Erste Hilfe bei Sportverletzungen: FIT statt PECH (German Edition) [1 ed.] 3662664690, 9783662664698

Dieses Sachbuch liefert alles Wesentliche für die Erstversorgung von Verletzungen an Muskeln, Sehnen und Bändern in Spor

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German Pages 166 [157] Year 2023

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Erste Hilfe bei Sportverletzungen: FIT statt PECH (German Edition) [1 ed.]
 3662664690, 9783662664698

Table of contents :
Geleitwort
Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken
Inhaltsverzeichnis
1 Therapieren nach der Logik der Biologie
2 Die Natur weiß es einfach besser
3 Die Zelle – Grundbaustein des Lebens
4 Jetzt kommt es dicke: Wundschwellung erwünscht!
Typische Gründe für Wundschwellung
Die 10 Vorteile der Wundschwellung (begrenzte Auswahl)
5 F.I.T. – Nach allen Regeln der Biologie
FIT steht für Funktion, Information und Therapie
6 Warum wir Eis kaltstellen müssen
Eis ist nicht nice!
Negative Effekte der Kryotherapie (Eis-Anwendung)
Minus-Grade: Minus für die Wundheilung
7 Die Verletzung: Stress für den Organismus
8 Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung
Materie – Energie – Information – Funktion –– Raumzeit
Biokatalyse, Enzymaktivität und Wundheilung
Einteilung der Wundheilung in Phasen und Stadien
Phasen und Phrasen
Informone – Meiner für alle
Phasen der Wundheilung nach Uhr und Kalender
Die 1. bis 10. Sekunde (Tag eins)
Die 11. bis 60. Sekunde (erste Minute, Tag eins)
Die 2. Minute (Tag eins)
Die 3. Minute (Tag eins)
Die 4. Minute (Tag eins)
Die 5. Minute (Tag eins)
Die 6. Minute (Tag eins)
Die 7. Minute (Tag eins)
Die 8. Minute (Tag eins)
Die 9. Minute (Tag eins)
Die 10. Minute (Tag eins)
Die 11. bis 20. Minute (Tag eins)
Die 21. bis 60. Minute (erste Stunde, Tag eins)
Die 2. bis 8. Stunde (Tag eins)
Die 9. bis 24. Stunde (Ende Tag eins)
Der 2. Tag (25. bis 48. Stunde)
Der dritte Tag (49. bis 72. Stunde)
Der vierte Tag (73. bis 96. Stunde)
Rekapitulation: Die ersten Tage nach dem Trauma
Der 5. Tag (Woche 1)
Der 6. Tag (Woche 1)
Der 7. bis 10. Tag (Woche zwei)
Der 11. bis 14. Tag (Ende Woche zwei)
Der 15. bis 21. Tag (Woche drei)
Die 4. Woche (Monat eins)
Die 6. – 12. Woche (Monat drei)
Das weitere Jahr (Monate vier bis zwölf)
Gratulation: Wir sind auf der Zielgeraden!
9 Multitalking: Das integrale Informationssystem Mensch
10 Jetzt zieht sich zusammen, was zusammengehört: Wundkontraktion
Die Wundkontraktion
11 Der ewige Störenfried: Die ewige Narbe
Störungsmöglichkeiten der Narbe
12 Die FIT-Regel – Schlüsselwort und Schlusswort
13 Physiotherapeuten – Partner für Patienten und Ärzte

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Henk Brils Jens Brils

Erste Hilfe bei Sportverletzungen FIT statt PECH

Erste Hilfe bei Sportverletzungen

Henk J.M. Brils · Jens Brils

Erste Hilfe bei Sportverletzungen FIT statt PECH Mit einem Geleitwort von Dr. med. Uwe Wegner Physiotherapeuten und Sportmediziner

Henk J.M. Brils Walchensee, Deutschland

Jens Brils Landshut, Deutschland

ISBN 978-3-662-66469-8 ISBN 978-3-662-66470-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Covermotiv: © stock.adobe.com/Ashiq Johnson/peopleimages.com/ID 481205775 Covergestaltung: deblik, Berlin Planung/Lektorat: Eva-Maria Kania Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Der wahre Zweck eines Buches ist, den Geist hinterrücks zum eigenen Denken zu verleiten. Christopher Darlington Morley („A Cross Section”, Christopher Darlington Morley, Quelle: Saturday Review of Literature, 27. 12.1924, Seite 415, URL: https://books.google.at/books?id=xGcgAQAAMAAJ&q= %22trap+the+mind+into+doing+its+own%22&dq=%22trap+the+ mind+into+doing+its+own%22&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwj2 yba2x8PkAhVCwqYKHQd2AmQ4FBDoAQhAMAM).

Geleitwort

Ein wort vorab „irgendetwas stimmt nicht mit dir.“ Dies waren die ersten Worte von Henk Brils zu mir. Ich hatte mich als junger Assistenzarzt mit Hilfe von Physiotherapeuten in seinen CyriaxKurs „eingeschlichen“. Ich wollte Untersuchung, Tasten und Behandeln des Bewegungsapparates lernen. Auffällig an seinem Unterricht war schon damals, dass es ihm nicht nur um Vermittlung von Behandlungstechniken ging. Anatomie war ihm sehr wichtig. Klar. Aber er hat einen Bezug zu anderen Funktionskreisen des Körpers gesucht. Er wollte auch das „Warum“ ergründen und vermitteln. So stellte er in der ihm eigentümlichen Weise mit vielen Bildern die Verbindung und die Bedeutung des vegetativen Nervensystems und der Biologie an sich heraus. Auch sich immer wieder zu fragen, welchem Zweck und wem zum Schutz dient z. B. der Schmerz etc. Diese Art zu denken, vermittelt Henk und geht somit weit über die Vermittlung von Behandlungstechniken hinaus. In meiner Zeit als Verbandsarzt des Deutschen Leichtathletik Verbandes (DLV) begleitete er mich in der direkten Betreuung der Athleten. Er hielt Vorträge auf Ärzte- und Physiotherapeuten-Tagungen des DLV zur Bedeutung des vegetativen Nervensystems im Rahmen der Entstehung und Heilung von Verletzung. Obwohl in Henks Worten der „geistige“

VII

VIII      Geleitwort

Anteil immer mehr an Bedeutung gewann, hat er den Bezug zur Praxis und seinen Wurzeln gepflegt. Ich bin dankbar für die Inspirationen durch ihn. Sie wirken in meiner orthopädischen Arbeit fort. Durch sein Buch, seine besonderen Kenntnisse und seine langjährige Erfahrung haben jetzt viele die Chance, sich zu eigenem Denken verführen zu lassen. Orthopäde und Sportmediziner Hannover

Dr. med. Uwe Wegner

Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken

Knieverletzungen sind im Sport sehr häufig. Vor allem im Fußball. Sie spielen kein Fußball? Macht nichts. Es kann nicht schaden, wenn Sie trotzdem am Ball bleiben und aufmerksam weiterlesen. Ich wähle hier den Fußballsport einfach als ein sportliches Beispiel von vielen. Sie können sich natürlich auch gerne in einer anderen Sportart sehen – auf dem Tennisplatz, auf der Skipiste, beim Volleyball, beim Joggen im Wald oder von mir aus, wie jetzt auf dem Sofa sitzend, während Sie am TV-Bildschirm das Spiel Ihres Lieblingsclubs verfolgen. Es spielt auch keine Rolle, ob Sie Physiotherapeut, Mediziner oder Hobbysportler sind – jeder kann betroffen sein, denn jeder hat zwei Knie. Dass sich der Fußball auf ein physisch sehr hohes Level entwickelt hat, vor allem im Profisport, dürfte auch den Unsportlichsten unter uns nicht verborgen geblieben sein. Aber auch der Amateurkicker eifert dem Profi mehr und mehr nach. Allgemein gilt: schneller, körperlicher, aggressiver. Diese Entwicklung hat zur Folge, dass es immer häufiger zu Verletzungen im Fußball kommt. Und genau das passiert jetzt vor Ihrer Nase, während Sie genüsslich das Spiel verfolgen. Die Szene: Der Stürmer wurde in vollem Lauf vom Verteidiger zu Fall gebracht; da liegt er nun auf dem Rasen, das Gesicht schmerzverzerrt, er hält sich das Knie und windet sich wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist, während der Verteidiger sich für sein Handeln – ja, was wohl – verteidigt. Doch ohne Erfolg. Denn für den Schiedsrichter ist die Sache klar: Notbremse! Rote Karte für den Verteidiger. Für den Mannschaftsarzt des Stürmers ist die Sache ebenfalls klar: Eisbeutel! In solchen Situationen ist dem medizinischen Personal der Eisbeutel in etwa das, was das Pflaster der besorgten Mutter für das aufgestoßene Knie des IX

X      Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken

Jungen ist, der mit seinem Skateboard stürzte. Beides ist so selbstverständlich wie die Abfolge der unteren Extremität – von oben nach unten gesehen: Hüfte, Oberschenkel, Knie, Unterschenkel, Sprunggelenk und Fuß. Während daran ganz sicher nichts verändert werden sollte – darüber sind wir uns einig – sollte man sich jedoch endlich einmal fragen, warum am Vorgehen des Medizinmanns oder Physiotherapeuten auf dem Fußballfeld seit Generationen nicht gerüttelt wird. Warum zum Teufel eigentlich Eis? Gegen den Schmerz? Gegen die Schwellung? Ist das nicht vielleicht gegen die Biologie? Ich weiß, ich weiß. Es ist auf jeden Fall gegen die Gewohnheit, etwas zu hinterfragen, was offensichtlich nicht hinterfragt werden sollte, weil es schon immer so gemacht wurde. Ob Umknicken, Zerrung oder Prellung: Eis drauf und nicht hinterfragen. Eis hilft dem Spieler vielleicht kurzfristig gegen den akuten Schmerz. Auf dem Platz soll er ja möglichst sofort wieder auf die Beine, losrennen und weiterspielen. Gesund ist das nicht. Um die natürlichen – ich sage lieber bio-logischen – Heilkräfte zu aktivieren, ist das der falsche Ansatz. Was uns aus Expertenmund immer noch als Therapie nach dem neuesten medizinischen Stand verkauft wird, werde ich daher in diesem Buch widerlegen. – Achja, und Pusten nicht vergessen. Aber Achtung. Am Rande sei bemerkt, dass man selbst das Pusten heute in Frage stellen darf. „Es ist nicht von Vorteil, auf eine Wunde zu pusten“, sagt Sylke Schneider-Burrus, Oberärztin an der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Charité Universitätsmedizin Berlin. „Zwar hat das Pusten sicherlich psychologisch gesehen einen positiven Effekt. Es bedeutet für Kinder Zuwendung und Aufmerksamkeit. […]. Aber: Wie etwa beim Niesen oder Husten werden – allerdings in geringerer Menge – Erreger ausgestoßen. Außerdem kann es sein, dass durch zu viel Pusten die Wunde zu trocken wird. Die Zellen, die für die Wundheilung zuständig sind, gedeihen jedoch am besten in feuchtem Milieu.“1 Und bei Körpertemperatur – möchte ich unbedingt noch hinzufügen. Sorry, auch ein Vorwort, dass mit längst überholten Ideen Schluss macht, kann weh tun. Also, Zähne zusammenbeißen und lieber kühlen Kopf bewahren statt Eis verwenden. Was haben wir bis hierher erfahren? Erstens: Wenn es um Sportverletzungen geht, ist der Laufapparat am häufigsten betroffen. Egal, ob wir auf den Profifußballer schauen oder auf den energischen Versuch des 6-jährigen

1 „Hilft Pusten wirklich bei Wunden?“. Quelle: Direkt aus dem dpa-Newskanal. URL: https://www. sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-hilft-pusten-wirklich-bei-wunden-dpa.urn-newsml-dpacom-20090101-161108-99-107296.

Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken     XI

Jungen, das Skateboard fahren zu lernen. Zweitens: Im Profisport heißen die am häufigsten betroffenen Schwachstellen Sprunggelenk, Kniegelenk sowie die Muskeln von Ober- und Unterschenkel. In diesen Bereichen kommt es zu den meisten Verletzungen. Und drittens stelle ich die These auf, dass es eine Therapie, einen bio-logischen Weg gibt, der bei stumpfen Verletzungen sowie bei Bänder-, Kapsel- oder Muskelrissen ganz ohne Eis auskommt, der im Gegenteil gegen die Regel auf Kühlung komplett verzichtet, der damit die sogenannte PECH-Regel selbst in den Ruhestand schickt und auf Eis legt: P wie Pause einlegen. E wie Eis auflegen. C wie Compression anlegen. Und H wie hochlagern des betroffenen Körperteils. Das ist alles von gestern. Aber was tun? In dieser Haltung, in der Sie nicht viel tun müssen (Sie liegen bereits so oder so ähnlich auf dem Sofa), nehmen Sie sich dieses Buch zur Hand und beschreiten mit mir im Geiste den bio-logischen Weg. Verlassen Sie die ausgetretenen Pfade, nehmen Sie es sportlich, machen Sie sich frei von Vorurteilen, die sich ähnlich ausdauernd wie die fünftausend Jahre alte Mumie des Ötzi im Gletschereis gehalten haben. Auch ich habe es als junger Mensch so gelernt und so gemacht. Bis ich auf die Idee kam, es anders zu machen. Nicht on the rocks, sondern bio-logisch. Eis nur noch im Glas, nicht mehr auf dem Knie oder auf einer anderen traumatisierten Körperstelle. Wenn Sie für diesen Weg offen sind, dann werden Sie auf den kommenden Seiten Neues und Nützliches über Gesundheit, Gesunderhaltung und Gesundung erfahren, dass Sie als Therapeut, Arzt oder als Sportler, schlicht als einen lernbereiten und -fähigen Menschen schmerzfrei weiterbringt. Denn mit der von mir entwickelten FIT-Regel bleiben Sie trotz Verletzung in Bewegung. Ein Hinweis noch vorab: Ich schreibe in der ersten Person Singular. Wenn ich aus meiner Praxis berichte, schreibe ich aus meiner ganz persönlichen langjährigen Erfahrung als diplomierter Physiotherapeut, studierter Biologe und überzeugter Gesundheitswissenschaftler. Als Autor dieses Buches schreibe ich aber auch stellvertretend und beziehe damit meine Frau, meine Söhne und mein ganzes INOMT-Team in mein Schreiben ein. Ich, das sind alle, die mich auf meinem Weg begleitet haben und bis heute Tag für Tag mit mir dafür arbeiten, dass möglichst vielen Menschen körperlich, aber auch mental zugutekommt, was wir gemeinsam tun. Stichwort gemeinsam: Das Buch, das Sie in Händen halten, hat im wahrsten Sinne des Wortes einen Vater: nämlich mich. Aber ohne die Mitarbeit meines Sohnes Jens wäre das Buch ganz sicher nicht entstanden. Dafür möchte ich mich besonders bedanken.

XII      Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken

FIT ist das neue PECH Wenn es um die körperliche Leistungsfähigkeit, die Kondition oder allgemeine Verfassung geht, ist der Begriff Fitness nicht weit. Fit for Fun. Fit geht vor. Fitness first. Fitness als vorbeugende Maßnahme gegen alle möglichen Erkrankungen, physisch wie psychisch. Ja, sogar, wenn es um die berufliche Qualifikation, beispielsweise die Besetzung einer Arbeitsstelle geht, ist das Wort „Fit“ nicht weit. Man ist entweder fit für die neue Position oder eben nicht. Aber all das ist hier nicht gemeint. Eindeutig nicht. In diesem Buch geht es mir nicht um den Begriff Fitness im herkömmlichen Sinne. Das mag zunächst verwirrend sein, hat aber einen Sinn. Denn fit zu sein, ist in jedem Fall wünschenswert. Das Wort hat in unserem Sprachgebrauch eine grundsätzlich positive Bedeutung. Fit ist gut. Darum nutze ich dieses von der Allgemeinheit gelernte, positiv besetzte Wort als Aufmerksamkeits-Fänger für meinen bio-logischen Therapie-Ansatz. Einfach gesagt: Fit fits. Laut Duden wurde das Wort „Fit“ in den 1930er Jahren aus dem englischen Sprachraum entlehnt und stand 1983 erstmals im Rechtschreibduden. Kein Wunder: Es war die Hochzeit der Trimm-Dich-Bewegung. Wer es noch kennt: Trimmy hieß das Maskottchen, das uns in Bewegung und zum Schwitzen bringen sollte. Sprachlich ist „Fit“ schlicht eine Verkürzung des englischen „Fitness“. Die tatsächliche Herkunft des Wortes ist ungeklärt. Schwamm drüber. Relevant ist für uns nicht die Herkunft des Begriffes, sondern dessen Gegenwart und Zukunft. Mit meinem Fit haben wir ein Kurzwort, bei dem es sich um einen von mir künstlich gebildeten Terminus aus Bestandteilen anderer Wörter handelt. Eine Wortschöpfung. Ich präge damit aber nicht nur einen neuen Begriff, ein neues Denken, sondern beziehe eine klare Position: Mit der FIT-Regel stelle ich mich der PECH-Regel entgegen. „Niemand braucht Wissensarbeiter, die an die Stelle alter Dogmen neue setzen. […] Es dient dem Fortschritt, der […] Beweglichkeit des Denkens. Harmonie verblödet. Meinungsvielfalt schafft Lösungsoptionen.“2 Ich bin nicht so vermessen, mich als Wissensarbeiter zu bezeichnen. Aber hinter dieser Textpassage, die ich einem TAZ-Artikel von Wolf Lotter entnommen habe, stehe ich zu hundert Prozent. Ich bin auch kein Dogmatiker. Ich möchte Ihnen selbst überlassen, ob Sie die FIT-Regel lediglich als Alternative betrachten oder gar als Ultima Ratio. Für mich ist sie letzteres, weil ich die Biologie nicht in Frage stelle. FIT und PECH sind 2

„Maja Göpel und der böse Geist“, Quelle: taz.de, URL: https://taz.de/Neid-Wut-Kraenkung/!5874204/.

Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken      XIII

für mich zwei einander komplett ausschließende Optionen. Ich habe mich vor etwa 40 Jahren entschieden. Das passierte natürlich nicht von heute auf morgen. Mein Entwicklungsprozess begann sicher bereits weit vorher. Er hatte seine Wurzeln in persönlicher Erfahrung. Als Jugendlicher spielte ich Badminton, ziemlich wild und dabei passierte es: Ich erlitt eine JonesFraktur. Die medizinisch geschulten Leser und Leserinnen unter Ihnen wissen, dass es sich dabei um eine Fraktur des fünften Mittelfußknochens handelt. Diese Art der Fraktur wurde nach dem walisischen Chirurgen Sir Robert Jones benannt, der sich 1902 einen solchen Bruch während einer Tanzveranstaltung zugezogen hatte. Obwohl ich schon damals (natürlich nicht 1902, sondern Ende der 1970er Jahre) ein begeisterter Tänzer war, wusste ich nicht, wer Jones und schon gar nicht, was eine Jones-Fraktur war. Mein Fuß wurde geröntgt und ich bekam einen Gips. Sechs Wochen seien das Minimum, hieß es. Und Ruhe. Keine Belastung. Dass ich nach nicht einmal einer Woche wusste, dass etwas an dem Gips falsch ist, war Intuition. Der Tennisprofi David Prinosil, der Ende der 1990er Jahre auf dem Höhepunkt seiner Spielerkarriere war und es in jener Zeit immerhin bis zur Nummer 28 der Weltrangliste brachte, hatte später, lange nach mir, die gleiche Fraktur. Auch sechs Wochen Gips. Ruhe. Bein hochlegen. Warum ich diesen Return in die Tennis-Vergangenheit mache? Dazu gleich mehr. Ich trug den Gips erst seit ein paar Tagen, saß zu Hause und spürte nicht viel. Echte Schmerzen hatte ich keine. Ich nahm eher ein Jucken wahr und den dringlichen Wunsch, mich zu bewegen. Eigentlich hatte man mir Ruhe verordnet. Für meine Begriffe reichte es mit der Ruhe bereits. Mir wurde langweilig. Ich beschloss, in die Badmintonhalle zu gehen und meine Freunde zu besuchen. „Hey“, habe ich gesagt, „spielt mir doch ein paar Bälle zu.“ Ob das so eine gute Idee wäre mit meinem Fuß, wollten sie wissen. „Los, spielt mir ein paar Bälle zu, meine Arme haben ja nichts.“ Am nächsten Tag ging ich wieder in die Halle und auch am übernächsten juckte es mich, mich zu bewegen. Und schon die ganze Zeit hatte ich darüber nachgedacht: „Dieser blöde Gips…“ Ich weiß noch, wie schwierig es für mich als junger Mensch war, in die Klinik zu fahren und dem Superdoktor zu sagen: „Der Gips muss weg!“ Aber ich habe mir ein Herz gefasst, mich in den Bus gesetzt und bin von Nieuwenhagen nach Brunssum gefahren. Das ist in meiner niederländischen Heimat. Ich weiß noch genau, was für einen Bammel ich davor hatte, dem Arzt zu sagen, was er tun solle. Als ich durch die Glastür der Klinik schritt, stellte ich mir vor, was auf mich zukäme und wie ich beschimpft würde. „Unverantwortlich! Auf deine eigene Verantwortung, unverantwortlich! Domkop!“ Dann hat er, der Gott in Weiß, den Gips aber doch abgenommen. Ich war erleichtert; im wahrsten

XIV      Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken

Sinne des Wortes. Doch etwas war komisch. Wie ich gekommen war, ging ich auch wieder hinaus. Ich ging wie mit Gips am Fuß, hatte aber keinen mehr. Ich humpelte zum Bus als sei mein Fuß immer noch eingegipst. Auf halbem Weg blieb ich stehen und sagte mir: „Ich spüre nichts, fast nichts, fünf Prozent vielleicht, aber das ist nichts. Warum gehe ich immer noch wie jemand, der starke Schmerzen hat?“ Dann zwang ich mich, normal zu gehen, was nicht sofort ging. Aber ich machte es, so gut wie möglich. Dann, abends, bin ich wieder in die Badmintonhalle gegangen und habe gespielt. Jawohl, ich schwöre, ich habe auf dem Platz gestanden und den Ball geschlagen. Ich bin gelaufen, fast wie ein junger Gott. Jedenfalls kam es mir so vor – bedenkt man meine Verletzung. Es war für mich zuerst eine Überwindung, mich zu bewegen, aber ich habe den Fuß danach nicht mehr gespürt. Er hat niemals mehr geschmerzt. Der blöde Gips war ab und mit ihm ein Vorurteil abgebaut, das eine Regel stützte, die besagte, dass man mit einem umgeknickten Fuß pausieren müsse. Ich möchte noch zwei weitere Beispiele anführen, die das P und das H der PECH-Regel widerlegen. Meine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse werde ich dabei weiter zur Veranschaulichung nutzen, bevor ich mich der Biologie zuwende, die meine These untermauert. Und ich verspreche Ihnen: Wir werden auch das E und das C kippen. Ich erinnere mich an eine durchaus anspruchsvolle Bergtour mit meinem Schwager Matthias Anfang der 1990er Jahre. Eine schmerzvolle Episode, an deren Ende aber eine erhellende Erkenntnis stand. Es war in der Zeit, in der ich bereits mein Diplom in Physiotherapie in der Tasche hatte, das ich an der Hoogeschool Zuyd, Niederlande, erworben hatte. – Im Zentrum meiner Berg-Erinnerung: Ein Pfad, Wurzeln, Steine. Etwa sechs Stunden Fußweg lagen vor uns. Unser Ziel war der Herzogstand über dem Walchensee. Der Aufstieg führte über den Heimgarten, dann über den Kamm zum Herzogstand. Der Aufstieg war ganz schön in die Beine gegangen. Vor allem in meine. Mein Schwager hat in etwa die Statur einer Eiche, während ich mehr wie eine Birke daherkomme. Oben auf dem Herzogstand sagte er plötzlich: „Henk, lass uns rennen, wir laufen runter!“ Bevor ich noch widersprechen konnte, war er schon weg. Dann folgte der besagte Pfad, folgten Wurzeln, Steine und eine Sekunde der Unachtsamkeit. Ich knickte um. Der Schmerz war kurz und heftig. Es war wie in einem billigen Bergfilm. Der einsame Wanderer. Schon langsam senkt sich die Dunkelheit über Berg und Tal. Der Knöchel tut höllisch weh. Ein Gewitter zieht auf. Drama. Hier oben kann man nicht bleiben. Naja, so oder so ähnlich fühlte ich mich, als ich auf einem Baumstumpf sitzend darüber nachdachte, was ich als nächstes tun

Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken     XV

sollte. Dann bin ich aufgestanden und einfach losgegangen. Ich habe eigentlich das gemacht, worauf ich später meine Therapie entwickelt habe. Ich bin aufgestanden und gegangen. Zuerst hatte ich Schmerzen. Schließlich bin ich gejoggt und dann sogar gelaufen, als wäre nichts. Unten angekommen erzählte ich meinem Schwager: „Du, ich bin umgeknickt.“ Der betrachte fragend meine Füße: „Wirklich?“ Dieses Erlebnis war so schmerzvoll wie erhellend für mich. Es machte Klick in meinem Kopf und ich sagte mir: „So machst du das ab jetzt bei deinen Patienten auch.“ Das war gewissermaßen der Punkt, an dem ich auf meinem Erkenntnisweg, auf den ich als jugendlicher Badmintonspieler abgebogen war, ab jetzt Schritt für Schritt bestärkt wurde. Zudem lag in diesem persönlichen Erlebnis für mich eine Bestätigung. Stichwort: Nozizeption. Muss ich erklären. Wir machen als Physiotherapeuten einen Unterschied zwischen Schmerz und Nozizeption. Wenn ich wir sage, meine ich unser INOMT-Team, denn diese Unterscheidung ist nicht ganz gängig. Was ist Schmerz? Schmerz ist ein sehr unangenehmes bis heftiges Gefühlsund Sinneserlebnis. Nozizeption ist aber noch kein Schmerz, sondern eine Warnung vor einem möglichen Schmerz. Die Sinnesempfindung Schmerz entsteht erst durch die Verarbeitung im Kortex (Großhirnrinde), in der unsere Sinneswahrnehmungen „dekodiert“ werden und in unser Bewusstsein rücken; zum Beispiel das Sehen, aber genauso der Schmerz. Nozizeption dagegen ist die Wahrnehmung von Reizen, die den Körper potenziell oder tatsächlich schädigen können. Diese Reize werden von sogenannten Nozizeptoren lokal registriert und über Nervenfasern (Neuronen) ins Gehirn geleitet. Fazit: Auf Nozizeption kann Schmerz folgen, passiert aber selten. Denn Nozizeption ist ein Frühwarnsystem, dass uns vor einem möglichen Schmerz bewahrt. Wir erhalten eine Information der Nozizeptoren, die uns sagt: Achtung, jetzt handeln, Schädigung und Schmerz vermeiden! Meldet unser Gehirn trotz Alarmierung durch die Nozizeptoren Schmerz, dann halte ich den Schmerz entweder aus oder ich halte ihn nicht aus. Das ist ganz einfach, wenn man so will. Wird die Nozizeption zu stark, reagiert das vegetative Nervensystem. Man wird blass, die Herzfrequenz steigt, man fängt an zu schwitzen und zu zittern. Am Ende kippt man um, wird ohnmächtig, weil der Körper sagt: Nein, jetzt geht es nicht mehr. Bewusstsein abschalten – jetzt! Soweit darf man nicht gehen! Das muss ich natürlich bei meinen Patienten immer im Auge behalten! Ein wichtiger Punkt, den ich daher mit Blick auf Alltägliches ausführen will. Nocere kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie schädigen, Unheil anrichten, schädlich sein. Nozizeption geht dem Schmerz voraus. Nozizeption ist damit die

XVI      Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken

Meldung drohender Schädigung. Ich erkläre das den Teilnehmern unserer Fortbildungskurse immer so: „Ihr sitzt auf Euren Stühlen; ihr sitzt aber auch da hinten auf Eurem Tuber Ischiadicum. Das ist der Knochenvorsprung da hinten, das Sitzbein zwischen mehr oder weniger Muskelmasse. Beim Sitzen drückt sich das zusammen. Und Ihr sitzt und sitzt und sitzt. Und wenn Ihr mich anderthalb Stunden anhören musstet und dabei immer in gleicher Sitzhaltung verharrt habt und der Stuhl ist hart, dann entsteht eine Ischämie; eine verminderte oder fehlende Durchblutung des Gewebes. Also, was wird das Frühwarnsystem machen?“ Es sagt: Hallo! Wenn du so sitzen bleibst, wirst du dich schädigen! Und was wird passieren? Ihr setzt euch ein bisschen anders hin. Das geht automatisch. Und es geht in jeder Körperhaltung. Es geht nicht nur im Sitzen, auch im Liegen, auch nachts. Ihr schlaft ein und liegt auf einer Seite. Dann, irgendwann, sagt das Frühwarnsystem: Hallo! Lange genug auf einer Seite gelegen! Das Kommando kommt bei Euch an und Ihr dreht Euch automatisch um. Dafür braucht Ihr nicht einmal wach zu werden. Schlafwissenschaftler sagen, man dreht sich im Schlaf etwa 20- bis 30-mal pro Nacht um. Das geht dank Nozizeption ganz automatisch. – Wir wissen also jetzt: Nozizeption ist die Meldung von drohenden Schädigungen. Aber sitzt Ihr gut? Denn jetzt kommt das Beste: Nozizeption ist auch die Meldung von Schädigungen, die objektiv betrachtet überhaupt kein Schädigungspotenzial besitzen. Beispiel: Da läuft eine Spinne über diese weiße Wand und manche von uns zeigen eine vegetative Reaktion. Ihr fühlt Euch bedroht, weil Ihr denkt, die Spinne könnte Euch Schaden zuführen. Sie kann objektiv gesehen aber keinen Schaden anrichten. Giftspinnen kommen bei uns nicht vor. Es gibt sogar Menschen, die zucken zusammen, wenn sie das Wort Spinne nur hören oder lesen. Als wir INOMT, unser Institut für Osteopathie und manuelle Therapie gründeten, gestalteten wir ein Logo, das eine Spinne zeigte. Der Begriff Arousal bezeichnet in der Psychologie die Aufgeregtheit des Nervensystems. Unser harmloses Spinnen-Logo ist ein Parade-Beispiel dafür, dass das Nozizeptionssystem ohne objektiven Grund in Aufregung geraten kann. Tatsächlich bekamen wir Anrufe, ob wir das Logo nicht ändern könnten. Objektiv gab es dafür keinen Anlass, nichts, kein Schädigungspotenzial. Aber Menschen reagieren in vielen Fällen nicht rational. Eine Theorie besagt, die Angst vor Spinnen sei „ein Überbleibsel unserer evolutionären Vergangenheit, weil Spinnen in grauer Vorzeit möglicherweise

Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken     XVII

gefährlich und die Furcht vor ihnen überlebenswichtig war. Diese Theorie klingt zwar plausibel, aber es ist leider nicht möglich, sie zu beweisen.“3 Wie dem auch war. Ich glaube eher, dass dieses Verhalten ein Relikt aus Kindertagen ist. Die beurteilende Region unseres Gehirns entscheidet ganz automatisch aufgrund von abgespeicherten Erfahrungen, ob eine ankommende Information als potenziell schädigend betrachtet werden muss oder nicht. Kinder schauen (fast) alles von ihren Eltern ab. Meine Mutter schrie bei jeder kleinen Spinne nach meinem Vater. Und wenn die Erwachsenen sich vor Spinnen grausen, fürchten sich auch die Kleinen. Darum interpretieren erwachsene Menschen auch heute oftmals noch den Anblick einer Spinne als bedrohlich. Und wenn sie sich nicht bedroht fühlen, dann finden sie die flinken, krabbelnden, achtbeinigen Tierchen doch irgendwie eklig. Sie interpretieren den Anblick der Spinne, der eine Information darstellt, in ihrem Sinne, also vollkommen subjektiv. Wenn ich einem Patienten sage: „Ja, die Bänder sind gerissen, das ist zwar das Haltesystem, aber das ist überhaupt kein Problem. Das heilt das Wundheilsystem selbst. Auch ohne Operation. Dann ist der Mensch erstaunt, aber auch beruhigt. Wichtig dabei ist, sich zu bewegen!“ Fazit: Das heilt von selbst, ist eine positive Aussage. Das müssen wir sofort operieren, ist in den Ohren des Patienten eine negative Information. Dann steigt der Adrenalinspiegel. Was ich damit sagen will: Obwohl eigentlich allgemein bekannt, ist es mir hier wichtig, zu betonen, dass ich mit gezielten Information Menschen in ihren Gefühlen und in ihrem Denken beeinflussen kann. Das kann ich mit Worten tun, aber auch mit Bildern, Tönen oder Gerüchen. Auch kann ich dabei Positives oder Negatives im Schilde führen. Und dass auch eine positive Information beim Empfänger nicht immer sofort eine positive Wirkung auf dessen Gefühlswelt haben muss, zeigt das folgende Beispiel: Als unser Sohn Jens etwa dreizehn war, verbrachten wir ein paar Tage in einem Ferienpark. Jens spielte in einer Halle mit seinen Freunden Fußball. Ich saß erhöht in einem Schiedsrichterstuhl, wie man ihn vom Tennis kennt und habe zugeguckt. Plötzlich machte es knack und Jens lag am Boden. Ich habe es wirklich gehört. Es hat so was von gekracht. Sekunden später hockte ich neben ihm: „Komm, okay, wir gehen joggen.“ Und er: „Nein!“ Er wolle sich hinlegen. Ich: „Das kannst du später noch.“ Was in manchen Ohren vielleicht herzlos klingt, war trotzdem väterliche Fürsorge. Ich wusste ja inzwischen, wie wichtig es war, bei derartigen Verletzungen in Bewegung zu bleiben. Und ich wusste auch,

3

„Woher kommt die Angst vor Spinnen?“, Quelle: thieme.de, URL: https://www.thieme.de/de/ psychiatrie-psychotherapie-psychosomatik/woher-kommt-die-angst-vor-spinnen-49410.htm.

XVIII      Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken

genau warum. „Hey, komm“, sagte ich, „lass es uns versuchen. Geh mal ein paar Schritte.“ Er raffte sich auf, ging, humpelte, wurde zuerst rot, dann blass und immer fahler im Gesicht. Sein vegetatives Nervensystem reagierte. Und zwar ungewöhnlich stark. Sofort reagierte auch ich: „Wir verschieben das mal…“ Ich erkannte, dass es für ihn noch zu früh war. Eine derart starke vegetative Reaktion ist zwar selten, aber wenn es dazu kommt, muss man ihr mit Ruhe begegnen. Kurze Zeit später lag er auf dem Sofa und schlief drei, vier Stunden am Stück. Als er aufwachte, sagte er: „Geht es mir gut?“ Ich lachte erleichtert: „Es geht dir gut.“ Abends besuchten wir Opa und Oma, die in der Nähe des Ferienparks wohnten. Auf dem Weg von unserem Ferienhaus zum Parkplatz, versuchten wir es: „Lass uns joggen“, sagte ich. Und wie er so neben mir her joggt, frage ich ihn: „Tut das echt so weh wie es aussieht?“ Er antwortet: „Nö.“ Ich sage: „Dann jogg doch normal.“ Das habe ich einfach immer wieder gesagt: „Jogg normal. Ganz normal. Oder wenn du nicht mehr kannst, mach Pause und jogg dann normal weiter.“ – „Jogg doch! Ganz normal! Versuch es!“ So sage ich das heute auch zu meinen Patienten. Für mich ist Joggen eine Definition des Tempos. Ich unterscheide zwischen Gehen, Joggen, Laufen, Rennen. Joggen ist ein gemütlicher Trab; die erste Steigerungsstufe nach dem Gehen. In der Regel arbeite ich mit Patienten folgendermaßen: Der Betroffene, der umgeknickt ist, steht vor mir. Er hat Schmerzen. Wir haben uns am Rande eines Fußballplatzes in der Nähe meiner Praxis getroffen. Ein akuter Fall. Ich fordere ihn auf, langsam auf mich zu zukommen. Unser Abstand beträgt etwa zweieinhalb Meter. Ich sage: „Gehen Sie normal auf mich zu. Ganz normal gehen. Ich möchte nicht sehen, dass Sie sich verletzt haben. Also normal gehen, bitte, so langsam, wie Sie wollen, schleichen von mir aus. Aber ich will es nicht sehen.“ Ich weiß natürlich, dass er nicht so gehen kann, wie ich das gerne sehen will. Dann sage ich: „Stopp, ich sehe es, es geht noch nicht. Aber das muss und wird noch besser werden, es ist schon viel besser als anfangs und wird bestimmt noch besser werden. Stellen Sie sich vor, dass es besser wird und Sie nicht mehr humpeln.“ Der Patient soll das Ziel, das er erreichen soll, visualisieren. Das ist der erste Schritt. Und er soll sich vorstellen, dass sich das gut anfühlt. Er soll das Ziel mit einer positiven Emotion verbinden. Das ist der zweite Schritt. Über das Visualisieren vermag er sich im Geist das Bild seiner selbst in der Zukunft vorstellen, möglichst so genau, dass sie ihm in diesem Augenblick schon real erscheint. Albert Einstein, der wahrscheinlich meist zitierteste Mensch der Geschichte, sagte einmal bei einem Interview in den USA: „Imagination is more important than knowledge. For knowledge is limited, whereas

Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken     XIX

imagination embraces the entire world, stimulating progress, giving birth to evolution.“4 Es ist schon frappierend, dass wir mittels unserer Vorstellungskraft Ziele erst visualisieren und dann erreichen können, deren Realisierung in der Zukunft liegen. Wir füttern unser Hirn mit Informationen, sodass ein Bild im Kopf entsteht, und wir das Ziel schon deutlich vor uns sehen können. Wichtig dabei ist, dass Zielbild mit Gefühlen zu verbinden. So mache ich das ein paarmal mit dem Patienten und lasse ihn immer wieder auf mich zukommen. Ich weiß, der Patient kann das Humpeln nicht hundert Prozent abstellen, aber ich fordere ihn dennoch auf, ein Stück mit mir zu gehen. Ich gehe neben ihm und werde dabei etwas schneller, sodass der Patient, der mithalten will, auch schneller geht. Zwischendurch bestärke ich ihn immer wieder: „Okay. Es geht schon ganz gut. Sieht schon gut aus. Geht doch auf jeden Fall schon viel besser.“ Information ist sehr wichtig für den Patienten und ein wesentlicher Teil meines Therapie-Prinzips. Ich werde in einem der folgenden Kapitel daher noch genauer darauf eingehen. Halten wir fest: Der Patient braucht jetzt diese Information. Nicht umsonst sagt der Volksmund: Er ist auf dem Weg der Besserung. Und dabei muss ich ihn bestärken und unterstützen. Und gerade dann, wenn er die Verbesserung selbst nicht bemerkt, werde ich ihm sagen, dass es viel besser ist. „Sie werden das hinkriegen.“ Dann steigere ich die Anforderung: „So, jetzt machen wir das gleiche. Aber jetzt joggen wir, okay? Ich laufe neben Ihnen, wir joggen zusammen. Aber wir joggen so langsam wie alte Herrn. Okay, joggen wir mal.“ Während wir lostrotten, rede ich ihm weiter gut zu. „Na geht doch. Geht doch schon viel besser. Und jetzt bisschen aufpassen, dass es schöner aussieht.“ So joggen wir, bis zum Ende des Fußballplatzes. Die ganze Länge. Dann sage ich: „Okay, jetzt sind wir ein bisschen gejoggt, jetzt gehen wir wieder. Gehen wir die kurze Seite des Fußballplatzes ab.“ Anschließend joggen wir noch einmal und werden dabei schneller. Und je schneller wir werden, desto besser läuft auch der Patient. Schließlich kann er gar nicht mehr humpeln. Und am Ende rennt er mit allem, was er hat. Der geschilderte Prozess läuft bei jedem gleich ab. Nur dauert es bei dem einen länger und geht bei dem anderen schneller.

4

Albert Einstein, „What Life Means to Einstein“, Interview with G. Viereck, Saturday Evening Post (26 Oct 1929), Quelle: http://www.saturdayeveningpost.com/wp-content/uploads/satevepost/what_ life_means_to_einstein.pdf, URL: https://wist.info/einstein-albert/196/.

XX      Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken

Als ich dieses Kapitel schrieb, fragte ich mich, ob ich die Überschrift nicht ändern sollte: Umleitung statt Einleitung. Umleitung zum Umdenken. Aus Sicht eines Autofahrers führt eine Umleitung über einen Ersatzweg, um so bald wie möglich wieder auf den ursprünglichen Verkehrsweg zurückzuführen. Absicht dieser Verkehrslenkung ist es, den Verkehr in der ursprünglich gewählten Richtung in Bewegung zu halten. Auch ich halte meine Patienten und Patientinnen in Bewegung, wenn ich es aus therapeutischer Sicht für angemessen und zumutbar halte. Ich sage nicht: „Fahrt mal alle rechts ran, weil ihr eine Verletzung habt. Parkt mal da eine Weile. Macht Pause und legt die Beine hoch.“ Würden dann alle dort stehen, wäre Stillstand und das würde ein Weiterkommen logischerweise ausschließen. Ich will aber, dass die Patienten weiterkommen. Und darum zeige ich ihnen einen anderen Weg auf. Ich will, dass sie ihren Zustand, den sie vor der Verletzung innehatten, wiedererlangen. Sie sollen ihre ursprüngliche Bewegungsfähigkeit zurückgewinnen. Das geht nicht durch anhaltendes Pausieren. Man muss den richtigen Weg wählen. Das klingt wie eine Binsenweisheit. Aber es gibt Wahrheiten, die sind so einfach, dass sie sich verdächtig machen, banal zu sein. David Prinosil, von dem ich Ihnen noch kurz erzählen will, sollte übrigens mit der gleichen Verletzung wie ich sie in meiner aktiven Badmintonzeit erlitten hatte (Jones-Fraktur) wochenlang pausieren, weil sein rechtes Bein von der Fußspitze bis unters Knie eingegipst wurde. „Zwei Monate Pause für Pechvogel“5, schrieb die Neue Westfälische. Eingipsen und Stillhalten. Prinosil der PECH-Vogel möchte ich hinzufügen. Er war dabei, der PECH-Regel zu folgen. Das war der Weg, den man seinerzeit medizinisch beschritt. Man wusste es nicht besser oder wagte nicht, den ausgetretenen Pfad zu verlassen. David Prinosil hatte Glück im PECH. Kurz gesagt: Sein Vater, der auch sein Manager und Trainer war, fragte mich, ob ich mir Davids Verletzung ansehen könnte und die Therapie übernehmen würde. Ich würde das sehr gerne tun, sagte ich, aber nur nach meinen Bedingungen. „Wir werden nach meiner FIT-Regel arbeiten.“ David und sein Vater stimmten zu. Als erstes kam der Gips ab. Dann legten wir sofort mit der Therapie los. Schon vier Wochen später spielte David Prinosil schon wieder Matches in der Bundesliga. Nicht sechs Wochen Pause und schon gar nicht zwei Monate. Wer die PECH-Regel anwendet hat Pech und wer die FIT-Regel anwendet wird schneller wieder fit. Advantage Prinosil.

5 Jörg Fritz, „Zwei Monate Pause für Pechvogel“, Quelle: Neue Westfälische, 10. 07. 1997, URL: https://shop.nw.de/archiv/suche/dokument?mediaId=1198382.

Zähne zusammenbeissen – Einleitung zum Umdenken     XXI

Sprichwörtlich geht ein jeder in den Fußstapfen des Vorgängers seinen Weg, bis einer nach neuen Lösungen sucht, sich vielleicht sogar rückbesinnt und damit progressiver und fortschrittlicher handelt als das Gros der Experten. In diesem Sinne ist mein Konzept, die FIT-Regel, streng genommen keine Neuigkeit. Ich erfinde die Biologie nicht neu. Es ist alles schon da. Man muss das Ganze nur anders betrachten, und man wird mit Wissenszuwachs beschenkt.

Inhaltsverzeichnis

1

Therapieren nach der Logik der Biologie 1

2

Die Natur weiß es einfach besser 5

3

Die Zelle – Grundbaustein des Lebens 11

4

Jetzt kommt es dicke: Wundschwellung erwünscht! 23

5

F.I.T. – Nach allen Regeln der Biologie 31

6

Warum wir Eis kaltstellen müssen 39

7

Die Verletzung: Stress für den Organismus 47

8

Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung 59

9

Multitalking: Das integrale Informationssystem Mensch 105

10 Jetzt zieht sich zusammen, was zusammengehört: Wundkontraktion 115 11 Der ewige Störenfried: Die ewige Narbe 125 12 Die FIT-Regel – Schlüsselwort und Schlusswort 135 13 Physiotherapeuten – Partner für Patienten und Ärzte 139

XXIII

1 Therapieren nach der Logik der Biologie

Es heißt: „Die […] Logik untersucht die Bedingungen der Gültigkeit anhand formaler Eigenschaften von Argumenten.“1 Etwas populärer ausgedrückt: „In der Logik wird die Struktur von Argumenten im Hinblick auf ihre Gültigkeit untersucht.“2 Genau das habe ich mir für die nächsten Kapitel vorgenommen. Mein Ziel besteht letztendlich darin, mit einem Mythos aufzuräumen. Logos versus Mythos. FIT-Regel versus PECH-Regel. Die oben angeführte Definition dessen, was Logik ist, ist natürlich als eine starke Vereinfachung für ein sehr vielschichtiges Thema zu sehen, wie es die Logik nun mal ist. Um etwas Komplexes zu verstehen, tut man aber gut daran, Inhalte zu vereinfachen, sie in Einzelteile zu zerlegen, Modelle zu bilden und entsprechend zu betrachten. Fast noch wichtiger als das Fragmentieren – mindestens aber genauso relevant – ist das anschließende erneute Zusammenfügen der Teile. Die Devise lautet daher: Keine Analyse ohne Synthese. Und weil die Analyse ohne Synthese nur die Hälfte wert ist, gehe ich hier zum Verständnis etwas genauer darauf ein. Dazu ein kurzer Ausflug in die Chemie. Prof. Dr. Klaus Ruthenberg von der Hochschule Coburg benutzt in seinem Buch „Chemiephilosophie“3 den chemie-

1  „Logik

und Argumentation“, Quelle: Leibniz Institut Hannover, URL: https://www.philos.unihannover.de/fileadmin/philos/Dateien/Personen_-_Dokumente/Wilholt/Logik.pdf. 2 „Logik“, Quelle: Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Logik. 3  Klaus Ruthenberg, Quelle: „Chemiephilosophie“, Kap. 5 „Keine Analyse ohne Synthese“, Berlin, Boston: De Gruyter, 2022, S. 97–128, URL: https://doi.org/10.1515/9783110740493-005. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_1

1

2     H. J. M. Brils und J. Brils

historischen Terminus „analytisch-synthetisches Ideal“; er schreibt: „‚Solve et Coagula‘ heißt ein zentraler methodischer Grundsatz […], was stark vereinfacht und modernisiert etwa ‚analysiere und synthetisiere‘ bedeutet.“ Vom Grundgedanken her ähnliche Modelle kennen wir auch aus anderen Wissenschaften. Zum Beispiel das „Analyse-Synthese-Konzept“ aus der Betriebswirtschaft. „Bei Anwendung des Analyse-Synthese-Konzepts wird eine komplexe Aufgabe in mehrere Teilaufgaben zerlegt. Im Rahmen der Analyse wird der Kern des Problems identifiziert und lokalisiert. Für die Lösung dieses Problems müssen Handlungen und Aktionen definiert werden. […] Das Analyse-Synthese-Konzept nach Erich Kosiol spielt in der Unternehmensführung eine wichtige Rolle. Es geht darum, innerhalb einer Betriebsorganisation Probleme rechtzeitig zu erkennen und auch als solche wahrzunehmen. Erst wenn das Problem eindeutig identifiziert wurde, können Maßnahmen zu Beseitigung dieses Problems entwickelt und angewendet werden.“4 Ich habe in meinem Vorwort bereits mehrfach das Adjektiv bio-logisch verwendet. Sicher ist es Ihnen aufgefallen, dass ich zwischen bio und logisch einen Bindestrich setzte. Das Wort „bios“ bedeutet Leben und „logos“ Vernunft. Beides kommt aus dem Griechischen. Beides zusammen bedeutet die natürlichen Lebensvorgänge zu betrachten; in unserem Falle die biologischen Vorgänge im menschlichen Körper. Wenn ich bio-logisch schreibe, weiche ich nicht von dieser Tatsache ab, dividiere den Begriff aber in zwei Teile, lege damit den Fokus auf „logisch“ und gebe dem Begriff eine erweiterte Bedeutung. Es geht mir bei „logos“ nämlich nicht nur um die Biologie als Wissenschaft, sondern vielmehr um eine logische Denkweise, eben um logische Schlussfolgerungen, angewendet auf meinen TherapieAnsatz – die FIT-Regel. Ich gebe damit zu verstehen, dass die FIT-Regel eine Regel ist, die der Logik der Biologie unterliegt. Sie arbeitet nicht gegen die Biologie (PECH-Regel), sondern mit und für die Biologie; und damit für den Menschen. Ich bin Gesundheitswissenschaftler und Physiotherapeut. Physio bedeutet bekanntermaßen Natur und Therapie heißt Begleitung. Unter Physiotherapeuten wie wir sie in unserem Institut INOMT fortbilden, verstehen wir wortwörtlich Natur-Begleiter; Experten für die Behandlung und Unterstützung von Wundheilprozessen auf Basis einer bio-logischen

4 „Analyse-Synthese-Konzept“, Quelle: BWL-Lexikon.de, URL: https://www.bwl-lexikon.de/wiki/analyse-synthese-konzept/.

1  Therapieren nach der Logik der Biologie     3

­ enkweise. Daher ist es für uns selbstverständlich, auch so zu handeln und D zu behandeln. Ich stelle die alte PECH-Regel daher nicht nur infrage, ich halte sie schlicht für falsch – nicht bio-logisch. Es wird Zeit, verletzungsbedingte Behandlungen in der Physiotherapie neu zu denken. Es bedarf eines konsequenten Umdenkens, um die Selbstheilungsprozesse des Körpers nicht weiterhin zu blockieren. Das alte Credo der Erstversorgung – pausieren, kühlen, Schwellung verhindern, Beine hochlegen – ist mit einem holistischen Blick auf den Menschen nicht anwendbar: Kritisch ist vor allem das Eis. Kälte lässt Gewebeschäden entstehen, aber auch Ruhigstellung unterdrückt die Heilungsfunktionen, und das Verhindern von Schwellungen engt den Raum ein, den Zellen für ihre Reparaturarbeit benötigen. Zudem wird der Mensch durch Bewegungslosigkeit belastet – und zwar psychisch. Stellen Sie sich einen Tennisprofi vor, der zwei Monate nicht trainieren, nicht spielen kann. Hier bekommt der geflügelte Satz „Der will doch nur spielen“ eine ganz neue Bedeutung. Nicht spielen zu können, zieht ihn förmlich runter, es ist sein Leben zu spielen, seine Daseinsberechtigung, und daher belastet ihn die Zwangspause ganz sicher mental; abgesehen davon, dass dieser Break für ihn auch bedeuten kann, kein Geld zu verdienen. Wir Otto-Normal-Menschen sind gewiss keine Profisportler, aber eine verletzungsbedingte Auszeit, behagt uns ebenso wenig. Ist es nicht so? Wir wären doch lieber fit, gesund, geheilt. Jede Verletzung kann uns auch psychisch aus der Bahn werfen; kann psychische Trauma-Folgen haben. Denn auch körperliche Verletzungen können der Seele Leid zuführen. Die FIT-Regel unterstützt den natürlichen, bio-logischen, Heilungsprozess, beginnend mit der Funktion (F) über die Information (I) bis hin zu einer früh einsetzenden Therapie (T). Diese zeitgemäße Regel präsentiere ich im vorliegenden Buch ausführlich und bio-logisch nachvollziehbar. So wie am Anfang dieses Kapitels postuliert: „In der Logik wird die Struktur von Argumenten im Hinblick auf ihre Gültigkeit untersucht.“

Mit meinem Therapie-Ansatz blättere ich sicher für viele unter Ihnen  – wahrscheinlich sogar für die meisten – neue Seiten auf. Ich möchte damit einen veränderten Blick auf das breite Behandlungsspektrum einer modernen Physiotherapie anbieten. Denn nach meinen jahrzehntelangen Erfahrungen und den daraus gewonnen Erkenntnissen bilden sich Heilvorgänge im Körper komplexer ab als angenommen. Sie bedürfen daher einer bio-logischen Betrachtungsweise. Ohne eine, den bio-logischen Gesetzen der Natur angemessenen Physiotherapie, kommt es nach Verletzungen

4     H. J. M. Brils und J. Brils

häufig zu einer verzögerten Heilung oder gar zu Komplikationen. Vor diesem Hintergrund – im Zusammenfließen von Physiotherapie, manueller Therapie und biokybernetische Osteopathie – ist die FIT-Regel entstanden. Sie wirkt natürlich unterstützend, aufbauend, und schmerzreduzierend. Sie stellt einen ganzheitlichen Ansatz dar und entspricht dem natürlichen, biologischen Heilungsprozess im Körper.

2 Die Natur weiß es einfach besser

Kein Tier würde nach einer Verletzung eine Eispackung anwenden – natürlich nicht – Tiere haben keinen Zugriff auf Eispackungen. Tiere würden aber auch nicht zum Fluss rennen, um ihre verletzte Pfote in kaltes, strömendes Wasser zu halten. Wir Menschen verhalten uns hingegen oft etwas seltsam: unnatürlich, unbiologisch und unlogisch. Der therapeutische und sporttherapeutische Umgang mit akuten Verletzungen wird seit Jahrzenten von der sogenannten PECH-Regel dominiert. Und so verhalten wir uns auch. Wer soll uns das verdenken? Reklamieren die zahlreichen Vertreter der PECH-Regel doch den Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Sie verhalten sich damit genau wie ihre PECH-Regel: Passiv-statisch im Umgang mit akuten Verletzungen. Keine Bewegung im Handeln, denn ihr Denken ist quasi in ihrem eigenen Eis erstarrt. Die FIT-Regel dagegen ist dynamisch, aktiv und natürlich im wahrsten Sinne des Wortes ein bio-logischer Ansatz, der auf dem orthodynamischen Prinzip basiert. Die FIT-Regel steht für Funktion, Information und Therapie. Das orthodynamischen Prinzip (Ortho  = richtig, Dynamik =  Kraft) ist kongruent (in Übereinstimmung) mit der FIT-Regel. Denn es geht hier wie dort um die richtige Belastung, um die richtige Kraft oder auch richtige Bewegung.

Aus den Bio-Wissenschaften über die Wundheilung geht eindeutig hervor, dass Heilung durch eine deutlich erhöhte Aktivität von Zellen begleitet © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_2

5

6     H. J. M. Brils und J. Brils

und bewirkt wird. Es ist allgemein bekannt und muss hier nicht weiter ausgeführt werden, dass eine gesteigerte Zellaktivität die Grundlage für ein schnelles und vollständiges Wiederherstellen der Funktionen, die Regeneration sowie die Reparation der Strukturen ist. Zellen brauchen für ihre gesteigerte Aktivität eine optimale Versorgung. Sie benötigen Sauerstoff, Bau- und Brennstoffe, biokybernetische Substanzen (regelnde sowie steuernde), Energie und die richtigen Informationen. Bestimmte Substanzen werden durch die Durchblutung angeliefert und gelangen über die extrazelluläre Matrix (EZM) und das Interstitium zu den Zellen. Die EZM ist jener Teil des Gewebes, der den Raum zwischen den Zellen ausfüllt und den Kontakt zwischen ihnen vermittelt. Das Interstitium ist eine flüssigkeitsgefüllte Hülle, die die Zelle gleich einem dünnen Mantel umschließt. Viele der negativen Wirkungen der PECH-Regel sind auf die Reduzierung der Versorgung (Durchblutung) zurückzuführen (Abb. 2.1). Selbst eine geringe Abkühlung des Blutes bedroht die Kerntemperatur und bremst lebenswichtige chemische und enzymatisch gesteuerte Prozesse. Pause, Kompression und Hochlagerung initiieren ebenfalls eine reduzierte Durchblutung und haben weitere negative Folgen. Es sind allesamt heilungshemmende Faktoren. „[…] Zellfunktionen [Zellmitose und -phagozytose] sistieren fast völlig bei Temperaturen unterhalb von 28 °C.“1 Das heißt, sie setzen aus. Schon deshalb ist die Eis-Anwendung (Kryotherapie) kontraproduktiv. Wird Kryotherapie angewandt ist der Organismus stets bestrebt, die Abkühlung des Blutes zu verhindern. Da eine Unterkühlung (Hypothermie) des Körpers lebensbedrohend sein kann, reagiert der Organismus auf jegliche Form der Kryotherapie (die auf eine Senkung der Kerntemperatur abzielt) mit Kontraktion der Blutgefäße (Vasokonstriktion). Weil die normale Kerntemperatur von rund 37 °C abzusinken droht, versucht der Organismus mit Wärmeproduktionsprozessen gegenzusteuern. Es kann aber trotzdem zu lebensbedrohlichen Situationen kommen, wenn der Körper über längere Zeit mehr Wärme verliert, als er erzeugen kann. Dann spricht man von einer Unterkühlung. Im Kontext der Nozizeption lassen sich die Folgen sehr gut darstellen; nämlich, wenn Nozizeption nicht mehr wirkt. In meiner ersten Anstellung in einem deutschen Krankenhaus habe ich einmal einen Obdachlosen vor mir gehabt. Seine Zehen waren schwarz, abgestorben. Der Patient hatte eine kalte Winternacht mit Temperaturen

1 Karel M. Sedlarik, Quelle: „Wundheilung“, Seite 158, Urban & Fischer Verlag, 2. Auflage, Jena, Stuttgart 2000.

2  Die Natur weiß es einfach besser     7

Abb. 2.1  Blutgefäß mit verschiedenen Immunzellen sowie Blutzellen (Erythrozyten und Thrombozyten)

weit unter null in seinem provisorischen Zelt verbracht, hatte sich mit Alkohol betäubt; und so war er eingeschlafen. Die Erfrierungen seiner Zehen waren darauf zurückzuführen, dass sein Frühwarnsystem, die Nozizeption, zwar funktionierte, aber die Warnung vor Schädigung oder Schmerz in seiner Hirnrinde keine Wirkung mehr erzielen konnte. Die Kälte-Information, die von seinen Nozisensoren am Fuß ausgehend über die Neuronen ins Gehirn geleitet worden waren, konnte im Neokortex

8     H. J. M. Brils und J. Brils

nicht mehr verarbeitet werden und damit nicht in sein Bewusstsein rücken. Das Absinken der Kerntemperatur hatte ihm das System zwar zuverlässig gemeldet, aber da er nicht aufwachte, nicht reagierte, sich also nicht bewegte, um sich zu wärmen (Bewegung = Wärmeproduktionsprozess), zog sich das Blut aus seinen Zehen zurück. Der reichlich zugeführt Alkohol hatte die Nozizeption wirkungslos gemacht. Der Organismus schaltete auf Notbetrieb. Die Versorgung der Zehen mit Blut gehörte sicher nicht dazu. Die Aufrechterhaltung lebenswichtiger Organe hatte Priorität. Außerdem waren die Blutgefäße durch die Kälteeinwirkung grundsätzlich verengt, sodass die Durchblutung nicht mehr optimal gewährleistet war. Auch die Zellfunktion ist temperaturabhängig. Zellen haben viele Funktionen, die für die Reparation, Regeneration und Selbstheilung entscheidend sind, die sie nur bei optimaler Temperatur erledigen können. So produzieren sie zum Beispiel Enzyme und setzen sie frei (exozytieren), sie kommunizieren untereinander zum Beispiel mittels Botenstoffen (Zytokine), sie wandern umher (Beispiel: Chemotaxis, Haptotaxis), sie nehmen Fremdstoffe und Bakterien auf (Endozytose) sowie Gewebstrümmer bei Verletzungen. Sie leisten darüber hinaus ein Vielfaches mehr an Aufgaben, deren Aufzählung hier den Rahmen sprengen würde. Allen Zell-Funktionen gemeinsam ist, dass die Prozesse durch eine Temperaturabnahme und Perfusionsminderung (Vasokonstriktion) gehemmt bis stillgelegt werden. Die wichtigsten lokalen physiologischen Effekte der Kryotherapie sind durchweg negativ: sie reduziert die Temperatur, die Entzündung, den Metabolismus (Stoffwechsel), die Blutzirkulation und den Muskelhypertonus; dafür erhöht sie die Gewebesteifheit und sorgt für eine vorübergehende Zunahme, gefolgt von einer Abnahme der Schmerzwahrnehmung, bis hin zur Blockierung des Schmerzes. Wird die Kälteapplikation beendet, steigt die Gewebetemperatur deutlich langsamer wieder an als deren Abnahme durch die Anwendung. Die Kryotherapie wirkt somit der angestrebten biologischen Reaktion direkt entgegen. Im Prinzip heißt das: Eis verhindert, dass der Organismus unter den krankhaften (pathophysiologischen) Veränderungen (Verletzung) richtig funktioniert. Es ist bio-logischerweise kontraproduktiv, Gewebe zu kühlen oder Eis anzuwenden. Die Natur (Physis) erwärmt das verletzte Gewebe (Calor) und es wäre töricht, wenn wir Menschen glauben würden, es besser zu wissen als die Natur es weiß. Dass wir trotzdem regelmäßig gegen die Natur agieren, ist absurd, sind wir doch selbst ein Teil der Natur. Indem wir so handeln, schädigen wir uns selbst.

2  Die Natur weiß es einfach besser     9

Nein, wir dürfen nicht stur an Gewohnheiten festhalten, nur weil es uns zu unbequem erscheint, neue Wege zu gehen. In einer Zeit der aufstrebenden, sich akademisierenden Physiotherapie und der Forderung nach „Evidence based practice“, müssen bio-logische und wissenschaftliche Tatsachen endlich gebührende Aufmerksamkeit erhalten und entsprechende Berücksichtigung finden. Wenn Sie mehr über wissenschaftliches Arbeiten erfahren wollen, empfehle ich das Buch „Evidence based medicine“2 von David L. Sacket zur Hand zu nehmen. Physiotherapeuten, vor allem Berufsanfängern müssen wir eine sinnvolle Alternative anbieten. Darum stelle ich hier die von uns entwickelte FITRegel vor – von Physios für Physios entwickelt und seit vielen Jahren in unserem Institut gelehrt.

2  David

L. Sacket et al., Quelle: „Evidence based medicine: How to practice and teach EBM“, Churchill-Livingstone, 2. Auflage, New York 2000.

3 Die Zelle – Grundbaustein des Lebens

Manche Geschichten beginnen bei den alten Römern, andere bei Adam und Eva oder beim Urknall. Unsere Geschichte zur FIT-Regel beginnt mit der Zelle, der kleinsten lebenden Einheit. Die kleinen, sehr kleinen Vielkönner habe ich weiter oben bereits kurz angesprochen. Zeigen konnte, beziehungsweise kann, ich sie Ihnen natürlich nicht. Jedenfalls nicht in Originalgröße und nicht ohne Mikroskop. Der Durchmesser einer menschlichen Zelle variiert; die Kleinsten messen nur 6 μm, andere 20 μm. Auch wenn sie unterschiedlich groß sind, sind sie mikroskopisch klein und damit für das bloße menschliche Auge nicht erkennbar. Gut, unser Leben baut also auf Bausteinen auf, die so klein sind, dass man sie nicht sehen kann. 20 μm. So klein? Dazu fehlt es mir ehrlich gesagt an Vorstellungskraft. Es hilft mir auch wenig, Zahlen zu konvertieren. 1 μm entspricht einem Millionstel eines Meters oder 0,000 001 m. Was sind dann 20 μm? Das ist jedenfalls sehr sehr viel kleiner als ein Stecknadelkopf. Vielleicht stellen wir uns einfach ein Staubkorn vor, nur noch kleiner. Oder wir vergessen sie wieder – also die Staubpartikel. Diese können nämlich bezüglich ihrer Größe auch sehr unterschiedlich sein. Eine ähnliche Größe wie eine menschliche Zelle haben nur die Partikel des sogenannten Schwebstaubs. Während eine Körperzelle jedoch sehr sehr viel kann, kann dieser Staub nicht mehr als schweben. Eine Ausnahme, was die Erkennbarkeit betrifft, bildet nur die größte der menschlichen Zellen, die Eizelle, die gegenüber einer normal winzigen Zelle riesig ist. Sie misst zwischen 0,10 und 0,15 mm (Abb. 3.1). Einige unter Ihnen werden sich vielleicht fragen, warum ich etwas so Winzigem wie einer menschlichen Zelle so viel Aufmerksamkeit schenke? © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_3

11

12     H. J. M. Brils und J. Brils B-Lymphozyt

Plasmazelle

T-Lymphozyt

Killerzelle

Monozyt

Fibroblast

Makrophage

Haptotaxis

Erythrozyt

Thrombozyt

Abb. 3.1  Ein Erwachsener besteht aus etwa 30 Billionen Zellen. Dazu gehören auch Immunzellen (hier bsp. Auswahl), die zum zellulären Immunsystem zählen

Ganz einfach. Zum einen ist die Zelle auch der Grundbaustein der von mir entwickelten FIT-Regel. Zum anderen fasziniert mich, dass etwas so derart Winziges, so viel Großartiges leisten kann. Wussten Sie zum Beispiel, dass

3  Die Zelle – Grundbaustein des Lebens     13

positives Denken bis in die einzelne Zelle reicht? Ernährung und Bewegung sind zwar die Essenz, um eine Zelle funktionsfähig zu halten. Wirklich gesund aber kann die Zelle nur bleiben, wenn auch die menschliche Geisteshaltung stimmt. Dass Gedanken und Gefühle auf die Gesundheit wirken, ist bekannt. Ich behaupte sogar, dass gesunde Zellen wiederum auf den seelischen Zustand zurückwirken. Körper, Seele, Geist wirken immer zusammen. Nun, was heißt das zum Beispiel bei einer Verletzung und was bedeutet es für deren Heilungsprozess? Stellen Sie sich vor, Sie sind Teilnehmer einer unserer Fortbildungen und Sie säßen mit vielen anderen Interessierten in gespannter Erwartung beieinander – natürlich auf einem dieser bereits erwähnten mäßig bequemem Stühle; worauf Sie sicher Ihre Nozizeption aufmerksam machen wird, bevor der Schmerz folgt. – Spaß muss sein. Ich behaupte: Bildung und Unterhaltung sollten sich nicht ausschließen. Unterhaltung sorgt für Aufmerksamkeit. So erleben mich die Menschen auch in den Kursen. Wenn sie auch Spaß hatten, ist das gut. Emotionen steigern die Wahrnehmung und befeuern später die Erinnerung. Es soll schließlich etwas hängen bleiben – und damit schnell zurück zu unserem Kernthema: der Zelle. Wenn es um die Art und Weise meiner folgenden Darstellung geht, gilt auch hier wieder mein Prinzip: Vereinfachung. Kurz gesagt: KISS. Nein, nicht die kultigen Hardrock-Clowns aus Australien. Sorry! KISS meint: „‚Keep it simple, stupid!‘ Also: ‚Halte es einfach, Dummkopf!‘ Stupid ist hier als scherzhafte Anrede zu verstehen, die dem Satz eine flapsige, aber wohlmeinende Bedeutung gibt: ‚Sei nicht so blöd, dir den Kopf zu zerbrechen, wenn es auch einfach geht.‘“1 Und so versuche ich wo immer möglich, Inhalte auf das Wesentliche zurückzuführen. Was ist in unserem Fall das Wesentliche? Also: Es gibt eine Wunde. Wer heilt diese Wunde? Das macht der Mensch selbst. Aber was heißt das? Wer macht das genau? Wer sorgt für all diese Vorgänge, die da passieren? Richtig. Es sind Zellen. Und davon gibt es Billionen. Man kann sagen: Der Mensch ist Zelle. Ein Erwachsener besteht aus rund 30 Billionen einzelner Zellen. Würde man die durchschnittlich nur 1/40 mm großen Zellen aneinanderlegen, reichten sie etwa 20-mal um die Erde. Mit diesem Thema beschäftigt sich auch ein aktuelles Forschungsprojekt: „Human Cell Atlas“. Ziel der Wissenschaftler ist es, sämtliche Zellen im menschlichen Körper zu katalogisieren. „In fünf

1 „KISS-Prinzip“,

Quelle: Wikipedia, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/KISS-Prinzip.

14     H. J. M. Brils und J. Brils

Jahren [Anm. d. Autors: Artikel aus 2021] könnte die erste Version fertig sein. Eines ist schon jetzt klar: Die Zahl der Zelltypen wurde extrem unterschätzt. […] Die Bioinformatikerin Sarah Teichmann vom Wellcome Trust Sanger Institute [in Cambridge, Großbritannien], hat kürzlich mit ihrem Team die Muskelwand des Herzens unter die Lupe genommen – und allein dort über 60 verschiedene Zellarten entdeckt. ‚Da gibt es so viele feine Unterschiede, die wichtig sind für die Funktion der Organe. Wenn wir verstehen wollen, wie Krankheiten entstehen [Anm. d. Autors: Und wie man sie heilen kann], müssen wir zunächst verstehen, wie eine gesunde Zelle funktioniert.‘ […] Wenn man die am Herzen gewonnenen Daten auf den ganzen Körper hochrechnet, dann sind es wahrscheinlich 20.000 verschiedene Zelltypen.“2 Und das sind nur die Zelltypen! Halten wir fest: Gibt es eine Wunde, dann sind es die Zellen, die die Wundheilung durchführen. Punkt. Dabei ist Wundheilung nur eine von hunderten verschiedenen Funktionen, die von den Zellen übernommen werden. Zellen haben also unglaublich viel zu tun. Und da kommen wir ins Spiel. Die Physiotherapeuten. Als Physiotherapeut muss ich mich nun fragen: Wie kann ich der Zelle helfen? Und ich muss mich auch fragen: Was würde die Zelle stören?

Das zu erkennen, ist das Einfachste vom Einfachsten. Denn ich muss nur in ein Biologiebuch schauen, um zu sehen, was Zellen brauchen. Das ist Schulstoff – spätestens der 5. Klasse. Wer sein altes Biologiebuch nicht mehr finden kann, dem kann trotzdem geholfen werden: Einfach ein entsprechendes Video auf YouTube anklicken. Jetzt und hier will ich das für Sie aber auch anschaulich machen. Es ist ein einfaches Beispiel, das praktisch jede Funktion im Körper repräsentiert und zudem zeigt, was die Zelle braucht: Die Beugung des Ellbogens. Diese Funktion zeige ich auch meinem Publikum in den Fortbildungskursen und frage: „Was braucht man, um einen Ellenbogen zu beugen?“ Die meisten antworten spontan: Energie. Das ist schon mal richtig. Aber ich will vier Wörter hören. Vier einzelne Begriffe, nicht weniger und nicht mehr. Und – kleine Hilfestellung – die Begriffe stammen alle aus der Physik. Also: Um einen Ellenbogen zu beugen, brauche ich natürlich den Ellenbogen. Der Ellbogen steht für Materie oder Material, Masse, Moleküle. Halten wir fest: Der erste Begriff ist also Materie. Aber wir brauchen noch drei andere

2 „Wie

viele Zellen gibt es?“, Quelle: Science ORF.at, URL: https://science.orf.at/stories/3206506/.

3  Die Zelle – Grundbaustein des Lebens     15

Begriffe neben Materie; drei weitere Voraussetzungen zum Beugen des Ellbogens. Wir benötigen – wie schon genannt: Energie. Energie ist der zweite Begriff. Die bekannteste Energie ist Wärme. Neutral gesprochen: Temperatur. Denn wir wissen bereits: Eine Zelle funktioniert am besten bei einer Kerntemperatur von rund 37 °C. Nur geringe Veränderungen der Temperatur, ein Grad mehr oder weniger, stört die Zelle. Bestimmte Funktionen können schon bei 26 °C ausfallen. Ja, sicher, man kann eine Zelle auch einfrieren und dann wieder aufwecken. Das überlebt sie. Aber solange ist sie vollkommen inaktiv. Wie tot. Neben Wärme gibt es noch andere Energien. Am bekanntesten sind wohl Adenosintriphosphat und Kreatinphosphat. Aber es gibt noch viel mehr und ganz andere Energien. Ich behaupte mal: Auch Qì gehört dazu. Qì oder Chi (chinesisch), in Japan Ki, in Korea Gi, gilt in Asien als die Kraft der Lebensenergie. Qì steuert alle automatischen Abläufe im Körper und zeigt sich in allem Lebendigen in Form von Veränderung und Bewegung. In der überlieferten östlichen Medizin bildet Qì die Grundlage für die Vorstellung, wie Lebendiges funktioniert. Und nur, weil das unserem westlichen Weltverständnis fremd ist, muss es nicht falsch sein. Darüber zu diskutieren, setzt auch Energien frei… Gut. Zurück zu unseren Big Four. Wir haben Materie und Energie und die ersten beiden Begriffe. Was kommt als nächstes? Der Ellenbogen könnte perfekt gebaut sein, er könnte auch Energie genug haben, aber um ihn perfekt zu beugen, braucht es eine Steuerung, eine Regelung  – sprich Information. Unser Organismus verfügt über verschiedenste biokybernetische Systeme, also regelnde und steuernde Systeme. Das bekannteste ist das Nervensystem, das genau genommen wiederum aus zwei Systemen besteht: Dem animalen und dem vegetativen Nervensystem. Information ist damit unser dritter Begriff. Kommen wir zum vierten. Hier können wir es kurz machen: Um einen Ellenbogen zu beugen, um eine Funktion auszuführen, brauche ich auch Raum (vulgo Platz) und Zeit – wie viel, hängt davon ab, ob ich die Bewegung langsam oder schnell ausführe. Raum und Zeit ist dabei für mich eine Größe, daher Raumzeit. Und damit haben wir unsere vier Begriffe: Materie, Energie, Information, Raumzeit. Und wir haben eine Funktion in ihre Einzelteile zerlegt. Wir haben damit auch eine Ordnung geschaffen, ein Bewusstsein für das Zusammenspiel, das uns ein systematisches Vorgehen möglich macht. Wir erinnern uns? Analyse und Synthese. Und wenn man es genau nimmt, sind selbstverständlich nicht wir diejenigen, die diese Ordnung geschaffen hat. Sondern es ist die Ordnung der Natur, der wir lediglich folgen. So wie alles Lebendige bio-logischen Gesetzmäßigkeiten folgt. Indem ich hier dieses

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Denken streife, begebe ich mich bewusst auf das Feld der Physiosophie; dem ein oder anderen bekannt als die erlebbare Ordnung der Natur. Dass es eine solche Ordnung gibt, ist für mich gesetzt. Denn als bio-logisch denkender und handelnder Physiotherapeut gehe ich davon aus, dass auch Heilkraft und Regeneration von Natur aus in uns verankert sind. Wer im Übrigen mit Philosophie nichts oder nur wenig anfangen kann, dem biete ich einen anderen Begriff an: Bionik. In der Bionik (auch Biomimikry, Biomimetik, Biomimese) geht man davon aus, dass die Natur durch evolutionäre Prozesse perfekte Lösungen entwickelt hat, die sich der Mensch nur noch abschauen muss. Bionik ist ein sogenanntes Kofferwort bestehend aus Biologie und Technik. Als interdisziplinäres Forschungsfeld findet Bionik in den Naturwissenschaften, im Ingenieurwesen, in der Architektur, der Philosophie und im Design Anwendung. Es geht dabei um systematisches Erkennen von Lösungen der belebten Natur. Nach der Devise: Die Natur weiß es einfach besser – und sie kann uns als Vorbild dienen. Ob nun Bionik oder Physiosophie – ich möchte einfach mehr Bewusstsein dafür schaffen, dass es klüger, cleverer, bio-logischer ist, dem Vorbild der Natur zu folgen; die Natur nachzuahmen, ihr nachzufolgen, ja, nachzuspüren. Zurück zum Ellbogen, zu Materie, Energie, Information und Raumzeit – und damit in die alltägliche Praxis. Wenn ich einen Patienten vor mir habe, überlege ich als erstes: Wo liegt das Problem? Wo ist es verortet? In der Materie? Ist vielleicht etwas gerissen? Oder im Bereich der Energie? Oder ist es ein Problem der Information? Oder eines der Raumzeit? Ich analysiere also gemäß meiner Begriffsordnung. Dabei halte ich die Zelle im Blick; bildlich gesprochen, denn ich kann sie ja nicht sehen. Ich weiß aber, dass es die Zellen sind, die für die Funktion sorgen. Und mir ist bewusst, dass ich die Zellfunktionen als bio-logisch agierender Physiotherapeut unterstützen muss. Die Zelle braucht also Materie, Energie, Information, Raum und Zeit. Was heißt das im Detail? Was braucht die Zelle genau? A für die Sicherstellung der Funktion oder B für die Wiederherstellung der Funktion (Wundheilung)? Betrachten wir zum Beispiel die Materie. Materie ist Material, ist Masse. Und diese besteht aus Zellen. Die Zellen wiederum bestehen aus Molekülen. Genauer gesagt aus biologischen Makromolekülen, auch Polymere genannt. Deren Grundelemente sind Kohlenstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Sauerstoff. Die Polymere gehen aus Monomeren hervor. Man unterscheidet Kohlenhydrate (Zucker), Lipide und Proteine. Soweit der vereinfachte Aufbau eines Moleküls. Schauen wir tiefer hinein, erkennen wir, dass die Zelle zur Energieerzeugung nicht irgendwelche Moleküle

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Abb. 3.2  Innenansicht einer menschlichen Zelle, bestehend aus Nukleus (mit Chromosomen) und Zytoplasma, umhüllt von der Zellmembran

braucht, sondern bestimmte. Etwa Sauerstoff. Die Zelle funktioniert zwar auch ohne, aber viel effektiver mit Sauerstoff. Das zweitbekannteste Molekül, das eine Zelle braucht, ist Wasser. Doch damit nicht genug. Energie und Wasser sind nur zwei Beispiele von vielen (Abb. 3.2). Denn eine Zelle braucht hunderte, tausende von verschiedenen Molekülen, um zu funktionieren. Zucker, der aus Kohlenhydraten gewonnen wird, fungiert hier zum Beispiel als Energielieferant. Daraus generieren sie Adenosintriphosphat, um Arbeitsprozesse umzusetzen. ATP hebe ich hier hervor, da es der wichtigste Energieträger der Zellen ist, denn er ist universell und sofort verfügbar. Aber wie schon gesagt: Die Zelle braucht auch Informationen. Zellen sind sehr kommunikativ. Schon innerhalb einer Zelle wird unglaublich viel Information ausgetauscht. Darüber hinaus kommuniziert sie mit ihrer Außenwelt, mit den Nachbarzellen. Wenn ich eine Zelle unter dem Mikroskop betrachte, dann ist sie gespickt mit Rezeptoren. Damit kommuniziert sie mit ihrer Umwelt. Und dafür braucht sie eben Zeit. Auf die Wundheilung zurückgeführt heißt das: Auch Wundheilung braucht eine bestimmte Zeit. Das kann

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man nicht beschleunigen. Nicht mit Medikamenten und nicht mit irgendeiner Wundertherapie. Die Heilung einer Wunde dauert schlicht so lange wie die Zelle dafür braucht. Menschen glauben leider gerne, was ihnen das Marketing verspricht. Aber auch sogenannte Wund- und Heilsalben können den Heilungsprozess nicht beschleunigen. Ohnehin ist die Dauer eines Heilungsprozesses nicht universell bestimmbar, weil sehr individuell. Die Wunde eines 80-Jährigen heilt in der Regel viel langsamer als die eines 20-Jährigen. Es kann aber auch sein, dass die Wunde des gesunden 80-Jährigen genauso schnell oder vielleicht etwas schneller heilt als die eines 20-jährigen Diabetikers. Der Physiotherapeut kann in etwa abschätzen, wie lange der Heilungsprozess dauert. Voraussetzung ist, dass er den Patienten gut kennt und alle Parameter berücksichtigt hat. Dann kann er überlegen, wie er das Biosystem des Patienten unterstützen kann. Auch hier gilt: Vorausgesetzt, er weiß, was es braucht. Oder anders gesagt: Was es nicht braucht. Denn die Unterstützung meinerseits sieht fast immer so aus, dass ich etwas wegnehme oder schon vom Beginn der Therapie weglasse, dass hemmend wirkt. Kälte etwa, Eis. Verletze ich mich in der Antarktis, schneide ich mir in die Haut, dauert es ewig, bis die Wunde heilt. Schuld ist vor allem die dort herrschende Kälte. Das sollte nicht nur allgemein bekannt sein, sondern ist auch durch zahlreiche wissenschaftliche Studien belegt. Weglassen kann ich auch den Gips (oder wegnehmen wie damals bei David Prinosil). Denn einen eingegipsten Fuß kann ich nicht bewegen. Dosierte Bewegung ist aber wichtig für den Heilungsprozess. Wenn ich einen Muskelfaserriss habe und inaktiv bleibe, sechs Wochen keine Muskelarbeit, dann kann es zwar sein, dass mehr oder weniger neue Zellen aufgebaut werden. Aber das ist viel zu ungenau, schlicht unzulänglich. Denn tue ich nichts, außer auf dem Sofa liegen, weiß der Muskel nicht wie stark er werden soll. Er hat keine Orientierung. Sein Wachstumsziel ist ungewiss. Wie viele neue Zellen sollen es denn am Ende des Tages genau sein? Und wie lang sollen die neuen Bindegewebsfasern werden? Das Bindegewebe, das produziert werden muss, braucht nämlich eine bestimmte Länge. Denn vom Bindegewebe hängt die eigentliche Länge des Muskels ab. Anders gesagt: Wie lang der Muskel ist, wird hauptsächlich durch das Bindegewebe innerhalb des Muskels bestimmt. Bewegung tut Not, damit die richtige Anzahl, Art und Größe der Zellen aufgebaut werden kann. Was richtig ist, hängt davon ab, was es braucht, um den Muskel in seiner Ursprünglichkeit – also vor der Verletzung – wiederherzustellen.

3  Die Zelle – Grundbaustein des Lebens     19

Doch das dicke Ende kommt erst jetzt. Die Zelle braucht Raum! Eingegipst hat der Fuß weniger Platz. Das verletzte Gewebe kann nur sehr begrenzt anschwellen. Schwellung ist aber etwas Gutes. Es ist ein Zeichen, dass die Zellen Raum haben, um zu arbeiten. „Jede mechanische externe Einengung führt über weitere Erhöhungen des Gewebedruckes zu einer zusätzlichen Verschlechterung der Stoffwechsellage im geschädigten Gewebe, damit zu einer erhöhten Infektionsbereitschaft und zu schlechteren Heilungsbedingungen.“3 Zum Thema Schwellung kann ich Ihnen folgende Episode aus dem Leben eines Physiotherapeuten anbieten. Der Fall: Basti. Bastian, damals noch ein Jugendlicher, aber schon ein Riese von fast zwei Metern. Er stammte aus der Nachbarschaft. Seine Mutter arbeitete als Sekretärin in unserem Institut. Bastian war beim Fußballspielen umgeknickt. Ich erzähle die Geschichte regelmäßig in unseren Fortbildungskursen. Denn Bastian gehört auf jeden Fall zu meinen Top drei, wenn es um Extremfälle geht. Er war extrem was die Schwellung und die Verfärbung betrifft. Bastian war also umgeknickt, aber so richtig, ich war dabei gewesen und hörte es krachen. Erstmal ist er sofort nach Hause gegangen und wir haben weitergespielt. Das war sonntags. Am nächsten Tag bin ich mit dem Auto bei ihm vorbeigefahren und staunte: Mit Krücken stand er vor dem Haus. „Warum hat er jetzt Krücken?“ Donnerstags war ich wieder zurück in der Praxis und fragte seine Mutter: „Und, wie geht es Basti?“ – „Ach“, sagte sie, „der Fuß ist sooo dick!“ Und ich: „Ah, super, je dicker, desto besser.“ Das Gesicht hätten Sie sehen müssen. Wenn ich diesen Satz sage, ist der Effekt immer gleich: großes Unverständnis, große Augen, Ungläubigkeit. Ich erkläre dann natürlich, warum die Schwellung absolut nötig ist. Sicher kann man darüber diskutieren, ob die verletzte Stelle ein bisschen weniger geschwollen sein könnte. Aber grundsätzlich gehört die Schwellung zum Heilungsprozess. Nur das können viele nicht glauben. „Soll ich ihn mir morgen mal angucken?“, fragte ich seine Mutter. Sie nickte und ich bestellte Basti für acht Uhr am folgenden Tag – Treffpunkt Fußballplatz. Sein Fuß war dick, sehr dick, sehr grün und sehr blau; und zwar bis in jede Zehenspitze, nicht nur an der Außenseite, wo er sich verletzt hatte, auch an der Innenseite, und nach oben noch ein Drittel vom Unterschenkel. Auf dem Platz habe ich mit ihm das Laufspiel gemacht wie ich es schon in

3 H.

Tscherne und H. J. Oestern, „A new classification of soft-tissue damage in open and closed fractures (author’s transl)“, Unfallheilkunde. 1982 Mar; 85(3):111–5. Quelle: National Library of Medicine, URL: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/7090085/.

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meiner Einleitung (ab Seite 20) beschrieben habe. Nach einer Stunde und 20 min ist er mit seinen fast zwei Metern so schnell gerannt, wie er konnte. Ich habe mir das angeguckt und gedacht: „Super. Ich mache nichts. Das macht eigentlich alles der Patient. Ich habe nicht einen einzigen Punkt an seinem Fuß berührt, nirgends draufdrückt. Ist das also eine Wunderheilung oder sowas. Nein, ist es nicht.“ Gedächtnisprotokoll der Mutter von Bastian »Beim sonntäglichen Kicken der Walchenseer Fußballer war Bastian ohne Fremdeinwirkung beim Lauf in Richtung Tor mit dem linken Fuß umgeknickt. Ein für ihn wahrnehmbares Knacken und sofort einsetzender stechender Schmerz im Fußgelenk signalisierten ihm, dass etwas Ernsthaftes passiert sein musste. Unter den Mitspielern befand sich auch Henk Brils, der Bastian beruhigte und ihm vorsichtig Schuh und Socke auszog. Innerhalb kürzester Zeit wurde eine starke Schwellung im Bereich des linken Knöchels sichtbar. Sofort legte Henk Bastian eindringlich nahe, aufzustehen, den verletzten Fuß zu belasten und vorsichtig zu gehen. Zögerlich folgte er der Aufforderung und legte den kurzen Weg vom Sportplatz nach Hause aus eigener Kraft zurück. In den nächsten beiden Stunden zwangen ihn starke Schmerzen dazu, den Fuß zu entlasten und zur Ruhe zu kommen. Bei einem anschließenden Besuch im Unfallkrankenhaus Murnau wurde mithilfe einer Röntgenaufnahme und weiterer Untersuchungen eine Außenbandruptur im linken Sprunggelenk diagnostiziert. Als Gehhilfe händigte man ihm Krücken und eine Sprunggelenksorthese aus. Zudem sollte er den Fuß kühlen und hoch lagern. In den folgenden Tagen schwoll der Fuß enorm an und verfärbte sich durch das entstandene Hämatom. Um Rat und professionelle Hilfe suchend kontaktierte Bastian Henk drei Tage nach dem Unfall. Dieser bot kurzerhand an, sich mit ihm auf dem Sportplatz zu treffen. Als er dort mit Krücken erschien, prophezeite ihm Henk, dass er sich innerhalb der nächsten Stunde nicht nur ohne Gehhilfen fortbewegen, sondern laufen könne. Bastians offensichtlichen Zweifel versuchte er durch weitere Erklärungen auszuräumen. Schmerz, Schwellung und Wärmeentwicklung würden Sinn und Zweck haben und Bewegung würde ebenso zur Heilung beitragen, sie sogar beschleunigen. Die ersten vorsichtigen Schritte gingen nach kurzer Zeit in ein behutsames Gehen über. Im weiteren Verlauf steigerte Bastian, durch die offensichtlichen Fortschritte zuversichtlich und sicherer geworden, die Geschwindigkeit und wechselte in ein leichtes Traben. Bereits nach wenigen Runden um den Sportplatz joggte er und am Ende der Trainingsstunde konnte er nahezu schmerzfrei kurze Sprints ausführen. Rückblickend erkannte Bastian, dass der Grund den betroffenen Fuß zu schonen, nicht die eigentliche Verletzung war, sondern vielmehr eine kopfgesteuerte Schutzreaktion vor Schmerz und der Furcht vor einer eventuellen Instabilität des Gelenks. Henk ermutigte Bastian, den Fuß möglichst oft zu bewegen und bewusst ohne Angst zu gehen und zu laufen. Auf die Krücken als Gehhilfe und die Bandage zur Fixierung sollte er verzichten. Um eine Knochenabsplitterung am Sprunggelenk auszuschließen, riet er zu einem MRT. Dieses wurde einige Tage später durchgeführt, ohne einen weiteren Befund zu ermitteln. Bastian hielt sich weiter an Henks

3  Die Zelle – Grundbaustein des Lebens     21 ­ herapieempfehlungen. Nach wenigen Wochen war das Sprunggelenk nicht T nur in seiner Beweglichkeit, sondern auch in seiner Stabilität vollständig wiederhergestellt und weder im Alltag noch beim Sport eingeschränkt.«

Nein, es ist kein Wunder. Entscheidend sind die Einzelbetrachtung sowie die situative Betrachtung. Ich mache immer genau das Gleiche und schaue, was individuell geht. Darin liegt die Kompetenz des Physiotherapeuten, diese Individualität abzuschätzen und die entsprechenden Parameter miteinzubeziehen. Man muss wissen: Der eine braucht das, der andere jenes. Der eine braucht so viel Zeit, der andere weniger. Es kann sein, dass der Patient innerhalb von 15 min wieder mit dem Laufen beginnt und somit im wahrsten Sinn des Wortes auf dem Weg zur Besserung ist. Ein anderer, wie Bastian, brauchte deutlich über eine Stunde. Es gibt keine, ich betone, keine Universallösung. Ich therapiere, indem ich begleite. Und keine Begleitung gleicht der anderen, so wie auch kein Mensch dem anderen gleich ist.

4 Jetzt kommt es dicke: Wundschwellung erwünscht!

Schauen wir uns in diesem Kapitel das Thema Wundschwellung (WundÖdem) genauer an. Der Grund für Wundschwellung ist zunächst einmal die Verletzung selbst. Bei jeder Verletzung antwortet das Immunsystem unmittelbar mit einer Entzündungsreaktion. Das betroffene Gewebe schwillt an, es rötet sich, wird warm und der verletzte Bereich beginnt zu schmerzen. Eine Wundschwellung kann jedoch durch sehr verschiedene Auslöser in Gang gesetzt werden. Ich schicke voraus, dass es deutlich mehr Auslöser für eine Wundschwellung gibt als die hier von mir aufgeführten. Für den Physiotherapeuten ist es wichtig zu wissen, was die Wundschwellung hervorgerufen hat, um die richtige Therapieform auswählen zu können und somit gezielt positiven Einfluss auf die Wundheilung zu nehmen. In der Auflistung habe ich acht typische Gründe für die Wundschwellung zusammengefasst. Auch hier versuche ich meine Erklärungen so einfach wie möglich zu halten. Darüber hinaus empfehle ich den Blick in entsprechende Fachliteratur.

Typische Gründe für Wundschwellung 1. Azidose Die durch Azidose hervorgerufene Schwellung ist eine Folge starker Säureüberproduktion im verletzten Gewebe. Der Begriff Azidose (auch Acidose) leitet sich vom Lateinischen acidum ab, was Säure bedeutet. Nach offizieller Nomenklatur ist Azidose H+ (Hinweis: ganz Genau H3O+). © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_4

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H+ ist ein Wasserstoff-Ion oder freies Proton. H+ dockt mittels kovalenter Bindung an Glykosaminoglykane an. Eine kovalente Bindung ist eine Bindung zwischen zwei Atomen. An eine einzige negative Ladung der Glykosaminoglykane sind mittels Wasserstoffbrücken sehr viele Wassermoleküle gebunden. Auf einen Schlag werden unzählige Wassermoleküle freigesetzt. Glykosaminoglykane (kurz GAG) sind negativ geladen und stark hydratisiert. Chemisch zuzuordnen sind sie den sauren Polysacchariden (Mehrfachzuckern). Die Molekülstruktur dieser Zuckergebinde ist sehr stark negativ geladen, sodass sie große Mengen an Wasser speichern kann. Durch die Fähigkeit der Glykosaminoglykane, Wasser zu binden, reagiert das Gewebe – einfach gesagt – wie ein Schwamm. Die Folge: Schwellung. 2. Vasoaktive Amine Als vasoaktiv bezeichnet man körpereigene (biogene) Stoffe, die eine Wirkung auf die Gefäßweite oder -durchlässigkeit haben. Der Begriff biogen ist griechischen Ursprungs: bios  = Leben, gennan = erzeugen. Zur Gruppe der biogenen Amine zählen zum Beispiel Gewebehormone wie Histamin, Tryptamin und Tyramin. Oder Neurotransmitter wie Serotonin, Dopamin und GABA (Gamma-Aminobuttersäure). Amine leiten sich meist von Aminosäuren (kleinste Bausteine der Eiweiße) durch Decarboxylierung (chemische Reaktion) ab. Vasoaktive Amine entstehen verstärkt durch Verletzungen. Sie haben viele Wirkungen. Eine Folge ist die erhöhte Gefäßpermeabilität (Durchlässigkeit der Gefäßwand). So kann Flüssigkeit direkt – oder gebunden an andere Moleküle – das Gefäß leichter verlassen. Die Folge: Schwellung. 3. Erhöhter hydrostatischer Druck in den Gefäßen Allgemein gesprochen ist der hydrostatische Druck jener Druck, der im Inneren einer ruhenden (statisch) Flüssigkeit herrscht und der in jeder Richtung gleich groß ist. Anstelle einer Flüssigkeit (etwa Wasser = Hydro) kann auch ein anderes Fluid gemeint sein. „In der Medizin versteht man unter dem hydrostatischen Druck meist den Druck, den die stehende Blutsäule in einem Gefäß auf die Gefäßwand ausübt.“1 Weniger akademisch heißt das: Hydrostatischer Druck ist eigentlich der Blutdruck. Ein erhöhter hydrostatischer Druck oder die Zunahme des Blutvolumens führen zu

1  „Hydrostatischer Druck“, Quelle: doccheck.com, URL: https://flexikon.doccheck.com/de/Hydrostatischer_Druck.

4  Jetzt kommt es dicke: Wundschwellung erwünscht!     25

einem verstärkten Austritt von Flüssigkeit aus den arteriellen Gefäßen. Die Folge: Schwellung. 4. Erhöhter kolloidosmotischer Druck im Gewebe Kolloidosmotischer – oder auch onkotischer Druck – ist der durch die Konzentration von kolloid gelösten Teilchen (etwa Eiweiße) in einer Lösung hervorgerufene osmotische Druck. Der kolloidosmotische Druck regelt den Austausch von Stoffen zwischen Blut und Gewebe. Er wird fast ausschließlich durch Eiweiße (Proteine) im Blut bewirkt. An diese Eiweiße bindet sich Wasser. Durch erhöhten kolloidosmotischen Druck verringert sich der Anteil der Gewebeflüssigkeit im Blut. Dadurch wird weniger Wasser im Blut gebunden und wandert ins Gewebe. Der Effekt: Schwellung. 5. Einblutung ins Gewebe Ein Bluterguss ist nicht selten eine Folge einer Prellung, eines Bänder- oder Muskelrisses oder einer Fraktur. Dabei tritt Blut aus den verletzten Gefäßen ins Gewebe ein, was meist mit einer Schwellung einhergeht. Die Erklärung ist einfach: Blut im Gewebe braucht schlicht und ergreifend Platz. Die Folge: Schwellung. 6. Lymphostatische Insuffizienz Eine lymphostatische Insuffizienz ist eine Funktionsschwäche oder ungenügende Leistungsfähigkeit der Klappen in den Lymphgefäßen. Es kommt zu einer Lymphabflussstörung. Die Lymphgefäße nehmen normalerweise die Lymphe (Flüssigkeit) aus dem Gewebe wieder auf. Bei einer Rückflussklappen-Störung fließt aber zu wenig ab; es bleibt zu viel Flüssigkeit im Gewebe zurück. Die Folge: Schwellung. 7. Zunahme der Gefäßpermeabilität durch Mediatorsubstanzen Erhöhte Gefäßpermeabilität wird auch Hyperpermeabilität genannt. Auf Deutsch: Eine erhöhte Durchlässigkeit der Gefäßwände. Verursacher dafür sind Mediatorsubstanzen. Das können zum Beispiel vasoaktive biogene Amine (siehe unter 2.), Zytokine (Botenstoffe) oder Chemokine (Signalproteine) sein. Ist die Permeabilität (Durchlässigkeit) der Gefäße erhöht, tritt vermehrt Flüssigkeit aus dem Blut ins Gewebe über. Die Folge: Schwellung. 8. Austritt von weißen Blutzellen (Diapedesis) „Als Diapedese bezeichnet man die Bewegung von Blutzellen, in erster Linie von Leukozyten (etwa Monozyten, Makrophagen oder Granulozyten)

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durch Endothel-Nischen der kleinen Blutgefäße (Blutkapillaren, Arteriolen, Venolen).“2 Einfach gesagt: Treten Leukozyten durch Endothel-Nischen aus dem Gefäß aus, nennt man das Diapedese, ein selektives Austreten von weißen Blutzellen ins Gewebe, die Gewebsflüssigkeit mitführen. Die Folge: Schwellung.

Die 10 Vorteile der Wundschwellung (begrenzte Auswahl) Hinweis: Einige Fachbegriffe habe ich bereits vorab unter „8 typische Gründe für Wundschwellung“ erklärt. Auf Wiederholung verzichte ich daher weitgehend. 1. Vermischung, Vermengung, Verdünnung Durch Vermischung, Vermengung und Verdünnung verlieren die Exotoxine (körperfremde, eindringende Giftstoffe; etwa Säure oder Bakterien – letztere nur bei offenen Verletzungen) und die im Gewebe durch die Verletzung entstehenden Autotoxine (körpereigene Giftstoffe, etwa Freie Radikale oder Säure) sowie Zellabfallprodukte an zerstörender Kraft. 1.1 Hydration Im ödematösen Gewebe kommt es rasch zur Säurebildung (Azidose). Durch die Schwellung entsteht eine Verdünnung der Säure und so eine Verschiebung in Richtung Alkalisierung des Wundgebiets. Die Säure-Ionen müssen zwischengelagert werden, sie binden sich an Glykosaminoglykane. Im Gewebe sind reichlich Glycosaminoglykane (GAG) vorhanden. Da die Säure-Ionen sehr aggressiv sind, müssen sie schnell durch Wassermoleküle ummantelt (Hydration) werden. 2. Endotheliale Integrität Hypoxie (Sauerstoffmangel im Blut) und Azidose (Säure-Überproduktion) begünstigen einen Verlust der endothelialen Integrität; sprich, es kommt zu einer Dysfunktion oder Funktionsstörung der Endothelzellen. „Als Endothel […] oder Gefäßendothel bezeichnet man die zum Gefäßlumen hin gerichteten Zellen der innersten Wandschicht von Lymph- und 2 „Diapedese“,

Quelle: doccheck.com, URL: https://flexikon.doccheck.com/de/Diapedese.

4  Jetzt kommt es dicke: Wundschwellung erwünscht!     27

Blutgefäßen.“3 Die Schwellung wirkt dem Verlust der endothelialen Integrität entgegen. 3. Optimale Wundtemperatur Die Schwellung bildet ein Energie-Reservoir rund um die Verletzung und speichert vor allem viel Wasser. Da Wasser eine sehr hohe (spezifische) Wärmekapazität hat und sehr viel Energie aufnehmen und Wärme speichern kann, wird so die nötige hohe Temperatur im verletzten Gewebe gesichert, die Zellen für die maximale Zellproduktion brauchen; eine optimale Wundtemperatur liegt bei 38 °C (±1,0 °C). 3.1 Erhöhung der Zellaktivität Durch die Schwellung liegt das verletzte Gewebe tiefer und die Temperatur kann auf bis zu 39 °C angehoben werden – etwa bei einem Umknicktrauma – was der Zellaktivität zugutekommt. Man spricht hier auch von lokalem Fieber. 4. Platz für Zellzunahme und -wachstum Zellzunahme und Zellwachstum sind Grundvoraussetzungen für den gesamten Wundheilungsprozess. Die Schwellung bietet Platz für Zellzunahme (lebhafte Zellvermehrung durch Teilung und Einwanderung) sowie für Zellwachstum (Proliferation). 4.1 Raum für Zellmigration Neben Wasser besteht die Schwellung aus verschiedenen biochemischen Stoffen, etwa Hyaluronsäure (wissenschaftlich Hyaluronan). Hyaluronan ermöglicht den Aufbau eines hohen osmotischen Druckgefälles, wodurch eine Ausweitung der Zellzwischenräume in der extrazellulären Matrix entsteht. Auf diese Weise wird die Wanderschaft (Migration) der Zellen ermöglicht und es entsteht ein größerer Bewegungsraum. Anders gesagt: Hyaluronan hält die „Verkehrswege“ für solche Zellen frei, die auf „Wanderschaft“ sind, um Bakterien zu jagen und Zelltrümmer zu entfernen. 4.2 Verbesserung der Stoffwechsellage Die Schwellung ist zum einen „Lagerplatz“, etwa für Sauerstoff und andere biochemische Substanzen, die von den arbeitenden Zellen und für die Heilung gebraucht werden. Zum anderen schwimmen die Zellen in der 3 „Endothel“,

Quelle: wikipedia.org, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Endothel.

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Schwellung in einem „Nährbad“, wodurch eine Verbesserung der Stoffwechsellage garantiert wird. 4.3 Verbesserung der metabolen Lage Die Schwellung verhindert Defizite, die durch nutritive (nährende, aufbauende) und katabolische (veränderliche, abbauende) Prozesse entstehen können, die das Gewebe gerade jetzt nicht gebrauchen; sie schafft darüber hinaus Platz für neu produziertes Gewebe. Die Schwellung fungiert dabei auch als „Lagerplatz“ für die Produkte der Zellen. Substanzen, die für die enorme Produktionszunahme gebraucht werden, müssen gespeichert und Produkte, die durch Zellmetabolismus entstehen, zwischengelagert werden. Alle Voraussetzungen und Bedingungen, die für eine Verbesserung der metabolen Lage nötig sind, sind abhängig von der Schwellung. 5. Begrenzte Wahrscheinlichkeit einer Permeabilitätsstörung Mehr Wasser im Raum (in der Schwellung) trägt zu einer hydrostatischen Druckzunahme bei. Das gebundene Wasser ist nicht komprimierbar und behält sein Volumen. Das hilft den verletzten Gefäßen, diese schneller zu schließen. Die Druckzunahme begrenzt damit die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Permeabilitätsstörung. Das austretende Blut hat es gegen diesen erhöhten hydrostatischen Druck schwerer, auszutreten. 6. Erzeugung eines wässrigen Milieus Wundheilung braucht ein wässriges Milieu (Feuchtigkeit, Wasser). Warum ist Wasser von Bedeutung? Stellen Sie sich Wundheilung (im wässrigen Milieu) wie die Ontogenese vor – nur im Kleinformat. Unter Ontogenese versteht man die Entwicklung eines Einzelwesens oder einzelnen Organismus. Bei der Wundheilung (im wässrigen Milieu) wird die Ontogenese sozusagen „nachgespielt“. Denn: Alles Leben, alles Lebendige, kommt aus dem Wasser. Wie und wann Leben auf der Erde begonnen hat, wissen wir heute nicht genau. Eine Theorie besagt: „Am Anfang war der Ur-Ozean. Das stärkste Indiz für die Theorie, dass Leben [im Wasser] in der Tiefsee in der Nähe von heißen Quellen entstanden ist, sind Archaebakterien. Sie sind die ältesten Lebensformen, die wir heute kennen. Alle Arten kommen nur in sehr unwirtlichen Biotopen wie im Sickerwasser von Kohlenhalden, in Geysiren oder eben in der Tiefsee vor.“4

4  „Entstehung des Lebens“, Quelle: planet-wissen.de, URL: https://www.planet-wissen.de/natur/ forschung/entstehung_des_lebens/index.html#eins.

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7. Schutz gegen Extrembewegungen Die Schwellung funktioniert wie eine natürliche „Bandage“ („Schienung“), die Extrembewegungen hemmt und verhindert. Das Wasser in der Schwellung ist nicht komprimierbar, sodass bei punktueller Belastung eine Druckverteilung erreicht wird und mechanische Kräfte abgemildert werden. 8. Schutz vor Retraumatisierung Die Schwellung schützt vor Retraumatisierung. Sie wirkt wie eine „Polsterung“ gegen Stöße und fängt Erschütterungen ab. Druck von außen wird durch das Flüssigkeitskissen abgefangen und verteilt, denn Wasser ist nicht komprimierbar. 8.1 Wirkung als Wärmepackung Die Schwellung wirkt darüber hinaus als eine Art natürliche Wärmepackung. 9. (Auf )lösung von Freien Radikalen Aufgrund der Verletzung entstehen vermehrt Freie Radikale. Diese werden im ödematischen Gewebe gelöst, verdünnt, neutralisiert und vor allem in einem gesunden Gleichgewicht gehalten. 10. Förderung enzymatischer Wirkungen Die Schwellung speichert vor allem Wasser. Jede Art von Enzymtätigkeit ist auf Wasser angewiesen. Enzyme erreichen bei einer bestimmten Temperatur ihr Aktivitätsoptimum. Und Wasser speichert Wärme! Wärme steuert Substrate an die richtige Stelle eines Enzyms und „klebt“ sie dort an. Enzyme spielen eine wichtige Rolle bei Entzündungsreaktionen. Sie sind entscheidend in der Wundheilung und Immunwirkung.

5 F.I.T. – Nach allen Regeln der Biologie

F. steht für Funktion, I. für Information und T. für Therapie. Zusammen definieren und bezeichnen diese drei Buchstaben die von mir entwickelte FIT-Regel. Nach dieser Regel arbeiten und lehren wir in unserem Institut bereits seit rund vierzig Jahren. Die FIT-Regel folgt dem bio-logischen Prinzip. Im Gegensatz dazu steht die PECH-Regel, die immer noch eine fragwürdige Alleinstellung beansprucht. Dabei hat sich die FIT-Regel längst als deutlich effektiver gezeigt. Aber wie das bei Veränderungen oft so ist: Auch Experten halten gerne an altem Denken fest. Das ist sogar menschlich. So tickt der Homo sapiens. Wir verabschieden uns ungern von liebgewonnenen Selbstverständlichkeiten, weil wir es uns darin so schön gemütlich gemacht haben. Dabei blenden wir vor allem solche Themen aus, die wir eigentlich hinterfragen müssten. Nur Hinterfragen ist unbequem. Dabei wäre es doch wünschenswert, Veränderungen nicht nur zu zulassen, sondern sie freundlich zu begrüßen. Ich bin gerne bereit, weiter darüber offen zu diskutieren. Ein Angebot dazu ist das Buch, das Sie in Händen halten. Es ist Ihre Chance, sich von altem Denken zu lösen – wenn Sie es nicht schon getan haben. Denn nur so kommt man auf neue Lösungen. L-Ö-S-U-N-G. Die Botschaft steckt bereits in diesem Begriff. Hinwendung zum Neuen. Die FIT-Regel ist neu und doch wieder nicht. Da wir – wie gesagt – schon vier Jahrzehnte damit und danach arbeiten, kann sie natürlich nicht mehr neu im eigentlichen Sinne sein. Und doch ist sie einem sehr großen Kreis nach wie vor unbekannt und damit für jeden einzelnen in diesem

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_5

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Kreis subjektiv gesehen etwas Neues. So gesehen versuchen wir Neues zu lehren, nicht Gedachtes zu vermitteln. Wenn möglichst viele von Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, aus diesem Buch die eine wesentliche Erkenntnis gewinnen, dass die FIT-Regel DIE einzige echte Alternative zur PECH-Regel ist – ganz gleich, ob Sie die FIT-Regel schon in Ansätzen kannten, entfernt davon gehört hatten oder Sie Ihnen gänzlich unbekannt war – habe ich mein vornehmliches Ziel erreicht.

Die FIT-Regel kann man sich ganz leicht merken: Wenn Sie die FIT-Regel anwenden, werden die Patienten schneller wieder fit. Wenn Sie die PECHRegel anwenden, haben die Patienten Pech. FIT versus PECH. So einfach ist das, aber nicht so simpel wie es klingt. Sicher kennen einige von Ihnen die folgende Aussage des ach so populären Zitatgebers Albert Einstein: „Mache die Dinge so einfach wie möglich. Aber nicht einfacher.“1 Einstein hinterließ uns eben nicht nur die Relativitätstheorie – kurz E = mc2 – sondern auch jede Menge Sprüche und Weisheiten. An das Prinzip der Einfachheit halte auch ich mich. Und um es vorwegzunehmen: Selbstverständlich stelle ich mich damit nicht auf eine Stufe mit dem Meister. Betrachten wir nun die FIT-Regel nach den Buchstaben. Gehen wir dem buchstäblich auf den Grund. Was steckt hinter dem Akronym? Was ein Akronym ist, weiß Wikipedia. „Akronyme entstehen dadurch, dass Wörter oder Wortgruppen auf ihre Anfangsbestandteile gekürzt und diese zusammengefügt werden.“2.

FIT steht für Funktion, Information und Therapie F = Funktion.  Funktion besteht vor allem aus aktiver Physiotherapie. Bei Verletzungen der unteren Extremität beginnen wir sehr früh mit Gehen und Joggen und steigern die Intensität bis zum Laufen und Rennen. Auch Radfahren kann am Anfang angeraten sein. Funktion stärkt die Durchblutung

1  „Albert Einstein: Seine schönsten Zitate“, Quelle: geo.de, URL: https://www.geo.de/geolino/ mensch/19221-rtkl-sprueche-albert-einstein-seine-schoensten-zitate. 2 „Akronym“, Quelle: wikipedia.org, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Akronym.

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und informiert vor allem das Muskelgewebe über den Bedarf an orthodynamischer Belastung (richtige Kraft). I = Information.  Information motiviert den Betroffenen in die Funktion zu gehen. Information ist daher besonders wichtig. Jede Therapiemaßnahme, jede Instruktion und jede Art der Patienten-Aufklärung ist gleichbedeutend mit Information. Die an den Patienten angepasste Kommunikation ist ein wichtiger Bestandteil der Therapie. Wenn der Physiotherapeut dem Patienten auf verständliche Weise erklärt, um welche Art Verletzung es sich handelt, wie der Befund sich in aller Voraussicht entwickeln wird und wie die Maßnahmen, die der Wundheilung dienen, aussehen könnten, ist das Information. Der Patient erfährt so aber nicht nur Faktisches, er spürt auch, dass der Physiotherapeut sich in seinem Fach auskennt. Kompetenz schafft Vertrauen. Durch diese soziale Information fühlt sich der Patient in guten Händen. Das daraus resultierende positive Grundgefühl (ist Information) stimuliert ebenso den gesamten Heilungsprozess wie eine voraussichtlich positive Heilungsprognose (ist Information). Die individuelle Aufklärung des Patienten, über die aktuellen Prozesse in seinem Körper und die Entwicklung seines Befunds, ist oft wichtiger als die Therapietechnik selbst. Der Betroffene will wissen, was kommt und wann er sich wieder voll belasten kann. Und er hat auch ein Recht darauf. Gerade bei Leistungssportlern ist die Beantwortung (ist Information) dieser Frage wesentlich. Bewusst werden müssen wir uns auch darüber, dass die Funktion selbst eine Form der Information ist. Denn über die Funktion erhält der Betroffene immer auch eine Rückmeldung (ist Information). Ist der Patient gejoggt, obwohl er zuvor dachte, es könne nicht, ist das eine sehr wichtige, weil positive Information. Information motiviert den Betroffenen also nicht nur, in die Funktion zu gehen, sondern die Funktion gibt auch Informationen ab. Im Prinzip kann man sagen: Alles ist Information. Information ist der Link zwischen Funktion und Therapie (I steht darum nicht zufällig in der Mitte zwischen F und T). Aber auch Funktion und Therapie selbst sind Informationsgeber. T = Therapie.  Damit sind Physio- und Manualtherapie sowie die von uns (INOMT) entwickelte Biokybernetische Osteopathie gemeint. Diese Therapien folgen einem dynamischen, aktiven und natürlichen – im wahrsten Sinne des Wortes – bio-logischen Ansatz, die der Orthodynamik entspringt. Wenn nötig, können manual-, physio- und bewegungstherapeutische Maßnahmen ergriffen werden. Lymphdrainage,

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­ eridianmassage, Faszientechniken usw. haben neben ihrem mechanischen M auch einen informativen Wert. Die FIT-Regel basiert auf dem orthodynamischen Prinzip (Orthodynamik). Im Wesentlichen geht es darum, den Körper bei der Heilung in seinem Rhythmus zu folgen. Das ist die oberste Regel. Orthodynamik ist nicht Schema F. Das muss man sich als Therapeut immer wieder sagen. Die Wundheilung braucht eine bestimmte Zeit. Jeder Mensch hat einen anderen Heilungsrhythmus. Jeder Körper ist anders. Auch Alter, Geschlecht oder Gesundheitszustand spielen eine Rolle. Aber noch viele andere Parameter mehr. Indem wir den Patienten so gut wie möglich kennenlernen, lernen wir auch dessen individuelle Parameter kennen, die unseren Therapierhythmus bestimmen. Die FIT-Regel ist nicht stereotyp. Es gibt keine simple Gebrauchsanweisung, die für alle Situationen und Anwendungen gilt. Das ist die Grundregel. Das ist das orthodynamische Prinzip.

Orthodynamik bezeichnet ein Therapiekonzept für Weichteil-Dysfunktionen und -Verletzungen. Oft haben wir es hier mit Sportlern zu tun oder mit Otto-Normal-Menschen, die sich in ihrer Freizeitaktivität überschätzt haben. Nicht wenige verletzten sich aber auch einfach durch Unachtsamkeit im Haushalt oder bei der Arbeit. Der Begriff Orthodynamik setzt sich zusammen aus Ortho (griechisch = richtig) und Dynamik (griechisch = Kraft). Es geht also um die richtige Kraft; genauer gesagt darum, die richtige Kraft anzuwenden. Sprich das richtige Maß zu finden, das richtige Belastungsniveau für den Patienten; und das durch und mit aktiver Therapie. Übrigens gilt das auch für KomaPatienten. Sicher, hier ist keine Aktivität vonseiten des Patienten möglich. Diese Patienten können sich nicht selbständig bewegen. Aber sie können bewegt werden. Wir können sie in passive Funktion bringen und durch diese Bewegung Informationen (Reize) an das Unterbewusstsein herantragen. Der „wache“ Patient dagegen muss sich selbstständig bewegen und so dazu beitragen, dass die richtigen Kräfte entstehen. Gleichzeitig bedeutet Orthodynamik, dass der Therapeut die richtigen Kräfte anwendet. Am Anfang stellt sich ihm immer die Frage, welche Therapien bei einer Muskeloder Bandverletzung angebracht sind. Die Gretchenfrage lautet dabei: Belastung oder Ruhe? Die Vertreter der heute leider immer noch gängigen PECH-Regel geben der Ruhe den Vorzug. Bei einem Muskelfaserriss oder nach einem Supinationstrauma des Sprunggelenks (Überdehnung) wird in der Praxis leider fast durch die Bank Ruhe und Entlastung empfohlen.

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Mit der Orthodynamik propagieren wir dagegen eine dosierte Belastung, die der Physiotherapeut individuell steuert und begleitet. Diese aktive Therapie beginnen wir sehr früh, direkt nach dem Trauma. Denn gemäß der Orthodynamik ist es richtig, die verletzte Struktur, früh (informativen) Kräften auszusetzen. Selbstverständlich wird die aktive Therapie von physiotherapeutischen und manualtherapeutischen Methoden und Techniken ergänzt. Die Orthodynamik stützt sich auf wissenschaftliche und biologische Fakten. Demnach ist es biologisch nicht sinnvoll, eine Struktur vier Wochen oder länger ruhig zu stellen. Selbstverständlich ist Ruhe nach einer Belastung immer essenziell. Heilung verläuft nur optimal, wenn sich dosierte Belastung und produktive Ruhe in einem ausgewogenen Verhältnis befinden. Der Physiotherapeut muss nach einer eingehenden Untersuchung und Festlegung der individuellen Parameter ein auf den Betroffenen zugeschnittenes spezifisches Therapieschema ausarbeiten. Die Intensität der Belastung, ihre Häufigkeit und Dauer sind nicht in ein festgelegtes Schema zu packen. Jede Wundheilung hat ihre Zeit und durchläuft verschiedene Phasen. Wir dürfen nicht gegen diesen Rhythmus arbeiten, ihn nicht unterbrechen, nicht drängen oder ausbremsen. Jede Phase deckt dabei einen bestimmten Zeitraum ab. Dieser Zeitraum variiert von Mensch zu Mensch.

Die Wundheilung beginnt bereits in der ersten Sekunde nach der Verletzung und erstreckt sich über mehrere Monate, über ein Jahr oder länger. In einem der späteren Kapitel gehe ich sehr genau darauf ein. Hier nur so viel: Vereinfacht lässt sich Wundheilung in drei Phasen einteilen: Entzündungsphase, Proliferationsphase, Remodellierungsphase. Diese Phasen sind uns von der Biologie vorgegeben. Ohne eine den bio-logischen Naturgesetzen angemessene Physiotherapie verzögert sich die Heilung oder es kommt zu Komplikationen. Darüber müssen wir den Patienten informieren. Es kann nicht schaden, wenn er weiß, dass es seine körpereigenen Zellen sind, die in den jeweiligen Wundheilungsphasen dafür sorgen, dass sein verletztes Gewebe so schnell wie möglich gesund wird und schließlich annähernd oder genauso belastbar ist wie vor der Verletzung. Was aber heißt so schnell wie möglich? Auch das ist uns von der Biologie vorgegeben. „Wie lange wird das ungefähr dauern?“ Eine typische Patientenfrage. Darauf gibt es leider keine allgemeingültige Antwort. Jede Wundheilungsphase steht nicht nur für eine bestimmte Aktivität der

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Abb. 5.1  Im Wundgebiet sammeln Afferenten (Nervenzellen) Informationen, die sie über das Rückenmark an das Zentralnervensystem (ZNS) senden (rote Bahn). Umgekehrt senden Efferenten Informationen aus dem ZNS kommend (blaue Bahn) zurück ins Wundgebiet

Zellen, sondern umfasst auch einen zeitlichen Durchschnittswert. Auch das muss der Patient wissen. Ich kann nicht einfach sagen: „Ach, wissen Sie, das dauert zwei Wochen.“ Wenn es nämlich länger dauert, ist meine Information spätestens nach drei Wochen nichts mehr wert und der Patient massiv verunsichert: „Sie haben doch gesagt, zwei Wochen, jetzt sind wir schon mehr als drei Wochen weiter!“ Meine zeitliche Einschätzung muss also realistisch bleiben. Ich kann nur einen groben Richtwert angeben, der aus meiner Erfahrung resultiert. Auch das muss der Patient wissen. Selbst in der Fachliteratur sind die Angaben darüber, wie lange die jeweiligen Wundheilungsphasen dauern, längst nicht einheitlich. Betrachten wir beispielhaft die zweite Wundheilungsphase – die Proliferationsphase. In der Fachliteratur heißt es, dass die Proliferationsphase üblicherweise zwischen 3 Wochen (Haut-Gewebe) und 6 Wochen (tieferliegendes Gewebe wie Muskeln) andauert. Daher gebe ich hier zum Beispiel immer einen sehr groben Zeitraum von 3 bis 6 Wochen an und halte damit die Patienten-Erwartung (… das dauert doch bestimmt nicht lange…) bewusst niedrig (Abb. 5.1).

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Der Begriff Proliferation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet: Bildung oder Entstehung. In dieser Phase wird. neues Bindegewebe aufgebaut. Die Wunde wird auf diese Weise aufgefüllt. Gleichzeitig werden in der Proliferationsphase die Entzündungszellen abgebaut. Wenn alles nach den Regeln der Biologie verläuft, dann dauert das „üblicherweise“ – siehe oben – solange wie in der Fachliteratur angegeben. „Üblicherweise“ heißt: In der Regel. Aber es heißt damit auch, dass es Ausnahmen gibt. Etwa wenn der Patient blind der PECH-Regel gefolgt ist und sich durchweg geschont und nicht bewegt hat. Wenn ich den Patienten darüber aufgeklärt habe, dass die Proliferationsphase etwa sechs Wochen betragen kann, heißt das nicht, dass er sechs Wochen auf dem Sofa liegen soll. Er kann gemäß der FIT-Regel direkt mit dem Bewegungsprogramm anfangen. Aber immer schön nach dem orthodynamischen Prinzip: richtige Belastung, in richtiger Zeit, im richtigen Intervall, mit den richtigen Pausenzeiten. Entsprechend individuell, wie ich es ihm vorschlage. Ebenso kontraproduktiv ist Eis. Ist Eis im Spiel, wissen wir inzwischen, was passiert; vor allem, wenn es über eine längere Zeit angewendet wurde. Eis behindert die Wundheilung. Außerdem setzt Eis die Aktivität der Schmerzsensoren herab. Kälte hemmt die Nozizeption. Ist dieser Schutzmechanismus ausgeschaltet, kann eine neuerliche Schädigung die Entzündungsphase verlängern. Außerdem senkt Kryotherapie die Kerntemperatur ab. Der Organismus reagiert mit Kontraktion der Blutgefäße (Vasokonstriktion). Das kann eine Unterkühlung (Hypothermie) des Körpers zur Folge haben, die lebensbedrohend sein kann. Beides habe ich bereits beispielhaft anhand des obdachlosen Patienten anschaulich dargestellt (Kryotherapie: siehe auch 2. Kapitel). Im Zusammenhang mit Verletzung und Wundheilung scheint Eis in vielen Augen immer noch etwas Positives zu sein, weil durch die Vasokonstriktion die Schwellung abnimmt. Ein Eisbeutel mag bei einem verletzten Fußballspieler, der in der 77. Minute schnell wieder auf den Beinen und im entscheidenden Spiel sein soll, noch passen. Aber eigentlich ist das medizinisch betrachtet eine „Blendung“. Die Kühlung hat zwar einen kurzzeitigen Effekt auf das Ödem, wirkt aber grundsätzlich gegen die Heilkraft der Biologie. Ja, sicher, kurzfristig nimmt die Schwellung ab, da Eis den Anteil des Blutes im Gewebe verringert, eine Abnahme der Turgeszenz (Blutfülle) bedeutet und damit weniger Masse (Volumen). Aber eine verringerte Durchblutung können wir für die Wundheilung gerade jetzt gar nicht gebrauchen. Denn eine normale oder eine an die neue Situation angepasste und erhöhte Durchblutung transportiert vermehrt unterschiedliche Unterformen der Leukozyten in das Wundgebiet, die essenziell für die

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Bakterien- und Trümmerbeseitigung sind. Es wäre also töricht, die Durchblutung zu drosseln und diese Funktion zu unterbinden. Die Wundheilung wird gehemmt und die Qualität des neu entstehenden und aufzubauenden Gewebes entspricht nicht der optimalen Güte. Der Organismus versucht in diesem Fall das Qualitätsproblem durch Masse zu kompensieren. Es entsteht minderwertiges, dafür aber mehr neues Bindegewebe, sprich eine Hypergranulation. Die FIT-Regel macht genau das, was die Natur vorgesehen hat. So weit wie möglich wird die normale Funktion fortgesetzt. Der Betroffene wird kompetent und heilungsorientiert informiert und wenn nötig mit manuellen Techniken, Bewegungstherapie, Biokybernetischer Osteopathie und physikalischen Methoden behandelt. Mit der Anwendung der FIT-Regel arbeitet der Physiotherapeut nicht gegen, sondern mit den bio-logischen Heilungsprozessen. Er unterstützt die Zelltätigkeit. Die Zellen sind für die Wiederherstellung der Gefäße und darüber hinaus für jegliche Funktion zuständig. Sie verhindern das Eindringen von Bakterien, Viren und Giftstoffen. Sie produzieren fasziales Gewebe und übernehmen die Wundheilung. Für diese komplexe Funktion benötigt die Zelle Energie und eine optimale Wundtemperatur zwischen 37 °C und 39 °C. Wärme und Schwellung sind also unbedingt erwünscht, damit die Zellen in weitem Raum und unter optimaler Temperatur arbeiten können.

Die Immunantwort beginnt sekundengenau mit der Verletzung. Die FITRegel folgt dieser Tatsache. Sie lässt die Schwellung Schwellung sein und unterdrückt sie nicht. Sie lässt den Zellen Raum für ihre Aktivitäten. Sie sorgt für Energie in Form von Wärme. Sie sorgt für Mobilität des Patienten und hat somit auch einen positiven Einfluss auf dessen Psyche sowie auf den gesamten Heilungsverlauf.

6 Warum wir Eis kaltstellen müssen

Unsere Zellen sind Meister der D.I.Y.-Heilung. Nach dem Motto „Selbst ist die Zelle“ führen sie die Reparatur oder Regeneration von Gewebe eigenständig durch. Dazu müssen sie jedoch mehr als normal versorgt werden. Mehr als normal heißt: Mehr als im gesunden, unverletzten Zustand. In diesem Fall ist eine starke Durchblutungszunahme nötig. Das hat zur Folge, dass sich Entzündungszeichen wie Erwärmung und Rötung ausbilden, gefolgt von einer Schwellung. Damit die Zellen ganze Arbeit leisten können, brauchen sie Platz. Nichts anderes bedeutet die Schwellung. Sie bedeutet aber auch eine Wundtemperatur von 38 °C (±1,0 °C). Kälte und Immobilisation hätten hier eindeutig einen schädigenden Einfluss auf die Lymphgefäße. „Das lymphatische System ist ein Teil des Abwehrsystems, das Wirbeltiere gegen Krankheitserreger, Fremdpartikel und krankhaft veränderte Körperbestandteile schützt. Es gliedert sich in die lymphatischen Organe und das Lymphgefäßsystem.“1 Zusätzlich lösen sich die endothelialen Zellen bei Kälteanwendung voneinander und driften auseinander. Endothelzellen nennt man die flachen Zellen, die die Innenseite der Blutgefäße auskleiden. Auf diese Weise entsteht eine Hyperpermeabilität (Durchlässigkeit der Gefäßwand), wodurch Eiweißmoleküle aus den Blutgefäßen auswandern. Dadurch kommt es zu einer Aufhebung oder sogar Umkehrung des kolloidosmotischen Drucks. „Der kolloidosmotische

1 „Lymphatisches

System.

System“, Quelle: wikipedia.org, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Lymphatisches_

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_6

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Druck, kurz KOD, ist der anteilige osmotische Druck, der durch Kolloide in einer Lösung ausgeübt wird. Die Höhe des kolloidosmotischen Drucks wird durch die Anzahl der gelösten Teilchen (Kolloide) bestimmt.“2 Die gesteigerte Metabolik (Stoffwechsel) benötigt während der Wundheilung vermehrt Sauerstoff. Ein Sauerstoffmangel (Hypoxie) im Wundgebiet führt zu einer gestörten Wundheilung. Die Hypoxie hat eine Gewebeazidose (Übersäuerung) zur Folge, die wiederum das Ödem verstärkt. Eine übermäßig starke Schwellung hat den Nachteil, dass die Diffusionsstrecke von den Kapillaren zu den Zellen zunimmt. Übermäßig heißt: Eine Schwellung ist gut, darf aber auch nicht zu stark sein. Hier können wir uns auf die Biologie verlassen, die es perfekt macht. Auf eine übermäßig starke Schwellung reagiert das Wundgewebe mit vermehrtem Kapillarbau (strukturelle Hyperkapillarisation). Das zeigt wie essenziell eine ausreichende Durchblutung ist. Aus diesem Grund ist auch eine Immobilisation (Pause) kontraproduktiv. Es fehlt an funktionellen Informationen und damit verbesserter Durchblutung. Kompression (bzw. Compression) ist ebenfalls von Nachteil. Sie drückt mechanisch die Blutgefäße zu. Die daraus resultierende Ischämie (verminderte Gewebedurchblutung) und Hypoxie (Sauerstoffunterversorgung) führen zu einer Azidose (Übersäuerung). Diese wird durch die vorhandene schlechtere Durchblutung nicht neutralisiert und verbleibt im Gewebe. Hochlagerung ist ebenfalls kontraproduktiv, da die Durchblutung gegen die Schwerkraft schwieriger ist und die ganze negative Kaskade unterstützt wird. Alle hier beschriebenen negativen Effekte resultieren aus der PECHRegel, bei der Eis die zentrale, Stör-Rolle spielt.

Eis ist nicht nice! Das Nervensystem registriert, leitet und verarbeitet Informationen. Alle Funktionen des menschlichen Körpers stellen eine Information dar. Neuronen sind auf eine ausreichende Sauerstoffversorgung angewiesen, die temperaturabhängig ist. Wird die Sauerstoffversorgung (etwa durch Eis) gedrosselt, entstehen Funktionsstörungen. Ein Beispiel: Die

2  „Kolloidosmotischer Druck“, Quelle: doccheck.com, URL: https://flexikon.doccheck.com/de/ Kolloidosmotischer_Druck.

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­ eitgeschwindigkeit wird herabgesetzt. Wenn der Sauerstoff-Mangelzustand L länger anhält, entstehen irreversible strukturelle Schädigungen an Neuronen. Es wird behauptet, dass die Nervenfunktionsstörungen, wie eine geringere Leitgeschwindigkeit, Schmerzen lindern. Tatsächlich sind ischämische Schmerzen an und durch Nerven sehr unangenehm. Bei einer Hypoxie oder Ischämie werden vermehrt Neuropeptide (Botenstoffe von Nervenzellen) und Zytokine (Botenstoffe, die Abwehrzellen aktivieren) in den Synapsen freigesetzt. Das führt zu Schmerzen, die erst bei einem vollständig zum Erliegen kommen der Nervenleitung erlöschen. Durch eine verringerte Funktion und sogar Stillwerden der Neuronen wird die Informationslage massiv verschlechtert. Zytokine, Chemokine, Neurotransmitter, Neuropeptide, Hormone und andere Signalmoleküle fasse ich unter dem Begriff Informone zusammen. Diesen Begriff werden Sie im Zusammenhang mit Wundheilung in keiner Suchmaschine finden. Es ist eine Wortschöpfung, ein Terminus, den ich für mich vor langer Zeit entwickelt und im August 1999 zum ersten Mal in Krankengymnastik – Zeitschrift für Physiotherapeuten3, publiziert habe. Leider habe ich versäumt, diesen Begriff in Verbindung mit meinem Namen zu prägen, um ihn somit für mich zu reklamieren. Aber das ist eine andere Geschichte… Zurück zum Eis: Wenn Kälte zu lange oder zu intensiv einwirkt, entstehen manifeste strukturelle Schäden der Lymphgefäßwand. Eine lokale Wärmetherapie optimiert die Wundheilungsprozesse. Bei einer offenen Verletzung sollte man einen lockeren Verband anlegen. Dieser schützt die Verletzung gegen eindringende Bakterien, Viren, Protozoen und Schmutz. Der Verband trägt auch dazu bei, dass die Wunde lokal nicht zu viel Wärme abgibt; er dient dem Wärmeschutz und erwärmt die offene Wunde. Ähnlich einem Schal, den man um den Hals legt.

Auch bei geschlossenen Muskel- und Bänderverletzungen sind höhere Temperaturen von Vorteil. Die Reißfestigkeit des faszialen Gewebes nimmt zu. Die Sauerstoffversorgung der Wunde ist ebenfalls temperaturabhängig. Eine höhere Temperatur verbessert die Sauerstoffbereitstellung in der Wunde signifikant.

3 „Wie

funktioniert Kollagen Typ I?“, H.J.M. Brils et al., Quelle: Krankengymnastik – Zeitschrift für Physiotherapeuten, Teil I „Grundlagen“, 51. Jg. (8/1999), Seiten 1370–1378, Teil 2 „Ein Beispiel zur Kollagensynthese“, 51. Jg. (9/1999), Seiten 1552–1559, Richard Pflaum Verlag, München 1999, (Titel der Zeitschrift heute: pt – Fachzeitschrift für Physiotherapeuten).

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Negative Effekte der Kryotherapie (EisAnwendung) Die Kryotherapie hat negative physiologische Effekte auf: Temperatur, Entzündung, Metabolismus, Blutzirkulation, Muskelhypertonus, Gewebesteifheit und Schmerzwahrnehmung. Kryotherapie wirkt der angestrebten bio-logischen Wundheilungsprozessen direkt entgegen. Verzögerte Reversibilität nach Eis Die Abnahme der Gewebetemperatur nach Kryotherapie ist eine logische Folge. Umgekehrt: Wenn die Kälteapplikation beendet wird, steigt die Gewebetemperatur wieder an. Der Anstieg der Temperatur verläuft jedoch deutlich langsamer als die Abnahme der Temperatur durch Kryotherapie. Ein Finger, der gut eine halbe Stunde in 1 °C kaltem Wasser gehalten wurde, braucht immerhin 20 min, um nach Herausnahme wieder auf seine Normaltemperatur zu kommen. Ein Fuß, eine Hand, ein Sprunggelenk oder ein Unterarm benötigen nach 30 min Kälteanwendung sogar 150 min, um wieder ihre normale „Betriebstemperatur“ zu erlangen. Reduzierung der Entzündung durch Eis Die Effekte auf traumatische Entzündungen wurden nicht weitreichend untersucht. In den meisten Studien wurden chirurgische Wundheilung oder im Labor (in vitro) gesetzte Entzündungen untersucht. In solchen Untersuchungen befand man zwar eine Verzögerung der Entzündungsreaktion, aber ansonsten keine wesentlichen positiven Wirkungen, die Eis rechtfertigen würden. Im Gegenteil: Kälteanwendung verringert die Effekte von Histamin auf die Blutgefäßwand. Die Konsequenz: Blutgefäße werden weniger stark erweitert, wodurch die Blutzufuhr lokal verringert wird. Kälteanwendung reduziert zudem die Tätigkeit der neutrophilen Granulozyten. Granulozyten sind eine Unterform der weißen Blutkörperchen und Neutrophile bekämpfen Krankheitserreger. Und: Anwendung von Kälte setzt zum Beispiel auch die Kollagenase-Aktivität herab. „Bei der Benennung von Enzymen wird ein Enzym durch Hinzufügen von -ase an das Ende des Namens des Substrats bezeichnet, auf das das Enzym einwirkt. […] Kollagenasen sind Enzyme, die Kollagen abbauen. Sie wirken bei der Wundheilung und werden zur Behandlung einiger Bindegewebe-Erkrankungen eingesetzt.“4 4  „Biologie Präfixe und Suffixe: -ase“, Quelle: greenlane.com, URL: https://www.greelane.com/de/ wissenschaft-technologie-mathematik/wissenschaft/biology-prefixes-and-suffixes-ase-373640.

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Abnahme der metabolischen Aktivität durch Eis Kälte setzt die Aktivitäten der Zellen herab. Sie arbeiten nicht mehr mit voller Kraft. Dazu kommt die Abnahme der Blutzirkulation. Sie trägt entscheidend dazu bei, dass die Zellen nicht genug „Lebensmittel“ geliefert bekommen. Sie erhalten weniger Sauerstoff, weniger Bau- und Brennstoffe sowie weniger Energie. Die Frage hier ist: Was war der ursprüngliche Auslöser der Kausalkette? Bekommen die Zellen weniger und stellen darum ihre Arbeit ein oder reduzieren sie ihre Produktion, weil es ihnen kalt ist? Die Frage ist rhetorischer Natur… Nehmen wir den Sauerstoff. Die gängige Argumentation lautet folgendermaßen: Es ist zu wenig Sauerstoff im Gewebe (Hypoxie). Dadurch könnte es zu einem Absterben der Zellen kommen. Also lasst uns die Zellen kühlen, damit sie länger überleben. Aber Achtung: Durch das Kühlen kommt es zu einer Minderdurchblutung, die den Sauerstofftransport noch zusätzlich behindert. Das kann nicht gewollt sein. Natürlich gibt es Ausnahmen. Die gibt es immer. Stichwort: Organtransplantation. Wenn die Spenderleber vom einen in das andere Krankenhaus transportiert wird, muss es gekühlt werden, damit es überlebt. Aber daraus Schlussfolgerungen für die Wundheilung zu ziehen, ist in meinen Augen ziemlich gewagt. Und nochmal Achtung: Es lässt sich sogar sagen, dass einige Experten die Sinnhaftigkeit der Kälte als Schutzmaßname des Transplantates während des Transports hinterfragen und daher nach Alternativen forschen. Die Wissenschaftspublikation UNIKATE der Universität Duisburg-Essen veröffentlichte Untersuchungen, die die Fachärztin und Expertin für Organkonservierung, Prof. Dr. med. Ursula Rauen, gemeinsam mit dem Humanmediziner und Professor für Transplantationschirurgie, Andreas Paul, durchführte: „Ausgehend von Befunden […] der Lebertransplantation, die zeigten, dass die Zellschädigung bei Sauerstoffmangel in der Wärme überwiegend die für die organspezifische Funktion wichtigen Zellen (Hepatozyten), bei Kaltlagerung hingegen vor allem die die Blutgefäße auskleidenden Zellen (Endothelzellen) betrifft, begann Ursula Rauen in der Arbeitsgruppe von Prof. Herbert de Groot (Institut für Physiologische Chemie) die Mechanismen dieser erhöhten Sensitivität der Endothelzellen gegenüber der Kaltlagerungsschädigung in Zellkultur zu untersuchen. […] In diesen Untersuchungen stellte sich heraus, dass die Protektionsmaßnahme Kälte nicht nur die Zellschädigung durch Energiemangel verzögert, sondern – für viele Zelltypen – auch selbst einen erheblichen Schädigungsfaktor darstellt. […] ‚In

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den Untersuchungen an isolierten Zellen konnten wir zeigen, dass Kälte eine Schädigung auslöst, die durch hochreaktive Sauerstoffspezies [Reactive Oxygen Species, kurz: ROS] vermittelt wird. Der Trigger Kälte führt dabei zunächst (innerhalb der ersten 30 bis 120 min der Lagerung) dazu, dass in den Zellen Eisen-Ionen vermehrt in einer freien, nicht fest proteingebundenen Form vorliegen.‘“5 Nervenschädigung durch Eis Zellen sind abhängig von einer optimalen Blutversorgung mit Brenn- und Nährstoffen sowie mit Sauerstoff. Aber auch die Abfallprodukte sollten zügig entfernt werden. Die mangelnde Versorgung mit Sauerstoff (durch Eis-Anwendung) ist hier aber das größere Problem. In Fachkreisen wissen alle, dass dieser Umstand zum Absterben der Zellen führt. Es gibt Zellen, die wenig Sauerstoff benötigen wie etwa Chondroblasten (Knorpelzellen). Und es gibt Zellen, die auf viel Sauerstoff angewiesen sind. Etwa die Neuronen des Nervensystems. Wird durch Eis die Blutversorgung der Neuronen gedrosselt, kommt es zu Funktionsstörungen. Ein Beispiel: Die Leitgeschwindigkeit wird herabgesetzt. Wenn der Mangelzustand länger anhält, entstehen irreversible strukturelle Schädigungen an den Neuronen. Oft wird behauptet, dass Nervenfunktionsstörungen – wie eine geringere Leitgeschwindigkeit – Schmerzen lindern. Dabei wird jedoch gerne unterschlagen, dass ischämische Schmerzen an und durch Nerven sehr unangenehm sind. Lymphgefäßschädigung durch Eis-Anwendung Eis hat einen schädigenden Einfluss auf die Lymphgefäße. Wenn die Kälte zu lange oder zu intensiv ist, werden die Strukturen beschädigt. Zu erwarten sind zum Beispiel Funktionsstörungen, die zu Beeinträchtigungen im Lymphabfluss führen. Die endothelialen Zellen verlieren ihre Tight und Gap Junctions. Tight Junctions haben die Aufgabe, Flüssigkeit daran zu hindern, zwischen Zellen durchzutreten. Gap Junctions ermöglichen den Transport von Ionen, Wasser und anderen Stoffen zwischen benachbarten Zellen.

5 „Transportschäden von Transplantaten“, Quelle: UNIKATE 44/2013, URL: https://www.uni-due.de/ unikate/pdf/UNIKATE_2013_044_09_Rauen_Paul.pdf.

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Minus-Grade: Minus für die Wundheilung Leicht zu merken: W wie Wundheilung braucht W wie Wärme. Obwohl schon lange bekannt ist, dass Wundheilungsprozesse bei kalten Außentemperaturen verlangsamt ablaufen, hat diese bio-logische Tatsache immer noch keinen festen Platz in allen Köpfen der Medizin gefunden. Minus ist negativ! Eis reduziert den Stoffwechsel und damit die Aktivität der Zellen. Weiterhin entstehen Vasokonstriktion und funktionale Hypokapillarisation (Verschließen der Kapillaren), die eine schlechtere Versorgung der Zellen darstellen. Granulation, Epithelisation und Wundkontraktion verzögern sich. Bei Muskel- und Bänderverletzungen sind unbedingt höhere Temperaturen ratsam. Eine lokal angewandte Wärmetherapie beschleunigt die Wundheilungsprozesse. Die Reißfestigkeit des faszialen Gewebes nimmt zu. Die Sauerstoffversorgung der Wunde ist ebenfalls temperaturabhängig. Eine höhere Temperatur verbessert die Sauerstoffbereitstellung in der Wunde signifikant. Untersuchungen an gesunder menschlicher Haut ergaben, dass bei Temperaturen um 43 °C – im Vergleich zu 36 °C – eine deutlich erhöhte Hämoglobin-Oxygenierung festzustellen ist. Hämoglobin färbt nicht nur das Blut rot. Die roten Blutkörperchen sind für den Sauerstofftransport zuständig. Oxygenierung bezeichnet die Hämoglobin-Bindung an Sauerstoffmoleküle. Eine erhöhte Oxygenierung bedeutet mehr Sauerstofftransport. Durch die gesteigerte Metabolik wird während der Wundheilung vermehrt Sauerstoff benötigt. Bei Kollagensynthese, Mitose, Migration und Differenzierung durch und von Fibroblasten und Epithelzellen wird deutlich mehr Sauerstoff verbraucht. Septische Wunden (keimbehaftete) verbrauchen am meisten Sauerstoff. Ein Sauerstoffmangel im Wundgebiet führt zu gestörter Wundheilung. Die Hypoxie hat eine Gewebeazidose zur Folge, diese wiederum verstärkt das Ödem. Eine zu starke Schwellung hat den Nachteil, dass die Diffusionsstrecke des Sauerstoffs von den Kapillaren zu den Zellen länger wird. Das Wundgewebe reagiert mit vermehrtem Kapillarbau. Kompression drückt mechanisch die Blutgefäße zu. Die daraus resultierende Ischämie und Hypoxie führen zu einer Azidose. Die H3O+und H+-Ionen können durch die schlechtere Durchblutung nicht abtransportiert werden und bleiben im Gewebe zurück. Hochlagern ist ebenfalls kontraindiziert, da die Durchblutung gegen die Schwerkraft schwieriger möglich ist.

46     H. J. M. Brils und J. Brils Wundheilung benötigt also Sauerstoff, Brenn- und Baustoffe, Wärme, zelluläre Aktivität sowie zwingend Information. Das bedeutet, dass eine ausreichende Durchblutung essenziell ist. Darum ist eine Pause kontraproduktiv, es fehlt an funktionellen Informationen und eine durch die Funktion verbesserte Durchblutung. Eis ist hier keine sinnvolle Hilfe. Außer einer kurzfristigen Schmerzlinderung hat es nur negative Folgen für die Wundheilung. Eis initiiert eine Vasokonstriktion mit entsprechend schlechterer Durchblutung und kühlt zusätzlich das Wundgewebe, mit der Folge einer reduzierten Zellaktivität.

7 Die Verletzung: Stress für den Organismus

Einer Wundheilung geht immer eine Verletzung voraus. Das ist eine Binsenweisheit. Aber damit ist es für mich auch ganz logisch, zunächst auf das Thema Verletzung zu schauen, bevor wir detailliert auf die Wundheilung zu sprechen kommen. Was ist eine Verletzung – beziehungsweise, wann kommt es dazu? Akademisch klingt das in etwa so: Bei einem Ungleichgewicht zwischen Belastung und Belastbarkeit einer Struktur entsteht infolge einer plastischen Deformation die Verletzung. Das kann zum Beispiel eine Zerrung (Distorsion) sein. „Eine Distorsion ist eine Verletzung der Bänder oder Gelenkkapsel, die mit starken Schmerzen und einer eingeschränkten Beweglichkeit des Gelenks einhergeht. Am häufigsten tritt eine Distorsion im Rahmen von Sportunfällen auf. Meistens sind bei einer Distorsion Sprunggelenk, Knie oder Handgelenk betroffen.“1 Eingangs des Buches hatte ich bereits erwähnt, dass die am häufigsten betroffenen Schwachstellen des Profisportlers die Sprunggelenke, Kniegelenke sowie die Muskeln von Ober- und Unterschenkel sind. In diesen Bereichen kommt es zu den meisten Verletzungen. Egal wie sie hervorgerufen wurde – ob mechanisch, thermisch, chemisch, toxisch, enzymatisch, allergen oder durch Strahlung – jede Verletzung ist eine Stresssituation für den Organismus. Und jede Verletzung wird im Anschluss durch das Stressbewältigungssystem des Organismus beurteilt.

1 „Distorsion“,

Quelle: netdoktor.at, URL: https://www.netdoktor.at/krankheiten/distorsion/.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_7

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Das ist ein Automatismus der Biologie. Situationsabhängig wird das System daraufhin Prioritäten setzen, die entsprechende Reaktionen zur Folge haben. Dabei ist die Wundheilung nicht nur situationsabhängig, sie hängt auch grundsätzlich vom Status quo des gesamten Organismus ab. Darum ist jede generelle Aussage über den zeitlichen und qualitativen Verlauf des Heilungsprozesses zumindest mit Vorsicht zu genießen. Der Organismus wird Prioritäten setzen, diese sind entweder im System verankert oder situationsgebunden. Rein theoretisch wäre es möglich, die Verletzungsqualität und deren Ausmaß (Quantität) genau zu umschreiben und dabei alle Umweltbedingungen und weitere hineinspielende Faktoren festzulegen. Da es aber unendlich viele zu berücksichtigende Faktoren gibt, ist keine exakte Aussage möglich. Und selbst wenn ich es schon an der ein oder anderen Stelle im Buch erwähnt habe: Die Wundheilung ist ebenso ganz maßgeblich von Informationen ab, die der Betroffene erhält. Darum ist das beruhigende Einwirken des Physiotherapeuten so wichtig. Die Bedeutung der Kommunikation zwischen dem Patienten und dem Therapeuten wird aber noch immer unterschätzt oder sie wird wie ein Stiefkind behandelt – nachlässig, lieblos. Allein dieser Umstand kommt einer (seelischen) Verletzung gleich.

Verletzungen können nicht nur verschiedenste Ursachen haben, sie können auch unterschiedlicher Art sein. Stress löst dabei entsprechend unterschiedliches Verhalten und physiologische Reaktionen aus. Ein Beispiel: Jeder, der sich beim Versuch die 100 m in 10 s zu laufen, unvermittelt verletzt, reagiert in diesem Moment auf diese Verletzung scheinbar ziemlich gleich – jedenfalls für einen Zuschauer, der die Situation von außen beobachtet: Sportler am Boden. Schmerzverzerrtes Gesicht. Was der Zuschauer nicht sieht: Im Inneren wird diese Situation von jedem Sportler anders empfunden. Und dabei ist es egal, über welchen Sport wir hier reden. Wer im Moment der Verletzung von Tennis-Star Alexander Zverev in Paris im Publikum war oder die French Open 2022 am Bildschirm verfolgte, hat einen sich am Boden windenden Zverev gesehen; das Gesicht von Schmerz gezeichnet; schreiend vor Pein. Aus Sicht des Publikums wäre ein Hobby- Tennisspieler, der sich die gleiche Verletzung in seiner Freizeit zugezogen hätte, genauso anzusehen. Aber innen drin sieht es bei jedem Sportler – ob Profi oder Hobby – anders aus. Zurück zum 100-Meter-Lauf: 10 s auf 100 m sprinten Menschen nur aus zwei Gründen. Erstens: Sie laufen im sportlichen Wettbewerb gegen einen

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Gegner, der ihnen dicht auf den Fersen ist. Oder zweitens: Sie flüchten vor einer Bedrohung, etwa einem Bären, der hinter ihnen her ist. Will sagen: Beide laufen, aber der Läufer im Wald zeigt eine Fluchtreaktion; der Läufer im sportlichen Wettkampf eine Kampfreaktion. Wenn wir jetzt noch den internen Vergleich anstellen und den Vorauslaufenden mit seinem Verfolger vergleichen, werden wir auch hier Unterschiede erkennen. Beiden Läufern geht es um Schnelligkeit, trotzdem besteht zwischen den beiden ein enormer Unterschied. Derjenige, der flüchtet, bestimmt die Strecke. Der Jäger (ob jagender Sportler oder jagender Bär), muss ihm folgen. Der, der flüchtet, steht unter Druck – er darf nicht als erster aufgeben. Der Jäger (ob Zweibeiner oder Vierbeiner) hat wenig bis gar keinen Druck. Er kann auf eine günstige Situation spekulieren. Verletzt sich der Gejagte während der Flucht, läuft der Jagende unbehindert weiter. Verletzt sich dagegen der Jagende, wird er direkt abbrechen, um weitere Verletzungen zu verhindern. Stress löst bei beiden entsprechend unterschiedliches Verhalten und physiologische Reaktionen aus; und ihr individuelles System setzt individuelle Prioritäten. Die absolute Priorität nach einer Verletzung heißt: Überleben. (Wobei auch die Verletzung bereits eine Bedrohung darstellen kann.) Der Überlebenswille ist allen Lebewesen zu eigen. Natur will überleben. Stichwort: Arterhaltung. Wenn ein Hirsch in der Brunft mit einem Konkurrenten um die Führung im Rudel kämpft und er sich während der Kampfhandlungen verletzt, wird er sich zurückziehen, damit er vielleicht in der nächsten Brunft wieder eine Chance bekommt. Wenn derselbe Hirsch gegen ein Rudel Wölfe kämpft, wird er trotz Verletzung weiterkämpfen, bis er stirbt oder die Wölfe von ihm ablassen. Punkt. Ab hier rücken wir die situative Ebene etwas in den Hintergrund und fragen uns, was „Überleben“ für die lokale Ebene, sprich: für die Verletzung selbst bedeutet? Die lokale Ebene würde gerne den Heilungsprozess initiieren, aber bestimmte Parameter aus der situativen Ebene spielen sich in den Vordergrund, mischen sich störend ein und bestimmen, dass die Energie, die eigentlich jetzt für die Heilung benötigt würde, für prioritäre Reaktionen (Flucht? Kampf? Überleben!) notwendig ist. Für die Wundheilung hat das grundsätzliche Bedeutung – und wir halten fest: Es gibt Situationen, in denen keine optimalen Voraussetzungen für Heilungsprozesse herrschen. Und auch für das Schmerzempfinden gibt es Situationen, in denen Schmerzen verdrängt werden: Flucht, Kampf, Überleben.

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In seinem Buch „Der Tag, an dem mein Bein fortging“2 berichtet der emeritierte Professor für Neurologie und Psychiatrie der Columbia University, Oliver Sacks, wie er mit abgerissenem Musculus quadriceps femoris (aus vier Muskelköpfen bestehender Oberschenkelmuskel) einen Berg hinunterrannte, weil ein Stier hinter ihm her war – zumindest glaubte er den Stier hinter sich zu wissen. Schmerzen habe Sacks bei der Flucht nicht verspürt. Jeder könnte jetzt dagegenhalten: „Aber wenn man sich verletzt, tut es doch weh!“ – Das aber ist nicht ganz richtig. Nicht jeder, aber einige unter Ihnen werden diese Erfahrung gemacht haben. Am Unfallort stellen Sanitäter immer wieder fest, dass eine gewisse Anzahl der Verletzten keine oder verhältnismäßig geringe Schmerzen zeigt. Sogar bei Einlieferung in der Unfallklinik ist das oft noch so. „Fast jeder kennt zumindest milde Formen des psychogenen Schocks. Behandelt wird er fast nur in schweren Fällen, bei ohnmächtigen oder desorientierten Patienten etwa. So unangenehm Schocks auch sein mögen, sie waren eine Überlebensstrategie unserer Vorfahren. Traf ein früher Homo sapiens etwa auf Feinde, verwandelt der Schock ihn binnen weniger Sekunden in eine Kampfmaschine […], die Ausdauer klettert rasant nach oben, Schweiß vermindert die Griffigkeit, Feinde können ihn nur schwer festhalten, vor allem aber sind geschockte Menschen schmerzunempfindlich. Es kommt zu einer starken Stressreaktion, Cortisol, das ist ja ein körpereigenes Hormon, nicht nur ein Dopinghormon, das wird in extremem Maße ausgeschüttet, und Kortison selber ist auch ein Schmerzmittel, es führt dazu, dass der Patient weniger Schmerzen hat und auch die nicht mehr empfindet, auch die Oberflächen des Körpers sind nicht mehr so empfindlich, Boxer zum Beispiel, die haben so viel Adrenalin und so viel Cortisol ausgeschüttet, die merken den Schmerz nicht.“3 So Professor Edmund Neugebauer, Direktor am Institut für Forschung in der operativen Medizin der Universität Witten/Herdecke. Weiter könnte ich die Behauptung aufstellen: „Wenn man sich verletzt, entsteht eine Entzündungsreaktion, die ihren Höhepunkt nach 48 Stunden hat.“ – Auch diese Aussage ist unrichtig. Wenn sich der Verletzte in einem sogenannten Arousal (psychischer Zustand höchster Aufmerksamkeit, Wachheit, Reaktionsbereitschaft) befindet, weil er Panik hat, also eigentlich

2 Oliver Sacks, „Der Tag, an dem mein Bein fortging“, Quelle: Rowohlt Verlag; 21. Auflage, Hamburg 2009. 3 „Schock – Überlebensstrategie des Körpers“, Quelle: deutschlandfunk.de, URL: https://www.deutschlandfunk.de/schock-ueberlebensstrategie-des-koerpers-100.html.

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auf Flucht eingestellt ist, werden sich seine Wundheilungsprozesse nicht an die Regeln halten – um es einfach zu sagen. Wenn ich diesem Patienten nach 72 h Antibiotika verabreiche, weil die Entzündung zu lange dauert, bedeutet das höchstens, dass ich von Wundheilungsprozessen und phylogenetisch entstandenen Stressbewältigungssystemen nicht viel verstanden habe. Falls sich jemand während einer Fluchtreaktion verletzt, werden die lokalen Wundheilungsreaktionen zumindest verzögert eintreten. Ein Fluchtimpuls muss nicht tatsächlich eine Flucht im Sinne von „Wegrennen“ auslösen. Flucht kann auch eine Situationsveränderung sein. Beispiel: Befindet sich ein Mensch in einer sozialen Schieflage oder hat er Stress am Arbeitsplatz, erfährt Mobbing, bedeutet dies Dauerflucht oder Kampflage. In dieser Situation werden seine normalen Verteidigungssysteme nicht optimal funktionieren. Stattdessen wird er krank und entgeht so der bedrohlichen Situation. Auch das ist eine Art Flucht. Und jetzt nicht flüchten, bitte! Es folgt ein sehr sperriger Begriff, den ich in einem späteren Kapitel noch einmal aufgreifen werde: Psychoneuro endokrinoimmunologie. Dabei handelt es sich um ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das sich mit den Wechselwirkungen zwischen Psyche, Nervensystem, Immunsystem und Hormonsystem beschäftigt. Psychoneu roendokrinoimmunologische Untersuchungen belegen, dass physische und psychische Stresssituationen das Immunsystem negativ beeinflussen. Da bei Leistungssportlern oft physische und psychische Komponenten vorhanden sind, ist hier besondere Vorsicht geboten. Betrachten wir als nächstes (zur Veranschaulichung) eine Schnittwunde: Aufgepasst! Ich schneide gerade eine Zwiebel für die Suppe, das Messer rutscht mir aus und die Klinge gräbt sich in meinen Daumen. Mist! Ich sehe wie das Blut läuft. Was nun ebenfalls sofort abläuft, sind kaskadenartige Reaktionen – und zwar auf verschiedenen Ebenen – die ebenso gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen verarbeitet werden. Diesen Vorgang nennt man parallele Verarbeitung. Währenddessen frage ich mich, wo das verdammte Verbandmaterial sein könnte… Den Schnitt im Daumen habe ich durch viele Sensorsysteme registriert: Meine Augen sahen es passieren. Meine Hand, die das Messer führte, merkte, dass es ausrutschte. Mein Daumen meldete den Schnitt über Nozi-, Mechano-, Thermo-, Chemo-, und andere -sensoren. Alle Informationen zusammen lösten Axonreflexe, spinale Reflexe und zentrale Reflexe aus. Nehmen wir nur den Axonreflex. Der Axonreflex ist kein Reflex im landläufigen Sinne, weil keine Synapsen beteiligt sind, dieser Vorgang also ohne synaptische Impulsübertragung erfolgt. Punkt. Ich möchte Sie an dieser

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Stelle damit verschonen, auch noch auf spinale und zentrale Reflexe einzugehen. Greifen Sie lieber, falls Ihnen danach ist, reflexartig zu einem Fachbuch… (Sie merken es bestimmt schon: Ab hier kann es sein, dass Ihnen der Stoff aufgrund seiner Komplexität etwas mehr abverlangen wird als bisher. Daher sollten Sie sich als Leser in einen Zustand höchster Aufmerksamkeit, Wachheit und Reaktionsbereitschaft befinden. Aber flüchten müssen Sie deshalb jetzt immer noch nicht.) Die nach oben in Richtung „Schaltzentrale“ (Hirnstamm bis Neokortex) verlaufende Information (Schnitt mit Messer!) passiert im Hirn den Locus caeruleus. Der Locus caeruleus ist ein Teil des Formatio reticularis (stark vereinfacht ist das ein Neuronen-Netzwerk im Hirnstamm). Der Locus caeruleus bewertet die Verletzung betreffenden Informationen zuerst und löst über das Aszendierende Reticuläre Aktivierende System (kurz: ARAS) ein aspezifisches Arousal (unspezifischer Grad der Aktivierung) aus. „ARAS bezeichnet eine Gruppe diffus verteilter Kerngebiete im Formatio reticularis, die für die allgemeine Aktivierung verantwortlich sind.“4 Aber Achtung: Information ist keine Einbahnstraße. Nach unten (d. h. spinal über das Rückenmark bis beispielsweise in die Muskeln) wird über retikulospinale Bahnen (vom Hirnstamm – also von oben – kommend zum Rückenmark) eine allgemeine Tonuserhöhung (Spannung durch aspezifische Muskel-Aktivierung) ausgelöst. Dies geschieht durch eine starke Verringerung der gezielten zentralen Hemmung, die sonst immer vorhanden ist. Was oft nicht bedacht wird: Spannung ist für den Muskel eigentlich der Normalzustand. Anders gesagt: Der Muskel wäre ständig angespannt, würde er nicht dauernd von der „Schaltzentrale“ kontrolliert und daran gehindert. Unkontrolliert – also im Stadium eines aspezifischen Arousals – gehen beide, quergestreifte sowie glatte Muskulatur, in Hypertonus (Überspannung). In der Peripherie entstehen so eine Vasokonstriktion sowie eine erhöhte Muskelspannung. – Das Messer fällt mir aus der Hand. – Die ganze quergestreifte Muskulatur spannt an, aber die Beugemuskulatur in der Regel mehr. Man spricht von einer aspezifischen Schutzreaktion (dem besagten Arousal). Im Gehirn wird das Problem inzwischen rasch weiterverarbeitet; die Verletzung und die Ursache der Verletzung werden bewertet. Danach wird schnellstens über mögliche Reaktionen „nachgedacht“, wobei Bewältigungsstrategien (Coping) und eigene Fähigkeiten und Erfahrungen

4 „ARAS“,

Quelle: doccheck.com, URL: https://flexikon.doccheck.com/de/ARAS.

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eingebracht werden. „Coping beschreibt in der Psychologie den Umgang eines Menschen mit belastenden Lebensphasen und einschneidenden Erlebnissen.“5 Coping leitet sich vom englischen Verb „to cope with“ ab (etwas bewältigen). Findet eine erfolgreiche Bewältigung des Problems statt, kommt es lediglich zu einer kurz anhaltenden aspezifischen Aktivierung (phasische Aktivierung). Wird das Problem nicht bewältigt, dann bleibt eine tonische aspezifische Aktivierung bestehen und es werden Neubewertungen vorgenommen. Wird keine Lösung gefunden, dann bleibt das System in einem aspezifischen Arousal, dass durch die aspezifische Aktivierung zu somatischen Beschwerden führen kann. Das stört und verschlechtert die Wundheilung. Auch hier sei noch einmal deutlich gesagt, welche Bedeutung Information hat, die ein gut ausgebildeter, bio-logisch denkender und handelnder Physiotherapeut geben kann. Durch positive Information gerät der Patient erst gar nicht in diese Situation oder er beruhigt sich wieder. Allein die Kommunikation zwischen dem Therapeuten und dem Patienten würde ein ganzes Buch füllen…

Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten der Bewältigung. Man kann zum Beispiel versuchen, die veränderten Bedingungen, die durch eine ungewöhnliche Situation hervorgerufen wurden, wieder zu normalisieren – und zwar durch bestimmte Strategien, die der Stressbewältigung dienen. Sehr bekannt: flight-or-fight-or-fright. Walter Cannon, US-amerikanischer Physiologe und Psychologe, prägte diese Begriffssequenz ab 1915. Sie beschreibt die mögliche sofortige körperliche und seelische Anpassung von Lebewesen in Gefahrensituationen. „Der britische Psychologe Jeffrey Alan Gray erweiterte 1988 die Cannon-Sequenz. Die freeze-Phase zeichnet sich aus durch eine erhöhte Aufmerksamkeit (Hypervigilanz) und Bewegungslosigkeit. Der Grund für das Erstarren ist die Hoffnung, vom Raubtier übersehen zu werden, da die Augen am ehesten auf Bewegung ansprechen. Die Sequenz flight-or-fight hat Gray gegenüber Cannon umgedreht, da dieses eher dem Verhaltensmuster entspricht. Wenn weder Flucht noch Kampf eine realistische Option sind, kann die Phase fright, also Furcht eintreffen.

5 „Coping“,

Quelle: studyflex.de, URL: https://studyflix.de/biologie/coping-2965.

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Diese geht einher mit einer tonischen Immobilität (Muskellähmung) mit der Intention, sich tot zu stellen.“6 Durch Flucht ist es mir demnach möglich, wieder in eine normale, für mich nicht bedrohliche Umgebung zu kommen. Oder ich kämpfe und schalte so die Bedrohung aus. Beides sind potenzielle Formen meiner sofortigen körperlichen und seelischen Anpassung in einer Gefahrensituation. In einer Gefahrensituation besteht kaum die Möglichkeit, die paleokortikale Reaktion durch neokortikale Kontrolle zu dämpfen. Denn alles, was ich tue, läuft unkontrolliert ab. Was heißt paleokortikal? Der Terminus „Paleo“ bedeutet „urzeitlich“. Der Paleokortex ist ein „urzeitlicher“ Teil des Großhirns. Eine paleokortikale Reaktion ist eine Reaktion, die entwicklungsgeschichtlich tief im Menschen verankert ist. Einfach gesagt: Ein Mensch, der heutzutage von einem Bären angegriffen wird, reagiert im 21. Jahrhundert genauso wie ein „Neandertaler“ vor 400.000 oder 40.000 Jahren reagiert hat. Nämlich so: Ich spaziere durch den Wald. Die Vögel pfeifen, die Sonne scheint, die Welt ist grün. Ich gehe um die nächste Ecke, auf einmal steht ein Bär direkt vor meiner Nase. Er holt aus, trifft mich im Gesicht, zerfetzt die Haut und mein linkes Auge. Mir zerschlägt es nicht nur das Gesicht, sondern auch die Sprache. Keine Zeit zum Nachdenken! Trotzdem. Tun wir so, als würde ich mich in dieser Situation tatsächlich fragen, wie ich reagieren soll. Durch den Schlag des Bären bin ich stark verletzt. Das Blut strömt aus meiner Wunde und Bakterien dringen ein. Was hat in diesem Moment Priorität? Was muss als erstes getan werden? Wird mein System zunächst versuchen, die Blutung zu stoppen oder werden als erstes die eingedrungenen Bakterien bekämpft? Weder … noch. Nichts von beidem. Oder zumindest sehr halbherzig. Absolute Priorität hat das Verhindern von weiteren Verletzungen. Das bedeutet: Der Bär muss weg! Blitzschnell werde ich versuchen, der weiteren Bedrohung durch den Bären zu entfliehen. Ich werde, wenn es geht, wegrennen. Wenn das nicht möglich ist, wird mein System auf Totstellen schalten. Wenn ich mich totstelle, bin ich für den Bären keine Bedrohung oder Herausforderung mehr – uninteressant – und er wird von mir ablassen. Eine erfolgreiche Flucht ist in diesem Fall die bessere Lösung. Die Kampfreaktion ist begreiflicherweise weniger angebracht.

6  „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“, Quelle: wikipedia.org, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Kampfoder-Flucht-Reaktion#Freeze,_flight,_fight,_or_fright.

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Während ich mich paleokortikalisch gesteuert totstelle oder flüchte, werden den Wundheilungsprozessen keine oder sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Mein Stammhirn reagiert auf Paleo-Niveau. Nix neokortale Kontrolle. Wir wissen bereits: Das menschliche System verarbeitet die Probleme (Jegliche auf ihn gerichtete Attacken, ob Schnitt mit dem Messer oder Angriff des Bärs) auf verschiedenen Ebenen parallel. Im MultitaskingModus, sozusagen. Das zentrale Nervensystem reagiert mit einem aspezifischen Arousal (Mit einem unspezifischen Grad der Aktivierung) und bringt den ganzen Organismus in eine Alarmsituation. Dadurch wird eine aspezifische Vorbereitung auf die folgende Reaktion eingeleitet. Da die Verhinderung weiterer Verletzungen absolute Priorität hat, kann es passieren, dass das aspezifische Arousal sich negativ auf die Wundheilung auswirkt. Das aspezifische Arousal muss also so kurz wie möglich sein und in ein spezifisches Arousal übergehen. Spezifisches Arousal bedeutet, dass das System eine Wahl getroffen hat, wie der Organismus auf den Angriff reagieren hat. Es wird eine Kampf-, Flucht- oder „Erstarr-Reaktion“ (Todstellreflex) gewählt. (In einer alltäglichen Patienten-TherapeutenSituation kann der Physiotherapeut eingreifen und die aspezifische Information neokortial spezifisch machen; nicht so im Kampf mit dem Bären.) Während der Organismus auf den Angriff mit Kampf-, Flucht- oder „Erstarr-Reaktion“ reagiert, werden auf lokaler Ebene zum selben Zeitpunkt die verletzten Gefäße geschlossen, um den Verlust von Blut und das Eindringen von Mikroorganismen in die Blutbahn zu verhindern. Die lokalen Faktoren, die eine Vasokonstriktion (Verengung der Blutgefäße) verursachen sind u. a. Serotonin (Gewebehormon = Botenstoff im Nervensystem), Prostaglandine, aber auch viele andere Informone. Prostaglandine sind Lokalhormone, die bei der lokalen Schmerzvermittlung und als Schmerzmediatoren für die Wirkung von Hormonen, sowie bei integrativen Funktionen wie der Entstehung von Fieber bei Entzündungsprozessen, eine Rolle spielen. Die spinale Ebene (Steuerungsebene der Motorik und des vegetativen Nervensystems) steuert vom Seithorn (auch: Seitenhorn) die Vasokonstriktion durch Aktivierung von kleinen, tonischen vasokonstriktiven Neuronen (Blutgefäße verengende Nervenfasern), die im Zielgewebe an verletzten Gefäßen, an β2-Rezeptoren enden. „Als Seitenhorn (Cornu laterale medullae spinalis) bezeichnet man den gesamten mittleren Abschnitt des Querschnitts der grauen Substanz des Rückenmarks. Weil nicht nur der

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laterale Anteil, sondern auch der mediale dazugehört, ist die korrektere Bezeichnung Mittel- und Seitenhorn.“7 Von zentral – aus dem Hypothalamus und dem weiteren limbischen System – wird diese Vasokonstriktion unterstützt und verstärkt. Der Hypothalamus koordiniert als Meta- Zentrum im Gehirn Wasserhaushalt, Salzhaushalt und Blutdruck. Nochmals wird die parallele Verarbeitung des Problems (Verletzung) deutlich. Die lokale Ebene reagiert als erste, wird aber durch spinal segmentale Mechanismen kontrolliert und modifiziert. Das zentrale Nervensystem beeinflusst wieder das spinale Niveau und setzt direkt oder indirekt Hormone frei, die in die lokale Ebene eingreifen. Nach Bildung eines Blutpfropfens durch Thrombozyten (Blutplättchen) und Fibrin wird eine Vasodilatation (Erweiterung der Blutgefäße) entstehen. „Fibrin ist Klebstoff für den Körper. […] Bei Verletzungen mit Blutverlust reagiert der Körper mit der Bildung eines Thrombus. Dieser verschließt die Wunde. Dabei wird, unter Einfluss des Enzyms Thrombin und des von der Leber produzierten Eiweiß Fibrinogen, Fibrin gebildet. Fibrin ist aus faserartigen Molekülen aufgebaut und gitterartig vernetzt.“8 (Abb. 7.1). In nicht verletzten Gefäßen entsteht die Vasodilatation schon viel früher. Sie wird auch durch lokale, spinale und zentrale Mechanismen ausgelöst und geregelt. Auf lokaler Ebene werden Mediatoren wie Histamin aus Mastzellen und Kallikrein (körpereigenes Hormon, das u. a. gefäßerweiternd wirkt) aus Leukozyten (weiße Blutkörperchen) freigesetzt. Das Histamin bindet an H1 und H2 Rezeptoren und verursacht eine Vasodilatation, funktionelle Hyperkapillarisation und Permeabilitätssteigerung (erhöhte Durchlässigkeit der Blutgefäßwände). Das Kallikrein setzt Bradykinin (blutgefäßveränderndes Hormon) und andere Kinine (Gewebehormone) frei, welche direkt und indirekt über Prostaglandin E2 (Gewebehormon) eine Vasodilatation auslösen. Kinine spielen eine Rolle bei Entzündungen, Schock, Blutgerinnung und Schmerz. Im Wundgebiet herrscht ein niedriger Sauerstoffdruck (Hypoxie), wodurch vor allem anaerobe Energiegewinnung stattfindet, mit der Folge einer Versäuerung (Azidose) des Gewebes. Dieses bedeutet, dass mehr Protonen (H+ Ionen) entstehen, die sich als Konkurrenten von Wasser an

7 „Seitenhorn des Rückenmarks“, Quelle: kenhub.com, URL: https://www.kenhub.com/de/library/anatomie/seitenhorn-des-ruckenmarks. 8 „Fibrin – Klebstoff für den Körper“, Quelle: auva.at, URL: https://www.auva.at/cdscontent/?contentid =10007.862658&portal=auvaportal.

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Abb. 7.1  Anfang einer Nervenbahn (rot), über die Informationen aus dem Wundgebiet an das ZNS gesendet werden. Unzählige Immunzellen und Informone regeln die Neuronen. Die dargestellte rote Nervenbahn entspricht der roten Bahn aus Abb. 5.1

die Matrix (Glycosaminoglykane) binden. Die H2O-bindende Fähigkeit im Wundgebiet nimmt ab und die jetzt freigewordenen Wassermoleküle sorgen für eine wasserreiche Umgebung im Wundgebiet. Das zelluläre Immunsystem (etwa Leukozyten und Lymphozyten) kann sich jetzt einfacher im Wundgebiet bewegen und seiner Funktion nachkommen. Und jetzt erstmal tief durchatmen. Habe ich zu viel versprochen? Ich sagte ja, dass es anspruchsvoll werden würde. Für Ihre Fragen stehe ich gerne zur Verfügung. Ein bisschen Werbung in eigener Sache, darf sein. Meine Kontaktdaten finden Sie im Internet. Keyword: INOMT. Bis dahin empfehle ich zur Ablenkung einen Kinobesuch. Bäriges Anschauungsmaterial und Hochspannung pur bietet der Kinofilm „Der Rückkehrer“, Originaltitel: „The Revenant“. Spielt im Jahr 1823: Auf einem Erkundungsgang in den Rocky Mountains gerät der Trapper Hugh Glass zwischen eine Grizzlybärin und ihr Junges und wird angegriffen. Beim Kampf wird Glass

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sehr schwer verletzt. Mehr sei hier nicht verraten. Nur so viel: Es geht nicht nur in dieser Szene ums Überleben. Leonardo DiCaprio in einer seiner besten Rollen und viel spannender als meine gerade dargebotene Story – und die ganze Theorie sowieso. Auf YouTube können Sie sich von einem Ausschnitt („Bloody Bear Attack Scene“) triggern lassen: https://www. youtube.com/watch?v=_8P8MgsFNZQ.

8 Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung

Zeit heilt alle Wunden, sagt der Volksmund. In welcher Zeit sagt er nicht. Sicher ist: Wundheilung beginnt in der ersten Sekunde nach der Verletzung. Wie lange sie dauert und ob die Wunde überhaupt jemals ganz heilen oder ob eine Narbe zurückbleiben wird, das erfahren wir nicht – jedenfalls nicht von der Zeit. Also haben sich einige kluge Köpfe daran gemacht, die Sache mit der Zeit selbst in die Hand zu nehmen und den gesamten Wundheilungsprozess schön akademisch in Zeiteinheiten geteilt, damit sie den Fortschritt der Heilung in der jeweiligen Sekunde, Minute, Stunde sowie innerhalb der jeweiligen Tage, Wochen und Monate betrachten können. Am Anfang steht die erste Sekunde. Am Ende das erste, respektive, das weitere Jahr. Aber bitte geben Sie mir noch eine Minute. Ich muss kurz über Phasen und Phrasen sprechen. Der Hamburger Chirurg Hans Barop schrieb erstmals 1996 in seinem „Lehrbuch und Atlas der Neuraltherapie nach Huneke“: ‚In der schrittweisen Abfolge eines pathophysiologischen Vorgangs steht nach kybernetischen Gesichtspunkten an erster Stelle die Störung der Information, gefolgt von der Störung der Regulation, gefolgt von der Störung der Funktion. Am Ende dieser Reihenfolge steht die gestörte Struktur.‘1

1 Hans

Barop, „Lehrbuch und Atlas der Neuraltherapie nach Huneke“, Karl F. Haug Verlag, 2. Auflage, Stuttgart 2014.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_8

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Mich an Barop orientierend habe ich schon vor etlichen Jahren selbst eine biokybernetische Funktionskette – bezogen auf den Ablauf einer Funktionsstörung – entwickelt. Sie haben darüber eventuell schon im 3. Kapitel (Die Zelle) gelesen. Mein Vorschlag, nach dem wir uns auch bei unserer Arbeit im Institut richten, sieht so aus:

Materie – Energie – Information – Funktion –– Raumzeit Gemäß biokybernetischem Konzept, das die Grundlage unserer Arbeit darstellt, gehe ich noch einen Schritt weiter zurück als Barop und sage: Bereits der Zustand vor dem Entstehen der Verletzung ist mitentscheidend für die Entwicklung und den Verlauf der Wundheilung. Anders gesagt: Der Umstand, wie die Verletzung zustande kam, ist ebenso relevant für den gesamten Wundheilungsprozess wie der psychische, seelische und physische Zustand des Betroffenen im Moment der Verletzung. Demgemäß teile ich den Wundheilungsprozess in die folgenden Zeit-Abschnitte: –1. Abschnitt vor der Verletzung bis Trauma (Prä-Trauma) 1. Abschnitt Trauma/Verletzung 2. Abschnitt von der 1. Minute bis zum 1. Tag 3. Abschnitt vom 2. bis 4. Tag 4. Abschnitt vom 5. Tag bis zur 5. Woche 5. Abschnitt von der 6. Woche bis zur 10. Woche 6. Abschnitt von der 10. Woche bis zum 1. Jahr

Biokatalyse, Enzymaktivität und Wundheilung Die Umsetzung, Beschleunigung oder Lenkung chemischer Reaktionen wird in der Chemie (ebenso in der Biologie) als Biokatalyse bezeichnet. In diesem Prozess dienen Enzyme als biologische Katalysatoren. Enzyme bestehen überwiegend oder vollständig aus einem oder mehreren Proteinen. Aktive Enzyme sind wesentlich für die Wundheilung. Ihre Aktivität wird stark von der Temperatur, sprich Wärme, beeinflusst. Wir wissen: Ein zentraler Faktor, der auf die Heilung positiv oder negativ einwirken kann, ist der Faktor Temperatur. Aus dem bisher Gelesenen können wir mitnehmen: Kälte ist von Nachteil, Wärme von Vorteil.

8  Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung     61

Eine Temperatur-Erhöhung beschleunigt die Molekul-Bewegung und damit die Reaktionsfreudigkeit. Senkt man die Temperatur, passiert das Gegenteil. Die Molekül-Bewegung verlangsamt sich und hört bei theoretischen −273,15 °C nahezu auf. Ganz stilllegen lassen sie sich aber nicht. Die Reaktionsfreudigkeit der Moleküle ist noch von verschiedenen anderen Faktoren wie etwa dem pH-Wert abhängig. Aber die Temperatur steht im Fokus.

Einteilung der Wundheilung in Phasen und Stadien Die Einteilung der Wundheilung in Phasen und Stadien ist nur bedingt möglich und sinnvoll. Sehr viele, oftmals variable, Faktoren haben Einfluss auf Fortschritt und Dauer des Heilungsprozesses. Temperatur ist nur ein Faktor davon. Die unterschiedlichen Phasen beginnen alle unmittelbar nach dem Entstehen des Traumas, entwickeln sich aber unterschiedlich schnell und stark. Alle Phasen bedingen sich gegenseitig, sodass der jeweils weitere Verlauf von der aktuellen Entwicklung, dem Verlauf und Abschluss der vorgehenden oder vorher im Vordergrund stehenden Phase abhängig ist. Die Natur wählt den richtigen Weg. Manchmal muss eine Phase jedoch physiotherapeutisch begleitet werden.

Phasen und Phrasen Gerne treiben es einige Experten auf die Spitze, was die Benennung und vor allem Differenzierung einzelner Phasen betrifft. Die Begriffe Phase und Phrase liegen eben sehr dicht beieinander. Hier eine Kostprobe von A bis Z: Alarmphase Auswechselphase Blutungsphase Destruktivephase Entzündungsphase Epithelisierungsphase Fibroblastenphase Granulationsphase Histiozytenphase Integrationsphase Inflammationsphase Konsolidierungsphase

Latenzphase Lymphozytärephase Maturationsphase Makrophagenphase Mikrophagenphase Monozytärephase Organisationsphase Proliferationsphase Produktionsphase Präreizungsphase Resorptivephase Regenerationsphase

Reifungsphase Reinigungsphase Reparationsphase Ruhephase Remodellierungsphase Schlussphase Trümmerbeseitigungsphase Trombozytärephase Umbauphase Wiederherstellungsphase Vaskulärphase Zellulärphase

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Die Liste ließe sich sicher noch erweitern. Man müsste die Suche einfach nur beharrlich fortsetzen. Ich bezeichne diese Einteilungswut als Phrasen, weil ich sie für überflüssig und belanglos halte. Lieber folge ich auch hier wieder dem Konzept der Vereinfachung – back to the roots – und das heißt für mich: Es gibt drei Phasen. 1. Entzündungsphase 2. Proliferationsphase 3. Remodellierungsphase (auch Maturationsphase)

Um den neusten Erkenntnissen auf diesem Gebiet Rechnung zu tragen, könnte man noch eine weitere Phase hinzufügen: Die Hämostase. Diese Phase setzen wir im Geiste an die erste Stelle. Damit hätten wir maximal vier Phasen. Dass sich die Geister an diesem Thema scheiden, zeigt noch eine andere gängige Einteilung. Nach H.D. Korthauer2 werden drei bis fünf Phasen der Wundheilung, die zeitlich und räumlich überlappend nacheinander auftreten, unterschieden. Auch diese Einteilung ist nicht unwidersprochen. Sie basiert auf klassischen lichtmikroskopischen Untersuchungen: 1. Ruhe- oder Latenzphase 2. Exsudationsphase 3. Proliferationsphase 4. Regenerationsphase 5. Reifungs- oder Maturationsphase

Informone – Meiner für alle An der Wundheilung sind zehntausende chemischer Substanzen, die den Heilungsprozess regeln und steuern, beteiligt. Auch hier wäre eine Auflistung nicht zielführend. Denn: Welche Substanzen nimmt man in die Liste auf? Welche lässt man weg? Ein Dilemma. Ich fasse diese chemischen Substanzen (zehntausende an der Zahl!) daher unter einem einzigen Begriff zusammen: Informone. Mein Terminus für alle Substanzen. – Sie erinnern

2 H.D. Korthauer, „Die fibrinolytische Reaktion frischer Wundflächen“, Quelle: Medizinische Klinik Nr. 65, 1970, Springer Verlag, Heidelberg.

8  Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung     63

sich? Das Thema Informone hatte ich kurz im 6. Kapitel angesprochen. Der Begriff wurde von mir jedoch schon lange vorher – zum ersten Mal vor rund fünfundzwanzig Jahren – veröffentlicht. Auch dazu alles im besagten Kapitel. Der Begriff Informon dient der konsequenten Vereinfachung in mehrfacher Hinsicht. Schon an der Länge der folgenden Liste kann man leicht nachvollziehen, dass der Lesefluss innerhalb eines Textes verloren ginge, würde man jedes Mal die entsprechenden Moleküle beim Namen nennen, statt sich des smarten Begriffs Informon zu bedienen. Zumal jede der nachfolgendend gelisteten Gruppen wiederum aus hunderten von Molekülen besteht. Antikörper Arachidonsäureabkömmlinge (Prostaglandine, Thromboxane, Leukotriene) Catecholamine (Noradrenalin, Adrenalin, Dopamin) Chemokine

Interferone Interleukine

Neurohormone Neuromodulatoren

Kinine

Neuropeptide Neurotransmitter

Chemotaktische Faktoren

Koloniestimulierende Faktoren Liganden

Enzyme Gewebehormone Hormone Immunotransmitter

Lymphokine Mediatoren Membranrezeptoren Monokine

Regulatorische Peptidfaktoren Wachstumsfaktoren Zytokine

Mit dem Begriff Informon fasse ich alle Moleküle zusammen, die eine informative oder informationsverarbeitende und damit wundheilungssteuernde Funktion haben. Informon ist MEIN biokybernetischer Begriff, der IHNEN das Lesen erleichtert und so Ihrem Verstehen dienen wird.

Phasen der Wundheilung nach Uhr und Kalender Kennen Sie die Redewendung „Danach kann man die Uhr stellen“? Will sagen, dass eine Sache exakt vorhersehbar ist. Anders ausgedrückt: Es lässt sich im Vorfeld genau bestimmen, wann ein Ereignis eintritt. Aber kann man das auch bei einem bio-logischen Prozess wie der Wundheilung wissen? Begleiten Sie mich auf eine längere Reise, auf der wir den Fortschritt der Wundheilung ab der ersten Sekunde, dann über Minuten, Stunden,

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Tage, Wochen und Monate beobachten werden. Damit folgen wir einer klassischen Einteilung, der als Einteilungsprinzip die Zeit zugrunde liegt. Ich bin nicht der Uhrheber – pardon: Urheber. Wir machen das aber trotzdem ganz vorurteilsfrei, wir lassen uns darauf ein, ohne den Sinn der zeitlichen Einteilung zu hinterfragen. Denn spannend ist es allemal. Noch ein Tipp: Teilen Sie sich die Reise gut ein. Wie bei den meisten Reisen, die länger dauern, sind auch hier die einzelnen Etappen unterschiedlich anspruchsvoll. Diese Reise dauert immerhin mehr als ein Jahr! Machen Sie eine Pause, wann immer Sie wollen. Wenn Sie das Gefühl haben, dass zu viele Eindrücke (sprich Information) auf Ihr Hirn einströmen und Ihre Aufnahmefähigkeit beziehungsweise Aufmerksamkeit überfordern, steigen Sie einfach kurz aus und gehen Sie ein bisschen spazieren, bevor Sie weiterlesen. Sie allein bestimmen den Rhythmus. Let’s go! Steigen wir ein…

Die 1. bis 10. Sekunde (Tag eins) Heilung wird nicht von der Medizin ausgelöst, sondern vom Organismus selbst; genauer gesagt von den Zellen selbst. Dieser Prozess startet direkt, nachdem sich ein Mensch oder Tier verletzt hat. Blutplättchen setzen sich sofort an das geschädigte Gewebe, um es zu verschließen. Aber es passiert noch sehr viel mehr. Schmerz und Nozizeption Durch das Trauma der Verletzung werden Afferenten und Efferenten erregt. Afferenten sind Nervenzellen, die aus dem Wundgebiet Informationen an das Zentralnervensystem (kurz ZNS) senden. Das ZNS umfasst Nervenbahnen im Gehirn und im Rückenmark. Efferenten sind ebenfalls Nervenzellen. Über Efferenten fließen Signale jedoch fort; und zwar aus dem Zentralnervensystem zum Wundgebiet. Efferenten setzen Noradrenalin, Adrenalin und weitere Informone im Wundgebiet frei. Dadurch entsteht eine primäre Vasokonstriktion, sprich eine Verengung der Blutgefäße, verursacht durch die glatte Gefäßmuskulatur. Dazu kommen viele weitere vegetative Effekte (Abb. 8.1). Das Trauma wird normalerweise von einem primären Schmerz (A-DeltaSchmerz) begleitet. Eine Folge der Reizung der Afferenten. Die schnellsten sind folglich die A-Delta-Fasern. Darüber hinaus werden auch langsam leitende C-Fasern erregt. Auch diese lotsen die Information in Form von Axonreflexen weiter. Jetzt werden Informone freigesetzt. Diese haben u. a. eine Vasokonstriktion zur Folge. Wenn das aspezifische Arousal anhält,

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Abb. 8.1  Glatte Muskelzellen (Rotviolett) mit Versorgungsstrukturen (vegetative Nervenfasern und Kapillare)

wird über efferente vegetative Fasern die Noradrenalin- und Adrenalin-Freisetzung aufrechterhalten. Das aspezifische Arousal kann aber auch verhindert oder gelindert werden. Dazu braucht es „nur“ die richtige Information, sprich Aufklärung durch den Physiotherapeuten. Hier greift das „I“ der FIT-Regel. Etwas später kommt ebenfalls das hormonelle Adrenalin aus dem Nebennierenmark im Wundgebiet an und verstärkt die Vasokonstriktion. Das bedeutet, dass das aspezifische Arousal jetzt die Wundheilung hemmt. In der Folge entstehen dann ein sekundärer Schmerz sowie Nozizeption. Das führt meistens zu einem Bewegungs- und Belastungsschmerz, der die Betroffenen funktionsunwillig werden lässt. Auch hier gilt wie oben: Gemäß der FITRegel sollte der Physiotherapeut in dieser Situation positiv aufklärend und dosiert funktionsaktivierend eingreifen. Geht der Physiotherapeut mit dem Patienten schon sehr früh, also direkt, „in die Funktion hinein“, hat das erstaunliche therapeutische Vorteile für den weiteren Wundheilungsverlauf. Als Physiotherapeut sollten wir gewiss nicht zu viel von unseren Patienten fordern, aber meistens verhält sich der Betroffene zu ängstlich, weil er nicht richtig informiert wurde. Richtig zu informieren heißt, den Betroffenen aufzuklären und zu motivieren, damit dieser nach dem orthodynamischen Prinzip in Bewegung kommt. Das Arousal Wir sind immer noch in den ersten zehn Sekunden! Je nach Voreinstellung des Betroffenen wird das aspezifische Arousal mehr oder weniger ausgeprägt sein. Der Zeit-Abschnitt vor der Verletzung bis zum Trauma (Abschnitt -1. wie Anfangs des Kapitels beschrieben) ist nicht außer Acht

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zu lassen! Es kommt nämlich sehr darauf an, ob sich ein Mensch im Urlaub einen Muskelfaserriss zuzieht oder ein Profisportler zwei Tage vor den Olympischen Spielen. Die Reaktion wird bei beiden stark variieren. Im Falle des Sportlers wird das aspezifische Arousal anhaltender sein und somit die initiale Wundheilung negativ beeinflussen. Wenn dann noch im weiteren Verlauf immer wieder Rückfälle in aspezifische Erregungen und damit einhergehende vegetative Entgleisungen stattfinden, wird die Wundheilung verzögert verlaufen. Die FIT-Regel kann hier positiv entgegenwirken. Sprich, der Physiotherapeut, der sie anwendet, kann dafür sorgen, dass dieser kritische Zustand erst gar nicht aufkommt. Es ist nicht nur wichtig, dass der Betroffene die Situation annimmt, sondern auch vom Physiotherapeuten entsprechend kompetent informiert wird, damit er versteht, was objektiv „Sache“ ist. Biokybernetische Selektivität Die Prä-Alarmphase oder Prä-Traumaphase, wie ich sie nenne, kann das Entstehen der Entzündung hemmen oder verhindern. Das heißt: Wenn der Betroffene in der Sekunde, in der er sich verletzt, bereits in einem ArousalZustand ist, werden die Anfänge der Entzündung und Wundheilung dadurch zurückgestellt. In der nachfolgenden Alarmphase „steckt“ der Betroffene im wahrsten Sinne des Wortes im Trauma (wie in einem Traum) und damit in einer unbewussten Aufmerksamkeit; überwältigt vom Ereignis. Wahrnehmung: paleokortikal. Die Alarmphase kann aber auch neokortikal, das heißt bewusst wahrgenommen werden: „Oh, Gott!“, denkt der Leistungssportler, „ich kann morgen nicht spielen!“ Gerade für einen Profisportler, der eine Verletzung kurz vor einem wichtigen Event erleidet, ist die neokortikale und limbische Reaktion entsprechend hoch. Kurz erklärt: Das limbische System reguliert die Angst. Im Falle unseres Sportlers besteht die Angst darin, nicht spielen zu können. Die Erkenntnis, verletzt zu sein, stimuliert seinen Hypothalamus und seine Amygdala, die beide zum limbischen System zählen und die Angstreaktion auslösen – graduell von Befürchtung bis Panik. Damit steht der Profisportler nicht allein da: Ein kleiner Schnitt kann große Folgen haben. Für einen Pianisten etwa, der abends ein Konzert geben will, ist ein kleiner Schnitt in den Zeigefingerbeere ein mittleres Drama.

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Primäre neurogene Vasokonstriktion (Vasospasmus) Durch die oben beschriebene neurogene beziehungsweise reflektorische Noradrenalin- und Adrenalin-Ausschüttung – sowie durch weitere Informone – verengen sich die Arteriolen und die Kapillaren schließen sich. Der primäre Vasospasmus betrifft alle Gefäße, auch die nicht verletzten. Die Versorgung kommt zum Erliegen. Das zeigt sich vornehmlich durch einen Sauerstoffmangel, eine Hypoxie. Wenn die Sauerstoff-Reserven aufgebraucht sind – und das geht sehr schnell – wird durch die anlaufende anaerobe Verbrennung eine Azidose entstehen. Dermographismus Immer noch im 10-Sekunden-Zeitfenster, stellt man erstaunt fest, was der Organismus alles innerhalb dieser kurzen Zeit im Stande ist, zu leisten. Zum Beispiel noch Folgendes: Dermographismus ist eine physiologische Reaktion nach mechanischer Reizung der Haut. Man spricht auch vom Echo der Haut. Zunächst entsteht ein Dermographia albus, ein weißer Streifen; später ein Dermographia ruber, eine Rötung und letztlich ein Dermographia elevata. Nach Reizung der Haut wird das Gebiet also erst weiß, danach rot und letztlich entsteht, je nach Reizstärke und individueller Reaktionslage, eine Schwellung (Quaddel). Auch der britische Kardiologe Sir Thomas Lewis beschrieb 1924 eine dreifache Reaktion (Triple Response) an deren Ende die Bildung von Quaddeln stand. Sein Reiz-Reaktionsversuch (Lewis-Triade) ist jedoch nicht mit dem Dermographismus gleichzusetzen. Lewis wollte die Entwicklung von Entzündungsprozessen darstellen, arbeitete aber mit HistaminInjektionen in der Haut. Das ist etwas völlig anderes im Vergleich zu einer „normalen“ Verletzung. Ich betone das, weil es an diesem Punkt gerne zu Verwechslungen beziehungsweise zu einer Gleichsetzung mit dem Dermographismus kommt. Das ist falsch. Die Blutung Die Sekunden laufen …und auch das Blut rinnt. Obwohl offene Wunden eigentlich nicht unser Thema sind, lassen Sie uns bitte trotzdem kurz über Blutung sprechen. Stichwort: Hämorrhagie und Rhexisblutung. Durch die Verletzung werden Kapillare, Blut- und Lymphgefäße rupturiert (Ruptur: Riss). Dadurch entsteht eine Blutung in das betroffene Gebiet hinein. Wie viel Blut austritt, ist von der Verletzung abhängig, aber noch viel mehr vom Gesamtzustand und der Reaktionslage des Betroffenen. Bei äußeren Wunden hat die Blutung den Sinn, Bakterien, Viren und Sonstiges aus der Wunde auszuspülen (Abb. 8.2).

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Abb. 8.2  Bei einer tieferliegenden Verletzung der Muskeln, Sehnen oder Bänder ist das Eindringen von Bakterien in den Körper nahezu ausgeschlossen

Auch bei Muskel- und Kapselband-Verletzungen ist ein Einbluten ins Gewebe gewünscht, weil die Blut- und Immunzellen auf diese Art am schnellsten an den Ort des Geschehens gebracht werden können. Das Blut in der Wunde ist Stimulanz für verschiedenste Prozesse in ihrer Initial-Phase und im weiteren Verlauf der Wundheilung. Ist die Blutung zu stark (Gilt mit Einschränkung nur für Blutverlust bei offenen Wunden), sollte man sie stoppen, etwa durch lokale, zentripetale (vom Rand zur Mitte verlaufende) Kompression. Der Druck sollte nicht zu stark sein und nicht zu lange andauern, denn in den weiteren Phasen ist Kompression kontraproduktiv. Hier darf ich noch schnell eine Brücke in unsere Physio-Welt und zum Thema „verletzte Muskeln, Bänder und Sehnen“ bauen; und zwar, indem ich noch einmal auf das C aus der PECH-Regel und den Nachteil der Compression hinweise. Später, beim Thema Narbenbildung (11. Kapitel), kommen wir dann noch einmal auf die Kompression zurück. Aber in einem anderen Kontext. Die Hämostase Hämostase heißt Blutstillung. Auf die Unversehrtheit des Körpers bezogen, hat das Stoppen der Blutung Priorität. Bei offenen Wunden geschieht das

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auf zwei Arten. Erstens entsteht eine starke Vasokonstriktion auf Basis einer kräftigen Anspannung der glatten Gefäßmuskulatur. Zweitens wird das verletzte Gefäß durch Blutgerinnung (Koagulation) strukturell verschlossen. Die Vasokonstriktion ist schnell erreicht, die Blutgerinnung dauert einige Minuten. Wenn wir es mit bloßem Auge erkennen könnten, würden wir sehen, dass der Gewebsdefekt mit Blut (seröse Flüssigkeit bestehend aus Plasma, Erythrozyten, Leukozyten, Trombozyten) gefüllt wird. Bei Muskel-, Bänder-, Sehnen-Verletzungen – und darüber reden wir  – kommt es allein durch den zunehmenden Druck im Gewebe zur Blutstillung. Hier sorgt die gleiche seröse Flüssigkeit, wie zuvor genannt, für die erste Ödembildung im verletzten Muskelgebiet. Funktionelle Hämostase Die betroffenen Gefäße werden weiter in Vasokonstriktion gehalten. Die Noradrenalin- und Adrenalin-Ausschüttung hält je nach Situation länger oder kürzer an. Der Vasospasmus wird so wenige Sekunden bis Minuten (maximal 5; im Extremfall bis 30 min) beibehalten. Die Blutung wird reduziert bis gestoppt. Bei Boxern wird die Blutung durch ein Gemisch aus Vaselin und Adrenalin gestoppt, indem der Cutman den Cut damit versorgt. Und wenn wir schon bei gewissen Brutalitäten sind: Es ist bekannt, dass in früheren Kriegen Extremitäten durch Kanonenkugeln abgetrennt wurden, ohne dass eine Blutung festzustellen war. Das ist typisch für ein aspezifisches Arousal. Hier haben wir es mit einem Schock-Effekt zu tun. Es kommt zu einer massiven Vasokonstriktion – anfangs sogar zu einem Herzstillstand – so wird kein Blut nachgepumpt. Auch auf anderen „Schlachtfeldern“ – etwa auf dem Fußballplatz – kann es ziemlich martialisch zugehen. Einige von Ihnen werden sich an die Szene aus August 1981 erinnern, als Ewald Lienen (damals für Bielefeld spielend) durch einen Gegenspieler der Bremer verletzt wurde. Die Welt schrieb: „Das brutalste Foul der Bundesligageschichte.“3 Der Bremer Siegmann hatte Lienen den rechten Oberschenkel auf einer Länge von deutlich mehr als 20 cm aufgeschlitzt. „Trotz der Verletzung stürmte Lienen vom Spielfeld und wollte Otto Rehhagel an die Wäsche. Er warf dem Bremer Trainer

3 „Das

brutalste Foul der Bundesligageschichte“, Quelle; welt.de, URL: https://www.welt.de/sport/fussball/gallery109844277/Das-brutalste-Foul-der-Bundesligageschichte.html.

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vor, ­Siegmann aufgewiegelt zu haben.“4 Ich kann mich erinnern, dass Ewald Lienen zuvor sogar noch dem Bremer Siegmann hinterhergelaufen ist. Auf einem Foto, das maximal zwei Minuten nach der Entstehung des Traumas gemacht wurde, ist keine größere Blutung zu erkennen. Für die Größe der Wunde ist das für den medizinischen Laien erstaunlich. Hätte man in dieser Phase Eis auf die verletzte Stelle appliziert, hätte sicher eine Blutung stattgefunden, weil die Autoregulation des Körpers dadurch untergraben worden wäre. Eis hätte eine massive Vasokonstriktion verhindert. Dieses Beispiel zeigt sehr gut, dass mit Eisapplikationen und Gewebekompression sehr umsichtig umzugehen ist. Und das gilt eben nicht nur für derartige Extremfälle.

Die 11. bis 60. Sekunde (erste Minute, Tag eins) Hypoxie und primäre Azidose Mit dem Ende der ersten zehn Sekunden wird der Metabolismus schnell hochgefahren. Durch die Hämostase (Blutstillung) fehlt es vor allem an Sauerstoff. Diese Hypoxie hat zur Folge, dass der Metabolismus vorwiegend anaerob ablaufen muss. Eine anaerobe Verbrennung hat jedoch zwei wesentliche Nachteile im Vergleich zu einer aeroben Verbrennung. Erstens erreicht sie nur 3 bis 4 % an Effektivität verglichen zur aeroben Verbrennung. Zweitens werden durch den anaeroben Metabolismus Säuren produziert (etwa Milchsäure). Die entstehenden Säuren müssen so schnell wie möglich aus dem Gewebe entfernt werden. Da die Durchblutung stillsteht oder relativ geringfügig vor sich geht, müssen die Säure-Protonen zwischengelagert werden. Dazu binden sie sich an die negativ geladenen Glycosaminoglycane (GAG), reichlich vorhandenen sind. Störung und Aufhebung der Wasserbindung Wenn sich H+ (Wasserstoff-Proton) an die negative GAG-Ladung bindet, heben sich Plus und Minus auf. Dabei wird das an die negative Ladung gebundene Wasser frei. An eine einzige negative Ladung docken hunderte gebundener Wassermoleküle an. Auf diese Weise wird das Wundgebiet ödematisch (schwillt an), was Sinn macht, da die erwartete Zellimmigration

4 „Das brutalste Foul der Bundesligageschichte“, Quelle; welt.de, URL: https://www.welt.de/sport/fussball/gallery109844277/Das-brutalste-Foul-der-Bundesligageschichte.html.

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unbedingt eine wasserreiche Umgebung benötigt, um sich bewegen zu können. Darum ist die Schwellung gewünscht (siehe 4. Kapitel). Ödeme und Schwellungen Bei einem Supinationstrauma – also einem Riss oder Teilriss mehrerer Bänder des seitlichen Sprunggelenks – entstehen Schwellungen so rasant schnell, dass das Sprunggelenk schon 20 bis 30 s nach dem Trauma deutlich angeschwollen ist. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sich eine starke Schwellung nach einem Supinationstrauma innerhalb von Sekunden entwickelte. Man konnte zusehen wie das Gelenk anschwoll. Hinzufügen muss ich, dass neben der Säure noch weitere, parallel vorhandene Faktoren, für die schnelle Schwellung sorgen. Auf diese wollen wir hier aber nicht weiter eingehen. Elektrolyt-Haushalt In der zehnten bis zwanzigsten Sekunde nach dem Trauma verschieben sich auch die Elektrolytenbindungen, weil die vielen positiven WasserstoffProtonen (H+) im Gewebe die negativen Ionen anziehen. Mastzellen-Aktivierung und Degranulation Jetzt kommt es zur Degranulation der Mastzellen und einer damit verbundenen Freisetzung von Histamin und Heparin beziehungsweise Serotonin. Beginn der Histamin-Freisetzung Der Beginn der Histamin-Zunahme tritt nach etwa 30 bis 40 s auf. Der Histamin-Spiegel im Wundgebiet hat seinen Höhepunkt nach etwa 3 min, nimmt dann langsam ab und dauert insgesamt 15 bis maximal 30 min. Histamin und Serotonin haben ihre Effekte vor allem in kapillaren Blutgefäßen und Venolen mit einer lichten Weite (Lumenweite) von 20 bis 30 µm (Mikrometer; also 20 bis 30 Millionstel Meter). Feinste kapillare Venolen mit einer Lumenweite von nur 4 bis 7 μm reagieren nicht auf diese Amine. Histamin und Serotonin verursachen eine Endothelzellen-Kontraktion. Das Gefäß wird löchrig, Zellen und Plasma weichen auseinander, wandern ins Gewebe und verursachen eine Schwellung. Die augenblicklich entstehende erste Schwellung entspringt vor allem der primären Azidose. Sie wird ab jetzt unterstützt und verstärkt durch Histamin und Serotonin. Damit ist die erste Minute abgeschlossen. Später kommen ArachidonsäureMetaboliten dazu (siehe 10. bis 20. Minute).

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Die 2. Minute (Tag eins) Latenzphase Mit Beginn der zweiten Minute erreichen wir auf unserer „Reise“ durch die Phasen der Wundheilung die Latenzphase. Nachdem die Blutung gestillt ist, scheint erstmal nicht viel zu passieren. Man sieht einem Muskelfaserriss oder einer Bandverletzung nicht an, was innen abläuft. Der augenscheinliche Stillstand wird als Latenz- oder Ruhephase bezeichnet. Latenz bedeutet: im Verborgenen. Versteckt im Wundgebiet laufen nun mannigfaltige Prozesse ab und es beginnen die initialen Prozesse der Wundheilung. Eine echte Phase der Ruhe ist das also in Wirklichkeit nicht. Alle Reaktionen erfolgen unmittelbar auf die Verletzung und verlaufen ohne Unterbrechung bis zur Narbenbildung. Stase und Peristase Durch die starke Vasokonstriktion kommt das Blut in den Venolen zum Stehen oder es fließt bedeutend langsamer. Dadurch kann es zu einer Ansammlung von Blutplättchen (Aggregation) kommen. Eine Aggregation hat eine verringerte Geschwindigkeit der Blutströmung zur Folge, die eine Rouleaux-Bildung (perlschnurartige Aneinanderreihung von Erythrozyten  =  Geldrollen-Bildung) verursacht. Die Mastzellen im betroffenen Gewebe müssen jetzt u. a. Heparin freisetzen, damit das langsam strömende Blut in den nicht betroffenen Gefäßen und Kapillaren nicht gerinnt. Wie gerade gesagt, bilden die Erytrozyten (roten Blutkörperchen) in den verletzten Kapillaren ein Rouleaux, sodass die Kapillaren verstopft werden und so eine weitere Blutung verhindert wird. Diese Form der Hämostase ist teils strukturell, teils funktionell. Beginn der Aggregation Ab jetzt beginnt die Aggregation der Thrombozyten. Diese sammeln sich und werden durch Fibrin vernetzt. Das Fibrin ist in dieser Phase noch löslich. Hydration Die Wundheilung verläuft in einer wasserreichen Umgebung deutlich besser, schneller und effizienter als bei Wassermangel. Darum sollte man offene Wunden feucht halten. Geschlossene Wunden sollten nicht mittels Compression (Vermeidung der PECH-Regel) ihres Wassers beraubt werden. Auch die Abkühlung des Gewebes verringert den Wassergehalt. Das geschieht zum einen dadurch, dass Blutgefäße eine Vasokonstriktion

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erfahren, wodurch Flüssigkeit (Plasma) nur noch bedingt aus den Gefäßen austreten kann. Zum anderen geschieht dies durch die schlechtere Sauerstoffversorgung, die eine Azidose des Gewebes nach sich zieht. Natürlich ist auch die systemische Dehydration (allgemeiner Flüssigkeitsmangel) problematisch. Wenn grundsätzlich zu wenig Wasser zu Verfügung steht, ist auch das für die normale Wundheilung nicht zuträglich.

Die 3. Minute (Tag eins) Blutgerinnungsphase In dieser Phase kommt es zu einer Retraktion und weiteren Vernetzung durch Fibrin. Das Fibrin ist jetzt unlöslich, sodass der Thrombus (Aggregation der Thrombozyten) stabiler wird und eine starke Quervernetzung aufweist. Anschließend lässt der funktionelle Vasospasmus nach und geht fließend über in einen starken Plättchen-Thrombus. Höhepunkt der Histamin-Freisetzung (Mastzellen-Exozytose) Dilatation (Erweiterung) der nicht betroffenen Gefäße. Freisetzung von vasoaktiven Substanzen durch Axonreflexe. Die Folge: Vasidilataion und funktionelle Hyperkapillarisation. Primäre Permeabilitätssteigerung Die Zunahme der Permeabilität (Durchlässigkeit der Gefäßwände) verläuft in mehreren ineinander übergehenden Stadien. In der zweiten Minute nach dem Trauma wird die Permeabilitätsänderung von Gefäßmediatoren wie Histamin und Serotonin eingeleitet (Vorausschau: Zwischen der 10. und 30. Minute erreicht sie ihren Höhepunkt). Nach einer Stunde ist der Einfluss-Peak des Histamins verstrichen. Eine sekundäre Änderung der Venolen-Permeabilität tritt erst Stunden nach dem Trauma auf. Die initialen Entzündungsvorgänge spielen sich hauptsächlich in den postkapillären Venolen ab. Die kontinuierliche strukturelle Unversehrtheit (Integrität) der endothelialen Innenschicht der Gefäße wird dabei aufgehoben. Im Anschluss ändert die Basalmembran (an der Endothelschicht gelegen) ihre schwer durchdringbare Struktur. Eine Venolen-Vasokonstriktion erhöht den hydrostatischen Druck in den Kapillaren. Wodurch Serum aus den Kapillaren gepresst wird und somit ein weiterer Faktor der Ödem-Entstehung greift. Weitere Informone wie etwa Kinine unterstützen die primäre Hyperpermeabilität. Thrombozyten setzen Informone frei, die die Permeabilität

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der Gefäße steigern. Der Thrombozyt dient als eine wichtige MediatorenQuelle in der primären Entzündungsphase. Durch das gesteigerte Austreten von Plasma aus dem Blutkreislauf, dickt nun das Blut ein und es entsteht ein Blutstau in den Venolen. Es kommt zu Prozessen wie dem Plasma-Skimming oder dem Sludge-Phänomen. Daraus folgt eine Steigerung der Kapillar- und Venolen-Permeabilität sowie im Anschluss eine Steigerung der Peristase. Plasma-Skimming Plasma-Skimming ist eine „Form der Mikrozirkulationsstörung […] mit verlangsamter Strömung und damit reduzierter Suspensionsstabilität des Bluts, die zu unterschiedlicher lokaler Verteilung zwischen zellulären und nichtzellulären Bestandteilen des Blutes in der Endstrombahn führt. An Verzweigungen von Blutkapillaren kann es zur teilweisen oder vollständigen Trennung von Plasma und zellulären Blutbestandteilen kommen, sodass einzelne Kapillaren nur mit Plasma durchströmt werden. Dies führt zu einer Beeinträchtigung der Sauerstoffversorgung des betroffenen Gewebe[abschnittes].“5 Sludge-Phänomen Sludge ist eine Form der Mikrozirkulationsstörung mit reversibler (das heißt nicht durch Fibrin stabilisierter) Aggregation von Erythrozyten infolge von Strömungsverlangsamung. Dies kann zur Stase des Blutes und damit zu erheblicher Beeinträchtigung der Sauerstoffversorgung in den Geweben führen.

Die 4. Minute (Tag eins) Strukturelle Hämostase (Koagulation) Aggregation und darauffolgende Koagulation dürfen nur im Verletzungsgebiet stattfinden. Dies wird biokybernetisch durch Informone sowie durch verschiedene Zellen organisiert. In der letzten Phase der Thrombusbildung wird das Fibrin-Thrombozyten-Netz verdichtet. Die Thrombozyten sondern (sezernieren) verschiedene Informone ab, die der Entzündung helfen, in Gang zu kommen. Zusammen mit den Endothelzellen setzen die

5  „Plasma-Skimming“, Skimming/K0H4C.

Quelle:

pschyrembel.de,

URL:

https://www.pschyrembel.de/Plasma%20

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­ rombozyten verschiedene Informone frei, die die einsetzende Entzündung Th in die richtigen Bahnen lenkt. Bei einer Verletzung größerer Arterien mit massiver Blutung nach außen, kann es vorkommen, dass diese durch mechanischen Druck gestoppt werden muss. In der Chirurgie werden exzessive Blutungen durch örtliche Hämostatika und heiße Kompressen verhindert. Zu den Hämostatika gehören zum Beispiel Knochenwachs, Kollagene, Gelatine–Präparate und Zellulose-Abkömmlinge. Während einer Operation verlassen sich Chirurgen auf eine normale Blutgerinnung. Das Stoppen der Blutung wird durch heiße Kompressen gefördert. Die bestmögliche Temperatur zur Stimulierung der Hämostase und damit Stillung der Blutung liegt bei 49 °C. Diese Temperatur ist für die Zellfunktion jedoch zu hoch. Eine optimale Temperatur, die auch die Zelltätigkeit berücksichtigt, liegt bei ±37 °C. Jeder weiß aus Erfahrung, dass Wunden länger und stärker bluten, wenn die Außentemperatur weit unter dem Gefrierpunkt liegt. Die Anwendung von Eis ist in die Frühphase der Verletzung also nicht ratsam. Fragen Sie mal einen Eskimo. Und fragen Sie mich bitte nicht, ob die Bezeichnung Eskimo noch politisch korrekt ist. Ich glaube es müsste Inuit heißen – muss aber nicht. Verflixt dünnes Eis.

Zurück zur Zellfunktion und der oben genannten Temperatur von ±37 °C. Diese Temperatur – plus bzw. minus 1 °C – ist ideal für eine optimale Zelltätigkeit. Anders sieht es in Punkto Wärme aus, wenn die Blutstillung höchste Priorität hat. Etwa bei einer Operation. Hier werden deutlich höhere Temperaturen von bis zu 49 °C angestrebt. Blutkoagulum Wir befinden uns immer noch in der vierten Minute unserer Reise und betrachten weiter, was die Thrombozyten machen. Solange die Thrombozyten in einem unverletzten Blutgefäß herumtreiben, sind sie relativ inaktiv und „kommen zum Glück nicht auf die Idee“, sich zu verbinden und einen Pfropf zu bilden. Wenn die Trombozyten jedoch Kollagenfaserteile „bemerken“, ist das für sie das Signal, die Blutgerinnung einzuleiten. Die Trombozyten verbinden sich nun mithilfe der Oberflächenrezeptoren ihrer Zellmembran miteinander. Die Endothelzellen fahren ihrerseits teleskopische Rezeptoren aus, um eine Bindung mit den Thrombozyten einzugehen. Auf diese Weise entsteht ein Blutpfropf, der das rupturierte

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(gerissene) Gefäß verschließt. Chemotaktische Informone, die von den Thrombozyten ausgeschieden werden, locken weitere Artgenossen an. Natürlich zeigen Thrombozyten unter normalen Bedingungen keine Neigung zur Adhäsion an die Gefäßwände. Wenn aber durch eine Traumatisierung Gefäße destruiert (zerstört) werden, kommen Kollagene frei, an die die Blutplättchen sofort aggregieren. Sie bilden zuerst ein einschichtiges „Häutchen“ an der Innenwand der postkapillären Venolen. Die Kaskade der Blutgerinnung ist somit angelaufen. Die durch das Trauma freigelegten subendothelialen (innerhalb der Gefäßinnenhaut liegenden) und perivasalen (um das Gefäß herum liegenden) Kollagene sind Katalysatoren für die Thrombozyten-Aggregation und den Gerinnungsanfang. Dieser Koagulationsprozess wird durch die Anwesenheit von Kalzium beschleunigt. Eine weitere Anhäufung und Vernetzung von Thrombozyten findet unter dem Einfluss von ADP (Adenosindiphosphat) statt, das aus den verletzten Zellen freigegeben wird. Die Thrombozyten erfahren eine tiefgehende, biochemische und morphologische Veränderung. Sie setzen weiteres ADP frei, damit weitere Thrombozyten angelockt werden. Durch Produktion und Aktivierung von Thrombosthetin (aktomyosinähnliches Protein) kommt es zu Kontraktion und Retraktion des Blutpfropfens. Blutgerinnungsfaktoren auf einen Blick I Fibrinogen II Prothrombin III Gewebe-Thromboplastin IV Calciumionen (Ca2+) V Proakzelerin, Plasma–Akzelerator–Globulin (labiler Faktor) VI Akzelerin (syn. Faktor Va) VII Prokonvertin, stabiler Faktor, Prothrombinogen, Serum Prothrombin Conversion Accelerator (SPCA) VIII Antihämophiles Globulin (AHG), antihämophiler Faktor (AHF) IX Christmas–Faktor, Plasma thromboplastin component (PTC), antihämophiles Globulin B X Stuart–Prower–Faktor. XI Rosenthal–Faktor, Plasma Thromboplastin Antecedent (PTA) XII Hageman–Faktor XIII Fibrinstabilisierender Faktor (FSF), Laki–Lorand-Faktor, Fibrinoligase, PF 3 Plättchenfaktor 3 (Phospholipide)

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Die 5. Minute (Tag eins) Chemotaxis (zelluläre Rekrutierung) Wir sind noch keine fünf Minuten auf unserer Reise und schon assoziieren wir: Chemotaxis? Sollen wir jetzt in dieses Taxi einsteigen oder zu Fuß weiter gehen? Spaß beiseite. Tatsächlich hat Chemotaxis mit Fortbewegung zu tun. Ich habe den Begriff im 2. Kapitel bereits kurz erwähnt. Chemotaxis ist ein Vorgang, der die Fortbewegungsrichtung von Zellen durch Konzentrationsgefälle zwischen zwei Orten beeinflusst. So werden in diesem Augenblick unserer Reise zum Beispiel neutrophile Granulozyten sowie Monozyten und Lymphozyten (alles Unterformen der weißen Blutkörperchen) durch biochemische lösliche Substanzen sowie Informone zur Verletzungsstelle dirigiert. Die wandernden Zellen suchen sich „schnüffelnd“ wie ein Polizeihund den Weg. Sie werden am Anfang vom azidotischen (übersäuerten) Milieu und vermindertem Sauerstoffgehalt (Hypoxie) angelockt. Die Endothelzellen der Venolen lassen chemische Substanzen aus dem Wundgebiet in die Blutbahn sickern. Diese Form der Chemotaxis hat eine anziehende Wirkung auf Leukozyten. Später folgt dann die Invasion der Leukozyten in das Wundgebiet.

Die 6. Minute (Tag eins) Margination Das heißt: Es kommt zu einer Verlagerung (Annäherung) von Leukozyten aus dem Blutfluss in Richtung der Venolen-Wand, also an die Endothelzellen. Sprich: Leukozyten und Endothelzellen nähern sich an. Normalerweise befinden sich Blutzellen mehr in der Mitte des Gefäßes; die weißen Blutkörperchen mehr innen; die Roten mehr außen. Die roten Blutkörperchen müssen aber mehr entlang der Gefäßwand strömen, denn sie transportieren den Sauerstoff, der abgegeben werden muss; und in Endothelnähe strömt mehr Plasma. Blutzellen und Blutwandzellen (Endothelzellen) haben außerdem die gleiche, negative elektrische Ladung, sodass sie sich leicht abstoßen. Durch die Produktion des Gewebehormons Prostaglandin I2 (auch ein Informon) werden die Leukozyten und Thrombozyten von den Endothelzellen in Schach gehalten – normalerweise. Das Informon Prostaglandin I2 erhöht jedoch die intrazellulären cAMP-Konzentrationen in den Leukozyten und Thrombozyten und drückt so ihre Aktivität. Cyclisches

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Adenosinmonophosphat (kurz cAMP) zählt ebenfalls zu den Informonen und ist ein Signalstoff, der Peptidhormone aktiviert. Findet eine Diapedesis (Bewegung der Blutzellen) zwischen den Endothelzellen hindurch ins Wundgewebe statt, müssen sich erst die Leukozyten den Endothelzellen nähern. Am einfachsten funktioniert das in Gefäßen mit niedriger Strömungsgeschwindigkeit. So sieht man, dass Diapedesis überall im Körper in postkapillären Venolen stattfindet, weil hier die Strömungsgeschwindigkeit des Blutes geringer ist. Die einzige Ausnahme bildet die Lunge. Hier treten weiße Blutzellen durch die Kapillare aus. Bei einer Verletzung entstehen in der Wunde biochemische Substanzen, die als Chemoattraktoren funktionieren. Chemotaktische Informone üben ihre Wirkung primär auf die Leukocyten aus und erhöhen die Anziehungskraft von Leukocyten auf Endothelzellen. Es gibt zwei Wege, wie man sich eine chemotaktische Reaktion vorstellen kann. Erstens können die chemotaktischen Faktoren zur Endothelaußenseite diffundieren und sich an spezifische Membranrezeptoren binden. Die Endothelzellen setzen dann auf der Gefäßinnenseite Zytokine frei (etwa Interleukin-8), lassen dort Rezeptoren expressionieren (in Erscheinung treten) und verringern ihre negative elektrische Ladung, die sonst abstoßend wirkt. Oder zweitens: Die chemotaktischen Faktoren diffundieren durch die Gefäßwand hindurch bis ins Blut und die Leukozyten werden direkt angezogen. Die Endothelzellen werden dabei trotzdem zu erhöhter Rezeptoren-Expression veranlasst und expressionieren auch sogenannte Bindungsrezeptoren (Mac-1 Glycoproteine und andere), wodurch die angezogenen Leukozyten sich an die Endothelzellen binden können und nicht mehr durch die Strömung weggezerrt werden. Rollen (rollende Leukozyten) Wenn die Endothelzellen in ihrer Umgebung ein Problem erkennen, werden an der Gefäßinnenseite Rezeptoren exprimiert (Expremierung, expressionieren – meint alles dasselbe), die selektiv die benötigten Leukozyten aus dem Blutstrom herausfischen. Diese Rezeptorengruppe nennt man Selektine. Durch die Selektine wird die Fahrt der Leukozyten abgebremst. Die selektiv herausgesuchten Leukozyten, etwa neutrophile Granulozyten, beginnen an der Gefäßwand entlangzurollen; sie rollen in Richtung Verletzungsherd. Die rollenden Leukozyten fahren jetzt Integrine (Eiweißmoleküle) aus. Integrine gehören zur Gruppe der Adhäsionsmoleküle. Diese bestehen wiederum aus zwei Untereinheiten, eine α- und β-Untereinheit. Die in diesem Fall expremierten Integrine sind

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­ auptsächlich solche mit einer β1- oder β2-Untereinheit. Diese Intergrine h verleihen den Leukozyten Affinität zu weiteren, von den Endothelzellen expremierten, Rezeptoren; den sogenannten interzellulären Adhäsionsmolekülen. Die rollenden Leukozyten werden gestoppt und Diapedesis und Penetration (Entstehung der Löchrigkeit) können beginnen. Wie erwähnt, finden Margination und Diapedesis bevorzugt in postkapillären Venolen statt, da dort die Strömungsgeschwindigkeit am geringsten ist. Dennoch wurde nachgewiesen, dass auch in größeren Gefäßen wie etwa in der Aorta carotis communis (ACC) eine Diapedesis stattfinden kann. Die ACC ist eine große Arterie, die Kopf und Hals mit arteriellem Blut versorgt. Integrine und Liganden Integrine – eben schon genannt – sind Zelladhäsionsmoleküle, die als Signalübertragungsweg in beide Richtungen zwischen extrazellulärer Matrix und Zytoskelett fungieren. Die ungefähr zwanzig bisher bekannten Integrine spielen in vielen Prozessen eine Rolle. Der Name Integrin wurde 1987 zum ersten Mal von Richard O. Hynes im Fachmagazin Cell Press6 publiziert. In einem vorgeschalteten Laborversuch wurde der Proteinkomplex (Integrine) aus Hühner-Fibroblasten (Hautzellen von Hühnern) isoliert. Ein Integrin besteht aus zwei Glykoproteinen, die α- und β-Untereinheit genannt werden. Diese beiden Untereinheiten sind an der Zellmembranaußenseite miteinander verbunden und formen einen Ligandenbindungskopf. „Als Ligand wird […] ein Stoff bezeichnet, der an ein Zielprotein, beispielsweise einen Rezeptor [wie Integrin], spezifisch binden kann.“7 Nach Bildung des Ligandenbindungskopfes teilen sich die beiden Glykoproteine – aus denen das Integrin besteht – und formen zwei Stelzen, die durch die Zellmembran bis in das Zellinnere reichen. Im Zellinneren formen die beiden Stelzen zwei zytoplasmatische Bereiche. Es gibt 18 bekannte α- und 8 bekannte β-Untereinheiten. Tendenz steigend. Es sind verschiedene Kombinationen möglich. Jede kann eine andere Ligande binden. Die so aufgebauten Integrine werden dann α4β1, αIIbβ3usw. genannt. Ein Integrin kann mehrere Liganden binden und eine Ligande kann durch mehrere Integrine erkannt werden. Wechselende α- und

6 Richard

O. Hynes, „Integrins: A family of cell surface receptors“, Quelle: Cell Press Volume 48, Issue 4, 27 February 1987, Pages 549–554, URL: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/ pii/0092867487902339. 7 „Ligand“, Quelle: wikipedia.org, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Ligand_(Biochemie).

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β-Untereinheiten führen zu Änderungen in der Spezifität der Ligande. Die meisten bekannten Liganden, die zu Integrinen passen, sind extrazelluläre Matrixproteine wie Fibronectin, Fibrinogen, Laminin und Kollagen. Integrine kommen auf allen Zellmembranen vor. Man geht von einer Größenordnung von rund 100.000 Integrinen pro Zelloberfläche aus. Das Integrin ist der wichtigste Rezeptor, über den sich die Zelle an die Matrix bindet. Es verbindet Zytoskelett-Mikrofilamentbündel mit extrazellulären Matrixfasern. Einige Integrine vermitteln interzelluläre Adhäsion. Ein zweigleisiger Dialog über die Zellmembran beinhaltet eine Regulierung der Rezeptorempfindlichkeit vom Zellinnern aus. Außerdem werden durch Bindung an einen Rezeptor mittels eines Liganden zellinnere Prozesse ausgelöst. Wenn man sich nun vorstellt, dass Kälte die Zellmembran-Beweglichkeit hemmt, stellt sich die Frage der Eisanwendung erst gar nicht.

Zellen können ihre Adhäsionseigenschaften durch selektive Ausbildung von Integrin variieren. Sie können weiter die Bindungseigenschaften von Integrinen modulieren sowie Anpassungsänderungen der Rezeptoren vornehmen. Diese Änderungen, die auch durch Antikörper und Liganden ausgelöst werden können, lassen aktive oder inaktive Integrin-Rezeptoren entstehen. Aktive Integrine beeinflussen Zellen über ihren zytoplasmatischen Bereich, der lang oder kurz sein kann. Es wurde nachgewiesen, dass die zytoplasmatischen Abschnitte der β-Untereinheiten direkt mit Zytoskelett-Proteinen interagieren. Weiter ist bekannt, dass α-Untereinheiten unterschiedliche zytoplasmatische Sequenzen aufweisen. Daraus folgt, dass Rezeptoren für die gleiche Ligande unterschiedliche Effekte im Zellinneren auslösen können. Darüber hinaus sind Integrine bei embryonalen Prozessen essenziell, vor allem bei solchen, in denen sich einzelne Zellen zum Gewebe zusammentun. Und im Großen betrachtet, sind Integrine sogar ein Schlüssel zur Evolution. Frühe Lebewesen müssen Integrine oder Ähnliches besessen haben, um ihre Mehrzelligkeit aufrecht erhalten zu können. Dies zu erkunden, wäre eine andere Reise wert… Adhäsion Im Labor durchgeführte Studien haben gezeigt, dass die Bindung zwischen Leukozyten und Endothelzellen unmittelbar nach chemischer Stimulierung aktiviert wird und bereits nach 30 s bis maximal 2 min besteht. Das muss

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auch so sein, da die Leukozyten sonst nicht an der richtigen Stelle andocken würden, sondern vorbeiströmten. In nicht stimulierten Leukozyten liegen die Zellbindungsrezeptoren (CAM  =  Cell Adhesion Molecules) auf der Zelloberfläche, aber auch in intrazellulären Bläschen. Leukozyten reagieren auf chemotaktische Faktoren, aber auch auf Zytokine, die über eine 2- bis 10-mal höhere Expression von Zelloberflächen-Bindungsrezeptoren verfügen. Auch die Endothelzellen werden durch Zytokine wie Tumor Nekrose Faktor-α (TNF-α) und interferon-χ, sowie durch bakterielle Lipopolysacharide zu erhöhter Zelloberflächen-Expression verführt. Die Zytokine tragen also zu erhöhter Affinität und stärkerer Bindung zwischen Leukocyten und Endothelzellen bei.

Die 7. Minute (Tag eins) Auflösung der Grundsubstanz Auch in der siebten Minute nach dem Trauma geht unsere Reise ohne Pause weiter. Der bio-logische Wundheilungsprozess erlaubt sich keine Ruhe. Im Wundgebiet wollen jetzt die Proteoglykan- und GlykosaminoglykanenAggregate teilweise ihre Verbindungen aufgeben (Desaggregation). Dadurch kommt es zu einer Depolymerisierung, also zu einer Verkürzung der Makromoleküle. Die Auflösung der Grundsubstanz trägt zur Ödem-Bildung bei (Abb. 8.3). Hyperkapillarisation und Vasodilation Es kommt zur Dilatation (Ausdehnung) der vom Trauma nicht betroffenen Gefäße. Dabei werden vasoaktive Substanzen freigesetzt; zum Beispiel durch Axonreflexe wie Substanz P (ein aus 11 Aminosäuren bestehendes Neuropeptid). Es entsteht eine funktionelle Hyperkapillarisation. Plasma-Exudation Durch die Hyperpermeabilität der Gefäße tritt nun auch Plasma aus.

Die 8. Minute (Tag eins) Rekrutierung von neutrophilen Granulozyten So langsam wird jetzt die primäre Vasokonstriktion von einer Vasodilatation und Hyperkapillarisation abgelöst. Im Verletzungsgebiet lässt sich ein

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Abb. 8.3  Proteoglycan-Aggregat, mit gebundenen Glycosaminoglycanen und daran – mittels Wasserstoffbrücken – gebundenes Wasser

a­uffälliges Einwandern der neutrophilen Granulozyten in postkapilläre Venolen beobachten. Ein erster Höhepunkt wird nach 20 min erreicht. Die neutrophilen Granulozyten haben im Durchschnitt eine Lebensdauer von zwei Tagen. Durch den hohen Turnover (Umsetzung an Menge in bestimmter Zeit) müssen täglich 109 Granulozyten pro Kilogramm Körpergewicht neu gebildet werden. Bezogen auf einen 70 kg schweren Menschen sind das 70 Mrd. an jedem Tag. Die Hälfte der Granulozyten befindet sich in den postkapillären Venolen. Von hieraus beginnen sie in das Gewebe einzuwandern.

Die 9. Minute (Tag eins) Diapedesis (Transendotheliale Zellmigration) Die Transexsudation von Blutplasma sowie die Transmigration weißer Blutzellen (Diapedesis) nimmt zu. Die Diapedese ermöglicht das selektive, planmäßige Austreten von neutrophilen Granulozyten durch die unverletzte Endothelschicht und durch die unversehrte Basalmembran der Kapillaren in das Wundgebiet. Die Neutrophilen benötigen dazu die aktive Mitarbeit der Endothelzelle.

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Auch das Austreten von roten Blutzellen – wie das bei starker Blutstauung (Haemorrhagia per diapedesin) der Fall ist – wird Diapedese genannt. Man spricht dann von einer Diapedeseblutung oder Durchtrittsblutung, bei der es zum Austritt von Blutbestandteilen durch die unverletzte Gefäßwand kommt. Häufig in Folge einer Hämostase. Das ist kein Nachteil. Eine Durchtrittsblutung ist sogar ganz in unserem Sinne, denn sie gehört zum Wundheilungsprozess dazu beziehungsweise wird geradezu benötigt. In der aktuellen, frühentzündlichen Phase der Wundheilung treten verstärkt Leukozyten (neutrophile Granulozyten, nicht-granuläre Monozyten und Lymphozyten) aus der Blutbahn aus und „kriechen“ zur Wunde. Die umziehenden Leukozyten müssen erst zur Innenseite des Blutgefäßes (Margination) gelangen, sich dann an die Endothelzellen festbinden, danach durch Endothelzellen (Migration) und die Basalmembran (Penetration) hindurch und schließlich durch das Bindegewebe zur Wunde weiterwandern (Migration). In der Wundumgebung besteht ihre Aufgabe darin, eingedrungene Gewebstrümmer zu phagozytieren (aufzunehmen und aufzulösen) und intrazellulär zu verdauen. Weiter setzen sie reaktive, für die Zellen oftmals toxische Sauerstoffmetaboliten (kurz ROS für engl. Reactive Oxygen Species) frei, wodurch die Gewebeverletzung verstärkt wird und sich die akute entzündliche Phase verlängert. Nach einiger Zeit werden die neutrophilen Leukozyten von Makrophagen (Fresszellen) vertilgt. Extrazellulärer Katabolismus Mit Ende der neunten Minute kommt es zur Ausschleusung (Exozytose) von Lysosomen aus den Immun-, Blut- und Gewebezellen. Damit startet der extrazelluläre Katabolismus. Das heißt: Der Abbau von Proteoglykanen und Struktureiweißen beginnt (Abb. 8.4). Daneben kommt es zur Störung der Isotonie und Isoionie. Gestört werden also der osmotische Druck sowie die Ionen-Konzentrationen. Da die Vorsilbe Iso „gleichbleibend“ bedeutet, bedeutet eine Störung, dass die Gleichförmigkeit oder Stabilität verlorengeht.

Die 10. Minute (Tag eins) Monozyten Immigration In der zehnten Minute nach dem Trauma: Im Bindegewebe wandeln sich die Monozyten aus dem Blut in Histiozyten um. Histiozyten sind Makrophagen in ruhender Form. Solange die Makrophagen vor Ort ihrer Arbeit

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Nucleus

Exozytose von Exosomen

Abb. 8.4  Exozytose – oder anders gesagt: das Ausschleusen von Substanzen aus der Zelle in den Extrazellularraum

nachgehen, werden auch sie Macrophagus stabilis genannt. Wenn sie beginnen, chemischen „Lockstoffen“ zu folgen, wird der Vorgang Chemotaxis genannt. Wenn das Wandern durch Haftung an andere Strukturen geschieht, nennt man das Haptotaxis. Histiozyten-Aktivierung Wenn sesshafte Histiozyten aktiviert werden, wandeln sie sich in sessile (ortsständige) Makrophagen (Macrophagocytus stabilis) um. Wenn diese sesshaften Makrophagen durch weitere Reize wie Chemotaxis zu kriechen beginnen, werden sie Wanderzellen genannt (Macrophagocytus nomadicus). Der Histiozyt ist ein wenig aktiver Makrophag. Er unterscheidet sich nur durch verschiedene funktionelle Stadien.

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Haptotaxis Ortsständige Zellen wie Mastzellen, Fibroblasten und Histiozyten sowie immigrierte Leukozyten wie Granulozyten, Monozyten und Lymphozyten wandern zum Ort des Geschehens an Kollagenfasern entlang und heften sich mittels Zellmembran-Rezeptoren an diese „Leitschienen“. Haftung und zielgerichtetes Wandern und Klettern wird Haptotaxis genannt. Die Makrophagen sind an der Gefäßneubildung beteiligt. Ebenso sind sie primär an der Rekrutierung und Aktivierung von Fibroblasten beteiligt (Abb. 8.5). Zelluläre Aktivierung Lokale und eingewanderte Zellen sondern nun verschiedene Informone (hier Entzündungsmediatoren) ab; sie sezernieren. Diese Entzündungsmediatoren haben unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen. So setzen sie zum Beispiel proteolytische Enzyme frei, die Gewebetrümmer auflösen. Andere chemische Substanzen binden sich an Rezeptoren in der Glykokalyx. Glykokalyx nennt man die an Proteine oder Lipide gebundenen Kohlenhydratanteile der extrazellulären Seite der Zellmembran. Durch die Anbindung werden in den neutrophilen Granulozyten Enzyme aktiviert. Hinweis in eigener Sache: Bisher glich unsere Reise noch einer Wanderung; wenn auch einer mitunter anspruchsvollen. Was nun folgt, entspricht mehr einer unbequemen, sprachlichen Expedition, die leider den Textfluss stört. Sie können die Stromschnelle aus chemischen Begriffen auch einfach umgehen. Das gilt auch für noch kommende Stromschnellen. Wenn Sie aber partout da durchwollen: Respekt!

Folgen Sie mir bitte (solange Sie mir noch folgen können): Durch das Enzym Phosphodiesterase wird ein weiteres Enzym (Phospholipase C) stimuliert. Dieses sorgt dafür, dass Phosphoinositide in zwei weitere Stoffe überführt werden. Zum einen in Diacylglycerol, das u. a. Proteinkinase C aktiviert. Zum anderen in Inositol-Triphosphat, das den Calcium-Anteil in der Zelle erhöht. Durch diese Erhöhung werden die PhospholipaseA2-Aktivität gesteigert sowie verschiedene Proteinkinasen aktiviert. Die Phospholipase A2 nimmt an den Phospholipiden der Zellmembran chemische Änderungen vor, wodurch freie Fettsäuren entstehen. So wird der Anfang der Arachidonsäure-Kaskade in Gang gesetzt (Abb. 8.6). All diese Prozesse sind temperaturabhängig und ändern die Tätigkeit der Zellen. Sie schaffen Bedingungen für die Mobilität der Zellen und erhöhen die Betriebsamkeit.

86     H. J. M. Brils und J. Brils Dendrische

Monozyt

Zelle

Mastzelle

Granulozyt

ICL Zelle Innate lymphoid cell

Neutrophile Granulozyt

Basophile Granulozyt

Eosinophilephile Granulozyt

Akvierter Neutrophile Granulozyt

Eosinophile Granulozyt

Abb. 8.5  Immunzellen zeigen sich in „unendlich“ vielen Formen; sie treten im Abwehrkampf des Körpers (bei Endzündungen) auf

8  Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung     87

Abb. 8.6  Phospholipide sind ein Hauptbestandteil der Doppelmembran, in der hunderttausende von Rezeptoren eingebettet sind, die der Kommunikation mit der Umgebung, aber auch zur Aufnahme von Substanzen, dienen

Die 11. bis 20. Minute (Tag eins) Arachidonsäure-Kaskade Prostanoid- und Eicosanoid-Stoffwechsel übernehmen die entstehende Entzündungsreaktion und rekrutieren Makrophagen aus benachbartem Gewebe. PGE2, ein sehr starker Vasodilatator der eine neurogene Vasokonstriktion aufheben kann, wird erst nach 15 min produziert. Erst damit kann eine Hämostase rückgängig gemacht beziehungsweise aufgelöst werden. Die Freisetzung von Arachidonsäure aus Membranphospholipiden und ihre nachfolgende Umsetzung in biologisch aktive Komponenten, ist sowohl für die zelluläre Aktivierung als auch für die Entwicklung der Entzündung wichtig. Die Arachidonsäureabkömmlinge können in drei Gruppen eingeteilt werden. Erstens: Die Lipoxygenase-Gruppe. Diese Gruppe ist essenziell für die volle chemotaktische neutrophile Aktivierung. Zweitens: Die Cyclooxygenase-Gruppe. Diese Gruppe wiederum ist essenziell für die Produktion von Thromboxane A2, das kritisch für bestimmte Formen von Thrombocytenaktivierung ist. Drittens: Die Epoxygenase-Gruppe. Diese Gruppe sorgt über verschiedene Zwischenschritte dafür, dass Anandamide entstehen.

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Der Begriff Anandamid hat seinen sprachlichen Ursprung im Sanskrit, sprich in der indischen Gelehrtensprache. Sanskrit ananda bedeutet übersetzt Glückseligkeit. Warum Glückseligkeit? Anandamid kommt zum Beispiel in Schokolade vor und zählt zu den Stoffen, die nachweislich auf Cannabinoidrezeptoren des Gehirns wirken und dort angenehme Gefühle auslösen. Ich gebe es zu: Ich hätte Ihnen vor unserer Reise sagen müssen, dass Sie ausreichend Schokolade einstecken sollen, damit Sie sich damit auch die schweren Passagen etwas versüßen können – denn schon folgt wieder einer solche… Arachidonsäure-Abkömmlinge Das entstandene Thromboxan A2unterstützt die zweite Welle der Blutplättchen-Aggregation. Es unterstützt ebenso die Kontraktion der glatten Gefäßmuskulatur an den verletzten Gefäßen. PGE2 dagegen ist ein sehr starker Vasodilatator, der eine neurogene Vasokonstriktion aufheben kann. PGE2 wird nach 15 min produziert, um eine Hämostase zu erreichen. Auf diese Weise halten sich die beiden Arachidonsäure-Abkömmlinge gegenseitig in Schach. Eine Hemmung der Arachidonsäurekaskade, etwa durch Korticosteroiden oder Acethylsalicylsäure (etwa Aspirin ), bremst die Entzündungsreaktion. Bei einem NSAID-Mittel (Non-Steroidal Anti-Inflammatory Drug = Arznei mit entzündungshemmender, schmerzstillender, fiebersenkender Wirkung) wie Acethylsalicylsäure ist das nicht dramatisch. Aber Achtung: Korticoide Arzneimittel, etwa Kortison, können dagegen die Wundheilung vollständig zum Stillstand bringen. Ende der Histamin-Freisetzung Die permeabilitätssteigernde und vasodilatorische Wirkung des Histamins wird nun von anderen Gefäßmediatoren übernommen. ArachidonsäureAbkömmlinge spielen ab jetzt eine große Rolle. Penetration durch die Gefäßwand Etwa auf der Hälfte der Strecke zwischen der elften und zwanzigsten Minute wollen einige Leukozyten sprichwörtlich durch die Wand. Die Penetration erfolgt A) zwischen den Endothelzellen hindurch oder/und B) durch die Basalmembran hindurch A) Zwischen den Endothelzellen In Untersuchungen wird beschrieben, dass durch das Emigrieren einzelner Leukozyten durch das Endothel keine

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Lücke entsteht, es aber so aussieht, als ob sich ein Gel durch ein etwas weicheres Gel drückt. Das Endothel wird dabei nicht verletzt. Die Leukozyten strecken Pseudopodien zwischen den Endothelzellen aus. Daraufhin werden die interzellulären Verbindungen gelöst. Leukozyten schleichen sich jetzt zwischen zwei Endothelzellen hindurch. Die interzelluläre Verbindung zwischen den beiden betroffenen Endothelzellen wird danach direkt wieder hergestellt. Es ist ein aktives „Kriechen“ oder „Schleichen“ der Leukozyten, aber alles weist darauf hin, dass auch die Endothelzellen aktiv einbezogen sind, etwa, indem sie ihre interzellulären Bindungen (Junctions) lösen und später wieder herstellen. Diese Penetration ist nicht mit einer Permeabilitätserhöhung zu verwechseln. Bei einer Penetration treten nur Zellen aus. Bei Permeabilitätsänderungen können dagegen auch größere Eiweiße, Wasser und andere Stoffe austreten. B) Durch die Basalmembran Wenn die Leukozyten die Endothelzellen passiert haben, werden sie aufgehalten. Sie befinden sich jetzt im subendothelialen Raum und formen hier – parallel zu den Endothelzellen – eine flache Schicht. Das Penetrieren der Basalmembran läuft wahrscheinlich so ab: Die Leukozyten binden sich durch eine Interaktion mit Laminin, welches reichlich in der Basalmembran vorhanden ist. Die Laminin-Oberflächenrezeptoren-Expression nimmt zu. In dieser Situation produzieren die Leukozyten proteolytische Enzyme (Proteinasen, Proteasen) wie zum Beispiel Elastase und schütten sie aus (exocytieren). Dabei lösen sie die Basalmembran fokal (gezielt an einer Stelle) auf. Durch dieses kleine fokale „Loch“ kriecht dann der Leukozyt durch die Basalmembran, hinein in das Bindegewebe und macht sich auf den Weg in Richtung Verletzungsherd. Er folgt dabei dem Konzentrationsgefälle zwischen den Chemoattraktoren und den Zytokinen. Wenn er jetzt Bakterien oder Fremdkörperchen begegnet, wird er diese „verzehren“ und intrazellulär töten.

Die 21. bis 60. Minute (erste Stunde, Tag eins) Fortsetzung der laufenden Prozesse Die neutrophilen Granulozyten liegen massenhaft auf der Intima der Venolen. Nach 20 min ist das ganze Endothel mit ihnen bedeckt. Nach etwa 40 min ist dieser Vorgang abgeschlossen.

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Die 2. bis 8. Stunde (Tag eins) Sekundäre Permeabilitätssteigerung Eine sekundäre Änderung der Venolen-Permeabilität tritt einige Stunden nach dem Trauma auf. Sie löst die primäre Permeabilitätssteigerung ab und leitet die Exsudationsphase ein. Die sekundäre Hyperpermeabilität schreitet schon voran, während die primäre Permeabilitätssteigerung noch nicht ganz vergangen ist. In dieser Phase der Permeabilitätsveränderung sind viele Mediatoren beteiligt, etwa Kinine, Anaphylatoxin, Prostaglandine sowie Slow Reacting Substances (Leukotriene = Substanzen, die in vitro eine langsame Muskelkontraktion bewirken). Durch diese biochemischen Substanzen wird die Permeabilität von naheliegenden, unbeschädigten Gefäßen ebenfalls erhöht, sodass neben diversen Plasmakomponenten auch Leukozyten aus den Gefäßen durchsickern können. Hinweis: Leukozyten benötigen normalerweise keine Permeabilitätserhöhung, weil sie mittels Diapedese die Blutbahn verlassen können. Mitose In der Entwicklung dieser exsudativen Phase nimmt die Zellteilung (Mitose) im Wundareal zu. Im Einzelnen passiert etwa Folgendes: Es kommt zu einer gesteigerten DNS– und RnA–Synthese. Die Enzymsynthese steigt in Abhängigkeit vom chemischen Charakter der endozytotisch aufgenommenen Materialien an. Der intrazelluläre Katabolismus beginnt; das heißt, dass Aufgenommenes verdaut wird. Außerdem starten die anabolen Prozesse, die Matrixsynthese, Fasersynthese sowie die Grundsubstanzsynthese. Der Sauerstoff-Verbrauch steigt an. Rekrutierte Makrophagen aus benachbartem Gewebe übernehmen die entstehende Entzündungsreaktion. Die RnA (Ribonucleic Acid) ist auch als Ribonukleinsäure (RNS) bekannt. Der Begriff RnA wurde dagegen erst durch die Impfstoffentwicklung gegen Covid-19 (RnA-Impfstoffe) einer größeren Öffentlichkeit geläufig. RnA ist eine Nukleinsäure. Wie auch beim Biomolekül und Träger der Erbinformation DNS, bilden Nukleinsäuren die Grundbausteine der RnA.

Die 9. bis 24. Stunde (Ende Tag eins) Entstehung der sekundären Azidose Auch in diesen Stunden unserer Reise geht es weiter Schlag auf Schlag: Entwicklung der sekundären Azidose; Freisetzung von Milchsäure, Zitronensäure und Brenztraubensäure. Durch Sauerstoffmangel (Hypoxie) bleibt

8  Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung     91

das Wundgebiet auf anaerobe Glykolyse geschaltet. Dann Quellung und Entquellung der Grundsubstanz, sprich des faserlosen Anteils des faszialen Gewebes. Dann: Abbau des Kollagens durch Kollagenasen (proteolytische Enzyme). Abbau von Proteinen (Proteolyse) und Trümmerbeseitigung. Proteinabbauprodukte (Aminosäuren) nachweisbar. Glykolyse (Glycosaminoglycane-Entmischung und Desintegration). Weiter: Lipolyse und Fibrinolyse. Während der Lipolyse entstehen aus Triglyzeriden unter Mithilfe von Enzymen freie Fettsäuren und Glyzerin. In diesem Prozess wird Energie produziert, die dem Körper zugutekommt. Fibrinolyse Die entstehende Fibrin-Formation ist für die Abdichtung der verletzten Gefäße verantwortlich. Außerdem dient das Fibringerüst ortsständigen und eingewanderten Fibroblasten als „Leitschiene“ und „Klettergerüst“. Ist die Gefahr der erneuten Gefäßöffnung vorüber, muss das Fibrin wieder abgebaut werden. Aus dem inaktiven Plasminogen entsteht durch Kinase ein aktives Enzym namens Plasmin. Plasmin überführt Fibrin in Spaltprodukte, die entsorgt werden können. Die Bestimmung der Fibrinogen-Spaltprodukte (FSP) ist ein häufig verwendeter Test zur Erkennung der Fibrinolyse-Aktivität. Dies ist vor allem nach einer Operation von Bedeutung, da eine hohe FSP-Menge die Gefahr einer Phlebothrombose (Verschluss tiefer Venen) mit eventuell folgender Lungenembolie andeutet. Die fibrinolytische Aktivität wird schon während der ersten Phase der Wundheilung – fast synchron mit der einsetzenden Hämostase – erhöht. Effekt: Eine perfekt gesteuerte biokybernetische Gerinnung. Phago- und Pinozytose Am Ende des ersten Tages räumen die Phagozyten auf. Jetzt geht es um Auflösung und Unschädlichmachung von Fremdstoffen im Organismus. In der Phagozytose (das ist der entsprechende Prozess) werden die eingewanderten neutrophilen Granulozyten vernichtet (Lähmen, Töten, Fressen). Der Prozess läuft katabol ab, er verbraucht also Energie und Brennstoffe. Die gesamte Trümmer- und Bakterienbeseitigungstruppe wird Phagozyten genannt. Später werden auch die Makrophagen mit der Phago- und Pinozytose beginnen. Die Pinozytose ist neben der Phagozytose eine Form der Endozytose, wobei hierbei Flüssigkeit und lösliche Substanzen in die Zelle aufgenommen werden.

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Endozytose

Nucleus

Abb. 8.7  Endozytose – oder anders gesagt: die Aufnahme von Substanzen aus dem Extrazellularraum in die Zelle

Wir erinnern uns an das 2. Kapitel: Endozytose beschreibt die Aufnahme von Substanzen aus dem Extrazellularraum in die Zelle. Substanzen können Fremdstoffe sowie Bakterien sein (Abb. 8.7).

Der 2. Tag (25. bis 48. Stunde) Zunahme des Katabolismus – Abnahme des Anabolismus Wir reisen zunächst bis in die sechsunddreißigste Stunde: Es herrscht ein kontrolliertes Chaos. Alle aktuellen Vorgänge, die für die Wundheilung relevant sind, wurden oder werden angeregt. Die Aktivität der verschiedenen

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Zellen dagegen, läuft durch den starken Sauerstoffmangel und die hauptsächlich dadurch entstandene Azidose stark gebremst ab. In dieser Phase sind physiotherapeutische, die Durchblutung fördernde, Maßnahmen notwendig. Damit kann eine passive Wärmezufuhr durch Wärmepackung (heiße Rolle) oder manuelle Therapie gemeint sein. Eine wesentlich effektivere Wärmeentwicklung erreicht man aber vor allem durch Aktivität. Bewegung ist das Mittel der Stunde. Angebracht sind lockeres Joggen oder Spazieren und Joggen im Wechsel. Bio-logisch läuft Folgendes dabei ab: Der Katabolismus nimmt bei gleichzeitiger Steigerung des Anabolismus und Sauerstoffverbrauchs zu. Parallel kommt es zur vermehrten Differenzierung der Immunzellen. Makrophagen-Proliferation Es kommt zu einer verstärkten Einwanderung von Monozyten, die sich in Makrophagen umwandeln. Logischerweise nehmen die Makrophagen dadurch deutlich zu. Proliferation histiogener Zellen und Endothelzellen Zur Erinnerung: Endothelzellen sind flache Zellen, die die Innenseite der Blutgefäße auskleiden. Histiogene Zellen sind sessile, sprich festsitzende Makrophagen des Faszialgewebes. Aufgrund des niedrigen Sauerstoffdrucks sowie niedrigen pH–Wertes werden nun sowohl junge als auch ausgewachsene Fibroblasten angelockt. (Vorausschau: Am Ende des zweiten Tages nach der Verletzung wird die Kollagen-Synthese, die hauptsächlich in den Fibroblasten stattfindet, fast zum Erliegen gekommen sein. Sie wird dann nur noch 5 % des Normalsynthesewertes betragen. Es ist vor allem der Sauerstoffmangel, der diese starke Reduzierung der Kollagenproduktion verursacht.) Kollagen Typ III Im Laufe des zweiten Tages kommt die Kollagen-Produktion in Gang. Hauptproduzent ist der Fibroblast. Er bildet vorwiegend Kollagen Typ III. Dieser Typ ist einfacher zu produzieren als Typ I und bildet sehr gerne und schnell Querverbindungen mit benachbarten Fibrillen aus. Es kommt zur Faserbildung, die das Wundgebiet stabilisiert. Wenn in der Anfangsphase das entstehende Kollagen Typ III richtig liegt, wird sich später das Kollagen Typ I daran orientieren. Typ I entsteht in der Proliferations- und Maturationsphase durch Umwandlung von Typ III.

94     H. J. M. Brils und J. Brils Eine funktionelle Belastung dient in dieser Phase als Steuerungsreiz. Zu diesem Zeitpunkt heißt es: Unbedingt „in die Funktion“ gehen. Das ist ein Muss, da sich später die Kollagen-Typ-I-Fasern an die Lage der jetzt entstehenden Kollagen-Typ-III-Fasern orientieren werden und sich funktionsgerecht platzieren. Funktion ist hier gleich Information. Praktische Maßnahme: Orthodynamische Bewegung.

Der dritte Tag (49. bis 72. Stunde) Vaskulogenese und Gefäßproliferation Neoangiogenese (Gefäßneubildung) Das erneute und vermehrte Aufbauen von Blutgefäßen im Wundgebiet ist ein wichtiger Teil der Wundheilung. Die erhöhte Metabolik benötigt Sauerstoff, Brenn-, Bau- und biokybernetische Stoffe. Auch Abfallprodukte müssen entsorgt werden. Ein Stimulieren der Neoangiogenese kann die Wundheilung beschleunigen. Mit dieser These stehe ich nicht allein da. Bereits 1991 veröffentlichte der Wissenschaftler Frank W. Arnold in der wissenschaftlichen Zeitschrift Pharmacology & Therapeutics (kurz: Pharmacol. Ther.) einen Artikel8 zur Gefäßneubildung, in dem er zur gleichen Einschätzung kommt – nämlich, dass während der Wundheilung verschiedene Zytokine mit proangiogener Wirkung freigesetzt würden. Durch die Hypoxie und der damit verbundenen Azidose im Wundmilieu würde eine Vielzahl von Immunzellen das Zytokin VEGF-A freisetzen, das hauptsächlich für die Neovaskularisation zuständig sein soll. Die vorhandenen Fibroblasten steigern ihre Matrix-Produktion und erhöhen ihre sonstigen Funktionen. Sie sind in ihrer maximalem Kapazitätszunahme durch die Hypoxie, die noch immer im Wundareal herrscht, gebremst. Trotzdem erhöht sich die Kollagen-Typ-III-Synthese der einzelne Fibroblasten nach 24 h um 150–200 %. Eine richtig massive Steigerung kann erst nach einigen Tagen stattfinden, wenn die Hypoxie und Azidose verschwunden sind.

8  Frank W. Arnold, „Angiogenesis in wound healing“, Quelle: Pharmacology & Therapeutics, December 1991, Pages 407–422, Elsevier Verlag, Amsterdam, URL: https://www.sciencedirect.com/ science/article/abs/pii/016372589190034J.

8  Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung     95

Vaskularisation Gute Wundheilung setzt eine ausreichende Durchblutung voraus. Deshalb beginnt am dritten Tag die Neubildung von Blutgefäßen. Dieser Vorgang wird als Vaskularisation und strukturelle Hyperkapillarisation bezeichnet. Damit eine Wunde gut verheilen kann, muss sie ausreichend durchblutet werden. Dazu sondert das Wundgewebe Substanzen ab, die auf die Endothelschicht der intakten Blutgefäße einwirken. Durch entstehende Lücken in der äußeren Zellschicht der Blutgefäße beginnen Endothelzellen in Richtung des verletzten Gewebes zu wandern. Sie bilden röhrenförmige Gebilde, die sich zu neuen Gefäßen zusammenschließen. Zunächst werden auf diese Weise sehr viele Gefäße neu gebildet. Später bilden sich dann überflüssige Gefäße wieder zurück. Lymphangiogenese Lymphgefäße übernehmen eine wichtige Aufgabe, wenn es um die Aufrechterhaltung des interstitiellen Gewebedrucks (Druck im Zwischenraum zwischen Geweben oder Zellen) geht. Auch für den Transport von Leukozyten und Immunzellen ist das Lymphsystem mit verantwortlich. Von daher spielt das Lymphsystem im Kontext von Entzündung und Wundheilung eine wesentliche Rolle.

Der vierte Tag (73. bis 96. Stunde) Fibroblastenphase, zelluläre Phase und Trümmerbeseitigung Die Steigerung der Blutversorgung hat eine Normalisierung der Sauerstoffund Kohlendioxid-Werte zur Folge. Der Sauerstoffdruck steigt und der Kohlendioxiddruck nimmt ab. Der Metabolismus wird von einer anaeroben Glykolysierung in eine aerobe Verbrennung umgewandelt. Dadurch wird auch der pH-Wert normalisiert und die Gewebeazidose reduziert. Die katabolen Prozesse werden zugunsten der anabolen reduziert. Fibroblastenphase, Teilung und Vermehrung der Fibroblasten Im Wundgebiet finden sich nun Myofibroblasten. Viele davon sind durch eine Umwandlung der normalen Fibroblasten in diesen Spezial-Typus entstanden. (1. Vorausschau: Bis zum 8. Tag wird ihre Population langsam zunehmen; um dann wieder langsam abzunehmen, sodass man am 20. Tag kaum noch Myofibroblasten im Wundareal findet.)

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(2. Vorausschau: Die Proliferation nimmt langsam Fahrt auf, hat ihren Höhepunkt aber erst am 16. Tag. Bedingung dafür ist eine optimale Durchblutung. Diese wird durch die vorangegangene Neovaskularisation – sprich Gefäßneubildung – gewährleistet.) Zelluläre Phase Die Zelluläre Phase, die schon am 2. Tag begonnen hat und sich bis in den 5. Tag fortsetzt, sorgt für eine Lockerung der endothelialen Unversehrtheit (Integrität). Es kommt zur Blutplasma-Exsudation. Das heißt, dass Blutplasma durch Lücken zwischen den Gefäß-Endothelzellen (exsudative Entzündung) austritt. Durch wandernde und ortsständige Fibroblasten entsteht gleichzeitig eine primäre Wundkontraktion. Die Fibroblasten organisieren die extrazelluläre Matrix, binden sich an Matrixmoleküle und organisieren so das Kollagennetz. Neutrophile, eosinophile und basophile Granulozyten, Makrophagen und Lymphozyten migrieren. Kurze Erklärung der Adjektive: Als neutrophile Granulozyten bezeichnet man eine Unterform der weißen Blutkörperchen. „Eosinophile Granulozyten sind Zellen, Zellbestandteile oder Gewebebestandteile, die sich mit dem sauren Farbstoff Eosin (TetrabromfluoreszeinNatrium) rotorange bis rosa färben lassen. […] Basophile Granulozyten sind eine Population von Leukozyten im Blut. Sie besitzen intrazelluläre Granula, die unter anderem Histamin, Serotonin und Heparin enthalten.“9 Von der Phagozytoseleistung der drei genannten Granulozyten hängen im Wesentlichen Verlauf und Überwindung der Entzündung ab. Destruktive und resorptive Phase, Trümmerbeseitigungsphase Die im Wundgebiet vorhandenen Zellen setzen zu diesem Zeitpunkt unserer Reise verschiedene Zytokine (Informone) frei. Zum Beispiel: Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF) Transformierender Wachstumsfaktor β (TGF-β) Blutplättchen-Wachstumsfaktor (PDGF) Epidermaler Wachstumsfaktor (EGF) Lymphokine Monokine Interleukine Interferone Koloniestimulierende Faktoren (CSF) 9 „Eosinophil“,

Quelle: flexikon.doccheck.com, URL: https://flexikon.doccheck.com/de/Eosinophil.

8  Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung     97

Durch Steigerung der Sauerstoffversorgung nimmt die Arbeit der Fibroblasten an Fahrt auf und sie steigern die Kollagenproduktion. Jetzt wird massiv Granulationsgewebe gebildet. Die Genom-Transkription (ablesen oder kopieren der RnA) wird geändert und es wird hauptsächlich Kollagen Typ III gebildet. Typ III ist einfacher zu bauen und bildet rasch und vermehrt Querverbindungen (Wasserstoffbrücken). Zusammen mit Typ III bilden die Fibroblasten ein loses, aber stabiles Geflecht, sodass es zu einem schnellen Verschluss der Wunde und zu einer Stabilisierung des Wundgewebes kommt. Die Matrix kontrahiert stärker und schneller, wenn sie reich an Kollagen Typ III statt an Kollagen Typ I ist. Und Granulationsgewebe kontrahiert stärker, schneller und besser als Narbengewebe. (Vorausschau: Das Kollagen Typ III wird dem ab den 5. Tag vermehrt produzierten Kollagen Typ I als räumliche Orientierung dienen. Das Verhältnis zwischen Kollagen Typ III und I ist entscheidend für die Narbenbildung. Ziel ist eine flexible, nicht störende Narbe.) Auch Myofibroblasten sind jetzt im Wundgewebe nachweisbar. Sie erreichen aber nie mehr als 10 % Anteil an der gesamten Zellpopulation. Man findet sie in der Nähe der dicken Kollagen-Typ-I-Fasern. Myofibroblasten weisen eine hohe Konzentration an α-Aktinin (30–40 %) auf, die ihnen eine höhere kontraktile Fähigkeit verleiht. Normale Fibroblasten besitzen höchstens 1 % an α-Aktinin. Myofibroblasten sind zusammen mit den Fibroblasten, die es in viel größeren Mengen gibt, hauptverantwortlich für die sekundäre Gewebekontraktion. Die Kontraktion wird durch Zytokine (Informone) ausgelöst. Und was ist jetzt physiotherapeutisch zu tun oder zu lassen? 1. Keine Kühlung – Eis hemmt Aktivität der Zellen. 2. Keine Kompression – Lymphe muss laufen. 3. Biokybernetische, informative, orthodynamische Belastung.

Rekapitulation: Die ersten Tage nach dem Trauma Die ersten Tage nach dem Trauma möchte ich hier noch einmal hervorheben und kurz zusammenfassen. Betrachten wir, was im Zeitraum ab dem 2. bis 3. Tag, dem 3. bis 4. Tag, dem 4. bis 6. Tag, respektive 4. bis 7. Tag, dem 8. bis 16. Tag und dem 5. bis 21. Tag passiert ist. Überschneidungen

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der Zeiträume sind unvermeidbar. Die Biologie gibt uns vor, was während der Wundheilung abläuft und vor allem in welchen Zeitabschnitten. Dazu kommt die jeweilige individuelle Situation des Betroffenen, die eine allgemeingültige Definition nicht zulässt. Das ist nur bio-logisch. Nicht mehr und nicht weniger. 2. bis 3. Tag Die Fibroblastenaktivität (Fibroblastenphase) beginnt und läuft in den Sehnen bis zu 6 Wochen weiter (in der Haut bis zu 3 Wochen). 3. bis 4. Tag Steigerung der Fasersynthese (vor allem Kollagen Typ III  = retikuläre Fasern). Fortschreiten der Kapillarisierung, Hyperkappilarisation, Neoangiogenese. Migration der Epithelzellen. 4. bis 6. Tag (und Vorausschau) Abnahme der phagozytierenden Zellen zugunsten der Fibroblasten und Myofibroblasten. Erhebliche Steigerung der anabolen Prozesse. Gesteigerte Produktion von Kollagen Typ III und anderen Matrixbestandteilen. 4. bis 7. Tag (und Vorausschau) Anabole Reparation und Kollagen-Bildung. Die Fibroblasten produzieren unter Wundheilungsbedingungen einen anderen Kollagentyp: Typ-IIIKollagen. 5. bis 21. Tag (und Vorausschau) Durch Proliferation – also der Bildung oder Entstehung von neuem Bindegewebe – wird der Wunddefekt zunehmend mit neuem Gewebe aufgefüllt. Synonym hierfür: Die Granulationsphase. Das sichtbare Granulationsgewebe ist dabei namensgebend, denn es ist augenscheinlich grob gekörnt (Granulum = Körnchen). Hand in Hand mit der zellreichen Auffüllung des Wunddefektes geht der Abbau des Fibrinnetzes durch Fibrinolyse einher. Durch einsprossende Haarkapillare nimmt zugleich der Gefäßreichtum (Vaskularisation) zu. Die Fibroblasten produzieren hexosaminhaltige, saure Glycosaminoglycane (GAG) als „Mutterboden“ und über intrazelluläre Vorstufen produzieren sie extrazelluläre Bindegewebsfasern vom Kollagen Typ III. Der zeitliche Ablauf ist sehr komplex und unterliegt dem Einfluss zahlreicher Informone. Das Granulationsgewebe kann sich jedoch nur in der

8  Phasen, Phrasen und biokybernetische Aspekte der Wundheilung     99

entsprechenden Zeit entwickeln, wenn keine allgemeine und örtliche Mangelernährung (keine Mangeldurchblutung) und keine Stoffwechselerkrankung (etwa Diabetes) das Wachstum behindert. Die Entwicklung dauert etwa vom vierten bis zum zwölften Tag. Etwa zwischen dem sechsten und zehnten Tag beginnt die Ausreifung der kollagenen Fasern. Bei sehr kleinen Wunden kann die Entwicklung von Granulationsgewebe schon nach wenigen Stunden beginnen. 8. bis 16. Tag Ab der zweiten und dritten Woche ist die Fibroblasten-Aktivität am höchsten. Der Peak (Synthesehöhepunkt) wird nach ungefähr 16 Tagen erreicht. Es werden nicht nur Fasern, sondern auch vermehrt Grundsubstanz gebildet. Das Entstehen des körnigen, gefäßreichen Granulationsgewebes (nicht belastbares Bindegewebe) wird nur während der Wundheilung beobachtet. Wundkontraktion – das Granulationsgewebe spannt während der Fibroblastenzunahme an – stoppt die Fibroblastenzunahme sowie die Neoangiogenese. Beide Prozesse kommen fast völlig zum Erliegen. Die Gewebskontraktion wird durch aktinreiche Fibroblasten verursacht. Aktin ist ein Strukturprotein, das in allen Zellen vorkommt. In Muskelzellen ist sogar jedes zehnte Proteinmolekül ein Aktinmolekül. Was passiert weiter? Die Fibroblasten nehmen eine längliche Form an und bilden Pseudopodien (Ausstülpungen oder Scheinfüßchen). Sie verbinden sich sowohl miteinander als auch mit den Kollagenfasern. Die Kontraktion wird durch Aktin ausgelöst. Eine der wichtigsten Zytokine, die diese Fibroblasten-Kontraktion auslösen, ist das TGF-β, das von Blutplättchen und Entzündungszellen ausgeschüttet wird. TGF steht für: Transforming Growth Factor. Und was ist jetzt physiotherapeutisch zu tun oder zu lassen? Das Gewebe hat jetzt keine normale Belastbarkeit. Trotzdem sollte man dosiert belasten und die Belastung weiter langsam steigern. Ich nenne das eine kybernetische, orthodynamische, informative Belastung. Die drei wichtigsten Faktoren dabei sind und bleiben generell: 1. Bewegung, 2. Bewegung und 3. Bewegung. Das heißt: 1. Funktion, 2. Funktion und 3. Funktion. Und bei aller Bescheidenheit ist als jeweils 4. Faktor der Physiotherapeut zu nennen. Er ist der Spezialist, wenn es um orthodynamische Entscheidungen geht.

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Der 5. Tag (Woche 1) Langsame Zunahme von Kollagen Typ I Wir sprechen ab hier nur noch von Tagen und Wochen, nicht mehr von Stunden: Ab jetzt produzieren die Fibroblasten auch Kollagen vom Typ I. Diese Produktion ist viel aufwendiger und kommt daher nur langsam im Gang.

Der 6. Tag (Woche 1) Zunahme von Kollagen Typ III Es kommt zu einer Akkumulation von extrazellulären Matrix- Molekülen. Vor allem Kollagen Typ III häuft sich an. Wundkontraktion Es kommt zu einer Anhäufung von Myofibroblasten. Diese stammen aus mesenchymalen Stammzellen, Perizyten und umgewandelten Fibroblasten. „Mesenchymale Stammzellen (MSZ) sind multipotente Stammzellen, die im Knochenmark vorkommen und wichtig für Aufbau und Reparatur von Skelettgeweben wie Knorpel, Knochen und im Knochenmark enthaltenem Fett sind.“10 „Pericyten (auch Perizyt) sind Zellen, die an der Außenwand von Blutkapillaren [und postkapillaren Venolen] anliegen. Sie gehören zu den Bindegewebszellen. Sie können sich zusammenziehen und dadurch die Durchblutung dieser Gefäße beeinflussen.“11 Das Wundgebiet ist nun mit neutrophilen Granulozyten und anderen Leukozyten gefüllt. Die größte Menge besteht aus Granulozyten. Die Granulozytenpopulation macht in der ersten Woche nach dem Trauma 75 % der Leukozyten aus. Im Laufe der nächsten Tage nimmt der freie (ungebundene) Wasseranteil ab. Wasser wird wieder in Glycosaminoglycane gebunden. Das physiko-chemische Gleichgewicht nimmt zu. Einfach gesagt: Der „Normalzustand“ kehrt ein – sowohl physikalisch wie auch chemisch.

10 „Mesenchymale Stammzellen: die ‚anderen‘ Knochenmark-Stammzellen“, Quelle: eurostemcell.org, URL: https://www.eurostemcell.org/de/mesenchymale-stammzellen-die-anderen-knochenmark-stammzellen. 11 „Pericyt“, Quelle: wikipedia.org, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Pericyt.

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Außerdem findet eine Reifung des Kollagens Typ III und dadurch eine Steigerung der Reißfestigkeit des Wundgewebes statt. Darüber hinaus kommt es zu einer zunehmenden Differenzierung der Epithelschichtung. Kollagen Typ I Ab dem 5. bis 6. Tag wird die Kollagen-Typ-I-Produktion erhöht. Die Lage der Typ-III-Kollagenfasern und deren Querverbindungen dienen dem jetzt gebildeten Kollagen Typ I als „Navigation“. Die Produktion von extrazellulärer Matrix wird insgesamt hochgefahren. Es kommt vermehrt zu anabolen Prozessen. Die katabolen Vorgänge werden gleichzeitig langsam zurückgefahren.

Der 7. bis 10. Tag (Woche zwei) Wundkontraktion Am 7. Tag ist der Gipfel der Myofibroblasten-Häufung erreicht. Die Wundkontraktion ist in vollem Gange. Die Myofibroblasten besitzen deutlich mehr kontraktile Eiweiße wie gewöhnliche Fibroblasten. Ein kontraktiles Molekül ist das α-Aktinin. Normale Fibroblasten weisen weniger als 1 % an α-Aktinin auf. Myofibroblasten können in bestimmten Fällen bis zu 40 % aus α-Aktinin bestehen. Die Myofibroblasten arbeiten bei der Wundkontraktion im Team. Sie verbinden sich miteinander und formen kettenähnliche Zellreihen. So können sie zusammen eine deutliche Kontraktion hervorrufen. Myofibroblasten verbinden sich auch mit den Kollagenen, um mittels dieser Strukturen eine gezieltere und stärkere Wundkontraktion zu erreichen. Fibroblasten und Myofibroblasten reagieren schnell und stark auf Belastung und Funktion. Die Fibroblasten haben eine längliche Form. Sie richten sich senkrecht zur Belastung aus. In dieser Position reagieren sie verstärkt auf Belastungen und setzen Enzyme und Informone frei. Dabei nimmt die Produktion von extrazellulärer Matrix zu. Darum ist es für den Wundheilungsprozess förderlich, wenn der Betroffene in eine frühe orthodynamische Funktion kommt. Das Recycling von aufgenommenen Bruchstücken und die Entsorgung von Abfallprodukten nimmt ebenfalls zu.

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Der 11. bis 14. Tag (Ende Woche zwei) Beginn der Faserbildung Kollagen Typ I In dieser Zeit findet eine Abnahme des Zell-, Kapillar- und Proteoglykangehaltes zugunsten der Kollagen-Typ-I-Fasern statt. Ebenso kommt es zu einer Anpassung (Reintegration) des Metabolismus an die unverletzte Umgebung.

Der 15. bis 21. Tag (Woche drei) Fibroblastenproduktion und Kollagensynthese Am 16. Tag wird der Höhepunkt der Fibroblastenproduktion erreicht. Die Kollagensynthese läuft auf Hochtouren. Die Leukozyten im Wundgebiet bestehen jetzt zu 85 % aus Makrophagen.

Die 4. Woche (Monat eins) Umbauphase und Übergang in die Maturationsphase Wir haben den Höhepunkt der Proliferationsphase erreicht und nähern uns der Remodellierungsphase, auch Maturationsphase genannt. Dann TempoErhöhung der Proliferation und moderater Beginn der Remodellierung.

Die 6. – 12. Woche (Monat drei) Abschluss der Proliferationsphase Nach 6 Wochen ist die Proliferationsphase definitiv abgeschlossen. Jetzt tritt die Remodellierungsphase, sprich Maturationsphase deutlich in den Vordergrund.

Das weitere Jahr (Monate vier bis zwölf) Maturationphase (Reifungsphase) Mit jedem weiteren Monat kommen wir dem Ziel unserer Reise durch die Welt der Wundheilung näher. Die weitere Zunahme der Reißfestigkeit des Narbengewebes hängt jetzt von der Vernetzung, Verfestigung und

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­ usrichtung der Kollagenfasern ab. Dazu wird Kollagen Typ III in Typ I A umgebaut. Der Wassergehalt des Gewebes geht zurück. Die sich im Gewebe befindende Narbe nimmt in Volumen ab und reduziert sich weitgehend, damit sie nicht als Störfaktor im Muskel- und Bandgewebe zurückbleibt. Dieser Prozess dauert ein bis maximal zwei Jahre.

Gratulation: Wir sind auf der Zielgeraden! Geringe Entstehung von Narbengewebe Wenn wir als Physiotherapeuten alles richtig gemacht haben, entsteht Narbengewebe nur im geringstmöglichen Maße. Mit dieser Einsicht sind wir dann auch am Ende unserer Reise angelangt. Der Prozess der Wundheilung gilt damit als abgeschlossen. Es war ein sehr langer Weg von der ersten Sekunde nach der Verletzung bis zu jenem Tag, an dem die Wunde verheilt war. Unser Weg war abschnittsweise sehr anspruchsvoll. Ja, es konnte einem schon warm werden. Aber wie heißt es so schön: Reisen bildet. In unserem Fall Wärme. Und das war natürlich gewünscht. Denn gemäß der FIT-Regel wird Wärme unbedingt gebraucht. Wenn Sie nur diese Erkenntnis von unserer Reise mitnehmen, sind Sie FIT, um sich auf den weiteren Weg zu machen. Dabei sollten Sie bitte immer im Kopf behalten: Nicht nur die Wundheilung benötigt Wärme. Alle chemischen Reaktionen, die eine Zelle ausführt oder begleitet, brauchen Wärme. Und auch die Zellstrukturen selbst, wie etwa die Zellmembran, brauchen Wärme, um funktionsfähig zu bleiben. Am besten ±37 °C. Anders gesagt: Was Zellen gar nicht brauchen, ist Kälte!

9 Multitalking: Das integrale Informationssystem Mensch

Mit Langwörtern wird gerne geprotzt. Höher, schneller, weiter, länger. Im Wettbewerb um das längste Wort, ist mit dem bereits im 7. Kapitel genannten Schlangenwort „Psychoneuroendokrinoimmunologie“ das obere Ende des Rankings aber noch lange nicht erreicht. Trotzdem haben Sie nach der letzten Silbe – immerhin sind es dreizehn – bestimmt erst einmal Luftholen müssen. Das Leibnitz-Institut für deutsche Sprachforschung in Mannheim beschäftigt sich auch mit Langwörter-Auswüchsen. Dort findet man ein schönes Beispiel aus der Politik. Das Wort ist so lang, es passt noch nicht einmal in eine Zeile: „Steuerentlastungsberatungsvorgesprächskoalitionsrun denvereinbarungen.“1. Unser Schlangenwort werden Sie bestimmt nicht vergessen haben. Vielleicht aber dessen Bedeutung. Im Längen-Vergleich kommt Psychoneuroendokrinoimmunologie zunächst fast bescheiden daher. Seine Größe muss man auch weniger anhand der Länge oder der Anzahl seiner Silben messen. Man muss viel mehr herauslesen, was an Größe in ihm steckt. Denn diese Größe ist sehr fragwürdig. Aber eins nach dem anderen. Durch immer weitere Spezialisierung und Apparatisierung der Medizin, ging der Blick für das Ganze in den letzten Jahrzehnten weitgehend verloren. Der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit wurde demontiert und in

1 „Das

Spiel mit langen Wörtern“, Quelle: grammis – Grammatisches Informationssystem des IDS, URL: https://grammis.ids-mannheim.de/fragen/3018.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_9

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seine Bestandteile aufgelöst. Man spähte mit hochtechnisierten Apparaten tief in den menschlichen Körper hinein. Jedes Organ bekam seinen eigenen Arzt – seinen Leibarzt möchte man fast sagen – sogar für die Zelle gab es bald einen: den Zytologen. Ich frage Sie: Was hat die Experten auf ihrem Spezialisierungsirrweg eigentlich davon abgehalten, an den Hochschulen als nächstes einen Atomologen oder Quarkologen auszubilden? Für noch mehr Spezialisierung! Gott sei Dank hat sie irgendetwas davon abgehalten. Was, ist mir wurscht. Dennoch brachte der Spezialisierungstsunami dann doch noch den Gentechnologen hervor. Irgendwann hatten die Spezialisten aber so tief durchs Glas ihres Elektronenmikroskops geschaut, dass ihnen der Blick fürs Ganze nun gänzlich abhandenkam. Das war der bedenkliche Augenblick, in dem sie – die Spezialisten – entschieden, sich zusammenzuschließen. Davor studierte der Neurologe erst einmal Psychologie – mit dem Ergebnis, dass daraus die Psychoneurologie entstand. Dann tat sich der Endokrinologe mit dem Immunologen zusammen. Seitdem kommen wir in den Genuss der Endokrinoimmunologie. Und als wäre das noch nicht genug gewesen, formten alle zusammen ein Quartett und die Psychoneuroendokrinoimmunologie war geboren. Bravo! Diese Entwicklung ist sicher atemberaubend zu nennen. Sie ist viel atemberaubender als der Begriff selbst. Man spürt förmlich, wie das Suffix -logie hier gequält wird. Und es tut mir weh. Es ist doch schlicht bio-logisch, dass das Nervensystem Einfluss auf das Immunsystem hat und umgekehrt das Immunsystem auf das Nervensystem einwirkt. Man kann auch sagen: Die beiden Systeme kommunizieren miteinander – so wie alles mit allem in einem ganzheitlichen System wie unserem Organismus in einem ständigen Informationsaustausch steht. Das war längst klar, noch bevor der Mensch von den oben genannten Experten in Scheibchen geschnitten wurde, die sich zuerst spezialisiert und dann wieder zusammenschlossen hatten, aber am Ende doch vergaßen, den Menschen wieder als ganzheitliches Informationssystem zu erkennen. Weil er mir aus der Seele spricht, möchte ich an dieser Stelle Dr. med. Jürgen Hörhan zitieren, Allgemeinmediziner mit Fokus auf Natur- und Regulationsmedizin sowie auf den Bewegungsapparat, u. a. Betreuer international erfolgreicher Spitzensportler und ehemaliger Teamarzt des Österreichischen Frauenfußball-Nationalteams: „Der Organismus Mensch ist ein hochintelligentes, eigenregulatives Informationssystem mit der Fähigkeit zur Selbstheilung. Wie bei einem Eisberg gibt es im Organismus Informationen, die nicht immer auf den ersten Blick zu sehen sind, aber für eine ganzheitliche Einschätzung der körperlichen Situation wertvoll sein können. Das Krankheits-Symptom bildet lediglich die Spitze des im Verborgenen

9  Multitalking: Das integrale Informationssystem Mensch     107

liegenden Eisberges, der eigentlichen Störung im Hintergrund: Mangelzustände, Belastungen durch Mikroorganismen und Störfelder wie Entzündungen oder Narben, geschwächte Zellmembranen und Mitochondrien, Funktionseinschränkung und Dysregulation der unterschiedlichen Körpersysteme.“2. Die meisten Studien in der Psychoneuroendokrinoimmunologie (PNEI) lenken ihre Aufmerksamkeit auf kopierbare Stress-Situationen, denen Labortiere ausgesetzt werden. Diese Studien zeigen, dass Disstress eine immunsuppressive Wirkung hat. „Bei einer Immunsuppression wird das körpereigene Abwehrsystem (Immunsystem) unterdrückt – entweder durch eine Krankheit oder erhöhte Belastung oder aber ganz gezielt mit Medikamenten.“3 Die Studien zeigen aber auch, dass das Immunsystem das Nervensystem beeinflusst. Die vor allem durch das Immunsystem freigesetzten Informone regulieren zum Beispiel die Zentren des Hypothalamus. Der Hypothalamus wiederrum übt über seine Hormonkaskaden Einfluss auf das Immunsystem aus. Beide, Nervensystem und Immunsystem sind biokybernetische Verteidigungsgefüge; damit ist ihre Kommunikation miteinander für ihre Zusammenarbeit unerlässlich. Kommunikation zwischen Nervensystem und Immunsystem Es gibt mehrere Hauptwege, über die das Nervensystem mit dem Immunsystem in Kontakt steht. In der Hauptsache führen diese Wege über das vegetative Nervensystem. Der erste Weg ist die Hypothalamus-HypophyseNebennierenrinde-Achse. Über diese Achse werden zum Beispiel Kortikosteroide (Hormone aus der Nebennierenrinde) freigesetzt, die eine deutlich immunsuppressive Wirkung zeigen (Abb. 9.1). Der zweite Weg führt über die Hypothalamus-NucleusIntermediolateralis-Nebennierenmark-Achse. Über diese Achse werden Catecholamine wie Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt. Ein dritter Weg besteht durch die nachgewiesene vegetative Innervation von primärem und sekundärem lymphoidem Gewebe. So werden Thymus, Knochenmark, aber auch Milz, Lymphknoten und Pleyer’sche Plaques vegetativ orthosympathisch innerviert. Innervation bedeutet so viel wie: Ein Nerv wird mit Reizen versorgt und angeregt. So kann man sich leicht 2 Dr.med.

Jürgen Hörhan, „Der chronifizierte Patient in der naturheilkundlichen Praxis. Informationsmedizin als Chance einer erweiterten Betrachtung“, Quelle: Abstract Vortrag Kongress „Via Sanitas“, 20.10.2017, URL: http://www.lebenskunst.at/pdf/Vortrag.pdf. 3  „Immunsuppression“, Quelle: netdoktor.at, URL: https://www.netdoktor.at/therapien/immunsuppression/.

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Lymphozyt Satellitenzellen Mastzelle OP

Schwann'sche Zelle

HIS, HEP, TNF, 5-HT GDNF, CNTF, NGF

Thrombozyten

H3O+

BK

NA

NT

PG

NO Blutgefäß

NP ZK

Vegetaves Neuron Makrophage NGF

PG

Fibroblast Granulozyt

Abb. 9.1  Der komplexe Prozess der Wundheilung wird in Korrelation von zahlreichen chemischen und bio-chemischen Faktoren sowie Informonen gesteuert

v­ orstellen, dass in Situationen sympathischer Aktivierung (Arousal) auch das Immunsystem beeinflusst wird. Daraus ergibt sich eine eindeutige Beweislage für die beidseitige Verbindung von Nervensystem und Immunsystem. Zur Verdeutlichung: Das Nervensystem (kurz NS) wird in ein animales und ein vegetatives eingeteilt. Das animale NS inerviert ausschließlich die quergestreifte Muskulatur. Das vegetative NS dagegen inerviert alle Bereiche. Damit ist klar, dass das Vegetativum auch für die Sensoren, die für die Information aus der Peripherie des Körpers sowie für das Wundheilungsgebiet zuständig ist. Tritt nun eine Notlage ein, wie etwa bei einer Verletzung, dann benötigt das System sehr viele Informationen. Da die Umgebung des Wundgebietes die Sensoren und das Vegetativum empfindlicher macht, ist das Informationsaufkommen deutlich erhöht. Nachts dagegen, im Tiefschlaf, wenn wir in der dritten Traumphase stecken, benötigt unser System erheblich weniger Informationen. Und um auch noch kurz auf die beiden vorgenannten Bindestrich-Wortmonster, die die Achsen betrafen, einzugehen: Die Sprachforscher vom Leibnitz-Institut sprechen von Durchkopplungsbindestrichen, die derartige Wortkompositionen einerseits zusammenbinden, andererseits überschaubarer machen. Man lernt nie aus…

9  Multitalking: Das integrale Informationssystem Mensch     109

Stress trifft jede Zelle! Sympathische Aktivierung bedeutet immer Stress. Distress (negativer Stress) kurbelt Myriaden von biochemischen und biokybernetischen kaskadenartigen Prozessen an. Während einer akut lebensbedrohlichen Situation werden wichtige vegetative Funktionen, die nicht überlebenswichtig sind (wie etwa Nahrungssuche, Sexualverhalten und Ähnliches), zurückgestellt. Energie und Sauerstoff fließen jetzt zu jenen Organen, die bei Kampf- oder Fluchtverhalten besonders gefordert sind – etwa die Muskeln. Das spezifische Arousal erhöht die Herzfrequenz, den Blutdruck, wir atmen schneller, Muskeltonus und Temperaturabgabe nehmen zu. Biokybernetisch gesehen ist der Mensch ein Homöostat. Also ein biokybernetisches System, das sich seiner Umwelt gegenüber in einem stabilen Zustand halten kann. Auch Umwelt oder Natur sind Homöostaten. Ja, sogar jede einzelne Zelle ist ein Homöostat. Es ist nachweisbar, dass eine elektrische Stimulierung oder eine Ausschaltung von bestimmten Hypothalamuskernen (bestimmte Gebiete des Hypothalamus) hemmende, aber auch stimulierende Auswirkungen auf das Immunsystem haben. Der Hypothalamus dient bekanntermaßen als „Schaltzentrale“, sprich oberstes Regulationszentrum für alle vegetativen und endokrinen Vorgänge. Er steuert zum Beispiel die Atmung, den Kreislauf, unsere Körpertemperatur, unser Sexualverhalten, aber auch die Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme. Dasselbe gilt für Tiere. Schaltet man bei Ratten bestimmte Gebiete des Hypothalamus elektrisch aus, hat das je nach Kerngebiet einen fazilitierenden (fördernden) oder inhibierenden (hemmenden) Einfluss auf das Immunsystem. Wenn bei diesen Ratten eine Hypophysektomie durchgeführt wurde, bestand dieser Effekt auf das Immunsystem dagegen nicht. Hypophysektomie ist die Bezeichnung für die chirurgische Entfernung der Hypophyse (Hirnanhangsdrüse), die meist zur Behandlung von Tumoren durchgeführt wird. Auch Läsionen der Hypophyse (Über- oder Unterfunktionen) können das Immunsystem positiv oder negativ beeinflussen. Lymphozyten und Leukozyten besitzen Rezeptoren für bestimmte Informone wie etwa Neurotransmitter oder Neuropeptide. Damit ist eindeutig, dass das Nervensystem mit diesen Teilen des Immunsystems kommuniziert; dass also Informationen ausgetauscht werden. Leukozyten und Lymphozyten exprimieren zum Beispiel β2-adrenerge Rezeptoren. Bei erhöhter Katecholamin-Freisetzung, etwa bei Stress, werden diese β2Rezeptoren belegt und die Funktionen dieser Immunzellen stark herabgesetzt. „Als Katecholamine bezeichnet man die Gruppe der biogenen

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Amine Noradrenalin und Dopamin (primäre Katecholamine) sowie Adrenalin und deren Derivate (sekundäre Katecholamine).“4. Die extrazelluläre Matrix Die extrazelluläre Matrix (Ort der Wundheilung) besteht aus drei Hauptgruppen von Makromolekülen: Fasern, Glykoproteinen und Proteoglykanen. Die Matrix hat nicht nur eine biomechanische, sondern auch biokybernetische Aufgabe, die das Zellverhalten moduliert. So werden die Wanderung, Bindung und Differenzierung der Zellen maßgeblich durch die Matrix mitbestimmt. Auch die Basalmembran besteht aus spezialisierter Matrix. Auf diese Art üben Matrix und Basalmembran einen Einfluss auf die Regenerations- und Reparationsvorgänge aus. Der Prozess, der die Gewebskontinuität wiederherstellt, wird Wundheilung genannt. Wundheilung kann durch Regeneration oder Reparation stattfinden. Regeneration nennt man den Prozess, bei dem verlorengegangenes Gewebe durch neues Gewebe von gleicher oder ähnlicher Funktion und Morphologie ersetzt wird. Reparation bezeichnet den Prozess, bei dem verlorengegangenes Gewebe durch fasziales Gewebe ersetzt wird, das sich zu Narbengewebe entwickelt. Zwischen Matrix und Zellen, Zellen und Zellen und Matrix und Matrix findet permanent Kommunikation statt, denn ständig müssen Informationen ausgetauscht werden. Die Integrine, eine Familie von Transmembranproteinen (Rezeptoren), interagiert sowohl mit der Matrix als auch mit dem Inneren der Zelle. Durch diese Interaktion reguliert die Matrix das Zellverhalten und somit die Wundheilung. Da bestimmte Zellen die Matrix zeit- und platzgebunden produzieren, werden Integrine und Matrix zur funktionellen Einheit. Der Kommunikationsaustausch zwischen Zellen und Matrix kann durch Liganden oder durch das Freisetzen von Zytokinen (informone Botenstoffe), die an Rezeptoren binden, erfolgen. In Laufe der Evolution wurden aber auch Informationswege aktiviert, die über die Blutbahn und über spezielle lange Zellen (Neuronen) verlaufen. Weitere Informationswege, die uns nicht oder nur wenig bekannt sind, existieren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Da ich ein Freund barrierefreien Denkens bin, seien an dieser Stelle genannt: Photonen

4 „Katecholamine“, Quelle: flexicon.doccheck.com, URL: https://flexikon.doccheck.com/de/Katecholamin.

9  Multitalking: Das integrale Informationssystem Mensch     111

(Lichtteilchen) oder Phononen (Quasiteilchen). Und ich setze noch eins drauf: Auch Qi oder Prana. Auch interindividuelle Informationen können beispielsweise durch Pheromone weitergegeben werden. „Pheromone sind Botenstoffe, die der biochemischen Kommunikation zwischen Lebewesen einer Spezies dienen […]. Andere Arten bleiben von dieser Kommunikation ausgeschlossen.“5. Was die Kommunikation betrifft, kommt aber auch Telepathie in Frage. Es wurden bis heute bereits mehrere Brain-to-Brain-Experimente durchgeführt, die die Kraft der Gedankenübertragung von Gehirn zu Gehirn aufzeigen. Dabei sendet ein Mensch Informationen an einen anderen Menschen. „Mit Hilfe von zwei nicht-invasiven Techniken schickten Forscher [erstmals 2014] Worte von einem Gehirn zum anderen. […] über eine Entfernung von mehr als 8000 km hinweg. Dazu nutzen die Forscher […] zwei verschiedene Techniken: Mithilfe von Elektroden auf der Kopfhaut zeichneten sie zunächst die Hirnströme des Probanden auf, der die Nachricht senden sollte. Diese Nachrichten bestanden aus den Worten „Hola“ und „Ciao“, welche die Forscher zunächst in einen binären Code aus Einsen und Nullen umwandelten. Für jede Eins oder Null musste sich der Proband entsprechend vorstellen, ein Arm oder ein Bein zu bewegen. Via Internet schickte ein Computer den vom Probanden gesendeten Code schließlich von Indien bis nach Frankreich, wo drei weitere Versuchsteilnehmer saßen, deren Hirne anschließend entsprechend mittels transkranieller Magnetstimulation stimuliert wurde. Die Einsen und Nullen nahmen die Probanden dabei als unterschiedliche Lichtreize vor ihrem inneren Auge wahr. Im Ergebnis schafften die Empfänger es in fast allen Fällen, die Nachricht richtig zu entschlüsseln. Die Fehlerrate lag bei rund 15 Prozent.“6. Die biokybernetischen Systeme bereiten jede Zelle im Körper auf eine bevorstehende Reaktion vor. So wird zum Beispiel jede Muskelzelle in einen erhöhten Tonus und in Arbeitsbereitschaft versetzt. Agonist (MuskelSpieler =  Bewegung) und Antagonist (Muskel-Gegenspieler  = Gegenbewegung) reagieren gleich. Alles spannt an; damit haben wir es mit einer aspezifischen Antwort zu tun. Nach dieser Erstbewertung, die lediglich die Situation, die zu einer Bewegung führt, auf günstig oder ungünstig einschätzt, folgt umgehend eine zweite Einschätzung. Diese berücksichtigt,

5 „Pheromon“,

Quelle: URL: chemie.de, https://www.chemie.de/lexikon/Pheromon.html. realisieren erste Hirn-zu-Hirn-Kommunikation“, Quelle: spectrum.de, URL: https://www. spektrum.de/news/hirnforschung-forscher-realisieren-erste-hirn-zu-hirn-kommunikation/1307223.

6 „Forscher

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neben einer genaueren Analyse der Situation, auch die Bewältigungsfähigkeiten und -möglichkeiten des Individuums in dieser Situation. Beispiel: Die Erstbewertung hat über eine Aktivierung von spezifischen Subsystemen des Nucleus intermediolateralis (Kerngebiet des Sympathikus im Rückenmark) eine Erhöhung der Sensoren-Empfindlichkeit ausgelöst, sodass man bei der Zweiteinschätzung besser informiert ist. Nach der zweiten Bewertung entsteht so eine spezifischere Reaktion. Wird zum Beispiel als Reaktion Flucht gewählt, muss das System viel präziser agieren. Auf die Muskelzelle bezogen bedeutet das, dass eine perfekte Koordination benötigt wird, sprich: ein abwechselnder, optimal regulierter Tonus zwischen dem Agonisten und dem Antagonisten. Das biokybernetische System muss also sowohl selektiv hemmen als auch aktivieren. Bei einer Kampfreaktion braucht man eine noch höhere Selektivität. Der heutige Mensch ist durch seine Kultur hauptsächlich psychischemotionalen Belastungen ausgesetzt. Selbst der 100-Meter-Läufer wird durch die Folgen der Erwartungshaltung (verlieren oder gewinnen) oft mehr belastet als durch die körperliche Anstrengung des Vollsprints. Eigentlich ist das 100-Meter-Laufen eine Fluchtreaktion, doch kulturell gesehen ist es eine Kampfreaktion. Da ist es nur logisch, dass der Läufer mentale Probleme bekommt. Die aspezifische Reaktion oder das aspezifische Arousal aktiviert jede Körperzelle. Alle Wege werden genutzt: Die Hypophyse-Nebennierenrindenachse (Korticosteroidachse), die Hypothalamus-Nebennierenmarkachse (Adrenalinachse), die Hypothalamus-Nucleus-Intermediolateralis-Achse (Noradrenalinachse), die motorische Achse (Achethylcholin), die Endorphinachse usw. Da alles ohne Ausnahme aktiviert wird, sprechen wir von einer aspezifischen Reaktion. Nach der Zweiteinschätzung und -bewertung findet die spezifischere Reaktion also einen aufgewühlten Zustand vor, der gezielt gehemmt werden muss. Wenn Flüchten oder Kämpfen, warum auch immer, nicht möglich sind, bleibt das System in einem aspezifischen Aktivierungszustand stecken (Totstell-Reaktion). In einer solchen Situation bekommt der Mensch zum Beispiel oft keinen Ton mehr heraus, da alle Muskeln anspannen und die Stimmbänder nicht selektiv bewegt werden können. Auch in der Natur hat das einen Sinn. Ein Beispiel: Ein Hirsch in einer Gefahrensituation steht wie ausgestopft am Waldrand und gibt keinen Mucks von sich. Da sein natürlicher Feind der Wolf ein Bewegungsseher ist, ist dies für den Hirsch eine sehr effiziente, passive Form der „Verteidigung“. Viele Jäger (wie der Wolf ) reagieren auf Bewegung; sie sind wie man in

9  Multitalking: Das integrale Informationssystem Mensch     113

der Jägersprache sagt: Bewegungsseher. Und viele Beutetiere verharren in Gefahr erst einmal, stellen sich tot und erkunden doch die Situation. All ihre Sinne sind geschärft und das biokybernetische System befindet sich in einem Zustand (arousal and attention) höchster Wach- und Aufmerksamkeit. Dieses Verhalten dient ihnen nicht nur als Schutz, mit dem Ziel, nicht wahrgenommen zu werden, sondern es ergibt sich für sie daraus auch eine Situation, in der sie ihrerseits Informationen über die Stresssituation aufnehmen können.

10 Jetzt zieht sich zusammen, was zusammengehört: Wundkontraktion

Wundheilung läuft in allen Körperstrukturen sehr ähnlich ab. Im Gegensatz zu Chirurgen oder auch Dermatologen, die fast ausschließlich mit offenen Wunden zu tun haben, widmen wir uns in der Physiotherapie den tiefliegenden Muskel- und Bandverletzungen. Glück im Unglück könnte man sagen, denn Muskel- und Bandverletzungen haben den „Vorteil“, dass im verletzten Gewebe wenigstens keine Bakterien oder sonstige Fremdkörper zu finden sind. Unabhängig davon, wie die Wunde heilt, kennen wir drei Phasen der Wundheilung. Oder anders gesagt: Wir bekennen uns zu diesen drei Phasen. Würde man, wie im 8. Kapitel bereits im Detail beschrieben, noch die Hämostase berücksichtigen – etwa, um damit die neueren Erkenntnisse auf diesem Gebiet zu berücksichtigen – könnte man auch vier Phasen zählen. Ich bleibe jedoch konsequent bei meinem Drei-Phasen-Modell. Die Phasen folgen aufeinander, können sich aber auch zeitlich überlappen: 1. Entzündungsphase 2. Proliferationsphase 3. Remodellierungsphase (oder auch Maturationsphase)

Da wir uns im folgenden Kapitel, dem 11., noch ausführlich der Narbenbildung widmen werden, schauen wir uns jetzt die dritte Phase genauer an. Im Anschluss an die Proliferationsphase kommt es zur Remodellierungsphase (Maturationsphase). In dieser Phase läuft die Wundkontraktion, die © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_10

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bereits am 6. Tag begonnen hatte, kontinuierlich weiter. Wundkontraktion sagen wir, weil sich die Wunde zusammenzieht und schrumpft und die Wundsekretion abnimmt. Dass wir dabei eine offene Wunde vor Augen haben, ist klar. Der „oberflächliche“ Blick auf die Haut dient hier aber nur der Illustration dessen, was tieferliegend ganz ähnlich abläuft. Maturation bedeutet, dass ein Reifeprozesses stattfindet. „Das Granulationsgewebe wandelt sich zu Narbengewebe um, weil Kollagenfasern ausreifen. […] Es folgt eine Zeit der [weiteren] Reifung, in der sich die Kollagenfasern verfestigen und die Narbe reift. Weiterhin nehmen der Wassergehalt und die Durchblutung im Gewebe ab.“1. Wenn wir diesen Prozess genauer unter die Lupe nehmen, können wir sehen, was auf Zellebene passiert. Besser wäre allerdings, wir schauten durch ein Lichtmikroskop, sonst wird das nichts mit dem Sehen. Myofibroblasten (Ultrastruktur) Myofibroblasten sind die „Macher“ der Wundkontraktion. Als Zelltypen wurden sie erstmals im Kontext der Wundheilung beschrieben. Sie kommen auch als Perizyten vor, die an der Außenwand von Blutkapillaren anliegen. Perizyten stellen eine Zwischenform zwischen glatter Muskelzelle und Fibroblast dar und enthalten kontraktile Aktin- und Myosin-Filamente sowie eine hohe endogene Produktion von Kollagen. Ursprung der Myofibroblasten sind Fibroblasten, die durch aktivierte Makrophagen (in Wunden) zur Zellteilung angeregt wurden. Diese entstandenen Myofibroblasten wandern mit den Makrophagen in das Wundgebiet hinein und ersetzen dort Leukozyten. Auf diese Weise stimulieren sie die Einwanderung von weiteren Myofibroblasten und Fibroblasten sowie deren Proliferation. Diese verstärken ihrerseits die Produktion von Kollagen Typ III (retikuläre Fasern, Vorstufe des Bindegewebs-Netzwerkes vom Kollagen Typ I) und tragen zur Narbenbildung bei. Und wie schon öfter erwähnt, ist auch in dieser Phase Information in Form von Bewegung, Belastung und Funktion äußerst wichtig. Ultrastruktur der Myofibroblasten Myofibroblasten sind eine Zwischenform zwischen glatter Muskelzelle und Fibroblasten. Sie enthalten kontraktile Eiweiße wie Aktin- und Myosin-Filamente. Der Fibroblast hat eine vielgestaltige Form. Die Form kann rund

1 „Wie läuft die Wundheilung ab?“, Quelle: sos-produkte.at, URL: https://www.sos-produkte.at/at/wielaeuft-die-wundheilung-ab.

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oder ellipsoid bis spindelförmig sein. Der Fibroblast verfügt über vielfältig gestaltete und lange Pseudopodien (zytoplasmatische Ausläufer). Mit diesen Pseudopodien bleiben die Fibroblasten untereinander in Verbindung und vernetzen sich. Sie halten Kollagenfasern fest und verbinden sich mit dem Fibrinnetz. Fibroblasten bevorzugen ein Leben in Gemeinschaft. Im Wundgewebe agieren sie „Hand in Hand“, sodass ihre Kontraktionsfähigkeit zusammen äußerst effektiv ist. Schon 24 h nach einer Verletzung ist eine Umwandlung der ortsständigen Fibroblasten festzustellen. An den Wundrändern des Muskelgewebes verändern sich die Fibroblasten und nehmen eine andere Gestalt an. Sie entwickeln einen kontraktilen Apparat und ähneln danach glatten Muskelzellen. Fibroblasten entwickeln eine Art „Zellmuskulatur“, die sich an der Zellmembran-Innenseite anlagert. Dieses „Muskelpaket“ besteht aus einem filigranen Netzwerk einzelner Aktin- und Myosin-Filamente mit einem Durchmesser von 4 bis 8 Nanometern. Auch ihre Funktion ändert sich. Die kontraktile Fähigkeit nimmt zu. Die so entstandenen Myofibroblasten sorgen für die Wundkontraktion. Die übriggebliebenen Fibroblasten widmen sich der Fasersynthese und produzieren fleißig Kollagen Typ III. Langsam, aber sicher wird die Wunde (hier immer muskulär oder auf Bänder bezogen) aktiv zusammengezogen und durch neues, schnell produzierbares, Kollagen strukturell verschlossen. Auf diese Weise – dank Bewegung, Belastung und Funktion – werden Muskel oder Bandapparat wieder FIT.

Die Wundkontraktion Eine offene Wunde ist eine Eintrittsstelle für Bakterien, Viren, Pilze und Protozoen (etwa Amöben, Einzeller). Aber auch bei Muskel- und Bandverletzungen muss das Gewebe schnell wieder in Annäherung (durch Kontraktion) gebracht werden, um die Funktion so rasch wie möglich wieder herzustellen. Die Wundfläche muss verkleinert werden. Die vorhandene Gewebslücke setzt daher Mechanismen in Gang, die die voneinander entfernt liegenden Wundränder des Muskel- oder Bandgewebes wieder zusammenbringt. Im Gegensatz zur Entstehung des. Granulationsgewebes hängt die Wundkontraktion dabei weniger von der Gesamtsituation des Organismus ab (Abb. 10.1). Die Wundkontraktion sorgt dafür, dass die zu füllende Lücke zwischen den Wundrändern so klein wie möglich gehalten wird, damit die später

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Abb. 10.1  Anders als bei einer tieferliegenden Verletzung – etwa der Muskelfasern – besteht bei offenen Wunden die Gefahr, dass Mikroorganismen (etwa Viren) in den Körper eindringen

e­ntstehende Narbe nicht zu breit wird. Die Wundkontraktion reduziert je nach Lage die Neubildung von Granulationsgewebe um 50 bis 95 %. Die „oberflächliche“ Wundkontraktion wird in Phasen eingeteilt. Die erste Phase wird Latenzphase genannt. Die zweite Phase wird als logarithmische Verkleinerung der Wundfläche bezeichnet. In der Schlussphase verschließt sich die Wunde etwas langsamer. Bei tieferliegenden

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Kontraktionen verzichten wir dagegen auf eine Einteilung in Phasen – obwohl die Wundkontraktion – wie bereits gesagt – ähnlich verläuft. Vor der intensiven Erforschung dieses Gebietes nahm man an, dass die kontraktilen Eigenschaften der Wundkontraktion dem umgebenden, gesunden Gewebe entsprangen. Dann aber stellte man fest, dass das Granulationsgewebe Sitz der kontraktilen Fähigkeiten ist. Verursacher der Kontraktion, so nahm man an, seien die schrumpfenden Kollagenfasern; bis man feststellte, dass auch skorbutische Versuchstiere eine normale Wundkontraktion besitzen. Skorbut ist bekanntlich die schwerste Form eines Vitamin-C-Mangels. Bei diesen Tieren fand die Kollagensynthese dennoch statt – wenn auch stark gebremst. Grundsätzlich gilt aber: Vitamine C wird zwingend für die Kollagensynthese gebraucht. Anfang der 1970er fand man heraus, dass die Fibroblasten für die Wundkontraktion verantwortlich sind. Man untersuchte deren Zellarchitektur (Ultrastruktur) und stellte fest, dass sich die Struktur unter Wundbedingungen ändert. Die strukturell sichtbare Änderung von Fibroblasten in Zellen mit bedeutend mehr kontraktilen Eiweißen hat eine funktionelle Änderung zur Folge. Die Fibroblasten ähneln glatten Muskelzellen und haben kontraktile Fähigkeiten. Gabbiani2, der auch schon die Fibroblasten als Auslöser der Wundkontraktion definierte, nannte die Zellen, die sich strukturell, morphologisch und funktionell geändert hatten, Myofibroblasten. Faktoren, die Einfluss auf die Wundkontraktion haben Im zweiten Teil dieses Kapitels betrachten wir einerseits den Einfluss endogener und exogener Faktoren auf die Myofibroblasten und andererseits betrachten wir die Wundkontraktion im Detail. Ein Überblick: Endogene Faktoren Für die Wundkontraktion von entscheidender Bedeutung ist das anfängliche Einbluten ins Gewebe. Durch Kompression und Hochlagern wird ein Einbluten verhindert, was im späteren Verlauf negativen Einfluss auf die Wundkontraktion hat. Als Folge von Hypoxie und Hypoproteinämie gilt Ischämie zu den am stärksten hemmenden Faktoren bezogen auf die Wundkontraktion sowie die Entwicklung der Myofibroblasten. Ischämie entsteht in diesem Fall

2 G.

Gabbiani, G. Majno: „Dupuytren’s contracture: Fibroblast contraction?“, Quelle: The American Journal of Pathology 66(1):131–146, Elsevier-Verlag, Amsterdam 1972.

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durch starke Vasokonstriktion bis Gefäßspasmus. Eine Anämie, also eine Verminderung der Erythrozytenzahl, Hämoglobinkonzentration und/oder Hämatokrit (verminderte Konzentration des Gesamteiweiß im Blutplasma), üben keinen negativen Einfluss auf die Myofibroblasten aus. Gewebskontraktion auslösende biochemische Substanzen sind: Adrenalin und Noradrenalin (beides Hauptneurotransmitter des vegetativen Nervensystems) sowie Serotonin, Bradykinin, Vasopressin und Angiotensin (alles Informone). Eine Beschleunigung der Wundkontraktion kann ebenfalls durch Wachstumsfaktoren und Wachstumshormone erreicht werden. Keine Kontraktionswirkung haben dagegen Neurotransmitter wie Histamin, Azethylcholin, Tryptophan und Histidin, die ich ebenfalls als Informone bezeichne. Papaverin bewirkt dagegen eine Lähmung der Myofibroblasten. Papaverin ist eine Substanz aus der Gruppe der Isochinolin-Alkaloide. Es besitzt eine direkte krampflösende Wirkung auf die glatte Muskulatur. In der Herzchirurgie macht man sich das zunutze. Bei der Entnahme von Arterien, die beispielsweise für Bypass-Operationen benötigt werden, verhindert Papaverin Blutgefäßspasmen. Das sollte man nach Möglichkeit vermeiden: Ebenfalls von Nachteil für die Myofibroblasten sind lokale Applikationen von Röntgenstrahlen beziehungsweise radioaktive Strahlen allgemein. Sie zerstören die Zellen, was eine Wundheilungsstörung zur Folge hat. Das heißt: Röntgen sollte man nur, wenn es absolut nötig ist. „Einen wissenschaftlich anerkannten Schwellenwert, unterhalb dessen eine Schädigung ausgeschlossen ist, gibt es nicht. Beim Röntgen bleibt immer die – je nach Dosis geringe, aber eben nicht auszuschließende – Gefahr einer Schädigung. Generell führt jede Röntgenuntersuchung zu Schäden am Erbgut. Eine hohe Strahlendosis birgt außerdem die Gefahr einer unmittelbaren Organschädigung. […] Um überflüssige Röntgenuntersuchungen zu vermeiden, sollte jeder Patient seine Röntgenaufnahmen nach Abschluss der Behandlung anfordern und zu Hause (oder gesammelt beim Haus- oder Lungenfacharzt) aufbewahren. So behält er den besten Überblick, auch bei Orts- oder Arztwechsel.“3. Damit muss man leben: Auch das Alter des Menschen hat einen erheblichen Einfluss auf die Wundkontraktion. Je älter der Mensch, umso schwächer die Wundkontraktion.

3  „Strahlenbelastung durch Röntgen“, Quelle: lungenaerzte-im-netz.de, URL: https://www. lungenaerzte-im-netz.de/untersuchungen/roentgen-der-lunge/strahlenbelastung-durch-roentgen/

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Exogene Faktoren Zytostatika und Antibiotika hemmen den Zellmetabolismus. Zytostatika werden als Arzneistoff eingesetzt; vor allem im Kontext der Chemotherapie von Krebserkrankungen. Aber auch bakterielle Toxine führen zu einer Funktionsbeeinträchtigung der Myofibroblasten. Bezogen auf eine Therapie muss also stets abgewogen werden, welches Ziel im Vordergrund steht; wie überhaupt die Gabe von Arzneistoffen immer gut überlegt sein muss. So können zum Beispiel die prophylaktische Verordnung beziehungsweise Gabe von Antibiotika die Wundheilung und die Wundkontraktion behindern. Zu den Einflussfaktoren, die eine Fibroblasten- und Myofibroblasten-Aktivität hemmen und damit die Wundkontraktion verzögern, verlangsamen oder sogar völlig stoppen, gehört eindeutig Kälte. So beeinflusst schon die Außentemperatur den Verlauf der Wundheilung und Wundkontraktion. Eine niedrige Temperatur führt zur Herabsetzung des Zellmetabolismus und weiterer Zellfunktionen. Die Aktivität der Fibroblasten, Myofibroblasten und sonstigen Zellen wird verlangsamt. Das verschlechtert die Wundheilung und Wundkontraktion.

Fast jeder von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass Wunden im Winter schlechter heilen als im Sommer. Eine alltägliche Erkenntnis, die einen nicht kalt lassen sollte. Positiv zu bewerten ist das Einbluten bei einer Verletzung in die Wunde. Es sorgt für eine Anhäufung von Blutzellen in der Wundmitte. Man hat festgestellt, dass dieses Einbluten für die Anfangsphase der Wundkontraktion von erheblicher Bedeutung ist. Umgekehrt bedeutet das Verhindern des Einblutens in die Wunde – etwa durch Hochlagern und Kompression – eine Hemmung der später auftretenden Wundkontraktion. Würde man es bewerkstelligen können, ein Einbluten in eine Wunde vollständig zu blockieren, wäre das eine kleine oder größere Katastrophe für die Heilung. Die Bedeutung von Fibroblasten für die Wundheilung Fibroblasten werden durch chemische Substanzen angelockt, die den Konzentrationsgradienten folgen. Sie vermehren sich einerseits durch Teilung, andererseits entstehen sie aus Fibrozyten. Das heißt: Fibroblasten wandeln sich in andere Zelltypen um. Sie ähneln danach glatten Muskelzellen und werden Myofibroblasten genannt. Auch ihre Funktion ändert sich. Sie sind in der Lage, sich miteinander zu verbinden und so Netzwerke zu bilden. Sie „spannen zusammen an“ und sorgen für

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die ­ Wundkontraktion. Fibroblasten und Myofibroblasten arbeiten also gewissermaßen „im Team“. Durch die Neuproduktion von Gewebe wird die Annäherung gefestigt. Es wurde nachgewiesen, dass Myofibroblasten und auch Fibroblasten in einer Kollagen-Typ-III-Umgebung eine stärkere Gewebskontraktion hervorrufen als in einem Kollagen-Typ-I-Milieu. Die große Wandlungsfähigkeit der Fibroblasten belegt ihre mesenchymale Herkunft. Fibroblasten sind pluripotente, pleomorphe Zellen. Das heißt, sie haben viele Fähigkeiten und viele Gesichter. Sie sind vielgestaltig, mal rundlich, mal spindelförmig. Mal haben sie weniger, mal mehr zytoplasmatische Ausläufer. Wenn sie aktiv sind, strecken sie ihre „Fühler“ aus. Solche zytoplasmatischen Ausläufer werden Pseudopodien genannt. Mit diesen Ausläufern halten sich die Fibroblasten untereinander, aber auch an Kollagenfasern und vor allem am Fibrinnetz, fest. Fibroblasten bevorzugen es, zusammen zu leben. Sie leben in Synzytien. Sie formen lose Netzwerke; nicht nur zur Stabilisierung, sondern auch zum informativen Austausch. Wenn sie auf diese Weise fest vernetzt und gemeinsam anspannen, ist ihre Kontraktion in der Summe sehr effektiv. Schon 24 h nach der Wundsetzung haben viele Fibroblasten ihre kontraktilen Fähigkeiten durch die Bildung von kontraktilen Eiweißen wie Aktin, Alpha-Aktin und Aktomyosin gesteigert. Wenn sie nach einem Trauma gebraucht werden, „wandern“ Fibroblasten zur Unfallstelle, vermehren sich und wandeln sich um. Sie erhöhen ihre Aktivität und steigern ihre Produktion. Diese Zelltätigkeit durch Eisanwendungen zu hemmen, ist nicht im Sinne der Biologie. Bei einigen Zellen, wie etwa im Falle der Fibroblasten oder Epithelzellen, kommt es während der Wundheilung zur vermehrten Ausbildung eines kontraktilen Apparates. Mastzelle, Monozyten, Fibroblasten, Epithelzellen und viele Zellen mehr (eigentlich alle) müssen sich bewegen können. Sie wandern durch das Wundgebiet oder nehmen ihre Position im Netzwerk ein. Sie jagen Bakterien, Viren, Pilze und Protozoen. Sie kämpfen, verschlingen und verdauen jeden Eindringling. Ihre Aktivität ist unabdingbar für eine gut verlaufende Wundheilung und schnelle Restitution der Funktion. Das Hemmen dieser Zelltätigkeit durch Eisanwendung grenzt an „fahrlässige Körperverletzung“. Nach Abschluss der Wundheilung wird die „Zellmuskulatur“ wieder reduziert. Sie verschwindet nicht vollständig, da ja auch in normalen Zeiten Zellaktivität und -bewegung benötigt werden.

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Es sind verschiedene Faktoren bekannt, die die Wundkontraktion und damit die Wundheilung beeinflussen. Sie werden in endogene und exogene Faktoren aufgeteilt. Die zwei stärksten endogenen Faktoren sind Ischämie und Hypoproteinämie. Es ist ebenfalls nachgewiesen, dass Hunger, Ermüdung und Blutverlust die Wundheilung nachteilig beeinflussen.

Zu den gewünschten wundkontraktionsauslösenden Substanzen gehören diverse Informone wie etwa: Adrenalin, Noradrenalin, Serotonin, Bradykinin, Angiotensin, Vasopressin und Prostaglandin F1α Kortikosteroiden verursachen dagegen eine erhebliche Hemmung der Wundkontraktion. Ohne größere Wirkung sind: Histamin, Azethylcholin, Histidin, Thryptophan Und: Je älter der Organismus (Mensch) ist, desto geringer die Wundkontraktion.

11 Der ewige Störenfried: Die ewige Narbe

Man könnte ein Leben anhand seiner Narben erzählen. Denn Narben bleiben uns meist ein Leben lang. Jede Narbe erzählt eine Geschichte von einer kleineren oder größeren Verletzung und ist ein Teil der Biografie. Ästhetisch gesehen, finden wir Narben fast immer unschön. Wir empfinden sie daher als Störenfriede. Narben narren narrisch. Und das gilt nicht nur für die Narben, die man sieht. Narben im Muskel-Band-Bereich liegen mehr oder weniger versteckt. Aber auch in der Tiefe können sie zum Störfeld werden. Narben können über alle informationsverarbeitenden biokybernetischen Systeme stören! Biologisch betrachtet, ist eine Narbe jedoch kein Störenfried, sondern ein Störfeld, eine Noxe, die einen Organismus in seiner normalen Biokybernetik behindert. Neben der histomorphologischen (strukturellen) und der funktionellen Unvollkommenheit des Ersatzgewebes, die aus der bescheidenen Regenerationsfähigkeit des Gewebes resultiert, weisen Narben nicht selten weitergehende Störungen auf. Narben stören den Frieden auf verschiedene Arten. Man kann Narben als Defekt im energetisch–informativen Netzwerk des Körpers betrachten. Sie können als mechanische Behinderung auftreten, als optischer Makel oder als ätiologischer Faktor für Symptome und Pathologien; also als Krankheitsauslöser. Fakt ist: Narben sind mehr als nur Schönheitsfehler. Sie stören die biokybernetische Funktion des Körpers sowie dessen Kontinuität (in sich herrschende Unversehrtheit). Das bedeutet, dass sie ähnlich einem „Stolperstein“, den man nicht zur Seite räumen kann, zur andauernden Stör- und Reizquelle werden können. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_11

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Narben können auch neurophysiologisch via Nervensystem oder auch energetisch über das Meridiansystem störend wirken. Weitere Möglichkeiten einer Störung ergeben sich durch Störung des elektromagnetischen Feldes des Körpers oder auch somatotopisch informativ. Zur Verdeutlichung: Hier setzen wir einen Fuß in das Feld der biologischen Grundlagen der Physiologie. Somatotop bedeutet so viel wie, dass etwas in einem Körperbereich (etwa der Fußsohle) als Mikrosystem abgebildet wird. Vergleichbar mit einer Landkarte. Dabei werden nicht die tatsächlichen Größenverhältnisse abgebildet, sondern das Ausmaß der Sensibilität. Wir kennen das von der Fußreflexzonenmassage, bei der durch Druck bestimmter Zonen der Fußsohle ein stimulierender Effekt auf die entsprechenden Organe vorgenommen werden kann, die auf der Fußsohle abgebildet sind. So weit so gut: Narben können stören, müssen es aber nicht. Auch Narben, die stören, lassen sich gut entstören. Als Physiotherapeut muss man den richtigen Zugang finden. Ob eine Narbe strukturell-mechanisch, nerval, energetisch oder informativ stört, ist ausschlaggebend für die Therapie. Auch strukturell längst verheilte Narben können die Ursache vieler „Wehwehchen“ sein.

Jeder Mensch hat Narben, obwohl wir uns an die meisten nicht erinnern können. Wenn man Patienten jedoch konkret fragt, woher diese oder jene Narbe stammt, können sie in vielen Fällen erzählen, wie es dazu kam. Narben können auch bewusst stören. Man spürt sie, sie sind da. Sie können einfach jucken oder schmerzen. Oder sie melden sich bei Wetterumschwüngen – oft verlässlicher als die Wettervoraussage. Die Größe scheint dabei eine untergeordnete Rolle zu spielen. Narben können sich auch wie Zeitbomben verhalten, die erst kumulativ Probleme hervorrufen können. Sie „warten“ nur darauf, zusammen mit anderen Störfeldern, Symptome auszulösen. Eine Narbe, die allein nicht ausreicht, auffällig zu werden, kann möglicherweise unerwartet durch andere Narben oder Störfelder, die zusätzlich auftreten, zum Problem werden. Die Narbe wird auch Durchzieher genannt. Das weist darauf hin, dass etwas durchzogen wurde. Das kann ein Meridian, ein Segment oder eine Zone sein.

Zur Verdeutlichung: Der Körper ist segmental geordnet. Bevor wir die FITRegel anwenden und eine orthodynamische Therapie beginnen, suchen wir bei unseren Patienten zunächst nach sogenannten Korrelationen. Ich arbeite seit

11  Der ewige Störenfried: Die ewige Narbe     127

fast 40 Jahren nach dem „INOMT-Ebenen-Modell“, einem in unserem Institut entwickelten multimodalen biokybernetischen Konzept. Das Ebenen-Modell ist ein Modell für den ganzheitlichen Clinical Reasoning Prozess, bei dem wir die westliche Schulmedizin mit der östlichen verbinden. Das Ebenen-Modell ist Teil des ebenfalls mir entwickelten „SMS-Modells“.

Die erste, die „westliche“ Denkweise bezeichnen wir als „Segmentale Neurophysiologie“ (kurz S). Sie ist in vier Ebenen aufgeteilt, weshalb wir diesen Teilbereich das Ebenen-Modell nennen. Jeder Ebene sind bestimmte Inhalte beziehungsweise „Handlungs- oder Behandlungsfelder“ zugeordnet. Die zweite, die „östliche“ Schule oder Denkweise umfasst zwei Bereiche: „Meridian“ (kurz M) und „Somatopie“ (kurz S). Da alle drei Bereiche für die Suche und Bestimmung von Korrelationen relevant sind, bilden sie eine Einheit, die wir als „SMS-Modell“ bezeichnen. Die drei Buchstaben, die für Segment-Meridian-Somatotop stehen, bedeuten synergetisch gesehen natürlich sehr viel mehr. Alles zusammen ist mehr als die Summe seiner Teile. Das „INOMT-Ebenen-Modell“ ist Teil des größeren „SMS-Modells“. Erwähnt sein muss noch, dass ich das ursprüngliche Ebenen-Modell zusammen mit Axel Steilen entwickelt habe. Er ist wie ich gelernter Physiotherapeut und war in dieser Eigenschaft in leitender Funktion in einer Fachklinik für Orthopädie und Rehabilitation sowie als freiberuflicher Dozent tätig. Heute ist er leitender Fachlehrer an unserem Institut. Zurück zum „Störenfried“: Narben liegen immer in einem Segment, durchziehen oft eine Zone, durchtrennen häufig ein Meridian und treffen manchmal einen Akupunkturpunkt. Meridiane sind „Tunnelungen“ im Bindegwebe. Auf anatomischen Zeichnungen oder an anatomischen Modellen werden sie immer auf der Oberfläche abgebildet. Meridiane laufen aber auch in der Tiefe, dort, wo man sie nicht sehen und eben auch nicht nachzeichnen kann. Doch Fakt ist: Auch im Muskel-Band-Gewebe werden bei Verletzungen und Rissen Meridiane gestört. Je nach Lage und Tiefe werden sie zum Problem. Es obliegt dem Physiotherapeuten festzustellen, durch welche Faktoren es zu einer Störung gekommen ist. Oft ist es auch ein Sammelsurium von korrelierenden Faktoren, die berücksichtigt werden müssen. Welcher der Faktoren dann im Vordergrund steht, ist entscheidend für den Therapieaufbau. Das Ausstreichen von Meridianen (Meridianmassage) allein reicht sicher nicht aus. Die Entstörung der Narben ist eine physiotherapeutisch anspruchsvolle Aufgabe. Eine komplexe Systemstörung erfordert gut ausgebildete, biokybernetisch und ganzheitlich denkende Physiotherapeuten.

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Das „Eimer–Prinzip“ Die Narbe kann vom gestörten zum störenden Organ werden. Sie ist eine persistierende Reizung des Vegetativums. Warum die eine Narbe zum Störfeld wird und die andere nicht, wissen wir bisher nicht mit Sicherheit zu sagen. Menschen sind vielen belastenden Faktoren gleichzeitig ausgesetzt. Das bedeutet, dass ein einzelner Faktor vielleicht nicht ausreicht, um Symptome hervorzurufen, aber die Gesamtzahl der Faktoren addiert manchmal zu viel wird. Der Eimer ist voll und droht, überzulaufen. Daher der illustrierende Begriff „Eimer-Prinzip“. Wer etwa von Geburt an ein schwaches Herz hat, das Herz zusätzlich durch einen Beziehungskonflikt oder gar Trennung „gebrochen“ wurde und dann eine Narbe auf dem Herzmeridian entstanden ist, reicht das zusammengenommen im Grunde aus, um Kopfschmerzen auszulösen. Die Aussage: Das bereitet mir Kopfschmerzen, legt nahe, dass die Initialzündung für den Schmerz ganz woanders zu verorten ist. Es gibt oft keine alleinige Ursache, aber ein korrelierendes Geflecht von Faktoren für den Schmerz. Daran wird deutlich, wie komplex ein Physiotherapeut geschult sein muss, um diese Faktoren zu erkennen und zu berücksichtigen. Interessanterweise stören bevorzugt immer solche Narben, die den Verlauf eines Meridians queren. Die Praxis zeigt, dass eine Unterbrechung oder Blockierung eines Meridians in dessen Verlauf Beschwerden zur Folge haben kann. Narben, die in der Haut liegen, liegen automatisch in einem Dermatom. Das Dermatom ist ein Hautgebiet, das aus einem Spinalnerv afferent (zuführend) innerviert wird. Das bedeutet, dass die Narbe eine nozizeptive Störquelle darstellt, die in einem bestimmten Segment liegt. Auf diese Weise können vegetativ segmentale Probleme entstehen. Die Narbe kann eine vegetative Dysregulation in einem Segment mit entsprechendem Symptom zur Folge haben. Wenn die Narbe zusätzlich einen Meridian kreuzt, können Probleme und Symptome im Meridianverlauf auftreten. Zusätzlich werden dadurch Organfunktionen beeinflusst. Die latente oder vorhandene Organdysfunktion ist an sich wieder eine nozizeptive Quelle. Wenn die Narbe auch noch einen Akupunkturpunkt trifft, kann ein komplexes Symptomenmuster entstehen, das medizinisch kaum noch oder nicht mehr fassbar ist. Eine Therapie kann direkt auf oder an der Narbe erfolgen oder über korrelierende Systeme angesetzt werden. Trifft die Narbe den Nierenmeridian, kann der Physiotherapeut durch Behandlung des Blasenmeridians

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die entstandenen Kopfschmerzen zum Verschwinden bringen. Nierenmeridian und Blasenmeridian sind gekoppelte Meridiane. Als Folge einer Narbe auf dem Nierenmeridian kann es sein, dass das Qi nicht mehr ausreichend fließen kann. Qi bedeutet in der traditionellen Medizin des Fernen Ostens Energie, Atem oder Fluidum – stark vereinfacht ausgedrückt. Wir bezeichnen alles als Information. Bei einer Störung aufgrund einer Narbe auf dem Nierenmeridian staut sich die Energie in den Blasenmeridian zurück, sodass im Blasenmeridianverlauf eine Stau-Fülle entsteht. Diese ist zwar physikalisch nicht greifbar, aber jeder kann sich vorstellen: Wo sich etwas staut, entsteht eine Fülle. Im Falle des Qi, kann man von einer sich stauenden Energie- oder Informationsfülle sprechen. Da der Blasenmeridian im Kopfbereich anfängt, staut sich das Qi bis in den Kopf zurück. Dadurch entstehen Fülle-Kopfschmerzen und andere Fülle-Probleme (etwa Verspannungen oder Hitzegefühle). Nun sollte man als Physiotherapeut dafür sorgen, dass die „Tunnelung“ im Bindegewebe wieder hergestellt wird; der Meridian also wieder staufrei funktioniert, damit das Qi fließen kann. Möglich wird das zum Beispiel durch eine Behandlung der Narbe mittels Meridianmassage, Schröpfgläschen oder YaYa–Klammern für die KneifTherapie (Bitte nicht mit der Kneipp-Therapie verwechseln). Geht es um eine Leere-Problematik – also um einen mangelhaften Energiefluss (zu wenig Qi oder Information) – kann mit Schröpfgläsern oder einer Schröpfkopfmassage hinter der Narbe angesetzt werden. Die Erfolge sind oft erstaunlich. Das Entstehen der „Zufallsnarbe“ Eine Narbe aufgrund eines Unfalls, sprich eines Zufalls, ist ein aus älterem Granulationsgewebe bestehendes, faserreiches, Zell-, Nerven- und gefäßarmes Bindegewebe. Eine geplante Narbe aufgrund einer Operation ist oft störender als eine „Zufallsnarbe“. „Wenn man regelmäßig Operationswunden im Sektionssaal untersucht, so ist man immer wieder überrascht, wie außerordentlich häufig in der Tiefe, und zwar vor allem in der Subcutis, noch hochgradig gestörte Wundverhältnisse bestehen, während die Oberfläche, auf Schnitt und von außen betrachtet, schon vollkommen verheilt erscheint.“1

1  Hans

U. Zollinger, „Die Wundheilung vom Standpunkt der pathologischen Anatomie“, Quelle: Helvetica Chirurgica, Acta Vol. 29 (1962), Seite 181.

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Störungsmöglichkeiten der Narbe Strukturelle – Funktionelle Störung 1. Morphologisch–strukturelle Beschaffenheit der Narbe Die Narbe kann in ihrer Beschaffenheit zu stark angelegt sein (hypertrophe Narbe). Das hat zur Folge, dass sie schlecht beweglich ist. Entweder ist die Narbe selbst zu fest (Intramobilität) oder im Bezug zu ihrer Umgebung; dann sagt man auch: die Narbe ist verbacken (Intermobilität). Wenn dem so ist, sollte eine Narbenmobilisation durchgeführt werden. Dazu stehen dem modernen Physiotherapeuten viele Techniken zur Verfügung. Narbendehnungen in Längs- und Querrichtung, Hautverschiebungen, Hautknetungen usw. Die Mobilität kann jedoch nur begrenzt wieder hergestellt werden, weil die Narbe aus Bindegewebe besteht und das Kollagen Typ I in der Narbe einen viel zu langsamen Turnover besitzt. Wie schon im 8. Kapitel erwähnt, spricht man von Turnover, wenn man die Umschlagsgeschwindigkeit eines bestimmten Volumens meint. Bei Stoffwechselvorgängen kann der Umsatz einer Substanz oder eines Produktes gemeint sein. In unserem speziellen Fall ist die Menge an Kollagen gemeint, die in einer bestimmten Zeit abgebrochen wird und normalerweise durch neu produziertes Kollagen ersetzt wird. Man kann dann die Turnover-Time bestimmen; sprich, wie lange wird es dauern, bis das vorhandene Kollagen vollständig durch neues ersetzt wurde. Bei Kollagen Typ I sind das 200 bis 300 Tage – also eine lange Zeit. 2. Metabolisch-chemische Verhältnisse in der Narbe Eine Narbe ist stets deutlich schlechter durchblutet als das umliegende Gewebe. Dadurch ist die Sauerstoff-Versorgung in der Narbe schlecht. Die Folge: Azidose. Die Narbe schwillt an, weil das Wasser im Gewebe dadurch weniger gebunden wird. Durch das richtige Behandeln der Narbe, können die azidotischen Verhältnisse direkt beeinflusst werden. Das führt zu einer besseren Durchblutung. Auch indirekt (über das Vegetativum) lässt sich eine bessere Kapillarisierung der Narbe erreichen. 3. Lymphatische Entstauung Die Narbe kann Einfluss auf den Lymphabfluss haben. Unter der Narbe entsteht eine sicht- oder tastbare Schwellung. Eine Lymphabflussstörung lässt sich mittels Lymphdrainage behandeln.

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4. Elektromagnetische Feld-Änderungen Das an der Körperoberfläche messbare elektromagnetische Feld kann durch die Narbe gestört sein. Diese Feldänderungen können durch Gebrauch einer Alufolie überbrückt werden. Die Alufolie über die Narbe legen und oberhalb und unterhalb der Narbe mit einer wasserreichen Salbe „festkleben“. Diese Art Salbe ist nötig, um elektrische Ströme fließen zu lassen und das elektromagnetische Feld wieder zu schließen. 5. Neurophysiologisch-vegetative Störung Die Narbe besitzt insgesamt deutlich weniger Sensoren und Neuronen als die sie umgebende Haut. Die Neuronen sind auch deutlich kleiner im Durchmesser. Das Verhältnis zwischen dicken und dünnen Neuronen ist in Schieflage geraten. Die dünnen Neuronen sind prozentual deutlich stärker vertreten. Dadurch sind die dickeren Neuronen nicht mehr in der Lage, die dünnen unter Kontrolle zu halten (gate control). Die dünnen Neuronen haben einen sehr starken Einfluss auf das vegetative sympathische Nervensystem. Das Vegetativum wird dysreguliert. Die Folgen: Durchblutungsminderung, Bindegewebstonuszunahme, Sensorenempfindlichkeitssteigerung, Gewebstrophikänderungen und mehr. Eine Narbe kann sich also auch durch eine vegetative Dysregulation in ihrem Bindegewebstonus verändert haben; ähnlich einer strukturellen Festigkeit. Versucht man die Narbe mit zu viel Kraft zu mobilisieren, führt das unweigerlich zu einer weiteren Reizung der dünnen Neuronen und so zu einer Tonuszunahme. Hier sollte unbedingt das Vegetativum berücksichtigt werden. Diese neurophysiologische Störung lässt sich durch Reizung der dicken Neuronen in der Narbe und um die Narbe herum therapieren. Wenn das nicht funktioniert, sollte eine Anästhetika–Salbe ausprobiert werden. Das Anästhetikum hemmt vor allem die dünnen Neuronen. Ein weiterer Schritt ist das Unterspritzen der Narbe mit Procain. Procain – ein Mittel zur lokalen Betäubung – wirkt nach dem gleichen Prinzip, jedoch viel stärker, weil das Anästhetikum direkt in und unter die Narbe eingebracht wird. 6. Segmentale Störung Situation: Die Narbe befindet sich in einem oder mehreren Segmenten. Die Folge: Eine segmentale Störung. Über segmentale Verschaltungen werden Motoneuronen angesteuert, die erregbarer werden, was zu Muskelhypertonien führen kann; mit einer muskulären Dysbalance als Folge. Nervenzellen des zentralen Nervensystems, die eine direkte oder indirekte Kontrolle über einen Muskel ausüben, bezeichnet man als Motoneuronen.

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7. Die energetische Störung Bei einer energetischen Störung stehen dem Physiotherapeuten viele Möglichkeiten der Behandlung zur Verfügung: Meridian-Massage, Akupunkt-Massage, Akupressur, Tuina, An Mo, Shiatsu, Tsubo usw. Sämtliche Beispiele entstammen der traditionellen fernöstlichen Medizin. Eine energetische Störung hemmt stets das Fließen der Energie, sprich das Qi. Da die Meridiane aus Tunneln, Glycosaminoglykanen und Proteoglykanen bestehen, also aus Grundsubstenz, ist klar, dass sie nicht vollständig wieder aufgebaut werden. Durch eine Meridian-Massage über der Narbe wird ein Reiz gesetzt, um in der Narbe vermehrt Tunnel aufzubauen. Diese Tunnel werden im Gewebe von Kollagenfasern verschiedenster Art aufgebaut. Durch das Tunnelsystem werden Informationen geleitet. Das Qi kann wieder freier fließen. 8. Trigger- und Tenderpunkte Durch die Narbe können Triggerpunkte entstehen. Diese können durch neurovegetativ Zusammenhänge oder durch energetische Aspekte verursacht werden. Eine Triggerpunkt-Therapie könnte hier angeraten sein. Die Triggerpunkte spielen eine Rolle als zusätzliche nozizeptive Quelle. Sie sind nicht der Auslöser der Narbenstörung, können aber eine wesentliche Rolle bei der Instandsetzung der Störung spielen. Von daher kann es physiotherapeutisch nötig sein, mittels Triggerpunkt-Behandlung auf die Narbe einzugehen. 9. Informative somatotopische Störung Die Narbe kann auch in einer sogenannten Reflexzone liegen. Wenn das der Fall ist, ist die erste Frage, in welchem Somatotop liegt die Narbe? Vielleicht am Fuß, im Fußsomatotop? Wenn das geklärt ist, fragt man sich, in welcher Zone die Narbe liegt, etwa in der Nierenzone am Fuß? Dann sind biokybernetische bis strukturelle Störungen und Symptome im Zusammenhang mit der Niere vorprogrammiert. Die Therapie erfolgt über eine Reflexzonenmassage. Je nach Somatotop gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. 10. Die informativ-biokybernetische Störung Situation: Die Narbe verursacht eine informative Daueränderung im System. Die anhaltende nozizeptive Informationsquelle stellt das System auf die Probe. Es kann zu einer Überlastung der steuernden und regelnden Systeme kommen. Der „lästige Dauerbrenner“ wird dazu führen, dass das System zu sehr abgelenkt wird, um andere Informationen noch z­ ielgerichtet

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und ökonomisch verarbeiten zu können. Ein Selektivitätsmangel kann bei einem derartigen Informationsinput dazu führen, dass das System eine Funktionsstörung erleidet. Der therapeutische Zugang kann weit entfernt von der Narbe liegen. Es bestehen hier so viele Möglichkeiten, dass man sich als Physiotherapeut mit sämtlichen Regelungssystemen und deren Äußerungen auskennen müsste und sollte. Hier hilft das von mir entwickelte SMS-Modell (Segment-Meridian-Somatotop), das systematisch alle Regelungssysteme abklärt. Ich habe es einige Seiten zuvor – zusammen mit dem Ebenen-Modell – bereits eingeführt. 11. Psychisch-Seelisch-Emotionale Störung Wir Physiotherapeuten sind gewiss keine Psychotherapeuten oder Psychologen, aber aufgrund unserer empathischen Arbeit mit dem Patienten, sind wir in der Lage, auch psychisch einzuwirken und Einfluss zu nehmen. A) Mit einer realistisch positiven Einstellung bezüglich des individuellen Patientenproblems. B) Durch Erzeugung von Zuversicht aufseiten des Betroffenen. C) Durch die richtige Weitergabe von Information gemäß der FIT-Regel. Mit diesen Maßnahmen helfen wir dem Patienten, psychisch und seelisch (wieder) auf die „Beine zu kommen“. Das ist essenziell für den Therapieerfolg. Beispiel: Auch eine fast unscheinbare Narbe kann enorme psychische Folgen nach sich ziehen. Nämlich dann, wenn sie Folge eines Verkehrsunfalls ist, bei dem man einen lieben Mitmenschen verloren hat. Diese Narbe wird immer wieder an das Ereignis erinnern.

12. Kosmetische Störung Wer ausschließlich auf Narbenmobilisation setzt, aber weitere Aspekte der Narbenentstörung unberücksichtigt lässt, wird weniger erfolgreich sein. Denn bei einer Narbenmobilisation hat man es nicht nur mit dem Offensichtlichen zu tun. So ist naturgemäß ein Einfluss auf die Durchblutung gegeben. Ebenso wird das energetische System reagieren. Aber noch viele andere Aspekte beeinflussen die Therapie. Es ist daher ratsam, sich als Physiotherapeut in allen Aspekten der Narbenentstörung fortzubilden, um so die Therapie patientengerecht, das heißt individuell, ausrichten zu können.

134     H. J. M. Brils und J. Brils Da der Organismus als Einheit zu betrachten ist, können alle Faktoren zusammengenommen sowie jeder Faktor für sich eine Rolle spielen. In omni totum: Alles ist mit allem verknüpft. Alles ist in Allem. Der Physiotherapeut muss daher in der Lage sein, Prioritäten zu setzen und den richtigen Zugang im richtigen Moment wählen. Eine fundierte Ausbildung in der Narbenbehandlung ist hier unerlässlich.

Sich unbedarft an Narben heranzutasten, ist moralisch unverantwortlich und ethisch verwerflich. Man sollte sich unbedingt mit den verschiedenen Ebenen (siehe wie vor: SMS–Modell) auskennen und mit den unterschiedlichen biokybernetischen Systemen vertraut sein. Nur dann ist eine optimale, sprich bio-logische Physiotherapie möglich.

12 Die FIT-Regel – Schlüsselwort und Schlusswort

Nehmen wir den letzten Gedanken des vorangegangenen Kapitels auf: Der Organismus ist als Einheit zu betrachten. Stichwort Ganzheitlichkeit aus Körper-Seele-Geist. Das alles mit allem zusammenhängt, darüber muss man sich als Physiotherapeut bewusst sein. Man muss wissen, dass alle Faktoren zusammengenommen für Diagnose und Therapie eine Rolle spielen können, aber auch jeder Faktor für sich allein relevant sein kann. Alles ist in Allem. Alles ist mit allem verknüpft: materiell, energetisch und informativ. Der Physiotherapeut muss daher Prioritäten setzen und den richtigen Zugang wählen. Nur dann kann er mit einer bio-logisch optimierten Physiotherapie ansetzen. Da es so viele Möglichkeiten gibt, die in Zusammenhang stehen können, sollte man sich als Physiotherapeut mit sämtlichen Regelungssystemen und deren Erscheinungsformen auskennen. Im Kontext unserer Arbeit ist daher zunächst einmal das ganzheitliche Verständnis von Gesundheit und Gesundung sowie der systemische Blick von entscheidender Bedeutung für die Diagnose und damit auch für die physiotherapeutischen Maßnahmen nach dem biokybernetischen Konzept. Grundsätzlich gilt: Um die Komplexität eines Systems oder Konzeptes anschaulich und anwendbar zu machen, arbeitet man am besten mit Modellen. Ich verlasse mich bei meiner physiotherapeutischen Tätigkeit daher auf das besagte SMS-Modell. Mit diesem in unserem Institut entwickelten Modell (Segment-Meridian-Somatotop) bewegen wir uns zunächst im diagnostischen Raum. Wir betrachten den Patienten auf allen Ebenen, gelangen zu bestimmten Erkenntnissen und leiten daraus schlüssige Handlungen ab. Im vorangegangenen Kapitel habe ich ausführlich über das © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_12

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SMS-Modell gesprochen, das systematisch alle Regelungssysteme abklärt. Die Diagnose mithilfe des SMS-Modells ist unter anderem deshalb so wichtig, weil der physiotherapeutische Zugang weit entfernt von der Verletzung liegen kann. Zwischenfazit: Um es einfach und schlank zu sagen. Wir arbeiten nach einem (biokybernetischen) Konzept und haben zur Nachvollziehbarkeit seiner hohen Komplexität ein Modell (SMS) entwickelt. Keep it simple, stupid! Sie erinnern sich? Auf diese Weise haben wir ein sehr komplexes, auf den ersten Blick, schwer zu fassendes Thema transparent gemacht – für uns, für unsere Patienten, für unsere Physiotherapeuten, die sich in unserem Institut fortbilden.

Um nun aber in die Praxis übergehen zu können, brauchen wir noch eine Methode. Denn was nützen das cleverste (biokybernetische) Konzept und das anschaulichste (SMS-) Modell, wenn wir vom Besserwissen nicht zu Bessermachen kommen. Wir müssen in die Anwendung! Und das geht nur mit einer Methode. Eine Methode funktioniert aufgrund bestimmter Regeln. Dabei ist es dem Patienten völlig egal, wie schlau der Schöpfer des Modells beziehungsweise wie ausgeklügelt sein Konzept dahinter ist. Für die Betroffenen, die mit einer Verletzung daherkommen, zählen nur der Output und die Frage, wie nützlich das Ganze für ihre Genesung ist. Je einfacher die bio-logischen Regeln der Methode, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich der Patient dafür zugänglich zeigt und diese auch tatsächlich befolgt. Ganz einfach, weil die Regeln für ihn verständlich sind. Das ist schlicht menschlich. Also: Am besten man bietet dem Patienten eine Methode, die nach einfachen, wenigen Regeln funktioniert, und die leicht nachvollziehbar ist. Das beste Beispiel dafür ist die FIT-Regel. Eins, zwei und drei. Funktion, Information, Therapie. Leicht zu konsumieren. Kein Eis, stattdessen Wärme, Bewegung und orthodynamische Belastung. Leicht zu merken. Und darum als Methode auch vorbehaltlos zu akzeptieren. Wir wollen schließlich keine Hürden aufbauen, sondern Denk-Schranken einreißen. Neue Wege gehen. Die FIT-Regel hätte ich auch FIT-Methode nennen können. Da eine Regel bezogen auf die Anwendung und Umsetzung aber konkreter ist als eine Methode, habe ich mich seinerzeit für die Bezeichnung FIT-Regel entschieden. Denn ohne praktische Anwendung wäre am Ende das Ganze ohne Sinn. Bei einer Methode kommt es darauf an, dass alles genau so gemacht wird, wie es in der Methodenentwicklung vorgesehen ist. Nur wenn man sich an

12  Die FIT-Regel – Schlüsselwort und Schlusswort     137

die Regeln hält, funktioniert die Methode. Zum Backen gehört eben nicht nur ein Rezept, man muss es auch lesen können, das heißt, man muss vor allem die Anweisungen genau befolgen. Das ist das Methodische. Die FIT-Regel ist wie ein Schlüssel, den man in das passende Schloss stecken muss. Nur dann öffnet sich die Tür. Die Regeln, die die Grundlagen meiner Methode bilden, habe im Übrigen nicht ich aufgestellt. Die Biologie hat sie mir vorgegeben. Ich habe „nur“ die Methode danach entwickelt. Und genau darum funktioniert sie und hat sich bewährt. Diese Erkenntnis sollte für uns am Ende Leitsatz sein: Folge den bio-logischen Regeln der Natur.

13 Physiotherapeuten – Partner für Patienten und Ärzte

Nachdem wir auf den vorangegangenen Seiten ausführlich über die Methode und Empirie der bio-logischen Physiotherapie bei. Verletzungen an Muskeln, Bändern und Sehnen gesprochen haben, ist es mir ein Anliegen, wenigstens ein kurzes Kapitel über unseren Berufsstand zu schreiben. Dass es ausgerechnet das 13. Kapitel ist, nehme ich sehr gerne an, da ich selbst an einem 13. das Licht der Welt erblickt habe. Aber das nur am Rande. Die nun folgende Kritik wird nicht jedem gefallen. Wenn ich damit aber einen Diskurs anregen kann, nehme ich das in Kauf. Und nicht nur das. Ich würde mich sogar freuen. Der Physiotherapeut – Ich nehme es gleich vorweg… die Überschrift zu diesem letzten Kapitel spiegelt nicht die Realität wider. Nicht die Realität in Deutschland, die ich seit rund vierzig Jahren kenne. Um das Ansehen der hiesigen Physiotherapeuten mache ich mir Sorgen. In meiner alten Heimat, den Niederlanden, ist es um das Image der Physios weit bessergestellt. Sie sind schlicht bessergestellt. Am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft. Ich kann hier aus dem Nähkästchen plaudern. Als ich vor über vier Jahrzehnten – ich war damals in Holland im Praktikum – das erste Mal den Professor in meinem Ausbildungskrankenhaus ansprach, sagte ich: „Tschuldigung, Herr Professor…“, weil ich etwas über einen Patienten erfahren wollte. „Herr Professor, Herr Professor! Hör auf mit Deinem Professor, ich heiße Jerome. Und entschuldigen musst Du Dich schon mal gar nicht.“ So ging das damals. Und so geht das auch heute noch. Es sagt eigentlich alles über wirkliche Anerkennung, Augenhöhe, Respekt. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 H. J. M. Brils und J. Brils, Erste Hilfe bei Sportverletzungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66470-4_13

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Als ich dann vor vierzig Jahren nach Deutschland kam, war das der größte Schock meines Lebens. Plötzlich war ich kein Physiotherapeut mehr. Ich durfte mich nur noch Krankengymnast nennen. Plötzlich war ich ganz unten in der Hierarchie. Und nicht nur, dass ich ganz unten in der Nahrungskette angesiedelt war, es war überhaupt dieses hierarchische System. Es war ganz anders, als ich es gewohnt war. Ich wusste ja, dass es auch anders funktionierte. Sogar besser. Ich hatte es erlebt! Und dann die Bezahlung: In den Niederlanden verdienen Physiotherapeuten auch heute noch mehr als in Deutschland. Gehaltstechnisch sind in Deutschland nur Friseure schlechter gestellt. Und die bekommen Trinkgeld. Kürzlich las ich: „Die geringe Wertschätzung meiner Arbeit spiegelt sich im Gehalt wider: Ich verdiene als ausgebildete Physiotherapeutin mit acht Jahren Berufserfahrung 14,50 € brutto pro Stunde  – das steht in keinem Verhältnis zu meiner Arbeitsbelastung. Ein Problem ist: Ich muss ständig Therapieberichte für die Ärzte schreiben, die ihre Patienten an uns überwiesen haben. Das gehört dazu und wäre auch in Ordnung. Für meine Chefin bedeutet das aber, dass ich in diesen 20 min keine Behandlung leisten kann. Und sie bekommt pro Bericht bloß fünf bis sechs Euro. Wenn sie pro Bericht zu wenig Geld bekommt, wie soll sie uns dann mehr bezahlen?“1 Ich weiß nicht, wie viele Mon Chérie – und was sonst noch alles – ich in meinen Anfangsjahren in Deutschland von netten Patienten bekommen habe. Man könnte darüber schmunzeln. Im Übrigen stammen die eben zitierten Zeilen der Physiotherapeutin aus jüngster Zeit, liebe Leserinnen und Leser. Was man da liest, klingt bitter. Aber mit etwas Süßem kann ich leider gerade nicht dienen. Stattdessen kann ich noch ein Zitat zum Besten geben. In einer Presseveröffentlichung von „Physio Deutschland“ aus dem Jahr 2013 heißt es blumig: „Physiotherapeutische Leistungen sind heute fester Bestandteil der Medizin. In vielen Bereichen der kurativen Medizin und Rehabilitation sind Physiotherapeuten wichtige Partner von Ärzten und Patienten. Aber auch in der Prävention und der Palliation sind ihre Leistungen gefragt. […] Die rund 120.000 Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten in Deutschland sind heute längst keine ‚Helfer der Orthopäden‘ mehr, sondern arbeiten eigenverantwortlich und in enger Kooperation mit Ärzten verschiedener Fachgebiete. Die Aufgabenfelder eines Physiotherapeuten umfassen die medizinischen Bereiche der

1 Viele Patienten sehen mich als Masseurin“, Quelle: zeit.de, Zeit Campus, URL: https://www.zeit.de/ campus/2018-06/physiotherapeutin-fitnesstrainerin-gehalt-arbeitsalltag-behandlung-protokoll.

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Prävention, Kuration, Rehabilitation und Palliation. Gestützt auf die medizinische Diagnose des Arztes erstellt der Physiotherapeut seinen Befund und entwickelt gemeinsam mit dem Patienten individuelle Behandlungspläne, um Störungen der Gesundheit zu beseitigen sowie Funktionen und Fähigkeiten zu erhalten, wiederherzustellen und zu verbessern.“2 Wunderbar! Das liest sich, als sei die Welt des Physiotherapeuten sehr in Ordnung. Wenn es so wäre, wäre das schön. In meinen Augen ist das immer noch ein Wunschbild. Und die zitierte Presseveröffentlichung ist zehn Jahre alt. Picken wir etwas Grundsätzliches heraus: „Kooperation mit Ärzten.“ Da ist noch sehr viel Luft nach oben, was die Bereitschaft zur Kooperation der Ärzteschaft betrifft. Oder: „Gestützt auf die medizinische Diagnose des Arztes erstellt der Physiotherapeut seinen Befund und entwickelt gemeinsam mit dem Patienten individuelle Behandlungspläne u.s.w.“ In der Realität ist das Bild weniger perfekt. Ich erlebe oft genug, dass sich der Arzt auf den Physiotherapeuten stützt. Man kann das sicher mit dem stressigen Berufsalltag des Arztes erklären. Jeder von uns kennt diese Situation, denn jeder ist Patient, war also in seinem Leben schon mindestens einmal bei einem Arzt. Es heißt zwar Sprechstunde, aber der Doc hat leider wenig Zeit für jeden Einzelnen – und dann steht auf dem Rezept nachher „Wirbelsäulensyndrom“. Als vorsorglicher und verantwortungsvoller Physiotherapeut würde ich es mir schon etwas genauer wünschen. Die Wirbelsäule besteht immerhin aus vielen verschiedenen anatomischen Strukturen, etwa aus kleinen Gelenken und Bandscheiben. Sie ist das Stützgerüst des Körpers. Sie schützt das Rückenmark und die austretenden Rückenmarksnerven. Instabilitäten der Wirbelsäule wie das TH-12-Syndrom können viele vegetative Symptome auslösen. Gerade im Sport begegnen uns immer wieder Patienten mit chronischen Überlastungssyndromen in der unteren Extremität und der unteren Wirbelsäule. Diese scheinbar therapieresistenten Pathologien finden häufig ihre Ursache in regulativen Störungen des vegetativen Systems, ausgelöst auch durch funktionelle  Instabilitäten des thorakolumbalen Überganges. Also im Bereich von Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule. In Verbindung mit der Wirbelsäule können aber auch innere Organprobleme entstehen. Und letztlich können zentral neurologische Probleme mit der Wirbelsäule zusammenhängen. – Und auf der Überweisung steht dann nur „Wirbelsäulensyndrom“. Das ist der

2 „Von

der Heilgymnastik zum Physiotherapeuten – Das Berufsbild im Wandel der Zeit“, Quelle: Deutscher Verband für Physiotherapie (ZVK) e.  V., URL: https://www.physio-deutschland.de/ fileadmin/data/bund/Dateien_oeffentlich/Presse/ZVK/Berufsbild_neu_August_2013.pdf.

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­ nackpunkt. Man hätte auch schreiben können: Irgendwas mit Wirbelsäule. K So wie sich der Patient auf seine Wirbelsäule stützt, stützt sich der Mediziner hier eindeutig auf den Physiotherapeuten. Der Physio wird es schon richten. Dass sich der Mediziner hier auf den Physiotherapeuten verlässt, schlägt sich jedoch nur höchst selten in Form von Anerkennung oder gar Respekt vonseiten der Medizin nieder. Ein zweites Diagnose-Beispiel möchte ich noch nennen. Es besteht aus drei Buchstaben. Kürzer geht es kaum: „PHS“. Das Kürzel „PHS“ ist eine sehr ungenaue Sammelbezeichnung, die übersetzt nicht mehr aussagt als: Irgendwo in der Umgebung vom Oberarm und Schulterblatt gibt es eine entzündliche Veränderung. Man kann die PHS-Diagnose (Periarthritis humero-scapularis) dann so lesen: „Lieber Physiotherapeut, ich hatte keine Zeit den Patienten gründlich zu untersuchen. Er gab aber Probleme im Schulterbereich an. Bitte untersuche den Patienten gründlich und behandele ihn zielgerichtet. MfG!“ Ich will hier kein allgemeingültiges Bild der Ärzteschaft zeichnen, aber es kommt doch immer noch viel zu oft zu einem Kastendenken. Wir hier oben. Ihr da unten. Und wer oben steht, dazu bedarf es wohl keiner weiteren Erklärung. Und dann kommt der Patient mit Erwartungen zu mir und ich frage ihn: „Ja, was fehlt Ihnen denn?“ Dann antwortet er erstaunt: „Ja, steht doch da.“ Ich antworte: „Ja, da steht genau gar nichts. Wirbelsäulensyndrom – das sagt gar nichts.“ Einige Patienten reagieren daraufhin fast verärgert: „Nein, da steht doch alles. Ich verstehe nicht.“ – „Der Arzt, der sie überwiesen hat, hat eine Veränderung an der Wirbelsäule festgestellt. Das ist die ganze Diagnose. Darum muss ich Sie jetzt noch genau untersuchen.“ Durch meine intensive Betrachtung seiner Wirbelsäule in Kombination mit meinen Fragen, die ich an den Patienten richte, komme ich bestenfalls dahinter, dass es dieses oder jenes sein kann. Oder ich komme zu der Erkenntnis, dass ich so schnell nicht feststellen kann, was es ist. Folglich werde ich mir das Ganze segmental und segmental vegetativ anschauen – und dann sind wir wieder in unserem SMS-Modell. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass das I der FITRegel – also der Baustein Information – erhebliche Bedeutung hat, da er von grundlegender Natur ist. Man darf wohl sagen, dass nur eine gründliche Untersuchung des Patienten der ganzheitlichen Informationsbeschaffung dienen kann. In unserer Praxis gehen wir so vor: Nach dem PatientenGespräch und ausführlicher Anamnese werden zunächst eine aspezifische Basisfunktionsuntersuchung sowie weitere spezifische Tests durchgeführt. Je nachdem, welches Gelenk betroffen ist, kommen hier leicht 10 bis 20

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Tests zusammen. Die Ergebnisse stellen für den Physiotherapeuten, aber auch für den Patienten, wertvolle Information dar. Als Therapeut erfahre ich durch die Untersuchung, welche anatomische Struktur verletzt ist. Ist keine Struktur identifizierbar, muss weiter untersucht werden, ob es sich um ein biokybernetisches Steuerungsproblem handeln könnte. Diese umfassende Untersuchung dient aber nicht nur der Beschaffung therapeutisch relevanter Informationen, sondern sie ist mehr. Es geht auch um Informationen, die einen positiven Einfluss auf die Psyche des Patienten und damit auf den Wundheilungsprozess haben. Der Patient gewinnt durch die ausführliche Untersuchung und die damit einhergehenden Erklärungen (Informationen) des Physiotherapeuten Vertrauen und Zuversicht. Ich habe schon einige Male erlebt, dass ein Patient nach einer Untersuchung zu mir sagte: „So bin ich noch nie untersucht worden.“ Diese Erkenntnis aufseiten des Patienten, stärkt sein Vertrauen in den Physiotherapeuten und in dessen Fähigkeiten. Der Patient fühlt sich gut aufgehoben; in besten Händen. Sicher. Mit meiner kurzen Kritik-Runde möchte ich nicht nur jene Mediziner zum Nachdenken bringen, die sich – erfreut oder nicht erfreut – angesprochen fühlen und an deren Lernfähigkeit ich (trotzdem) fest glaube. Ich möchte auch „meine“ Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten ein wenig selbstbewusster fühlen lassen. Sie haben es verdient. Und als letztes Wort an die Mediziner, nein, an alle Therapeuten: Nach der Ausbildung ist vor der Fortbildung. Das heißt: Auch der Physiotherapeut lernt nie aus. Ich bin mit meinen 60+ immer noch offen und aufnahmebereit für Neues oder Alternativen. Und dazu verlasse ich auch, wenn es sein muss, die Komfortzone. Um es mit Benjamin Franklin zu sagen: „Eine Investition in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen.“3

3 „Eine

Investition in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen“, Quelle: Fraunhofer-Institut für. Materialfluss und Logisik, URL: https://www.iml.fraunhofer.de/content/dam/iml/de/documents/ OE%20110/Folder%20OE%20110/Fraunhofer%20IML%20QUERIS.pdf.