische Verarbeitung erfährt. (© 2017 Les Films du Worso – Rita Productions – KNM – Pathé Films – Orange Studio – France 3 Cinéma – Versus Production – RTS Radio Télévision Suisse)

klärt, sondern ‚Arbeiter, Lehrer und Bauern wie wir‘. An einem Tag gewinne man 10 Meter und am nächsten verliere man sie wieder. Eine der wenigen Kriegsszenen zeigt einen Alptraum von George. Die Hauswand zu seinem Schlafzimmer wird aufgesprengt. Eine Gruppe mit Gasmasken bestückter Soldaten stürmt heran. George mäht sie mit einem Maschinengewehr, das auf seinem Bett stationiert ist, nieder. Den letzten Soldaten muss er im Zweikampf mit einem Messer besiegen. Als er dem Getöteten die Maske herunterzieht, erkennt er sich selbst. Die Heimatfront ist zur Frontlinie geworden, wo Freund und Feind verschmelzen oder ununterscheidbar werden. So kodiert der Film die Kriegserfahrung der Soldaten als Trauma der Heimatfront. Da man keine gemeinsame Sprache mit den Angehörigen findet, droht das alte Selbst sich aufzulösen und dem neuen Kriegs-Ich zum Opfer zu fallen. Es findet jedoch noch ein anderer Kampf jenseits des Kriegsgeschehens auf der Alltagsebene der Heimatfront statt. Dieser prägt die zweite Hälfte des Films. Bei seinem nächsten Heimaturlaub können Francine und George nach ihrer anfänglichen Romanze zu einem Paar werden. Die Vereinigung vollzieht sich aufgrund Francines gesellschaftlicher Stellung heimlich und wird durch missgünstige Blicke des Umfelds begleitet. Unterdessen beginnt Hortenses Tochter Solange (Laura Smet), deren Ehemann in deutsche Gefangenschaft geraten ist, eine Affäre mit einem amerikanischen Soldaten. Es kursieren Gerüchte in der kleinen Dorfge-

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meinschaft, die die Tochter und die Familie in Verruf bringen könnten. Hortense versucht die Gerüchte zu zerstreuen, indem sie die Affäre mit dem amerikanischen Soldaten Francine andichtet und ihren Sohn kurz vor der Rückkehr an die Front entsprechend unterrichtet. Dieser hält die Mutter zur Entlassung von Francine an. Für die elternlose Francine bricht eine Welt zusammen, als ihr von Hortense aus heiterem Himmel gekündigt wird. Der Film endet aber nicht als Sozialdrama in Kriegszeiten, sondern verfolgt Francines Weg weiter. Diese muss ‒ dramaturgisch wenig überraschend ‒ kurze Zeit später realisieren, dass sie schwanger ist. Zu ihrem Glück nimmt eine alleinstehende Köhlerin, bei der sie Arbeit gefunden hat, die Neuigkeit gelassen auf. Sie merkt lediglich an, dass ihre Schwangerschaft günstig auf den Winter falle, wenn es weniger zu tun gebe. Kurz vor der Geburt des Kindes schreibt Francine einen Brief an Hortense mit der Bitte, George von der Schwangerschaft zu unterrichten. Die in ihrer Verleumdung befangene Hortense überantwortet das Schreiben dem Kaminfeuer und zertrennt damit die Lebenswege der Protagonisten unwiederbringlich. Francine entscheidet sich das Kind zu behalten und allein aufzuziehen. In der Schluss-Szene trägt Francine nach dem Krieg in einer Taverne ein Chanson über die Zerbrechlichkeit der Liebe und die Vergeblichkeit von Treueschwüren vor. So werden die Narrative von Heimatfront und Frontlinie wieder zusammengeführt. In der Tradition des französischen Chansons lässt sich singen, was der Film als Message über vier Jahre Krieg zuvor in Bilder gepackt hat. Francines Lebenswille ist ungebrochen und ihre Naivität hat sich in eine reifere Lebenseinstellung gewandelt. Den Blicken der umstehenden Männer und ehemaligen Soldaten ist zu entnehmen, dass sie ähnliche Lektionen lernen mussten. Dies ist gleichzeitig die antitraumatische Wendung der Erzählung, die, obgleich die standes-, klassen- und genderförmigen Barrieren nicht gefallen sind, eine Zukunft jenseits der Opfer des Krieges anstrebt. Genretheoretisch lässt sich LES GARDIENNES mit Filmen wie WARHORSE oder SUNSET SONG vergleichen, die die Auswirkungen des Krieges auf ländliche Regionen thematisieren.64 Die Filmhandlungen markieren den Krieg gleichzeitig als Epochenschwelle, da Arbeitsbedingungen, aber auch soziale, generationelle und genderförmige Beziehungen unwiederbringlich verändert werden. Der Konstruktion der Epochenschwelle wohnen die ambivalenten Elemente einer „verlorenen Zeit“ (Proust) sowie der Aufbruch zu neuen Ufern inne. Ähnlich wie in SUNSET SONG, der die patriarchalen Verhältnisse im ländlichen Schottland ebenfalls aus 64 In einem Interview gibt Regisseur Xaver Beauvoix zu Protokoll, dass sein Interesse, sich auf die Heimatfront zu konzentrieren durch US-amerikanische Filme wie THE DEER HUNTER sowie eine kleine Szene aus SAVING PRIVATE RYAN, die zu verrichtende Arbeiten in einem Farmhaus zeigt, inspiriert wurden (vgl. Bonusmaterial DVD LES GARDIENNES).

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der Perspektive einer weiblichen Protagonistin schildert, neigt die Filmhandlung dazu, emanzipative Aspekte der industriellen und sozialgeschichtlichen Umbrüche neben den fortbestehenden patriarchalen und klassenförmigen Herrschaftsverhältnissen darzustellen. Der Krieg ist hier eher ein Katalysator, der bestehende Entwicklungen beschleunigt. Insofern ist die Epochenschwelle in LES GARDIENNES kein kulturelles Trauma, da die gewaltförmigen Kriegsereignisse zwar ihre Spuren hinterlassen, aber den Gang der Ereignisse nicht wesentlich verändern.

Reise zur anderen Seite des Traumas ‒ FRANTZ François Ozons FRANTZ ist ebenfalls als Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau angelegt, obgleich bei Ozon die nationalen und nationalistischen Rahmungen der Kriegserinnerung noch stärker hinterfragt werden. Genretheoretisch lässt sich von einem Erinnerungsfilm zum Ersten Weltkrieg sprechen, in dem Ozon die französisch-deutsche Filmtradition ausleuchtet65 und dabei ein neues Ausrufezeichen im Umgang mit der Verarbeitung von Gewaltgeschichte setzt. Inhaltlich wendet sich die Geschichte jenen zu, die im Gedenken der Toten ihrerseits ein Weiter-So verweigern und ist über seinen generationellen Fokus sehr nahe an TESTAMENT OF YOUTH. Ozons Film untersucht jene Verweigerung des ungetrübten Weiterlebens und gewinnt ihr mit Bezug auf die historische Thematik eine neue Perspektive ab, die in Zentenariumsproduktionen durchaus ihresgleichen sucht. Dies wird durch die Behandlung und Darstellung einer Trauerund Traumathematik bewerkstelligt, die sich als Heimisch-Werden des Unheimlichen bezeichnen lässt. Ozon hat seine Neuverfilmung des ursprünglich von Maurice Rostand aus den 1920er Jahren stammenden Theaterstückes L’homme que j’ai tué damit begründet, dass er die Geschichte aus Sicht der deutschen Kriegsverliererperspektive erzählen wolle. Lubitschs Adaption von 1932, BROKEN LULLABY, hatte wie das Theaterstück durch die Wahl der Hauptfigur die französische Perspektive akzentuiert (Abb. 19). Insofern ist die Neuerzählung durch einen französischen Regisseur, der die deutsche Perspektive wählt, in diesem erinnerungsgeschichtlichen Resonanzraum angesiedelt. Ozon selbst hat von einer spiegelbildlichen Konstruktion gesprochen,

65 Ozon suchte für die Darstellung der deutschen Seite der Filmgeschichte Beratung bei Regisseur Christian Petzold, der im Abspann aufgeführt wird.

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Abb. 19: BROKEN LULLABY – Musik als Versöhnungsmotiv. Ernst Lubitschs BROKEN LULLABY von 1930 stellt eine nicht-komödiantische Ausnahme im Filmschaffen des Regisseurs dar, die eine deutsch-französische Versöhnungsgeschichte erzählt. Die Filmhandlung endet mit einer White Lie des jungen Paares (Walter/Lucien Littlefield, Elsa/Nancy Carroll) gegenüber den Eltern des getöteten deutschen Soldaten. Die im Bild dargestellte musikalische Vortragsszene überwindet bei Lubitsch die traumatische Verlusterfahrung und führt zur Aufnahme des Fremden in die Familie, während das nämliche Motiv bei Ozon die Protagonisten kollabieren lässt.

die sich auch auf die dramaturgische Entscheidung bezieht, den Film in zwei gleich große Blöcke zu teilen, deren Hälften in Deutschland und Frankreich spielen.66 Die erste Hälfte der Geschichte ist im ostdeutschen Städtchen Quedlinburg angesiedelt, wo eines Tages ein junger Franzose auftaucht und Blumen auf das Grab eines im Krieg gefallenen deutschen Soldaten legt. Anna (Paula Beer) lebt als ehemalige Verlobte des Gefallenen mit dessen Eltern in dem zum Schrein gewordenen Haus der Familie. Die Ankunft des Fremden Adrien Rivoire (Pierre Niney) löst zunächst beim Vater, der als Arzt im Haus praktiziert, eine tiefe Verstimmung aus. Er verweist Adrien aus seinem Behandlungszimmer mit der Anmerkung, dass jeder Franzose der Mörder seines Sohnes sei. Mutter und Tochter ermöglichen jedoch eine zweite Begegnung, da sie in Adrien einen Freund des

66 Vergleiche das Interview mit dem Regisseur beim BFI-Filmfestival in London: https:// www.youtube.com/watch?v=XNHG9Vt-5M0 (09. August 2017).

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Verstorbenen aus der Pariser Studienzeit vor dem Krieg vermuten. Die Exposition des Films eröffnet damit ein Spannungsverhältnis um die wahren Gründe für den Besuch des Fremden, der der mögliche Mörder des Gefallenen sein könnte. Der zentrale Konflikt des Films rührt aber nicht von Frage nach der Täterschaft her, als vielmehr dem Prozess, den alle Beteiligten durchlaufen müssen, um ihren Weg ins Leben zurückzufinden. Psychologisch und erinnerungskulturell gesprochen wird damit ein Trauerprozess ins Zentrum der Filmhandlung gerückt, der sich aus der Gegenwart des einundzwanzigsten Jahrhunderts heraus von zeitgeschichtlich früheren Thematisierungen absetzt. Seine ästhetische Umsetzung findet dieser Prozess durch Bilder, die sich zwischen der Melancholie einer Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich und dem Impressionismus von Edouard Manet bewegen. Pierre und Anna finden in dem jeweils anderen eine Person, die ihren Verlust um den Verlobten und Freund teilt. So entsteht eine innige Freundschaft, die ihnen bei ihrer Trauer hilft und sie gleichzeitig wieder für die Gegenwart öffnet. Ein hartnäckiger Verehrer Annas, der später in der Gemeinschaft des Städtchens Stimmung gegen den französischen Eindringling macht, wird von Anna auf Distanz gehalten. In einer Szene zeigt Anna Pierre den gemeinsamen romantischen Zufluchtsort, an dem Frantz um ihre Hand angehalten hatte (Abb. 20).

Abb. 20: FRANTZ ‒ Landschaftsidylle mit Anna und Adrien. Anna (Paula Beer) und Adrien (Pierre Niney) vor der idyllischen Landschaftskulisse, die durch die Bildgestaltung nicht zufällig der romantischen Tradition der deutschen Landschaftsmalerei erinnert. Die Farbe in dieser Einstellung kommt erst ins Bild, nachdem die beiden Protagonisten einen Felstunnel durchwandert haben, dessen ästhetische Funktion als transitorischer Ort im Sinne einer Rite de Passage [Übergangspassage im Trauerprozess; M.E.] offenkundig ist. Die Farbigkeit der Aufnahme signalisiert somit eine zurückgewonnene Lebensbejahung.

Die Annäherung der Trauernden wird allerdings nur möglich, weil sowohl die Inszenierung wie ihr Protagonist, einen Teil der Geschichte nicht erzählen. Adrien

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spürt, dass Anna wie ihre Mutter eine lebendige Erinnerung an den Verstorbenen suchen und nimmt die ihm zugewiesene Rolle als Frantz’ ehemaliger Freund nach einigem Zögern an. Ozon verwickelt die Protagonisten und Zuschauer in eine kathartische Lüge, indem er einige Szenen kreiert, die Frantz und Pierre während ihrer Pariser Studienzeit zeigen. Dadurch entsteht der Seheindruck, dass die beiden Frauen mit ihrer Vermutung richtig liegen. Erst als Adrien Anna den wahren Grund seines Besuchs gesteht, enthüllen sich die bunten, stimmungsvollen Bilder der Vorkriegszeit als zweifelhafte Erfindungen. Erinnerungskulturell interessant an der Strategie der Inszenierung ist, dass die geteilte Lüge die notwendige Voraussetzung der wechselseitigen Annäherung und Katharsis darstellt. Nicht die Vorstellung von faktengetreuer Wahrheit, sondern das Bestreben ein neues, besseres Zusammenleben zu schaffen, wird zum moralischen Referenzpunkt der Erzählung. Eine Perspektive, die zum Zeitpunkt der Abfassung des Theaterstücks in den 1920er Jahren sowie der Adaption von Lubitsch 1932 unschwer als kulturpolitische Intervention ins angespannten deutsch-französischen Verhältnis zu verstehen war. In der auf Aussöhnung gerichteten Haltung wird ein politisch-moralisches Verfahren vorweggenommen, das man aus der Diskussion um transitorische Gerechtigkeit67 kennt. Es wird sich allerdings zeigen, dass Ozon der Geschichte eine entscheidend andere Auflösung als die vorangegangenen Inszenierungen gibt. Adrien wird im Hause der Hoffmeisters fast wie der verlorene Sohn aufgenommen und es bahnt sich eine Liebesbeziehung mit Anna an. Doch das Geheimnis arbeitet in ihm fort. Als er auf der Geige von Frantz im Familienkreis ein Stück vortragen soll, erleidet er einen Zusammenbruch. Es ist dies eine von zahlreichen spiegelbildlich angelegten Szenen, die sich in der zweiten Hälfte des Films in Frankreich unter umgekehrten Vorzeichen zutragen. Ozon misst mit diesem dramaturgischen Arrangement sowohl die individuellen wie gesellschaftlichen Grenzen aus, die die Geschichte den von der kriegerischen Gewalt Gezeichneten abverlangt. Die Grenzerkundungen erfordern die Einordnung und Reflexion nationaler Erinnerungsräume, die den Handlungsrahmen 67 Das Konzept transitorischer Gerechtigkeit bezieht sich auf die Aufarbeitung von Gewalterfahrungen im Nachhall autoritärer oder militaristischer Regime, die eine normale juristische Behandlung von Verbrechen übersteigen. Im Zentrum des Konzeptes steht der Gedanke, den Zirkel von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen und den Opfern eine öffentliche Anerkennung ihres Leidens zu verschaffen. Es wird versucht, ein neues am Gemeinwohl orientiertes, moralisches Narrativ zu etablieren. Bekannte historische Beispiele für den Einsatz von ‚Transitional Justice‘-Tribunalen sind die Militärregime in Südamerika sowie das rassistische Apartheit-Regime in Südafrika. Eine bündige Beschreibung des Konzeptes findet sich auf der Homepage des International Center for Transitional Justice: https://www.ictj.org/about/transi tional-justice (09. September 2019).

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der Charaktere wesentlich bestimmen. Eine bereits wunderbar bei Lubitsch inszenierte Sequenz wendet sich der generationellen Verantwortung für den Krieg zu. Die Oberschicht der kleinstädtischen Gemeinde trifft sich regelmäßig zum Stammtisch, der normalerweise auch vom Arzt frequentiert wird. Als Frantz’ Vater nach langer Abwesenheit sich dort blicken lässt, hat sich schon einiger Ärger wegen Adriens Anwesenheit gegen den Arzt aufgestaut. Die alten Freunde verweigern die Einladung zum Bier und den gemeinsamen Toast. Der Arzt erinnert die lokale Obrigkeit daran, dass die Väter es waren, die ihre Söhne in den Krieg geschickt und mit Geld und Waffen versorgt haben. Auf beiden Seiten jubelte man bei Siegen und begoss den Tod der Feinde mit Bier oder Wein. „Wir sind Väter, die auf den Tod ihrer Kinder trinken“. Das generationelle Motiv überschreitet die nationale Rahmung einer der deutschesten Institutionen, des Stammtisches (Abb. 21). Wenn Anna später bei Adriens Familie in Frankreich zu Besuch ist, trägt sich ein thematisch ähnliches Motiv zu. Die am Tisch zum Dîner versammelte französische lokale Elite unterhält sich ausgelassen über die Feierlichkeiten und das endlose Läuten der Glocken am Tage des Waffenstillstands. Die Frau des Bürgermeisters erkundigt sich im Plauderton bei Anna, wie sie in Deutschland diesen Tag begangen hat. Die sichtlich unangenehm berührte Anna entgegnet, dass die Glocken auch in Deutschland läuteten, was Adrien damit kommentiert, dass man auf den Leichen der Verstorbenen getanzt

Abb. 21: FRANTZ - Stammtisch. Dr. Hoffmeister (Ernst Stötzner) gesteht am lokalen Stammtisch in Quedlinburg die generationelle Verantwortung der Väter für den Tod der Söhne ein.

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habe. Hier wie dort werden die nationalen Konventionen hinterfragt und eine generationelle Spaltung der Gesellschaft angedeutet.68 Gleichzeitig lädt die Parallelität der nationalen Rahmungen zur selbstreflexiven Betrachtung ein (Abb. 22).

Abb. 22: FRANTZ - Soirée. In Frankreich verdirbt Adrien die Feierstimmung beim großbürgerlichen Soirée durch seine Kritik an den Feierlichkeiten zum Waffenstillstand. Das bildliche Arrangement der Einstellungen reflektiert die eingefleischten Traditionen der lokalen Eliten mit ihren ungebrochen nationalistischen Gesinnungen.

Bevor sich jene Individualisierung der Protagonisten zutragen kann, muss jedoch erst Klarheit zwischen Adrien und Anna geschaffen werden. Als Adrien Anna gesteht, Frantz bei einer französischen Offensive erschossen zu haben – wobei hier die einzige Kriegsszene des Films zu sehen ist – kommt es zum Zerwürfnis zwischen den beiden. Adrien entscheidet sich zur Rückreise nach Frankreich. Entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch teilt Anna das Geständnis aber nicht den Schwiegereltern mit, zumal diese großen Trost in der Begegnung mit Adrien gefunden haben. Damit wird sie zum aktiven Teil des dunklen Geheimnisses. Nach Adrien Abreise verfällt Anna in eine tiefe Depression, die in einem Selbstmordversuch gipfelt. Erst durch die Unterstützung der Stiefeltern und einer Beichte beim Pfarrer, der ihr Geheimnis billigt, kann sie sich wieder aufrichten. 68 Bei Lubitsch wird das generationelle Motiv des Kriegs der alten Männer in der betreffenden Szene sogar noch schärfer gefasst. Der Arzt verlässt den Stammtisch mit den Worten, dass ‚sein Herz nicht mehr mit Alten, sondern mit den Jungen sei. Hier und überall‘. Ein kriegsversehrter junger Mann steht auf und schüttelt dem Arzt anerkennend die Hand.

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Da ihre Gefühle zu Adrien nicht ganz erloschen sind und ein an ihn gerichteter Brief ungelesen retourniert wird, entschließt sie sich dazu, ihn in Frankreich aufzusuchen.

Das Heimisch-Werden des Unheimlichen Annas Entschluss ermöglicht die Umkehrung der erinnerungskulturellen Perspektive und verabschiedet sich gänzlich von Lubitschs Adaption des Theaterstücks. Bei Lubitsch endet die filmische Erzählung damit, dass der französische Soldat Teil der deutschen Familie wird und den von ihm erschossenen Sohn ersetzt. Die Szene, die bei Ozon den Zusammenbruch von Adrien auslöst, ist bei Lubitsch das Versöhnungsmotiv. Die Reise zur anderen Seite vollzieht sich in der Darstellung dreier Stationen, die eng mit der französischen Ikonografie des Krieges verbunden sind (FRANTZ 1:09:03–1:12:20). Offenkundig bezeichnet die per Zug vollzogene Fahrt einen mehr als nur räumlichen Übergang. Sie beginnt mit der Abfahrt von der ländlichen Zugstation in Quedlinburg und endet mit der Ankunft im geschäftigen Paris. Die erste Station ist der grenzbedingte Zugwechsel, bei dem ein argwöhnischer Kontrolleur Anna nach den Gründen ihrer Reise fragt. Ihre Antwort, dass sie einen Freund in Frankreich besuche, wird von den missbilligenden Blicken einer Mutter mit zwei Kindern kommentiert. Die Szene spiegelt die voreingenommenen Begegnungen wider, die Adrien in Quedlinburg erfahren hatte. Die nächste Etappe reinszeniert ein ikonisches Erinnerungsbild des französischen Gedächtnisses. Als Anna aus dem Fenster schaut, sieht man eine zerstörte Ortschaft vorbeiziehen. Während die Kamera auf Annas Gesicht gerichtet bleibt, erscheinen die Skelette der Häuser und Kirche als Spiegelbild im Zugfenster. So dient Annas Blick als Einladung zur Perspektivumkehr für deutsche wie französische Zuschauer_innen, die die Möglichkeit erhalten, die Wahrnehmung der Zerstörung durch den Charakter von Anna zu rezipieren (Abb. 23). Die dritte Station vollzieht eine neue Rahmung traumatischer Erinnerung und ist durch die Darstellung einer gueule cassée69 wiederum an ein ikonografisches Motiv des französischen Gedächtnisses gebunden (Delaporte 2014). Man

69 Clement Puget weist auf die Verwendung der gueules cassées in Abel Gances JʼACCUSE von 1938 hin, wo diese die Rolle ‚lebendiger Archive‘ spielen, die das Unheil und den Schrecken des Krieges in sich tragen. Deren symbolische Bedeutung im französischen Gedächtnis wurde bereits von Staatspräsident Clemenceau begründet, der 1919 eine Gruppe von Versehrten zu den Feierlichkeiten anlässlich der Unterzeichnung des Versaillers Vertrages einlud. (Vgl. Pudget 1999, 123‒124).

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Abb. 23: FRANTZ ‒ Ikonografische Umkehr eines Erinnerungsmotives. Eine zerstörte französische Ortschaft erscheint im Blick der deutschen Protagonistin. In der bildlichen Spiegelung verbinden sich die Konturen von Anna mit der zerstörten Ortschaft und kommentieren visuell den psychischen Prozess der Protagonistin, die das Leid der anderen Seite in sich aufnimmt.

sieht wie Anna die Augen öffnet und hört das Pfeifen des ratternden Zuges. Es steht zu vermuten, dass sie durch das Zugsignal geweckt wurde. Ein junges Pärchen sitzt auf dem gegenüberliegenden Sitz des Abteils. Eine Gesichtshälfte des Mannes ist weggerissen, die Wange fehlt. Anna und der Fremde tauschen ein höfliches Lächeln aus, wie man es von einer Begegnung im Zug erwarten kann. Dann dreht sich der Kopf des Mannes langsam zu seiner Begleiterin und küsst sie auf die Stirn. Anna wendet sich ab und schläft wieder ein. Die Szene ist deswegen so bemerkenswert, weil sie einen anderen Umgang mit der abstoßenden Entstellung vorführt, die normalerweise mit einem Schockeffekt ausgestattet wird oder diesem dient. Es mag wenig überraschend sein, dass die Traumszene im Zugabteil damit beginnt, wie Anna aufwacht. Eine solche Irritation der Zuschauererwartung kennt man aus Darstellungen, denen es um die Dominanz konkurrierender Realitätsebenen geht. Die Wirkmächtigkeit von Traumata wird filmisch häufig dadurch zur Geltung gebracht, dass ihnen eine eigene Realitätsebene in der Inszenierung zugebilligt wird. Diese kennzeichnet den dissoziativen Effekt des Traumas. Ungewöhnlich ist, dass Anna nach der Begegnung mit dem entstellten Gesicht, der gueule cassée, wieder einschläft. Die Entstellung, das Abjekt (Kristeva 1982) hat den Schockeffekt verloren. Nur ganz kurz lässt sich in Annas Gesicht ein Erschrecken erkennen, das aber gleich dem beschriebenen

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höflichen Lächeln weicht. Ihre Reaktion zeigt an, dass die Reise zur anderen Seite des Schreckens eine neue Qualität erreicht hat. Ozon hat mit dieser Inszenierung die psychologische und moralische Rahmung von Gewaltgeschichte in den Filmen des Ersten Weltkrieges einen Schritt vorangetrieben. Die bekannten Inszenierungsformen von Perspektivwechsel und Umwidmung ikonografischer Bilder werden durch das Heimisch-Werden des Unheimlichen überschritten.70 In der Filmhandlung wird Annas Reaktion durch ihr intimes Verhältnis zu Adrien, der Identifikation mit der anderen Seite plausibel. Alle diese Übergänge vollziehen sich in einem der ikonischsten Hervorbringungen der Moderne, dem Zug. Das stählerne Transportmittel begleitet die Darstellung von Trauma von Anfang an und symbolisiert wie kaum ein anderes Objekt die Ambivalenz der Moderne zwischen Fortschritt und Katastrophe, die diese bis heute begleitet. Es wird sich zeigen, dass auf die ambivalente erinnerungskulturelle Positionierung des Zuges in anderen Zentenariumsproduktion wie THEEB oder 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS zurückgegriffen wird. Die zweite Hälfte der Geschichte folgt Annas Suche nach Adrien in Frankreich. Nach einigen Schwierigkeiten, die ihr auch einen anderen Blick auf ihren verstorbenen Verlobten ermöglichen, findet sie schließlich das Anwesen von Adriens Familie. Ihre Wiederbegegnung mit Adrien, bei der sie ihm für das Geschehene vergibt, bringt allerdings nicht die von Anna erhoffte Annäherung. Adrien ist bereits verlobt und eine von seiner Mutter gewünschte Ehe steht kurz bevor. Adrien kann sich anderes als Anna nicht von seinen Familienbanden befreien. Das Scheitern der Liebesgeschichte fungiert bei Ozon als eine neue Wendung des erinnerungskulturellen Narrativs. Wiederum wird dazu das von Lubitsch etablierte Versöhnungsmotiv des gemeinsamen Musizierens herangezogen. Anna soll zusammen mit Adrien und seiner Verlobten (Alice de Lencquesaing) vor der versammelten lokalen Elite, nach dem bereits beschriebenen Abendessen, musizieren. Die Liebesthematik des Stückes lässt Anna ebenfalls einen nervlichen Zusammenbruch erleiden. Anders als beim ersten Vorspielen in Quedlinburg – und bei Lubitsch – handelt es sich nun aber nicht mehr um uneingestandene Schuld und nationale Versöhnung, sondern um ein individuelles Scheitern. Die vollzogene Aussöhnung der beiden Charaktere entlässt diese aus den nationalen geschichtlichen Rahmungen und ermöglicht individuelle Entscheidungen. Die filmische Memorialstruktur überspannt auf diese Weise die deutsch-französische Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts und nicht nur die des Ersten Weltkrieges. Die Konstruktion von Spiegelbildern wird dazu benutzt, die jeweiligen nationalen Erzähl-

70 Man kann in dieser Tradition an die Horrorfilme von George A. Romero denken, in denen die Zombies mehr und mehr vertraut werden und schon in THE NIGHT OF LIVING DEAD klar ist, dass die wirkliche Gefahr von den Menschen und nicht den Untoten ausgeht.

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positionen so weit zu dekonstruieren, dass eine Individualität möglich wird, die trotz der historischen Tragödien nicht auf die Nation-Form reduziert wird. Während Anna für sich einen Neuanfang beschließt und nicht zu ihrer Familie zurückkehrt, gelingt es Adrien nicht, sich aus seiner Familiengeschichte zu lösen. Seine Entscheidung wird als nachvollziehbar inszeniert, ist aber nicht länger von Schuldgefühlen und Kriegserfahrung geprägt. Anna erhält die Unwahrheit über Frantzʼ Tod gegenüber ihren Schwiegereltern aufrecht, während Adrien davon ausgeht, dass diese die volle Wahrheit kennen. Die Verantwortung geht daher voll auf Anna über. Man ist versucht von einer Wanderlüge zu sprechen, die vermutlich auch eine konfessionelle Dimension hat.71 In der Schluss-Szene kommt Ozon zum Motiv des Selbstmordes als der Verweigerung des Weiter-So zurück, kehrt aber die Bedeutung des Selbstmordmotives um. Anna sitzt im Louvre neben einem ihr unbekannten jungen Mann, der physiognomisch die perfekte Mischung aus Frantz und Adrien ist. Beide betrachten Manets Bild Le Suicide (Abb. 24).

Abb. 24: FRANTZ – Neubewertung des bildlichen Selbstmordmotives. Anna und ein junger Mann im Louvre. Die Bildkomposition rückt das Portrait von Manet zwischen die beiden Protagonisten und verbindet diese dergestalt. Kurz nach dieser Einstellung ist ein Close-up von Annas Gesicht zu sehen, in das langsam die Farbe zurückkehrt, was ihre wiedergewonnene Lebensbejahung zum Ausdruck bringt. 71 Diese Lesart wird durch eine Szene nahegelegt, in der der Pfarrer bei Annas Beichte es gutheißt, den Eltern durch die Mitteilung der Wahrheit nicht noch weitere Schmerzen zuzufügen. Die katholische Tradition erlaubt eher die Aufrechterhaltung der Unwahrheit, um weiteres Leiden zu vermeiden, was im Protestantismus schwerer zu rechtfertigen wäre.

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Auf die Frage des jungen Mannes, ob sie das Bild auch möge, antwortet sie, dass es ihr Lust zu Leben gäbe. Der Kreis des Trauerprozesses schließt sich. Von der Verweigerung des Weiterlebens zu einem mit Lust besetzten Neuanfang. Die physiognomische Ähnlichkeit des jungen Mannes erinnert an Annas Vergangenheit, determiniert aber nicht ihre Zukunft. Sie ist voll in der Gegenwart angelangt. Daher können in der Schlusseinstellung die Farben ins Bild zurückkehren. Ein nahezu utopisches Moment vor dem Hintergrund einer schmerzvollen Vergangenheit. Das künstlerische Motiv des Selbstmordes in Manets Gemälde verdichtet die Geschichte von FRANTZ in einem einzigen Bild. Dessen Inszenierung ist keine Aufforderung, es diesem gleichzutun, sondern zielt im Gegenteil darauf, das Leben wertzuschätzen. Es ist dieser Widerspruch, den Ozon mit seiner Geschichte durchschreitet und damit jenen die Treue hält, denen es mit der Nostalgie todernst ist. Erinnerungstheoretisch gewendet, handelt es sich gleichermaßen um ein fiktives Requiem und einen Trauerprozess, der die eingangs bezeichnete Besonderheit aufweist, die Trauer der anderen Seite zu fokussieren. Damit ist ein erinnerungskulturelles Statement verbunden. So wie Lubitsch mit seiner deutsch-französische Versöhnungsgeschichte zu Beginn der 1930er Jahre in eine nationalistisch aufgeladene Atmosphäre hineinspricht, reflektiert Ozons Fassung ein deutsch-französisches Verhältnis, das zwar gefestigt, aber keineswegs unerschütterlich ist. Der von Anna durchschrittene Trauerprozess erinnert an beides. In dieser Variante eines kulturellen Traumas wird der düstere Abgrund wie die vollzogene Überschreitung erinnert. Die Stärke der filmischen Erzählung liegt darin, dass die Protagonisten nicht als Repräsentanten der einen oder anderen Seite enden, sondern speziell in der Figur der Anna eine Freiheit der Wahl aufscheint, die sich nicht mehr national verorten muss. Ging es bei Lubitsch noch um die Überwindung nationaler Antagonismen, so kann Ozon vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte die Suche nach individuellem Glück und Selbstbestimmung herausstellen. Insofern ist FRANTZ einer der europäischsten Filme des Zentenariums, lässt er doch die Grenzen zwischen Frankreich und Deutschland verschwimmen, ohne die trennenden Abgründe zu vergessen.

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Karneval des Traumas ‒ Au Revoir, Là-Haut AU REVOIR, LÀ-HAUT72 ist der französische Beitrag zum Zentenarium, der sich wie eine konsequente Zusammenschau des französischen Kinos zum Großen Krieg seit den 1990er Jahren ausnimmt (vgl. Kapitel 1). Thematisch greift er jene Episode des französischen Gedächtnisses auf, bei dem es um die Repatriierungen gefallener französischer Soldaten in ihre Heimatorte geht, die bereits Bertrand Tavenier in DAS LEBEN UND NICHTS ANDERES (LA VIE ET RIEN D’AUTRE) verhandelt hatte. Wie bei Tavenier wird die von staatlicher Seite lax gehandhabte Bestattungspraxis aufs Korn genommen. Oberbösewicht und korrupter Offizier ist Henri d’Aulnay-Pradelle (Laurent Lafitte), der nicht nur seine Soldaten kurz vor Kriegsende in eine sinnlose Offensive schickt und Delinquenten von hinten erschießt, sondern auch nachher ‒ wortwörtlich und bildlich ‒ auf ihren Gräbern tanzt. Die Figurenzeichnung erinnert durch ihre übersteigerte gut-böse Zuschreibung an Jean Pierre Jeunets MATHILDE – EINE GROßE LIEBE (UN LONG DIMANCHE DE FIANÇAILLES) und weist durch ihren kontrastreichen, mit schwarzem Humor durchsetzen Inszenierungsstil intermediale Verbindunglinien zu der in Frankreich einflussreichen Graphic-Novel-Tradition73 auf. Im Zentrum der Filmhandlung stehen die beiden ungleichen Gefreiten Edouard Pericourt (Nahuel Pérez Biscayart) und Albert Maillard (Albert Dupontel). Während Edouard einer schwerreichen Unternehmerfamilie mit engherzigem Vater entstammt, repräsentiert Albert den einfachen und gutmütigen Franzosen aus der Arbeiterklasse. Beide retten sich wechselseitig im Niemandsland das Leben und bleiben nach dem Krieg Verbündete, zumal Albert sich um Edouard im Militärhospital kümmert. Edouard hat eine schwere, entstellende Gesichtsverletzung erlitten. Das ikonografische Motiv der gueules cassées erfährt diesmal eine offensivere Behandlung, da der künstlerisch begabte Edouard zahlreiche fantasievolle Masken für sich entwirft. Die beiden nehmen ein kriegswaises Mädchen auf und versuchen sich durch verschiedene Unternehmungen, einen Lebensunterhalt in der wirtschaftlich angespannten Nachkriegszeit zu verschaffen. Anders als in LA CHAMBRE DES OFFICIERS (DIE OFFIZIERSKAMMER) tritt das Trauma der Verletzung und Entstellung zunächst hinter den künstlerischen Umgang mit Verwundung zurück. Edouard, dessen Talente vom Vater mit Verachtung belegt wurden,

72 Zum Zeitpunkt der Abfassung existierte kein deutscher Filmtitel. Der internationale Titel lautet SEE YOU UP THERE. 73 Die seit den 1920er Jahren bekannte Tradition der ‚Bandes dessinées‘ stellt eine eigene Kunstform dar, die sich auch dem Grand Guerre angenommen hat. International einflussreich ist etwa Jacques Tardis C’était la guerre des tranchées, das bereits 1993 erschien und in mehreren Editionen vorliegt (vgl. Tardi 1993).

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sinnt auf Rache am brutalen und korrupten Offizier und am Vaterland. Er fertig Denkmalentwürfe für die zur Sentimentalität neigende Nachkriegsgesellschaft an, die zwar verkauft, aber nie fertiggestellt werden. Eines seiner Opfer wird der eigene, hochgestellte Vater, der einen Kunstwettbewerb ausgeschrieben hatte. Letzter erkennt in den Entwürfen den Stil seines Sohnes wieder und beginnt zu ahnen, dass dieser noch am Leben sein könnte. Er setzt den effektiven, jetzt im Polizeidienst arbeiteten Henri darauf an, die Denkmalbetrüger ausfindig zu machen. Die eindrücklichste Szene ereignet sich, als der mittlerweile reuig gewordene Vater den morphinsüchtigen74 Sohn wiedertrifft. Letzterer trägt eine farbenfrohe Vogelmaske und leidet nach wie vor unter erheblichen Schmerzen durch die Kriegsverletzung. Der Vater, der längst verstanden hat, wer hinter der Maske steckt, gesteht dem Vogelmann seinen Fehler ein und beide umarmen sich nach dem Geständnis. Dann tritt Edouard einen Schritt zurück an die Brüstung seines Balkons und wirft sich fast schwerelos in die Tiefe. Der Selbstmord kehrt hier wie in Ozons FRANTZ als Motiv von Befreiung wieder. Die Schönheit des Vogelmanns, der noch die Schrecken des Krieges in Kunst verwandeln konnte und die eigentümliche Schwerelosigkeit, mit der die Szene gefilmt ist, stellen vermutlich das Motiv dar, das sich am Nachhaltigsten ins filmische Gedächtnis einschreiben wird. Die Filmhandlung, deren Geschichte sich im Rückblick durch Alberts Geständnis auf einer Polizeistation irgendwo in Nordafrika entfaltet, nimmt am Ende eine ironische Wendung. Albert wurde dort von einem französischen Kolonialbeamten aufgrund seiner Denkmalbetrügereien festgesetzt. Es stellt sich heraus, dass der Kolonialbeamte einer der Väter der vom korrupten Henri hingerichteten Soldaten ist. Nach dem Geständnis verhilft der Kolonialbeamte Albert zur Flucht. Albert vereint sich mit dem geretteten Waisenkind und seiner Geliebten und entzieht sich der französischen Staatsgewalt. Die Darstellungsweise des historischen Realismus ist der Zugang des französischen Kinos zum Grand Guerre nicht. Man vermisst diesen allerdings auch nicht, sondern folgt ihm gerne in jene Traumwelten, in denen alles möglich scheint und die doch mehr als jener Realismus durch den Kontrast zum Trauma belebt wird. Dessen Anwesenheit wird in allen Zentenariumsproduktionen75 tief

74 Sophie Delaporte führt in einer ausgezeichneten Betrachtung von Kriegsverletzungen und Entstellungen in Frankreich aus, dass die Schmerzbehandlung der Kriegsversehrten mit Morphin – vor allen bei Amputationen – oft unumgänglich war und häufig eine Abhängigkeit der sogenannten „Morphinomen“ nach sich zog (vgl. Delaporte 2014, 6). 75 Eine weiterer Film, CESSEZ LE FEU (Feuerpause; M.E.) von Regisseur Emmanuel Courcol, passt sich in die dargelegten Produktionen ein, hat aber keine internationale Distribution erhalten. Der Film erzählt die Geschichte zweier Brüder, die beide auf unterschiedliche Weise

Frankreich

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in die französische Nachkriegswirklichkeit eingeschrieben. Gleichwohl behält die Kodierung der traumatischen Erfahrung nicht das letzte Wort in den Filmen. Die Ausprägung eines kulturellen Traumas wird durch die Zurschaustellung einer Lebensbejahung eingedämmt, die damit zusammenhängen mag, dass der totale Krieg sich in keinem anderen zentraleuropäischen Land so sehr an der Heimatfront zugetragen hat wie in Frankreich. Die häufig weiblich konnotierte, auf Lebenserhaltung ausgelegte Heimatfront stemmt sich in den filmischen Narrationen gegen die Ausprägung eines melancholischen Erinnerungsmotives, das dem soldatischen Tod den Vorzug einräumt.

ihre Kriegswunden mit sich tragen. Während der sensible Marcel (Grégory Gadebois) stumm wird, flüchtet der draufgängerische George (Romain Duris) in die französischen Kolonien nach Afrika. Georges Trauma ist weniger sichtbar, aber kaum weniger tiefliegend. Er hat alle Furcht verlogen und kommt wiederholt in Situationen, in denen er scheinbar unerschrocken sich Gefahren stellt. Als sein afrikanischer Begleiter bei Geschäften mit Einheimischen ermordet wird, entschließt er sich zur Rückkehr nach Frankreich. Die Wiedervereinigung der Brüder setzt eine Dynamik in Gang, bei der sich beide ihren Traumata stellen müssen. Auch hier wird das Geschäft mit den Exhumierungen der gefallenen Soldaten als Angelegenheit für pietätlose Zeitgenossen vorgeführt und kritisiert.

4 Was gibt es Neues im Nahen Osten? Das populäre Gedächtnis im Nahen Osten befasst sich mit dem Ersten Weltkrieg weniger wegen seiner Ursachen als aufgrund seiner Folgen. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und die unter englischer wie französischer Kolonialverwaltung vorgenommene Neustrukturierung der Region führten zu einer Situation gesellschaftlicher Instabilität. Die Folge war eine Zeit gewaltvoller Transformationen, die ähnlich wie in Mittel- und Osteuropa eine völlig neuartige Ordnung von Staatengebilden hervorbrachte. Im Unterschied zu den europäischen Regionen waren die nationalstaatlichen und demokratischen Traditionen weniger ausgeprägt. Zudem verhinderten die Interessen der Kolonialmächte eine autonome Entwicklung, die den kulturellen und gesellschaftlichen Eigenheiten der Region Rechnung getragen hätte. Dem Ersten Weltkrieg könnte daher mit einer gewissen Berechtigung der Epochenstatus einer ‚Urkatastrophe‘ zugesprochen werden, was tatsächlich in einigen Dokumentationen geschieht (vgl. etwa WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES, Folge 3), auch wenn damit wesentlich andere politische Verhältnisse bezeichnet werden und eine andere Chronologie verknüpft ist. Von der Periodisierung her sieht der Historiker David Fromkin das Jahr 1922 als Weichenstellung für die Region an. Er führt den Vertrag von Lausanne, die formale Unabhängigkeit Ägyptens durch die sogenannte AllenbyDeklaration im Februar, das Völkerbundmandat für Frankreich über Libanon und Syrien im Juli 1922, sowie ein von den Briten moderiertes Abkommen zwischen Prinz Faisal1 und Ibn Saud über Iraks Grenzen gegen Ende des Jahres als entscheidende Punkte an (vgl. Fromkin 2009, 502). Eine solche Chronologie der Region deckt sich mit der türkischen Geschichtsschreibung, die die eigene Staatsgründung als Abschluss der Balkankriege von 1912‒1913 ansieht. Der Historiker Robert Gerwarth bewertet die Verträge von Lausanne und Ostthrakien ebenfalls als eine Zäsur, die in Europa eine Periode relativer Stabilität einleitet (Gerwarth 2017, 248). Aufschlussreich an Gerwarths kategorisierender Bewertung ist, dass mit den Verträgen von Lausanne ein Umdenken in Bezug auf Minoritätenpolitik festgeschrieben wurde, die sich als Ende des Modells multiethnischer Landimperien verstehen lasse (ebd., 246). Der Vertrag von Lausanne kodifizierte das Ideal homogener Nationalstaaten – wie es Mustafa Kemal für die Modernisierung der Türkei vorschwebte – für eine Region, die sich bislang durch ein ver-

1 Faisal I. aus der Haschimitenfamilie des Scharifen von Mekka war ein Jahr vorher auf Vorschlag des Kolonialministers Winston Churchill und unter Mitwirkung von Gertrude Bell als König des Iraks eingesetzt worden. Die Grenzen zum südlichen Nachbarn lagen unter Kontrolle des späteren Gründers des Königreichs Saudi-Arabien, Ibn Saud, und waren umstritten (vgl. Kapitel 3). https://doi.org/10.1515/9783110654431-005

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gleichsweise loses Zusammenleben unterschiedlicher religiöser und ethnischer Gruppen auszeichnete. Mit dem Ideal demokratischer Selbstbestimmung in Rahmen der Nation-Form gingen Politiken ethnischer Säuberungen einher, die sowohl in Europa wie im Nahen Osten weitreichende Folgen haben sollten. Diese historisch-politische Vorbemerkung ist deswegen wichtig, weil sowohl in den Aljazeera-Produktionen wie bei den Arte-Dokumentationen die Nation-Form einer kritischen Betrachtung unterzogen wird.2 Die Diskussionen um das Verhältnis von nationalen und transnationalen Regierungs- und Vergesellschaftungsformen haben hier ihren historisch-regionalen Ursprung und werden von den dokumentarischen Produktionen erinnerungskulturell aufgegriffen. Es wird sich zeigen, dass speziell in den englischsprachigen Aljazeera-Dokumentationen WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES und SYKES-PICOT. LINES IN THE SAND die Kodierung eines kulturellen Traumas zentral auf die kolonial dominierte Einführung von Nationalstaaten bezogen bleibt. Bevor ich mich den TV-Dokumentationen zuwende, ist es hilfreich, einige Hintergründe der Produktionsgesellschaft Aljazeera und ihrer bekanntermaßen umstrittenen Finanzierung durch die Herrschaftselite im Königreich Katar zu beleuchten. Dies wird mit den medientheoretischen und kulturpolitischen Fragen verknüpft, welche Verbindung die Dokumentationen mit den Positionen des Senders eingehen und welche ästhetischen und narrativen Umsetzungen sich aufzeigen lassen.

Aljazeera Englisch – Ein neuer Akteur betritt die mediale Bühne Auf eine etwas verschlungene Weise tritt hier eine Verbindung von Produzenten und erinnerungskulturellem Narrativ zutage. Der in Katar ansässige Sender hat seit 2006 einen englischsprachigen Ableger, der für die Dokumentationen verantwortlich zeichnet. Dieser ist in seiner programmatischen Ausrichtung eher an CNN-International oder BBC-World orientiert, als dass es sich einfach um eine englischsprachige Übersetzung von Aljazeera (Arabic)3 handelt (vgl. Amin 2012, 29). Strategisch zielen die in Doha, Kuala Lumpur, London und Washington DC ansässigen Büros auf die etwa achtzig bis hundert Millionen arabischen Migranten, die außerhalb von Muslim-Majority-Ländern leben und von denen

2 Vergleiche dazu die historisch-erinnerungskulturelle Betrachtung des osmanischen Kriegseintrittes in Kapitel 2. 3 Ein sicherlich lohnender Abgleich der englischsprachigen mit der arabischsprachigen Edition war aufgrund nicht vorhandener diesbezüglicher Forschungsmittel und mangelnder eigener Sprachkenntnisse nicht durchführbar.

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etwa achtzig Prozent kein Arabisch sprechen, jedoch ein hoher Anteil über Englischkenntnisse verfügt (Seib 2012; 193; Miles 2005, 319‒323). Seit der Berichterstattung zum sogenannten Arabischen Frühling 2011 hat auch der englische Ableger der Nachrichtenorganisation eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren. Die Reichweite des Netzwerkes konnte von achtzig auf zweihundertfünfzig Millionen Haushalte [Stand 2011; M.E.] in mehr als hundert Ländern ausgeweitet werden (Amin 2012; 30). Mit der Berichterstattung zu den regierungskritischen Aufständen in der Region ging eine Neubewertung durch die US-amerikanische Regierung einher. Hilary Clinton sprach in ihrer Funktion als Außenministerin auf einem Treffen des Senate Foreign Relation Committee davon, dass „you may not agree with [Aljazeera; M.E.], but you feel you’re getting real news around the clock instead of a million commercials“ (Clinton zitiert nach Hussein 2012, 35). Der Versuch der Etablierung auf dem US-amerikanischen Markt ist mit der Schließung des Büros 2016 dennoch gescheitert. Ob Aljazeera-Englisch [im Folgenden: AJE] sich als eine Mediengemeinschaft etabliert, die die englischsprachigen Muslime durch seine internationale Präsenz verbindet, oder überhaupt so wahrgenommen wird, bleibt abzuwarten. (Vgl. Seib 2012, 192‒193) Aljazeera-Arabic selbst ist in seiner Bedeutung für Nachrichten- und Informationspolitik in der Region kaum zu unterschätzen. Nicht wenige Experten sprechen von einer Medienrevolution, die die Gründung des Senders 1996 durch Emir Scheich Hamad bin Khalifa nach sich zog (Miles 2005, 17‒56). Diese besteht darin, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Region ein Nachrichtensender mit einem Maß an redaktioneller Autonomie ausgestattet wurde, die es ihm ermöglichte, kontroverse Positionen zu allen politischen Themen zuzulassen. Berühmt und berüchtigt wurde der Sender im Westen vor allem durch die Ausstrahlung von Osama bin Ladens Erklärungen zu den Anschlägen auf die Türme des World Trade Centers. Dem ging allerdings schon eine fünfjährige Mediengeschichte voraus, in der Aljazeera zahlreiche Kontroversen vor allem in Ägypten [unter Staatspräsident Hosni Mubarak; M.E.] und in Saudi-Arabien auslöste, die den Sender und seine Mitarbeiter unter existenziellen Druck brachten. Durch verschiedene Talkshow-Formate und politische Magazine (Miles 2005, 37) wurden Positionen der arabischen Öffentlichkeit zu Gehör gebracht, die bislang der Zensur in den genannten Ländern unterlagen. Für den Israel-Palästina Konflikt waren die gesendeten Meinungsäußerungen der Hamas bedeutsam, die sich des Senders als Nachrichtenplattform bediente (Miles 2005, 45). Umgekehrt waren für eine arabische Öffentlichkeit die Auftritte israelischer Experten in hebräischer Sprache äußerst irritierend, da diese erstmalig als Bestandteil einer politischen Debatte präsentiert wurden (ebd., 37). Diese Öffnung des zivilgesellschaftlichen Diskurses über die nationalen und konfessionellen Grenzen hinaus ist zweifellos ein großes Verdienst Aljazeeras.

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Dabei vertritt, nach Hugh Miles, der Sender keine explizit anti-amerikanische oder anti-israelische Agenda.4 Indem dessen Programme aber den nahöstlichen Nachrichten-Diskurs in weitgehend unzensierter Form wiedergibt, nehmen solche Positionen eine dominante Stellung ein. Diese Positionen dürften auch der Mehrzahl seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechen (Miles 2005, 271). Man kann daraus nun ableiten, dass der Sender unter dem Deckmantel freier Berichterstattung doch nur seinen vorgefassten Meinungen zur Publizität verhilft. Dies ist allerdings mit der gegensätzlichen Bewegung abzugleichen, dass er andere Perspektiven in den öffentlichen Diskurs einfließen lässt und die normative Position transparenten Informationsflusses sowie freier Meinungsäußerung und bildung verkörpert, die mit einer nach wie vor dominanten autoritären Nachrichten- und Informationspolitik in der Region konkurriert. Aljazeera nimmt für sich in Anspruch, den Unterrepräsentierten des globalen Südens eine Stimme zu verleihen und Untersuchungen deuten darauf hin, dass dies im Vergleich zu den westlichen Konkurrenten von BBC und CNN auch gelingt (vgl. Figenschou 2014, 42). Das Nachrichtenkonzept von AJA und AJE bemüht sich dabei darum, alternative Quellen jenseits der etablierten Experten und Eliten zu finden. Daraus ergibt sich eine mit den obigen Überlegungen verbundene Struktur im Umgang mit abweichenden Meinungen. Figenschou zitiert einen Berichterstatter aus Doha über die Nachrichtenbeschaffung von Aljazeera: For us at Aljazeera, we don’t identify with the West and we don’t identify with the enemies of the West. We pose as a neutral side, but we think there is a gap in the news and we want to fill this gap, this void. If there is a conflict, why do we listen to only one side? Why do we focus on the details on one side? Why don’t we listen to the viewpoint of the other side? Even if we see it as a demon, even if we see him as a monster, we, I think, we have the obligation to let him at least speak and listen to him to make the world listen to him. Maybe he has something to say. (Interview Figenschou 2012, 46‒47)

Diese alternative, gegenöffentliche Strategie der Nachrichtenbeschaffung übersetzt sich auch in ein alternatives Konzept bezüglich der visuellen Repräsentation. Hier wird eine „dramatic visualization of civilian suffering“ (Figenschou 2014, 50) in Szene gesetzt. Eine Strategie, die bei der Berichterstattung zum Gaza-Krieg 2008/ 09 große Kontroversen ausgelöst hatte. Diese visuelle Repräsentationsstrategie von

4 Was er sich zumindest in Bezug auf die USA auch gar nicht erlauben könnte, da die USA seit 1996 de facto die militärische Schutzmacht Katars ist. Das kleine Emirat verfolgt schon seit der Zeit des Osmanischen Reiches die außenpolitische Strategie, sich durch ein Bündnis mit einer Imperialmacht gegenüber militärischen Einmischungen von größeren Nachbarn abzusichern (vgl. Figenschou 2014, 35). Seit dem Amtsantritt des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump hat sich hier eine Verschiebung ergeben, die teilweise erklärt, warum insbesondere Saudi-Arabien mit dem Versuch Aljazeera zu schließen in die Offensive gegangen ist.

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zivilem Leiden wird von den Medienproduzenten als Reaktion auf eine von westlicher Seite dominierte Berichterstattung wiedergegeben. In den westlichen Medien werde das Zeigen von Toten oder Verwundeten mit Rücksicht auf die Sensibilitäten des Publikums stark reduziert. Dies komme meist denjenigen zugute, die den Krieg als ‚clean‘ darstellen wollen. Demgegenüber versucht insbesondere AJE einen Mittelweg zu finden, auf dem man einerseits die Ansprüche der Medienbehörden in den jeweiligen Ländern berücksichtigen muss, andererseits aber das Leiden und die Zerstörung in den Kriegsgebieten nicht unterschlägt. Man geht davon aus, dass das Publikum im Nahen und Mittleren Osten eine größere Toleranz gegenüber der Darstellung von visuellem Leiden besitzt, als dies im Westen der Fall ist. Insofern unterscheiden sich die Nachrichtenbilder von AJA und AJE in dieser Hinsicht. (Vgl. Figenschou 2014, 51) Für die vorliegende Untersuchung stellen sich die Fragen, ob dieses visuelle Konzept in den historischen Dokumentationen des Senders zum Tragen kommt und ob die multiperspektivische Betrachtung von Konflikten die historische Narration der TV-Dokumentationen beeinflusst. Zentral für die Analyse der Produktionen ist darüber hinaus die übergreifende Fragestellung, ob und mit welchen historischen Narrativen der Erste Weltkrieg als kulturelles Trauma für die Region kodiert wird. Insgesamt steht AJE mit der Produktion von Dokumentationen in Konkurrenz zu staatlich geförderten Sendeanstalten wie BBC, PBS, ZDF, ARTE, TV 5 sowie privaten Anbietern, die auf einen internationalen Markt zielen. So kam es etwa zur Vermarktung von WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES beim Dokumentarkanal Phönix durch eine deutschsprachige Adaption, auf die zurückgekommen wird.

Der Untergang des Osmanischen Reiches ‒ WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES [im Folgenden: ARAB EYES; M.E.] ist eine dreiteilige TV-Dokumentation, die auf Aljazeera-Englisch abrufbar ist, sich aber ebenfalls über Youtube streamen lässt.5 Die drei Teile The Arabs, The Ottomans und The New Middle East nehmen regionale Fokusse vor und haben ein Länge von jeweils fünfundvierzig Minuten. Jede Episode ist wiederum in zwei gleich

5 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=kuzhZkvbbHc&vl=en (12 März.2019). Der von AJE vorgenommene Upload hatte zum Zeitpunkt des Betrachtens mehr als eine halbe Millionen Aufrufe und ist keineswegs die einzige Quelle auf Youtube.

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große Blöcke unterteilt, was dem Ausstrahlungsformat von AJE entspricht. Die Unterteilung der einzelnen Episoden in zwei gleich große Blöcke beeinflusst die dramaturgische und historiografische Form der Dokumentation. So werden in den beiden Hälften unterschiedliche historische Themen aufgegriffen, die gegen Ende jeder Episode wieder inhaltlich und dramaturgisch zusammengeführt werden. Die mulitmediale Distributierung macht eine Einschätzung der Verbreitung schwierig. Ihre fortbestehende Verfügbarkeit mehr als fünf Jahre nach der Erstausstrahlung auf der Homepage von Aljazeera-Englisch6 (und AJA) deutet auf eine fortbestehende Nachfrage hin. Im Intro zu jeder Folge hebt das Voice-Over den besonderen Zugang der Dokumentation hervor: Four years of bitter conflict . . . it’s grim, trench warfare, with Europe the main theatre of war, but this was a war fought on many fronts. So, there’s another story, rarely told, of huge importance during the war and of lasting significance: a story of troops who fought and died, but who are often forgotten, and of an outcome that shaped the Middle East of today. (ARAB EYES: 00:22‒01:07)

Die im Off vorgenommene Kommentierung gibt eine postkoloniale Perspektive vor, die den Krieg als entscheidenden Wendepunkt in der Region positioniert. Programmatisch wird die Erinnerung der vergessenen Soldaten und ihrer Geschichten angekündigt. Dabei ist zu beachten, dass durch die Betonung von Europa als zentralem Kriegsschauplatz eine Erinnerungskonkurrenz zumindest eingeschränkt wird. Auf der Bildebene wird eine Mischung von Archivaufnahmen, On-Location-Shots, Experteninterviews und einigen nachgestellten Aufnahmen verwendet (Abb. 25). Der tunesische Journalist und Schriftsteller, Malek Triki, führt durch alle drei Episoden als investigativer Journalist.7 Er interviewt die historischen Expertinnen und Experten und nimmt selbst historische Einschätzungen vor. Gleichzeitig wird er durch die erzwungene Kriegsteilnahme seiner Großväter als persönlich involviert vorgeführt. Das Voice-Over erinnert zu Beginn jeder Episode daran, dass Malek Triki ‚uns auf eine persönliche Reise führt‘8, um die Geschichte der Generation seiner Großväter zu erzählen. Explizit wird auf

6 Vgl. https://www.aljazeera.com/programmes/specialseries/2014/11/world-war-one-througharab-eyes-20141114133936678600.html (12. März 2019). 7 Eine tunesische Nachrichtenplattform, die sich nach eigenen Angaben für Transparenz und „good governance“ einsetzt, führt an, dass Malek Triki für mehr als 20 Jahre für BBC Arabic Service und das Al–Jazeera Network als Journalist gearbeitet hat und gegenwärtig Meinungsartikel für Al Quds Al Arabi verfasst. Vgl. (25. Januar 2018). 8 Alle Übersetzungen ins Deutsche sind vom Autor selbst vorgenommen und werden in einfachen Anführungszeichen wiedergegeben. Voice-Over sowie die Kommentierungen von Malek Triki sind in der untersuchten Produktion im Original auf Englisch.

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Abb. 25: ARAB EYES – Neue Ikonografie. Das ikonografische Bild eines arabischen Reiters wird mit einem Filmprojektor im Vordergrund verbunden und so eine selbstreflexive Ebene in der Inszenierung erzeugt. An anderer Stelle im Intro werden lange Reihen von muslimischen Grabsteinen gezeigt, die die bekannten Bilder der Kreuze auf Soldatenfriedhöfen des Ersten Weltkrieges reflektieren und sich als visuelle Ankündigung einer erweiterten Erzählung oder Gegenerzählung verstehen lassen, die muslimisches Leid einbezieht.

Oral-History-Methoden zurückgegriffen, welche aufgrund der dürftigen Archivlage in der Region als notwendige Ergänzung zur Geschichtsschreibung darstellt werden.9 Entsprechend besucht Triki Nachfahren von zumeist zwangsweise rekrutierten Soldaten und befragt die Angehörigen nach der Geschichte ihrer Väter und Großväter. Framing und Bildgestaltung platzieren Triki häufig im Vordergrund von historischen Kriegsschauplätzen, wodurch eine dynamischere Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart erzeugt wird. Die musikalische Untermalung sorgt nicht selten für ein tragisches oder elegisches Element, der als katastrophisch oder tragisch dargestellten Geschichte und dient als Spannungselement bei Trikis diversen historischen Entdeckungen während seiner investigativen (Zeit-)Reise. Die erste Episode, The Arabs, beleuchtet gleichermaßen das enorme Leiden der Zivilbevölkerung in Nordafrika und im heutigen Libanon und Syrien, wie

9 Dabei kann man auf die starke Verankerung oraler Geschichtsvermittlung in der islamischen Kultur zurückgreifen. Bekanntlich lässt sich der Ausdruck ‚Koran‘ als Rezitation, also eine Form mündlicher Überlieferung der vom Propheten Mohammed empfangenen göttlichen Botschaft übersetzen. Deren heutige gültige schriftliche Fixierung erfolgte erst 1925 durch die Autorität der islamischen Gelehrten der Al-Azhar Moschee in Kairo. (Vgl. Fisch 2019).

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sie das komplexe Verhältnis von arabischen Soldaten zu den englischen und französischen Kolonialmächten vorführt. Die Darstellung der imperialen Rekrutierungsstrategien in Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen, Ägypten und Indien betont die unfreiwillige Teilnahme der zumeist muslimischen Soldaten an den Kriegshandlungen. In einer zentralen Szene der ersten Episode interviewt Triki den tunesischen Historiker Faysal Scherif, der die Weigerung einer Gruppe von Soldaten zum Kriegseinsatz an der Westfront mit den „muslim sensibilities“ der Männer begründet. Das Voice-Over kommentiert: Es dämmerte den ‚tunesischen Rekruten‘, dass sie nun gegen ‚Türken, Libanesen, Syrier, Irakis und Palästinenser‘ kämpfen könnten. „This deeply offended the Arab sensibilities“ (ARAB EYES, E1: 17:45), was sich bei einigen in Ungehorsam und Befehlsverweigerung verwandelte. Im Anschluss wird die Frage verfolgt, inwiefern die arabischen Soldaten an der Westfront als ‚Kanonenfutter‘ zum Einsatz kamen, zumal die Todesrate unter den Kolonialsoldaten deutlich höher gelegen habe. Da die investigative Frage sich in den Experteninterviews nicht klären lässt, werden Interviews mit Familienangehörigen der ehemaligen Soldaten hinzugezogen. In diesen wird die Motivlage der unfreiwilligen Kriegsteilnahme ihrer Väter und Charakterisierung der Rekrutierungen als einer Form der imperialen Herrschaftsstrategie bestätigt. Die Form der Zwangsrekrutierung wird so bekräftigt, ohne dass das darüber hinaus reichende Element der diskriminierenden Einsatzverwendung verifiziert würde. Historiografisch fällt auf, dass das zur Illustrierung der ‚muslimischen Empfindsamkeiten‘ herangezogene Beispiel der verweigerten Verschiffung tunesischer Soldaten an die Westfront unter der Bezeichnung „muslims fighting muslims“ nicht ganz einleuchtet, da dort kaum arabische Soldaten auf Seiten der Mittelmächte zum Einsatz kamen. Malek Trikis Kommentierung hebt dennoch die unfreiwillige Begegnung von Muslimen als Kriegsgegner durch mehrfache Wiederholungen hervor. In der zweiten Hälfte der Episode wird das wesentlich plausiblere Motiv von Zwangsrekrutierungen als Grund der Insubordinationen vertieft und darauf hingewiesen, dass der Große Krieg kaum ein Krieg der arabischen Bevölkerungen war, einerlei auf welchem der Schlachtfelder er sich zutrug. Die erste Folge schließt mit einemBesuch von Malek Triki im Audio-Archiv des eigens für muslimische Gefangene eingerichteten Lagers in Wünsdorf [heute Zossen; M.E.], nahe Berlin. Das Gefangenenlager mit der ersten Moschee Deutschlands wurde hauptsächlich zu Propagandazwecken errichtet, um muslimische Gefangene für die deutschen Anstrengungen zu gewinnen und religiös motivierte Unruhen in Teilen der englischen und französischen Kolonialreiche anzufachen. Deutsche Linguisten nutzen diese Situation zur Erstellung eines Audio-Archivs

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mit den Sprachen der Inhaftierten.10 Triki verwendet die an der Freien Universität Berlin gelagerten Archivbestände, um einen Ausdruck muslimisch-arabischen Leidens und Widerstandes hörbar zu machen. Ein marokkanischer Gefangener rezitiert singend ein mittelalterliches Gedicht über die Tugenden von Geduld und Widerstand aus byzantinischer Zeit. Damit schließt sich der dramaturgische und narrative Erzählzirkel, der mit der Darlegung muslimischen Leidens und Widerstands zu Beginn der Episode anhob. Das zur Inszenierung verwendete historische wie neugeschaffene Bildmaterial enthält keine auffälligen Darstellungen von entstellenden Verwundungen oder Leichnamen, wie sie im Kontext der Kriegsversehrungen des Ersten Weltkrieges keineswegs unüblich sind. In einer Gesamtbetrachtung der ersten Episode lassen sich das Leiden der Zivilbevölkerung, die Zwangsrekrutierung von Kolonialsoldaten wie die damit verbundenen „muslim sensitivities“ als dominante historiografische Narrative ausmachen. Die zweite Folge The Ottomans wendet sich dem Verhältnis der osmanischen Elite zu ihren arabischen Untertanen zu und fokussiert die Gründe der sogenannten Jungtürken zum Kriegseintritt (vgl. Kapitel 2). Dabei wird mithilfe von Experteninterviews ein komplexes Bild des Osmanischen Reiches entworfen, deren Befehlshaber nach den Balkankriegen zunehmend autoritäre Politiken verfolgen und letztlich auf das Deutsche Kaiserreich setzten, um eine Stabilisierung und Konsolidierung des Reiches zu bewirken. In einer längeren Sequenz werden die späte Nationalstaatsbildung, die erfolgreiche Industrialisierung und der preußische Militarismus als ein im Osmanischen Reich verbreitetes Vorbild für die gewünschte Modernisierung des angeschlagenen Imperiums herausgestellt. Das arabisch eingesprochene Gedicht eines libanesischen Poeten akzentuiert diese historische Glorifzierung des deutschen Modells über den ethnisch-türkischen Kontext hinaus (vgl. ARAB EYES, E2: 10:01‒20:00). Die Sequenz besticht durch die facettenreiche Bebilderung der historischen Hintergründe, die die Jungtürken in einer Mischung aus historischer Zwangslage und politischem Ehrgeiz dazu bewogen haben, sich den Mittelmächten anzuschließen. Der zweite Teil der Folge fokussiert das zunehmend brutalere Regime von Marineminister Cemal Pascha in den arabischen Provinzen des Reiches.11 Zwei Histori-

10 Bereits 2007 nahm sich Philip Scheffner in dem Essayfilm THE HALFMOON FILES der Geschichte des Gefangenenlagers an (vgl. Seider 2013). Die unsichtbar bleibenden Sprecherstimmen, die als Sound-Archiv vom Lager erhalten geblieben sind, scheinen eine Motivik des Geisterhaften nahezulegen, die die beiden Produktionen bei allen Differenzen des Formats und der Inszenierung verbindet. 11 Cemal Pascha ging ebenso hart gegen die zionistische Bewegung in Palästina vor. Kurz nach Kriegseintritt des Osmanischen Reiches wollte er die russischen Juden aus Palästina ausweisen.

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ker einer jordanischen und einer libanesischen Universität beschreiben die von Cemal angeordneten Exekutionen von arabischen Nationalisten in Damaskus und Beirut als Tiefpunkt arabisch-türkischer Beziehungen. Das für die osmanische Identität grundlegende Verhältnis habe einen historischen Wendepunkt erfahren, der bis heute nachwirke (ARAB EYES, E2: 23:20‒26:28). Zahlreiche Szenen zeigen, wie die ethnozentrische Politik der Jungtürken eine allgemeine osmanische Identität zu unterwandern beginnt. Auf der anderen Seite erhalten nationalistische Bewegungen Auftrieb. Der Krieg trifft die Zivilbevölkerung in der ressourcenarmen Region noch härter als in den europäischen Ländern. Im Experteninterview wird die Todesrate mit „anywhere between 14 and 25%“ (ARAB EYES, E2: 27:17) beziffert. Dazu trug eine Heuschreckenplage bei, die sich zusammen mit den Kriegsereignissen tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben habe. Triki besucht eigens eine über hundertjährige Libanesin, die das ungeheure Leiden bezeugt und filmisch authentifiziert. Hinzu kamen durch die Soldaten eingeschleppte Krankheiten, die sich in der Zivilbevölkerung rasch ausbreiten konnten. Dann wendet sich die Dokumentation dem katastrophalen Kaukasusfeldzug von Kriegsminister Enver Pascha im Dezember 1914 zu. Die hohe Anzahl an Toten durch Erfrieren unter den osmanischen Soldaten geht bekanntlich auf die schlechte Vorbereitung und Ausrüstung der Kampagne zurück. Das Voice-Over kommentiert, dass Enver Pascha die Schuld dafür auf die Armenier geschoben habe. Der daraufhin einsetzende Völkermord wird allerdings nicht mit dem Terminus Genozid gekennzeichnet, sondern als ein bis heute umstrittenes Geschehen geschildert. Dem türkischen Historiker Halil Berktay (Ibn Haldun Universität/ Tiaret-Algerien) wird Gelegenheit geboten, das türkische Masternarrativ von der aufständischen armenischen Minderheit und den ‚präventiven Maßnahmen‘ der Jungtürken auszubreiten. Die unterlegten Archivbilder zeigen allerdings Vertreibungen und Tötungen und scheinen eine andere Sprache zu sprechen. Das VoiceOver lässt den Widerspruch zwischen Bildebene und Experteninterview offen: „A 100 years on these events are still a matter of debate“ (ARAB EYES, E2: 36:01). Eine Folgeszene zeigt Malek Triki in Beirut, wo er einen armenischen Nachkommen der dorthin vertriebenen Bevölkerung interviewt. Die Szene bebildert den multiethnischen Reichtum des heutigen Beiruts als soziokulturelles Erbe des Großen Krieges. Die historischen Umstände der Vertreibung und das Leid der Vorväter werden von Triki an dieser Stelle nicht hinterfragt.

Diese stellten mit 20.000 Personen rund ein Drittel der jüdischen Bevölkerung [Jischuw; M.E.]. Dabei sei es nur der Intervention des deutsch-jüdischen Zionisten Richard Lichtheim zu verdanken gewesen, dass der deutsche Botschafter in Istanbul gegenüber Cemal Pascha aktiv wurde und der Jischuw insgesamt die Kriegszeit in Palästina überstand (vgl. Kirchner 2015, 129‒132 + 143).

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Triki setzt die Thematik der Minderheitenpolitik mit einer Reise nach Thessaloniki fort. Die Stadt war einst als ‚Jerusalems des Balkans‘ bekannt und beherbergte eine große, überwiegend sephardisch-jüdische Gemeinde. 1911 lebte David Ben-Gurion dort, um osmanisches Türkisch für sein Jurastudium zu lernen, das er nie abschließen konnte. Die Dokumentation nutzt Ben Gurions Lebensgeschichte, um den Einfluss des Zionismus als politischen Bestandteil der regionalen Entwicklungen auszubreiten. Interessanterweise wird eine kurze Szene mit Mustafa Kemal (Atatürk) einmontiert, der in Thessaloniki geboren wurde. So wird das Leben der beiden Führungspersönlichkeiten parallelisiert und auf eine biografische Augenhöhe gebracht. Dargelegt werden zunächst Ben Gurions vergebliche Bemühungen, jüdische Rekruten für die deutsch-osmanische Kriegsanstrengung zu finden und so dem Zionismus im Falle des Sieges ein Faustpfand zu verschaffen. Als absehbar schien, dass die Entente-Mächte siegreich aus dem Krieg hervorgehen würden, habe Ben Gurion die Koalitionen gewechselt. Die Sequenz zeichnet Ben Gurion als einen ‚Architekten‘ des modernen Nahen Ostens, der früher als andere die Möglichkeiten erkannte, die der Krieg für die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen bieten würde (ARAB EYES, E2: 41:05). Die Bildebene verhält sich durch das unterlegte Archivmaterial eher neutral oder gar sympathisierend, wenn etwa die Kamera in einer Gegenwartsaufnahme von den sonnigen Hügeln Haifas aufs Mittelmeer schaut. Der Zionismus wird in einem Atemzug mit arabischen und türkischen nationalen Bewegungen genannt und dadurch in Hinsicht auf das überwiegend muslimische Zielpublikum mit Legitimität ausgestattet. Diese Darstellungsweise ändert sich in der dritten Folge, die sich dem kolonialen Erbe des Krieges zuwendet, erheblich. Die Themen der dritten Episode sind das Sykes-Picot-Abkommen (1916), die Balfour-Deklaration (1917) in Verbindung mit der Staatsgründung Israels, das britische Bündnis mit dem Scharif von Mekka (1916) sowie die Abschaffung des Kalifats (1924) durch Mustafa Kemal, die eine neue Epoche im Verhältnis von Türken und Arabern einleitet. Damit werden die widerstreitenden britischen Versprechungen gegenüber Frankreich, den Zionisten sowie den aufständischen Arabern ins Zentrum der dokumentarischen Erzählung gerückt. Die Auflösung dieser konfligierenden Interessen stellt eine entscheidende politische und historische Weichenstellung dar, aus denen nach dem Krieg der moderne Nahe Osten hervorgeht. Es fällt auf, dass die Entstehung des Sykes-Picot-Abkommens mit seinen historischen Protagonisten die einzige Sequenz der gesamten Dokumentation ist, die ein Reenactment erfährt. In Szene gesetzt wird, wie in den geheimen Verhandlungen zwischen Sir Mark Sykes und François Picot die berüchtigte Linie vom E in Acre zu dem letzten K in Kirkuk auf einer Landkarte gezogen wird (ARAB EYES, E3: 10:00). Die Einstellung, die auch Teil der Episodenintros ist, macht klar, welches Gewicht dem Abkommen zugeschrieben wird und ist per-

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formativer Bestandteil für die Kodierung eines kulturellen Traumas durch den Krieg. Wiederholt wird auf die „lasting consequences“ (ebd.) für die Region hingewiesen. Eine Folgeszene mit Malek Triki am historischen Ort macht auf den weniger bekannten Sachverhalt aufmerksam, dass es der in der Region verachtete Mark Sykes war, der die noch heute gebräuchlichen Flaggen in Ländern wie Jordanien, Syrien, Irak, Jemen, die Arabischen Emirate oder Palästina entworfen hat (ARAB EYES, E3: 16:03). Trikis spöttischer Unterton ist bei der Kommentierung, in der er auf die beschädigte kulturelle Unabhängigkeit jener Staaten hinweist, kaum zu überhören. Als das Abkommen nach der Revolution in Russland durch die Sowjets bekanntgemacht wird, habe dies zunächst kaum Auswirkungen auf die letzte Phase der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Region gehabt. Die Dokumentation wendet sich mit den ‚langen Schatten‘ nun der Nachkriegsgeschichte zu, welche durch die koloniale Aufteilung auf die Region und insbesondere Palästina geworfen wurden. Palästina war von Verhandlungsführern Sykes und Picot als internationale Zone markiert worden, die erst später durch den Völkerbund einem britischen Mandat unterstellt wurde. In diesem Kontext wird die von Chaim Weizmann und Walter Rothschild propagierte ‚jüdische Heimstätte‘ thematisch, deren Unterstützung am zweiten November 1917 mit Hilfe des britischen Außenministers Lord Balfour zugesichert wurde. Im Experteninterview werden beide Abkommen als ‚Verschwörungen‘ gegen die Araber bezeichnet, was durch Trikis On-Kommentierung am historischen Ort in London bekräftigt wird. Der investigative Zeitreisende bekundet bedeutungsvoll, dass die Deklaration nicht aus der Feder von Lord Balfour, sondern Weizmann stamme. Die Inszenierung bedient die antisemitische Vorstellung einer direkten ‚jüdischen‘ Einflussnahme auf die internationale Politik, die an anderer Stelle durchaus hinterfragt wird. Insgesamt weist die Dokumentation eine komplexere und mitunter widersprüchliche Struktur in der Darstellung des Zustandekommens der Deklaration auf. Genannt und bildlich gezeigt werden der Antisemitismus in Europa und Russland, der die primäre Motivation für die zionistische Besiedelung Palästinas bildete, die kulturell-religiöse Nähe des protestantischen Englands zur romantisch gefärbten Vorstellung einer jüdischen Rückkehr ins ‚heilige Land‘ sowie weiterreichende diplomatische und bündnisstrategische Erwägungen, die auf einen vermeintlichen Einfluss von Juden in der amerikanischen Regierung unter Woodrow Wilson zurückgehen. Gerade das letztgenannte Motiv vom weltweiten Einfluss der Juden war mit seinem offenen oder unterschwelligen Antisemitismus im christlichen Europa weit verbreitet (vgl. Kirchner 2015, 149), wie die Dokumentation durch Expertenkommentare herausstellt. Darüber hinaus wird in einem längeren Experteninterview die englische Unterstützung des zionistischen Projektes als strategi-

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sche Intervention beschrieben, die Teile des Sykes-Picot-Abkommens rückgängig machen, beziehungsweise im britischen Interesse verändern sollte. Dies ging von der Vorstellung aus, dass man durch eine von England abhängige zionistische Bewegung erheblichen Einfluss auf das als internationale Zone markierte Palästina gewinnen könne. Die Idee bezüglich der britischen Kontrolle über Palästina sollte sich mit der Ratifizierung des Völkerbundmandats im Juli 1922 realisieren, ohne dass man im britischen Außenministerium in White Hall die damit verbundenen Schwierigkeiten adäquat eingeschätzt hatte. Insgesamt markiert die Dokumentation beide Abkommen als Verrat an der regionalen arabischen Bevölkerung sowie gegenüber dem Scharifen von Mekka und kodiert diese durch ihre bis heute fortwirkende Bedeutung als kulturelle Traumata. Ein weiteres Element bei der Kodierung eines regionalen kulturellen Traumas liegt in der Aufhebung des Kalifats, die zwar erst 1924 von Mustafa Kemal realisiert wird, aber ein durchgängiges Thema der Dokumentation ist. Diese findet ihren bildlich und emotional stärksten Ausdruck in der dritten Episode, die zu den Konsequenzen des Krieges überleitet. Das Voice-Over kommentiert am Ende einer Sequenz, die sich mit Kemals Politik der Modernisierung und Säkularisierung des neu gegründeten türkischen Staates befasst: With the bond between Arab and Turk now broken, Mustafa Kemal and the independent Turkish state turned their backs not only at their own past but on the Arab people as a whole. The Arabs were now on their own. (ARAB EYES E3: 38:50‒40:50)

Der Tonfall der Kommentierung verlässt an dieser Stelle deutlich eine neutrale Bewertung und bewegt sich zwischen tiefem Bedauern und Verzweiflung. Die bildliche Ebene pointiert diese Entwicklung durch abgefilmtes Archivmaterial. Bild- und Tonebene bestärken die Wahrnehmung einer verarmten Bevölkerung, deren osmanische Protektoren vertrieben wurden und die nun der Kontrolle der westlichen Imperialmächte ausgesetzt ist (Abb. 26). Es ist sicher kein Zufall, dass der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal eine überaus ambivalente Figur der Dokumentation abgibt. Die von ihm durchgeführte Abschaffung des Kalifats wird durch seine Führungsrolle in Gallipoli und während des türkischen Unabhängigkeitskrieges konterkariert. Bereits in der ersten Episode rezitiert Malek Triki ein arabisches Gedicht, das Kemal in eine Reihe mit Khalid Ibn Al-Wahid, einem Weggefährten Mohammeds stellt, dem die Gründung des Kalifats zugesprochen wird (ARAB EYES E1: 36:25‒36:45). Der Staatsgründer der modernen Türkei repräsentiert einerseits die Fähigkeit zur muslimischen Gegenwehr und ist als solcher Quelle des Stolzes, wie er an-

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Abb. 26: ARAB EYES – Verelendungsmotiv und kulturelles Trauma. Die Bildebene stützt die Kodierung eines kulturellen Traumas, indem die Situation ‚der Araber‘ nach Aufhebung des Kalifats durch Mustafa Kemal (Atatürk) als Verelendung illustriert wird. Zu sehen ist eine in Decken gehüllte, ausgemergelte, aber lächelnde Frau mit zwei Kindern an einer offenen Feuerstelle. Der nicht weiter benannte Ort deutet auf die allgemeine Verbreitung des Elends hin.

dererseits die innerislamische Solidarität im Zuge seiner Modernisierungspolitik aufgekündigt hat. Die dokumentarische Narration markiert den Niedergang des Kalifats als kulturelles Trauma, das bis heute nachhallt.12 Die zweite Hälfte der dritten Folge rückt zu den Gegenwartsproblemen im Nahen Osten vor. Dieser direkte Bezug zur Tagespolitik ist typisch für historische Dokumentationen, die sich mit der Geschichte der Region befassen, wie sich bei den diesbezüglichen Arte-Produktionen noch zeigen wird. Man mag das als Ausweis der fortbestehenden Probleme ansehen oder als mediale Konstruktion einer historischen Kontinuität werten. In jedem Fall stellt sich die Frage, wie die mediale Konstruktion von Kontinuität erzeugt wird und mit welchen historiografischen Narrativen sie verbunden ist. Im vorliegenden Fall werden eine Reihe von

12 Die fortbestehende Bedeutung dieser religiösen Institution sowie ihrer Beschädigung lässt sich erinnerungskulturell an so unterschiedlichen Referenzen wie der Ausrufung eines Kalifats durch den Islamischen Staat oder den häufigen Bezugnahmen des derzeitigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ablesen. Erdoğans Bezugnahmen auf das osmanische Erbe der Türkei können unschwer als Versuche gewertet werden, den eigenen Einfluss in der Region zu vergrößern (vgl. Arango/Gordon 2016).

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arabischen Aufständen gegen die koloniale Besatzung in der Region thematisiert. Entscheidend für den visuellen Sprung in die Gegenwart ist aber die negative Bezugnahme auf die Staatsgründung Israels und damit ein anti-zionistisches Narrativ. Das Voice-Over kommentiert: „The Arab world could not unite to prevent the state of Israel becoming a reality in the heart of the Arab world“ (ARAB EYES E3: 44:35–46:50). Die harsche Verurteilung der israelischen Staatsgründung wird mit den Gegenwartsproblemen verbunden: „and the aftermaths have been felt through the Middle East ever since“ (ebd.). Eine Reihe von Bildern und Szenen von Gegenwartskonflikten suggerieren visuell, dass diese kausal mit der israelischen Staatsgründung zusammenhängen. Umgekehrt wird durch die gewählte Formulierung einer „Arab world“ eine arabische Einheit evoziert, die sich negativ auf die Existenz Israels bezieht. Diese abwertende Charakterisierung des zionistischen Projektes steht in krassen Kontrast zu der am Ende der zweiten Episode vorgeführten Bewertung. Bildlich wird eine Kontinuität der beiden Folgen durch die Person David Ben Gurions hergestellt, der nun bei seiner Rede zur Staatsgründung Israels zu sehen ist. Die widerstreitenden Haltungen gegenüber dem Zionismus und der israelischen Staatsgründung lassen sich teilweise auf das eingangs erwähnte Medienkonzept des Senders beziehen, nach dem alle Perspektiven darzustellen sind. Andererseits überwiegt durch die Positionierung der Sequenz gegen Ende der Dokumentation und deren narrativer Funktion, in die Gegenwart überzuleiten, deren anti-zionistische Botschaft. Somit wird die Staatsgründung Israels zu einem weiteren kulturellen Trauma für die Region, mit der negativ eine arabische Einheit korrespondiert. In einer deutschen Adaption der Aljazeera-Dokumentation durch Dana Trometer13 und Malek Triki, die im September 2016 auf Phoenix ausgestrahlt wurde,14 hat man die oben angeführte Sequenz herausgeschnitten und stattdessen einen Verweis auf die Verbindung eines Anführers der arabischen Aufständischen, Fawzi al-Qawuqji, zum Nationalsozialismus hingewiesen. Der Hauptteil der dreiteiligen Dokumentation bleibt weitgehend unverändert. Lediglich zu Beginn werden Experteninterviews mit Heike Liebau (Zentrum Moderner Orient/Berlin) und Peter Heine (Humboldt Universität/Berlin) einmontiert, die ebenfalls historische Kommentare in der englischen Fassung sprechen. Da die Interviews keine zusätzlichen oder abweichenden Informationen liefern, kann man davon ausgehen, dass sie vorwiegend

13 Dana Trometer ist eine in London ansässige Filmmacherin, die ihrer Homepage zufolge zu einem späteren Zeitpunkt von Aljazeera in die Produktion einbezogen wurde. Vgl. https://da natrometer.com/ww1-arab-eyes/#more-614 (14. April 2019). 14 Dana Trometer and Malek Triki: http://www.phoenix.de/content/phoenix/die_sendungen/ 1129579 (25. Januar 2018).

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die Funktion haben, die dokumentarische Erzählung für ein deutschsprachiges Publikum wissenschaftlich zu autorisieren. Es bedarf keiner allzu großen Interpretationsleistung, um die beschriebenen inhaltlichen Änderungen als Anpassungen an die geltenden Normen des deutschen Geschichts- und Erinnerungsdiskurses einzuordnen. Der Verweis auf die Tätigkeiten von al-Qawuqji15 für die Nationalsozialisten sowie die Löschung der antizionistischen Szene markieren Sensibilitäten, die der Akzeptanz der Dokumentation bei einem deutschen Publikum insgesamt entgegenkommen. Gleichzeitig beweist die TV-Dokumentation eine hohe Adaptionsfähigkeit für einen internationalen Markt, der – wie sich noch zeigen wird – ebenfalls die Arte-Dokumentationen auszeichnet und ein formattypisches Merkmal ist.

Historiografische Elemente eines kulturellen Traumas im Nahen Osten In der Dokumentation lassen sich zusammenfassend fünf narrative Elemente identifizieren, die jedes für sich die fortwirkenden Gewalterfahrungen des Großen Krieges als traumatisch kodieren und die in ihrem Zusammenspiel als kulturelles Trauma bei der Entstehung des modernen Nahen Ostens aufgefasst werden können. Diese historiografischen Elemente sind nicht einfach Erfindungen der Aljazeera-Dokumentation, sondern korrespondieren mit dem allgemeineren historischen und erinnerungskulturellen Diskurs der Region.16 Die nachfolgende Auflistung setzt die visuell aufbereiteten Narrative sowie die textuelle Ebene der Geschichtsdeutungen in den Experteninterviews und der Off-Kommentierung mit Befunden der Forschungsliteratur in Verbindung. Es fällt auf, dass die Konstruktion des inszenierten kulturellen Traumas eine pan-arabische muslimische Identitätskonstruktion begünstigt, die als Zielgruppe des Senders gelten kann.

15 Die deutsche Transliteration des Namens lautet Fausi al-Kawukdschi. Laut WikipediaArtikel war Kawukdschi in den 1920er und 30er Jahren an Aufständen gegen die französischen und englischen Kolonialmächte beteiligt. Anfang der 1940er Jahre fand er im nationalsozialistischen Deutschland Zuflucht und arbeitete im Rang eines Offiziers als „Agent der Wehrmacht für Palästina“ (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Fausi_al-Kawukdschi (16. April 2019). In der englischsprachigen Aljazeera-Dokumentation wird al-Kawukdschi als muslimisch-arabischer Widerstandskämpfer durch die Kommentierung regelrecht verehrt, während die deutsche Adaption seine Person klar negativ bewertet. (Für weiterführende Literatur vgl. Parsons 2016). 16 So lassen sich etwa auf einer staatlich-jordanischen Homepage unter dem Titel Arab Revolt die meisten der weiter unten genannten historischen Elemente des hier identifizierten kulturellen Traumas finden (vgl. http://www.kinghussein.gov.jo/his_arabrevolt.html [25. Juni 2019]).

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Zivilgesellschaftliches Leiden: Die Todesrate in der Zivilbevölkerung der Region durch Hunger und Krankheiten war höher als in Europa. Dies kam durch den Abzug von Arbeitskräften und der Bereitstellung der knappen Nahrungsressourcen für das Militär und die Kriegszerstörungen selbst zustande (vgl. Fawaz 2014, Kap. 3 + 4).17 Ikonografisch ragt die durch eine Heuschreckenplage verschärfte Situation in Großsyrien aus dieser katastrophalen Situation noch heraus (vgl. Coates Ulrichsen 2014, Pos. 5880; Rogan 2015, Pos. 5548).18 Diese wird im zweiten Teil der Dokumentation hervorgehoben. 2. Koloniale Zwangsrekrutierung: Die arabische Bevölkerung wurde in einen Krieg gezwungen, der nicht der ihre war. Dies bezieht sich in der Darstellung der Dokumentation vorwiegend auf die englischen und französischen Kolonialmächte und deren Rekrutierungsstrategien in Nordafrika, Indien und anderen Teilen der imperialen Staatsgebiete. In ARAB EYES wird dem Sachverhalt, dass ‚Muslime gegen Muslime‘ kämpfen mussten, eine herausragende Stellung zugewiesen. Obwohl es Zwangsrekrutierungen auch in der osmanischen Armee gab, werden diese als weit weniger problematisch dargestellt. Dies deckt sich mit jüngeren Untersuchungen, die einen höheren Konsens in der arabischen Bevölkerung gegenüber der osmanischen Kriegsanstrengung betonen (vgl. Tamari 2011, 15). 3. Sykes-Picot-Abkommen: Die gebrochenen Versprechungen der Briten gegenüber dem Scharif von Mekka und dessen Sohn Faisal als ihren Verbündeten erfährt in ARAB EYES die im erinnerungskulturellen Diskurs geläufige Kodierung als kulturelles Trauma. Obwohl Sykes-Picot nie direkt implementiert wurde, gilt es als Signifikant von gebrochenen Versprechungen und einem generellen Misstrauen gegenüber westlicher Politik in der Region (vgl. Rogan 2015, Pos. 6684). 4. Abschaffung des Kalifats: Die Abschaffung des Kalifats durch Mustafa Kemal 1924 im Zuge seiner Reformpolitik wird als Zäsur im Verhältnis zwischen Türken und Arabern und tiefreichender Einschnitt in der Geschichte des Islams dargestellt. Historisch wird das vor allem an Cemal Paschas brutalem Regime in Greater Syria festgemacht, wo er die Exekution von zahlreichen arabischen Intellektuellen und Nationalisten in Beirut und Damaskus anordnete (vgl. Fawaz 2014, Pos. 5233). Die Exekutionen werden allgemein

17 Fawaz führt aus, dass der Krieg in Syrien bis heute aufgrund der miserablen soldatischen Ausrüstung als ‚Barfusskrieg‘ bezeichnet wird (2014, Pos. 1992). 18 Der osmanisch-türkische Ausdruck für Generalmobilmachung „Seferberlik“ gilt als Ausdruck für diese allgemeine Notsituation während des Krieges (Fawaz 2014, Pos. 3572). Ein gleichnamiger libanensischer Spielfilm SAFAR BARLIK von Mitte der 1960er Jahre erzählt von der Zwangskonskription und nationalem Widerstand.

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als Wendepunkt im Verhältnis zwischen Türken und Arabern angesehen und stellen den Beginn des Endes einer gemeinsamen osmanischen Identität dar. Der epochale Einschnitt der Abschaffung des Kalifats verbindet sich mit der Nationalstaatengründung in der Region unter imperialer Vorherrschaft und Kontrolle. Dies hat der Legitimität der westlichen Regierungsformen von Demokratie und politische Selbstbestimmung im Rahmen der Nation-Form eine bis heute andauernde empfindliche Schlagseite zugefügt. (Vgl. Hourani 1991, 319; Fromkin 2009, 572–573) Staatsgründung Israel: Der Zionismus und die Gründung des Staates Israel erfahren eine widersprüchliche Darstellung in den einzelnen Episoden der Dokumentation, können aber aufgrund der visuellen Aufladung und starken dramaturgischen Positionierung gegen Ende der dritten Episode als weiteres kulturelles Trauma gewertet werden. Entscheidend ist, dass in der englischsprachigen Version die anti-israelische Darstellung dazu benutzt wird, eine arabische Einheit zu evozieren, der eine kausale Rolle für gegenwärtige Konflikte zugewiesen wird. Es entsteht eine direkte Linie von der Darstellung der Balfour-Erklärung zu den Gegenwartsproblemen der Region.

Insgesamt kann das historische Narrativ der Dokumentation als Versuch angesehen werden, ein muslimisch-arabisches Wir aus der Geschichte des Großen Krieges zu evozieren. Dies geschieht, indem verschiedene kulturelle Traumata aus der historischen Erfahrung herausdestilliert und in eine politisch-kulturelle Konstellation gestellt werden, die sich als ‚gewaltvolle Epochenschwelle des modernen Nahen Ostens‘ apostrophieren lässt. Ein gegen Ende der dritten Episode gesprochener Expertenkommentar vollzieht dies gar explizit, wenn die katastrophalen Folgen des Krieges mit dem Einfall der Mongolen Mitte des dreizehnten Jahrhunderts gleichgestellt werden (ARAB EYES E3: 45:04‒45:30). Dabei kann die Dokumentation einiges zu Tage fördern, was im westlich dominierten Erinnerungsdiskurs kaum Erwähnung und schon gar keine Bebilderung findet. Aufstände und Insubordination gegen die Kolonialmächte England und Frankreich, das komplexe und widersprüchliche Verhältnis der arabischen Bevölkerung zu den Osmanen sowie biografische Erfahrungsgeschichten des Leidens in Nordafrika und im Nahen Osten, um nur einige der oben aufgeführten Punkte zu nennen. Insofern ist die AJE-Produktion als Meilenstein in der erinnerungskulturellen Konstruktion eines arabischen Gedächtnisses des Großen Krieges anzusehen. Dazu zählt ein dezidiert anti-zionistisches Narrativ, das sich in eine überwiegend negative Haltung gegenüber dem israelischen Staat übersetzt. Dieses konfligiert mit einer westlichen Perspektive, die vor dem Hintergrund der deutschen und europäischen Geschichte des Antisemitismus eine solche Situierung unakzeptabel macht.

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Multiperspektivische Konfliktgeschichte des Nahen Ostens – SYKES-PICOT und BALFOUR DECLARATION AT 100 Zwei weitere, ereignisgeschichtliche AJE-Dokumentationen, die sich anlässlich des Zentenariums ausschließlich auf die Balfour-Erklärung beziehungsweise das Sykes-Picot-Abkommen beziehen, unterstreichen die Bedeutung dieser Abkommen für das regionale Gedächtnis. SYKES-PICOT. LINES IN THE SAND19 und BALFOUR DECLARATION AT 100: SEEDS OF DISCORD wurden in Zusammenarbeit mit der in London ansässigen Firma Noon Films hergestellt, die für die BBC, Aljazeera und Al-Araby Dokumenationen und andere TV-Programme realisiert.20 Bemerkenswert ist, dass in beiden Produktionen, von denen sich insbesondere SYKES-PICOT ausführlicher mit den politischen Konsequenzen des Abkommens befasst, Expertinnen und Experten aus den vom Konflikt betroffenen Ländern zu Wort kommen und deren teilweise gegensätzlichen Einschätzungen durch die Montage hervorgehoben werden. Das bestärkt die eingangs angestellte Untersuchungshypothese, nach der das multiperspektivische Sendekonzept in die Konzeption der Dokumentationen eingewandert ist. LINES IN THE SAND wurde zum hundertjährigen Jubiläum des Geheimabkommens im britischen Fernsehen ausgestrahlt und hat eine weltweite Distribution durch das Aljazeera-Netzwerk sowie auf Youtube21 erfahren. Der erste Teil beinhaltet eine ausgezeichnet recherchierte Dokumentation des Zustandekommens des Sykes-Picot-Abkommens. Die Dokumentation bedient sich wie bereits WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES zahlreicher Experteninterviews, nachgestellter Szenen, dramatischer Musikuntermalung, On-Location-Aufnahmen, historischem Archivmaterial und Voice-Over Kommentierung, um die komplexe politische und diplomatische Situation nachzuzeichnen. Allerdings verzichtet man auf einen auktorialen Erzähler und investigativen Journalisten, wodurch die narrative und historiografische Stellung der Experteninterviews aufgewertet wird. Das Deutsche Kaiserreich und die Habsburger-Monarchie bleiben in der historischen Betrachtung weitgehend außen vor, was angesichts der thematischen Ausrichtung nicht weiter verwunderlich ist. Dagegen erfahren die Interessen

19 Regie führten Richard Platt und Mohammed al-Saedi. Al-Saedi ist Journalist und Filmemacher, der für Aljazeera und BBC arbeitete und 2016 Noon Films gründete. Vgl. https://www. imdb.com/name/nm4109579/bio?ref_=nm_ov_bio_sm (22. April 2019). Platt partizipierte ebenfalls in der Gestaltung von BALFOUR DECLARATION AT 100. 20 Vgl. https://www.noonfilms.com/about-us (04. März 2019). 21 Der erste Teil hatte zum Zeitpunkt der Untersuchung 63.135 Aufrufe, während der zweite mit rund 20.000 Besuchen deutlich schwächer frequentiert war (vgl. https://www.youtube. com/watch?v=Whj3XE4OO_s, 24. März 2019).

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des zaristischen Russlands eine erhöhte Aufmerksamkeit. Zunächst wird auf die vorkriegszeitlichen jungtürkischen Ersuchen an England, Frankreich und Russland als Schutzmächte hingewiesen, deren Zurückweisung die Osmanen dem Deutschen Kaiserreich näherbrachte. Anschließend kommen in mehreren Historikerinterviews Russlands geopolitische Interessen zur Sprache, die Istanbul und den Zugang zum Mittelmeer als Kriegsbeute beinhalten. Diese wurden im ebenfalls geheim gehaltenen Abkommen von Konstantinopel zwischen Februar und April 1915, kurz vor der Gallipoli-Offensive, mit England und Frankreich besiegelt (SYKES-PICOT E1: 09:15–11:58). Dieser Verweis, der die diplomatische Vorbedingung für die englisch-französische Aufteilung der Region durch Sir Mark Sykes und François Picot darstellt, findet sich in keiner der anderen Zentenariumsdokumentationen auch nur annähernd elaboriert dargestellt. Das dürfte einerseits mit dem thematischen Fokus, andererseits mit einer höheren Sensibilität gegenüber den Konsequenzen für das Osmanische Reich und der Region insgesamt zusammenhängen. Die russische Revolution hat ein Großteil der geopolitischen Kalkulationen beider Abkommen zur Makulatur werden lassen. Zum Verständnis der historischen Kräftekonstellation und dafür, was für die Osmanen und deren arabische Provinzen auf dem Spiel stand, ist der Verweis aber von großer Bedeutung.22 Die zweite Hälfte der ersten Folge23 fokussiert mit einer Reihe von nachgestellten Szenen die diplomatische Auseinandersetzung zwischen Briten und Franzosen um die genaue Gebietsaufteilung der Gebiete des Osmanischen Reiches. Dramatischer Höhepunkt ist die schon von WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES bekannte Reenactment-Szene, der von Sir Mark Sykes und François Georges-Picot vorgenommenen Aufteilung der Ländergrenzen (SYKES-PICOT E1: 42:15). Im Unterschied zu der Szene aus ARAB EYES werden die Differenzen und unterschiedliche Interessen der britischen und französischen Imperialmächte weit mehr hervorgehoben. Historiografisch folgt die Dokumentation den bekannten Erklärungen, dass die Engländer darauf bedacht waren, eine Pufferzone zum als russisch dominiert gedachten Anatolien einzurichten sowie eine Bahnverbindung von Basra ans Mittelmeer zwecks Transport von Erdöl und einem Landweg nach Indien zu schaffen, während die Franzosen auf ihre historische Stellung entlang der Levante hinwiesen und ebenfalls das Öl in Mesopotamien im Blick hatten. Wiederholt werden die Franzosen nicht ohne einen Anflug von Ironie mit der Tradition der Kreuzritter in Verbindung gebracht (SYKES-PICOT E1: 33:10 und 38:12). Der historische Kompromiss durch das Sykes-Picot-Abkommen lag in der Einrichtung von internationalen 22 Siehe Kapitel 2. 23 Die einzelnen Folgen der Aljazeera-Dokumentationen sind zumeist in zwei Sendeblöcke von je 22 Minuten geteilt, weshalb sich häufig eine entsprechende Aufteilung der historischen Themenblöcke ergibt.

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Zonen und Mandatsgebieten, was insbesondere für Palästina weitreichende Folgen haben sollte. In diesem Abschnitt der Dokumentation kommen die Verhandlungen mit dem Scherifen von Mekka, Hussein Ibn Ali, zur Sprache und dessen Versuch, ein arabisches Königreich unter haschemitischer Führung zu errichten. Eine längere Sequenz mit Experteninterviews legt dessen historisch-politische Position dar und führt aus, dass die von britischer Seite bewusst vage gehaltenen Zusagen und deren schlechte Übersetzung ins Arabische mit zum späteren Zerwürfnis der Bündnispartner beigetragen haben. Ohne besondere Sympathien für den Plan des haschemitischen Königreiches zu erwecken, weist das historische Narrativ durch den Expertenkommentar des Historikers Eugene Rogan auf das „double dealing“ (SYKES-PICOT E1: 46:25) der Briten mit ihren arabischen Verbündeten hin. Die dramaturgisch und historiografisch angeleitete Kontrastierung von Sykes-Picot mit den gebrochenen britischen Versprechungen gegenüber dem Scherifen von Mekka evoziert durch seine fortdauernde Bedeutung ein kulturelles Trauma für die Region. Die erste Hälfte der zweiten Folge wendet sich historiografisch der Zeit unmittelbar nach Unterzeichnung des Sykes-Picot-Abkommens zu. Bereits kurz nach dem Abkommen mit den Franzosen habe man von britischer Seite Kontakt zur zionistischen Bewegung gesucht, um die offen gehaltene Frage nach der Mandatsmacht in Palästina im Hinblick auf die eigenen Interessen zu beeinflussen. Wie in ARAB EYES wird angeführt, dass antisemitische Motive innerhalb der britischen Regierung – wie die vermeintliche Beeinflussung der amerikanischen Regierung durch hochrangige jüdische Kabinettsmitglieder – zur britischen Unterstützung der zionistischen Bewegung beigetragen haben. Letztere erfährt allerdings keinerlei Sympathie und die musikalische Untermalung schwenkt auf bedrohlich um, sobald die Rede darauf kommt (SYKES-PICOT E2: 03:12–03:40). Der britisch-israelische Historiker Avi Shlaim weist auf Chaim Weizmanns Version eines politischen Zionismus hin, der von Anfang an die Vorstellung hatte, einen unabhängigen jüdischen Staat zu errichten. In diesem Kontext wird die historiografische Debatte aufgegriffen, wie sich die Briten gegenüber Juden und Araber positionierten, wobei die Dokumentation durch die bereits ausgeführte Darstellung der These zuneigt, dass es eine Bevorzugung der Zionisten bei den Briten gab. Die französische Bereitschaft, territoriale Zugeständnisse im Nahen Osten an England zu machen, wird mit einer nachgestellten Szene des Treffens zwischen Premierminister Lloyd George und Präsident Georges Clemenceau kurz vor der Eröffnung der Verhandlungen in Versailles bebildert. Dem als sichtlich überrascht inszenierten englischen Premier werden Mossul und Palästina im Austausch für die von der französische Seite geforderten harscheren Sanktionen gegenüber dem Deutschen Kaiserreich offeriert, wie der Historiker Basheer Nafi im Experteninterview ausführt. Die OffKommentierung wertet dies als erste Anzeichen für eine Umschreibung der im

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Sykes-Picot-Abkommen getroffen Absprachen, die den neuen Maßgaben der siegreichen Imperialmächte folgten (vgl. SYKES-PICOT E2: 09:50–11:47). Danach wird in groben Zügen die Entwicklung der Region bis zum Zweiten Weltkrieg umrissen, nach dem die meisten Staaten ihre zumindest formale Unabhängigkeit erlangten. Es wird herausgestellt, dass die Form des Nationalstaats als koloniales Top-Down-Projekt im Nahen Osten Einzug hält, der es nicht gelungen ist, die Interessen der unterschiedlichen lokalen Akteure zu befrieden. Die historische Verantwortung für die gegenwärtige Misere der Region wird allerdings keineswegs ausschließlich den westlichen Akteuren zugespielt. Das Voice-Over fragt vielmehr: „British and French Forces left [Nach Oktober 1946; M.E.]. But now there are sometimes different views as to whether the borders the powers drew, were really the root cause of the problems that the Arab world has experienced since“ (SYKES-PICOT E2: 21:30). Darauf folgen drei aneinander montierte Interviews mit Historikern, aus denen sich verschiedene Lesarten der Fragestellung ergeben: Eugene Rogan (Oxford University) betont, dass es sehr schwierig sei, die regionalen Probleme im einundzwanzigsten Jahrhundert dem Sykes-Picot-Abkommen zuzuschreiben, dem allenfalls die Rolle einer Ursünde („original sin“) zufalle. Diese bestehe darin, die lokale Bevölkerung nicht in die Grenzziehungen einbezogen zu haben. Basheer Nafi (Birbeck College/London)24 hebt die destruktive Rolle der Nation-Form bei der Aufteilung des osmanischen Imperiums hervor. Diese habe die Region durch Politiken der Ethnisierung und künstlichen Grenzziehungen in einen blutigen Konflikt gestürzt. Der an der Columbia Universität lehrende palästinensisch-amerikanische Historiker Rashid Khalidi evoziert ein regionales Wir, wenn er den Nahen Osten als diejenige Region herausstellt, deren Einwohner von jeher im Zentrum der Weltgeschichte standen. Einerlei, ob diese die Einmischung von außen wollten, waren ‚wir‘ seit jeher damit konfrontiert. Er postuliert einen weltgeschichtlichen Spannungsbogen, nach dem die Region seit jeher als symbolisches Machtzentrum der jeweiligen Herrscher angesehen wurde. Dabei kann die verwendete Wir-Form als Adressierung des überwiegend migrantischen Zielpublikums von AJE verstanden werden, der er seine eigene Sprecherposition zurechnet (SYKES-PICOT E2: 21:45–23:08). Sicher nicht zufällig schließt der erste Teil der Folge mit diesem Identifikationsangebot. Es zeichnet sich die programmatische Struktur des AJE-Formats ab, nach der divergierende oder teils widersprüchliche Geschichtsauffassungen offeriert werden, ein pan-arabisches Motiv als Identifikationsangebot aber als dominierend erscheint. 24 Nafi fungiert bei Aljazeera als historischer Berater und ist regelmäßiger Sprecher der jährlichen Aljazeera Foren (vgl. http://forum.aljazeera.net/archive/speakers/basheer-musa-nafi. html, 02. Mai 2019). In der vorliegenden Dokumentation finden sich seine Expertenkommentare in nahezu allen Themenblöcken.

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Die zweite Hälfte der Folge geht der Fragestellung des Voice-Overs nach, ob die Supermächte des einundzwanzigsten Jahrhunderts die Lektionen von SykesPicot (SYKES-PICOT E2: 23:23) ignoriert haben, indem sie eine weitere Zerstückelung der Region betreiben. Die Thematik wird anhand drei gleich großer Sendeblöcke über Israel/Palästina, Irak und Syrien verfolgt. Mit Bezug auf die britische Mandatspolitik in Palästina wird durch verschiedene Historikerinterviews die Lesart bestärkt, nach der eine deutliche Bevorzugung jüdischer Interessen vorlag. Visuell werden Archivaufnahmen immigrierender Juden aus den 1930er Jahren verwendet, die zwischen die Experteninterviews geschnitten sind und größtenteils durch die Interviewaussagen kommentiert werden. Die internen Konflikte und Widersprüche der britischen Palästinapolitik während der Mandatszeit gehen hier weitgehend verloren (vgl. Shlaim 2005, 260‒261; Morris 2001; Segev 2001). Der steile Sprung in die Gegenwart erfolgt – wie schon in ARAB EYES – über die Thematik der israelischen Staatsgründung und deren Siedlungspolitik. Letztere wird als konsequente Weiterentwicklung des zionistischen Projektes vorgestellt, das eine Übernahme der Gebiete bis zum Jordan vorsieht und einer Zweitstaatenlösung eine klare Absage erteilt. Von israelischer Seite kommen der Historiker und ehemalige israelische Außenminister Schlomo Ben Ami und wiederum Avi Shlaim zu Wort. Ben Ami skizziert das israelische Siedlungsprojekt, das etwa auch der gegenwärtige israelische Präsident Reuven Rivlin vertrete, als binationalen Staat, in dem Palästinenser gleiche soziale, ökonomische und kulturelle Rechte haben, ihnen ein politisches Selbstbestimmungsrecht aber vorenthalten werde (SYKESPICOT E2: 29:20–30:00). Durch die Auswahl der israelisch-britischen Experten, die im linken politischen Spektrum zu verorten sind, hält sich der Widerspruch zu den anderen Expertenkommentaren in Grenzen. Repräsentiert wird eine Position, wie man sie aus dem akademischen Diskurs der sogenannten Neuen Historiker (Morris 2007) kennt und weniger eine Abbildung heutiger israelischer Parteioder Regierungspolitiken. Im thematischen Kontext der Eingangsfrage – ob die gegenwärtigen Führungsmächte die Fehler der Vergangenheit wiederholen – figuriert der israelische Staat als eine mit britischer Unterstützung ins Leben gerufene Zerstückelung der Region, da sich in einer abzeichnenden Einstaatenrealität keine Einigung oder politische Gleichberechtigung zwischen Israelis und Palästinensern herstellt. (SYKES-PICOT E2: 23:30–30:15) Der zweite thematische Block beginnt mit dem US-amerikanischen Angriff auf den Irak 2003. Hier wird durch Experteninterviews auf die separatistische Logik der amerikanischen Politik nach der Absetzung von Saddam Hussein hingewiesen. Dabei kommen irakische, iranische, britische und amerikanische Experten zu Wort. Der Tenor der Kommentare in Bezug auf die obige Fragestellung ist eindeutig: Die Nachkriegspolitik der USA habe durch die Ethnisierung des Konflikts zur Destabilisierung der Region beigetragen und damit nichts aus Sykes-

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Picot gelernt. Auf der Bildebene halten Nachrichtenaufnahmen von Kampfhandlungen Einzug, die Explosionen und zerstörte Städte sowie Verletzte oder Tote zeigen. Bilder und Kommentierung bestärken die Wahrnehmung eines zerrissenen Nahen Ostens, der um eine politische Form der Stabilisierung kämpft. Insofern erscheint es im Sinne des Aljazeera-Sendekonzepts konsequent, nun die verschiedenen Konfliktparteien zu Wort kommen lassen, was durch eine innerarabische Diskussion um die separatistische Aufteilung des Iraks geschieht. Hier äußern sich umstrittene Experten, wie der im Irak zum Tode verurteilte Tariq al-Hashimi25 ausführlich zu den Gegenwartskonflikten. Dieser erläutert, dass der schiitische Iran versuche, die alte territoriale Einheit des ‚sassanidischen Imperiums‘26 wiederherzustellen (SYKES-PICOT E2: 34:52–35:20) und daher mittels einer separatistischen Politik auf die Teilung des Landes dränge. Dem stellt ein als Berater des iranischen Parlaments präsentierter Experte, Hussein Shaikh al Islam, entgegen, dass man um die Stabilität des Nachbarn besorgt sei, weil man acht Jahre unter einem aufgezwungenen Krieg gelitten habe27 und den feindlichen Einfluss auswärtiger Mächte fürchte. Die konfligierenden Narrative werden nicht weiter hinterfragt, stattdessen wird thematisch auf die kurdische Minderheitenposition im Norden des Landes umgeschwenkt und in diese historisch kurz eingeführt. Abschließend skizziert ein Expertenkommentar die durch Sykes-Picot initiierten Grenzziehungen gleichermaßen als historisches Problem wie als pragmatischen Status-Quo, der einer weiteren Zersplitterung der regionalen Machtverhältnisse vorzuziehen sei. Die dilemmatische Lage weise eine frappierende Ähnlichkeit zur Situation kurz nach dem Großen Krieg und der von der Architektin des Iraks, Gertrude Bell,28 wahrgenommen sozialen, religiösen und politischen Probleme auf. (SYKES-PICOT E2: 30:15–37:17) Die gegenwärtige syrische Misere wird thematisch mit der brutalen Niederschlagung der Proteste des sogenannten Arabischen Frühlings durch Präsident

25 Al-Hashimi war von 2006‒2012 irakischer Vizepräsident und wurde im Dezember 2011 von einem irakischen Gericht für schuldig befunden, an einer Serie von Anschlägen beteiligt gewesen zu sein (vgl. https://www.bbc.com/news/world-middle-east-19537301 [03. März 2019]). AlHaschimi warf im Gegenzug dem neuen, nach Abzug des amerikanischen Militärs amtierenden schiitischen Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki einen politisch motivierten Prozess vor (vgl. https://www.zeit.de/2012/03/Al-Hashemi [03. Mai 2019]). Die höchst umstrittene Stellung des im Irak zum Tode verurteilten Experten, sowie dessen nicht weniger umstrittene Anklage, findet in der Dokumentation keine Erwähnung. 26 Das sogenannte Sassanidenreich erstreckte sich über das Territorium des heutigen Irans hinaus und galt als spätantiker Rivale des Römischen Reiches. 27 Gemeint ist der auch als Erster Golfkrieg bezeichnete Krieg zwischen dem Iran und Irak von 1980 bis 1988. 28 Vgl. die Filmbesprechungen zu Gertrude Bell in Kapitel 3.

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Baschar al-Assad Anfang 2011 eröffnet. Wie in den beiden vorangegangenen Blöcken orientiert sich die dokumentarische Erzählung entlang der Frage nach einer weiteren Separation oder möglichen Einheit des Staatsgebietes. Folgerichtig werden russische, türkische und kurdische Experten in diese neue Konfliktkonstellation einbezogen und die unterschiedlichen, teils extrem widersprüchlichen Ansichten dargestellt. Der bereits zu Irak kommentierende iranische Experte meint, dass sein Land keine Einmischung in die Angelegenheiten anderen Nationen betreibe, sondern lediglich Assad bei der Terrorbekämpfung unterstütze. Die sachlich völlig unhaltbare Äußerung wird wiederum unkommentiert wiedergegeben. Ein Vertreter der türkischen Kurdenpartei HDP legt die Bedingungen der PKK für die Beendigung der militanten Anschläge gegen die türkische Regierung dar. Dem stellt ein türkischer Experte die Sichtweise der türkischen Regierung entgegen (SYKES-PICOT E2: 47:00). Die erhebliche thematische Ausweitung erfolgt im angesprochenen Aljazeera-Format durch eine Repräsentation der verschiedenen Konfliktparteien, ohne dass eine kritische Mediation der Positionen angeboten wird. Das Schluss-Statement im Voice-Over fällt einigermaßen komplex und akademisch aus: The ultimate legacy of the Sykes-Picot Agreement was to establish the rights of outside powers and interests to intervene and influence the politics of the Middle East. The sense of instability and constant conflict it has engendered seems even more complex now than it was a hundred years ago. (SYKES-PICOT E2: 47:01–47:25)

Die historiografische Kommentierung legt nahe, dass eine imperial-koloniale Logik Einzug gehalten hat, die im Laufe der Geschichte sich nur weiter verzweigt und eine Situation geschaffen hat, die keiner einfachen Lösung zugänglich ist. Aufschlussreich dabei ist, dass im Schlusswort selbst keine positive Lösung angeboten wird, sondern lediglich die bestehende Logik des Teile-und-Herrsche verurteilt wird. Das dokumentarische Narrativ erweist sich damit mehr noch als in WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES als Umsetzung des programmatischen Anspruches, konfligierende Perspektiven und Narrative nebeneinander zu stellen. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass diese Parallelisierung ohne kritische Abwägung erfolgt und in der scheinbar formalen Gleichheit der Perspektiven sich eine Adressierung an das migrantisch-muslimische Zielpublikum des Senders abzeichnet, die eine abwertende Beurteilung des Zionismus nicht scheut.

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Balfour-Erklärung wird Hundert Auch die zweite ereignisgeschichtliche AJE-Dokumentation, BALFOUR DECLARA100: SEEDS OF DISCORD, die zwei Tage vor dem Zentenarium der Verabschiedung der Erklärung am 31. Oktober 2017 im britischen TV ausgestrahlt wurde, weist eine komplexe historiografische Struktur auf, die durch ein breites Feld internationaler Wissenschaftler getragen wird. Als Regisseure zeichnen Mohammed Salameh und wiederum Rick Platt verantwortlich, der hier allerdings nur die nachgestellten Szenen realisierte.29 Die achtundvierzigminütige Dokumentation ist auf Aljazeera Englisch30 und Youtube31 abrufbar und weist mit 33.550 Aufrufen zum Zeitpunkt der Untersuchung eine deutlich geringere Frequentierung als WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES auf. Vom Stil der Inszenierung ähnelt SEEDS OF DISCORD den bereits besprochenen AJE-Dokumentationen, entwickelt aber die Verknüpfung von nachgestellten Szenen und Kommentierung noch einen Schritt weiter. Die Reenactment-Szenen werden entweder durch das Voice-Over oder Expertenkommentare übersprochen, so dass diese mit einer auktorialen Kraft ausgestattet werden, die sich direkt mit den historischen Personen verbindet, welche so zu stummen Akteuren werden und die zeitgeschichtliche Authentifizierung leisten. Dies kann als weitere mediale Entwicklung im Bereich der TV-Dokumentationen und Aufwertung der Expertenkommentare32 in der Gestaltung des historischen Narratives verstanden werden. Historiografisch fokussiert die TV-Dokumentation den Prozess des Zustandekommens und der Abfassung der Balfour-Erklärung von Mitte 1916 bis November 1917. Es werden insbesondere die teilweise widersprüchlichen Positionen in den britischen Kriegskabinetten unter den Premierministern Asquith und Lloyd George sowie der zionistischen Bewegung beleuchtet. Der historiografische Tenor der Dar-

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29 Vgl. http://www.noonfilms.com/balfour-declaration-100-seeds-discord (20. April 2019). Als leitender historischer Berater wird Hany Beshr genannt. Nach Angaben des Middle East Instituts in Washington arbeitete Beshr als Forscher und Journalist unter anderem für Aljazeera und die ägyptische Tageszeitung Al-Ahram (vgl. https://www.mei.edu/experts/hany-beshr [02. Dezember 2019]). 30 Vgl. https://www.aljazeera.com/programmes/aljazeeraworld/2017/10/balfour-declaration -100-seeds-discord-171025141929350.html (20. April 2019). 31 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=GhgRS6zLBiE (04. März 2019). 32 Es kommen englische (James Renton, Edge Hill Uni.), US-amerikanische (Eugene Rogan/ Oxford, Jonathan Schneer/Georgia Tech., John B. Quigley/Ohio State Uni.), französische (Philippe Prévost/Sorbonne), israelische (Motti Golani/Haifa University) und palästinensischbritische Wissenschaftler (Basheer Nafi/Birkbeck College, Sahar Huneidi/American University Beirut) zu Wort.

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stellung ähnelt den beiden vorangegangenen Dokumentationen. Die britische Seite habe bereits kurz nach der Unterzeichnung des Sykes-Picot-Abkommens versucht, die als internationale Zone markierte Bestimmung des historischen Palästinas rückgängig zu machen. Der engere zeitgeschichtliche Fokus erlaubt allerdings eine sehr viel genauere Betrachtung einzelner Akteure, insbesondere im britischen Kabinett und der zionistischen Bewegung. Die nachgestellten Szenen führen vor, wie man den Franzosen die Bedeutung der zionistischen Bewegung in der jüdischen Wiederbevölkerung des ‚heiligen Landes‘ schmackhaft machen wollte, von der man sich erhoffte, ein britisches Mandat in Palästina zu begünstigen. Wiederholt wird darauf hingewiesen, dass es nicht wenige hochrangige Beamte und Minister in der britischen Politik gab, die von einem weltweiten Einfluss jüdischer Gruppen ausgingen, die für die eigenen Kriegsanstrengungen nutzbar gemacht werden sollten. In der Darstellung der Dokumentation funktionalisieren Führungspersönlichkeiten wie Chaim Weizmann oder Nachum Sokolow diese antisemitischen Vorstellungen der machtvollen Juden für ihre Zwecke, indem sie das zionistische Projekt in Palästina vorantreiben.33 In der entscheidenden Sitzung des britischen Kriegskabinetts Ende Oktober 1917 wird angeführt, dass Lord Balfour mit der Deklaration einer ähnlichen deutschen Initiative zuvorkommen wollte. Das dokumentarische Narrativ hebt vier Elemente beim Zustandekommen und in der Abfassung der Balfour-Erklärung hervor, wobei die Bedeutung des ersten Punktes klar dominiert: – Korrektur des Sykes-Picot-Abkommens im Sinne der britischer Imperialpolitik – eine Mixtur aus philo- und antisemitischen Einstellungen im englischen Kabinett, die die prozionistische Entscheidung begünstigen – imperiale Konkurrenz zwischen Deutschland und den Entente-Mächten – geschickte Verhandlungsführung zionistischer Akteure Die Darstellung der zionistischen Bewegung erfährt eine weit differenziertere Behandlung und macht auf unterschiedliche und widerstreitende Positionen aufmerksam. Wiederholt wird auf die Problematik assimilierter Juden in den europäischen Staaten hingewiesen, die ihre hart erstrittene Anerkennung gefährdet sahen und sich vom Zionismus distanzierten. Präsentiert wird die vom britischen Staatssekretär in Indien, Edwin Samuel Montagu, verantwortete Textpassage der Erklärung, nach der die Rechte der Juden in anderen Ländern durch die Einrichtung ‚einer jüdischen Heimstätte‘ in Palästina nicht tangiert werden dürften. Um33 In der historischen Fachliteratur wird diese Einschätzung der Aktivitäten führender Zionisten gegenüber dem britischen Kriegskabinett geteilt (vgl. Segev 2018, 236) beziehungsweise die instrumentalistische britische Haltung bei der Verabschiedung des Abkommens bestätigt (vgl. Elon 2003, 251).

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gekehrt wird die Nicht-Nennung der ansässigen arabischen Population in der Deklaration und deren Ausschluss von politischer Selbstbestimmung durch den französischen Historiker Prévost klar markiert (BALFOUR DECLARATION 37:15). Von zionistischer Seite habe man die britische gegenüber der französischen Kolonialmacht präferiert, da jene weniger dazu neigte, in die inneren Angelegenheiten der lokalen Bevölkerung hineinzuregieren. Im Unterschied zu den Narrativen der vorangegangenen AJE-Dokumentationen wird die britische Unterstützung der zionistischen Bewegung weit ambivalenter dargestellt, was sich insbesondere im letzten Abschnitt an der Diskussion der Wirkungsgeschichte der Balfour-Erklärung zeigt. Zunächst bewerten die Expertenkommentare die Erklärung als ein relativ bedeutungsloses Positionspapier der britischen Regierung, welches keinesfalls zur Implementierung bestimmter Politiken verpflichtete. Voice-Over und Expertenkommentierung parallelisieren die Erklärung mit den Versprechungen des McMahon Papers gegenüber dem Scherifen von Mekka und führen aus, dass die Briten weder einen arabischen noch einen jüdischen Nationalismus wollten, sondern an der Verwirklichung ihrer imperialen Ziele interessiert waren. Bindende Kraft kommt dem Papier erst ab 1923 zu, als die Vereinten Nationen unter Berufung auf die Erklärung Großbritannien zur Mandatsmacht in Palästina erklärten. Es folgt ein Schnelldurchlauf durch die Mandatszeit von den diversen arabischen Aufständen bis hin zur Peel-Commission 1937, die mit ihrer Empfehlung für die Teilung des Landes einen Wendepunkt der britischen Palästinapolitik markiere. Deren gescheiterte Umsetzung durch das im Mai 1939 verabschiedete White Paper mit seiner starken Beschränkung jüdischer Immigration werden vom US-amerikanischen Historiker Eugene Rogan als Eingeständnis eines britischen Scheiterns der Balfour-Erklärung gewertet. Gegen Ende der Dokumentation thematisiert eine kurze Sequenz die Verantwortung des deutschen Expansionismus für den Zweiten Weltkrieg und den mörderischen Antisemitismus, der sechs Millionen Juden das Leben kostete. Was nach einer Einfühlung in die jüdische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts aussieht, dem die Darstellung der Staatsgründung Israels folgt, wandelt sich schnell in eine (An-)Klage über die damit einhergehende Vertreibung und Exilierung von Teilen der palästinensischen Bevölkerung. Holocaust und Nakba werden so eng aneinandergerückt, und es bleibt dem individuellen Interpretationshorizont der Betrachter überlassen, ob eine Gleichsetzung der nationalen Katastrophen vorliegt oder doch eher eine tragische, aber unzusammenhängende zeitliche Abfolge besteht. Die Dokumentation schließt mit einem sprachlich und visuell starken Statement der palästinensischen Wahrnehmung der Balfour-Erklärung. Während Nachrichtenbilder von Kampfhandlungen zu sehen sind, spricht das Voice-Over die folgende Bewertung: „For Palestinians the Balfour-Declaration represents the mo-

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ment an imperial power promised their land away to another people.“ Die nächste Einstellung präsentiert Boris Johnson,34 wie er dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu den Schreibtisch zeigt, an dem die Erklärung verfasst wurde. Die Off-Kommentierung fährt fort: „They [die Palästinenser; M.E.] hold Balfour responsible for their expulsion, displacement and occupation.“ Eine Überblendung zeigt nochmals den Text der Balfour-Erklärung, die nun mit tragischer Musik unterlegt ist (BALFOUR DECLARATION 46:58–48:26). Damit nimmt die Schluss-Szene wiederum die Anrufung einer Wir-Identität vor, die die geschichtlichen Ereignisse in die Gegenwart überführt.

Der Große Krieg als ‚Urkatastrophe‘ des modernen Nahen Ostens? Die beiden ereignisgeschichtlichen AJE-Dokumentationen bekräftigen die Kodierung des Ersten Weltkrieges als kulturelles Trauma in der Region, indem sie die bekannten Abkommen als Ausgangspunkte der gewaltvollen Aufteilung der Region markieren. Deren Denk- und Handlungslogiken haben eine Realität geschaffen, die sich bis in die Gegenwartskonflikte hinein fortsetzt. Durch die visuelle und dramaturgische Struktur der Dokumentationen wird ein arabisch-muslimisches Narrativ als präferierte Lesart der historischen Katastrophe und seiner Verarbeitung erkennbar. Diese geht mit der Etablierung einer Reihe historiografischer Punkte einher,35 die in ihrer Summe als Kodierung einer katastrophischen oder zumindest verhängnisvollen Umstrukturierung der Region durch den Großen Krieges gelten können und das bevorzugte Zielpublikum vom AJE adressieren. Dessen Bezeichnung als ‚Urkatastrophe‘ wäre – wie in Europa auch – insofern irreführend, als es sich de facto um einen Wechsel von Herrschaftsformen handelt, deren kritische Bewertung durch die Festlegung eines scheinbaren Ausgangspunktes eher erschwert wird. Wo in den europäischen TV-Dokumentationen der letzte Sommer vor dem Krieg in bunten Farben ausgemalt wird, liegt in der Region des Nahen Ostens die mehr als vierhundert Jahre andauernde Herrschaft der Osmanen, die auch nicht nur Sonnenschein war. Gleichwohl ist unzweifelhaft, dass der Große Krieg eine epochale Zäsur in der Region geschaffen hat, deren Gewaltgeschichte einer emphatischen Erinnerung bedarf. Dazu leisten die AJE-Dokumentationen ihren Beitrag, indem sie eine regionale Rahmung der Übergangsperiode vornehmen,

34 Britischer Außenminister unter Theresa May von 2016 bis 2018 und seit dem 24. Juli 2019 Premierminister des Vereinigten Königreichs. 35 Siehe die vorherige Auflistung – Elemente eines kulturellen Traumas im Nahen Osten.

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die durch ihre fortdauernde Wirkungsgeschichte die Form eines kulturellen Traumas annimmt. Insbesondere SYKES-PICOT zeichnet allerdings ein komplexeres Bild, wenn es um die Frage geht, inwiefern die historische Gewalt sich direkt mit den gegenwärtigen Konflikten verbinden lässt. Es kommen verschiedene, mitunter gegensätzliche Stimmen zu Wort, die die divergierenden historischen und gegenwartsbezogenen Perspektiven der Akteure hervorheben. Das schränkt die Ausprägung eines kulturellen Traumas, das immer auch eine Gegenwartsgeltung beansprucht, zumindest punktuell ein. Die Off-Kommentierung enthält sich zumeist einer Bewertung, nimmt allerdings auch keine kritische Abwägung der Perspektiven vor. Wie in der Eingangsbetrachtung des Senders ausgeführt, kann die Darstellung unterschiedlicher oder gar widersprüchlicher Perspektiven als programmatisches Konzept aufgefasst werden, das Eingang in die Produktion historischer Dokumentationen gefunden hat. Das scheint der neue Geist zu sein, den Aljazeera mit seinen Medienformaten in den zivilgesellschaftlichen und medienpolitischen Diskurs des Nahen Ostens getragen hat und dessen Verzweigungen sich in den Aljazeera-Englisch-Dokumentationen auch auf die Erinnerungsgeschichte des Zionismus und Israels erstrecken. Das Format besitzt im Unterschied zu Medienproduktionen in rein autoritären Systemen durch das programmatische Motiv einer umfassenden Repräsentation der Konfliktparteien im öffentlichen Diskurs jenes Gegenmittel, das emanzipatorische Prozesse nicht zwangsläufig oder auch nur wahrscheinlich macht, aber doch als kommunikativer Türöffner fungieren kann. Der bisherige Diskurs der autoritären medialen Lenkung diverser Regime, der je nach Koalitionsinteressen von westlicher Seite kaum hinterfragt wurde, hat die Konflikte nur gefrieren lassen (vgl. Miles 2005; Seib 2012). Erinnerungs- und medienpolitisch erscheint es sinnvoller, mit den je eigenen Zielsetzungen in einen tendenziell offenen medialen Diskurs zu intervenieren, als dessen Verbot zu fordern, weil bestimmte Inhalte unvereinbar mit den eigenen Wertvorstellungen sind. Letzteres überträgt die in der Region vorhandene Kriegslogik als Kommunikationsverbot in den medienpolitischen Diskurs. Eine kleine plurimediale Ausweitung dieser Betrachtung auf ein anderes AJE-Medienformat wie die Talkshow UpFront – auf deren Homepage die besprochenen Dokumentationen verlinkt sind – bekräftigt diese Lesart der programmatischen Struktur des Senders in Bezug auf historische Themen. Die vom renommierten englischen Journalisten Mehdi Hasan36 moderierte Sendung hat

36 Mehdi Hasan moderiert bei Aljazeera die Magazine UpFront und Head to Head (vgl. https:// www.aljazeera.com/profile/mehdi-hasan.html) sowie dem podcast Deconstructed bei The In-

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anlässlich des Zentenariums eine Sondersendung37 zur Balfour-Erklärung realisiert, die wiederum nach den nämlichen Prinzipien einer multiperspektivischen Geschichtsbetrachtung Experten der verschiedenen historischen und gegenwärtigen Konfliktparteien zu Wort kommen lässt. Hier wird eine streitbare Medienund Erinnerungskultur vorgestellt, in der unterschiedliche und widersprüchliche Positionen zugelassen werden, die darüber hinaus durch die Gesprächsführung des Moderators mit Elementen einer kritischen Abwägung ausgestattet ist. Insgesamt kann die Anrufung einer arabisch-muslimischen Wir-Identität in den besprochenen Produktionen mit der verbreiteten Konstruktion eines europäischen Narratives in deutschen, englischen oder französischen Filmen verglichen werden. Die Konstruktion ethnisch-homogener Nationalstaaten hat selbst eine unheilvolle Geschichte nach sich gezogen, die weder im Europa der Zwischenkriegszeit noch im Nahen Osten eine Befriedung der Situation bewirken konnte. Die Suche nach Regierungsformen, die die Errungenschaften politischer Selbstbestimmung im Rahmen der Nation-Form anerkennen, aber auch die mit dieser Form einhergehenden Beschränkungen und Probleme überwinden, steht hier wie dort auf der Tagesordnung. Dabei ist die Konstruktion des Transnationalen durch den gänzlich anderen Hintergrund des Nationalstaats als koloniales und postkoloniales Herrschaftsinstrument zu beachten. Ähnlichkeiten und Unterschiede bei der Konstruktion einer transnationalen Erinnerungsgeschichte werden im nächsten Kapitel anhand der Arte-Produktionen zum Zentenarium besprochen. Zunächst wird mit dem fiktionalen Coming-of-Age-Drama THEEB die Betrachtung der Zentenariumsproduktionen aus der Region des Nahen Ostens abgeschlossen.

tercept (vgl. https://theintercept.com/staff/mehdihasan), beide Seiten eingesehen: 03. Dezember 2019. 37 Die zum hundertsten Jahrestag der Balfour-Deklaration produzierte Sendung hatte mit Ghada Karmi, einer britisch-palästinensischen Autorin und Dozentin, dem israelisch-amerikanischen Historiker Martin Krämer sowie dem britischen Journalisten des Guardians Ian Black Vertreter der relevanten historischen Konfliktparteien versammelt (vgl. https://www.youtube.com/watch? v=vQiLvsw9qGs [29. Oktober 2019]).

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Der Erste Weltkrieg als Coming-of-Age-Geschichte eines Beduinenjungen ‒ THEEB Naji Abu Nowar hat seinen Erstlingsfilm38 als ‚Bedouin Western‘ angelegt, bei dem er nach eigenen Angaben kinematische Vorbilder wie Sergio Leones ONCE UPON A TIME IN THE WEST und John Fords THE SEARCHERS im Sinn hatte.39 In der Tat sind einige Sujets des Westerngenres wie das Vordringen der Eisenbahn in abgelegene Regionen, die Verdrängung der autochthonen Bevölkerung und die Gegenüberstellung von Moderne und Tradition insgesamt recht nahe an den historischen Themen des Großen Krieges. Es gelang dem Produktionsteam um Abu Nowar, eine weitgehend arabische Finanzierung des Films zu realisieren,40 von der sich Co-Produzent Laith Al-Majali den Ausbau einer in den Kinderschuhen steckenden jordanischen Filmindustrie erhofft. Laut Regisseur ging es aber nicht darum, ein Genrekonzept in der jordanischen Wüste zu verwirklichen, sondern den Stoff in enger Kooperation mit dem beduinischen Laiendarsteller zu entwickeln. Dazu wurden mehrmonatige Schauspiel-Workshops mit den in den 1990er dort angesiedelten Beduinen durchgeführt. Es erscheint erwähnenswert, dass es sich dabei größtenteils um Angehörige der Howeitat handelt, bei denen hundert Jahre früher Gertrude Bell Gastfreundschaft fand und deren legendärer Anführer zur Zeit der arabischen Revolte, Auda Abu Tayi, bereits in David Leans LAWRENCE VON ARABIEN fiktionalisiert wurde. Der Regisseur Naji Abu Nowar wuchs in England und Jordanien auf und verbrachte in Vorbereitung auf den Film zusammen mit dem Drehbuchautor Bassel Ghandour ein Jahr in der jordanischen Wüste. Die Geschichte des epochalen Kriegseinbruchs wird im Stile eines Point-of-View-Films durch den subjektiven Blick des Beduinenjungen entwickelt.41 Der Film verbindet die unterschiedlichen Grenzmotive eines Coming-of-Age-Dramas einerseits mit denjenigen des Westerngenres andererseits und kann daher im filmwissenschaftlichen Sinne als Frontierfilm gelten. Die Aus-

38 Der Regisseur hatte bislang an zwei Kurzfilmen mitgewirkt: DEATH OF A BOXER (US 2012/ Drehbuch) sowie TILL DEATH (AE 2009/ Regie und Buch). 39 Vergleiche das Interview dem Regisseur und dem Co-Produzent Laith Majali im Film at Lincoln Center: https://www.youtube.com/watch?v=f-yvn8mNawk (02. Dezember 2019) auf die sich diese und die folgenden Zitate des Regisseurs beziehen. 40 Trotz eines sehr beschränkten Budgets konnte der Film auf zahlreichen internationalen Filmfestivals gezeigt werden und wurde unter der Kategorie bester ausländischer 2016 für den Oscar nominiert. 41 Siehe dazu die Interviews mit Naji Abu Nowar in den Zeitschriften Film Comment: https:// www.filmcomment.com/blog/interview-naji-abu-nowar-theeb/ sowie in: Khaleej Times, https:// www.khaleejtimes.com/article/20141028/ARTICLE/310289901/1002 (beide: 26. Mai 2019).

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handlung der behandelten Grenzmotive reicht thematisch weit über die westliche Perspektive auf die Kriegshandlungen im Nahen Osten hinaus (Abb. 27).

Abb. 27: THEEB ‒ Point-of-View Perspektive. Theeb (Jacir Eid) versucht den aus der Dunkelheit kommenden englischen Soldaten zwischen den vor ihm stehenden Männern zu sehen. Ebenso tritt der Krieg den Beduinen wie aus dem Nichts entgegen, was durch die bildliche Rahmung und das Motiv der Dunkelheit eindringlich inszeniert wird. Die vom österreichischen Kameramann Wolfgang Thaler geführte Kamera imitiert die zurückhaltende und schüchterne Sichtweise des Jungen und bringt den Point-of-View-Ansatz des Regisseurs zum Ausdruck.

Erzählt wird die Geschichte des Beduinenjungen Theeb (Jacir Eid Al-Hwietat), der mit seinem älteren Bruder Hussein (Hussein Salameh Al-Sweilhiyeen) und dem Klan ein von den Kriegsgeschehnissen relativ unberührtes Dasein fristen. Das ändert sich abrupt, als ein britischer Soldat in Begleitung eines Beduinenführers nachts deren Lager betritt. Die beiden Fremden bitten die beduinische Gemeinschaft um Orientierungshilfe, was diese durch ihre traditionelle Bindung – trotz des Wissens um die gefährliche Situation in der betreffenden Region – nicht zurückweisen kann. Hussein wird ausgewählt, den beiden Fremden den Weg zum Treffpunkt an einem Brunnen zu zeigen. Theeb folgt ihnen unbemerkt, wobei die Filmhandlung seine Motive dafür im Unklaren belässt. Kurz zuvor war sein Vater gestorben. Die Eröffnungsszene zeigt Theeb vor dessen Grab und vielleicht ist sein Bruder Hussein zur neuen Orientierungsfigur geworden. Theebs Mutter und Frauen generell kommen in dem Film nicht vor, was nach Angaben des Regisseurs mit den sehr konservativen Geschlechterrollen unter den beduinischen Laiendarstellern zu tun hatte, die eine beabsichtigte Beteiligung von Schauspielerinnen verunmöglichte (vgl. Nowar 2015). Als Theeb schließlich zu der kleinen Reisegruppe stößt, ist es bereits zu spät, ihn allein zurück zu schicken.

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Der britische Soldat Edward (Jack Fox) spielt keine herausragende Rolle in dem sich entfaltenden Drama. Er ist Teil jener englischen Streitkräfte, die mit Unterstützung beduinischer Stämme unter der Führung von Prinz Faisal gegen osmanische Truppenverbände Krieg führen. Eine sich in dessen Besitz befindliche ominöse Holzkiste erregt Theebs Interesse. Der britische Soldat untersagt ihm streng, diese Kiste auch nur zu berühren. Im Verlauf der Filmhandlung erfährt man, dass es sich um einen Fernzünder für einen Sprengsatz handelt. Als die Gruppe den gesuchten Brunnen findet, stellt sich heraus, dass die verbündeten Rebellen von marodierenden Banditen getötet wurden. Ihre Leichen wurden in den Brunnen am Treffpunkt geworfen. Der britische Soldat entscheidet sich trotz der desparaten Situation, die Suche nach den Kampfverbänden fortzusetzen. Der Beduinenführer rät Theeb und dessen Bruder zur Umkehr. Diese schließen sich den beiden aber wiederum an, da Hussein der Ansicht ist, dass sie ohne seine Ortskenntnisse verloren wären. Wenig später gerät die Gruppe in einen Hinterhalt, in dem der Soldat und dessen Führer umkommen. Nun entfaltet sich das eigentliche Drama um Theebs Erwachsenwerden. Der Tod des britischen Soldaten erscheint durch dessen uneinsichtiges Verhalten angesichts der Gefahrenlage weitgehend selbstverschuldet. Er ist eine von außen in die Welt von Theeb hineintretende Figur, die keine verbale Kommunikation mit diesem hat und in seinen Zielen unverständlich bleibt. Damit mag auch auf metaphorischer Ebene das historische Verhältnis der Briten zu den Beduinenstämmen umschrieben sein. In der Auseinandersetzung mit den Banditen entschließt sich Theebs Bruder Hussein zum Kampf. Der Anführer der Banditen (Hassan Mutlag Al-Maraiyeh) verspricht ihnen zwar freies Geleit, doch ohne Kamele gleicht dies einem Todesurteil. Hussein schießt den Anführer der Banditen nieder. Diese sinnen auf Rache und in der darauffolgenden Nacht pirschen sie sich an die Brüder heran. Hussein wird getötet, Theeb kann fliehen und fällt in einen Brunnen. Es gelingt den Banditen jedoch nicht ihn zu töten und so kappen sie das Seil zum Wasserholen, mit dem er sich befreien könnte. Theeb gelingt es dennoch aus dem Brunnen zu steigen. Auf sich gestellt, beerdigt er seinen Bruder und wartet auf Hilfe. Nach einiger Zeit erscheint ein verwundeter Reiter am Horizont. Dieser offenbart sich beim Näherkommen als der verwundete Anführer der Banditen. Dessen Charakter firmiert in der Besetzungsliste als „The Stranger“ und bleibt während der gesamten Filmhandlung ohne Namen. Theeb entwendet dem Verletzten seine Waffe. Es handelt sich um die Pistole des getöteten britischen Soldaten. Auch dessen andere Dinge befinden sich im Besitz des Banditen. Theeb markiert die als kostbar eingeschätzte Kiste des Soldaten mit dem Familienzeichen des Klans. Er bringt es aber nicht über sich, den Banditen zu erschießen. Es ist unklar, ob Theebs Zögern damit zusammenhängt, dass er allein nicht zurechtkommen kann oder er nicht in

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der Lage ist, einen Menschen zu töten. Nach einiger Zeit gewinnt der Bandit seine Waffe zurück, verschont Theeb jedoch, da er wegen seiner Verletzung auf ihn angewiesen bleibt. Es entwickelt sich ein Zweckbündnis der Antagonisten, das dramaturgisch eine Annäherung der feindlichen Parteien ermöglicht. Theeb entfernt unter Anleitung des Banditen die Kugel des Bruders aus dessen Körper. Fast scheint es, als könnte der Fremde zu Theebs Familienersatz werden. In einer kurzen, kriegsbezogenen Szene reiten der Bandit und Theeb entlang einer Eisenbahnlinie auf dem Weg zu einer osmanischen Garnison, wo der Bandit die vom Engländer erbeuteten Gegenstände verkaufen will. Dabei treffen sie auf eine Gruppe aufständischer Beduinen, die auf der Suche nach dem englischen Soldaten sind. Diese raten ihnen ab, der Bahnlinie weiter zu folgen, da offenkundig ein Überfall auf einen der osmanischen Transportzüge geplant ist. Kurze Zeit später sieht man die Leichen der Aufständischen neben der Bahnlinie liegen. Die Kamera filmt die Toten durch die Beine des Kamels, das entlang der Bahnschienen schreitet. Die Kadrierung der Aufnahme rahmt den Zusammenstoß der technischen Moderne mit den Beduinen, was durch die verbale Kommentierung des Banditen unterstrichen wird: ‚Verrückte. Man kann einen Pfeil nicht mit der Hand stoppen‘ [Übersetzung M.E.]. Der Hinweis auf die technische Übermacht der westlichen Moderne und ihrer verhängnisvollen Folgen für die Region wird durch eine weitere Szene noch verstärkt. Diese entfaltet das Motiv einer aggressiven und aufoktroyierten Modernisierung, da der Zug als Verkehrs- und Transportmittel den Banditen um seine generationenlange Beschäftigung als Reise- und Fremdenführer gebracht hat (THEEB 1:20:15–1:22:08). Am Lagerfeuer erzählt dieser Theeb vom Ausbleiben der Karawanen für Pilger und Güter, wodurch seine traditionellen Lebenseinkünfte verschwanden. Es kam zum Brudermord unter den Beduinen, die das ‚Geschäftsmodell‘ der Überfälle nach sich zog. Die Darlegung der Backstory-Wound markiert den Charakter des Banditen als Opfer der technischen Modernisierung. Theeb akzeptiert dieses Narrativ allerdings nicht und kommentiert die Geschichte des Banditen mit dem Satz, dass ‚der Starke den Schwachen frisst‘. Dies wird zum Motto seines Erwachsenwerdens und der Vorwegnahme des Endes der Geschichte. Theeb und der Bandit erreichen die osmanische Garnison entlang der Bahnstrecke. Der Bandit verkauft das Eigentum des getöteten britischen Soldaten an den Kommandanten der Garnison. Als die mysteriöse Holzkiste an die Reihe kommt, sieht man eine Irritation auf Theebs Gesicht, der den Handel aus der Distanz beobachtet. Theeb hatte die Kiste mit seinem Stammeszeichen versehen, was sie als Besitz des Klans markiert. Der Bandit weiß darum und bietet ihm einen Teil des Ertrages an. Theeb weist das Angebot zurück, was sich als Zurückweisung der notgedrungenen Partnerschaft insgesamt erweist. Als der Bandit aus der Garnison heraustritt, erwartet ihn Theeb mit gezogener Pistole.

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Er zögert einen Moment bevor er den tödlichen Schuss abgibt. Hatte man zu Beginn des Films gesehen, wie sein Bruder ihn im Wasserschöpfen, Schießen oder dem Töten einer Ziege unterweist und ihm spielerisch zu kämpfen beibringt, schließt sich nun der Kreis von Theebs Mannwerdung. Er vollbringt, was er bislang nicht vermochte und streckt den Banditen nieder. Damit vollzieht er ihm Namen seines Clans dessen Kodex, nämlich die Vorherrschaft des Starken über den Schwachen. Das Coming-of-Age-Motiv wird jedoch nicht als heldenhaftes Erwachsenwerden gekennzeichnet, wie man es mitunter aus dem Jugendfilmgenre kennt, wenn der Protagonist endlich seine Hemmung überwindet und in eine neue Entwicklungsphase eintritt. Vielmehr wohnt dem Augenblick des Überschreitens der Entwicklungsschwelle ein Moment der Nötigung oder gar Verzweiflung inne. Nachdem Theeb den Banditen erschossen hat, senkt sich sein Blick und er wirkt über seine eigene Tat nicht gerade beglückt. Den herbeigeeilten osmanischen Soldaten gibt er als Grund für die Tat die Ermordung seines Bruders durch den Banditen an. Das Erwachsenwerden erhält einen bitteren, fast tragischen Beigeschmack, der sowohl den Abschied von kindlicher Naivität begleitet wie er als historische Allegorie auf die Entwicklung der Region gedeutet werden kann. Die Schlusseinstellung reinszeniert auf ästhetischer Ebene den zentralen Konflikt der Erzählung als Einfall der westlichen Moderne in die Region. Nachdem Theeb den Banditen erschossen hat, verlässt er die osmanische Garnison auf dem Kamel. Der türkische Kommandant glaubt ihm seine Geschichte und sieht keinen Grund, den Jungen festzusetzen. Am Horizont fährt eine Lokomotive in die entgegengesetzte Richtung, während Theeb davonreitet. Die visuellen Anleihen beim Western- und Frontiergenre sind unübersehbar. Die visuelle Entgegensetzung der Symbole von Moderne (Eisenbahn) und Tradition (Kamel) wiederholt sich in der nächsten Einstellung. Die ungewöhnliche Länge der Einstellung unterstreicht deren symbolische Bedeutung, während deren konflikthafte Bedeutung bildsprachlich gefasst wird (Abb. 28). Anschließend sieht man Theeb von hinten, wie er auf dem Kamel in endlose Weite der Wüste reitet. Ein melancholisches Musikmotiv begleitet die misslungene Begegnung von Moderne und Tradition, die den Beduinenjungen zum Mann hat werden lassen. Ein Erwachsenwerden mit düsteren Vorzeichen für die gesamte Zukunft der Region, in der Gewalt und Bruderkriege den Ton angeben werden. Die Waffe des britischen Soldaten ist alles, was ihm von den Ereignissen bleibt. THEEB ist ein parabelhafter Epochenfilm, der mit dem Untergang des Osmanischen Reiches das Ende der beduinischen Lebensweise markiert. Wie in den besprochenen europäischen Produktionen LES GARDIENNES, WAR HORSE oder DAS WEIßE BAND wird ein Epochenwechsel inszeniert, in dem Vergangenheit und Gegenwart sich auf tragische Weise scheiden und gleichzeitig erinnert werden. Das verbindet den fiktionalen Film mit der dokumentarischen Erzählung in WORLD

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Abb. 28: THEEB ‒ Schienenstrang. Die Beine des Kamels heben sich vom Schienenstrang ab, dem Theeb zunächst gefolgt ist. Ein Bein nach dem anderen verlässt nun die Gleise und betritt den Wüstenboden. Die ästhetische Rahmung der konflikthaften Entgegensetzung von Moderne und Tradition wird in THEEB durch das vom Westerngenre bekannte Motiv des Vordringens der Eisenbahn in abgelegene Regionen bebildert.

WAR ONE THROUGH ARAB EYES. Beide kodieren den Einbruch des Großen Krieges in die Region als kulturelles Trauma und offerieren – zumindest als präferierte Lesart – ein arabisches Wir. Damit ähneln sie Zentenariumsproduktionen wie FRANTZ, TESTAMENT OF YOUTH oder der dokumentarischen TV-Miniserie 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS deren historiografische Rahmungen ebenfalls auf die Erkundung der Handlungsmöglichkeiten ihrer Protagonisten zielen und ein europäisches Wir offerieren. In fiktionalen Erzählungen wie THEEB sind die arabisch-muslimische Charaktere vorwiegend als Akteure zu sehen, so dass es unangebracht wäre, diese Inszenierungen als Viktimisierungserzählungen42 aufzufassen. Der Regisseur ersucht den Geschichtscharakteren gerecht zu werden, indem diese den historischen Raum in die Darstellung mitaufnehmen, was auch die Anleihen beim Westerngenre erklärt, wo mitunter ähnliche Intentionen verfolgt werden. Die historische Rahmung erklärt die Handlungen der Charaktere nicht, sondern

42 Wie in der Einleitung dieses Buches ausgeführt, sollte die Kodierung eines kulturellen Traumas generell nicht als Vikitimisierungserzählung missverstanden werden. Die Inszenierung von Verletzungen, Leiden und Wunden gehen mit einer akteursgebundenen Zuschreibung von Tätern und Opfern einher und dienen nicht der Festschreibung eines Opferstatus. Die moralische Grammatik des kulturellen Traumas zielt auf die Überwindung von Leid und Gewalt, womit unweigerlich eine erinnerungs- und handlungspolitische Dimension verbunden ist.

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kontextualisiert sie. Briten und Türken sind in THEEB weder gut noch böse, sondern vor allem fremd. Dramaturgisch betrachtet tritt der Brite als Auslöser der Handlung in die Geschichte ein und verglüht dann wie eine Sternschnuppe beim Eintritt in die Atmosphäre. Der Schweif, den er hinterlässt, setzt die verhängnisvolle Handlung in Gang, kann aber ihren Ausgang nicht bestimmen. Die Waffe, die er mit sich bringt, wird zum Tötungsinstrument unter den Beduinen, die Holzbox mit dem Fernzünder zu einem mysteriösen und Reichtum verheißenden Objekt. Dennoch verblasst die Erinnerungsspur des Soldaten wie der Einfluss der einstigen Weltmacht Großbritannien zu dessen heutiger post-kolonialer Bedeutung. Indem die Darstellung des britischen Soldaten eine Art historisches Hintergrundrauschen erzeugt, kann die Filmhandlung sich auf die beduinischen Charaktere konzentrieren. So lässt sich am Ende selbst für den marodierenden arabischen Banditen Sympathie aufbringen, obwohl das Spektrum der Rezeptionsvarianten hier weit gesteckt sein dürfte.

THEEB als spiegelbildliche Gegenerzählung zu David Leans LAWRENCE VON ARABIEN? Es erscheint in diesem Kontext lohnend, THEEB auf den Klassiker des Kriegs- und Wüstengenres, LAWRENCE VON ARABIEN, zu beziehen. Ein solcher Bezug wurde vom Regisseur zwar mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass keinerlei intendierte Verbindung besteht und solche Parallelisierungen von westlicher Seite durch die hegemoniale Kenntnis und Reichweite von David Leans filmischer Erzählung zustande kommen (vgl. Nowar 2015). Dennoch zeigt sich bei einem Vergleich der Narrative eine auffallende Überschneidung von ästhetischen und thematischen Motiven, die die Erzählung vom Erwachsenwerden des Beduinenjungen als spiegelbildliche Verkehrung, beziehungsweise kritische Kommentierung von LAWRENCE VON ARABIEN erscheinen lassen.43 Im Folgenden werden einige Verbindungslinien der Filme herausgearbeitet, die als Lesarten in den beiden Produktionen angelegt sind. Zunächst fällt die gegensätzliche Inszenierung der Wüste auf. Repräsentiert diese in LAWRENCE VON ARABIEN einen exotischen Ort der Reinigung, Askese oder auch Grausamkeit, ist sie in THEEB ein lebensweltlicher Horizont, der durch die nächtliche Ankunft des britischen Soldaten eine abrupte Änderung erfährt. Einmal steht ein britischer Mann im Vordergrund der Filmhandlung, zum anderen ist es ein beduinischer Junge, der sich kaum mit dem Fremden verständigen kann. Die Personen-

43 Für den Hinweis auf diese Verbindung danke ich Oliver Janz, der im Kontext eines Workshops auf spiegelbildliche Parallelen zwischen den Produktionen hingewiesen hat.

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zeichnungen spiegeln ein kontrastierendes Motiv wider. Während Lawrence in weiten Teilen des Films in ein blendend weißes Gewand eines Beduinenführers gekleidet ist, trägt Theeb verlumpte schwarze Kleidung. Die gegensätzlichen Ausgangsbedingungen sind über verschiedene ikonografische Motive wie die Pistole, die Lawrence und der britische Soldat in THEEB mit sich führen, verbunden. Gleich zu Beginn von LAWRENCE VON ARABIEN schenkt Lawrence seinem beduinischen Reiseführer eine Pistole, der darauf von Sherif Ali (Omar Sharif) erschossen wird, weil er von einer, seinem Klan verbotenen Quelle Wasser geschöpft hatte. Im anschließenden Dialog zwischen Lawrence und Ali geht es wiederum um die Pistole. Ali fragt, wem die Pistole gehört, worauf Lawrence erwidert, dass sie ein Geschenk an den Erschossenen war. Ali nimmt die Pistole daraufhin an sich und Lawrence beschimpft ihn der Grausamkeit.44 Streit und Faszination um die Pistole erinnern an das nämliche Motiv in Theeb, wo die Pistole auch mehrfach den Besitzer wechselt und diese Wechsel jeweils mit Macht und Tod zusammengehen. In THEEB kommt der Pistole als Instrument von Macht und modernisierten Tötens eine kritische Bedeutung zu, die in Leans Verfilmung weit weniger kenntlich wird. Der Filmcharakter von Theeb (Jacir Eid) könnte von seiner Gestalt als AntiLawrence (Peter OʼToole) bezeichnet werden. Dem filmischen Desinteresse am Tod des Briten entspricht der gegensätzliche Fokus in Leans Produktion, wo Beduinen, Araber und Türken in großer Zahl sterben, aber die Erzählung von einem britischen Soldaten dominiert wird. Beide Filme führen den Namen ihres Hauptprotagonisten im Titel. Ein weiteres zentrales Motiv, das die Filmhandlungen verbindet, ist der Streit zwischen den verschiedenen beduinischen Stämmen. In der benannten Szene führt die Konkurrenz ums Wasser zum Mord, in THEEB geht es darum, wie traditionale Gesellschaften unter dem Einfluss der westlichen Moderne umstrukturiert werden und es zum Brudermord unter kolonialen Vorzeichen kommt. Letzteres wird durch eine Szene kodiert, in der der zum Räuber degradierte Beduinenführer davon erzählt, wie ihm durch die Eisenbahn seine Lebensgrundlage entzogen wird. Das Bild der wechselseitigen beduinischen Hilfsbereitschaft in THEEB mag etwas überzogen und idealisiert sein, es bildet in jedem Fall einen scharfen Kontrast zu der ewigen Feindschaft und Uneinigkeit, wie sie in den oben beschriebenen Szenen in LAWRENCE VON ARABIEN gezeichnet wird.45

44 Das Pistolenmotiv wiederholt sich in einer Szene vor dem Angriff auf Akaba, als Lawrence Gasim erschießt und dann den Revolver fortwirft. Sofort stürzen sich die umstehenden Beduinen auf die Waffe und jeder versucht, diese an sich zu bringen. 45 Diese Uneinigkeit wird in zwei längeren Sequenzen dargestellt. In der ersten Sequenz erschießt Lawrence Gasim, um eine Blutfehde zwischen den Stämmen zu vermeiden. Die zweite Sequenz führt nach der Einnahme von Damaskus die Unfähigkeit der arabischen Stämme vor, auf Verhand-

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Besonders aufschlussreich sind die Schlusseinstellungen der Filme. Während der Beduinenjunge – wie beschrieben – die Bahngleise verlässt und auf seinem Kamel in die Wüste zurückreitet, fährt Lawrence in einem Jeep Richtung englische ‚Heimat‘ und dreht sich erinnerungstrunken nach einer Gruppe Kamelreiter um. Die Motive von Zugehörigkeit und Zivilisation (Jeep/England-Kamel/Wüste) sind genau gegensätzlich ausgerichtet. Und doch sind beide durch ihre Erlebnisse gezeichnet und die Heimat, der sie sich entgegen bewegen, ist nicht mehr die alte. Im Falle von Lawrence wissen wir, dass er seinem Tode entgegenfährt, Theeb wird einen von Gewalt und kolonialer Unterwerfung gekennzeichneten Lebensraum bewohnen. Es zeugt von der originären Intention des Regisseurs, dass er nicht schon aus vermarktungsstrategischer Hinsicht seinen Film als Gegenerzählung zu David Leans Klassiker anpreist. Dennoch lässt sich THEEB als Kommentar und Gegenerzählung zu LAWRENCE VON ARABIEN auffassen, ohne dass dies vom Regisseur intendiert sein muss. So mag der unterschiedliche Zugang aus sich heraus die angeführten spiegelbildlichen Motive hervorbringen, die man in erinnerungskultureller und filmtheoretischer Hinsicht als Gegenerzählung auslegen kann. Dethematisiert werden der orientalistische Mythos der Wüste und das gleichfalls orientalistische Motiv des ewigen Streits zwischen den arabischen Stämmen. Erinnerungskulturell gesprochen mag damit eine hegemoniale Erzählung an ihr Ende kommen, die der Wüste als westlichem Projektionsort eine neue Perspektive entgegenstellt. Wie sich in den unterschiedlichen Darstellungen der Lebensgeschichte der Gertrude Bell gezeigt hat [Kapitel 3, Feminisierung der Weltkriegserinnerung; M.E.], können im Zentenarium allerdings beide Perspektiven nebeneinander existieren.

lungswege zu Kompromissen zu kommen. Die politisch vormoderne Haltung ‚der Araber‘ führt zum versorgungstechnischen und medizinischen Chaos, das in drastischen Bildern inszeniert wird und bekräftigt das orientalistische Motiv einer Unfähigkeit zur arabischen Selbstverwaltung.

5 Transnationale Rahmungen des Großen Krieges: Arte und das europäische Narrativ im Zentenarium Die Europäische Union wird gelegentlich – mit all ihren Fehlern und Schwächen – als die institutionalisierte Erinnerung des Ersten und Zweiten Weltkrieges bezeichnet. Die häufig nationenübergreifend ausgerichteten Gedenkfeierlichkeiten der letzten Jahre und Jahrzehnte, insbesondere im deutsch-französischen Verhältnis – von der legendären Handreichung zwischen Staatspräsident François Mitterand und Bundeskanzler Helmut Kohl am Gebeinhaus von Douaumont bis hin zur Eröffnung eines gemeinsamen Museums am umkämpften elsässischen Hartmannsweilerkopf (vgl. Fathi 2018, 549) – lässt eine solche Charakterisierung erinnerungskulturell als schlüssig erscheinen.1 Unzweifelhaft handelt es sich bei solchen Feierlichkeiten um Ereignisse einer staatlich ausgerichteten Erinnerungskultur, bei denen die nationalen Bevölkerungen eher als Zuschauer fungieren. In diesem weiten und hier nur unscharf umrissenen Feld stellt der im Oktober 1990 durch deutsch-französischen Staatsvertrag ins Leben gerufene Nachrichten- und Kulturkanal Arte eine bi- oder transnationale Institution dar, die nationale Perspektiven erweitern und als „European Identity Contractor“2 fungieren soll. Dem Sender kommt somit die Aufgabe zu, Programme und Narrative zu produzieren, die der Implementierung und Förderung einer europäischen Identität dienen. Programmentscheidungen werden vorwiegend in Frankreich und Deutschland getroffen, wo ebenfalls die Mittel zur Finanzierung durchs Staatsfernsehen erhoben werden. Ein Netz von Assoziierungsverträgen mit anderen europäischen Sendeanstalten und die Verfügbarkeit der Sendungen mit englischen, spanischen, polnischen und italienischen Untertiteln ermöglichen theoretisch fünfundfünfzig Prozent der europäischen Bevölkerung einen sprachlichen Zugang.3 Bereits zur Zeit der Gründung kam der Programmsparte historischer Dokumentationen besondere Aufmerksamkeit zu, wobei ein spezifischer Zugang zur Vergangenheit nicht festgelegt wurde. Allerdings weist die Direktive eines „cultural programming that

1 Eine kurze Übersicht und erinnerungskulturelle Einordnung der kulturellen und staatsoffiziellen deutschen Gedenkveranstaltungen zum Zentenarium findet sich bei Martin Bayer (2018). 2 A. Cohen, Y. Dezalay und D. Marchetti zitiert nach Hartemann 2014, 152. 3 Vgl. https://www.arte.tv/sites/de/corporate/unsere-organisation/ sowie https://de.wikipe dia.org/wiki/Arte#cite_note-28 (16. Juli 2019). Das Akronym arte oder ARTE bezeichnet Association Relative à la Télévision Européenne und hat damit seine europäische Ausrichtung bereits im Titel. https://doi.org/10.1515/9783110654431-006

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fosters understanding among Europeans and brings people together“4 die Richtung vor, die man von den Produktionen erwartet. Damit teilt der europäische Kulturkanal die transnationale Ausrichtung mit dem im vorherigen Kapitel besprochenen Sender Aljazeera Englisch. Insofern ist es schlüssig, dass Arte zentral an der Produktion zweier historischer TV-Miniserien beteiligt ist, die sich an einer gegenüber der Nation-Form dezidiert kritischen Rekonstruktion des Großen Krieges versuchen. Dabei handelt es sich um die in über sechsundzwanzig Ländern distribuierte Miniserie 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS sowie den vorwiegend von Arte France verantworteten dokumentarischen Zweiteiler LA FIN DES OTTOMANS (DAS ENDE DES ERHABENEN STAATES). Während die 14 TAGEBÜCHER auf Arte in einer achtteiligen TV-Miniserie ausgestrahlt wurden und historiografisch direkt zu Kriegsbeginn ansetzen, greift die von der französischen TV-Dokumentarfilmerin Mathilde Damoisel5 bewerkstelligte Produktion weit ins neunzehnte Jahrhundert zurück, um den Untergang des Osmanischen Reiches herzuleiten. Zunächst soll die vom Umfang her mit den Aljazeera-Produktionen vergleichbare zweiteilige Arte France-Dokumentation6 untersucht werden, bevor ich mich der umfangreicheren Miniserie 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS zuwende.7

Der Untergang des Osmanischen Reiches aus französischeuropäischer Perspektive – LA FIN DES OTTOMANS (DAS ENDE DES ERHABENEN STAATES) Bereits die deutschsprachige TV-Anmoderation macht klar, dass der Zugang zum historischen Thema weit politischer angelegt wird, als das für historische Dokumentationen üblich ist. Der Arte-Sprecher verweist auf die geografische Lage der heutigen Türkei, der durch die Flüchtlingskrise in Folge des syrischen Bürgerkrieges eine für Europa wie den Nahen Osten entscheidende Rolle zukomme. Unter dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan versuche man, den geostrategischen Vorteil in politisches Kapital umzumünzen, indem für die Re-

4 Vgl. Arte, ‚About‘, https://www.arte.tv/sites/en/corporate/what-we-do/ (20. Juli 2019). 5 Vergleiche zu den bisherigen Filmen der vorwiegend in Kooperation mit dem französischen Fernsehen und Arte France arbeitenden Regisseurin folgende Homepage, http://www.fola mour.fr/fr/realisateur/mathilde-damoisel/ (20. Juli 2019). 6 Die Erstausstrahlung erfolgte am 22. März 2016 auf Arte France. 7 Ein englischsprachiger Aufsatz zum Vergleich der Arte und der Aljazeera Zentenariumsproduktionen wird unter dem Titel: „Forging Transnational Narratives out of the Great War?“ in einer Sonderausgabe der Zeitschrift First World War Studies publiziert (vgl. Elm [im Erscheinen]).

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gulierung der Flüchtlinge die Aufnahme in die EU gefordert werde. Gleichzeitig handele es sich bei den krisengeschüttelten Ländern um jene arabischen Nachfolgestaaten, die erst durch den Untergang des Osmanischen Reiches entstanden seien. Insofern wird eine historische und erinnerungskulturelle Rahmung der TV-Dokumentation vorgenommen, die das mehr oder weniger ruhmreiche Erbe der historischen Protagonisten mit der gegenwärtigen Lage verknüpft.8 Die TV-Dokumentation eröffnet mit Aufnahmen aus der Region des Balkans, wo in den 1990er Jahren ein multiethnischer Bürgerkrieg das Ende des ehemaligen Jugoslawiens besiegelte. Dorthin kehrt das historiografische Narrativ gegen Ende des ersten Teils mit den Balkankriegen von 1912/13 zurück. Diese werden als Auftakt zu einer Politik ethnischer Homogenisierung beschrieben, die die Region bereits vor dem Großen Krieg prägte. Die politische Klammer des historiografischen Narratives besteht entsprechend aus dem Konflikt des im neunzehnten Jahrhundert aufkommenden Nationalismus mit den religiös fundierten Ordnungssystemen der Territorialimperien, die eine multiethnische Bevölkerung beherbergen. Der Historiker Mark Mazower erklärt im Experteninterview: „In dem Moment, als die [nationale; M.E.] Politisierung beginnt, bricht dieses System zusammen“ (OTTOMANS E1: 06:26). Der erste Teil der Dokumentation – Vielvölkerstaat versus Osmanisches Reich – beschreibt die Entwicklung von nationalen Bewegungen im Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches und setzt mit den griechischen Unabhängigkeitskriegen um 1821 an. Die Nationalisierung mit ihren Ideen von Selbstbestimmung, politischer Partizipation und ethnischer Homogenität wird von den europäischen Imperialmächten und insbesondere dem zaristischen Russland zur Realisierung eigener Zwecke unterstützt. Mit Hilfe von Expertenkommentaren, abgefilmten Fotografien und Gemälden, Landkarten und historischem Filmmaterial wird die osmanische Geschichte im Stile einer klassischen TV-Dokumentation entfaltet. Der weit ausgreifende historische Ansatz erlaubt die ausführliche Darstellung einer Vorgeschichte, die für ein umfassendes Verständnis der Entwicklungen hin zum Eintritt in den Ersten Weltkrieg auf Seiten der Mittelmächte sowie den Übergang vom Reich zum türkischen Nationalstaat unverzichtbar ist.9 Als Wendepunkt im Verhältnis zu den europäischen Imperialmächten England und Frankreich wird die Zeit nach dem Russlandkrieg Anfang der 1880er beschrieben, wenn Frankreich sich Algerien aneignet, England Ägypten einnimmt und weitgehende territoriale Zugeständnisse auf dem Balkan an Russland gemacht werden. In Istanbul wird das als Preisgabe des Schutzanspruches durch 8 Vergleiche die Anmoderation sowie den ersten Teil der Dokumentation Vielvölkerstaat versus Osmanisches Reich, https://www.youtube.com/watch?v=FRl7c-DPX78 (20. Juli 2019). 9 Vergleiche hierzu Kapitel 2 dieses Buches, das den Kriegseintritt des osmanischen Reiches darlegt.

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die westlichen Imperialmächte gewertet. Das Deutsche Kaiserreich taucht als neue europäische Schutzmacht am Horizont auf. 1889 besucht Kaiser Wilhelm II. den Sultan in Istanbul und man beschließt den Bau der Bagdadbahn. Für die Osmanen scheint es, als sei ein europäischer Bündnispartner in Sicht, der an der Modernisierung des Reiches interessiert ist, ohne auf territoriale Eroberungen in ihren Gebieten aus zu sein, während die etablierten Imperialmächte sich herausgefordert fühlen. Das historiografische Narrativ der Dokumentation macht die Entwicklung hin zur politischen Konstellation von 1914 plausibel. Dabei wird durch Expertenkommentare auf die Einstellung der reformerischen Bemühungen des Osmanischen Reiches [Tanzimat-Periode; M.E.] sowie der noch tiefergreifenden Staatsreform von 1876 hingewiesen. Unterdessen verfolgt Sultan und Kalif Abdülhamid II. eine Politik der ethnisch-nationalen Konsolidierung des anatolischen Kernlandes und der arabischen Provinzen, wo sich die Gebietsverluste des Reiches nicht wiederholen sollen. Dies leitet zum Thema der Pogrome an den auf Unabhängigkeit sinnenden Armeniern über: Die Massaker, die auf die armenische Revolte von Sason 1894 folgen, werden als „Vorspiel zum Genozid von 1915“ (OTTOMANS E1: 35:21) von der auktorialen Voice-Over eingeordnet. Bekräftigend sieht der französische Historiker Hamid Bozarslan darin einen frühen Versuch ethnischer Homogenisierung und die strategische Absicht, den armenischen Akteuren eine traumatische Wunde zuzufügen, die sie von ihren Unabhängigkeitsbestrebungen abbringen soll (OTTOMANS E1: 35:30–36:20). Visuell werden die Ereignisse mit Karikaturen meist französischer Herkunft unterlegt, die das Bild eines blutrünstigen Despoten zeigen, deren orientalistische Geisteshaltung klar benannt wird. Die propagandistische Intention sei auf der Ebene europäischer Politik allerdings ohne Konsequenzen für den Sultan geblieben. Der letzte Block der Dokumentation wendet sich der Rebellion der Offiziere des Committee of Union and Progress, den sogenannten Jungtürken, zu. Diese versuchen am 2. Juli 1908 die osmanische Reformpolitik wiederzubeleben. Die Sprecherinnenstimme fasst den Sachverhalt folgendermaßen zusammen: „Die ein Jahrhundert zuvor in Griechenland ausgelöste nationalistische Welle ist schließlich im Herzen, im harten türkischen Kern des Osmanischen Reiches angelangt. Es steht vor dem Aus“ (OTTOMANS E1: 42:30–42:41). Die ethnonational gesinnten Offiziere können allerdings den Abspaltungsprozess auf dem Balkan nicht aufhalten. Es kommt nach der Annektion Libyens durch Italien 1911 zu den Balkankriegen und dem im Expertenkommentar als traumatisch bewerteten Verlust der europäischen Gebiete des Reiches. Die zusammenfassende Kommentierung der Voice-Over verliert etwas von der bis dahin recht differenzierten historischen Darlegung und insbesondere dem Verständnis des Nationalstaates als neuer Regierungs- und Herrschaftsform. „Die Balkannationen haben das Osmanische Reich besiegt – nach 400 Jahren Fremd-

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herrschaft.“ (OTTOMANS E1: 50:10) Eine Aussage, die im türkischen Geschichtsnarrativ vermutlich nur wenig Zustimmung finden dürfte und die Frage aufwirft, ab wie vielen Jahrhunderten und unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen Gebiete als zugehörig gelten? Umgekehrt lässt sich diese Einordnung – analog zur Erzählstrategie der AJE-Dokumentationen – als Adressierung des europäischen Zielpublikums verstehen. Erwähnenswert ist die historiografische Rahmung durch die 1989 gehaltene Amselfeldrede des serbisch-jugoslawischen Politikers Slobodan Milošević zum Ende des ersten Teils. Diese schließt den Kreis der Kritik ethnonationalistischer Politikmuster und der mit ihr verbundene Flüchtlingsproblematik, die ihr historisches Debut gegen Ende des neuzehnten Jahrhunderts auf dem Balkan hatte, wie der bereits eingangs erwähnte Historiker Mark Mazower kommentiert. Der erste Teil der Dokumentation fokussiert die Konfliktdynamik des aufkommenden Nationalismus gegenüber der multiethnischen Sozial- und Staatsstruktur des Imperiums. Es gelingt Damoisell ein umfassendes und weitverzweigtes Bild dieses Epochenwandels zu entwerfen, das den Darstellungen der gegenwärtigen Forschungsliteratur entspricht (vgl. Aksakal 2014; Leonhard 2014, 81; Rogan 2016, Pos. 213, Suny 2015a + 2015b, Zürcher 2003). Vor diesem Hintergrund wird der Erste Weltkrieg seine katastrophale Wirkung erzeugen, die den Genozid an den Armeniern ebenso umfassen, wie die kolonial angeleiteten Staatsgründungen nach dem Krieg, die den konfliktbehafteten modernen Nahen Osten hervorbringen. Es fällt auf, dass die Akzentuierung der zersetzenden Wirkung ethnonationalistischer Bewegungen, die sich bis in gegenwärtige Politikmuster fortsetzt, eine inhaltliche Parallele zu den AJE-Produktionen aufweist. Der zweite Teil der Dokumentation ‒ Der berstende Nahe Osten ‒ beginnt, wie der erste endete. Mit Bildern aus der Gegenwart, die einen unmittelbaren Bezug zur historischen Thematik erzeugen. Gezeigt wird das alljährliche Innehalten zu Ehren des Todestages des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemals in einer metropolitanen Straßenszene. Die ästhetische Darstellung scheint zunächst der säkularen Ehrung Atatürks zu folgen, wenn die Kamera schweigend zu dessen Statue eines Gedenkmonumentes schwenkt. Dem memorialen Pathos der Gedenkminute wird auf der Bildebene allerdings entgegengewirkt, da auf dem metallenen Kopf des Staatsgründers kleine Vögel recht unbekümmert umherhüpfen. Die Bildebene konterkariert das Gedenkpathos durch ein Alltagsmotiv, was Teil der ästhetischen Inszenierungsstrategie ist, die in der Schlusseinstellung wieder aufgegriffen wird. Historiografisch orientiert sich der zweite Teil am Kriegsverlauf und den Folgen des Zerfalls des Osmanischen Reiches bis hin zur Entstehung des modernen Nahen Ostens „mit Konflikten, die bis heute immer wieder aufflammen“ (OTTOMANS E2: 01:25). Der Konfliktherdmetaphorik sind Bilder der israelisch-pa-

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lästinensischen Sperranlage unterlegt, die als ein Teil des historischen Erbes des Osmanischen Reiches präsentiert werden. Diesem ‚Erbe‘ kommt neben den spannungsbehafteten Vermächtnissen im Libanon, Syrien und Irak die Aufmerksamkeit der zweiten Episodenhälfte zu. Das historiografische Narrativ der Dokumentation siedelt seine Schwerpunkte entlang der Kriegsschauplätze im Osmanischen Reich an. Dazu zählt der Kaukasusfeldzug, dessen katastrophales Scheitern von den Jungtürken bekanntlich den Armeniern zugeschoben wurde. Der Genozid an den Armeniern wird als solcher klar benannt und visuell mit Archivbildern drastischer Gewaltereignisse unterlegt. Das Wissen darum sowie das damit verbundene Stillschweigen des deutschen Bündnispartners finden mehrfach Erwähnung. Es folgt die Darlegung der brutalen Niederschlagung kultureller Autonomiebestrebungen in Teilen der arabischen Gebiete durch Cemal Pascha, die – wie in den AJE-Produktionen – als Wendepunkt für die Entfremdung zwischen arabischen und türkischen Osmanen angeführt wird. Anders als dort spitzt sich die Diskrepanz aber nicht zur Darstellung eines kulturellen Traumas zu, sondern wird durch die abgewogene Kommentierung im Experteninterview mit dem palästinensischen Soziologen Salim Tamari10 in seiner Geltung relativiert. Insgesamt neigt die Darstellung der Konfliktthemen durch eine verhaltene musikalische Untermalung etwas weniger zu einer emotionalen Wahrnehmung des stark politisierten Narratives. Die arabische Unterstützung der von den Briten initiierten Rebellion wird in eine enge Verbindung zu Cemal Paschas Politik gesetzt. Die Kämpfe in Mesopotamien finden nur eine kurze Erwähnung, bevor die Aushandlung der Nachkriegsordnung zur Sprache kommt. Hier wird über die Darstellung der Konferenz in Versailles mit den gebrochenen Versprechungen gegenüber dem Scherifen von Mekka, Hussein Ibn Ali und dessen Sohn Faisal das Sykes-Picot-Abkommen als Marker für den Verrat der Briten an ihren Verbündeten angeführt. Das zentrale Thema bei der Implementierung der kolonial angeleiteten Nachkriegsordnung ist die ethnisch-religiöse Ausgestaltung der neugeschaffenen Nationalstaaten, die politisch und kulturell befriedet werden müssen. Diese Thematik verbindet die beiden Episoden der Dokumentation und kann als Leitfaden angesehen werden, dessen problembehaftete Geltung

10 Tamari hat in seinem Buch Year of the Locust. A Soldier’s Diary and the Erasure of Palestine Ottoman’s Past anhand biografischer Studien herausgearbeitet, dass es in der arabischen Bevölkerung eine durchaus gefestigte osmanische Identität gab, die durch die von Cemal Pascha betriebene Zentralisierung und Turkifizierung des Reiches herausgefordert wurde (vgl. Tamari 2011, 15). Die Arte-Produktion verwendet zahlreiche Interviewszenen mit Tamari und lässt den Bruch zwischen arabischer Bevölkerung und türkisch-osmanischer Herrschaft weniger traumatisch erscheinen.

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nun im Libanon, Israel, Syrien und Irak als Folgestaaten des untergegangenen Reiches durchgespielt werden. Die Franzosen bestehen in Versailles auf ihr Mandat in Syrien, von dessen Territorium der Libanon später an die christlichen Maroniten als traditioneller Bündnispartner abgetreten wird. Die Abspaltung führt im Juli 1920 zur Schlacht bei Maysalun, nach der Faisal die Flucht ins Exil antreten muss. Der in Oxford lehrende Historiker Eugene Rogan kommentiert, dass die französische Seite trotz großer Zugeständnisse von Faisal in Versailles nicht zu Kompromissen bereit war und die Briten ihre ehemaligen Verbündeten im Stich ließen, was als „ultimate betrayal“ (OTTOMANS E2: 21:30) an den Haschemiten aufgefasst wurde. Dergestalt nimmt das Sykes-Picot-Abkommen mit seinen Folgen die Gestalt eines kulturellen Traumas an. Arabische Nationalisten sahen darin die Verweigerung politischer Selbstbestimmung, die den Konflikt mit den Kolonialmächten im zwanzigsten Jahrhundert prägen sollte. Um den libanesischen Staat territorial bestandsfähig zu machen, werden Gebiete im Norden mit sunnitischer Mehrheitsbevölkerung und der überwiegend schiitische Süden hinzugenommen. Das Resultat brachte einen „rigiden politischen Konfessionalismus“ (OTTOMANS E2: 24:15) hervor, der für die relative Stabilität des mediterranen Staates sorgt, indem den verschiedenen religiösen Gruppen einflussreiche Staatsfunktionen zugewiesen werden, aber die Staatsgewalt nicht über den Religionen steht, sondern unter diesen aufgeteilt ist. Das israel-palästinensische Dilemma wird historisch über die Balfour-Erklärung hergeleitet, wobei mit den in Europa vertriebenen Juden eine europäisch geprägte Bevölkerungsgruppe Fuß in der Region fasse. Die Spaltung zwischen Juden und Muslimen wird der britischen Mandatspolitik zugeschrieben, die durch ihre Grenzziehungen und das Eintragen der Religionszugehörigkeit in den Pässen den ethnisch-religiöse Gegensatz verstärkte, den es so im Osmanischen Reich nicht gegeben habe. Der an der Bar-Ilan Universität lehrende israelische Historiker Menachem Klein erklärt, dass die Chance versäumt wurde, eine arabisch-jüdische Identität zu entwickeln, die für beide Konfliktparteien akzeptabel gewesen wäre. Stattdessen haben der zionistische wie palästinensische Nationalismus eine religiöse Aufladung erfahren, die sie wechselseitig exklusiv werden ließen. Im Unterschied zum Mittelalter handele es sich nicht um einen Religionskrieg. Vielmehr verliefen die Konfliktlinien entlang ethnisch-nationaler Identitäten, die durch die Religionszugehörigkeiten bestärkt würden. Auf der Bildebene bekräftigen aktuelle Aufnahmen aus dem partiell abgeriegelten Hebron sowie der Sperranlage zum Westjordanland die polarisierenden Auswirkungen jener Politiken für die Gegenwart. Die dokumentarische Erzählung misst dem britischen Beitrag zur Entwicklung des israelisch-palästinensischen Konfliktes mehr Bedeutung bei, als man es in der gängigen Fachliteratur findet (vgl. Segev 2018, Morris 2001). Die Akzentuierung politischer Differenzen durch

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ethnisch-religiöse Identitätssetzungen fügt sich in das historisch-politische Narrativ der Dokumentation ein, das am Ende die politische Form des Nationalstaates insgesamt als Lösungsformel für das Zusammenleben in der Region in Frage stellen wird. Die Thematik setzt sich mit der Beschreibung der irakischen Staatsgründung in Mesopotamien fort. Hier räumt die Arte-Produktion, der bereits vorgestellten britischen Archäologin und Agentin Gertrude Bell (vgl. Kap. 3), einen prominenten Platz ein. Der irakische Historiker Saad Eskander11 stellt die unterschiedlichen britischen Ansätze zur Etablierung des Staates vor und bewertet die historische Rolle der Gertrude Bell (OTTOMANS E2: 33:00–39:58). Danach habe sich mit Bells Vorstellung von der Einsetzung Faisals als König des Iraks die Version des Kairoer Büros der britischen Außenpolitik durchgesetzt. Diese zielte – im Unterschied zu der von der indischen Außenstelle vertretenen Variante – auf eine indirekte Form kolonialer Kontrolle durch die Implementierung eines den Briten wohlgesonnenen Herrscherhauses: Gertrud Bell und andere haben sich überlegt, eine königliche Familie zu importieren. Sie wollten es so machen wie in Europa – es war sehr dumm, niemanden aus dem Irak zu nehmen – stattdessen holten sie diesen Mann [Faisal; M.E.] von der arabischen Halbinsel und glaubten damit Erfolg zu haben. Er werde ein Symbol der Einheit sein. Aber ihm fehlte jede Grundlage. Er hatte keinen Platz in unserer Geschichte oder in unseren Erinnerungen. Wir waren eine gespaltene Gesellschaft, die mit Gewalt zusammengeschweißt wurde. (OTTOMANS E2: 37:20‒37:59)

Die bis dahin zumeist mit Archivaufnahmen unterlegte Sequenz springt dann mit einem Kommentar des Historikers in die unmittelbare Gegenwart: Die USamerikanische Einnahme des Landes 2003 beendete die Ära eines sunnitischen Herrschers über eine multiethnische Bevölkerung. Man habe allerdings nicht aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, wenn man nun der schiitischen Minderheit die Regierungsgewalt übertrage, so Eskander. Eine kurze Sequenz thematisiert mit dem Aufkommen von ISIS eine transnationale Gegenbewegung zu den kolonial erzeugten Grenzziehungen, deren Schreckensregime die Gefahren fundamentalistisch-islamistischer Lösungsversuche verdeutlicht. Eugene Rogan weist auf die Kontinuität transnationaler Bewegungen in der Region hin und kommentiert, dass man sich paradoxer Weise dazu gezwungen sieht, die kolonialbestimmten Grenzen zu verteidigen. Die The-

11 Der irakisch-kurdische Wissenschaftler arbeitet als Direktor der Nationalbibliothek und -archiv des Irak und machte durch die Publikation eines Blog-Tagebuches auf die prekäre Situation in Bagdad nach der US-amerikanischen Absetzung des Regimes von Saddam Hussein aufmerksam (vgl. Cohen 2007).

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matik der ethnisch-nationalen Ausschlüsse setzt sich mit dem Schicksal der Kurden fort, die als „ein Volk ohne Land“ portraitiert werden. Die politische Parteinahme der Regisseurin für die kurdische Sache tritt hier klar hervor. Durch eine zeitliche Rückblende zu den Verträgen von Sèvres 1920 und Lausanne 1923 wird die ethnisch fundierte Gründung der heutigen Türkei verdeutlicht, in der ein kurdischer Staat keinen Platz mehr hatte, beziehungsweise nicht durchgesetzt werden konnte. Dem wird die historische Leistung der türkischen Staatsgründung durch Mustafa Kemal entgegengestellt. Der französische Historiker François Georgeon situiert den jungen türkischen Nationalismus im Zwiespalt zwischen Säkularismus und muslimisch-türkischer Identität, der bereits bei der Wahl der Namesgebung ‚Türkei‘ eine ethnische vor eine geografische [Anatolien; M.E.] Identität setzte. (OTTOMANS E2: 40:44‒47:50) Der historische Schlusskommentar über den Zwiespalt von multikonfessionellem Reich und nationalstaatlichen Regierungssystemen mit ihren ethnischreligiösen Engfassungen wird dem Historiker Hamid Bozarslan zugewiesen. Er kommentiert, dass der Zerfall der Imperien insgesamt – das Zarenreich sowie die Habsburger Monarchie werden explizit eingeschlossen – angesichts des Aufkommens nationaler Bewegungen vermutlich unaufhaltsam war, nur dass er nicht diese Form hätten annehmen müssen (OTTOMANS E2: 51:20). Bozarslan Bemerkung zielt auf die verheerenden Konsequenzen des massenhaften Todes im Weltkrieg, aber auch dem Leiden der Zivilisten, dem armenischen Genozid, den ungezählten Flüchtlingen und die Kolonialherrschaft. Die zweiteilige TV-Dokumentation endet mit einer Frage, die im Kontext des Dargestellten eher rhetorischen Charakter hat: Sollte uns das Ende des Osmanischen Reiches mit seiner Geschichte von Chaos und Gewalt nicht über Staaten, Nationen und Grenzen nachdenken lassen – über andere Formen des Zusammenlebens, über andere Formen des Zusammenlebens, über Unionsformen? Um die Wunden zu heilen, die durch die Aufteilung des Reiches geschlagen wurden, Wunden, die auf dem Balkan und im Nahen Osten noch immer Gefahr für die ganze Welt darstellen. (OTTOMANS E2: 52:15)

Auf der Bildebene schaukelt ein Ausflugsschiff mit Passagieren auf den Wellen des Bosporus symbolträchtig zwischen den Ufern der beiden Kontinente. Wie schon in der Anfangseinstellung mit dem Denkmal Mustafa Kemals und den kleinen Vögeln wählt die Regisseurin ein Bildmotiv, in dem Alltagselemente auf historiografisch und erinnerungskulturelle Mythen stoßen. Diesen Zusammenprall kann man als die sicherlich zurückhaltend angelegte ästhetische Form des dokumentarisch-historiografischen Narratives ansehen, die implizit die Frage nach dem Wohlergehen der einfachen Bevölkerung angesichts historisch-ideologischer Verschiebungen aufwirft.

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Das Motiv der Wunde wird im Schlusskommentar dazu benutzt, die historische Kontinuität eines politischen Problems zu markieren. Auch dies kann als eine Spielart der Etablierung eines kulturellen Traumas gelten, indem die fortdauernden Wirkungen der gewaltvollen Auflösung des Osmanischen Reiches benannt werden. Insgesamt aber überwiegt in der ästhetisch narrativen Gestaltung die Akzentuierung politischer Konflikte, die durch die religiöse Aufladung ethnisch geprägter Nationalismen entstanden sind. In der hier gewählten Konfliktmetaphorik treten die politischen Akteure in den Vordergrund, während es im Falle traumatischer Verletzungen eher um die Fortdauer des Leidens der Opfer geht. Beide Motive haben gewiss ihren Platz in dieser Geschichte. Aufschlussreich ist aber die unterschiedliche Gewichtung und inhaltliche Ausrichtung gegenüber dem Aljazeera-Narrativ. Die Akteursperspektive lässt sich als die Fortsetzung des westlichen Blickwinkels begreifen, wenn der europäische Sender politische Unionsformen als Lösungsansatz unterbreitet. Dabei werden in Bezug auf die gleichen Themen andere Affekte mobilisiert: Der Zerfall muslimischer Einheit unter dem Kalifat oder das Auseinandertreten von türkischer und arabischer Geschichte werden nicht als Schock oder Trauma dargestellt. Allenfalls wird ein Gefühl des Trauerns evoziert. So etwa explizit, wenn Salim Tamari kommentiert: „Viele von uns trauern der Zeit nach, in der die arabische Welt und der Nahe Osten noch nicht geografisch unterteilt waren.“ (OTTOMANS E2: 25:05–25:55). Tamaris Beschreibung der ungeteilten Zustände vor der nationalstaatlichen Zerstückelung der Region ist vielleicht die stärkste Passage, in der der Verlust pan-arabischer Gemeinsamkeit artikuliert wird. Im Unterschied zu den AJE-Produktionen ist die Kodierung dieses Verlustes kaum als traumatisch zu bezeichnen. In der Übersetzung von Tamaris Beschreibung wird der Trauerbegriff verwendet, der bekanntlich den Prozess des Durcharbeitens von Verlusterfahrungen umfasst. Die Schreckensherrschaft von Cemal Pascha in den ehemaligen syrischen Provinzen des Reiches wird als politische Weichenstellung wahrgenommen, ihre tiefen Auswirkungen in die arabische Zivilgesellschaft hinein sind hingegen weniger spürbar. Die Hungerkatastrophe in Syrien ist kein Thema. Der Genozid an den Armeniern wird klar benannt und hervorgehoben, während der Terminus in den AJE-Produktionen gemieden wird. Die stärkste Überschneidung gibt es bei der Darstellung von Sykes-Picot-Abkommen, Balfour-Erklärung und einer auf der Bildebene kritischen Haltung gegenüber dem Zionismus, bei denen man die affekthaften Motive von Verrat und dem Verlust von Vertrauen inszeniert. Die dokumentarische Erzählung mündet in die Kritik der ethnisch-nationalen Form des Nationalstaates, wie er als koloniales Herrschaftsmittel Einzug gehalten hat.

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Der zweiteiligen Produktion gelingt eine beeindruckende Durchdringung osmanischer Geschichte, die die Vorgeschichte des Großen Krieges, dessen Verlauf sowie die historische Entwicklung der Nachfolgestaaten in der Region direkt mit heutigen Bildern verknüpft und so eine narrative und visuelle Verbindung erzeugt, die einem erinnerungskulturellen Desiderat im europäischen Gedächtnis Rechnung trägt. Es ist bemerkenswert, dass mit den Unionsformen eine politische Lösungsformel für die fortbestehenden Konflikte in den Raum gestellt wird, die Handlungsoptionen betont und implizit auf das europäische Narrativ des Großen Krieges rekurriert. So fungiert die Arte-Produktion als ‚Identity Contractor‘ im Nahen Osten, beziehungsweise legt seinem Publikum ‚Unionsformen‘ als regionsübergreifenden Lösungsansatz für die konfliktbeladene Geschichte nationalstaatlicher Regierungsformen nahe. Die Konstruktion eines dezidiert europäischen Narratives lässt sich in einer weit umfangreicheren Zentenariumsproduktion von Arte untersuchen. Dabei handelt es sich um die achtteilige TV-Miniserie 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS die in Kooperation mit der in Deutschland ansässigen Produktionsfirma LOOKSfilm hergestellt wurde. Die Miniserie wurde recht erfolgreich in Deutschland und Frankreich ausgestrahlt12 und in mehr als sechsundzwanzig Länder distribuiert. Genretheoretisch kann die Produktion als Fortsetzung jener im ersten Kapitel angeführten Tendenz der filmischen Weltkriegserinnerungen angesehen werden, die darauf zielen, nationale Rahmungen zu überschreiten und eine individuierende Betrachtung des Krieges zu ermöglichen. Dabei stellt sich die Frage, ob die Tagebuchadaptionen als selbstständige Quellen Geltung erlangen oder der Konstruktion eines europäischen Gedächtnisses dienen, bei der individuelle Stimmen lediglich als emotionalisierende Bausteine eines transnationalen Narrativs herangezogen werden. In diesem Kontext wird ebenfalls deren Funktion bei der Kodierung eines kulturellen Traumas zur Markierung der Epochenschwelle der ‚europäischen Urkatastrophe‘ zu untersuchen sein.

12 Die deutsche Erstausstrahlung erfolgte am 29. April 2014. Die Einschaltquoten in Deutschland und Frankreich lagen jeweils knapp über den Erwartungen der zugewiesenen Sendeplätze. Diese und weitere internationale Einschaltquoten finden sich mit Quellenangaben auf der Wikipedia-Homepage: https://de.wikipedia.org/wiki/14_–_Tagebücher_des_Ersten_Welt kriegs (16. September 2019).

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Die Europäisierung des Großen Krieges im Format der TV-Miniserie – 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS Die 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS [im Folgenden: 14 TAGEBÜCHER; M.E.] waren zunächst als kleinere TV-Dokumentation angelegt, bis der LOOKsfilm Produzent Gunnar Dedio realisierte, dass die Rezeptionsgewohnheiten des anvisierten jüngeren Zielpublikums sich geändert hatten. Mit Hilfe des niederländischen Dramaturgen Maarten van der Duin wurde das bereits fertige Originaldrehbuch zu einer achtteiligen TV-Miniserie umgeschrieben und mit einem erweiterten Budget von acht Millionen Euro ausgestattet (vgl. Dedio 2014, 290). Die Annahme war, dass ein heutiges Publikum den ästhetischen und narrativen Flow gängiger Miniserien erwartet und auf die genreübliche Mischung von Archivmaterial, Experteninterviews, dynamischem Kartenmaterial und einigen nachgestellten Aufnahmen, die noch durch einige computeranimierten Rekonstruktionen ergänzt werden, nicht ansprechen würde. Dem Produktionsteam um Regisseur Jan Peter schwebte von Anfang an eine multinational angelegte Erzählung vor, was sich mit den europäischen und globalen Vermarktungsinteressen deckte. Dabei gründete sich die Unternehmung auf ein „transmedia storytelling“ wie Silke Arnold-de Simine und Tea Sindbæk Andersen überzeugend darlegt haben (2017, 65), das neben Bucheditionen, einer Museumsausstellung, verschiedenen Internetauftritten auch eine Adaption fürs Kinderfernsehen13 umfasst. Die Autorinnen argumentieren, dass der transnationale Ansatz der Miniserie durch die meist mit regionalen Einführungen und Änderungen versehene Produktion re-nationalisiert werde beziehungsweise auf eine Resilienz des Nationalen verweise (vgl. Andersen/Arnold-de Simine 2017, 74). Ein Argument, auf das später zurückzukommen sein wird. Wie der Serientitel bereits nahelegt, gründet die filmische Erzählung auf der Adaption von vierzehn Tagebüchern von mehr oder weniger bekannten historischen Zeitgenossen. Dazu zählen so renommierte Persönlichkeiten wie die deutsche Bildhauerin Käthe Kollwitz, der Schriftsteller Ernst Jünger, der englische Journalist und Autor Edward Charles Montague oder der durch die posthume Veröffentlichung seiner Tagebücher bekannte französische Sozialist und Fassmacher Louis Barthas. An deren Seite treten weniger bekannte historische Personen wie der österreichische Bauer Karl Kasser, die schottische Krankenschwester Sarah Mc Naughton, der in den Vereinigten Staaten lebende, italienisch-stämmige Vincenzo DʼAquila oder die Kosakin Marina Yurlova in Erscheinung. Eine erweiterte

13 Siehe SMALL HANDS IN A BIG WAR, https://looks.film/en/small-hands-big-war (12. November 2019).

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Darstellung der Kriegsereignisse an der Heimatfront wird durch die kindlich-jugendlichen Perspektiven von Yves Congar (Antoine de Prekel), einem späteren Kardinal sowie Elfriede Kuhr (Elisa Monse) vorgenommen.14 Die Auswahl umfasst sieben Frauen und Männer, deren Lebensmittelpunkt sich über verschiedene Großreiche und Nationen erstreckt, die aber über eine europäische Herkunft verbunden sind.15 Wie verknüpft das filmische Narrativ die Tagebuchaufzeichnungen mit den historischen Kriegsereignissen? Die allgemeine Strategie besteht darin, die Kriegsereignisse mit Hilfe der Autobiografien zu authentifizieren und zu dramatisieren, während der größere militärische und soziokulturelle Kontext durch das Voice-Over bereitgestellt wird. So eröffnet die Miniserie mit Marina Yurlova (Natalia Witmer), die als Tochter eines Offiziers der zaristischen Armee sich entschließt, ihrem im Kaukasus stationierten Vater zu folgen. Marina durchstreift auf der Suche nach ihrem Vater ein Feld von Sonnenblumen, während die Kirchenglocken den Kriegsbeginn verkünden. Die ästhetische Rahmung beinhaltet in nuce das Motiv von Europas letztem Sommer mit der Protagonistin in einem Meer von Sonnenblumen, bevor sich die Verheerungen des Kriegs über die Landschaften erstrecken werden. Durch die Inszenierung ihrer Erfahrungen werden die Zuschauer mit verschiedenen Schlachten der zaristischen Streitkräfte bekannt gemacht, bis die kommunistische Revolution der russischen Kriegsanstrengung ein Ende setzt. Die historischen Kommentierungen sowie die nachgestellten Szenen werden noch durch Berichte von zahlreichen weiteren Soldaten und Zivilisten ergänzt, die an thematisch relevanten Stellen eingestreut werden. Die autobiografischen Aufzeichnungen werden vor dem visuellen Hintergrund von Archivmaterial in den Originalsprachen eingesprochen. Dadurch erscheint einerseits das biografische Erleben als eine allgemeine Kriegserfahrung und andererseits wird durch die Inklusion von Soldatenstimmen aus den ehemaligen Kolonien, dem Osmanischen Reich und Fernost der europäisch dominierte Rahmen der Kriegsereignisse überschritten. Musikalisch sind diese Sequenzen mit Chormusik unterlegt, was nach Angaben des Regisseurs gleicher14 Ein biografischer ‚Steckbrief‘ aller historischen Charaktere findet sich auf einer eigens eingerichteten Homepage. Für Elfriede Kuhr vergleiche: http://www.14-tagebuecher.de/page/de/ timeline/elfriede-kuhr/1914-10–20 (23. September 2019). 15 Die Idee, das Kriegsgeschehen anhand biografischer Aufzeichnungen zu personalisieren und für ein breites Publikum aufzubereiten, ist freilich alles andere als neu. Im konkreten Fall lieferte das Buch Schönheit und Schrecken des schwedischen Autors und Historikers Peter Englund eine wichtige Vorlage. Englund entwirft darin anhand von 19 Kriegsteilnehmerinnen und -teilnehmern ein breites Panorama des Krieges. Zwei der Protagonisten (Elfriede Kuhe und Vincento DʼAquila) wurden in die Auswahl der 14 TAGEBÜCHER aufgenommen. Englund besorgte die Einführung für die filmische Adaption der 14 TAGEBÜCHER für das schwedische Fernsehen (Andersen/Arnold-de Simine 2017).

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maßen die Polyphonie wie die Zusammengehörigkeit der verlesenen Aufzeichnungen ausdrücken soll. Die chorale Musik erzeugt einen starken Anklang an christliche Kirchenmusik und evoziert eine kulturelle Klammer, die die durch die biografische Vorauswahl der Protagonisten geschaffene europäische Perspektive ästhetisch noch verstärkt. Es wird an späterer Stelle zu erörtern sein, ob die hier angedeutete Überschreitung des europäischen Erzählrahmens eingelöst wird oder eher eine vereinnahmende Ausweitung vorliegt. Stilistisch erfolgt die Einbettung der Tagebuchadaptionen durch nachgestellte Szenen, die in dem genreüblichen Mix aus abgefilmten Archivbildern sowie Filmausschnitte aus zeitgeschichtlichen Nachrichtensendungen und Spielfilmen eingebunden werden. Der Anteil an Reenactment-Szenen ist allerdings weit höher als in den zuvor untersuchten, stärker dokumentarisch angelegten Produktionen. Die Bildmischung erzeugt einen ästhetischen Kontrast zwischen dem SchwarzWeiß des historischen Archivmaterials und den farbigen Reenactment-Szenen, den der Regisseur durch die Montage zu überbrücken sucht. Jan Peter behauptet, dass die Zuschauer mit dem Archivmaterial das zu sehen bekommen, was den historischen Akteuren vor Augen stand. Das eingearbeitete Material sei so genau recherchiert, dass es der Dramaturgie gestatte, die nachgestellten Szenen mit den historischen Aufnahmen direkt zu verbinden (Peter 2014, 278). Im Resultat entstehe ein „dokumentarischer Spielfilm“, der durch eine „horizontale und vertikale Dramaturgie“ das historische Geschehen in jeder einzelnen Folge und über die gesamte Staffel zu einem großen Drama verdichte (vgl. Interview Jan Peter, DVD-Material, Extras16). So gleitet der Blick von Protagonisten der Spielszene direkt auf die unwirklichen Bilder des Niemandslandes. Dieses aus dem Histotainment von Guido Knopp17 bekannte Verfahren der historischen Authenti-

16 Der Making-Off-Clip der DVD mit dem Interview des Regisseurs ist online auf der Homepage der 14 TAGEBÜCHER abrufbar: http://www.14-tagebuecher.de/page/de/about/ (16. September 2019). 17 Guido Knopp leitete die ZDF-History-Reihe von 2001 bis 2013. Er entwickelte in der kommerziellen Auseinandersetzung mit den privaten Fernsehsendern ab Mitte der 1980er Jahre ein dokumentarisches TV-Format, dem es gelang, historische Themen auf Sendeplätze während der Prime Time zu platzieren. Historiografisch steht dabei in der Auseinandersetzung mit dem NS ein auf Adolf Hitler zentriertes Geschichtsbild im Vordergrund, das filmsprachlich dazu neigt, die mehrheitsdeutsche Bevölkerung in ein Opfernarrativ gegenüber einer verruchten und verführerischen NS-Elite einzubinden. Die Popularisierung des deutschen Geschichtsfernsehens geht daher mit der unkritischen Ausweitung einer Opferperspektive einher. (Vgl. Ebbrecht 2011, Elm 2008, Kansteiner 2003, Keilbach 2002). Knopp verabschiedete sich mit der dreiteiligen TV-Miniserie WELTENBRAND von seiner aktiven ZDF-Karriere (vgl. https://www.spiegel.de/kultur/tv/zdf-historiker-guido-knopp-verab schiedet-sich-mit-serie-weltenbrand-a-847730.html, 14. September 2019), die das TV-Format in der Verknüpfung von Erstem und Zweitem Weltkrieg zur Geltung bringt und gegen Ende dieses Kapitels besprochen wird.

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zitätsfiktion (Elm 2008) dient gleichermaßen dem narrativen Erzählfluss, wie es die nachgestellten Szenen durch die Einbindung des dokumentarischen Materials als historisch echt situiert. Angesichts des verwendeten, zumeist für Nachrichten- oder Filmpropaganda produzierten Materials sowie der unausgewiesenen Zusammenfügung von Reenactment und historischer Realität führt es allerdings einige Probleme mit sich. Der Effekt der Authentizitätsfiktion tritt vor eine kritische Durchdringung des historischen Bildmaterials und wird in den Dienst des historischen Narrativs der Miniserie gestellt. Ein weiteres, häufig angewandtes stilistisches Element der Miniserie besteht in der direkten Ansprache der Zuschauer durch die historischen Charaktere, die so aus dem filmischen Narrativ herauszutreten scheinen. Während die Rahmenhandlung zum Stillstand kommt, äußern die Protagonisten Reflexionen über ihr Innenleben oder interpretieren ihre Situation. Dies kann in zweierlei Hinsicht aufgefasst werden: Zum einen als ein Bruch mit der angesprochenen Authentizitätsfiktion, indem die dominante Erzählebene durch ein (selbst)-reflexives Element unterbrochen wird. Zum anderen – und das ist die vom Regisseur intendierte Wirkung – soll eine unmittelbare Verbindung zwischen den historischen Akteuren und den heutigen Zuschauern hergestellt werden. Jan Peter führt aus, dass es ihm dabei um die Aussendung eines ‚SOS‘ aus der Vergangenheit geht, bei dem die Zuschauer einen direkten Zugang zu den Gedanken und Gefühlen der historischen Charaktere erhalten (2014, 281). In dieser Lesart sind die anhand der Tagebücher vorgenommenen Introspektionen eine Fortsetzung der Authentizitätsfiktion, die mit einer historischen Warnung verknüpft ist. Durch letzteres kündigt sich bereits an, wie die autobiografischen Zeugnisse mit der Verarbeitung von Gewaltgeschichte verknüpft werden. Nahezu alle Hauptcharaktere senden eine historische Botschaft aus, indem sie einen Einstellungswandel durchlaufen, der sich von einer anfänglichen Kriegsbegeisterung oder -befürwortung hin zu einer mehr kritischen bis ablehnenden Haltung entwickelt. Bevor die Inszenierung dieses Einstellungswandels genauer beschrieben wird, soll der thematische und strukturelle Aufbau der Episoden vorgestellt werden, zumal dieser ebenfalls mit der Konstruktion einer Epochenschwelle und der Kodierung eines kulturellen Traumas verbunden ist. Zu Beginn jeder Folge wird im Intro durch einen thematischen Block dargelegt, was die Vorkriegszeit von der Kriegs- und Nachkriegszeit unterscheidet. In der Darstellung des historischen Zeitgeistes ist die Vorkriegszeit eine überwiegend friedliche Periode, die durch technologische Neuerungen und industrielle Produktion ein Leben in Sicherheit und Überfluss als möglich erscheinen lässt. Die einzelnen Episoden legen bestimmte Aspekte dieser Vorstellung von industriellem und gesellschaftlichem Fortschritt dar, die im Krieg ihr Potential als Vernichtungsmittel offenbaren. Das Voice-Over zelebriert im ‚Wir‘-Ton den in allen

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europäischen Nationen vorhandenen Glauben an die Versprechungen einer blühenden Zukunft „bis zum Sommer von 1914“. Dann enthüllen die als fortschrittlich angesehenen Gewissheiten eine Schattenseite, aus deren Summe sich die epochale Zäsur herleitet. Die einzelnen Episoden folgen chronologisch dem Kriegsverlauf und werden im Intro musikalisch kontrapunktisch18 mit folgenden Themen verknüpft: Mobilität durch Zug und Automobil (E1: The Abyss/Der Abgrund), Urbanisierung (E2: The Onslaught/Der Überfall), medizinischer und wissenschaftlicher Fortschritt (E3: The Anguish/Die Verwundung), Familien- und Geschlechterverhältnisse (E4: Hearts Desire/Die Sehnsucht), Luftfahrt und Elektrizität (E5: The Annihilation/Die Vernichtung), Landwirtschaft und Wohlstand (E6: The Home Front/ Die Heimat), Einführung Schulpflicht und Freiheit von Angst (E7: The Uprising/ Der Aufstand). Die achte Episode (The Tipping Point/Die Entscheidung) kehrt die Erzählordnung um. Das Voice-Over führt aus, dass der Krieg die einzige Realität ist, „die wir noch kennen“. Die Welt hat sich in einziges Schlachtfeld verwandelt und kein Ende der Kämpfe scheint in Sicht. Die Kriegsgründe sind längst vergessen und es gibt nur noch den „totalen Sieg“ oder die „totale Niederlage“´. (Vgl. 14 TAGEBÜCHER, Intro, E8). Die Struktur des ‚dokumentarischen Spielfilms‘ konstruiert den Krieg als epochale Zäsur im Selbstbild der europäischen Moderne. Die filmische Erzählung fungiert in der Sprache von Jeffrey C. Alexander als „indelible“ (2012, 4) [unauslöschlicher; M.E.] Referenzpunkt, der durch seine dialektische zeitliche Struktur die Vergangenheit von der Gegenwart abtrennt. Gleichzeitig bleibt die Gegenwart mit der Vergangenheit durch die schockartige Trennung verbunden. Der Krieg schreibt sich als kulturelles Trauma in die Gegenwart ein, das diese erinnern, nicht aber überwinden kann. Auf der Homepage der 14 TAGEBÜCHER wird der Terminus der Urkatastrophe zur Charakterisierung des Epochenwandels verwendet.19 Drehbuchautor Yuri Winterberg und Regisseur Jan Peter verbinden mit dieser dramaturgischen Kontrapunktierung einer ausgedehnten Friedensperiode gegenüber der Kriegszeit eine Warnung an das heutige Publikum, den Frieden in Europa nicht als unumstößliche Gegebenheit aufzufassen (Winterberg 2014, 288; Peter 2014, 279). Der zweite Baustein bei der Konstruktion eines kulturellen Traumas besteht in einem Update des ikonografischen Genremusters vom ‚sinnlosen Gemetzel‘20 für ein europäisches Publikum. Dieses Update wird durch ein spezifisches Erleben der Kriegsrealität an der Front und im Zivilleben der Heimatfront realisiert 18 Die musikalische Untermalung schwenkt von einem fröhlich-optimistischen zu einem düster und unheilvollen Motiv um, wenn das Voice-Over an der Stelle des Kriegsbeginns anlangt. 19 Vgl. http://www.14-tagebuecher.de/page/de/about/ (16. September 2019). 20 Vgl. zu den Genremustern des Großen Krieges Kapitel 1.

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und stützt sich wesentlich auf die Inszenierung der Tagebücher. Wie bereits erwähnt, durchlaufen die Hauptcharaktere einen Einstellungswechsel, der schon bei der Auswahl durch Yuri Winterberg eine entscheidende Rolle spielte. In Frage kamen nur solche Protagonisten, deren Tagebücher eine entsprechende Wendung vollziehen (Winterberg 2014, 285). Insofern handelt es bei den Adaptionen nicht einfach um 14 Tagebücher, sondern um solche, denen ein biografischer Einstellungswandel zugrunde liegt, der inhaltlich mit einer zunehmend kriegskritischen Haltung einhergeht. Wie werden diese biografischen Wendepunkte filmisch inszeniert? Eine exemplarische Sequenz für die Inszenierung dieses Erfahrungsgehalts ist die Frühjahrsoffensive von 1915 an verschiedenen Fronten. Die dokumentarische Erzählung kontrastiert die militärische Strategie der Generäle, die gegnerische Seite durch ‚Materialschlachten‘ zu ermüden, mit dem Erleben einfacher Soldaten. Das Voice-Over kommentiert zum Eingang der ausgedehnten Sequenz, dass diese Ermüdungsstrategie trotz einschlägiger Kenntnis der starken Verteidigungskräfte auf allen Seiten entwickelt wurde und „on sheer numbers“ (14 TAGEBÜCHER E2: 40:00) setzte. Zur Sprache kommen die französischen Offensive an der Westfront im Artois, der Versuch eines deutsch-österreichischen Durchbruchs in Galizien, der russische Kaukasusfeldzug sowie die Landung der alliierten Streitkräfte bei Gallipoli. Letztere erfährt aufgrund eines fehlenden Protagonisten nur eine Beschreibung durch das Voice-Over. In die nachgestellten Szenen sind dokumentarische Aufnahmen eingeschnitten, die durch die Parallelität des Dargestellten eine Gleichartigkeit von Inszenierung und historischer Realität nahelegen. Bei der Schlacht im Artois steigt der sozialistische Fassmacher Louis Barthes (Michaël Fitoussi) aus dem Graben und wird sogleich durch eine Explosion wieder zurückgeworfen. Die nachgestellten ikonografischen Bilder des Niemandslandes und der fatalistischen Stimmung vor der Attacke im Graben erhalten ein Update, das direkt an historische Aufnahmen montiert ist. Auf der anderen Seite des Niemandslandes sammelt Ernst Jünger (Jonas Leonhardi) seine kaum weniger blutigen Erfahrungen und stammelt nach einer Verwundung einige Sätze seiner stark bearbeiteten Prosa in den bewölkten Himmel (vgl. Jünger 2014). Der für seine Ästhetisierung des Krieges bekannte Jünger wird in der fünften Episode gezeigt, wie er sich unter dem Dauerfeuer der Alliierten die Seele aus Leibe schreit und so für die Schrecken des Krieges zeugt (14 TAGEBÜCHER E5: 33:26). Währenddessen meldet sich die bereits erwähnte Marina Yurlova für ein Himmelfahrtskommando im Kaukasus und verliert dabei ihren väterlichen Freund und Vorgesetzten Kosel (Dimitri Bilov), der sich ihr für die Mission anschließt (Abb. 29 und 30). Dem österreichischen Bauer Karl Kasser (David Oberkogler) ergeht es in Galizien nicht besser, muss er doch einen verwundeten Kameraden auf dem Schlachtfeld zurücklassen und wird wenig

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Abb. 29: 14 TAGEBÜCHER – Archivaufnahme. Vorrückende französische Truppen in einer nicht näher identifizierten historischen Aufnahme. (© mit freundlicher Genehmigung von LOOKSfilm. Das Copyright für das unbearbeitete Original liegt bei Gaumont Pathé)

Abb. 30: 14 TAGEBÜCHER – Reenactment. Das Reenactment passt sich durch die kontrastarmen Grautöne den historischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen an, spitzt das ikonografische Motiv des Heraussteigens aus dem Wehrgraben aber noch zu, indem die Kameraposition tiefer in den Graben verlegt wird. (© mit freundlicher Genehmigung von LOOKSfilm)

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später selbst schwer verwundet. Eingebunden in diese Sequenz furchtbarer Kampferfahrungen sind zahlreiche weitere Archivaufnahmen von türkischen, arabischen und anderen Kampfverbänden, zu denen meist einzeilige Berichte in den jeweiligen Sprachen verlesen und mit einer Übersetzung versehen werden. Die Sequenz schließt mit einer Auflistung der Opferzahlen der Frühjahrsoffensiven an den verschiedenen Fronten (14 TAGEBÜCHER E2: 49:45) und kehrt zu Louis Barthes an die Westfront zurück. Dieser hat unterdessen fast seine gesamte Truppe eingebüßt, wobei immer noch Befehle an die Soldaten ergehen, den Kampf fortzusetzen (14 TAGEBÜCHER E2: 40:00‒52:45). Die affektive Botschaft der Sequenz scheint offenkundig: Durch die Ähnlichkeit der soldatischen Erfahrung, die zuvorderst in fortgesetztem, unerträglichem Leiden besteht, greift die Erzählung über nationale Perspektiven hinaus und evoziert eine Gleichheit der dargebrachten Opfer. Die Vielsprachigkeit der Berichte versetzt das Publikum in eine Position, den Krieg als ein sinnloses Opfer aufzufassen, ganz gleich von welcher nationalen oder kulturellen Perspektive er betrachtet wird. Der Inszenierungsstil der Berichte und Tagebücher setzt sich in der Darstellung der überwiegend durch weibliche Protagonistinnen repräsentierten Heimatfront fort. Elfriede Kuhr (Elisa Monse) kommt aus einer kleinen Ortschaft in der Nähe zur Grenze des zaristischen Russlands. In der Schule werden die Kinder nationalistisch agitiert und aufgefordert, ihren bescheidenen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen zu leisten. Die Hirnwäsche verfehlt ihre Wirkung auf die opferbereite Elfriede nicht. Sie führt die Kochtöpfe der Großmutter den Sammlungen der stahlhungrigen Waffenindustrie zu. Wenig später beginnt sie eine Romanze mit einem jungen Flieger, der zur Ausbildung bei ihr in der Gegend stationiert ist. Dieser stirbt bei einem Trainingsflug und Elfriedes Kriegsbegeisterung beginnt sich einzutrüben. In der Schluss-Szene der letzten Episode sieht man sie nach dem Grab des jungen Mannes suchen, das auf dem überwucherten Friedhof kaum noch zu finden ist (14 TAGEBÜCHER E8: 51.42‒52.08). Die Dramaturgie der 14 TAGEBÜCHER vollzieht die beschriebene Wendung der Kriegserfahrung von anfänglicher Zustimmung zu Zweifel und Ablehnung. Ganz ähnlich ergeht es Käthe Kollwitz (Christiana Große) an der Heimatfront, die sich der Kriegsbegeisterung ihres jüngeren Sohnes nicht verschließen kann. Der jugendbewegte Vitalismus, der den Krieg als großes Erweckungserlebnis rahmt, kehrt auch in die sozialdemokratisch gesinnte Arzt- und Künstlerfamilie ein und wird in der ersten Episode kurz in Szene gesetzt (Abb. 31).

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Abb. 31: 14 TAGEBÜCHER – Peter/Sohn von Käthe Kollwitz. Die bildliche Inszenierung ästhetisiert Motive des in Deutschland verbreiteten Vitalismus im Kontext nationaler Kriegsbegeisterung. Der Krieg wird als ein in vielen Farben leuchtendes Spektakel gedacht, das hier im bunt beschienenen, verträumten Blick des Jünglings zum Ausdruck kommt. In ihren Tagebuchaufzeichnungen beschreibt Kollwitz diese Haltung, die sie zunächst mit ihrem Sohn teilte (Kollwitz 2012, 154). (© mit freundlicher Genehmigung von LOOKSfilm)

Kollwitz kann ihrem Sohn die Bitte, früher einrücken zu dürfen, nicht abschlagen. Eine Entscheidung, die zu ihrem persönlichen Fluch werden soll. Der achtzehnjährige Peter fällt bereits im Oktober 1914 und es wird weitere achtzehn Jahre dauern, bis es Kollwitz gelingt, ein Denkmal zu gestalten, das ihren Ansprüchen genügt.21 Die erste Episode der 14 TAGEBÜCHER endet mit einer Einstellung der desillusionieren Käthe Kollwitz, die das Sterbetelegramm ihres Sohnes zugestellt bekommt. Die französischen und britischen Frauencharaktere der Miniserie haben ähnliches zu erleiden. Sie vollziehen die nämliche Wendung von einer anfänglichen Unterstützung hin zu einer zunehmend kriegskritischen Haltung. Anhand 21 Das trauende Elternpaar wurde 1932 als Mahnmal aller gefallenen Söhne auf dem flandrischen Soldatenfriedhof Vladsloo eingeweiht. Käthe Kollwitz hat wenige Jahre später eine weitere, ihrem Sohn zugedachte Skulptur fertiggestellt. Die Pietà von Mutter und totem Sohn wurde 1993 durch Verfügung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl in der Berliner Neuen Wache zum Gedenken der Opfer beider Weltkriege aufgestellt. Der Versuch einer übergreifenden nationalen Identitätsstiftung geriet durch die christlich konnotierte Opfermetaphorik der Plastik in Kritik, da etwa die jüdischen Kriegsopfer durch das Erinnerungsmotiv ausgeschlossen würden (vgl. Ulrich 2013).

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der Erfahrungen der schottischen Militärkrankenschwester Sarah MacNaughtan (Celia Bannerman), die für König und Vaterland schon in früheren Kriegen ihren Einsatz leistete, wird die Bedeutung des weiblichen medizinischen Personals hinter der Frontlinie thematisiert. In einer großartigen Dialogszene über die Ausübung ihrer Profession belehrt Mac Naughtan jüngere Kolleginnen über die wichtigste Regel der aufopferungsvollen Tätigkeit als Krankenschwester: „To put on a patent patriotic smile“ (14 TAGEBÜCHER E3: 06:23). Es liegt in der dramaturgischen Logik der Miniserie, dass der professional zur Schau gestellte Zweckoptimismus auf die Probe gestellt und scheitern wird (14 TAGEBÜCHER E5: 50:00–51:00). Die weiblichen Charaktere der Heimatfront durchlaufen – dramaturgisch betrachtet – die gleiche Entwicklung wie die Frontsoldaten. Nationale Perspektiven verschmelzen zu einem einzigen europäischen Kriegsgeschehen mit seinen überwiegend als sinnlos dargestellten Opfern. Die Amalgamierung der nationalen zu einem europäisch transnationalen Narrativ wird also durch die Gleichartigkeit der Erfahrungen evoziert, wobei die Vielsprachigkeit der Stimmen die dokumentarische Inszenierung davor bewahrt, allzu aufdringlich zu wirken. Diese Darstellungsweise prägt mit ihrem historiografischen Narrativ ein kulturelles Trauma des Großen Krieges aus, das sich erfahrungsbezogenen auf die Inszenierung der Tagebücher stützt und strukturell im Serienintro realisiert ist. Die bereits angesprochene dritte Episode macht die Behandlung von Verletzungen und in deren Folge von Kriegstraumata selbst zum Thema. Die Geschichte des amerikanisch-italienischen Kriegsfreiwilligen Vincento DʼAquila (Jake J. Meniani) bringt etwas düsteren Humor in die nicht gerade heitere Thematik. DʼAquila erwacht in einer Leichenhalle, da man ihn bereits tot glaubte und wird als „sprechender Leichnam“ (14 TAGEBÜCHER E3: 37:18) adressiert. Kriegsgeschichtlich ist sein Charakter mit den Kampfhandlungen in den Alpen zwischen italienischen und habsburgischen Truppenverbänden verknüpft. Nachdem er aus seinen Fieberträumen erwacht, hält er sich für unverletzlich und mit heilerischen Kräften ausgestattet. Fortan sieht er sich zu einer Friedensmission zwecks Beendigung des Krieges auserwählt, die er an den Mitinsassen des Krankenhauses erprobt. Lediglich seine amerikanische Herkunft bewahrt ihn dabei vorm Militärgericht und führt gegen Ende der Episode zu seiner Einweisung in eine Nervenklinik in Udine. In der Schluss-Szene wird er von bewaffneten Soldaten abgeführt, während er im Stil der eingangs erwähnten direkten Publikumsadressierung in die Kamera bekundet, dass er laut Krankenpapieren eine Bedrohung für sich und andere darstelle (14 TAGEBÜCHER E3). Die Sequenz führt vor, wie traumatische Belastungsstörungen eher ausgelagert, denn behandelt wurden. Gleichzeitig verdeutlicht das offene Ende der Schluss-Szene, wie Elemente der Seriendramaturgie Eingang in die historische Erzählung erhalten. Der Cliffhanger mit Vincenzos Charakter macht neugierig, wie es mit ihm weitergeht. Die siebte Episode (Der Aufstand) setzt

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seine Geschichte in der Nervenheilanstalt fort. Hier wird sein Charakter zur Leitfigur im Umgang mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die dem Verdacht ausgesetzt waren, Simulanten zu sein. Die gesamte Episode ist mit Szenen durcsetzt, die einen Zweikampf zwischen dem pazifistisch gesinnten, kriegsunwilligen Vincenzo und dem Chefarzt vorführen. Letzterer unterzieht die Insassen einer rüden Behandlung und beabsichtigt, die Delinquenten unter ihnen zurück an die Front zu schicken. Der Konflikt findet seine Auflösung durch den Tod der beiden Söhne des Arztes, der daraufhin seine Nervenheilanstalt zu einem Schutzraum für alle Insassen erklärt. In nuce wird so anhand der Traumathematik eine Verkehrung von Normal und Verrückt vorgenommen, die den Krieg als Wahnsinn auffasst. Die letzte Folge Die Entscheidung greift ebenfalls das Motiv der Verkehrung von Normalität und Krieg auf. „Der Krieg ist die einzige Normalität, die wir noch kennen“, heißt es im Intro. Hier kommen nochmals die zentralen Charaktere der 14 TAGEBÜCHER zu Wort und vollenden die europäisch pazifistische Botschaft der TV-Miniserie. Allen voran ist die Kosakentochter Marina Yurlova zu nennen, deren Geschichte vermutlich die meiste Sendezeit aller historischen Charaktere erhält. Marina verbringt ihren achtzehnten Geburtstag in einer bolschewistischen Gefängniszelle, da sie als Kosakin zur Staatsfeindin erklärt wurde. Sie hört Erschießungen außerhalb ihrer Zelle und fürchtet um ihr Leben, als ihr der väterliche Freund und ehemalige Vorgesetzte, der tote Kosel, mit Einschusswunde auf der Stirn erscheint. Kosel sucht sie zu beruhigen und erklärt ihr, dass der Tod nicht so schlimm sei. Die beiden beginnen ein Gespräch über den Sinn ihrer Opfer für Zar und russisches Vaterland. Marina meint, Kosels Tod sei sinnlos gewesen, was dieser bestätigt und auf die Masse der sinnlos Gestorbenen verweist. In einem Meer von Toten verlieren ideologische Zuweisungen ihre Bedeutung – so lässt sich jedenfalls die Quintessenz von Marinas Geschichte deuten, die damit das Narrativ vom sinnlosen Opfer auf ihre Weise entfaltet. Marina überlebt als Einzige die Inhaftierung und wird von einer Truppe gegenrevolutionärer Kräfte befreit. Gleichzeitig ist mit ihrer Figur ein zentrales Verdienst der Serie verbunden, das in der Ausweitung der Kriegserinnerung über die Westfront hinaus auf den Krieg im Osten und die russische Revolution besteht.22 Die Schluss-Szene der letzten Folge leitet zur Memoralisierung des Großen Krieges über. Elfriede Kuhr sucht das Grab ihres Geliebten auf einem verwilderten Friedhof und hat – wie eingangs beschrieben – große Mühe es zu finden. Während die Protagonistin suchend umherstreift, reflektiert der Off-Kommentar über die umstrittene Nachkriegsordnung, die keine der Konfliktparteien zufrieden stellt.

22 Der Historiker Sönke Neitzel hat darauf hingewiesen, dass in deutschen TV-Produktionen dem anders gearteten Krieg an der Ostfront kaum Aufmerksamkeit gewidmet wird (vgl. 2009).

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Historiografisch deckt die TV-Miniserie ein weitgestecktes Panorama europäischer Kriegsgeschichte ab und nimmt dabei ein Update der Epochenschwelle als „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ (Kennan 1979) vor, indem sie das Narrativ vom sinnlosen Opfer einer ganzen Generation durch die Adaption der Tagebücher aktualisiert. Die individuellen Portraits bewegen sich in einem europäisch gehaltenen Rahmen, der sie bei allen Unterschieden durch ihr gemeinsames Leiden am Krieg verbindet. Diese werden schauspielerisch und ästhetisch ansprechend inszeniert und historiografisch konsistent erzählt, schränken den Anspruch einer umfassenden Darstellung aber auf zweierlei Weise ein. Zum einen reichen die Einsprengsel der Berichte von Kolonialsoldaten oder osmanischen Streitkräften nicht aus, um das europäische Narrativ eines immerhin global geführten Krieges zu überschreiten. Vielmehr kommt es zur Ausweitung des europäischen Narrativs, indem der Seh-Eindruck entsteht, dass diese unter gleichen Bedingungen ähnliches erfahren haben. Nur zwei der Hauptcharaktere geben einen sehr beschränkten Einblick in die Lage außerhalb der europäischen Schlachtfelder. Sarah MacNaughtan wird in Yerevan Zeugin der Lage von vertriebenen Armeniern, was in einer kurzen Sequenz der fünften Episode dazu genutzt wird, den Genozid an den Armeniern darzulegen (14 TAGEBÜCHER E5: 38:03–40:40) und Marina Yurlova ist am für beide Seiten verheerenden Kaukasus-Feldzug beteilig. Die Situation der osmanischen Soldaten und die politische Lage des Osmanischen Reiches – um nur ein Beispiel zu nennen – bleiben außen vor. Das müsste als solches kein Problem darstellen, hätte als Auslassung oder Beschränkung auf den europäischen Diskurs aber klarer markiert werden können. Die andere Einschränkung liegt darin, dass die Auswahl der individuellen Zeugnisse durch die Dominanz vom Narrativ des sinnlosen Opfers eine genretypische Schlagseite bekommt. So hat der Zweite Weltkriegsveteran und Literaturwissenschaftler Samuel Hynes23 in einer breit angelegten Untersuchung soldatischer Kriegserfahrung festgehalten: „We may think we know the First World War’s story, but it is the hangover we remember.“ (Hynes 1998, 105) Mit dieser Aussage charakterisiert er die durch zahlreiche literarische Werke und Kriegsberichte in den 1920er Jahren zu Dominanz gelangte Erzählung, die das ungeheure Leiden als sinnlose Opfer erscheinen ließen. Nicht selten wurde diese Darstellung mit einem generationellen Bruch verbunden und ausbuchstabiert. Demnach brachten die alten Männer der politisch-militärischen Elite eine ganze Generation ihrem Macht- und Selbsterhaltungsstreben dar (Hynes 1998, 101‒103). Dieses Narrativ des vergeblichen Opfers für einen Krieg, der versprach, alle Kriege zu been-

23 Vergleiche das Buch von Samuel Hynes The Soldiers’ Tale. Bearing Witness to Modern War (1998).

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den, hat sich erinnerungsgeschichtlich als wirkungsmächtiges Narrativ erwiesen. Das meint Hynes, wenn er vom „hangover“ spricht. Spätere Generationen hätten das historische Narrativ mit seiner klaren und moralisch korrekten Sichtweise bereitwillig aufgegriffen, wobei dieses keineswegs die ganze Geschichte darstelle. Das bereitwillige und teilweise lustvolle Töten, die Widerständigkeit des menschlichen Geistes, Kameradschaft und nationale Überzeugungen seien ebenso vorhanden gewesen, wie die zum Mythos aufgestiegene Verbitterung und Desillusionierung (Hynes 1998, 105). Hynes hält mit Blick auf spätere Kriege fest, dass die Unschuld, mit der Soldaten aller Länder in einen Krieg zogen, der so ganz anders werden sollte als alle vorherigen, verschwunden ist (vgl. 1998, 106‒107).24 Die auf dramatische Umschlagspunkte und Einstellungswandel angelegten Auswahl der Tagebücher erinnert an eine kritische Anmerkung Jay Winters gegenüber der Publikation von Feldpostbriefen gefallener deutscher Studenten durch den Literaturwissenschaftler Philipp Witkop (vgl. Winter 2006, 104‒108).25 Winter hat hier gezeigt, dass die Auswahlprinzipien dieser mehrfach überarbeiteten und bis in die NS-Zeit hinein aufgelegten erfolgreichen Publikationen stärker an den hegemonialen Prinzipien des Zeitgeistes orientiert sind, als einer wissenschaftlich historischen Forschung zu folgen. So ging es dem Weltkriegsteilnehmer Witkop vorrangig um die poetisch-heroischen Eigenheiten der deutschen Studenten, wie sie ihm aufgrund seines eigenen Bildungshintergrundes vorschwebten und wie sie dem Zeitgeist der deutsch-nationalen Nachkriegsstimmung während der Weimarer Republik entsprach (vgl. Winter 2006, 105). Die Feldpostbriefe müssten nach Winter die Ebenen der Zensur – durch Militärbehörden – und Selbstzensur – im Hinblick auf familiäre Rücksichten beachten, um quellenkritisch verwertbar zu sein

24 Hynes überaus lesenswertes Buch hebt vor allem den begrenzten Überblick soldatischer Kriegserfahrung im Einsatz hervor. Die wichtigsten Themen sind Essen, Schlafen, Kleidung, Ausrüstung, Furcht vor Verletzungen, dem Tod, die Sorge um Familie, Geliebte und Kameraden. Ideologische, nationale oder politische Themen spielen eine eher untergeordnete Rolle und sind nicht selten Gegenstand ironischer Anmerkungen. Das erklärt auch die hohe Bedeutung von neu entstehenden Beziehungen wie der ‚Bruderschaft des Krieges‘, die wie ein Familienersatz eine Vielzahl von sozialen Bedürfnissen in sich vereint. Hynes hebt für den Ersten Weltkrieg einen mentalitätsgeschichtlichen Wandel der Soldaten hervor, die anfangs davon ausgingen, die Kriegshandlungen zumindest bezüglich ihres Lebens und Sterbens beeinflussen zu können und sich angesichts der technisierten Kriegsführung lediglich als deren Objekte empfanden. Dies löste einen Einstellungswandel aus, der die Begriffe von courage [Mut; M.E.] und cowardice [Feigheit; M.E.] neu definierte und sich letztlich auch auf die anti-heroische Erzählweise des Krieges erstreckte (Hynes 1998, 56‒65). 25 Witkops Edition ist online einsehbar: https://archive.org/details/KriegsbriefegefallenerStu denten (20. September 2019).

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(2006, 110).26 Auswahlkriterien, historische Inhalte und vor allem das Medium Film unterscheiden die Briefe der gefallenen deutschen Soldaten erheblich von denen der 14 TAGEBÜCHER, verdeutlichen aber, dass letztere ebenfalls einem Steuerungsprinzip unterliegen, das an einen ganz anders gearteten europhilen Zeitgeist geknüpft ist. Die Offerte eines transnationalen europäischen Narratives, wie es in der auf Arte ausgestrahlten internationalen Edition der 14 TAGEBÜCHER vorliegt, führt nicht zwangsläufig zu dessen positiver Rezeption oder der Akzeptanz derartiger Geschichtslektionen. Vielmehr dürfte die Wahrnehmung, dass es sich dabei um eine unkritische Ausweitung von Opfergeschichte oder gar „Euro-Pudding“27 handelt, nur einen Zungenschlag entfernt von einer zustimmenden Lesart liegen. Jedes historische Narrativ, das sich daran versucht, die nationalen Perspektiven gleichgewichtig mit- und gegeneinander abzuwägen, sieht sich der Gefahr ausgesetzt, als gleichmacherisch oder gar entschuldend zu gelten. Neue, hybride filmische Identitäten können nicht nur als grenzerweiternd, sondern ebenso als grenzzerstörend wahrgenommen werden, wie die Filmwissenschaftlerin Sabine Hake dargelegt hat.28 Darüber hinaus werden – wie eingangs des Kapitels erwähnt – die nationalen Adaptionen mit einer eigenständigen Einführung versehen oder um bestimmte 26 Für den deutschen Kontext kam Bernd Ulrich mit seiner Untersuchung von Feldpostbriefen zu einem ganz ähnlichen Ergebnis, indem er die Fabrikation von Authentizität der soldatischen Erfahrungsberichte offenlegt (vgl. Ulrich 1997). 27 Der Vorwurf des ‚Euro-Puddings‘ erging an aus europäischen Töpfen finanzierte Filmprojekte, die durch ihre Förderstruktur eine bestimmte Quote an lokalem Personal vorsahen. Das ausgreifende europäische Filmförderungsmodell hatte dazu geführt, dass Filme im Spannungsfeld von ‚quasi nationalen‘ und ‚transkulturellen‘ Filmen entstanden, da die lokalen Produktionsteams durch europäisches Funding scheinbar nationale Filme produzierten (vgl. Halle 2010, 309). Der ausbleibende Erfolg dieser Filme führte nach Halle allerdings zur Einstellung dieses Fördermodells (ebd.). 28 Hake weist darauf hin, dass der positiven Attribuierung des Transnationalen als grenzüberschreitend nicht selten dessen negative Attribuierung als grenzzerstörend im Sinne eines neoliberalen, kulturimperialen Diskurses gegenübergestellt wird. In diesem Kontext kann es leicht dazu kommen, dass das vormals verstockte Nationale als Platzhalter von Alterität und Widerständigkeit erscheint (vgl. Hake 2013, 111‒112). Mit Bezug auf die jüngere deutsche Filmforschung argumentiert sie, dass hier Ansätze vorherrschen, nach denen man sich seit etwa den 1990er Jahren in einer Zeit des post- oder transnationalen Films bewege, während sie versucht, durch eine filmgeschichtliche Betrachtung, auf die Kontinuität kultur- und nationenübergreifender Darstellungsformen im Film hinzuweisen. Das sogenannte transnationale Kino erscheine häufig als Bezeichnung für Produktionen nach 1990 in Deutschland und gelte als Ausdruck einer filmtheoretischen Betrachtung, die hybride und migrantische Elemente von Kultur und Identität betone. Man kann ihre Argumentation sicher auf die Entwicklungen im Bereich der TV-Miniserien beziehen, in denen Elemente des Nationalen, Internationalen und Transnationalen ebenfalls in eine neue Konstellation treten.

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Inhalte gekürzt oder erweitert, so dass es zu einer Renationalisierung der Erzählungen kommen kann (vgl. Andersen/Arnold-de Simine 2017, 74). Wie und ob sich dies in eine entsprechende Zuschauerwahrnehmung umsetzt, kann ohne vergleichende Analysen und begleitende Rezeptionsstudien kaum beurteilt werden. Entscheidend für die vorliegende Argumentation ist allerdings, dass die Frage nach dem Verhältnis von transnationalen zu nationalen Narrativen keineswegs mit einem Entweder-Oder beschieden werden muss. So ist es für die auf internationale Distribution angelegten Miniserien ein klares Absatzplus, wenn transnationale Leseofferten einen größeren Markt erschließen. Die modulare Konzeption von historischen TV-Miniserien, bei der transnationale Erzählelemente – wie die Kodierung von Gewalt- und Kriegserfahrungen als traumatisch – für nationale Erinnerungsräume und Absatzmärkte adaptierbar sind, bezeichnet eher einen gegenwärtigen Standard, als dass diese Formatierung gänzlich in Widerspruch zu den nationalen Masternarrativen tritt. Die transnationalen Erzählelemente werden zu Bestandteilen der nationalen Geschichtsdiskurse, so wie die Europäische Union eine supranationale Institution29 darstellt, in der sich nationale mit transnationalen Strukturen verschränken. Ob es dann zu Ablehnungen oder Befürwortungen der übernationalen Narrative kommt, hängt von den Empfindlichkeiten und Kräfteverhältnissen innerhalb der jeweiligen nationalen Diskurse ab.30 Die Produzenten der 14 TAGEBÜCHER haben darauf hingewiesen, dass Nacktszenen für die Ausstrahlung in einigen angelsächsischen Ländern in der vierten Episode entfernt werden mussten (vgl. Peter 2014, 282). Wird eine substanzielle Veränderung im Prozess der nationalen Adaption vorgenommen – wie im Falle der Great WAR DIARIES durch die BBC, die die Tagebücher auf drei Episoden mit vornehmlich britischen Protagonisten reduziert – muss man davon ausgehen, dass die Programm-Macher das dezidiert europäische Narrativ als ungeeignet für ihr Zielpublikum befunden haben.31

29 Für eine kritische Würdigung des Begriffes der supranationalen Institution im Kontext der Kräfteverhältnisse europäischer Staatsapparate vergleiche den diesbezüglichen Aufsatz von Thomas Sablowski (2019). 30 Andersen und Arnold-de Simine führen in ihrer Besprechung der nationalen Adaptionen aus, dass der englische Erinnerungsdiskurs zu Beginn des Zentenariums eine Verschiebung erfahren habe, die das transnationale europäische Narrativ vom Großen Krieg des sinnlosen Opfers zurückweise. Umgekehrt gäbe es bestimmte präferierte Erinnerungselemente des Krieges, die die Arte-Produktion nicht anzubieten habe. Sie nennen „no testimonies of violated Belgium civilians, no poignant and tragic stories of young soldiers“ (2017, 71). Dies deckt sich mit der Einschätzung des irisch-britischen Historikers Keith Jeffery, wonach der konservative Politikflügel in England sich für eine nach innen gerichtete „Lessons learnt“-Kampagne für die Zentenariumfeierlichkeiten ausgesprochen habe (vgl. Jeffery 2018, 563‒564). 31 Vgl. BBC Two: https://www.bbc.co.uk/programmes/b04ddjpy (12. Oktober 2019).

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Die erinnerungstheoretische Fragestellung lautet also, welche spezifischen Narrative an die nationalen Diskurse angepasst werden (müssen) und welche ungehindert passieren oder migrieren können. Ein solcher nicht exkludierender Ansatz nationaler und transnationaler Narrative wurde bereits in Dani Levys and Natan Sznaiders Konzept der kosmopolitischen Erinnerung dargelegt (vgl. Levy/ Sznaider 2001; Sznaider 2008). Levy argumentiert in einem jüngeren Aufsatz, dass die nationalen Gedächtnisse – und deren wissenschaftliche Ergründung – schon vor geraumer Zeit die „national boxes“ verlassen haben, ohne dass letztere sich deswegen auflösen. Vielmehr bilden diese in Verbindung mit lokalen und globalen Erinnerungspraxen neue Konstellationen aus, die nicht als „Nullsummenspiele“ behandelt werden sollten (vgl. Levy 2015, 4‒5).32 Der anschließende Vergleich der AJE- und Arte-Produktionen beleuchtet zusammenfassend diese erinnerungskulturell-mediale Konstellation während des Zentenariums.

Vergleich der Arte und Aljazeera-Produktionen Vergleicht man die Konstruktion des transnationalen Narratives der 14 TAGEBÜmit der Aljazeera Englisch-Produktion WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES (siehe Kapitel 4), stechen einige historiografische und erinnerungspolitische Gemeinsamkeiten und Unterschiede ins Auge. Beide kodieren den Großen Krieg als kulturelles Trauma für ihre Regionen. Sie tun dies, indem sie sich über individuelle Zeugnisse (Tagebücher) oder mit Mitteln der Oral-HistoryTradition (Malek Trikis investigative Reise) der Geschichte des Großen Krieges nähern. Während in 14 TAGEBÜCHER die Ähnlichkeit des subjektiven Erblebens und Leidens eine allgemeine Erfahrung stiften soll, wird in der AJE-Produktion die transnationale Ebene durch die Exklamation muslimischen Leidens sowie klassische Experteninterviews gestiftet. Beide betonen, dass die Anstrengungen und das Leiden an den Heimatfronten der Bedeutung der Kampfhandlungen an der Front in nichts nachstehen. Sie heben durch die Off-Kommentierung die Ähnlichkeit militärischer und politischer Entscheidungsprozesse hervor und CHER

32 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Jay Winter in der Zurückweisung von Pierre Noras „eulogy to the nation-state“ (Winter 2006, 287) und einer Neubewertung des Memory Booms. Winter wendet sich gegen die Adressierung von history und memory als Gegensatzpaar und plädiert für eine kritische Betrachtung der Schnittmengen der von den unterschiedlichen Akteuren hervorgebrachten Erinnerungspraxen (ebd., 288). Dieser Trend, die verschiedenen lokalen Situierungen von Memorialpraxen in einer „entangled world“ kritisch additiv und nicht exkludierend zu untersuchen, hat sich im Feld der Cultural Memory Forschung insgesamt etabliert (vgl. Rigney 2017, 185‒186).

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evozieren damit implizit und explizit eine strukturelle Gleichheit der Kriegsparteien. Es findet eine verflechtungs- und globalgeschichtliche Ausweitung historiografischer Perspektiven statt, die mitunter eher angedeutet als ausgeführt werden. Beide Produktionen lassen sich durch geringfügige Änderungen an nationale Rezeptionsgewohnheiten und Sensibilitäten anpassen. Bezüglich der Differenzen sticht die gegenwartsbezogene Wendung der AJEDokumentation in die Turbulenzen der nahöstlichen Tagespolitik heraus. Die Kodierung des kulturellen Traumas wird so als fortbestehende offene Wunde in der Region gekennzeichnet, während die 14 TAGEBÜCHER mit einer Memoralisierung ihrer Protagonisten und des Großen Krieges schließen.33 Letzteres stellt allerdings eine Form der Politisierung von Erinnerung dar, welche die Gefahr des Einbruches von kriegerischer Gewalt in das Leben der Einzelnen betont. Wie die historischen Charaktere – so die Message von 14 TAGEBÜCHER – sollen sich die Betrachterinnen und Betrachter nicht in einer trügerischen Sicherheit wiegen. Das europäische Projekt wird zwar nicht explizit genannt, bleibt aber als erinnerungspolitische Fluchtlinie erkennbar. Die Überschreitung nationaler Geschichtsräume vollzieht sich aufgrund der unterschiedlichen geografischen Fokusse an höchst unterschiedlichen Themen. Im Falle der ARAB EYES werden koloniale und imperiale Herrschaftsstrategien und Kriegsziele im Nahen Osten und Nordafrika aus Sicht der Betroffenen thematisiert, während die 14 TAGEBÜCHER den europäischen Blick nach Osteuropa lenken. Dennoch ist es bemerkenswert, dass in der abschließenden Betrachtung der TV-Miniserie der Nahe Osten sowie andere vom globalen Krieg verwüstete Regionen mit ungewisser politischer Zukunft keine Erwähnung finden. Demgegenüber rahmt die AJE-Produktion die anti- und postkolonialen Kämpfe sowie die Perspektive von bislang außen vor gelassenen Stimmen durch den Bezug zur Westfront und Europa, die als Hauptschauplätze des Krieges keineswegs dethematisiert werden. In der Adressierung des Zielpublikums sprechen die transnational konzipierten Narrative zum einen ein weitgehend fiktives Gefühl untergegangener muslimischer Einheit nach der Abschaffung des Kalifats an, während die Arte-Produktion eine ebenfalls recht fiktive europäische Einheit durch eine verfehlte national-imperialistische Politik und geteiltes Leiden zu evozieren versucht. Darüber hinaus zeigen sich bedeutende historiografische Differenzen, wenn es um die Thematisierung des Genozids an den Armeniern geht. Die 14 TAGEBÜCHER benennen diesen klar, während die AJE-Produktion die jungtürkische Gewaltge-

33 Die zweite hier besprochene Arte-Produktion, die ebenfalls diesen Sprung in die Gegenwart vollzieht, behandelt schwerpunktmäßig die Geschichte des osmanischen Reiches und nicht den Ersten Weltkrieg.

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schichte zwar vorführt, diese aber mit dem Zusatz versieht, dass die Bewertung der Gewalttaten als Genozid weiterhin ein Gegenstand von Kontoversen sei. Das macht den Genozid an den Armeniern zu einer Thematik, welche die transnationalen Filter nicht ungehindert passieren kann. Bedenkt man, dass die Leugnung des armenischen Genozides in Frankreich als Straftat gilt und Aljazeera umgekehrt versuchte, einen Ableger der Sendeanstalt in der Türkei zu etablieren,34 wird klar, dass diesbezügliche Rahmungen nicht nur von der Einstellung der Produktionsteams35 abhängig sind. Ähnliches lässt sich über das antizionistische Narrativ sagen, mit dem die AJE-Produktion den Sprung in die spannungsgeladene Gegenwart des Nahen Ostens vollzieht. Die Änderungen in der deutschen Adaption der ARAB EYES verweisen auf diesbezügliche Empfindlichkeiten, die nicht einfach übergangen werden können. Entsprechend lässt sich festhalten, dass selbst in dem auf globalisierte Vermarktung hin angelegten medialen Segment der Erinnerungskultur nicht alle Erzählelemente den Sprung über die kulturellen und politischen Grenzen schaffen. Genrespezifisch können die 14 TAGEBÜCHER als Aktualisierung des Medienformats des Histotainments für die Ära der TV-Miniserie angesehen werden. Der breit angelegte historiografische und erinnerungskulturelle Spannungsbogen verknüpft und überschreitet gekonnt die nationalen Erinnerungsräume und trägt so zu einem europäischen Narrativ des Großen Krieges bei, dessen überwiegend positive Aufnahme in der deutschen und internationalen Presse auf ein entsprechendes Desiderat verweist.36 Die auf Unterhaltungs- und Authentizitätseffekte zielende Zusammenführung von biografischem Reenactment mit dem historischen Quellenmaterial führt allerdings ähnliche Probleme mit sich, wie man sie aus dem Histotainment von Guido Knopp kennt, ohne dessen historiografisches Narrativ zu teilen. Erinnerungstheoretisch könnte man zu dem Schluss kommen, dass das

34 Dieser Versuch wurde nach Angaben des Senders im März 2017 eingestellt. Der türkische Markt bleibt für Aljazeera aufgrund der regionalen Lage aber sicher bedeutsam. 35 Den Redakteuren im Team um Produzent Gunnar Dedio und Regisseur Jan Peter war der Genozid ein wichtiges thematisches Anliegen, auch wenn sich dies vermutlich nicht günstig auf die Beteiligung türkischer Fernsehanstalten ausgewirkt hat (vgl. Dedio 2014, 295). 36 Vergleiche die Rezensionen in Die Zeit Hauke Friederichs: https://www.zeit.de/kultur/film/ 2014-04/14-erster-weltkrieg-doku-serie; in Der Spiegel Hannah Pilarczyk https://www.spiegel.de/ kultur/tv/doku-projekt-14-tagebuecher-zum-ersten-weltkrieg-a-966496.html, Claudia Schwartz in NZZ https://www.nzz.ch/feuilleton/fernsehen/sag-zum-abschied-nicht-adieu-1.18292259; PhilippeJean Catinchi in Le Monde https://www.lemonde.fr/culture/article/2014/04/29/correspondancesde-guerre_4406923_3246.html. Die auf drei Episoden gekürzte Edition der BBC 2 bewertet Gerard OʼDonovan vom Telegraph hingegen als „Euro-Pudding“: https://www.telegraph.co.uk/culture/ tvandradio/tv-and-radio-reviews/11005974/Great-War-Diaries-BBC-Two-review-a-bland-blanc mange.html. (Alle Rezensionen: 10. Oktober 2019).

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europäische Narrativ der Serie die gegenwärtig vorherrschende Gestalt des deutschen Geschichtsdiskurses zum Ausdruck bringt37 – zumal die federführende Produktionsgesellschaft LOOKSfilm in Deutschland ansässig ist. In der Tat lässt sich diese Tendenz zu Beginn des Zentenariums im deutschen Erinnerungsdiskurs finden (Sabrow 2014, 142). Eine solche Lesart übergeht allerdings, dass das europäische Narrativ der Miniserie kein retrospektiv aufgestülpter Nationalismus ist, sondern eine nicht nur in Deutschland verbreitete historiografische Lesart des Krieges bezeichnet, die kulturell und institutionell an gegenwärtige europäische Realitäten anknüpfen kann. Diese, insbesondere für den deutschen Erinnerungsdiskurs relevante Differenz lässt sich anhand der nur ein Jahr früher produzierten dreiteiligen TV-Miniserie WELTENBRAND ausführen. Die vom ZDF History-Channel Ende 2012 ausgestrahlte Staffel kann als Beginn des Zentenariums in Deutschland aufgefasst werden und war die letzte TV-Produktion unter Leitung von Guido Knopp.38 Die Miniserie entfaltet das historiografische Narrativ eines Zweiten Dreißigjährigen Krieges aus einer dezidiert deutschen Perspektive.

37 In diese Richtung geht die Lesart von Andersen und Arnold-de Simine mit Bezug auf das sehr knapp abgehandelte historiografische Narrativ der Miniserie (vgl. 2017, Fußnote 7, 69). 38 Einen durchaus polemisch gehaltenen Überblick, wie es nach dem Abgang von Knopp unten dessen Nachfolger Stefan Brauburger mit dem ZDF-History-Format weiterging, gibt Stefan Niggemeier in einem FAZ Artikel „ZDF-Geschichtsfernsehen: Peinlichste Missgeschicke der History“ (vgl. Niggemeier 2013).

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Ein Zweiter Dreißigjähriger Krieg im deutschen Geschichtsfernsehen – WELTENBRAND Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, dann wär der Himmel national. Die Pfarrer trügen Epauletten Und Gott wär deutscher General. Die Grenze wär ein Schützengraben. Der Mond wär ein Gefreitenknopf. Wir würden einen Kaiser haben und einen Helm statt einem Kopf. [. . .] Dann läge die Vernunft in Ketten. Und stünde stündlich vor Gericht. Und Kriege gäb's wie Operetten. Wenn wir den Krieg gewonnen hätten – zum Glück gewannen wir ihn nicht! Erich Kästner: Die andere Möglichkeit (1928)

Das Voice-Over hebt im Intro der ersten Episode (Sündenfall) mit einem breiten Kollektivierungsangebot an, wenn es mit feierlich-dramatischer Musikuntermalung39 verkündet, dass „wir seit 70 Jahren in Frieden“ leben, aber manche unter uns noch miterleben mussten, wie die Welt 1945 brannte. „Das Feuer, das 1914 entfacht wurde, wird erst 1945 erlöschen“ (WELTENBRAND40 E1: Intro). Sprachmetaphorik und historisches Narrativ verbinden unmissverständlich die beiden Weltkriege zu einem Zweiten Dreißigjährigen Krieg,41 der als Unheilsperiode die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts überschattet. Die epochale Rahmung wird 39 Die in diesem Fall von Klaus Doldinger besorgt wurde, der unter anderem durch die Filmmusik aus DAS BOOT bekannt wurde. 40 Der Ausdruck Weltenbrand hat einen Bezug zur nordisch-germanischen Mythologie und bezeichnet in der Edda das Ende der Welt (vgl. Simek 2007, 52). Das Motiv des Weltenbrandes wurde erinnerungskulturell vor allem durch den letzten Teil von Richard Wagners Opernzyklus Der Ring der Nibelungen popularisiert. 41 Historiografisch und erinnerungskulturell wurde das Narrativ vom Zweiten Dreißigjährigen Krieg bereits prominent zum neuzigsten Jahrestag des Großen Krieges vom Historiker Hans-Ulrich Wehler vertreten (vgl. Wehler 2004). Es geht außerhalb des deutschen Kontextes auf Äußerungen von Charles de Gaulle und Winston Churchill in den 1940er Jahren zurück. Eine positive Bezugnahme auf diese Periodisierung findet sich in Ian Kershaws großangelegter Untersuchung To Hell and Back. Europe 1914–1949 (vgl. Kershaw 2015, 9 + 347), der als Experte in WELTENBRAND zu Wort kommt. Kershaw argumentiert in seinem Buch, dass die von den Siegermächten geschaffene Nachkriegsordnung es nicht vermochte, den autoritären Tendenzen der

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historiografisch durch die Lebensläufe der beteiligten Protagonisten untermauert. Allen voran der Weltkriegsgefreite42 Adolf Hitler, dessen militärische Laufbahn in der ersten Episode der des britischen Kompanieführers Bernhard Montgomery parallelisiert wird. Unverkennbar kommt den beiden Männern im Zweiten Weltkrieg eine herausragende und sicherlich gegensätzliche Rolle zu. Bereits zu Beginn der Episode bedient die Inszenierung mit dem Verrat des Führers, Adolf Hitler, an seinem Volk eines der Lieblingsmotive des Knoppschen Histotainments (vgl. Elm 2008, 284–286). Dieser habe sich durch Selbstmord seiner politischen Verantwortung entzogen, während er den Deutschen einen sinnlosen Opfergang abverlangte43 (WELTENBRAND E1: 01:36). Die auf Emotionalisierung der historiografischen Erzählung setzende TVDokumentation erreicht einen ihrer Höhepunkte in der Darstellung eines Kinderfestes im schwäbischen Gaggenau. Zunächst findet eine genreübliche, zeitliche Verortung des Krieges mit dem Verweis auf Europas letzten Sommer statt. Christian Brückners dunkle Sprecherstimme bekundet aus dem Off: „Es ist der Sommer in dem Europa Selbstmord begeht.“ Direkt im Anschluss sind historische Aufnahmen eines Sommerfestes in Gaggenau mit Fußball spielenden Jungen in kurzen Hosen zu sehen. Die Off-Kommentierung fährt fort: „Wie viele dieser kleinen Kicker werden später fallen? [Kurze rhetorische Pause; M.E.] Im Zweiten Weltkrieg“. Schnitt zu einer Aufnahme mit Mädchen in weißen Kleidern, die Bänder halten und im Kreis laufen. „Wie viele dieser Mädchen werden später Kriegerwitwen?“ (WELTENBRAND E1: 8:03‒08:30) Die bildliche Beteuerung kindlicher Unschuld wird ohne weitere historische Zwischenschritte dazu herangezogen, die beiden Kriege zu verknüpfen und ein übergreifendes Opfermotiv der einfachen Deutschen zu stiften. Die Ausweitung dieses Opfermotivs dürfte recht genau die erinnerungskulturelle Funktion des Narratives vom Zweiten Dreißigjährigen Krieg im Knoppschen Histotainment bezeichnen. Die lebensgeschichtlich plausiblen Verknüpfungen einflussreicher Persönlichkeiten, die „ihre Feuertaufe“ im Ersten Weltkrieg erlebten und zu bedeutenden Akteuren im Zweiten Weltkrieg aufstiegen, nutzt die dokumentarische Erzählung zur Untermauerung des historiografischen Narratives. In den drei Episoden des WELTENBRANDES Sündenfall, Fegefeuer und Völkerschlacht kommt es je-

Nachfolgestaaten standzuhalten und zeichnet ein detailliertes Bild der politischen Entwicklungen in den einzelnen europäischen Ländern (vgl. Elm 2016). 42 Vergleiche zu den Erfahrungen von Hitler im Ersten Weltkrieg die Monografie von Thomas Weber. Hier wird der geläufigen Brutalisierungsthese widersprochen, nach der die Kriegserfahrungen zu einer allgemeinen Verrohung in Hitlers Regiment geführt habe (vgl. Weber 2012). 43 Zur Figur Adolf Hitlers im deutschen Geschichtsfilm insgesamt, vgl. Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother (2008) sowie Elm (2012) und (2008, 150–153).

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weils zur Gegenüberstellung von deutschen (Hitler, Göring, Model) mit britischen (Montgomery), französischen (de Gaulle) und US-amerikanischen (Patton) Kriegsteilnehmern. Eine aufwendige Kolorierung und digitale Nachbearbeitung des archivalischen Filmmaterials bietet einen neuen Seheindruck, der nur von Peter Jacksons THEY SHALL NOT GROW OLD übertroffen wird. Die Darstellung der Ereignisse ist weitgehend chronologisch gehalten, wobei eine emotionale Einfühlung in einzelne Etappen des Krieges durch Expertenkommentare gestützt wird. Diese ermöglichen ein Wiedererleben deutscher Triumphe und Niederlagen. Wenn der auch aus anderen ZDF-Dokumentationen bekannte Historiker Sönke Neitzel die „schlimme Lage“ des Reichsheers durch den Zweifrontenkrieg erklärt (WELTENBRAND E1: 15:00) oder die psychische Verfassung der deutschen Soldaten im Frühjahr 1918 während der sogenannten Michael-Offensive einfühlend wiedergibt (WELTENBRAND E3: 04:30‒05:00), verwendet dies die dokumentarische Inszenierung zum Eintauchen in alte Gefühlswelten. Die Affektdramaturgie offeriert dem Publikum ein Erleben deutscher Gewaltgeschichte, bei dem die ganze Bandbreite von narzisstischen Kränkungen bis historischen Größenfantasien besichtigt wird. In die Orchestrierung dieser Geschichtsund Gefühlswelten wird die Off-Kommentierung eingebunden: „Doch wer jetzt triumphiert, freut sich zu früh“ (WELTENBRAND) spricht das Voice-Over nach den anfänglichen Erfolgen der deutschen Frühjahrsoffensive und fühlt sich damit gleichermaßen in die historischen deutschen Akteure wie das primär deutsche Zielpublikum des WELTENBRANDES ein. Es fällt gegenüber 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS auf, wie stark das Erleben aus deutscher Perspektive im Vordergrund steht, obgleich von historiografischer Seite ebenso englische, französische oder US-amerikanische Protagonisten zu Wort kommen. Das dokumentarische Narrativ bietet eine präferierte Lesart der historischen Ereignisse aus deutscher Sicht an, so dass die multiperspektive Betrachtung als Makulatur erscheint. Zum Abschluss der ersten Episode kommentiert der britische Historiker Ian Kershaw die zahlreichen sozialen, kulturellen und politischen Verbindungslinien zwischen den beiden großen Kriegen, die unbestreitbar existieren. Die OffKommentierung nutzt dies zu einer sehr allgemeinen Kritik an der politischen Klugheit der Entscheidungsträger in Europa: „Wie sähe unser Kontinent heute aus, wenn die Mächtigen 1914 etwas klüger gewesen wären“ und leitet wiederum zum Masternarrativ der Dokumentation über: „So bedurfte es eines weiteren furchtbaren Krieges, bis die Völker in Europa es gelernt hatten, wieder aufeinander zuzugehen“ (WELTENBRAND E1: Schluss-Sequenz). Der Zweite Weltkrieg erscheint hier als notwendige Folge des Ersten. Die Zwischenkriegszeit wird mitsamt ihren politischen Weichenstellungen unsichtbar gemacht und in der großen historischen Erzählung der ‚Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts‘ eingeschmolzen.

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Historiografisch gelingt es WELTENBRAND, die militärgeschichtliche Durchhaltestrategie des Zweiten Weltkrieges – dass man den Krieg diesmal bis zum Ende werde führen müssen – als festen Bestandteil der NS-Elite, von Teilen der Wehrmachtsführung sowie als ein unter deutschen Soldaten verbreitetes Sentiment hervortreten zu lassen. Insbesondere die dritte Episode macht dieses Motiv als militaristische und mentalitätsgeschichtliche Lektion aus dem Ersten Weltkrieg durch die Laufbahn des Wehrmachtgenerals Walter Model plausibel. Die Schluss-Szene der letzten Episode lässt in typischer Knopp-Manier offen, ob der hochdekorierte General persönlich nun ein Opfer der Umstände oder ein aktiver Vertreter des Vernichtungskrieges war. Das militärgeschichtliche Narrativ reicht allerdings nicht dazu aus, das weit umfassendere des Zweiten Dreißigjährigen Krieges zu rechtfertigen. Diese Variante der Epochenkonstruktion und Verarbeitung von Gewaltgeschichte durch die Konstruktion eines kulturellen Traumas kommt dem durch Holocaust und Verursachung des Zweiten Weltkrieges schuldbeladenen deutschen Erinnerungsdiskurs entgegen. So finden die oben beschriebene Zuschaueradressierung mit dem historiografischen Narrativ des WELTENBRANDS zusammen. Insgesamt wird die aus dem Knoppschen Histotainment bekannte Struktur, die sich am wiederholenden Durcharbeiten der deutschen Kriegsniederlagen im Zweiten Weltkrieg entwickelte (vgl. Heer 2005, 189; Kansteiner 2003, 365; Elm 2008, 294), nun auf den Ersten Weltkrieg ausgeweitet. Auch hier wird der Erste Weltkrieg als kulturelles Trauma kodiert, das durch sein ungelöstes soziales und politisches Erbe gleich noch für den Zweiten Weltkrieg mitverantwortlich zeichnet. Diese Betrachtung wird durch eine internationale, deutsche, französische, englische und amerikanische Akteure umfassende Beschreibung vorgenommen, gewichtet diese Perspektiven aber nicht ebenbürtig. So entsteht im Unterschied zu 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS eine Schieflage des dargebotenen nationenübergreifenden44 Narratives, das durch sein affektives Angebot an ein deutsches Publikum seine historiografische Präferenz bekundet. Zugleich fällt von der Gegenwart her neues Licht auf die Inszenierung der Vergangenheit. Die unkritische Ausweitung eines deutschen Opfernarratives im WELTENBRAND bedient sich mit ihrer Elitenkritik einer Argumentationsfigur, die historiografisch unspezifisch zwischen denen da oben und den kleinen Leuten unterscheidet. Diese Elitenkritik findet sich ebenfalls im gegenwärtigen politischen Populismus wieder. Letzterer lässt sich gewiss nicht aus den Knoppschen Ges-

44 Von einem transnationalen Narrativ mag man dieser Stelle kaum sprechen, da die europäisierende oder globalisierende Klammer zu vage bleibt.

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chichtsnarrativen herleiten, kann aber als erinnerungspolitische Ressource angesehen werden, aus der – mehr oder weniger bewusst – geschöpft werden kann. Das Gegenstück zum Histotainment im Stile Guido Knopps sind die assoziativen Geschichtsschnipsel, die Alexander Kluge durch sein anti-authentisches Dokumentarformat in NACHRICHTEN VOM GROßEN KRIEG aussendet. Das Sendeformat eroberte sich der Filmemacher im Zuge der Privatisierung des deutschen Fernsehens, bei der es den privaten Sendeanstalten gesetzlich zur Auflage gemacht wurde, ein bestimmtes Kontingent an Bildungsprogrammen zur Verfügung zu stellen.45 Kluge und andere gründeten 1988 die dctp, in der Spiegel TV, BBC World, oder Focus TV sich die Sendeplätze aufteilen. Der anti-authentische Effekt wird unter anderem durch nachgestellte Szenen mit dem Schauspieler und Entertainer Helge Schneider inszeniert, der verschiedene historische Charaktere verkörpert, wobei Sprachduktus und Kostüm [Schneider trägt einfach einen Stahlhelm auf Zivilkleidung; M.E.] auf deren Verfremdung angelegt ist. Der von der Gegenwart aus vorgenommene historische Rückblick erzeugt – wie idealtypisch im brechtschen Theater – einen Verfremdungseffekt, bei dem die Konstruktionsleistung immer sichtbar bleibt. Allerdings funktioniert eine solche Verfremdung nur dann, wenn man noch nahe genug an die historischen Charaktere heranreicht, beziehungsweise der Verfremdungseffekt mit einem Normalitätsdiskurs kollidiert, der ein etabliertes Erinnerungsbild bricht. Helge Schneider als syphilitischer adliger Offizier leistet dies weit weniger, als man dies von seinen Darstellungen verschiedener Nazis kennt, zumal der Erste Weltkrieg im deutschen Gedächtnis keine entsprechende Ausprägung hat. Kluges NACHRICHTEN VOM GROßEN KRIEG gestatten durch die ausgedehnten Experteninterviews mit Historikern wie Christopher Clark oder Gerd Krumeich dennoch gewisse historische Einsichten. Insbesondere eine erinnerungsgeschichtliche Reflexion von Gerd Krumeich über den Terminus der Urkatastrophe ist für die vorliegende Betrachtung von Bedeutung. Krumeich führt aus, dass dessen Gebrauch in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren bei Journalisten und Wissenschaftlern das Denken über den Ersten Weltkrieg im öffentlichen Diskurs angeleitet habe. Er kritisiert die Verwendung des Terminus und fragt nach seiner Tauglichkeit für das einundzwanzigste Jahrhundert. Der Ausdruck verdecke durch seine „Alliteration zur Naturkatastrophe“ Kriegsentstehung und -verlauf eher und lenke den Blick vorrangig auf die Leiderfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Das aber sei hinreichend gewürdigt worden. Als Lektion für das einundzwanzigste Jahrhundert formuliert er, dass die damalige

45 Die entsprechenden Sendungen werden von den privaten Anbietern auf abgelegene Sendezeiten platziert (vgl. http://www.dctp.de/programmauftrag.html, 25. Oktober 2019).

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Vorstellung von der technologischen Kontrollierbarkeit kriegerischen Aktionen gar nicht so verschieden sei von dem „Policing internationaler Eingreiftruppen“ oder der Vorstellung begrenzter militärischer Operationen heute. Auch damals wollte man „nur mal Ordnung schaffen und Weihnachten wieder zuhause sein“. Krumeich erläutert, dass dies keine Phrase der Militärs oder Politiker war, sondern das international vorherrschende Denken über den Verlauf des Krieges. (Vgl. NACHRICHTEN VOM GROßEN KRIEG: 05:35‒11:31) Das Zentenarium hat in Deutschland noch eine ganze Reihe weiterer TV-Produktionen hervorgebracht, die ereignis- oder themenbezogenen sich verschiedenen Aspekten des Krieges annähern. Im Bereich der TV-Filme sind zwei Produktionen hervorzuheben, die bestimmte Aspekte des kulturellen Gedächtnisses in Deutschland ansprechen, auf die bislang kaum eingegangen wurde. Zum einen liefern DIE MÄNNER DER EMDEN eine Gelegenheit, den Krieg als romantisches und exotisches Abenteuer zu erzählen und zu bebildern. Zum anderen rückt mit der Geschichte der CLARA IMMERWAHR eine nahezu vergessene Frauenbiografie in den Blickpunkt, deren tragisches Ende auch die gescheiterte deutsch-jüdische Assimilation berührt. DIE MÄNNER DER EMDEN existieren doppelt. Einmal als TV-Zweiteiler und dann als gekürzte Kino-Fassung. Beide Versionen haben die Kritiker nicht aus den Kino- oder Fernsehsesseln gerissen.46 Da die romantisierende Abenteuerperspektive als durchaus geläufiger Bestandteil soldatischer Kriegserfahrung (vgl. Hynes 1998, 137–145) fast vollständig aus dem deutschen Erinnerungsdiskurs verschwunden ist,47 lohnt eine kurze Betrachtung. In der hier gesichteten Kinofassung wird die Geschichte der Besatzung des kleinen Kreuzers SMS Emden erzählt, die im fernöstlichen Kolonialhafen Tsingtau stationiert ist. Zu Kriegsbeginn wird die Emden in den Südpazifik beordert, wo britische Frachtschiffe aufzubringen sind und eine Funkstation auf Direction Island zerstört werden soll. Der Erste Offizier an Bord Hellmuth von Mücke (Sebastian Blomberg) legt die Funkstation lahm, muss jedoch von der Insel aus mitansehen, wie das australische Schlachtschiff Sidney, die einen Funkspruch von der Station auf Direction Island abgefangen hatte, die SMS Emden versenkt. Damit beginnt für Mücke und seine rund fünfzig Mann umfassende Truppe eine Odyssee, die den Hauptteil der Filmhandlung bestimmt. Man beschlagnahmt ein Schiff und bewegt sich mit zahlreichen Zwischenaufenthalten Richtung arabische Halbinsel,

46 Vergleiche die Rezensionen von Frank Schnelle (2013) in epd-film sowie Joachim Käppner (2014) in der SZ. 47 Im Ersten Weltkrieg wird dieses Feld vor allem durch Ernst Jüngers Stahlgewitter sowie durch das legendäre ‚Fliegerass‘ Manfred von Richthofen besetzt. Die Figur des letzteren wurde filmisch unter dem Titel DER ROTE BARON von Nikolai Müllerschön fürs Kino aufbereitet (vgl. Elm 2012, 160‒161).

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wo man hofft, mit Hilfe der Bagdadbahn und der osmanischen Verbündeten in die Heimat zu gelangen. Zum fiktionalen Teil des Plots gehört auch eine Penelope (Felicitas Woll als Marianne von Plattenberg), von der Mücke sich in Tsingtau trennen musste, die aber in der Heimat auf ihn wartet. Wie in der Odyssee muss der Held zahlreiche Gefahren überstehen und Versuchungen überwinden, um die Geliebte und die Heimat schließlich zu erreichen. Die Filmhandlung bietet somit jene Prämediation,48 die durch ihre vertraute Erzählstruktur, populärkulturelle Aufbereitung und der benannten Leerstelle in der deutschen Erinnerungslandschaft alles bietet, was eine erfolgreiche Produktion benötigt und ist dennoch gefloppt.49 Man kann dafür – wie in der angegebenen Filmkritik geschehen – die schwache filmische Umsetzung der Geschichte verantwortlich machen, sollte aber generell bedenken, dass der Krieg als exotische Odyssee nach zwei verlorenen Weltkriegen in Deutschland keinen guten Stand hat. Die deutsch-österreichische Fernsehproduktion CLARA IMMERWAHR von Harald Sicheritz beleuchtet das Leben der gleichnamigen Chemikerin und deren Ehe mit dem späteren Nobelpreisträger Fritz Haber. Letzterer hat durch seine Beteiligung an der Entwicklung von Kampfgas eine zweifelhafte historische Reputation erlangt, deren Erwähnung in kaum einer Dokumentation zum Krieg fehlt und selbst in WORLD WAR ONE THROUGH ARAB EYES eine ausgedehnte Sequenz erhält. Insofern ist es bemerkenswert, dass die Filmhandlung aus der Perspektive der weit weniger bekannten Clara Immerwahr (Katharina Schüttler) erzählt wird. Die Filmhandlung führt anfangs die Kämpfe aus, die die talentierte Immerwahr im patriarchalen Kaiserreich austragen muss, um als eine der ersten Frauen in Deutschland einen Doktorgrad in Chemie erlangen. Die Ehe mit Haber verspricht durch die geteilte professionelle Leidenschaft und dessen universitäre Anstellung eine Befreiung aus der subalternen Position als Akademikerin und eine Liaison von Gleichgesinnten. Dennoch kommt alles ganz anders. Clara wird aus dem Labor verdrängt und der anfänglich aufgeschlossene Ehemann meint, dass ihr die Rolle als Hausfrau und Mutter ausreichen müsse. Dabei wird in einer Szene der vorherrschende Antisemitismus gezeigt, der Haber noch in seiner gehobenen Stellung gegenübertritt. Die 48 Das Konzept der Prämediation beschreibt die erinnerungskulturelle Rahmung eines Films oder Buchs bevor die eigentliche Rezeption stattfindet. Dies reicht weit über die für filmische Kontexte relevanten Werbemaßnahmen wie Trailer, Interviews, Rezensionen hinaus und umfasst erinnerungskulturelle Erzählvorlagen (cultural templates), Ikonografien oder wie im vorliegenden Fall die Vertrautheit mit einer mythologischen Erzählstruktur (vgl. Erll 2017, 162). 49 DIE MÄNNER EMDEN landen auf Platz 329 (von 365 Filmpremieren) beim Einspielergebnis für das Eröffnungswochenende an den deutschen Kinokassen. Vgl. https://www.boxofficemojo. com/year/2013/?area=DE&landingModalImageUrl=https%3A%2F%2Fm.media-amazon.com% 2Fimages%2FG%2F01%2FIMDbPro%2Fimages%2Fhome%2FwelcomeToBomojov2. _CB1571421611_.png (04. November 2019).

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jüdische Herkunft spielt bei der inneren Entwicklung der Charaktere allerdings kaum eine Rolle. Damit wird diese Ebene historischer Realität zwar ins Bild gesetzt, aber nicht dazu genutzt, den Charakteren eine besondere Tiefe zu verleihen. Die ausgegrenzte und in die häusliche Isolation gedrängte Clara muss mit ansehen, wie ihr Ehemann seine Kenntnisse den militärischen Autoritäten zur Verfügung stellt und damit das letzte ethische Band zwischen den beiden zertrennt. Der Film setzt das derart in Szene, dass sie sich nach einer Feier am 1. Mai 1915 – anlässlich des erfolgreichen Einsatzes von Kampfgas – mit der Dienstpistole ihres Mannes erschießt. Dabei ist es von Seite der biografischen Forschung keineswegs klar, ob die zerrüttete Ehe, Immerwahrs moralische Opposition gegen den Gaskrieg oder ihr berufliches Scheitern hauptursächlich für die Selbsttötung waren (Elon 2003, 308). Ihre Opposition gegen den Einsatz chemischer Kampfmittel kann zwar als belegt gelten, genauere Äußerungen, wie sie gelegentlich zitiert werden, haben allerdings keinen abgesicherten Quellen.50 Die TV-Produktion hält diese Unwissenheit aus und übersetzt sie in der Schluss-Szene in ein offenes Ende bezüglich der persönlichen oder politischen Natur von Claras Motiven. Zum Schluss der Filmhandlung ist das Private ohnehin politisch geworden und die verweigerte Selbstbestimmung in die zeitgeschichtlichen Entwicklungen eingebunden. Insofern kann die Inszenierung der Selbsttötung, mit der die Filmhandlung die tragische Lebensgeschichte seiner Protagonistin enden lässt, als Kodierung eines lebensgeschichtlichen Traumas verstanden werden, das weit über die dargestellte Biografie hinausreicht. Der gescheiterte Emanzipationsversuch wird als zeitgenössische Kritik des patriarchalen Kaiserreiches und dessen militaristischer Gesinnung fortgeschrieben. Der TV-Film CLARA IMMERWAHR ergänzt die im Kapitel ‚Feminisierung der Weltkriegserinnerung‘ angesprochenen Adaptionen weiblicher Biografien, deren nicht selten tragische Enden als eine Signatur der Zeit gelten kann. Die filmgeschichtlich vielleicht bekannteste weibliche Figur dieser Epoche – Margaretha Zelle alias Mata Hari – konnte aus zeitlichen Gründen nicht in die vorliegende Untersuchung aufgenommen werden. Die Geschichte der legendären Spionin, tatsächlichen oder vermeintlichen Doppelagentin, vor allem aber vollkommen überdeterminierten historischen Frauenfigur hat auch im Zentenarium weitere filmische Adaptionen51 gefunden. Die mit der Figur verknüpfte Thematik

50 Vergleiche die Youtube-Aufzeichnung des Vortrags der Chemikerin Gudrun Kammasch an der Universität Heidelberg (Kammasch 2014). 51 Eine kurze Aufzählung allein der fiktionalen Adaptionen ihrer tragischen Lebensgeschichte verdeutlicht den ikonografischen Status der Figur: MATA HARI (mit Asta Nielsen, R.: Ludwig Wolff, DE 1920), DIE ROTE TÄNZERIN (R.: Friedrich Fehér, DE 1927), MATA HARI (mit Greta Garbo, R.: George Fitzmaurice, US 1931), MATA HARI. AGENT H. 21 (mit Jeanne Moreau, R.: Jean-Louis

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des ‚inneren Feindes‘, deren genderförmigen und sexuellen Konnotationen in die zeitgeschichtlichen, biografischen und produktionsbedingten Kontexte einzubeziehen wären, hätte ein weiteres, eigenes Kapitel erfordert.

Hegemoniale Neuausrichtung des deutschen Kriegsgedächtnisses? Der dominierende Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust konnte im deutschen Gedächtnis auch während des Zentenariums nicht aufgebrochen werden (Bauerkämper 2014; Bayer 2015, 559; Janz [im Erscheinen]). Dennoch lassen sich gerade in den filmischen Produktionen Anzeichen dafür finden, dass über eine andere Bewertung des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik eine Neuausrichtung stattfindet. Ereignisse der Weimarer Zeit werden im populären Gedächtnis nicht mehr primär auf die Entwicklung hin zum Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg verstanden, sondern stärker als Folge der Gewaltgeschichte des Ersten Weltkrieges angesehen. Der Hauptdarsteller der erfolgreichen TV-Miniserie BABYLON BERLIN ist ein traumatisierter Weltkriegssoldat, dessen Charakter so angelegt ist, dass die Verarbeitung seiner posttraumatischen Symptome entscheidend dazu beitragen, neues Unheil zu vermeiden. Die 14 TAGEBÜCHER DES ERSTEN WELTKRIEGS von Regisseur Jan Peter haben mit der ähnlich angelegten TV-Miniserie KRIEG DER TRÄUME eine auf die Weimarer Zeit bezogene Fortsetzung gefunden, in der die prägenden Wirkungen des Großen Krieges für die Nachkriegsgesellschaft eine entscheidende Rolle spielen. Knopps WELTENBRAND operiert – wie gezeigt – mit der Periodisierung eines Zweiten Dreißigjährigen Krieges – und kehrt damit den Blickwinkel gleich ganz um. Der Filmwissenschaftler Tony Kaes hat mit seinem Buch SHELL SHOCK CINEMA eine ähnliche Wendung vollzogen, die die fachwissenschaftlich lange Zeit vorherrschende Blickrichtung von Siegfried Kracauers VON CALIGARI ZU HITLER ausweitet. Eine solche doppelte Blickrichtung ist erinnerungskulturell zu begrüßen, da sie erst die soziokulturelle Voraussetzung dafür schafft, die immer bedingten Freiheitsgrade zu ermessen, unter denen Menschen historisch agieren. Paradoxerweise verschafft sich die Erinnerungsgeschichte des Ersten Weltkrieges im filmischen und filmwissenschaftlichen Diskurs mit größerem zeitlichen Abstand also mehr und nicht weniger Geltung.

Richard, FR/IT 1964), DER FALL MATA HARI (Fernsehfilm, R.: Paul Verhoeven 1966, DE 1966), MATA HARI (TV-Miniserie, R.: John van de Rest, NL 1981), MATA HARI (mit Sylvia Kristel, R.: Curtis Harrington, US 1985), MATA HARI (TV-Miniserie, R.: Dennis Berry, RU 2016), MATA HARI. TANZ MIT DEM TOD (TV-Dokudrama, R.: Kai Christiansen, DE 2017).

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Der filmische Schlusspunkt des Zentenariums und die Zukunft des Großen Krieges – THEY SHALL NOT GROW OLD Den Schlusspunkt der filmischen Zentenariumsproduktionen in Europa setzte Peter Jackson mit seinem THEY SHALL NOT GROW OLD. Die ausschließlich mit aufbereitetem Archivmaterial realisierte Dokumentation war lange erwartet worden. Der neuseeländische Regisseur, der durch seine LORD OF THE RING- und THE HOBBIT-Trilogien cineastischen Weltruhm erlangt hat, gilt als ein Great-War-Geek, der detailbeseelte historische Rekonstruktionen verschiedener Waffengattungen oder die Inszenierung der Trenchwar-Erfahrungen für eine Ausstellung in National Museum in Wellington besorgte.52 Jacksons Kurzfilm über britische und australische Kampfflieger im Great War Museum im australischen Canberra kann als audiovisueller Höhepunkt der Ausstellung angesehen werden.53 Jackson war vom britischen Imperial War Museum beauftragt worden, dem reichlich vorhandenen Archivmaterial eine neue Aktualität zu verleihen (DVD-Extra/Premiereninterview BFI). Auf der Premiere des Films beim BFI London Film Festival im Oktober 2018 saß mit Prince William ein Mitglied der königlichen Familie im Publikum und wenn Peter Jackson die Filmbühne zum Interview nach der Vorstellung betritt, werden jene Affekte des Erhabenen evoziert, die aus der Filmpremiere ein Geschichtsereignis machen. Diese soziokulturelle Rahmung leitet die Rezeption des Films an und macht ihn zu einem Erinnerungsereignis54 weit über sein filmisches Narrativ hinaus. Erinnerungstheoretisch lässt sich von einer erfolgreichen Prämediation (Erll 2017, 162) sprechen,55 der es gelungen ist, ihr filmisches Produkt am Ausgang des Zentenariums zu platzieren. Die erinnerungskulturelle Rah-

52 Siehe https://www.nzherald.co.nz/nz/news/article.cfm?c_id=1&objectid=12099985 (07. November 2019). 53 Jacksons Museumsfilm präsentiert wagemutige junge Männer mit ihren fliegenden Kisten im Stile einer Hollywood-Produktion. Die gekonnte Luftkampfinszenierung zeigt atemberaubende Luftmanöver, bei der die tollkühnen Flieger schließlich ihren Feind zur Strecke bringen. Der untypische Museumsfilm vereinigt virtuose Kamerabewegungen und digitale Effekte mit präzisen historischen Details und setzt voll auf den kurzweiligen Unterhaltungseffekt des Luftkampfs als Abenteuer. 54 Wie bereits im ersten Kapitel dargelegt, ist aus meiner Sicht die Typisierung eines solchen Films als „Erinnerungsfilm“ (Erll 2017, 156‒159) ungeeignet. Das zusammengesetzte Hauptwort suggeriert die Erinnerung als Eigenschaft des Films und nicht die seiner soziokulturell angeleiteten Rezeption. Man könnte im vorliegenden Fall von einem dokumentarischen Eventfilm sprechen, während sich für fiktionale Geschichtsfilme ein Terminus wie Historiobuster anbietet, um die analytisch bedeutsame Zusammenführung von werk- und rezeptionsästhetischen Merkmalen zu beschreiben. 55 Siehe zum Konzept der Prämediation auch Fußnote 48 in diesem Kapitel.

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mung bietet mit der historischen Autorität des Imperial War Museums, der kulturellen wie zeitgeschichtliche Platzierung des Films im renommierten Festival, der royalen Anwesenheit sowie dem weltberühmten Regisseur mit Great War Credibility56 eine Zusammenführung von diskursiven Elementen und Personen, die die Dokumentation von anderen Produktionen abhebt. Etwas pointierter formuliert kann man sagen, dass durch diese Verbindung von historisch-musealen, filmischen sowie zivilgesellschaftlich-politischen Autoritäten die Zukunft der Erinnerung gestaltet wird. Nun muss nur noch das dokumentarische Narrativ die erinnerungskulturelle Rahmung bekräftigen, um den gewünschten Gedächtniseffekt zu bewerkstelligen. THEY SHALL NOT GROW OLD [im Folgenden: NOT GROW OLD] trägt seinen Erinnerungsauftrag bereits im Titel. Der Filmtitel ist die Rezitation einer Gedichtzeile aus For The Fallen57 von Laurence Binyon. Deren vierte Strophe ist als Ode of Remembrance auf vielen Kriegsdenkmälern eingraviert und wird am elften November zum Remembrance Day58 oder Anzac Day59 aufgesagt. Dem Gedicht ist der Schock der ersten Kriegswochen und -monate mit seiner ungeheuren Anzahl an Gefallenen eingeschrieben, welchen es lyrisch in den Wunsch nach der Immortalisierung des Angedenkens transformiert. Das historische Narrativ der Dokumentation folgt diesem Erinnerungsauftrag und ordnet die bekannten Stationen des Krieges chronologisch aus Sicht britischer Infanteristen an. Die bewegten Bilder zeigen den unbeschwerten letzten Sommer Europas, den Kriegsausbruch und die verbreitete, freiwillige Rekrutierung für den Militärdienst. Dem sind detaillierte Beschreibungen von Ausrüstung, Kleidung, Essen und weitere Aspekte des Alltagslebens der jungen Rekruten beigefügt. Die ersten fünfundzwanzig Minuten laufen noch mit den schnellen, ruckeligen Bewegungen des frühen SchwarzWeiß-Films. Ein schwarzer, der Form von Filmnegativen nachempfundener Rahmen markiert die Bilder als Archivbestand. Von Anfang an erzeugen die klar klingenden Stimmen der britischen Soldaten eine eindringliche Aufmerksamkeit. Die Tonaufnahmen entstammen Archivbeständen der BBC und wurden zumeist anlässlich des fünfzigsten Jahrestages für die sechsundzwanzigteilige GREAT WAR-Serie in Inter-

56 Jacksons Großvater, dem die Dokumentation gewidmet ist, kämpfte im Großen Krieg als Soldat einer walisischen Einheit. 57 Der Gedichttext findet sich hier: http://www.greatwar.co.uk/poems/laurence-binyon-forthe-fallen.htm (10. März 2021). 58 Vergleiche den Sound bite der BBC: https://www.bbc.co.uk/bitesize/clips/z3pyb9q (17. November 2019). 59 Vergleiche die Verwendung der Gedichtstrophe beim Anzac Day in Gallipoli 2015: https:// www.dva.gov.au/sites/default/files/files/publications/commemorations-war-graves/Gallipoli_ Services_2015.pdf (17. November 2019).

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views mit den ehemaligen Soldaten aufgezeichnet (Hanna 2007a, 91; Kuehl 2009, 204). Einige der Aufnahmen wurden mit Hilfe von Lippenlesern nachvertont und durch Schauspieler mit dem regional typischen Akzent für das jeweilige Regiment nachgesprochen. Auf Experteninterviews und Voice-Over wurde verzichtet, was die Authentifizierung des historischen Narratives stärker in die Montage der aufbereiteten Archivaufnahmen und die erinnerungskulturelle Rahmung verlegt. Die gesamte Dramaturgie und Aufbereitung des Archivmaterials werten die Perspektive der soldatischen Zeugenschaft enorm auf, wobei die engere Auswahl durch die vorgegebenen Archivbestände auf die britische Infanterie beschränkt bleibt. Diese bedeutsame und gegen den im dokumentarischen Bereich vorherrschenden verflechtungs- und globalgeschichtlichen Trend laufende Inszenierung war dem Regisseur bewusst (vgl. Premiereninterview), wird innerfilmisch aber nicht weiter reflektiert. Eine längere Sequenz (NOT GROW OLD: 08:20‒11:00) führt den hohen Anteil an minderjährigen Soldaten vor, die ihre Altersangaben nicht selten auf Anraten der Rekrutierungsautoritäten passend gemacht haben. Jackson führt im Premiereninterview aus, dass man die jung aussehenden Soldaten aus dem Archivmaterial herausgefiltert habe. Aufnahmen, die oft fünfzig und mehr Soldaten zeigen, wurden im Hinblick auf die jugendlichen Rekruten vergrößert und aneinandergereiht. Hier tritt schon etwas von der dramaturgisch zurückhaltend angelegten Antikriegshaltung der Dokumentation hervor, die, obgleich sie ein facettenreicheres Bild britisch-soldatischen Kriegserlebens zeichnet, eine dezidierte Message hat. Es folgen die genretypischen Beschreibungen von Bootcamps und der Verschiffung nach Frankreich, wo kurz einige Kolonialtruppen gezeigt werden. Bei der Ankunft auf dem Schlachtfeld setzt die Nachkolorierung und Nachvertonung der Aufnahmen ein. Nun hört man die vorher grauen und stummen Soldaten lachen, husten und rufen. Zudem wird die Bildgeschwindigkeit mit Hilfe der digitalen Rekonstruktion auf fünfundzwanzig Bilder pro Sekunde erhöht. Der Gang der Männer wird flüssiger, natürlicher, sie lächeln in die Kamera, die schwarze Bildrahmung verschwindet. Die Dramaturgie der aufbereitenden Bilder signalisiert, dass im Augenblick der Gefahr die volle Lebendigkeit in die dokumentarische Erzählung zurückkehrt. Es folgt die unvermeidliche Feuertaufe sowie das Leben in den Wehrgräben. Dabei gelingt es den aufbereiteten kolorierten Archivaufnahmen, etwas vom Abstoßenden, Abjekthaften der geschundenen Tier- und Menschenkörper ins erinnerungskulturelle Gedächtnis zurückzuholen. Ein von Wundbrand zerfressener Fuß, der zur Amputation freigegeben ist, erzeugt durch den dokumentarischen Realitätsverweis eine schockhafte Nachhaltigkeit, die fiktionale Produktionen kaum je erreichen können (NOT GROW OLD: 39:12). So kehrt die visuelle Überwältigung der traumatischen Verletzungen, aber auch die Unbeschwertheit der jungen Solda-

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ten ins historische Narrativ zurück. Eine Vielzahl der Stimmen beschreibt den Krieg nicht als sinnlosen Opfergang, sondern als die Absolvierung einer nationalen Pflicht, die neben zahlreichen Entbehrungen auch Kameradschaft, Spaß, Abenteuer und Kampflust beinhaltete. Damit knüpft Jackson an die anders gelagerte Akzentuierung des britischen Kriegsgedächtnisses (vgl. Jeffery 2015 sowie Andersen/Arnold-de Simine 2017, 71) an und bringt ein umfänglicheres Bild des Kriegserlebens aus soldatischer Sicht in den erinnerungskulturellen Diskurs ein. Die längste Sequenz dreht sich um die Somme-Offensive im Sommer 1916. Hier wird von der Vorbereitung auf die Offensive, den Stunden und Minuten vor dem Angriff, der Schlacht selbst bis hin zum Bergen der Gefallenen und der Versorgung der Verwundeten ein Nacherleben des Krieges inszeniert, das wiederum alle Aspekte desselben beinhaltet (NOT GROW OLD 54:01–1:20:00). Die historiografische Entscheidung, die Somme-Offensive ins Zentrum der Dokumentation zu stellen, rückt die Erzählung in die Nähe des größten militärischen Verlustes in der Geschichte der britischen Armee und somit eines nationalen britischen Traumas.60 Das Nacherleben speist sich aus den Stimmen der ehemaligen Soldaten, deren Geschichten sinnloses Sterben genauso wiedergeben, wie sie den Krieg als Abenteuer erleben. Jackson vermag es, das Kampfgetümmel der Großoffensive mit seinen ganz eigenen emotionalen und moralischen Gesetzen eindrücklich zu inszenieren. Die im Original zu hörenden Stimmen der Soldaten sind mit dem nachvertonten Schlachtenlärm von Maschinengewehrfeuer und Explosionen unterlegt und erzeugen in der Kombination mit den aufbereiteten Archivaufnahmen, die hier teilweise in Schleife aneinander montiert sind, einen vielfach gebrochenen und dennoch wirkungsmächtigen Realitätseindruck. Nach dem Abklingen des nachvertonten Schlachtenlärms wird durch die Versorgung der Verwundeten die Arbeit des medizinischen Personals beleuchtet. Dabei wendet sich die dokumentarische Erzählung auch den deutschen Gegnern zu, die als Kriegsgefangene mit ihren grauen Uniformen ins Bild treten und sich teilweise freiwillig als Krankenträger zur Verfügung stellten. Eine Vielzahl der soldatischen Interviews betont die Gleichartigkeit der Deutschen und erzeugt so einen Kontrast zu dem von der Propaganda gezeichneten Bild der ‚Hunnen‘, die als brutalen Bestien zu vernichten seien. Anhand der Thematiken der Niedergeschlagenheit der deutschen Kriegsgefangenen und deren zunehmender Kriegsmüdigkeit steuert die dokumentarische Erzählung auf das Ende der Kampfhandlungen zu. Dessen Erleben am Tag des Waffenstillstands wird nicht als triumphale Feier, sondern als kaum noch fassbare Irritation beschrieben. Die Schilderungen konvergieren

60 Die Somme Schlacht hat eine reichhaltige filmische Aufarbeitung erfahren (vgl. Hanna 2007a, 94), die bereits im ersten Kapitel zur Sprache kam.

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mit der letzten Folge der 14 TAGEBÜCHER, wonach der ‚Krieg die einzige Realität ist, die wir noch kennen‘. Auch dieses Erinnerungsbild steht quer zu der im populären Gedächtnis verbreiteten Vorstellung der jubelnden Soldaten.61 Die letzte Sequenz thematisiert die Erfahrung der Kriegsheimkehrer nach England, wo die Interviewten sich einhellig über fehlende Anerkennung und Verständnis für ihren Einsatz beklagen. Gespräche mit Zivilisten über den Krieg seien sinnlos, da die Diskrepanz zwischen Kriegserfahrung und Zivilleben unüberbrückbar sei. Die dokumentarische Inszenierung der Heimkehr stiftet das Motiv einer ‚lost generation‘ und deren sozialer Traumata,62 die mit ihren Erfahrungen allein gelassen wird und deren persönliche Opfer keine soziale Anerkennung finden. THEY SHALL NOT GROW OLD breitet ein vielsprachiges Panorama von Kriegserfahrungen der britischen Infanterie aus, das am Ende des Zentenariums den Blick zurück auf die Männer richtet, die an vorderster Front die Ereignisse durchlebten. Dabei werden trotz der erheblichen regionalen Einschränkung Erfahrungsschichten soldatischer Kriegserfahrung sichtbar, die durch Filter der populären Erinnerungskultur nur noch in verdünnter Form vorliegen. Gleichzeitig findet sich auch bei Jackson jenes übergreifende Antikriegsnarrativ, das den Krieg als kulturelles Trauma kodiert. Letzteres bewerkstelligt die Dokumentation in einer Kombination aus ästhetischen (Farbigkeit im Moment der Gefahr, Darstellung von Abjekten, Nachvertonung des Kriegsgetöses) und historiografischen (Verluste der SommeSchlacht) Elementen, die den Erfahrungsgehalt der ‚lost generation‘ aber auch die Humanisierung des deutschen Kriegsgegners beinhalten. Im Premiereninterview erwähnt Jackson im Anschluss an die für ihn selbst überraschende Haltung der Soldaten, dass der Krieg „die beste Zeit ihres Lebens gewesen sei und dass sie es wieder tun würden“ [Übersetzung M.E.], die notwendige Einschränkung auf die Berichte der Überlebenden: I kept on thinking, as I was hearing those voices that there is a set of voices that we are not hearing, which is voices of the men that got killed, that didnʼt come back. And i think, those million men would have a slightly different opinion. (THEY SHALL NOT GROW OLD, DVD-Extras: 13:05‒13:29)

Ohne die zeitgeschichtliche Haltung der interviewten Soldaten in Frage zu stellen, fügt Jackson ein aus seiner Sicht relevantes erinnerungskulturelles Motiv hinzu, über dessen Einfluss auf die erwähnte dramaturgische Gestalt der Dokumentation man spekulieren kann. Die Assoziation zu dem von Primo Levi angesichts der Schrecken des Holocaust formulierten Einspruchs, dass „die wahren

61 Vergleiche zur soldatischen Erlebnisperspektive des Kriegsendes auch die Untersuchung von Samuel Hynes (1998, 93‒97). 62 Vergleiche dazu die Analyse von TESTAMENT OF YOUTH im dritten Kapitel.

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Zeugen nicht die Überlebenden, sondern die Untergegangenen sind“ (Levi 1993), liegt sicher nahe. Den Gefallenen wird erinnerungskulturell ein Mitspracherecht eingeräumt und somit der unauslöschliche Verlust zum Zentrum der Erinnerung.63 Das deckt sich mit dem Erinnerungsauftrag des Anfangs angesprochenen Gedichtes, dessen letzte Strophe lautet: As the stars that shall be bright when we are dust, Moving in marches upon the heavenly plain, As the stars that are starry in the time of our darkness, To the end, to the end, they remain. (Laurence Binyon 1914: For the Fallen)

Die von Jackson im Premiereninterview angesprochene ‚Humanisierung des Archivmaterials‘ korrespondiert insofern mit diesem Erinnerungsauftrag, dem er die oben dargelegte Form eines kulturellen Traumas gibt. Die Presseberichterstattung fiel weitgehend positiv aus, auch wenn sich hin und wieder Kritik an der computergenierten Aufbereitung des Archivmaterials entzündete. Adam Grobnik gibt im New Yorker zu bedenken, dass die Aktualisierung nicht nur ein neues Erleben der Vergangenheit ermöglicht, sondern gleichzeitig davon wegführt, zu verstehen, wie die historischen Zeitgenossen sich selbst medial erlebt haben (vgl. Grobnik 2019). Die Filmbesprechung der New York Times spitzt das dahingehend zu, dass die durch die Kolorierung entstandene „porcelain smooth skin“ die Geschichte so zum Leben erwecke wie Dr. Frankenstein die Toten (Kenigsberg 2019). Im Deutschlandfunk wird die Kolorierung als Schminke gewertet, der es mehr um die Unterhaltung als „historische Erkenntnis“ gehe (Hamdorf 2019).64 Im sonst gerne kritischen Guardian ist man „elektrifiziert“ von der digitalen Aufbereitung der Archivaufnahmen: „The soldiers are returned to an eerie, hyperreal kind of life in front of our eyes, like ghosts or figures summoned up in a seance. The faces are unforgettable.“ (Bradshaw 2018) Die digitale Aufbereitung des Archivmaterials, deren Charakterisierung als „Humanisierung“ in der Tat angezweifelt werden kann, bringt wie jeder mediale Formwechsel ästhetische Transformationen mit sich, die im besseren Fall eine Vorstellung davon liefern, was verloren geht und was gewonnen wird. Da Jackson die ersten fünfundzwanzig Minuten noch mit dem nicht-kolorierten Archivmaterial65 gestaltet, wird die Differenz der Materialtypen zumindest vorgeführt. Diese

63 Dabei gilt es auch zu bedenken, dass viele der in den Archivaufnahmen zu sehenden Soldaten bereits kurze Zeit später gefallen sind, wie Jackson wiederholt anmerkt. 64 Wolfgang Martin Hamdorf „130 Soldaten erinnern sich an den Ersten Weltkrieg“, in: Deutschlandfunk, 25. Juni 2019, https://www.deutschlandfunkkultur.de/dokumentarfilm-they-shall-notgrow-old-von-peter-jackson.2165.de.html?dram:article_id=452303 (18. November 2019). 65 Das aber weitgehend digital bearbeitet und nachvertont ist.

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Parallelisierung schafft ein Kontrasterlebnis, das – wie bereits besprochen – Bestandteil von Jacksons ästhetischer Dramaturgie ist. Dieses als einen reinen „Unterhaltungswert“ (Hamdorf 2019) einzuordnen, verkennt sowohl den aufwendigen Digitalisierungsprozess wie die Situierung des Erlebens in den unterschiedlichen nationalen Gedächtnisformationen. Was dem britischen Rezensenten als geisterhafte Wiederkehr anmutet, erscheint dem deutschen Rezensenten als zweifelhafter Unterhaltungswert oder in der US-amerikanischen Variante als monströse Wiedererweckung. Idealtypisch lassen sich daran die Kontinuitäten der Differenzen in den verschiedenen nationalen Erinnerungsdiskursen ablesen. Insgesamt wird mit THEY SHALL NOT GROW OLD ein Schock- und Trauererlebnis beschworen, das dem Großen Krieg noch einmal ganz nahe zu kommen versucht. Die Art der Inszenierung und ihre Rezeption verweisen auf die erinnerungskulturelle Verankerung des Krieges im Familiengedächtnis des ehemaligen britischen Imperiums, dem eine zentrale Stellung für die nationale Identitätsstiftung, nicht nur der ‚Insel‘, sondern für die vom Krieg nicht minder betroffenen, ehemaligen Dominions Australien, Neuseeland und Kanada zukommt.66 Umgekehrt wäre eine derartige Produktion für das deutsche Gedächtnis schwer als erinnerungskulturelles Ereignis vorstellbar. Die 14 TAGEBÜCHER liefern durch ihr gesamteuropäisches 66 Im fiktionalen Bereich weist die dreiteilige BBC-TV-Miniserie OUR WORLD WAR ein vergleichbares Narrativ auf. Sie adressiert durch ihre auf Videospielästhetik zugeschnittene Machart ein anderes Zielpublikum, in der der Krieg als zumindest teilweise lustvolles Abenteuer erlebbar ist. Die drei je fünfundfünfzigminütigen Episoden handeln verschiedene Stationen des Krieges ab: ‚The First Day‘ dreht sich um den Einsatz der 4 Royal Fuseliers bei der Schlacht um Mons. Episode 2 konzentriert sich auf die verlustreiche Somme-Schlacht im Juli 1916 während Episode 3 eine mit Hilfe von Panzern durchgeführte Schlussoffensive des Krieges zeigt. Damit werden drei fest im britischen Kriegsgedächtnis verankerte Stationen des Krieges angesteuert, die sich mit Bezug auf das Zielpublikum als ‚Initiation‘, ‚Reifung‘ und ‚Heimkehr‘ beschreiben lassen. Das narrative Gegenstück für ein stärker familienorientiertes Publikum ist die BBC-Produktion THE PASSING BELLS. Die fünfteilige TV-Miniserie erzählt die Geschichte eines englischen und eines deutschen Kriegsfreiwilligen, deren Erlebnisse sich zum Verwechseln ähnlich sind. Die patriotisch gesinnten Teenager treten gegen den Willen der Eltern ‒ und insbesondere der Mütter ‒ den Kriegsdienst an und lassen eine junge Liebe an der Heimatfront zurück. Es folgen die genrespezifischen Standardszenen von Feuertaufe, Bruderschaft des Krieges, Stellungskrieg, Umgang mit Verlust und der Kodierung des Krieges als sinnloses Opfer. Das Ganze findet seine dramaturgische Zuspitzung in der Schluss-Szene, bei der die beiden Helden sich zur Stunde der Unterzeichnung des Waffenstillstands in einem tödlichen Zweikampf im Niemandsland begegnen. Das Kriegsmelodram belässt es aber nicht bei diesem tragischen Ausgang mit Mohnblumen zum Abspann, sondern zeigt, wie sich die Protagonisten und Statisten erheben und Arm in Arm als glückliche junge Männer der Gegenwart das Schlachtfeld verlassen. Das gekonnt inszenierte Melodram bedient ein spezifisches Publikumssegment, wurde entsprechend früh um 19 Uhr gesendet (vgl. Jones 2014) und bestätigt, dass die britischen TV-Produktionen der Sinnlosigkeit des Krieges gerne den Patriotismus der einfachen Soldaten beifügen.

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Narrativ einen Zugang, der den signifikanten Unterschied zwischen britischen und kontinentaleuropäischen Gedächtnistraditionen des Großen Krieges veranschaulicht. Während der Große Krieg aufgrund des noch verheerenderen Zweiten Weltkrieges in Deutschland gar nicht adäquat ins Geschichtsbild integriert werden konnte, kann er aufgrund der spezifisch familiengeschichtlichen Rahmung67 in England nicht zur Geschichte werden.68 Beides bezeichnet verschiedene Art und Weisen, wie der Krieg als kulturelles Trauma in die kulturellen Gedächtnisse eingeschrieben wird. Einmal mit einem melancholischen Akzent69 als Katastrophe, die nicht vergessen werden kann und soll und zum anderen als ‚europäische Urkatastrophe‘, die gleichsam als Lektion aus der Geschichte zur negativen Gründungsakte der Europäischen Union herangezogen wird. Die Aljazeera-Englisch-Produktionen sind der politischen Form nach der kontinentaleuropäischen Version des kulturellen Traumas sogar näher, da sie aus der Verliererperspektive das nicht minder schwere Problem zu lösen haben, die fremdbestimmte Gründung des Nahen Ostens als disparaten Staatenverband zu erinnern. Die Verarbeitung der Gewaltgeschichte, das Zurechtkommen mit den eigenen Geistern verbindet die Gedächtnisformationen, die jede auf ihre Weise versuchen, ihren Frieden mit diesen zu schließen. Wie in Abel Gance‘ paradigmatischem Film JʼACCUSE klopfen die Geister zu den Gedenktagen und Memorialereignissen an die Tür und fragen nach der Sinnhaftigkeit ihrer Opfer. Im Schlusskapitel des Buches wird besprochen, inwiefern mit den verschiedenen Formen der filmischen Kodierung kultureller Traumata eine neue Form der Erinnerung Eingang in die bekannten religiösen oder kulturellen Trauer- und Erinnerungsrituale gefunden hat und diese ergänzt oder verdrängt.

67 Vergleiche für die filmische Tradition der Anbindung ans Familiengedächtnis den Aufsatz von Emma Hanna (2007a, insbesondere 103‒105). 68 Im deutschen Erinnerungsdiskurs erfüllen der Nationalsozialismus und der Völkermord an den kontinentaleuropäischen Juden eine ähnliche Funktion. Auch diese können nicht historisiert werden, weil die Art der Einschreibung etwas Unerinnerbares ins Zentrum stellt. 69 Die Ausbildung melancholischer Elemente der Erinnerung von Gewaltgeschichte ist vermutlich unvermeidlich. Die von Primo Levi bezeichnete Verankerung der Holocausterinnerung durch die Untergegangenen bringt das Phänomen auf den Punkt. Indem ein unzugänglicher Ausgangspunkt in die ‚Auflösung‘ des Gedenkens eingeschrieben wird – nämlich die Perspektive der Untergegangenen – macht die betreffende Erinnerungsgemeinschaft diese zu ihrem negativen Zentrum. Partiell fand dies sicher in der bundesrepublikanischen Erinnerungslandschaft statt (vgl. Elm 2015). Die Theorie des kulturellen Traumas kann diese Memorialpraktiken im sogenannten Trauma-Prozess als gesellschaftliche Aushandlungen kenntlich und sichtbar machen. Darin liegt das Verdienst des Ansatzes, der keine übergreifenden ‚Lösungen‘ anzubieten hat. Solange das melancholische Narrativ mehrheitlich von einer Gesellschaft befürwortet wird, bildet es deren moralisch-mythologische Grundlegung.

6 Eine Geistergeschichte – statt eines Schlusswortes Als die freiwillige Krankenschwester Vera Brittain ein Gespräch zwischen verwundeten britischen Soldaten in ihrem Feldlazarett zufällig mit anhörte, war sie überrascht zu vernehmen, dass die Soldaten von gefallenen Kameraden sprachen, die weiterhin an deren Seite kämpften. Auf Nachfrage bestätigten die Verwundeten die Hilfe der ehemaligen Kameraden, die sich an den Angriffen beteiligten, die Verteidigung der Schützengräben übernahmen oder die Verletzten bargen. (Brittain 2014, 377‒380) Das gespenstische Vorhandensein der Toten war für die Soldaten nach einigen Jahren des Krieges ganz selbstverständlich. Die posttraumatische Vergegenwärtigung der Gefallenen war wirkmächtiger als die nüchterne Einsicht in eine trostlose Realität. Letztlich erging es Vera Brittain oder Käthe Kollwitz mit ihren literarischen und künstlerischen Werken nicht viel anders. Die Tode des Sohnes, des Verlobten, des geliebten Bruders und der Freunde sollten beide Frauen bis an ihr Lebensende begleiten. Ihre autobiografisch angeleiteten Verarbeitungen der Verluste sind andere, sehr viel elaboriertere Formen, jene Geister zu bannen, die die Hinterbliebenen dazu drängten, Rechenschaft abzulegen und den Verstorbenen literarische und oder gegenständliche Denkmäler zu setzen. Jay Winter hat in seiner Untersuchung der Erinnerungs- und Trauerrituale während und nach dem Krieg das Phänomen der ‚Rückkehr der Toten‘ als Teil eines verbreiteten Spiritualismus beschrieben (vgl. Winter 1995, 54‒77). Dieser umfasste das in allen gesellschaftlichen Schichten verbreitete Bedürfnis, Kontakt mit den Toten aufzunehmen und verband sich mit religiösen und paganen Formen von Totenkult. Marienerscheinungen auf dem Schlachtfeld, „an army of Agincourt Bowmen to help defend the British army at Mons“ (Winter 1995, 67), tote Soldaten, die wieder in Wehrgräben auftauchen oder Nachrichten an Hinterbliebene senden, um deren Trauer zu erleichtern, beziehungsweise am Ostersonntag 1918 eine Trauerfeier auf dem Friedhof Père Lachaise besuchen (ebd.). Die Invasion der Träume und Gedanken der Lebenden durch die Toten werden als „inevitable outcome“ (Winter 1995, 69) des Grabenkrieges beschrieben. Winter argumentiert, dass nach Jahren des Krieges Geister- und Gespenstermotive die aus den religiösen Memorialformen bekannten Heiligen oder Dämonen verdrängten, da die christlichen Rituale von Beerdigung und Trauerfeier nicht mit den Ereignissen Schritt halten konnten. Er zitiert einen katholischen Geistlichen, der anders als viele seiner missgünstig gestimmten Kollegen Verständnis für das pagane Phänomen des Spiritualismus zeigt: „‚They are manifestations of obscure and profound needs in the popular soul, intimate yearnings which seek their way and which, without wise orientation, will lose their way‘“ (Winter 1995, 64). https://doi.org/10.1515/9783110654431-007

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Es ist daher kein Zufall, dass das moderne Medium des populären Gedächtnisses, der Film, sich jener Geistergeschichte angenommen hat. Die berühmte Szene aus Abel Gance’ JʼACCUSE,1 in der sich die Gefallenen vom Schlachtfeld erheben und ihre Angehörigen fragen, ob diese sich ihrer Opfer als wert erwiesen haben (vgl. Kapitel 1), muss in dieser Tradition verstanden werden. Der deutsche Expressionismus lässt sich unschwer als posttraumatische Reaktionsbildung auffassen. Eine schockhafte Erfahrung, die in Kunst verwandelt wurde. Von Rob Reiners NERVEN über das legendäre KABINETT DES DR. CALIGARI bis hin zu den Untoten bei Friedrich Murnau ist das Kino der Weimarer Zeit mit unheimlichen Gespenstern und Geisterwesen ausgestattet.2 Toni Kaes hat in seinem Buch Shell Shock Cinema das Weimarer Kino als „haunted by the memory of the War“ beschrieben, da dessen „traumatisches Resultat niemals offiziell anerkannt oder gar akzeptiert wurde“ (Kaes 2009, Pos. 131; Übersetzung M.E.). Er vollzieht eine perspektivische Umkehr in der Betrachtung der Weimar Zeit, die nicht nur retrospektiv durch die NS-Zeit und den Holocaust, sondern ebenso vom Ersten Weltkrieg verstanden werde müsse. Seine Untersuchung endet mit einer Behauptung, die dem hier vertretenen recht nahekommt: Although the diagnostic terms have changed from shell shock and war neurosis to combat stress reaction and post-traumatic stress disorder, the pain and suffering they stand for have stayed the same. The films that register the mental and emotional aftershocks of recent wars do not differ structurally from the post-traumatic German films that followed World War I. Like them, they show the invisible wounds that remain when war has ended. (Kaes 2011, Pos. 3796)

Für eine Arbeit, die sich mit der filmischen Verarbeitung von Gewaltgeschichte befasst, ist die Anerkennung der Realität von Geistern und Gespenstern ein entscheidendes Kriterium für das Verständnis des Stoffes. Gleichzeitig hat sich ein Formwandel der medialen, erzählerischen und ästhetischen Repräsentationen vollzogen, die insbesondere im Medium des Films eine eigene Geschichts- und Erinnerungstradition ausgeprägt haben. Diese hat den Gespenstern von einst mit den ästhetischen und narrativen Darstellungformen von Gewalt und Trauma zu einer neuen Bildsprache und Erzählweise verholfen. Die theoretische Durchdringung dessen geht mit einer wissenschaftlichen Sprache für deren Artikulation 1 Die von Gance geschaffene Bildsprache vermag auch hundert Jahre später noch die Zeitgenossen zu bewegen und anzuregen, wie man etwa in der einer Ausstellung des französischalgerischen Künstlers Kader Attia sehen konnte. Vgl. https://www.mca.com.au/about-us/mediareleases/media-releases/mca-australia-unveils-solo-exhibition-kader-attia/ (12. Dezember 2019). 2 Der englische Schriftsteller des Empires, Rudyard Kipling, versuchte in spiritualistischen Zirkeln mit seinem gefallenen Sohn Kontakt aufzunehmen (vgl. Winter 1995, 72–73), was im Film MY BOY JACK verhandelt wird.

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einher. Bei dem hier variierten Ansatz des kulturellen Traumas handelt es sich um eine Theoriesprache, die den Verzweigungen der Inszenierung von historischer Gewalt nachsteigt. Die Theoriesprache umfasst gleichermaßen die kulturelle Deutung und politische Kodierung der historischen Ereignisse wie sie die fortdauernde Transformation der Wunden untersucht. Der Ausdruck Theoriesprache hat seine Bedeutung nicht zuletzt in dem von José Brunner beschriebenen Sinn, dass es sich dabei immer um Übersetzungsvorgänge zwischen verschiedenen diskursiven Systemen handelt, die zum Selbstverständnis moderner Gesellschaften gehören (vgl. 2014, 279). Die vorliegende Arbeit hat die filmische Rahmung des Großen Krieges als eine Form von dessen Gewaltgeschichte untersucht. Die Zentenariumsfilme bedienen sich verschiedener ästhetischer und narrativer Varianten der Kodierung von Trauma, die sich in der Summe nicht selten zu einem kulturellen Trauma zusammenfügen.3 Entscheidend für dessen Ausprägung ist, ob die Filmhandlung das historische Geschehen als unauslöschlichen Einschnitt markiert, deren Folgen bis in die Gegenwart reichen. Den filmischen Kodierungsmustern ist ein bedeutender Platz bei der Transformation von Gewaltgeschichte zuzuweisen, der etablierte Trauer- und Erinnerungsrituale ergänzt oder ablöst. Ob man dabei an die französische Tradition denkt, in der die Darstellung der Kriegsentstellungen [geueles cassées; M.E.] und das frivole Geschäftemachen mit der Exhumierung der Gefallenen nach dem Krieg für die Filme unabdingbar zu sein scheinen, oder die englische Tradition der tapfer patriotisch kämpfenden jungen Männer, deren Leben militärisch und politisch zu leichtfertig dargebracht wurde, oder die im deutschen Diskurs vorherrschende Neigung, ein europäisches Narrativ zu entwerfen, wie es in 14 TAGEBÜCHER oder Guido Knopps WELTENBRAND geschieht. Immer handelt es sich dabei um die Ausgestaltung eines kulturellen Traumas, das die moralische Anklage nach Anerkennung der Opfer und das Erinnern von politischen Fehlern mit sich führt. Der Kernbestand des westlich-europäischen Kriegsgedächtnisses hat im Zentenarium einige Erweiterungen erfahren, die mit den seit geraumer Zeit vorherrschenden Forschungstrends in den historiografischen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen korrespondieren. Dabei sind die Filme zum Genozid an den Armeniern und die dokumentarischen Aljazeera-Englisch-Produktionen zu nennen, die historisch andere Perspektiven und Themen in diesen Diskurs hineintragen. Es hat sich gezeigt, dass die nach wie vor konfligierenden Narrative zum Genozid an den Armeniern über den Bezug auf das US-amerikanische Ge-

3 Vergleiche dazu das Schema im Anhang des Buches, das mit Bezug auf einige Zentenariumsproduktionen übersichtsartig die filmischen Bestandteile der Konstruktion eines kulturellen Traumas zeigt.

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dächtnis versuchen, die Auseinandersetzung um kulturelle Hegemonie für sich zu entscheiden (vgl. Kapitel 3). Der Film THE CUT von Fatih Akin ragt mit seiner ins Globale gewendeten Geschichte von genozidaler Flucht und Vertreibung aus diesem Konkurrenzkampf hinaus und steuert ein postmigrantisches historisches Narrativ bei, das sich langfristig als wirkungsmächtig erweisen könnte. Gerade indem die Filmhandlung sich nicht auf die traumatischen Aspekte des Genozids beschränkt, streut er jene Elemente von Resilienz und der Bedeutung von stützenden sozialen Beziehungen in den Erinnerungsdiskurs ein, die über die Gewaltgeschichte hinausreichen und ein Desiderat der Erinnerungsforschung bilden (Bond/ Craps 2018, Pos. 2662). Die Aljazeera-Produktionen eröffnen nicht nur den Blick auf bedeutsame Schauplätze des Krieges im Nahen Osten, sondern wirken daran mit, das postkoloniale Verständnis der Gewaltgeschichte dieser Region zu vertiefen. Die sich daran anschließenden Diskussionen um die Kontinuitätslinien zu Gegenwartskonflikten konnten hier nur angerissen werden. Als Momentaufnahme des regionalen medialen Diskurses lässt sich festhalten, dass der programmatische Anspruch des Senders zur multiperspektivischen Nachrichtenberichterstattung Eingang in die historischen Narrative der Geschichtsdokumentationen gefunden hat. Diese neigen im Hinblick auf das arabisch-muslimische Zielpublikum des Senders dazu, bestimmte Lesarten zu präferieren, was sich unter anderem in einer überwiegend negativen Darstellung des Zionismus äußert. Die ebenfalls im dritten Kapitel dargelegte Feminisierung der Weltkriegserinnerung macht deutlich, dass der mediale, populärwissenschaftliche Diskurs um die Erinnerung an den Großen Krieg auch in Europa und im angelsächsischen Sprachraum nicht ans Ende gelangt ist. Die vielschichtigen Verknüpfungen von weiblichen Kriegserfahrungen zwischen Heimatfront und Frontlinie erzählen die Geschichte eines totalen Krieges neu, der als Einschnitt in die Geschlechterrollen gleichermaßen ein kulturelles Trauma bezeichnet, wie er emanzipatorische Prozesse freigesetzt hat. Nach dem Zentenarium und der Fertigstellung des Manuskriptes kam mit 1917 von Regisseur Sam Mendes eine weitere große angelsächsische Produktion in die Kinos. Dies verdeutlicht, dass das Zentenarium keineswegs das letzte Wort behalten wird, was die film- und erinnerungsgeschichtliche Seite des Großen Krieges betrifft. Genre- und erinnerungstheoretisch ist der Film deswegen interessant, weil er stärker als die meisten Zentenariumsproduktionen die Ikonografie des Ersten Weltkrieges an andere Kriegsdarstellungen heranführt. Die Konfliktdynamik des Films ließe sich mit SAVING PRIVATE RYAN meets First World War zusammenfassen. Wie im Plot von Steven Spielbergs Klassiker des Zweiten Weltkrieges steht eine Rettungsaktion im Mittelpunkt der Filmhandlung. Zwei britische Soldaten werden zur Durchquerung des Niemandslandes ausgesandt, um eine Einheit vor einem sinnlosen Angriff gegen eine deutsche Stellung zu

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warnen. Einer der Soldaten wird deswegen ausgewählt, weil sein Bruder in der besagten Einheit kämpft. Die Durchquerung des Niemandslandes beschwört visuell die Geistergeschichte des Ersten Weltkrieges mit ihren zerstörten Landschaften, Stacheldrahtverhauen, Pferdekadavern und Leichnamen im Schlamm herauf, während das Rettungsmotiv den Grabenkrieg in einen Bewegungskrieg verwandelt. Das Motiv der Rettung treibt den Protagonisten voran und die Kameraführung erzeugt einen visuellen Sog, der diese Vorwärtsbewegung ästhetisch umsetzt. Dem Team um Regisseur Mendes gelingt mit Hilfe neuester Kameratechnik eine beeindruckend in Szene gesetzte Kriegsgeschichte, der man beim ersten Ansehen atemlos folgt. Es muss ein Scharfschütze ausgeschaltet und ein abgestürzter deutscher Flieger im Zweikampf getötet werden. Der Protagonist durchquert eine zerstörte französische Ortschaft, wird von weitgehend gesichtslos bleibenden deutschen Soldaten gejagt, trifft eine junge französische Mutter und überbringt schließlich die rettende Nachricht dem Oberkommando der bereits zum Angriff übergegangenen Einheit. Das Standardmotiv des Kriegsfilmgenres, die ‚Bruderschaft des Krieges‘ wird hier ganz wörtlich genommen, wobei die ikonografischen Superzeichen des Ersten Weltkrieges von dessen narrativer Grundstruktur (vgl. Kapitel 1) gelöst werden. Nicht nur überlebt zumindest einer der Helden die Durchquerung des Niemandslandes, sondern es gelingt ihm gar noch die Rettung der gefährdeten Einheit und des Bruders. Es lässt sich mutmaßen, dass nach dem Zentenarium die spürbare historische Pfadgebundenheit der filmischen Narrative sich weiter aufzulösen beginnt, beziehungsweise umgekehrt, der erinnerungskulturelle Anlass der Jahrhundertfeierlichkeiten den Genrekonventionen noch einmal einen Aufführungsraum verschafft hat. Die traumatheoretisch gewendete Gespenstergeschichte der Filme hat ebenfalls eine gesellschaftspolitische Seite, die mit einer Krise des Fortschrittsbegriffs und der Ausprägung einer neuen moralischen Grammatik der Erinnerung verknüpft ist. Die im Krieg gegen die Menschen gerichteten Produktivkräfte haben einen tiefen Einschnitt im europäischen4 Gedächtnis hinterlassen, der das Vertrauen in den technischen, aber auch gesellschaftspolitischen Fortschritt nachhaltig erschüttert hat. Nicht selten wird zu dessen Beschreibung auf den von Walter Benjamin gesichteten Engel der Geschichte zurückgegriffen, der den ungebremsten Fortschritt selbst als Katastrophe einstuft, aufgrund seiner Entstehungszeit 1940 aber eher dem Zweiten Weltkrieg zugerechnet wird (vgl. Benjamin 1991).5

4 Aufgrund des späten Kriegseintrittes der Amerikaner und dem durchschlagenden Erfolg der Panzer als neuer Waffengattung gegen Ende des Krieges ist dies im US-amerikanischen Gedächtnis weit weniger der Fall. 5 Wie in der Einleitung bereits angemerkt, dürfte durch die werkgeschichtliche Entstehung des Bildes bei Klee allerdings ein direkter Bezug zum Ersten Weltkrieg gegeben sein.

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Der von Benjamin beschriebene Sturm, der den Engel der Geschichte rückwärts in die Zukunft treibt, ist nicht zum Erliegen gekommen. Das gilt umso mehr für jene Regionen, in denen auch hundert Jahre später Krieg noch immer ein Mittel der Politik ist. Die Diskussion um den emanzipatorischen Gehalt der Nation-Form oder transnationale Regierungsformen, wie er insbesondere von den Aljazeeraund Arte-Produktionen aufgeworfen wird (vgl. Kapitel 4 und 5), zeigt, dass die Krise des Fortschrittverständnisses mit dem Nationalstaat auch dessen mächtigste gesellschaftliche Institution umfasst. Die filmische erinnerungskulturelle Betrachtung weist derart über sich hinaus, dass es unumgänglich wird, weiterreichende politische und gesellschaftstheoretische Überlegungen anzustellen.6 Dabei ist es immer zweifelhaft, von einer ‚Urkatastrophe‘ oder dem ‚letzten Sommer Europas‘ zu sprechen, wenn damit eine vorangehende Periode völliger Unschuld impliziert wird. Der Blick des Benjaminschen Engels fokussiert völlig zurecht, wie sich die Schreckensereignisse auftürmen und einander verstärken. Allerdings bedarf auch dieser kritische Blick der Imagination eines anderen, das dem Unheil entgegenwirkt. Benjamin situiert dieses in der Religion mit ihrer „schwachen messianischen Kraft“, die im Verbund mit dem historischen Materialismus das Unheil zum Besseren wenden soll (1991, 693‒694). Die erweiterte Theorie des kulturellen Traumas bezieht ihre Kraft zur Selbstkorrektur aus der Imaginations- und Handlungsfähigkeit ihrer Akteure. Ihre moralische Grammatik zielt auf die Überwindung individuellen und gesellschaftlichen Leidens und ist keineswegs ein neutrales wissenschaftliches Instrument. Überhaupt bezeichnet die Fähigkeit zur Imagination einen Kontrapunkt zum Trauma, da den beschädigten Subjekten genau jene Symbolisierungsfähigkeit verloren geht, die es ermöglicht, sich die äußere Welt und das eigene Leben als Möglichkeitsraum vorzustellen (vgl. Hirsch 2011, 64‒66). Das Medium Film stellt Potenziale bereit, diesen Möglichkeitsraum zu be- und überschreiten.7 Die meisten Zentenariumsfilme erzählen Geschichten davon, wie die beschädigten Subjekte sich ihre Lebensbejahung zurückerobern müssen. Sie durchqueren oft mit traumwandlerischer Sicherheit die historische Zeit, um uns an jene Orte zurückzuführen, die sie als leidvoll erlebte Schwellen markieren. Ein Paradebeispiel einer solchen erinnerungskulturellen Verarbeitung von Gewaltgeschichte hat François Ozon mit FRANTZ vorgeführt: Die Transformation der alptraumhaften Gespenster zu geliebten Geistern durch das Heimisch-Werden

6 Eine solche Ausweitung wird erinnerungspolitisch programmatisch im Ansatz von Michael Rothberg der ‚implicated subject positions‘ gefordert (2019). 7 Kaum zufällig daher die Verwendung des filmischen Mediums in Ansätzen der Traumatherapie (vgl. Elm/Kabalek/Köhne 2014, 8), obgleich es sich bei den oben genannten Potenzialen ebenso um gesellschaftliche Möglichkeitsräume handelt.

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des Unheimlichen.8 Dies bezeichnet eine emanzipative Praxis des Erinnerns, die es in den jeweiligen Gesellschaftsformen und medialen Umschreibungen zu erneuern gilt, um der fortbestehenden Macht des alten Unheils etwas entgegenzusetzen. Die filmwissenschaftliche Traumatheorie kann als Botin jener Geister gelten, deren Existenz sie zu verstehen und deren Schrecken sie zu mildern versucht. Ihre Akteure wie ihre Empfänger sind wir selbst.

8 Vergleiche dazu den entsprechenden Abschnitt: Reise zur anderen Seite – Das HeimischWerden des Unheimlichen im dritten Kapitel dieses Buches.

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