Psychosoziale Hilfe bei Katastrophen und komplexen Schadenslagen : lessons learned [1 ed.] 9783211291306, 321129130X

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Psychosoziale Hilfe bei Katastrophen und komplexen Schadenslagen : lessons learned [1 ed.]
 9783211291306, 321129130X

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Ass.-Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster Fakultät für Psychologie, Universität Wien, Österreich

Dipl.-Psychologin Marion Krüsmann Institut für Psychologie, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität München, Deutschland

Prim. Dr. Katharina Purtscher Neuropsychiatrische Kinder- und Jugendabteilung, Landesnervenklinik Sigmund Freud, Graz, Österreich

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Wien

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und MarkenschutzGesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. © 2006 Springer-Verlag/Wien Printed in Germany SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at

Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN-10 3-211-29130-X SpringerWienNewYork ISBN-13 978-3-211-29130-6 SpringerWienNewYork

Vorwort Die Autorinnen und Autoren sowie die Herausgeberinnen des vorliegenden Buches bilden die Arbeitsgruppe DAAK (Deutschsprachiger Arbeitskreis Akutbetreuung/ Krisenintervention). Seit nunmehr 3 Jahren treffen sie sich regelmäßig, um Erfahrungen auszutauschen, Fragen zu stellen, diese teilweise zu beantworten, Einsätze zu reflektieren, wissenschaftliche Erkenntnisse zu vertiefen. Den Ausgang nahmen diese Treffen 1997 bei nationalen und internationalen Kongressen und Workshops, bei denen sich die Mitglieder in unterschiedlicher Zusammensetzung kennen lernten und anschließend den fachlichen Austausch vertieften. Kontinuierlich ist die Anzahl der ExpertInnen in dieser Gruppe gewachsen. Die Arbeitstreffen finden derzeit dreimal jährlich statt. Die Mitglieder sind alle in führenden operativen oder wissenschaftlich strategischen Positionen in Kriseninterventionsteams bzw Akutbetreuungsteams verankert. Alle gehen sie einen Hauptberuf nach, womit sie eines der Charakteristika von Kriseninterventionsteams erfüllen – die Ehrenamtlichkeit bzw Nebenberuflichkeit. Diese Teams arbeiten im Auftrag von Behörden und sind eng an diese gebunden. Martin Alfare ist Feuerwehroffizier und in psychotherapeutischer Ausbildung. Er ist Koordination des KIT-Vorarlberg. Edwin Benko ist Psychotherapeut und Supervisor. Er ist der fachliche Leiter des KIT-Land Steiermark Daniela Halpern ist klinische Psychologin in freier Praxis in Wien, sie ist die fachlich-operative Leitung der AkutBetreuungWien. Leon Kraus ist Professor für Religion in Luxemburg und organisatorischer Leiter des KIT-Luxemburg sowie CISM Basic Trainer. Marion Krüsmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Psychologie an der Ludwig Maximillian Universität in München sowie Psychotherapeutin an der Trauma-Ambulanz. Brigitte Lueger-Schuster ist klinische Psychologin und Supervisorin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für klinische, biologische und differentielle Psychologie der Universität Wien und wissenschaftlich-strategische Leitung der AkutBetreuungWien. Andreas Müller-Cyran leitet das KIT-München und ist Mitarbeiter der Erzdiözese München. Katharina Purtscher ist Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Landesnervenklinik Sigmund Freud in Graz und wissenschaftliche Leiterin des KIT-Land Steiermark. Die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Haltung gegegnüber den Betroffenen zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Diskussionen in der Exper-

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Vorwort

tInnengruppe. Menschen, die von komplexen traumatischen Ereignissen betroffen sind, haben spezielle Bedürfnisse und zeigen spezifische Reaktionen und sind trotz aller anfänglichen Desorientierung und Überforderung in ihren Überlegungen und Entscheidungen autonom und nicht abhängig oder unfähig. Anstatt von Symptomatologie, Syndromen o.ä zu sprechen und dementsprechend zu handeln, versuchen wir unser Augenmerk auf die Notwendigkeit der Unterstützung und Beratung und der emotionalen Sicherheit in diesen außerordentlichen Situationen zu lenken, um die Bewältigungskapazität und -kompetenz zu fördern. Das erfordert qualifiziertes Vorgehen, viel Erfahrung und laufende Reflexion unserer Arbeit, verbunden mit kontinuierlicher Weiterbildung. Die Beiträge im Einzelnen versuchen jeweils einen Schwerpunkt in der Krisenintervention vertieft zu beleuchten. In der Summe beschreiben und reflektieren sie das Geschehen der psychosozialen Unterstützung nach komplexen Ereignissen. Einleitend gibt Brigitte Lueger-Schuster einen Überblick über die internationale Diskussion und den neuesten Forschungsstand der psychosozialen Betreuung nach komplexen Ereignissen und Katastrophen. Vor allem die Einteilung in Phasen sowie organisatorische Überlegungen sind Gegenstand dieser Diskussion und den damit verbundenen Empfehlungen. Marion Krüsmann beschäftigt sich mit den Bedingungen posttraumatischer Bewältigung, die ihren Anfang in der peritraumatischen Phase nimmt. Im Besonderen geht sie auf die Konzepte der PSNV (Psychosoziale Notfallversorgung) ein arbeitet die bewältigungsfördernden Faktoren auf. Martin Alfare beschreibt die Einsatzarten der PSNV und gibt einen Überblick über gesetzliche Grundlagen, Organisation des Einsatzes sowie Strukturen der Vorsorgung in der Akutphase. Er betont die Wichtigkeit der Vernetzung und gemeinsamen Arbeit in komplexen Schadensfällen und macht deutlich, dass psychosoziale Versorgung Teil der Maßnahmen nach komplexen Schadensfällen sein muss, damit die Bewältigung gefördert werden kann. Andreas Müller-Cyran beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der peritraumatischen Intervention bei Großschadenslagen. Er beschreibt den Weg vom Chaos, in dem die Betroffenen sich emotional und kognitiv befinden bis hin zur strukturierten Vorgangsweise der Intervention mithilfe zahlreiche Beispiele und Erfahrungen, die er in den letzten Jahren machte. Daniela Halpern hat ausgewählte Einsätze analysiert und so den Begriff der Komplexität für die Praxis skizziert. Sie hat Spezifika hinsichtlich Einsatzdauer, Personalaufwand, verschiedene Einsatzorte und unterschiedliche Bedürfnislagen der Betroffenen nachvollzogen und reflektiert. Leon Kraus beschreibt die vielen Möglichkeiten den Abschied von geliebten verstorbenen Personen zu begleiten. U.a. stellt er die Frage, wem die Toten gehören, da speziell bei Ereignissen mit hoher medialer Präsenz oft Politik und Medien

Vorwort

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den Angehörigen die Intimität, die der Abschied benötigt, nur in reduziertem Ausmaß ermöglichen. Er geht sowohl auf die Perspektive der Betreuung als auch auf die Perspektive der Notfallseelsorge ein. Edwin Benko greift einen bedeutenden Aspekt in der PSNV auf; er beschäftigt sich mit der Trauer der Hinterbliebenen und skizziert hilfreiche Varianten, die die Betreuungsstruktur zur Verfügung stellen kann. Sein Beitrag ist von vielen Fallbeispielen gekennzeichnet und schließt mit der Frage, ab wann und für wen professionelle längerfristige psychosoziale Hilfe notwendig ist. Katharina Purtscher zeigt in ihrem Beitrag die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, die komplexe Ereignisse erlebt haben auf. Zum einen geht sie auf das Alter und den jeweiligen Entwicklungsstand der Kinder ein, zum anderen gibt sie Hinweise, was Erwachsene für Kinder und Jugendliche in diesen Situationen tun können. Auch geht sie der Frage nach, welche speziellen Angebote für diese besonders verletzliche Gruppe von Betroffenen hilfreich sein können. Marion Krüsmann rundet gemeinsam mit Andreas Müller-Cyran und Willi Butollo den Inhalt dieses Buches ab, indem sie zuletzt auf die Betroffenheit von Einsatzkräften eingehen. Sowohl Belastungen als auch Bewältigungsstrategien von komplexen Einsätzen werden von diesem Autorenteam skizziert und reflektiert.

Wien, Juni 2006

Brigitte Lueger-Schuster

Danksagung Krisenintervention und Psychosoziale Akutbetreuung – das ist Hilfe von Menschen für Menschen. Wir danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kriseninterventionsteams (KIT) in den einzelnen Bundesländern sowie im deutschsprachigem Raum und dem Akutbetreuungsteam Wien, die durch Ihren unermüdlichen ehrenamtlichen Einsatz vielen Menschen in Krisensituationen geholfen haben. In vielen Einsatznachbesprechungen und Supervisionen haben wir durch diese Erfahrungen und Reflexionen gemeinsam weitergelernt und viele dieser Erkenntnisse sind in diesem Buch zusammengetragen und haben unser Wissen und unsere Erfahrungen vertieft. Wir sind froh über die gute Verankerung der Kriseninterventionsteams bzw der Akutbetreuung im Rahmen des behördlichen Krisenmanagements. Wir danken den Leitern der zuständigen Behörden für Katastrophenschutz bzw Soforthilfe für die kontinuierliche Unterstützung und die gute Zusammenarbeit bei den Einsätzen. Für die gute Beratung und geduldige Zusammenarbeit danken wir Frau Mag. Eichhorn und Herrn Mag. Dollhäubl vom Springer-Verlag sehr herzlich. Wir widmen dieses Buch allen Kolleginnen und Kollegen, die Menschen in Krisensituationen betreuen und besonders denen, die traumatische Ereignisse durchleben. Die Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren

Inhaltsverzeichnis Autorenverzeichnis .............................................................................................................................XVII 1. Kapitel: Der Rahmen psychosozialer Notfallversorgung: Überlegungen, Erkenntnisse, Guidelines und Standards (Brigitte Lueger-Schuster) ............................................ 1 1.1. Überblick über Empfehlungen, Normierungen und Standards auf internationaler Ebene.......................................................................................2 1.1.1. Empfehlungen der WHO.......................................................................................................2 1.1.2. Leitlinien der WHO................................................................................................................4 1.1.3. Konsens für die psychosoziale Versorgung in der Akutphase? ........................................5 1.2. World Association for Disaster and Emergency Medicine (WADEM)......................................7 1.2.1. Working paper.........................................................................................................................7 1.2.2. Prinzipien.................................................................................................................................9 1.3. Integration von Notfallmedizin und psychosozialen Diensten.................................................10 1.3.1. Individuelle Beratung...........................................................................................................11 1.3.2. Notfallmedizin und Rettung ...............................................................................................11 1.3.3. Notfallambulanzen ...............................................................................................................12 1.3.4. Interventionstechnik ............................................................................................................12 1.3.5. Erkennen von Personen mit erhöhtem Risiko – Screening und Diagnostik ...............13 1.3.6. Herausforderungen in der Integration der beiden Versorgungssysteme......................15 1.4. Die europäische Perspektive...........................................................................................................15 1.5. Komplexe Schadenslagen................................................................................................................17 1.5.1. Dynamik einer komplexen Schadenslage..........................................................................18 1.6. Unterscheidung Krise – Schock.....................................................................................................20 1.6.1. Stresstheorien ........................................................................................................................20 1.6.2. Theorien zum traumatischen Stress...................................................................................21 1.6.3. Beurteilung der Traumafolgen nach Risikofaktoren .......................................................22 1.7. Forschung – Probleme und einige Ergebnisse.............................................................................24 1.7.1. Probleme ................................................................................................................................24 1.7.2. Welche Fragen lassen sich nun daraus für die Katastrophenforschung ableiten? .......25 1.7.3 Ergebnisse aus der Katastrophenforschung ......................................................................26 1.8. Zusammenfassung ...........................................................................................................................41 2. Kapitel: Die Bedingungen posttraumatischer Bewältigung (Marion Krüsmann) ................. 45 2.1. Ein Überblick....................................................................................................................................45 2.1.1. Von der Beschreibung traumabedingter Störungen zu ersten Ansätzen der Krisenintervention.......................................................................46 2.1.2. Ziele von Konzepten der Krisenintervention und Akutbetreuung................................47 2.2. Erscheinungsbild, Häufigkeit und Verlauf traumabedingter Störungen..................................48 2.2.1. Häufigkeit des Auftretens der PTBS...................................................................................49 2.2.2. Zum Verlauf...........................................................................................................................50 2.3. Zur Adaptation an traumarelevante Ereignisse ...........................................................................51

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Inhaltsverzeichnis

2.3.1. Zur Besonderheit traumatischer Reaktionen................................................................... 52 2.3.2. Implikationen für die PSNV............................................................................................... 55 2.4. Traumabedingte Adaptationsprozesse ......................................................................................... 56 2.4.1. Zur Ätiologie traumatischer Störungen............................................................................ 56 2.4.2. Risiko- und Schutzfaktoren................................................................................................ 58 2.4.3. Zusammenfassung ............................................................................................................... 62 2.5. Zum Miteinander im Kontext von komplexen Schadenslagen ................................................ 63

3. Kapitel: Organisation komplexer Einsätze (Martin Alfare).....................................................71 3.1. Definitionen Einsatzarten.............................................................................................................. 71 3.1.1. Allgemeines........................................................................................................................... 71 3.1.2. Katastrophen – catastrophies ............................................................................................. 72 3.1.3. Der Großunfall – major disaster........................................................................................ 73 3.1.4. Komplexe Schadensereignisse – complex emergencies.................................................. 73 3.1.5. Komplexität eines psychosozialen Einsatzes.................................................................... 74 3.1.6. Zusammenfassung ............................................................................................................... 75 3.2. Einsatz – Organisation ................................................................................................................... 76 3.2.1. Einsatzleitung ....................................................................................................................... 76 3.2.2. Einsatzstab ............................................................................................................................ 77 3.2.3. Ausbildung PSNV ................................................................................................................ 78 3.3. Regelkreis des Einsatzmanagements ............................................................................................ 79 3.3.1. Vorsorge/Vorbeugung ......................................................................................................... 79 3.3.2. Einsatzvorbereitung............................................................................................................. 79 3.3.3. Einsatzdurchführung........................................................................................................... 80 3.3.4. Einsatznachsorge/Auswertung........................................................................................... 81 3.4. Zusammenarbeit mit anderen Organisationen .......................................................................... 82 3.4.1. Ausbildung............................................................................................................................ 82 3.4.2. Alltagsnahe Ereignisse......................................................................................................... 83 3.4.3. Komplexe Schadenslagen.................................................................................................... 83 3.5. Struktur ............................................................................................................................................ 84 3.5.1. Einsatzführung PSNV ......................................................................................................... 84 3.5.2. Schnittstellen ........................................................................................................................ 86 3.5.3. Öffentlichkeitsarbeit ............................................................................................................ 87 3.5.4. Exkurs: Call-Center ............................................................................................................. 88 3.5.5. Exkurs: Betreuungszentrum............................................................................................... 92 3.6. Zusammenfassung .......................................................................................................................... 96

4. Kapitel: Die peritraumatische Intervention in Großschadenslagen (Andreas Müller-Cyran)...........................................................................99 4.1. Einleitung ......................................................................................................................................... 99 4.2. Alarmierung:.................................................................................................................................. 104 4.3. Eintreffen an der Einsatzstelle:.................................................................................................... 107 4.4. Aufbau von Grundstrukturen ..................................................................................................... 110

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4.5. Schwerpunkte der psychosozialen Akutintervention .............................................................. 112 4.5.1. PSNV bei gemeindenahen Katastrophen ....................................................................... 112 4.5.2. Bei gemeindefernen Katastrophen .................................................................................. 117 4.6. Koordinierungsstelle Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe der Bundesregierung („NOAH“)................................................................ 119 4.7. Umgang mit Tumult ..................................................................................................................... 121 4.8. Ort für Gruppeninterventionen.................................................................................................. 122 4.9. Ende der psychosozialen Notfallversorgung............................................................................. 123 4.10. Supervision des PSNV-Teams .................................................................................................... 123 5. Kapitel: Komplexe Einsätze der Psychosozialen Notfallversorgung in der Praxis (Daniela Halpern).................................................................. 125 5.1. Einsatzberichte .............................................................................................................................. 125 5.1.1. Schiffsunglück .................................................................................................................... 126 5.1.2. Verkehrsunfall .................................................................................................................... 127 5.1.3. Flugzeugabsturz ................................................................................................................. 128 5.1.4. Lawinenabgang .................................................................................................................. 130 5.1.5. Besondere Belastungen für die betroffenen/zu betreuenden Personen..................... 132 5.2. Begriff der Komplexität ............................................................................................................... 133 5.3. Komplexe Schadenslage ............................................................................................................... 135 5.3.1. Das Ereignis per se ............................................................................................................ 135 5.3.2. Die Zahl der betroffenen Personen und der zu betreuenden Personen sowie die unterschiedlichen Betroffenheitsgrade.......................................................... 137 5.3.3. Einsatzkräfte ....................................................................................................................... 138 5.3.4. Die „Öffentlichkeit“ eines Einsatzes................................................................................ 139 5.4. Charakteristika eines komplexen PSNV-Einsatzes .................................................................. 140 5.4.1. Dauer des Einsatzes ........................................................................................................... 141 5.4.2. Personalaufwand (Nachalarmierung; mehrere Teams)................................................ 142 5.4.3. Verschiedene Einsatzorte.................................................................................................. 143 5.4.4. Eingehen auf unterschiedlichste Bedürfnislagen .......................................................... 144 5.4.5. Einsatzaufgaben/Einsatzleitung....................................................................................... 149 5.4.6. Besondere Belastungen für PSNV-Mitarbeiter.............................................................. 150 5.4.7. Besondere Belastungen für die PSNV-Einsatzleitung .................................................. 152 5.5. Zusammenfassung ........................................................................................................................ 153 6. Kapitel: Möglichkeiten des Abschieds unter vielen Einschränkungen (Léon Kraus).......... 155 6.1. Die Notwendigkeit eines Betreuungszentrums ........................................................................ 155 6.1.1. Wem gehören die Toten? .................................................................................................. 155 6.1.2. Peritraumischer Intervall.................................................................................................. 156 6.1.3. Personlisierung der Betroffenen...................................................................................... 156 6.1.4. Informationen .................................................................................................................... 156 6.1.5. Management des Zeitdrucks ............................................................................................ 157 6.1.6. Wichtige Unterschiede in der Betreuung ....................................................................... 158 6.1.7. Ambiente............................................................................................................................. 159

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6.2. Besuch von Unglücksstelle und Leichenhalle ........................................................................... 160 6.2.1. Entscheidung der Reihenfolge ......................................................................................... 160 6.2.2. Zusammenstellung des „Convoy“.................................................................................... 160 6.2.3. Der Weg zur Unglücksstelle.............................................................................................. 161 6.2.4. Die Unglücksstelle.............................................................................................................. 161 6.3. Der Besuch der Leichenhalle....................................................................................................... 164 6.3.1. Der Anfahrtsweg mit Abklärungen ................................................................................. 164 6.3.2. In der Leichenhalle ............................................................................................................ 166 6.3.3. Vor der gemeinsamen Trauerfeier ................................................................................... 167 6.4. Rituale und Begegnungen des Abschieds .................................................................................. 168 6.4.1. Der erste Gottesdienst ....................................................................................................... 168 6.4.2. Der gemeinsame Abschluss .............................................................................................. 169 6.4.3. Die Teilnahme der Bevölkerung ...................................................................................... 170 6.4.4. Der zweite interreligiöse Gottesdienst ............................................................................ 171 6.4.5. Der Umgang mit Überraschungen................................................................................. 171 6.4.6. Überprüfung des Angebotes „Abschied“ ........................................................................ 172 6.5. Schnittstelle: von der Akut- zur Mittel- und Langzeitbetreuung ........................................... 173 6.5.1. Begleitung mit Brückenfunktion ..................................................................................... 173 6.5.2. Das Jahresgedenken........................................................................................................... 175

7. Kapitel: Plötzlicher Tod – Abschied und Trauer (Edwin Benko) ..........................................177 7.1. Der Begriff Trauer......................................................................................................................... 178 7.1.1. Komplexe Trauer................................................................................................................ 178 7.2. Die Person in der Trauer.............................................................................................................. 180 7.2.1. Abschiednehmen ............................................................................................................... 183 7.3. Welche Aufgaben und Grenzen haben die Akutbetreuer bei ihren Einsätzen im Umgang mit der Trauer? ..................................................................... 184 7.3.1. Mitfühlen – Mitleiden....................................................................................................... 185 7.3.2. Rituale.................................................................................................................................. 186 7.4. Bevor wir uns aus dem Einsatz verabschieden ......................................................................... 187 7.4.1. Selbsthilfegruppe/Trauergruppe – kritisch betrachtet............................................... 188 7.5. Woran erkenne ich, wann eine Psychotherapie notwendig ist?.............................................. 188 7.6. Hilfe für den Helfer – was mir hilft, mit der miterlebten Trauer umzugehen...................... 189 7.7. Die Begleitungen von trauernden Menschen nach einer komplexen Schadenslage. Ein Beispiel aus der Praxis ................................................... 190 7.8. Abschließend ................................................................................................................................. 193

8. Kapitel: Trauma im Kindesalter – komplexe Anforderungen in der psychosozialen Akutbetreuung (Katharina Purtscher)...................................................195 8.1. Klassifikation traumatischer Lebensereignisse......................................................................... 195 8.1.1. Traumatische Lebensereignisse vom Typ I..................................................................... 196 8.1.2. Traumatische Ereignisse vom Typ II............................................................................... 196 8.1.3. Traumatische Situationsfaktoren ..................................................................................... 196

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8.2. Reaktionen von Kindern und Jugendlichen nach einem akuten traumatischen Ereignis .............................................................................. 196 8.2.1. Erstreaktionen (Peritraumatisches Intervall) ................................................................ 197 8.2.2. Weitere Reaktionen von Kindern und Jugendlichen nach traumatischen Erlebnissen.............................................................. 197 8.3. Die Phasen der psychologischen und psychosozialen Akutbetreuung ................................. 199 8.3.1. Sofortmaßnahmen der psychosozialen Betreuung....................................................... 199 8.3.2. Frühphase der psychosozialen Betreuung = Akutphase .............................................. 199 8.4. Komplexe Anforderungen in der psychosozialen Betreuung bei „lange dauernden Akutaktionen“ (mittelfristige Betreuung) ................................................. 201 8.5. Abschied, Abschiedsrituale, Symbole ......................................................................................... 202 8.6. Information und Aufklärung als Teil der Akutbetreuung....................................................... 203 8.6.1. Gestaltung der Informationsübermittlung..................................................................... 203 8.6.2. Informationsmanagement und Vernetzung................................................................... 204 8.7. Kooperationen............................................................................................................................... 205 8.7.1. Zusammenarbeit mit der Exekutive................................................................................ 205 8.7.2. Jugendamt, Sozialamt........................................................................................................ 205 8.7.3. Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz .................................................................................. 205 8.8. Spezielle Formen der Betreuung von Kindern und Jugendlichen ......................................... 206 8.8.1. Information und Betreuung in der Gruppe ................................................................... 206 8.8.2. Gruppenbildung................................................................................................................. 207 8.8.3. Unterstützung der Bezugspersonen ................................................................................ 207 8.9. Komplexe Anforderungen in der weiterführenden Betreuung .............................................. 208 8.10. Fallbeispiele für komplexe Betreuungssituationen................................................................ 208 8.10.1. Schwerer Sportunfall eines Schülers .......................................................................... 208 8.10.2. Suizid einer Schülerin/eines Schülers ........................................................................ 209 8.11. Schlussfolgerungen für die psychosoziale Akutbetreuung von Kindern und Jugendlichen .................................................................... 210 9. Kapitel: Zur Prävention einsatzbedingter Erkrankungen (Krüsmann, Karl, Schmelzer, Müller-Cyran, Hagl, Butollo) ......................................................... 213 9.1. Einleitung....................................................................................................................................... 213 9.2. Belastung und Bewältigung im Einsatzwesen........................................................................... 214 9.3. Sekundäre Prävention durch Einsatznachsorge ....................................................................... 217 9.4. Primäre Prävention durch vorbereitende Maßnahmen .......................................................... 221 9.5. Zur Umsetzung präventiver Konzepte....................................................................................... 224

Autorenverzeichnis Martin Alfare Koordinator Krisenintervention und Notfallseelsorge Vorarlberg Bezirksfeuerwehrinspektor Forststraße 3 6890 Lustenau, Österreich Tel.: +43 5577 86122 E-mail: [email protected] Edwin Benko Psychotherapeut, Supervisor, Coach Fachliche Leitung des Kriseninterventionsteams des Landes Steiermark Vorsitzender des steirischen Landesverbandes für Psychotherapie Sporgasse 22 8010 Graz, Österreich Tel.: +43 316 38 86 92 E-mail: [email protected] Mag. Daniela Halpern Klinische und Gesundheitspsychologin Fachliche Leitung (operativ) AkutBetreuungWien (ABW) Dorotheergasse 20/8 1010 Wien, Österreich Tel.: +43 1 5122141 E-mail: [email protected] Prof. Leon Kraus Notfallseelsorger Technische Leitung Groupe de Support Psychologique de Protection Civile (Psychologischer Dienst des Zivilschutz – GSP) Luxenburg 9, Avenue Charlotte 5654 Mondorf, Luxenburg E-mail: [email protected] Dipl.-Psych. Marion Krüsmann Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Projektleiterin Prävention im Einsatzwesen

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Autorenverzeichnis

Leopoldstraße 13 80802 München, Deutschland Tel.: +49 89 2180-5179 E-mail: [email protected] Ass. Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster Klinische und Gesundheitspsychologin, Supervisorin Fachliche Leitung (Strategie und Wissenschaft) AkutBetreuungWien (ABW) sowie des Projekts Peer der Wiener Berufsrettung (MA-70) Institut für Klinische, Biologische und Differentielle Psychologie Universität Wien Universitätsstraße 7 1010 Wien, Österreich Tel: +43 1 4277-47891 E-mail: [email protected] Andreas Müller-Cyran, M.A. Diakon Erzbischöfliches Ordinariat München, Fachbereich Notfallseelsorge Michael-Hartig-Weg 6 81929 München, Deutschland Tel.: +49 89 95720327 E-mail: [email protected] Dr. Katharina Purtscher Ärztliche Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapeutin Landesnervenklinik Sigmund Freud Graz Wissenschaftliche Leitung des Kriseninterventionsteams des Landes Steiermark Wagner-Jaureggplatz 1 8053 Graz, Österreich Tel.: +43 316 2191-2532 E-mail: [email protected]

Kapitel 1

Der Rahmen psychosozialer Notfallversorgung: Überlegungen, Erkenntnisse, Guidelines und Standards1 Brigitte Lueger-Schuster Little do we know

Psychosoziale Hilfe nach traumatischen Ereignissen ist in den letzten Jahren zum scheinbar unverzichtbaren Bestandteil des Einsatzgeschehens geworden. Jede Stadt, jeder Landkreis, jeder Bezirk, der auf sich hält, betreibt entweder selbst ein Kriseninterventionsteam, notfallseelsorgerische oder notfallpsychologische Organisationen oder hat eine Einsatzorganisation beauftragt, derartiges vorzuhalten. Die psychische Dimension von komplexen Ereignissen, Katastrophen, Großschadenslagen ist nach vielen Jahrzehnten endlich in den Blickpunkt der Behörden, der Notfallmedizin und der Einsatzorganisationen geraten. Das ist positiv, vor allem da es Hinweise auf krankheitswertige traumatische Reaktionen auf traumatische Ereignisse gibt. Die WHO beschreibt in der Briefing-note nach dem Tsunami 2004, drei Gruppen von Betroffenen. Laut WHO stellen Menschen mit milden psychischen Reaktionen eine Gruppe von 20 bis 40% der betroffenen Bevölkerung dar. Sie bedürfen keiner spezifischen Unterstützung. Weitere 30 bis 50% fallen in die Gruppe jener Personen, mit mittelstarken oder deutlichen psychischen Beeinträchtigungen, die über die Zeit entweder von selbst vergehen oder als chronische Befindensbeeinträchtigung bestehen bleiben. Häufig werden diese Personengruppen mit psychiatrischen Fehldiagnosen versehen, da die psychiatrischen Erhebungsinstrumente nicht auf die entsprechenden Kulturen und Traumareaktionen eingestellt sind. Diese Gruppe würde von einem Bündel sozialer und psychologischer Interventionen profitieren. Die dritte Gruppe umfasst Personen mit milden und mittelmäßigen depressiven Erkrankungen, Angststörungen und PTSD, die in Regionen nach einem 1

Mein Dank gilt Barbara Tatzber, für die Unterstützung bei der Zusammenstellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse im Teil 1.7.

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komplexen Schadensfall von den 10% Jahresprävalenz, die weltweit gefunden wird, wahrscheinlich auf 20% ansteigen wird. Selbstheilungskräfte über die Zeit würde die Gruppe wahrscheinlich auf 15% schrumpfen lassen. In der Summe – so schätzt die WHO – würden die psychischen Störungen durch den Einfluss von Katastrophen um 5 bis 10% steigen. Ausdrücklich warnt die WHO vor einer Fokussierung auf PTSD, da dadurch wertvolle Ressourcen für die Unterstützung bzw Behandlung (bedingt durch Fehlbeurteilungen der Reaktionen und Symptome) verloren gehen würden. Zusammengefasst: es gibt deutlichen Bedarf für psychosoziale Hilfe nach Katastrophen und komplexen Schadensereignissen, die in eine Gemeinschaft eingreifen. Ereignisse können man-made oder nature-made sein; unabhängig davon, ob es sich um Flutwellen, Erdbeben, Wirbelstürme oder Krieg und Terrorattentate handelt. Es gibt eine Fülle – sowohl qualitativ als auch quantitativ – an Reaktionen darauf. Ebenso reich ist die Antwort im Umgang mit diesen Reaktionen sowie die Landschaft der Anbieter von spezifischen psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlungsformen. Nicht jedes Angebot trifft die Bedürfnisse betroffener Bevölkerungsgruppen, nicht jedes Angebot entspricht den Qualitätsanforderungen, nicht jedes Angebot für die Erholungsprozesse nach dem Trauma.

1.1. Überblick über Empfehlungen, Normierungen und Standards auf internationaler Ebene Der folgende Überblick über Empfehlung, Normierungen und Standards internationaler Fachgesellschaften, Arbeitsgruppen und policy papers soll dazu dienen, gute Angebote von schlechten Angeboten zu unterscheiden. 1.1.1. Empfehlungen der WHO2 In ihrer Publikation „Mental Health in Emergencies“ (2003) präsentiert die WHO ihre Position zu den Folgenwirkungen extremen Stresses. Als Zielgruppen werden Flüchtlinge, Vertriebene, Überlebende von Katastrophen und nach terroristischen Anschlägen, Kriegsüberlebende und Überlebende von Genoziden definiert. Diesen Gruppen wird ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung psychischer Erkrankungen zuerkannt. Die Mehrheit der von diesen Ereignissen Betroffenen lebt in Ländern mit schwierigen sozialen Verhältnissen. Ihre Anzahl ist insgesamt groß.

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WHO/MSD/MER/03.01 (2003) Mental health in emergencies. Mental and social aspects of health of populations exposed to extreme stressors. Department of Mental Health and Substance Dependence. World Health Organization Geneva.

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Unter „Sozialer Intervention“ definiert die WHO alle Interventionen, die primär soziale Ziele verfolgen. „Psychologische Interventionen“ verfolgen primär psychologische Ziele. Beide Interventionsformen haben sowohl psychische als auch soziale Sekundäreffekte aufzuweisen, wie der Begriff „psychosozial“ auch aussagt. Grundlage für die Überlegungen und Empfehlungen ist der Gesundheitsbegriff der WHO, der von einem umfassenden körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefinden ausgeht.

Die Ziele, die die WHO mit ihrem Statement betreibt, sind folgende: 1. Ressource für technische Beratung für Feldaktivitäten aller Hilfsorganisationen in Koordination mit dem WHO-Department für Notfallmaßnahmen und humanitäre Hilfe 2. Bereitstellung von Führung und Lenkung zur Verbesserung der Qualität der Interventionen 3. Erleichterung bei der Schaffung Datenbasis für Feldaktivitäten und „policy“3 im Gemeinde- und Gesundheitssystem.

Allgemeine Prinzipien: 1. Vorbereitung auf den Notfall: Pläne sollten Koordinierungsempfehlungen und Kooperationspartner enthalten, detaillierte Vorhaben für eine passende psychosoziale Antwort auf den jeweiligen Schadensfall beschreiben, Training relevanten Personals für psychosoziale Maßnahmen definieren und vorsehen. 2. Beurteilung und Einschätzung: Die Interventionen sollten von einer sorgfältigen Lagebeurteilung ausgehen, die den lokalen Kontext (Kultur, Geschichte), Art des Schadensfalles, regionale Wahrnehmung und Bewertung der StressSymptomatik, Beurteilung der Bedürfnisse der betroffenen Personengruppen auf breiter Ebene berücksichtigen. 3. Zusammenarbeit: externe Anbieter sollten mit lokalen Institutionen und Behörden in der Intervention zusammenarbeiten. 4. Integration in das Gesundheitssystem unter Einbeziehung familiärer Ressourcen: zB bei der Pflege. Bereitstellung von Supervision und Training durch Experten für die regionalen Fachkräfte. 5. Uneingeschränkter Zugang zu den Unterstützungsangeboten: die Angebote sollten nicht nur den definierten Zielgruppen, sondern auch den Bewohnern der gesamten Region zugänglich sein. 3

Policy kann hier verstanden werden als politisches Anliegen, quasi als Handhabe, die Problematik auf die Tagesordnung zB bei einer Bürgermeisterkonferenz zu bringen.

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6. Training und Supervision sollte durch psychosoziale Fachkräfte ausgeführt werden und nachhaltige Wirkung, dh nachhaltig Kompetenzen erzeugen. 7. Langfristige Perspektiven sollten für das Gesundheitsvorsorgungssystem vorgesehen werden, anstatt sich ausschließlich auf die akute Hilfe zu beziehen. Effizienter haben sich bislang mehrjährige Programme erwiesen. 8. Indikatoren für eine Evaluation: Bereits vor Beginn einer Intervention sollten Indikatoren für ein Monitoring entwickelt sein, die zur Anwendung kommen können. Empfehlungen für Interventionsstrategien werden von der WHO in Zusammenhang mit dem zeitlichen Verlauf nach dem Ereignis gesehen. In der akuten Phase wird auf Schutz und die Bedürfnisse des Überlebens fokussiert. Auch wird empfohlen, die Betroffenen über die weitere Entwicklung umfassend zu informieren sowie Familienzusammenführung durchzuführen oder Familien gesamt unterzubringen. Auch sollte Kommunikationsmöglichkeiten mit abwesenden Familienmitgliedern zur Verfügung gestellt werden. Die Informationsweitergabe sollte einfach und klar sein und von jedem verstanden werden können. Alleinstehende Kinder sollten in andere Familienverbände angeschlossen werden. Einsatzkräfte sollten über die psychischen Stressreaktionen informiert werden. Entscheidungen sollten immer in Zusammenhang mit den lokalen Behördenvertretern genommen werden. Hinweise für Kinder, Information über die normalen Traumareaktionen, Einbeziehung der Betroffenen in Hilfsaktivitäten (Beschäftigungsaspekt) und der Umgang mit den hohen Erwartungshaltungen an externe Helfern sowie der Umgang mit einer Vielzahl an Toten und Hilfe für Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen werden in den Empfehlungen thematisiert. Die Vorschläge sind einfach und nachvollziehbar und entsprechen den allgemeinen Erfahrungen von psychosozialen Einsatzkräften in Großschadenslagen. Grundsätzlich geht die WHO in ihren Empfehlungen davon aus, dass externe Fachkräfte für Psychotraumatologie anreisen. Sie versucht durch eine Fülle von Vorschlägen, diese mit den lokalen Vertretern von Behörden und mit den psychosozialen Fachkräften durch ihre Vorschläge zu vernetzen. 1.1.2. Leitlinien der WHO Akutphase Als interventionsleitend in der Akutphase wird – neben der vordringlichen Behandlung von Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen (vor allem medikamentös) – die psychische erste Hilfe betrachtet. Sie definiert die WHO mit den Elementen: Zuhören, Mitgefühl ausdrücken, Bedürfnisse beurteilen, sichern der Basisversorgung, soziales Netz aktivieren, zum Sprechen ermutigen aber nicht forcieren,

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Schutz sicherstellen … . Von so genannten Einzeldebriefings wird abgeraten, da hier die Evaluierungsergebnisse widersprüchlich sind. Konsolidierungsphase In der so genannten Konsolidierungsphase wird, neben der Weiterführung sozialer Maßnahmen, zu Psychoedukation und Informationen über das psychosoziale Vorsorgungssystem geraten. Diese sollte erst vier Wochen nach dem Schadensfall beginnen4, Wert soll auf eine präzise Aufklärung gelegt werden, die vor allem zwischen psychopathologischen Reaktionen und normalen Reaktionen auf traumatische Ereignisse legt. Auch sollten bislang funktionierende Bewältigungsstrategien verstärkt und ihre Anwendung durch die Betroffenen ermutigt werden. Mit den Elementen Training für Multiplikatoren in psychischer erster Hilfe, Basiswissen zu psychischer Gesundheit, Suizidprävention, Bereitstellung psychiatrischer Behandlung, psychosomatisches Basiswissen, Stärkung kommunaler Ressourcen und Kompetenzen sowie Supervision für die lokalen Mitarbeiter wird die psychologische Intervention umrissen Sorge äußert die WHO hinsichtlich der internationalen Hilfe, die von entwickelten Ländern an weniger entwickelte Länder geht, da diese bisweilen auf sehr kurzfristige Wirkungen orientiert ist und wenig bedacht auf Nachhaltigkeit nimmt. Dies deshalb, weil die WHO im Zentrum ihres Denkens die Weltbevölkerung hat und statistisch betrachtet, findet der Großteil der Katastrophen und komplexen Schadenslage in ressourcenarmen Ländern mit meist nicht nur westlichen Kulturansichten und Werthaltungen statt. Bekannt ist auch, dass es vor allem in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts so etwas wie den Trauma-Zirkus gab, der zu jeder Katastrophe anreiste, PTSD unterrichtete, eine Pressekonferenz gab und sich im Anschluss daran eher zu wenig um die Nachhaltigkeit kümmerte. Dieses Phänomen ist zum Teil heute noch in der Akutphase zu beobachten.

1.1.3. Konsens für die psychosoziale Versorgung in der Akutphase?5 Die Frage nach einem sich entwickelnden Consensus im Bereich der psychischen und sozialen Gesundheit während und in der akuten Phase eines Ereignissen stel4

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Obwohl die WHO die psychosoziale Weiterversorgung erst ab vier Wochen nach dem Ereignis vorschlägt, sprechen die Erfahrungen für eine frühere Weitervermittlung in das Regelsystem. Je früher eine hilfreiche stabile Beziehung zu psychosozialen Experten (Psychotherapeuten, Klinische Psychologen, Psychiater ...) aufgebaut wird, desto eher können die Mechanismen der Verarbeitung greifen. Van Ommeren M, Saxena Sh, Saraceno B (2005) Mental and social health during and after acute emergencies: emerging consensus? Bull World Health Org (January 2005): 83 (1).

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len Mark van Ommeren et.al in einem ebenfalls von der WHO (2005) publizierten Dokument. Allein der Zusatz „emerging consensus?“ verweist bereits auf die Kontroverse, in der sich die psychosoziale Akuthilfe im Schadensfall befindet. Primär wird diese Kontroverse von den Praktikern, die durchwegs gute Rückmeldungen aus den Einsätzen mitbringen und von den Wissenschaftern, die Monate, bisweilen Jahre danach die Betroffenen untersuchen, geführt. Die Ebenen der gegenseitigen Vorwürfe sind zahlreich, besonders deutlich werden sie im Bereich des CISM, im speziellen hinsichtlich des Debriefings gemacht. Ein weitere Hot-topic ist die Gabe von Benzodiazepinen. Des weiteren zentriert sich diese Debatte auf die Implementierung von ausschließlich oder nahezu ausschließlich PTSD-fokussierte Projekte, die vorhandene Strukturen zur Pflege der psychischen Gesundheit wenn schon nicht ausschließen, so doch zumindest nur mässig zur Kenntnis nehmen. Außer acht wird dabei allzu häufig die soziale Unterstützung gelassen, die Behandlung bezieht sich auf die Symptombekämpfung der PTSD oder anderer psychischer Erkrankungen. Beispielhaft sei hier angeführt, dass „nur behandelt wird“ aber Überlegungen zur Normalisierung des Alltags, wie etwa eine religiöse Trauerveranstaltung oder öffentliche Rituale zum Gedenken an die Verstorbenen nicht mit bedacht werden. Ein anderer Bereich wird bisweilen „vergessen“, dies betrifft die Obsorge für Erholung und Freizeitaktivitäten, die gerade für Menschen in einer massiven Belastungssituation von hoher Bedeutung sind. Die Schaffung von Orten, wo man zur Besinnung und Ruhe kommen kann, wo man mit anderen Menschen ins Gespräch kommen kann und ein Stück Distanzierungsmöglichkeit vom Ereignis finden kann, klingt zwar logisch, wird aber trotzdem wenig beachtet, wenn psychosoziale Interventionen für Betroffene in einem kommunalen Bereich geschaffen werden. Eine weitere psychosoziale Strategie ist die möglichst schnelle Wiederherstellung kinderbetreuender Organisationen wie Kindergarten und Schule. Hier kann selbstverständlich improvisiert werden. Als Beispiel sei hier die Errichtung eines Jugendzentrums in Beslan erwähnt, das sowohl Lernmöglichkeiten, (zB Computer- und Englischkurse) als auch Freizeitgestaltungsmöglichkeiten anbietet. Während eines Besuches im August 2005 konnten wir von der betroffenen Bevölkerung immer wieder hören, wie sehr sie sich darüber freuen. Die dortigen Experten klagten darüber, dass sie genug vom Unterricht über PTSD hätten, sie bräuchten vielmehr Trainings und Supervision im Umgang mit den chronischen Problemen wie zB der tiefen Spaltung, die Betroffene von mittelbar Betroffenen trennt.

Derrick Silove, in der Rolle des advocatus diaboli, in dieser Kontroverse betont, dass akute Intervention nach traumatischen Ereignissen, vor allem eine soziale sein muss und nennt als Beispiele: Herstellung einer sicheren Umgebung, Familienzusammenführungen, Systeme, die Gerechtigkeit wieder herstellen sollen, Angebote zu arbeiten und Möglichkeiten anbieten, die es erlauben wieder Sinn, Verstehbarkeit und „Kontrolle“ über die eigenen Welt zu erhalten. Notfallpsychologische Methoden, wie sie etwa im deutschsprachigen Raum propagiert werden,

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kommen in der Gedankenwelt der WHO und ihrer Experten nicht vor. Stattdessen empfiehlt er die Anwendung von „state of the art“ psychotraumatologisch fundierter Psychotherapie. Kritisch würdigt er die stark zunehmende Tendenz, sofort nach einem Ereignis eine psychologische Intervention zu setzen und keine weiterführenden Maßnahmen zu entwickeln. Dabei bezieht sich Silove auf internationale Organisationen, die in Krisengebiete psychosoziale Unterstützung in der akuten Phase anbieten. Erneut wird hier auf Beslan verwiesen, wo im ersten Jahr nach dem Terroranschlag 25 internationale Organisationen auftraten. Im zweiten Jahr nach der Geiselnahme sind nur mehr 3 Organisationen vor Ort. Dies wird sowohl von den zuständigen Behörden als auch von den Betroffenen-Organisationen beklagt.

Besser wäre es verstärkt psychologische Hilfe anzubieten, wenn die Patienten mit einer chronifizierten Problematik sich zu melden beginnen. Daher plädiert er „not too early but not too late“.

1.2. World Association for Disaster and Emergency Medicine (WADEM) Die World Association for Disaster and Emergency Medicine (WADEM) schlägt internationale Standards und Guidelines vor (2004), die eine multidisziplinäre Antwort auf die Bedürfnisse von Menschen in komplexen Schadenslagen geben. Integriert und multidisziplinär bedeutet im Kontext der WADEM, Integration psychosozialer Aktivitäten in die Medizin, multidisziplinär meint vor allem die Erweiterung rein medizinischer Interventionen um psychosoziale Aspekte. Als Vision formuliert das Autorenteam die Entwicklung von Evidenz-basierten Standards im Umgang mit komplexen Schadenslagen und deren Einfluss auf den Gesundheitszustand betroffener Gruppen für alle in der Gesundheitsversorgung tätigen Berufsgruppen. Diese Vision beruht auf fünf Säulen, die wiederum Kernpunkte beinhalten. 1.2.1. Working paper Säule 1: Einsicht und Verständnis in die gegenwärtige Interpretation einer multidisziplinären Bewältigung im Gesundheitsbereich nach Großschadenslagen und komplexen Schadenslage, die den Gesundheitszustand von betroffenen Gemeinden beeinträchtigen. Kernpunkt 1: Definitionen und Terminologie in der Katastrophenmedizin Kernpunkt 2: Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Konzepten und internationalen Trends in der Katastrophenmedizin und

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Kernpunkt 3: Bewertung persönlicher Beiträge von Praktikern im Bereich der Katastrophenmedizin

Säule 2: Entwicklung eines wissenschaftlichen Gefüges zur Vernetzung von Theorie und Praxis im Bereich der Katastrophenmedizin Kernpunkt 4: Schaffung eines wissenschaftlichen Bezugssystems für die Katastrophenmedizin

Säule 3: Definition eines konzeptiven Bezugssystems und allgemeiner Prinzipien um Internationale Standards und Richtlinien für Aus- und Weiterbildung in gegenständlichen Bereich zu entwickeln Kernpunkt 5: Bestandsaufnahme und Verbindung internationaler Trends und gegenwärtiger Konzepte für Aus- und Weiterbildung im Bereich der Katastrophenmedizin Kernpunkt 6: Zieldefinition – wohin soll eine derartige Ausbildung führen. Identifizierung gegenwärtiger evidenz-basierter Standards für Aus- und Weiterbildung sowie entsprechender Richtlinien in der Katastrophenmedizin Kernpunkt 7: Strategien zur Zielerreichung – Überwindung von Barrieren zur Etablierung internationaler Standards und Richtlinien.

Säule 4: Erhaltung des Momentums – Verbesserung der Zusammenarbeit Kernpunkt 8: Überprüfung der Möglichkeit ein internationales Netzwerk „Center of Excellence“ in Forschung und Praxis für Katastrophenmedizin möglich ist.

Säule 5: Offen für Überlegungen Interessierter Die Arbeitsgruppe von WADEM hat eine Fülle von Schwerpunkten entwickelt, die als Voraussetzung für die Entwicklung und Etablierung von Standards

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und Richtlinien erachtet werden. Im Zentrum dieser Überlegungen steht die strikte Anbindung an wissenschaftliche Erkenntnisse und praxisrelevante Erfahrungen. Nach Sichtung der Fülle von Definitionen zum Thema „was ist ein Katastrophe“ erscheint es der Arbeitsgruppe als notwendig, eine Systematik in diese Definitionen zu bringen, sie beispielsweise nach Kriterien zu analysieren. Je nach Verständnis von „Katastrophe“ werden Interventionen zur Hilfe unterschiedlich geplant, insofern ist dieser Kernpunkt ein wesentlicher Ausgangspunkt. Darüberhinaus stellt sich die Frage nach der Terminologie im Bereich der Katastrophenmedizin, zB für die Bezeichnung Katastrophe und den damit verbundenen Definitionen, die bisweilen nicht ausreichen, um der Komplexität einer Schadenslage gerecht zu werden. Des Weiteren empfiehlt die Arbeitsgruppe eine Klassifikation nach Kriterien von größeren und komplexeren Schadensfällen der letzten Jahre sowie die Verarbeitung dieses Materials in einer Datenbank. Als Beispiele für eine Klassifikation von Ereignissen führt die Arbeitsgruppe „Massenveranstaltungen“ (zB Fußballweltmeisterschaften, Olympische Spiele), „Großschadenslagen“ (zB Einsturz einer Autobahnbrücke), „technologische Disaster“ (zB Brand einer Raffinerie), „Naturkatastrophen“ (zB Erdbeben), „Krisen in der öffentlichen Gesundheit“ (zB Pandemien) sowie „komplexe humanitäre Schadensfälle“ (zB Völkermord und Völkerverfolgung) an.

1.2.2. Prinzipien 1. Katastrophenmedizin sollte ethischen Grundsätzen folgen und sozioökonomische sowie psychosoziale Aspekte integrieren. 2. Der Fokus der Maßnahmen liegt auf den Gesundheitsversorgungssystemen. 3. Für Einsatzkräfte aus Polizei, Feuerwehr, Behörden sollte Gesundheitswissen bereitgestellt werden, für Einsatzkräfte aus dem Gesundheitsbereich sollte Management- und Organisationswissen vermittelt werden. 4. Der Fokus wird auf Aus- und Weiterbildung durch Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse der Katastrophemedizin gelegt. 5. Auf die Ausgewogenheit zwischen Theorie und Praxis wird Wert gelegt. 6. Der aktuelle Stand des Wissens sollte vermittelt werden. 7. Die Aus- und Weiterbildung sollte in Modulen erfolgen und auf Szenarien Bezug nehmen. 8. Berücksichtigung der sich ständig verändernden Erkenntnisse gemäß der Dynamik des Gegenstandes durch ein regelmässiges Update des Wissensstandes. Insgesamt stellen sich die Anstrengungen von WADEM zur Standardisierung und Richtliniengebung für die Ausbildung im Bereich der Katastrophenmedizin als wissenschaftlich fundiert dar, ausdrücklich wird immer wieder die Notwendigkeit der Interdisziplinarität betont und mehrfach die Notwendigkeit der In-

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tegration von psychosozialen Aktivitäten hervorgehoben. Dies kommt dem Feld der psychosozialen Unterstützung sehr entgegen, betont dieses Dokument doch genau jene Faktoren, die der psychosoziale Hilfe bisweilen fehlt – die Nicht-Akzeptanz oder das Unverständnis von Notfall- und Katastrophenmedizin für die Notwendigkeit dieses Aspekt der Versorgung von Patienten.6

1.3. Integration von Notfallmedizin und psychosozialen Diensten Ruzek et al haben sich über die Integration von psychosozialen Diensten zur Betreuung in der akuten Traumaphase in die Notfallmedizin Gedanken gemacht (2004). In den Augen dieser Autorengruppe gibt es eine Fülle von Herausforderungen um beide Bereiche im Katastrophenfall zu integrieren. Im Zentrum dieser Überlegungen steht die Verhaltensmedizin, die ihr Tun auf jene Personen bezieht, die ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung einer psychischen Erkrankung bzw Beeinträchtigung in der Bewältigung von Alltagsaufgaben aufweisen könnten. Die beiden Systeme sind definiert: zum einen handelt es sich um jede Form medizinischer Versorgung, Notfallmedizin, Katastrophenmanagement, andererseits wird die Struktur der öffentlichen Gesundheitsvorsorge genannt. Es sollten alle für den Alltag geschaffenen Systeme der psychosozialen Versorgung (etwa psychiatrische Ambulanzen, Kriseninterventionszentrum, Familienberatungsstellen, Suchtberatungsstellen, psychiatrische Nachsorgestellen, Beratungsstellen für ElternKind-Probleme udglm) in den Notfallplan integriert werden. Für die langfristige Bewältigung traumatischer Ereignisse ist die Integration medizinischer und psychosozialer Versorgungssysteme von höchster Bedeutung. In der akuten Bewältigungsphase könnte ein derartiges Modell nur unter der Voraussetzung ausreichender Zeit- und somit finanzieller Ressourcen bestehen und die Mitarbeiter beider Systeme müssten von- und aneinander lernen. Diese Erfahrung wird durch die Entwicklung in Wien untermauert. Am Beispiel Wien kann gezeigt werden, wie eine derartige Vernetzung funktioniert. Die PSNV ist angebunden an die Magistratsdirektion, Bereich Krisenmanagement. Die Alarmierung erfolgt über Berufsrettung. Es gibt eine standardisierte Vernetzungsprozedur zu den weiterführenden Behandlungseinrichtungen wie zB Ambulanzen für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Frauen. Hier finden auch regelmäßige Besprechungen statt, um die Schnittstellen à jour zu halten. Bei komplexen Ereignissen werden darüber hinaus Gespräche geführt, um die 6

Aus: International standards and guidelines on education and training for the multi-disciplinary health response to major events that threaten the health status of a community. Education Committee Working Group, World Association for Disaster and Emergency Medicine, April – June 2004, Prehospital Disaster Med. http://pdm.medicne.wisc.edu, Issue paper.

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Qualität der Versorgung auch dann noch gut gewährleisten zu können. Zuletzt geschah dies nach dem Anlaß Tsunami. Des weiteren ist die Leitung der PSNV eingebunden in die Ausbildung der Sanitäter, nimmt an Arbeitsgruppen zur Förderung psychotraumatologisch fundierter Versorgung teil, hält Vorträge im Bereich der Notfallmedizin sowie der Einsatzorganisationen und Nachbetreuungsinstitutionen.

Die Autoren definieren als Aufgabe der psychosozialen Versorgung folgende Bereiche: – Psychoedukation für Überlebende und deren Familien – Identifizierung und Überweisung jener Betroffenen, die einer sofortigen Hilfe und daran anschließender Überprüfung (follow-up) bedürfen – Psychoedukation in Gruppen und andere Unterstützungsangebote wie zB Trauergruppen 1.3.1. Individuelle Beratung Begründet werden diese Aufgaben zum einem mit erhöhten Raten von PTSD, Depressionen, Angststörungen, Panikstörungen, erhöhter Aggression, allgemein erhöhten Stressniveau sowie vermehrten somatischen Beschwerden, die insgesamt zu einer vermehrten Inanspruchnahme medizinischer und psychosozialer Dienste führen. Auch Angehörige und Familien sind betroffen. Gut dokumentiert sind Beziehungsprobleme, Belastungen in den Familien, vermehrte Konflikte und eine Verschlechterung sozialer Bezüge und des sozialen Netzes. Des Weiteren sind soziale Verluste, Arbeitsplatzverlust sowie finanzielle Belastungen udglm, zusätzliche Faktoren, die die Belastung auf Familien erhöhen. 1.3.2. Notfallmedizin und Rettung Notfallmedizinische Versorgung im Schadensfall ist die zentrale Anlauf- und Versorgungsstelle für Menschen mit Verletzungen. Verletzungen gelten als deutlicher Prädiktor für die Entwicklung psychischer Beeinträchtigungen. Doch nicht nur die Behandlung von Verletzten, sondern auch die Versorgung von Unverletzten, die physische Beschwerden aufweisen, wird durch die Notfallmedizin übernommen und im Bedarfsfall kann psychosoziale Unterstützung angeboten werden. Im Rahmen notfallmedizinischer Versorgung könnten nach Ansicht der Autoren auch Informationen in Bezug auf die Entwicklung der Schadenslage, über Versorgungsstrukturen und Psychoeduktion geleistet werden. Einschränkend wird die ohnehin sehr komplexe Aufgabenstruktur der notfallmedizinschen Versorgung in komplexen Schadenssituation beschrieben, die in der Regel nicht nur durch eine Fülle von Teilaufgaben, sondern auch durch einen hohen Zeitdruck gekennzeichnet ist. Psychosoziale Unterstützung im komplexen Schadensfall hingegen braucht Zeit, Ruhe

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und entsprechendes Wissen. Gleichzeitig wird festgestellt, dass mit Größe und Umfang des Ereignisses (Anzahl betroffener Personen, Fläche ...) sowie der Art des Ereignisses (Waffeneinsatz, Terror ...), die Notwendigkeit psychosozialer Unterstützung steigt und die Ressourcen im Rahmen notfallmedizinischer Versorgung dafür abnehmen.

1.3.3. Notfallambulanzen Rolle von „Emergency Medical Centers“ (Notfallambulanzen) in Katastrophen In den Notfallplänen sollten sowohl hierarchische Schnittstellen als auch Schnittstellen aus den kommunalen Bereichen für eine klar definierte Palette von Ereignissen, zu denen jeweils psychosoziale Aktivitäten mitgedacht sein sollten, beschrieben sein. In der Phase der direkten Versorgung von Überlebenden und Opfern könnte durch kommunale Krisenteams in den Notfallambulanzen psychische Erste Hilfe angeboten und über verfügbare psychosoziale Behandlungseinrichtungen informiert werden. Auch könnten Patienten in diese Einrichtungen überwiesen werden, um sie über die Reaktionen direkt und indirekt betroffener Familienmitglieder aufzuklären. Eine weitere Aufgabe läge in der Triage betroffener Personen, welche psychosoziale Hilfe für sie geeignet sein könnte. Auch psychotraumtologisch fundierte Psychoedukation und Unterstützung von Bewältigungsmechanismen könnten von diesen Teams angeboten werden. Eine mögliche Struktur wäre in Kooperation mit Krankenhauspsychologen, also einer sich im Krankenhaus befindlichen Betreuungseinrichtung für die Opfer der Katastrophe könnte eingerichtet werden. Wichtig ist eine differentialdiagnostische Kompetenz, um Personen mit psychotraumatischen Reaktionen von Personen mit psychiatrischen Auffälligkeiten zu unterscheiden.

1.3.4. Interventionstechnik Obwohl es kaum empirische Befunde zu psychischer Erste Hilfe gibt, auch weil dessen Erarbeitung sehr komplex ist, ist es dennoch möglich Empfehlungen auszusprechen. Nebst einer Antwort auf die Basisbedürfnisse wie Sicherheit, Schutz, Essen, Trinken, Kommunikation mit Familie und Freunden wird auf Informationsweitergabe, Milderung physiologischer Reaktionen und weiterführende psychosoziale Unterstützung für Menschen mit erhöhtem Bedarf verwiesen. Bezeichnet wird diese Art der Intervention als „crisis counselling“. Unter dem Begriff „early interventions“ werden noch die Elemente „Überlebenden- und Familienedukation“ hinzugefügt.

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Diese Edukation sollte Information beinhalten, die die Erholung beschleunigen, sie sollte leicht zu verstehen sein, mehrfach wiederholt werden und einige Schlüsselbotschaften in schriftlicher Form umfassen. Diese Edukation kann in Einzel- oder Gruppengesprächen angeboten werden, sie ist zeitlich relativ kurz gehalten und sollte ein nicht-stigmatisierendes Instrument sein, um folgende Ziele zu erreichen: – Hilfe für die Überlebenden, um die posttraumatischen Reaktionen besser zu verstehen – Normalisieren der akuten Reaktionen, dadurch sollte weniger Furcht vor der Reaktion als solcher entstehen und sich so die verbreitete Angst verrückt zu werden reduzieren. – Anregungen, den sozialen Rückhalt vermehrt zu nützen, dh zB mit Freunden und Familien reden, sich von ihnen helfen lassen – Anregungen, verstärkt Bewältigungsstrategien wie zB Ruhe oder Sport zu verwenden – Anregungen, schlechte Bewältigungsstrategien wie zB Substanzmissbrauch zu reduzieren, oder sich verstärkt von den anderen zu isolieren – Fertigkeiten erhöhen, Familienmitgliedern zur Seite zu stehen, zB wie spricht man am besten mit den Kindern über das Geschehene, was bedeutet es, wenn Kinder zB besonders brav sind oder in ihrer Entwicklung zurückfallen. – Hilfe für die Überlebenden zu erkennen, wann sie professionelle Unterstützung für die Bewältigung brauchen. Obwohl es keine Forschung über diese Form der Intervention gibt, und zwar als alleinstehende Intervention, können Parallelen zu Kurzinterventionen im Bereich der Alkoholerkrankung gezogen werden, wo der Einsatz dieser KurzBeratung als hilfreich erwiesen ist.

1.3.5. Erkennen von Personen mit erhöhtem Risiko – Screening und Diagnostik Bekannt sind Prädiktoren wie körperliche Verwundung sowie das Ausmaß und die Art der Traumatisierung. Verwundungen und das Erleben einer Lebensbedrohung sind sehr klare Prädiktoren, ebenso wie die lange Dauer eines traumatischen Ereignisses, direkter Kontakt mit toten oder verstümmelten Körpern sind von hoher Bedeutung in Bezug auf das Risiko posttraumatische Stresserkrankungen zu entwickeln. Auch der Verlust einer geliebten Person durch ein traumatisches Ereignis besitzt hohe Vorhersagequalität für die Entwicklung einer PTSD oder einer anderen psychischen Störung zB einer Depression Vor einiger Zeit wurden wir alarmiert mit der Indikation: Betreuung nach einem Verkehrsunfall. Bei diesem Unfall kam eine der 2 LenkerInnen zu Tode, die andere wurde schwer verletzt. In einem ersten Schritt wurde die verletzte Person in

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Brigitte Lueger-Schuster der Erstversorgung im Krankenhaus aufgesucht. Hier ging es zum einem um die Überbringung der Todesnachricht und zum anderen um das Schaffen von Rahmenbedingungen für die polizeiliche Einvernahme, da die verletzte Person unter deutlicher Schockeinwirkung stand. Andererseits wurde durch die Polizei ein Betreuungsangebot an die Familie der gestorbenen Person überbracht und ein dritter Ort, an dem Betreuung stattfand, war bei den Einsatzkräften, da einer der Einsatzkräfte mit der verstorbenen Person bekannt war.

Vor dem Trauma-Faktoren sind: jugendliches Alter und junges Erwachsenen Alter sowie Kinderalter, Frau-Sein, geringes Einkommen, Zugehörigkeit zu einer Minderheit, vorhergehende Trauma-Exposition, vorhergehende belastende Lebenssituation und wenig soziale Unterstützung. Psychische Erkrankungen, Substanzabhängigkeit, körperliche Erkrankungen oder Gebrechen sind allgemein Risikofaktoren, die verstärkt zu einer PTSD führen können. Dies gilt auch für eine anfänglich sehr starke Reaktion auf das Ereignis. Die Auflistung dieser Risikofaktoren bezieht sich ausschließlich auf PTSD, eindeutige Prädiktorqualität besitzt keiner dieser Faktoren, dennoch gibt diese Auflistung wichtige Hinweise für die klinische Beurteilung der Entwicklung und ist daher zu berücksichtigen. In der Folge wird empfohlen nach einen Monat ein Screening für die Betroffenen des Ereignisses durchzuführen. Auch können dabei Gruppen mit erhöhten Bedürfnissen und spezifischen Probleme, die einer besonderen psychischen Unterstützung bedürfen, herausgefiltert werden. Erkennbar sind diese Gruppen zB an andauernden Schlafproblemen, andauernden intrusiven Phänomenen, Rückzug aus dem Familien- und Freundeskreis. Besonders zu berücksichtigen sind jene Gruppen, bei denen noch immer deutliche Nachwirkungen des Schadensereignissen vorhanden sind, zB ist der geliebte Angehörige noch immer nicht identifiziert oder zur Beerdigung durch die Behörden freigegeben. Auch Konflikte in den Familien können ein Zeichnen für verstärkten Betreuungsbedarf sein. Für die erste Zeit nach dem Ereignis kann individuelle stützende Betreuung angeboten werden und zwar entweder telefonisch oder im persönlichen direkten Kontakt. Diese individuelle Betreuung sollte vor allem jenen zukommen, die unter Risikofaktoren leiden. Angeraten wird eine systematische Vorgangsweise, die auch weiterführende Behandlungsangebote erläutert und beim Transfer behilflich ist. Hier ist als eine starke Feldkompetenz der Berater und psychischen Ersthelfer von Vorteil, ebenso wie gut geklärte Schnittstellen in die Nachbetreuungseinrichtungen. Die PTSD-Symptomatik ist vor allem in den ersten drei bis vier Monaten nach einem Ereignis besonders lebhaft und massiv auftretend, anders als bei anderen psychischen Störungen oder Beeinträchtigungen ist eine Spontanremission (spontane Rückbildung der Reaktion) außerhalb eines unterstützenden Setting eher unwahrscheinlich. Dies verweist erneut auf die Notwendigkeit eines nachgehenden Screenings und einer systematischen Nachsorge bei Betroffenen von traumatischen Ereignissen.

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Eine Alternative stellen Gruppenangebote dar, die vor allem bei einer großen Anzahl von Betroffenen eingesetzt werden können. Diese Gruppenangebote können sowohl der Psychoedukation als auch der Vertiefung sozialer Netzwerke dienen, da die meisten Betroffenen durch vergleichbare Erlebnisse belastet sind. Auch kann das sich Verstanden-Fühlen in Gruppen, die aufgrund eines Ereignisses angeboten werden verstärkt wird. Verstanden werden hat für viele Betroffene eine hohe Bedeutung und wird oft als fehlend bei den Nicht-Betroffenen beklagt, vor allem dann, wenn es zu Begegnungen zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen kommt. So sind uns zB viele Klagen der Angehörigen der Opfer der Flutwelle in Süd-OstAsien bekannt, die über das Unverständnis von Behörden, Freunden, Medienberichterstattern zutiefst betroffen waren. Am schwierigsten ist es immer mit Aussagen wie „die Zeit heilt alle Wunden“ oder „es wird schon seinen Sinn haben“ oder „versuch Dich abzulenken“ zurecht zu kommen.

1.3.6. Herausforderungen in der Integration der beiden Versorgungssysteme7 Sehr unterschiedliche Kulturen in der Praxis, Terminologie, Training, ProblemWahrnehmung, Ziele der Beurteilung prägen den jeweiligen Alltag. Hier Zeitdruck und Intervention mit starker Technik-Unterstützung bezogen auf die reine Körperlichkeit, dort Zeit und eine Verständnis für den Leib-Seele Zusammenhang sowie eine biopsychosoziale Wahrnehmung von Problemen sowie eine Intervention nach vertiefter Problemanalyse, dann erst „hands on“. Beide Systeme leiden in der Regel unter Personalmangel, worunter klare Kommunikation, Schnittstellendefinitionen, Bewertung der Zusammenarbeit, Qualitätsmanagement leiden. Notfallmediziner sind primär auf das Erkennen psychiatrischer Akutfälle, weniger auf einen traumatischen Krisenstatus hin ausgebildet, daher werden bisweilen die falschen Patienten gebracht. All das muss „zusammen gebracht“ werden und in einen multidisziplinären Handlungsbogen gegossen werden.

1.4. Die europäische Perspektive In Europa kam die Diskussion über den Umgang mit komplexen Schadenslagen gegen Ende der 90er Jahre in Gang, stark gefördert durch Initiativen der EU. Zunächst fanden mehrere Expertentreffen mit Delegierten staatlicher Krisenmanagements statt, ua in Wien im Jahr 2000. Anlässlich dieser Wiener Konferenz entstand auch das erste Dokument (Vienna Manifesto), welches erstmals auf europäischer Ebene 7

Ruzek JI, Young BH, Cordova MJ, Flynn BW (2004) Integration of disaster mental health services with emergency medicine. Prehospital Disaster Med 19 (1): 46–53.

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Strategien für Qualität in Einsatz und Intervention entwickelte. 2001 wurde in Brüssel das European Policy Paper on Psychosocial Support in Situations of Mass Emergencies8 verabschiedet. Folgende Ziele und Empfehlungen sind darin enthalten: – Adäquate Reaktion auf Großschadenslagen muss psychosoziale Unterstützung inkludieren. – Psychosoziale Intervention kann sich nicht nur auf die Prävention von PTSD beziehen, muss auf psychotraumatologischen Kenntnissen beruhen und Komorbidität berücksichtigen. – Sie umfasst praktische und soziale Unterstützung sowie Kommunikation und Information. – Die Maßnahme muss kontinuierlich sein. – Sie orientiert sich an humanitären Werten. – Die Verantwortung liegt bei der öffentlichen Hand. Dieses European Policy Paper definiert die psychosoziale Entwicklung nach komplexen Schadenslagen und Großschadensereignissen als in Phasen verlaufend und beschreibt für diese Phasen die jeweiligen Bedürfnisse der betroffenen Personen. Der Verlauf wird in drei Phasen geteilt: Akute Phase, Übergangsphase und langfristige Phase. Die Akute Phase ist gekennzeichnet durch Bedürfnis Sicherheit, minimaler Komfort Sicherheit der nahe stehenden Personen Medizinische Bedürfnisse Bedürfnis nach interpersonellem Kontakt Angst, Wut, Ärger, Hilflosigkeit ... zum Ausdruck bringen Religiöse, spirituelle, kulturspezifische Reaktionen ausdrücken Praktische Bedürfnisse: Transport, Bekleidung, Essen ... 8

Antwort Evakuierung, Schutz vor unerwünschter Aufmerksamkeit Adäquate Informationen Medizinische Behandlung Unterstützung durch soziale Netze, Telefon, Fax, Internetzugang Information über die Reaktionen – Psychoedukation, Screening für pathologische Reaktionen Religions-, altersspezifische und kulturadäquate Antworten geben Zur Verfügung stellen von Transportmöglichkeiten, Kleidern, Nahrung ...

Seynavae G (ed) (2001) Psychosocial support in situations of mass emergencies. European Policy Paper. European Commission, Directorate General Environment in the form of the Grant Agreement Subv 00/223201.

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Im Policy Paper wird eine Funktion definiert, die alle beteiligten Institutionen koordiniert. Diese Funktion trägt die Bezeichung RISC (Reception-, Information-, Support-Center). Diese Funktion kann als konkretes Zentrum aufgebaut werden oder es operiert quasi virtuell und ist für die Betroffenen als Telefonnummer erreichbar. Die Unterstützung kann zB als Hausbesuch durch ein Team gewährleistet werden. Je größer das Ereignis ist, desto wahrscheinlicher wird ein konkretes Zentrum etabliert werden9. Die Übergangsphase sollte durch eine Funktion mit der Bezeichnung „Psychosocial follow-up co-ordination“ organisiert werden. Dessen Aufgaben sind – Hilfe bei der Rückkehr ins Alltagsleben, – Weitere medizinische Behandlung, Rehabilitation, Psychotherapie bereitstellen, – Berufsberatung, finanzielle Entschädigung und administrative Hilfe anbieten, – Die Entstehung von Selbsthilfegruppe fördern, – Kontakt mit den Medien steuern, – Religiöse, spirituelle angemessene Rituale organisieren bzw unterstützen. Die Bedürfnisse der Betroffenen werden als abklingend, primär auf quantitativer Ebene beschrieben; qualitativ sind die Bedürfnisse in allen Ebenen noch deutlich vorhanden. Die Langzeitphase ist gekennzeichnet durch die Abnahme der Reaktionen und Symptome. Eine Rückkehr zum alltäglichen Leben ist bei fast allen Betroffenen möglich. Für diejenigen, die nach wie vor unter dem Ereignis leiden ist jedenfalls weiterhin die oben beschriebene Koordinierungsfunktion zur Verfügung zu stellen. Ihre Aufgaben sind die ähnlich denen in der Übergangsphase, wenn gleich auch in kleinerem Rahmen. Zusätzlich kommen eine Evaluierung der Angebote sowie die Förderung von Forschung, um Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen hinzu.

1.5. Komplexe Schadenslagen Wenn mehrere oder viele Personen von einem traumatischen Ereignis bedroht oder betroffen sind, „wird der psychologische Notfalleinsatz personell, organisatorisch und auch inhaltlich komplexer und anspruchsvoller“ (S 41)10. Zusammenarbeit und Vernetzung in einem formalen Rahmen mit zB Polizei, Feuerwehr, Rettung, … sind daher notwendig. Trotzdem bleiben die Aufgaben dieselben: Aufklärung über potentielle Folgen der traumatischen Erfahrung, Normalität der psychischen Erfahrungen stär9 10

Vergleich hiezu auch die Überlegungen von Lars Weiseath (2004). Vergleiche hiezu auch Gabi Gschwend (2002).

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ken und betonen, Angst- und Stressreduktion erwirken, Risikopersonen identifizieren, psychologische Langzeitversorgung sicherstellen und den Erfahrungsaustausch über das Geschehene in Gruppen ermöglichen und anleiten.

1.5.1. Dynamik einer komplexen Schadenslage Die Reaktionen von Bevölkerungsgruppen verändern sich zum Unterschied der Reaktionen von Individuen. Dies ist in die Intervention einzubeziehen. Gruppen tendieren dazu sich in ihrer Gesamtheit zu entwickeln, dies trifft auch auf eine Gruppenerfahrung zu, die eine traumatische Erfahrung geformt hat. Man nimmt an und weiss aus Erfahrung, dass Gruppen sich anfangs heroisch verhalten, dh einander helfen, sich altruistisch verhalten und eigenes und fremdes Leben sowie Besitztümer retten. Gut zu sehen, war dies bei den Opfern der Flutwelle in Süd-Ost-Asien, die Opfer des Hurricanes in New Orleans zeigten auch ein gegenteiliges Verhalten, allerdings stellten sich die meisten dieser Berichte als nur teilweise der Realität entsprechend heraus.

Einige Wochen nach dem Ereignis hält ein „Hochgefühl“ an, das stark an das gemeinsame Überleben der Katastrophe gebunden ist, sofern man keine Toten in der Familie oder im Freundeskreis zu beklagen hat. Dieses „Hochgefühl“ wird von viel Unterstützung und öffentliche Anteilnahme verstärkt. Diese „Hochgefühl“ war zB bei den Überlebenden des Tsunami nicht vorhanden, hier herrschte wohl das Gefühl vor überlebt zu haben, doch dauerte es einige Zeit, bis die Angst, die Verunsicherung, der Horror in ein Hochgefühl des Überlebens transformiert werden konnte. Anders wurde dies bei Überlebenden eines „Beinahe-Flugzeugabsturzes“ erlebt, die sofort beim Betreten festen Bodens vom „zweiten Geburtstag“ zu reden anfingen. Das beschriebene „Hochgefühl“ steht also auch in Zusammenhang mit der Trauma-Dosis.

In den folgenden Monaten erleben die Betroffenen meist das Abfallen sozialer Unterstützung und öffentlicher Anerkennung ihres Leides. Enttäuschung, Ärger und Verbitterung steigen an. Die Gruppen zerfallen, die Individuen ziehen sich zurück, erleben sich sozial isoliert und konzentrieren sich auf das eigene Erleben. Diese Phase wird als besonders kritisch verstanden, was die Bewältigung betrifft, da man entweder lernt mit dem Trauma zu leben oder in einen Krisenzustand bleibt, der zur Entwicklung einer PTSD oder ähnlicher posttraumatischer Syndrome führen kann. Danach wird den Betroffenen bewusst, dass sie die Probleme, die in Verbindung mit dem traumatischen Ereignis stehen, in der Regel selbst lösen und ihr Leben wieder aufbauen müssen. Es wird endgültig klar, das nichts so ist, wie es einmal war, man nimmt von vielen Gewohnheiten, geliebten Personen und auch Erinnerungen Abschied und trauert immer wieder über dieses verlorene

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Leben. Die Trauerphasen stehen beiweiten nicht immer im Vordergrund des Alltags, doch bleiben sie über lange Zeit hinweg Bestandteil des neuen Lebens. Unterstützung wird vor allem in den ersten beiden Phasen angeboten, die von jenen Betroffenen angenommen wird, die bereits in Sicherheit sind und auch schon wissen oder erahnen, dass sie geliebte Personen verloren haben oder mit hoher Wahrscheinlichkeit verlieren werden. Diese Unterstützung ist von besonderer Bedeutung, da in diesen Phasen bereits Weichen gestellt werden, zum einem indem man das Zusammengehörigkeitsgefühl verstärkt durch zB Gruppenarbeit und zum anderen indem man ein seriöses Weiterbehandlungsangebot zusammenstellt und in dieses vermittelt. Desillusionierung, Isolierung und Verlust von anhaltender Unterstützung können dadurch relativiert bzw reduziert werden. So gelang es zB einem Hinterbliebenen eines Tsunami-Toten, der in seiner Biographie zahlreiche Gewalterfahrungen aufwies und bei diesen niemals psychosoziale Betreuung erhielt durch zahlreiche Gespräche in eine Psychotherapie zu bewegen. In einem Gespräch circa ein Jahr nach dem Ereignis meinte er, das er lange Zeit nicht glauben konnte, dass Psychotherapie hilfreich sein kann und nun sei er erstaunt über die gegenteilige Erfahrung.

Interventionen in diesem frühen Verarbeitungsstadium funktionieren als Puffer für spätere Erfahrungen. Zu warnen ist hierbei allerdings vor einer Bindung der betroffenen Person an den Helfer. Dies geschieht vor allem dann, wenn zu wenig psychosoziale Grundqualifikation vorhanden ist und dennoch mit dem Klienten weitergearbeitet wird. Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse, die in jeder Hilfsbeziehung unweigerlich entstehen, können bei einer nicht ausreichenden psychosozialen Grundqualifikation weder erkannt noch gesteuert werden. Insbesondere die Regulation der Nähe-Distanz Ebene sowie die Erwartungshaltung an Klient und Helfer sind hier bedeutsam. Aber auch Überidentifikation, bewusste und unbewusste Vermeidung, übertriebenen emotionale Abwehr oder Distanz auf seiten der Helfer sind als Gegenübertragungsprozesse zu nennen, die bei nicht ausreichender Grundqualifikation nicht zu bewältigen sind und sich in der Regel kontraproduktiv auf die Erholung des Hilfesuchenden auswirken. In einer Fortbildung diskutierten wir lange über diese Prozesse am Beispiel des Bedürfnisses des Körperkontaktes. Ausgangspunkt der Diskussion war die Aussage einer Betreuerin, sie spüre, wann der Betroffene das Bedürfnis nach einer Umarmung hätte und würde dementsprechend handeln. Es stellte sich heraus, das diese Spüren sehr viel mit dem eigenen Bedürfnis nach Gehalten-werden zu tun hat, was bei den anspruchsvollen Situationen gut nachvollziehbar ist, aber den Verarbeitungsprozess des Betroffenen unterbricht, da dies nicht sein/ihr Bedürfnis ist.

Gute Erst-Helfer sollten in der Lage zu sein, zu erkennen, wer besondere psychische Bedürfnisse hat und dann dementsprechend in qualifizierte Hilfe zu übermitteln. In diesem Prozess stellen sich nun zwei Fragen:

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1. Woran erkennt man, wer besondere psychische Bedürfnisse hat? 2. Wie lange dauert eine Akut-Phase? Beide Fragen sind miteinander verknüpft, wenn der/die Erst-Helfer(in) ausreichend qualifiziert sind, dh eine psychosoziale Grund-Ausbildung aufweisen.

1.6. Unterscheidung Krise – Schock Hilfreich bei der Unterscheidung zwischen einem Krisengeschehen und dem psychischen Schock ist die Kenntnis des Unterschiedes zwischen Stress und traumatischen Stress. 1.6.1. Stresstheorien In der akuten Phase nach traumatischen Ereignissen sind sowohl Stresstheorien als auch Theorien zu Extremstress von Bedeutung. Dementsprechend überlappen sich auch zwei Interventionsansätze, zum einen Stress-Management und zum anderen Prävention von PTSD. Die Stresstheorien gehen davon aus, dass externe Anforderungen (das traumatische Ereignis als primärer Stressor), Antworten hervorbringen, die sowohl die inneren als auch die externen Ressourcen aufbrauchen. Der Verlust von Ressourcen (konkret oder symbolisch) als sekundärer Stressor, kann die Erholung empfindlich beeinträchtigen. Zusätzlich kann die Reaktion des Überlebenden (Angst, Schlaflosigkeit, Depression ...) die Ressourcen beanspruchen und somit zur tertiären Stressoren werden. Dennoch ist unter Einfluss der Zeit und mit ausreichend zur Verfügung gestellten Ressourcen eine Erholung nach einer zeitlich befristeten Exposition durch einen Stressor im Allgemeinen zu erwarten. Wenn das Niveau des Stresseinflusses also nicht ein Ausmaß übersteigt, welches das biopsychosoziale System so überfordert, dass es fragmentiert (traumatischer Stress), dann zielen die Komponenten der meisten Kriseninterventionsmodelle auf Unterstützung, Hilfe, Organisationen und Pläne für die nächste Zeit ab. Sich nach dem Trauma besser zu fühlen und soziale Unterstützung erlebt zu haben, kann die Wahrnehmung des traumatischen Ereignisses formen, ebenso die eigenen Reaktionen und den Glauben an ein positives Ergebnis. Trotzdem können sekundäre Stressoren, eine Verschlechterung der Ressourcen und belastende Symptome die Erholung stören. Daher versucht das Stressmanagement diese Faktoren zu identifizieren und sie zu verbessern. Im Rahmen der Stresstheorien sind vier Faktoren bekannt, die eine erfolgreiche Bewältigung indizieren: Aufrechterhaltung der Aufgabenbewältigung, Kontrolle über die Emotionen, anhaltende Möglichkeit menschliche Kontakte zu geniessen und Aufrechterhaltung des Selbstwertes.

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Ein Misslingen der Bewältigung kann dementsprechend erkannt werden an einem Versagen in der Alltagsbewältigung, überflutende Emotionen, Unfähigkeit sich auf andere zu beziehen und Selbstbeschuldigungen und -entwertungen. Interventionen in der Aktuphase können sich von daher an der Erleichterung dieser Aspekte orientieren, dh exzessiven unkontrollierbaren Stress reduzieren, negative Einschätzung korrigieren, soziale Bezüge erleichtern und hilfreiche praktische Ressourcen eröffnen. Dazu eignen sich zB lösungsorientierte Methoden, die den Betroffenen helfen, ihre Stärken zu identifizieren, Ziele zu definieren und Strategien zu ihrer Erreichung zu entwickeln. 1.6.2. Theorien zum traumatischen Stress Aus dem psychobiologische sind biologische Prozesse bekannt, die mit traumatischem Stresserleben eng verbunden sind. Ergebnisse aus diesem Forschungsbereich verweisen auf intensive körperliche Reaktionen, die durch traumatische Ereignisse ausgelöst werden und die subjektive Qualität der mentalen Spuren beeinflussen, ebenso wie deren Interpretation und das nachfolgende Unglück. In der Schockphase passiert psychophysiologisch folgendes: der Blutdruck erhöht sich, die Muskelanspannung steigt, der Herzschlag beschleunigt sich, die Atmung wird schnell und oberflächlich. Psychobiologisch kommt es zur Freisetzung von Stresshormonen, die Synapsentätigkeit verringert sich, die Informationsübertragung ist eingeschränkt. Die rechte Hirnhälfte ist aktiver als die linke. Die Informationsaufnahme und -verarbeitung findet in den quasi archaischen Teilen des Gehirns statt und wandelt die Information in hormonelle und emotionale Reaktionen. Die Wahrnehmung ist fragmentarisch, dh zerfallen und nicht ganzheitlich. Die Wahrnehmungseindrücke sind akustisch, visuell, olfaktorisch und kinästehtisch und werden auch als solche gespeichert. Psychologisch werden die Wahrnehmungseindrücke ebenfalls fragmentiert, dh zerstückelt und bildhaft und voneinander gespalten. Die gemachte Erfahrung kann nicht semantisch erfasst werden, dh sie ist nicht sofort beschreibbar und kann nicht in Kategorien eingeordnet werden. Auch die Sprache als solche ist verlangsamt bis gelähmt. Die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit ist nach aussen gerichtet und auf die Erkennung neuer Gefahren orientiert. Weder Angst noch Schmerz werden gespürt, weil innere, dh somatische und psychische Prozesse – nicht wahrnehmbar sind. Dies kann von selbst wieder aufhören. Wenn die Reaktionen aber überwältigend, unkontrollierbar und von extremer physiologischer Erregung begleitet sind, so kann sich daraus eine Verbindung aus Angst und traumatischem Wiedererinnern entwickeln und letztlich zur Entwicklung einer PTSD führen. Im Einklang mit diesen Theorien sind Ergebnisse aus der PTSD-Forschung. Die Risikofaktorenforschung legt nahe, dass Interventionen in der akuten Phase

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nach einem traumatischen Ereignis eine äußerst wichtige Funktion für die Erholung nach dem traumatischen Ereignis haben. Jede Anstrengung den Stress in der Situation durch zB Schutz, Information, Orientierung zu reduzieren, mildern die biopsychosoziale Kaskade, die durch die erlebte Bedrohung entstanden ist. Watson und Shalev11 schreiben, dass menschlicher Beistand nicht nur psychologische Effekte sondern auch biologische Effekte zeitigen kann. Die akute Phase nach dem traumatischen Ereignis ist auch insofern bedeutungsvoll, als die neuronale Formung, in der psychologische Faktoren und körperliche, physiologische konkurrieren, entweder hin zu einer chronischen Stressreaktion führen oder Anpassung, Widerstandskraft und Sinnfindung verfestigen. In der traumatischen Situation werden angesichts von Lebensgefahr die psychophysiologischen und psychobiologischen Stress- und Notfallmechanismen aktiviert. Es sind dies autonome Reaktionen und diese können bei Nicht-Anpassung auch Jahre nach dem Trauma in entsprechenden Situationen, dh solche die durch Reize der ursprünglichen Traumasituation irgendwie verwandt sind, in gleicher Heftigkeit wieder ausgelöst werden. Die anfängliche psychobiologische Stressreaktion wird mittlerweile als notwendige aber nicht ausreichende Voraussetzung für traumatische Stress-Störungen beschrieben. Für Personen mit einem erhöhten Risiko eine PTSD zu entwickeln, reicht es nicht Stressmanagement anzubieten, um PTSD präventiv entgegenzuwirken. Es geht um intrusive Erinnerungen sowie um kognitive und biologische Begleiterscheinungen, worunter traumatisierte Personen leiden. Intrusive Erinnerungen sind nicht nur sehr belastend, da sie ein bedrohliches Potential für Betroffene haben, sie strapazieren sowohl die kognitiven Schemata und formen die Realität und sie hören nicht auf, auch wenn die traumatische Situation beendet ist. Die Autoren schlagen vor, dass bei traumatischen Reaktionen die Intervention mit zusätzlichen psychotraumatischen Methoden angereichert werden soll, die primär auf die oben beschriebenen Symptome fokussieren, aber auch auf das Niveau des erlebten Stresses. 1.6.3. Beurteilung der Traumafolgen nach Risikofaktoren Die Anfangsreaktionen nach einem traumatischen Ereignis sind labil, intensiv und instabil, dh sie reagieren stark auf die Umstände. Die Reaktionen könnten psychopathologische Symptome überdecken. Es ist also schwierig, jene Personen zu entdecken, die von frühen Interventionen profitieren im Vergleich zu jenen, bei denen die natürlichen Erholungsprozesse bereits greifen und die auch ausreichend Unterstützung aus ihrem Netzwerk erhalten. 11

Watson und Shalev (2005) CNS Spectr 10 (2).

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Die Autoren12 schlagen folgende Einteilung vor: Tabelle 1 Bereich Kognitiv

Emotional

Interpersonal

Physiologisch

Negative Reaktionen Verwirrung Desorientierung Sorgen Intrusionen Schock Besorgtheit Kummer Trauer/Depressivität Angst Rückzug Zorn Ermüdet Kopfschmerzen Muskelanspannung Erhöhte Herztätigkeit

Positive Reaktionen Entschlossenheit Schärfere Wahrnehmung Furchtlosigkeit Sich herausgefordert fühlen Sich involviert fühlen Sich unter Handlungsdruck fühlen Eingebundenheit Helfen Altruistisches Verhalten Wachheit Aktiviertheit

[Watson PJ, Shalev AY (2005) CNS Spectr 10 (2)]

Die Vorhersage über spätere Entwicklung anhand einzelner Reaktionen und Symptome wird nicht empfohlen. Die Autoren diagnostizieren aufgrund fehlender Konzepte und empirischer Ergebnisse zwei Strategien, die zur Zeit empfohlen werden. Strategie 1 bedeutet „Intervention für alle“. Strategie 2 „abwarten bis sich diejenigen mit Bedürfnissen melden“. Für beide Strategien gibt es keine vergleichenden Studien. Beide werden als ungenügend bewertet. Auf Basis von Risikofaktoren und Schutzfaktoren, Stresstheorien und Erkenntnissen zu Extremstress empfiehlt es sich beide Strategien in der psychosozialen Betreuung nach komplexen Ereignissen einzusetzen. Dies bedeutet vor allem, dass ein frühzeitiges Beenden der Betreuungsangebote vor allem jene Menschen, die sich erst nach einiger Zeit melden, weil ihre Reaktionen schmerzhaft sind und lange dauern benachteiligt. Eine telefonische Helpline, die in ein geordnetes und qualitativ hochwertiges Betreuungsangebot führt, wäre eine mögliche Maßnahme, die dieser Risikogruppe ebenfalls die Möglichkeit eröffnet, psychosoziale Unterstützung zu erhalten. 12

Watson und Shalev (2005) CNS Spectr 10 (2).

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1.7. Forschung – Probleme und einige Ergebnisse 1.7.1. Probleme Betroffene nach Katastrophen und komplexen Schadenslage werden häufig hinsichtlich ihrer Reaktionen und Symptome in Bezug auf das Ereignis untersucht. Sie werden somit als Opfer und Leidtragende gewürdigt, ihnen ist etwas Schwerwiegendes wieder fahren und gleichzeitig wird die geschwächte psychische Konstitution zum Vorteil der Studienbetreiber genützt. Dadurch entstehen einige ethische Fragen, die von Carol Levine (2004)13, in einem dieser Problematik gewidmeten Artikel zusammengefasst werden. Levine bezieht sich primär auf das Konzept der Vulnerabilität. Vulnerabilität aus Sicht der biomedizinischen Forschung beschreibt eine erhöhte Verwundbarkeit auf körperlicher Ebene, bzw eine erhöhte Wahrscheinlichkeit körperlich zu erkranken zB aufgrund des Geschlechtes oder aufgrund der psychischen und oder physischen Konstitution. Vulnerabilität aus Sicht der Sozialwissenschaften ist mit der biomedizinischen Perspektive vergleichbar, bezieht sich aber verstärkt auf Faktoren wie Zugehörigkeit zu einem sozialen Status, Mangel an Einflussmöglichkeiten, hohe Gefährdung ausgebeutet zu werden. Vulnerabiltität beschreibt also jene, die mit limitierten (materiellen) Ressourcen und dem damit erhöhten Erkrankungs- bzw Sterbensrisiko leben. Diese Gruppen sind arme, diskriminierte, stigmatisierte und politisch einflusslose Personen und aus der Gesellschaft ausgestossene. Chambers (1983) beschreibt zwei Faktoren der Vulnerabilität: von außen kommende Gefährdungen, Schocks und Stress, in die ein Individuum oder eine Gruppe geraten kann und die individuelle Seite, die einem schutzlos, ohne Verteidigung und ohne Ressourcen zur Bewältigung sein lässt. Watts und Bolbe (1993) bieten drei Koordinaten zur Erklärung der Vulnerabilität an: Das Risikio einer Krisensituation ausgesetzt zu sein, das Risiko nicht ausreichende Ressourcen zur Bewältigung der Krisensituation zu haben und das Risiko, schwerwiegenden Konsequenzen dieser Krisensituation ausgesetzt zu sein. All dies reduziert die Entscheidungskraft an Studien zu Reaktionen auf Katastrophen teilzunehmen. In der psychosozialen Forschung bzw in der Forschung zur psychischen Gesundheit tendieren die Forscher dazu, psychische Gesundheitsprobleme nach traumatischen Ereignissen unter langfristiger Perspektive zu studieren. Die Forscher neigen einerseits dazu die Betroffenen als sehr geschwächt wahrzunehmen und andererseits betonen sie, dass Katastrophen langfristig auch positive Wirkungen auf Menschen haben und die psychische Gesundheit langfristig wenig beeinträchtigt 13

Levine C (2004) Traumatic Stress 17 (5): 395–402.

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wird. So spielen in den Forschungen zur Bewältigung von Katastrophen auch Faktoren wie Sozialstruktur und Gemeindeleben eine Rolle. Vulnerabilität wird häufig mit Resilienz (Widerstandskraft) gemeinsam erforscht und zwar unter der Fragestellung, warum einige Menschen am Er- und Überleben einer Katastrophe zerbrechen und andere diese nicht nur gut überstehen sondern auch gestärkt und gereift daraus hervorgehen. Soweit heute Antworten auf diese Frage zur Verfügung stehen, lässt sich zusammenfassen, dass sowohl die Vulnerabilität als auch die Resilienz nicht nur einen ausschlaggebenden Faktor aufweisen, sondern sich aus vielen Quellen speisen. Die nationale Bioethik-Kommission der Vereinigten Staaten hat 6 Typen von Vulnerabilitäten durch Kipnis (2001) entwickeln lassen, die auf Charakteristika für Individuen und Gesellschaft beruhen. Diese Kategorien umfassen sowohl den kognitiven Status, die körperlichen Zustand, die juristische Handlungsfähigkeit sowie die Zugehörigkeit zur sozialen Schicht, den Bildungsstandard und die Möglichkeit aufgrund der Infrastruktur an Studien teilzunehmen. Jeder Mensch, der in eine dieser Typen fällt, gilt demnach als vulnerabel und in seiner Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt.

1.7.2. Welche Fragen lassen sich nun daraus für die Katastrophenforschung ableiten? – Gibt es eine Gefahr die betroffene Population auszubeuten, wenn sie zur Forschungsteilnahme eingeladen werden, zB Ersthelfer, die durch die Forschungsfragen erst wirklich dem Trauma ausgesetzt werden? – Welche anderen Interviews zB durch Polizei, Medien, Militär … wurden schon geführt. Wurden die Betroffenen dadurch beeinflusst und zwar so, dass sie nicht im Stande sind eine Studienteilnahme zu verweigern? – Besteht politische oder soziale Unruhe rund um die Katastrophe, wodurch die autonome Entscheidung (Einverständniserklärung an der Studienteilnahme) beeinträchtigt ist? – Sollen Kinder oder Jugendliche untersucht werden? – Werden Untersuchungsmethoden eingesetzt, die erheben ob Untersuchungsteilnehmer kognitive Einschränkungen haben oder für sie ein besonderes Risiko einer psychischen Beeinträchtigung besteht? – Sind die Consent-Protokolle klar und eindeutig hinsichtlich des Rechts eine Studienteilnahme zu verweigern und klären sie über mögliche Risiken und Vorteile auf? – Gibt es Unterstützung und Betreuung für Studienteilnehmer, die durch die Untersuchung psychische Probleme während oder nach der Untersuchung haben? – Gibt es eine Vorgangsweise, die die Teilnehmer über die Ergebnisse der Studie informiert?

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Eine Studienteilnahme kann Sinn nach einem sinnlosen Ereignis machen für die Betroffenen. Von daher kann die Teilnahme an einer Studie durchaus günstig für die Betroffene einer Katastrophe sein und sie können davon profitieren. Forscher, Reviewer sollten beachten, dass es viele Möglichkeiten gibt, auf Katastrophen zu reagieren und ihre ethische Verantwortung gegenüber diesen Unterschieden wahrnehmen. 1.7.3 Ergebnisse aus der Katastrophenforschung14 Resnick et al haben 2004 einen Überblick über diesbezügliche Forschungsergebnisse zusammengestellt15. Umfangreiche Daten hinsichtlich der psychischen Folgen nach einem traumatischen Ereignis liegen in Bezug auf die terroristischen Attentate vom 11. September in den Vereinigten Staaten vor. Diese beziehen sich sowohl auf die Akutphase als auch die längerfristigen Folgen, untersuchen geographische Nähe bzw Distanz zu den Orten des Ereignisses, Medikamtengebrauch, Grad der Betroffenheit, Inanspruchnahme von Beratung und Behandlung sowie die Epidemiologie von PTSD über die Zeit hinweg. Ereignis: Terroranschlag vom 11.09.2001 Wirkung von Fernsehbildern16 Es wurden folgende Hypothesen getestet: 1. Häufigeres Sehen von Fernsehbildern des 11. Septembers war verbunden mit PTSD und Depression. 2. Direkte Exposition zu Katastrophen-Ereignissen hatte einen interaktiven Effekt mit Fernsehen. Es wurden 1008 erwachsene Einwohner des Bezirks Manhattan durch eine randomisierte Telefonumfrage (random digit dial telephone survey), durchgeführt zwischen 16. Oktober und 15. November 2001, rekrutiert. Teilnehmer, die wiederholt Menschen vom World Trade Center springen oder fallen sahen, hatten höhere Prävalenzen von PTSD (17,4%) und Depression 14 15

16

Ich danke Frau Barbara Tatzber für die tatkräftige Unterstützung bei diesem Teil des Artikel. Heidi Resnick, Sandro Galea, Dean Kilpatrick, David Vlahov geben einen Überblick über die „Research on trauma and PTSD in the aftermath of 9/11, PTSD. Research Quarterly 15 (1), Winter 2004. Ahern J, Galea S, Resnick H, Killpatrick D, Bucuvalas M, Gold J, Vlahov D (2002) Television images and psychological symptoms after the September 11th terrorists attacks.

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(14,7%), als jene, die dies nicht sahen (jeweils 6,2% und 5,3%). Bei den Teilnehmern, die direkt von den Attacken betroffen waren (zB ein Freund getötet wurde) hatten diejenigen, welche diese Fernsehbilder häufiger sahen mit höherer Wahrscheinlichkeit eine PTSD und Depression als jene, die das nicht taten. Bei den Teilnehmern die nicht direkt von den Attacken betroffen waren, war Depression und PTSD nicht mit der Häufigkeit der Konfrontation mit diesen Fernsehbildern verbunden. Spezifische kastrophenbezogene Fernsehbilder wurden von Personen, die der Katastrophe direkt ausgesetzt waren, mit PTSD und Depression verbunden. Eine kausale Beziehung konnte allerdings nicht bestätigt werden, dennoch sind deutliche Zusammenhänge zu vermuten. Nutzung von Behandlungseinrichtungen17 Um die Nutzung mentaler Unterstützung in Manhattan nach dem 11. September abschätzen zu können, wurde 5–8 Wochen nach den Anschlägen eine Telefonumfrage bei 988 randomisiert (dh zufällig) ausgewählten Haushaltsvorständen über 17 Jahren durchgeführt (Frauen: 52%, Weiße: 72%, Durchschnittsalter: 42 Jahre). 16,9% der Bewohner gaben an, psychologische Hilfsangebote 30 Tage vor den Attacken genützt zu haben, 19,4% gaben 30 Tage nach den Attacken an, diese zu nutzen. Risikofaktoren, die mit der vermehrten Nutzung psychologischer Hilfsangebote einhergehen sind: Alter 45–64 Jahre, weibliches Geschlecht, mehr als vier traumatische Ereignisse über die Lebenszeit (lifetime traumatic events) erlebt haben, mehr als zwei belastende life events in den letzten 12 Monaten, und das Erleben akuter Panik während der Katastrophe. Weder aktuelle PTSD noch aktuelle Depression waren vorhersagend für erhöhte Nutzung nach der Katastrophe, wenn Panikattacken in die multivariate Analyse inkludiert wurden. Es wurde zwar eine statistisch signifikante Erhöhung der Nutzung vor und nach der Katastrophe gefunden, außer bei einigen Subgruppen, einschließlich jenen, welche zuvor schon Panikattacken hatten, jenen, die vorhergehenden Stressoren ausgesetzt waren, Frauen, und Personen unter 65 Jahren. Medikamentenverbrauch Eine ähnliche Studie wurde in Bezug auf den Medikamentenverbrauch durchgeführt.18 Es wurde im Oktober 2001 eine Telefonumfrage (N=1008) durchgeführt. Die Prävalenz psychiatrischer Medikation 30 Tage vor der Katastrophe war 8,9%, 17

18

Boscarino JA, Galea S, Ahern J, Resnick H, Vlahov D (2002) Utilization of mental health services following the September 11th terrorist attacks in Manhattan. New York City. Boscarino JA, Galea S, Ahern J, Resnick H, Vlahov D (2003) Psychiatric medication use among Manhattan residents following the World Trade Center disaster.

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30 Tage danach 11,6%, eine kleine, aber signifikante Zunahme. Der wichtigste Faktor zur Vorhersage von Medikamentengebrauch nach der Katastrophe war Medikamentengebrauch vor der Katastrophe 92% von jenen, die Medikamente nach der Katastrophe einnahmen, benutzen diese auch davor. Zusammengefasst, 3,3% nahmen 30 Tage Medikamente nach der Katastrophe ein, aber nicht davor. Am wahrscheinlichsten war Medikation bei Menschen mit Panikattacken, PTSD, und Versicherungsschutz. Wie auch immer, diejenigen die nach der Katastrophe Medikamente einnahmen (N=129), waren hauptsächlich Menschen mit Panikattacken (44,1%) oder mit Panikattacken und PTSD (69,2%). Häufigkeit von psychischen Beschwerden nach 09/11 Eine weitere Studie19 untersuchte die Prävalenz psychiatrischer Symptome von Einwohnern/Arbeitern in Manhattan, 3–6 Monate nach den Anschlägen vom 11. September. Eine Gesamtheit von 1009 Erwachsenen (516 Männer, 493 Frauen) durchwegs aus Manhattan wurden direkt interviewt. Eine Gesamtheit von 56,3% hatte mindestens ein schweres oder zwei oder mehrere milde bis mäßige Symptome. Frauen berichteten signifikant mehr Symptome als Männer. Verlust von Anstellung, Zuhause oder Familie/Freunden korrelierte mit schwerwiegenderen Symptomen. Die belastendsten Erfahrungen schienen schmerzliche Erinnerungen zu sein. Dissoziation war selten. Nur 26,7% der Individuen mit schwerwiegenden Symptomen erhielten Behandlungen. Schlussfolgerungen: Über die Hälfte der Personen hatten emotionale Folgekrankheiten 3–6 Monate nach dem 11. September, aber der Prozentsatz sank im Verlauf der Zeit. Nur eine kleine Gruppe von jenen mit schwerwiegenden Folgen erhielt eine Behandlung. Studien über die Bewohner New Yorks20 Es wurden die Prävalenzen und Korrelationen von akuter PTSD und Depression unter den Einwohnern Manhattans 5–8 Wochen nach den Attacken untersucht. Es wurde eine randomisierte Telefonumfrage durchgeführt, um eine repräsentative Stichprobe von Erwachsenen zu erhalten, die südlich der 110. Straße in Manhattan leben. Die Teilnehmer wurden über ihre demographischen Charakteristiken, Ausmaß, in dem sie den Attacken ausgesetzt waren und psychologische Symptome nach den Attacken befragt. 19

20

Delisi LE, Maurizio A, Yost M, Papparozzi CF, Fulchino C, Katz CL, Altesman J, Biel M, Lee J, Stevens P (2003) A survey of New Yorkers after the September 11, 2001, terrorist attacks. Galea S, Ahern J, Resnick H, Kilpatrick D, Bucuvalas M, Gold J, Vlahov D (2002) Psychological sequelae of the September 11 terrorist attacks in New York City.

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Unter den 1008 interviewten Personen berichteten 7,5% von Symptomen, die sich mit der Diagnose einer aktuellen PTSD infolge der Attacken decken, und 9,7% berichteten von Symptomen, die sich mit einer aktuellen Depression decken (unter aktuell wird verstanden: innerhalb der vorhergehenden 30 Tage). Unter den Teilnehmern, die südlich der Canal Street (nahe dem World Trade Center) wohnten, war die Prävalenz von PTSD 20%. Prädiktoren von PTSD in einem multivariaten Modell waren lateinamerikanische Herkunft, zwei oder mehrere vorhergehende Stressoren, Panikattacke während oder kurz nach dem Ereignis, Zuhause südlich der Canal Street und Verlust von Besitzungen aufgrund der Ereignisse. Prädiktoren von Depression waren lateinamerikanische Herkunft, ein oder mehrere frühere Stressoren, eine Panikattacke, geringer Grad an sozialer Unterstützung, Tod eines Verwandten oder Freundes während der Attacken, Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund der Attacken. Schlussfolgerungen: Es gab eine substantielle Belastung von akuter PTSD und Depression in Manhattan nach den Anschlägen vom 11. September. Die Erfahrungen den Attacken ausgesetzt zu sein, waren Prädiktoren von aktueller PTSD, und Verluste als Resultat der Ereignisse waren Prädiktoren einer aktuellen Depression. War man also dem Attentat ausgesetzt, zB sehr nahe dran, so konnte dadurch eine PTSD entstehen. Verlor man hingegen etwas Bedeutsames durch dieses Attentat, so konnte dadurch eine Depression hervorgerufen werden. In der Folgezeit der Anschläge wird es möglicherweise in der Population substantielle psychologische Morbiditäten geben. Die Autoren21 erforschten Trends von PTSD Prävalenzen in der Allgemeinbevölkerung von New York City in den ersten 6 Monaten nach den Anschlägen. Drei randomisierte Telefonumfragen von Erwachsenen in stufenweise größeren Teilen der New York City Metropolitan Area wurden 1 Monat, 4 Monate und 6 Monate nach dem 11. September 2001 durchgeführt. Eine Gesamtheit von 1008, 2001 und 2752 demographisch repräsentativen Erwachsenen wurde jeweils in den drei Umfragen rekrutiert. Die aktuelle Prävalenz von PTSD fiel von 7,5% einen Monat nach dem 11. September auf 0,6% 6 Monate nach dem 11. September ab. Obwohl die Prävalenz von PTSD-Symptomen konsistent höher bei Personen war, die den Anschlägen direkter ausgesetzt waren, gab es auch eine beträchtliche Anzahl von Personen, die nicht direkt von den Anschlägen betroffen waren und trotzdem die Kriterien einer möglichen PTSD erfüllten. Diese Ergebnisse deuten eine rapide Auflösung der meisten der wahrscheinlichen PTSD-Symptome in der Allgemeinbevölkerung von New York in den ersten 6 Monaten nach den Anschlägen an. Die psychologischen Konsequenzen einer Katastrophe größeren Umfangs in einem dicht 21

Galea S, Vlahov D, Resnick H, Ahern J, Susser E, Gold J, Bucuvalas M, Kilpatrick D (2003) Trends of probable post-traumatic stress disorder in New York City after the September 11 terrorist attacks.

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bevölkerten Stadtgebiet wirken sich möglicherweise auf direkt von den Anschlägen betroffenen Personen, aber auch auf Personen der Allgemeinbevölkerung aus. Die Überlebenden des Pentagon-Anschlages Die Autoren22 prüften PTSD, Alkoholmißbrauch, und empfundene Sicherheit in einer Stichprobe von Überlebenden der Anschläge des 11. September auf das Pentagon. Methoden: Es wurden Analysen unter 77 Überlebenden 7 Monate nach den Attacken durchgeführt, um den Effekt von vergangener traumatischer Erfahrung, Trauma-Aussetzung, anfängliche emotionale Reaktionen und vortraumatischer (peri-traumatic) Dissoziation auf mögliche PTSD, Substanzgebrauch, und empfundene Sicherheit festzustellen. Ergebnisse: 11 Teilnehmer (14%) hatten PTSD. Jene Teilnehmer mit PTSD erzielten höhere Levels von anfänglichen emotionalen Reaktionen und vortraumatischer Dissoziation. 10 Teilnehmer (13%) berichteten von vermehrtem Gebrauch von Alkohol. Frauen hatten eine mehr als fünfmal so hohe Wahrscheinlichkeit eine PTSD zu haben und eine fast siebenmal höhere Wahrscheinlichkeit von erhöhtem Alkoholgebrauch. Personen mit höherer vortraumatischer Dissoziation hatten höhere Wahrscheinlichkeiten von erhöhtem Alkoholkonsum und Entwicklung einer PTSD. Jene mit geringer empfundener Sicherheit nach 7 Monaten hatten höhere emotionale Reaktionen, und größere vortraumatische Dissoziation, wahrscheinlicher PTSD, erhöhten Alkoholkonsum und höhere Wahrscheinlichkeit weiblich zu sein. Untersuchungen zu Risikopopulationen23 Befragungen von spezifischen Gruppen haben signifikante psychologische Belastungen seit den Terrorattacken vom 11. September gezeigt. Da Personen mit PTSD und anderen psychischen Erkrankungen durch belastende Ereignisse besonders verwundbar sind, untersuchten die Autoren die Nutzung von PTSD-BehandlungsServices und anderen psychischen Gesundheitsdiensten im Department of Veterans Affairs (VA) medizinische Zentren in New York City und andernorts nach den Attacken. Methoden: Es wurden Varianzanalysen benutzt um Veränderungen im durchschnittlichen täglichen Gebrauch der Dienstleistung der Instition in den 6 Monaten vor und nach dem 11. September, mit Veränderungen im Gebrauch über dieselben Monate 2 Jahre zuvor zu vergleichen. Chi-Quadrat-Tests wurden benutzt, um Differenzen der vorhergehenden Jahre in den Größenverhältnissen der neuen 22

23

Grieger TA, Fullerton CS, Ursano RJ (2003) Posttraumatic stress disorder, alcohol use, and perceived safety after the terrorist attack on the pentagon. Rosenheck R, Fontana A (2003) Use of mental health services by veterans with PTSD after the terrorist attacks of September 11.

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Patienten (die keine Behandlung in den letzten 6 Monaten hatten), die nach dem 11. September eine Behandlung begannen, untersuchen zu können. Ergebnisse: Es gab kein signifikantes Anwachsen der Nutzung von VA-Services für die Behandlung von PTSD oder anderen psychischen Erkrankungen, oder bei den Besuchen psychiatrischer oder nicht-psychiatrischer Kliniken in New York City nach dem 11. September, und keine signifikante Veränderung im Schema der Nutzung der Angebote im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren. Weder gab es ein signifikantes Anwachsen von PTSD-Behandlungen in der weiteren Umgebung von New York, Washington DC oder Oklahoma City noch in den Anzahl neuer Patienten. Schlüsse: Es wurde kein Anwachsen der Nutzung von psychischen Gesundheits-Einrichtungen unter VA-Patienten mit PTSD oder anderen psychischen Erkrankungen als Folge der Attacken vom 11. September festgestellt. Auswirkungen von 9/11 auf US-Bevölkerung24 Ziel diese Studie ist es das Symptom-Levels in den Vereinigten Staaten als Folge der Ereignisse vom 11. September festzustellen, und Zusammenhänge zwischen Symptomen nach den Attacken, und einer Vielfalt von Hinweisen der Aussetzung zu den Attacken zu untersuchen. Design: Web-basierte epidemiologische Umfrage bei einer national-repräsentativen Querschnittstichprobe, mit PTSD Checklist und Brief Symptom Inventory, durchgeführt 1–2 Monate nach den Attacken. Setting und Stichprobe: Stichprobe von 2273 Erwachsenen, einschließlich der Hauptstädte von New York, NY, und Washington DC. Wichtigste Ergebnisse auf Basis von Selbst-Beurteilungen von PTSD-Symptomen und klinisch signifikantem, nicht-spezifischem psychologischen Stress sowie Beurteilungen durch Erwachsene über Stress-Symptome der im gemeinsamen Haushalt lebenden Kinder. Die Prävalenz von wahrscheinlicher PTSD war in der New York City Metropolitan Area signifikant höher (11,2%) als in Washington DC (2,7%) oder anderen größeren Hauptstädten (3,6%), und dem Rest des Landes (4,0%). Ein breiteres Ausmaß von klinisch signifikantem psychologischem Stress weist darauf hin, dass die Stress-Levels im ganzen Land innerhalb des erwarteten Umfangs für eine allgemeine Stichprobe waren. In multivariaten Modellen, Geschlecht, Alter, direkte Exposition zu den Attacken und die Menge an Zeit, die mit Fernsehen der Berichterstattungen am 11. 24

Schlenger WE, Caddell JM, Ebert L, Jordan BK, Rourke KM, Wilson D, Thalji L, Dennis JM, Fairbank JA, Kulka RA (2002) Psychological reactions to terrorist attacks: Findings from the national study of Americas’ reactions to September 11. Schuster MA, Stein BD, Jaycox LH, Collins RL, Marshall GN, Elliott MN, Zhou AJ, Kanouse DE, Morrison JL, Berry SH (2001) A national survey of stress reactions after the September 11, 2001, terrorist attacks.

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September und ein paar Tage danach verbracht wurde, wurden mit PTSD-SymptomLevels verbunden. Geschlecht, die Anzahl von Stunden, die mit Fernsehberichterstattung verbracht wurden, und ein Index des Inhalts der Berichterstattung wurden mit breiteren Stressausmaßen verbunden. Mehr als 60% der Erwachsenen mit Kindern in gemeinsamen Haushalten New York Citys berichteten, dass ein oder mehrere Kinder durch die Attacken beeinträchtigt waren. Schlussfolgerungen: 1–2 Monate nach den Ereignissen des 11. September stand PTSD mit direkter Aussetzung zu den Terrorattacken in engem Zusammenhang (unter Erwachsenen), die Prävalenz in der New York City Metropolitan Area war substantiell höher als irgendwo anders im ganzen Land. Allerdings waren die allgemeinen Stresslevels im Land innerhalb der normalen Grenzen. Es wurden die unmittelbaren Effekte auf die psychische Gesundheit der Terrorattacken vom 11. September auch in einer zweiten Studie erhoben25. Methoden: 3–5 Tage nach den Anschlägen wurde eine repräsentative (random digit dial) Stichprobe von 560 US-Bürgern über ihre Reaktionen auf die Terrorattacken, und ihre Wahrnehmungen über die Reaktionen ihrer Kinder befragt. Ergebnisse: 44% der Erwachsenen berichteten ein oder mehrere substantielle Stress-Symptome. 90% hatten ein oder mehrere Symptome zumindest bis zu einem gewissen Grad. Teilnehmer im ganzen Land berichteten über Stress-Symptome. Sie bewältigten diese durch: sprechen mit anderen (98%), sich Religion zuwenden (90%), sich an Gruppenaktivitäten beteiligen (60%), und Spenden (36%). 84% der Eltern berichteten, dass sie oder andere Erwachsene im Haushalt eine Stunde oder mehr mit den Kindern über die Anschläge sprachen. 34% verboten ihren Kindern fernzusehen. 35% der Kinder hatte ein oder mehrere Stress-Symptome, und 47% machten sich Sorgen um ihre eigene Sicherheit oder die Sicherheit der ihnen Nahestehenden. Langfristige Wirkungen von 9/1126 Die Anschläge vom 11. September boten eine einzigartige Gelegenheit über einen längeren Zeitraum den Anpassungsprozess an ein traumatisches Ereignis auf einer nationalen Ebene zu untersuchen. Ziele: Vorhersage des Grades, mit welchem Ausmaß demographische Faktoren, psychische und physische Krankengeschichte, Aussetzung belastender Ereignisse über die Lebenszeit, Erfahrungen bezogen auf den 11. September, und Be25

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Schuster MA, Stein BD, Jaycox LH, Collins RL, Marshall GN, Elliott MN, Zhou AJ, Kanouse DE, Morrison JL, Berry SH (2001) A national survey of stress reactions after the September 11, 2001, terrorist attacks. Silver RC, Holmann EA, Mcintosh DN, Poulin M, Gil-Rivas V (2002) Nationwide longitudinal study of psychological responses to September 11.

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wältigungsstrategien, die kurz nach Attacken benutzt wurden, psychologische Reaktionen beeinflussen. Design, Setting und Teilnehmer: Eine nationale Stichprobe von 3496 Erwachsenen erhielt eine Web-basierte Umfrage. 2729 Personen (78% der Teilnehmer), erledigte sie zwischen 9 und 23 Tagen (75% zwischen 9 und 14 Tagen) nach den Terrorattacken. Eine randomisierte Stichprobe von 1069 Teilnehmern, die außerhalb von New York wohnten, wurde zu der Stichprobe des ersten Zeitpunkts hinzugezogen (N=2729), und erhielt eine zweite Befragung, 933 (87% Partizipationsrate) antworteten ungefähr 6 Monate nach den Attacken. Ergebnisse: Es gab auf den 11. September bezogene Symptome von akutem Stress, PTSD und globaler Belastung. 17% der US-Bevölkerung außerhalb von New York berichtete Symptome von auf den 11. September bezogenem posttraumatischem Stress zwei Monate nach den Attacken. 5,8% berichteten dasselbe nach 6 Monaten. Hohe Levels von posttraumatischem Stress waren verbunden mit weiblichem Geschlecht, ehelicher Trennung vor dem 11. September, ärztlich-diagnostizierte Depression oder Angststörung oder physische Erkrankung, Schwere des Aussetzungsgrades zu den Attacken, frühe Aufgabe von Bewältigungsanstrengungen. Im Zusammenhang mit demographischen und Gesundheitsvariablen (vor dem 11. September) stand die globale Belastung verbunden mit Schweregrad von Verlust aufgrund der Attacken, und frühen Bewältigungsstrategien. Schlussfolgerungen: Die psychologischen Effekte eines großen nationalen Traumas sind nicht limitiert auf jene, die es direkt erlebten, und der Grad der Reaktionen kann nicht einfach durch objektive Maße wie Aussetzung zu oder Verluste durch das Trauma vorhergesagt werden. Stattdessen ist der Gebrauch von spezifischen Coping-Strategien kurz nach einem Ereignis verbunden mit Symptomen über die Zeit. Im Einzelnen kann die Aufgabe von Bewältigungsanstrengungen die Wahrscheinlichkeit von psychologischen Schwierigkeiten bis zu 6 Monate nach dem Trauma anzeigen. Peritraumatischer Befund nach 9/1127 Die Autoren führten eine Pilot-Befragung durch, die die traumatischen Effekte untersuchte. Methode: Ein Fragebogen wurde an Personen geschickt, die auf eine Werbung geantwortet hatten. Er beinhaltete demographische Fragen und Fragen zur Exposition und drei Skalen zu „während und kurz nach der Katastrophe“. Ergebnisse: Trotz weit reichender Aussetzung, waren die Werte von Belastung (Peritraumatic Distress Inventory), Dissoziation, (Peritraumatic Dissociative Experiences Questionnaire) und posttraumatischem Stress merklich erhöht (N=75). Nach der 27

Simeon D, Greenberg J, Knutelska M, Schmeidler J, Hollander E (2003) Peritraumatic reactions associated with the World Trade Center disaster.

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Kovarianz für Aussetzung, sagte der Belastungsfaktor von Kontrollverlust am stärksten frühe Dissoziation und posttraumatischen Stress voraus. Lebensbedrohung trägt speziell zu Erregung bei. Dissoziation steuerte nicht über Belastungen zu posttraumatischem Stress bei, mit Ausnahme von intrusivem Wieder-Erleben. Schlussfolgerungen: Diese Befragung über Reaktionen auf die World Trade Center Katastrophe deckte hohe Levels früher Symptome auf, und zeigte ähnliche, aber unabhängige Wege zu Dissoziation und posttraumatischem Stress. Substanzmissbrauch nach 9/11 über die Zeit hinweg28 Es wurde eine randomisierte Telefonumfrage durchgeführt, um die Prävalenzen von erhöhtem Zigaretten-, Alkohol-, und Marihuanakonsum unter den Einwohnern Manhattans, New York City, 5–8 Wochen nach den Anschlägen abschätzen zu können. Von den 988 teilnehmenden Personen berichteten 28,8% von einem Zuwachs beim Konsum einer der drei genannten Substanzen, 9,7% berichteten von einer Zunahme des Zigarettenkonsums, 24,6% berichteten von einer Zunahme des Alkoholkonsums, und 3,2% berichteten von einer Zunahme des Marihuanakonsums. Personen, die vermehrt Zigaretten oder Marihuana konsumierten hatten höhere Wahrscheinlichkeiten eine PTSD zu bekommen als jene, die das nicht angaben (24,2% gegen 5,6% PTSD bei Zigaretten, 36,0% gegen 6,6% bei Marihuana). Depression war häufiger unter den Teilnehmern, die erhöhten Zigarettenkonsum (22,1% gegen 8,2%) Alkoholkonsum (15,5% gegen 8,3%) und Marihuanakonsum (22,3% gegen 9,4%) angaben gegenüber jenen, die das nicht taten. Diese Ergebnisse zeigen ein beträchtliches Anwachsen des Substanzgebrauchs in der akuten Periode nach der Katastrophe nach den Attacken vom 11. September an. Zunahme des Konsums von verschiedenen Substanzen kann möglicherweise mit dem Vorhandensein verschiedener komorbider psychiatrischer Gegebenheiten in Zusammenhang gebracht werden. Frühere Analysen nach den Anschlägen vom 11. September zeigten eine Erhöhung des Zigaretten-, Alkohol-, und Marihuanakonsums, aber es war unklar, ob diese Steigerungen anhalten würden. Es wurde eine randomisierte Telefonumfrage unter den Einwohnern von New York 6–9 Monate nach den Attacken durchgeführt, um die Prävalenzen des erhöhten Substanzgebrauchs abschätzen zu können. Von 1570 Erwachsenen gaben 9,9% eine Steigerung des Zigarettenkonsums, 17,5% erhöhten Alkoholkonsum, und 2,7% eine Erhöhung des Marihuanakonsums an, verglichen mit dem Monat vor dem 11. September. Diese Zunahmen waren 28

Vlahov D, Galea S, Resnick H, Ahern J, Boscarino JA, Bucuvalas M, Gold J, Kilpatrick D (2002) Increased use of cigarettes, alcohol, and marijuana among Manhattan residents after the September 11th terrorist attacks. Vlahov D, Galea S, Ahern J, Resnick H, Boscarino JA, Gold J, Bucuvalas M, Kilpatrick D (in press) Consumption of cigarettes, alcohol and marijuana among New York City residents six month after the September 11 terrorist attacks.

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vergleichbar mit jenen, die in den ersten 1–2 Monaten nach dem 11. September angegeben wurden. Personen, die den Zigarettenkonsum erhöhten, berichteten wahrscheinlicher von Symptomen, die mit PTSD verbunden werden können im letzten Monat (jeweils 4,3% und 1,2%). Depression war häufiger unter jenen, die den Zigarettenkonsum (jeweils 14,6% und 5,2%), Alkoholkonsum (11,8% gegen 5,2%) und Marihuanakonsum (34,1% gegen 5,3%) erhöhten. Unter den Einwohnern Manhattans, die unterhalb der 110th Street wohnen, fielen die Prävalenzen von PTSD und Depression um mehr als die Hälfte in den ersten 6 Monaten nach dem 11. September ab, während der Substanzkonsum nicht wesentlich abnahm. Weissmann et al (2003)29 untersuchten Daten vom „Veterans Integrated Service Network of New York and New Jersey“ um festzustellen, ob die Anzahl von Veteranen, die wegen PTSD behandelt wurden nach den Attacken vom 11. September zunahmen. Sie analysierten die Anzahl der wegen PTSD im „Veterans Healthcare Administration facilities in New York and New Jersey“ behandelten Veteranen vom September 1999 bis Juni 2002. Die Anzahl der wegen PTSD in diesen Einrichtungen behandelten Veteranen nach dem 11. September überschritten Prognosen die auf langfristigen Trends basierten, und das Anwachsen war ausgeprägter als für andere diagnostische Gruppen. Diese Ergebnisse zeigen die Notwendigkeit auf, adäquate Verfügbarkeit von Services in Folge von traumatischen Ereignissen sicherzustellen.

Ergebnisse aus andern Ländern nach diversen Großschadenslagen Ereignis: Flutkatastrophe in Mexico, 199930 Untersuchung: Längsschnittstudie zu 4 Zeitpunkten (über 2 Jahre) Methoden: – Stichprobe: konnte aufgrund der unterschiedlichen Betroffenheiten der Gemeinden von der Katastrophe nicht identisch erhoben werden. – Die ersten Interviews wurden 6 Monate nach der Katastrophe zusammengestellt – Haushalte wurden kontaktiert, ein Mitglied des Haushalts randomisiert ausgewählt. Alle Teilnehmenden wurden 12, 18 und 24 Monate nach der Katastrophe nochmals interviewt. 29

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Weissman EM, Kushner M, Marcus SM, Davis DF (2003) Volume of VA patients with posttraumatic stress disorder in the New York metropolitan area after September 11. Norris FH, Murphy AD, Baker CK, Perilla JL (2004) Postdisaster PTSD over four waves of a panel study of Mexicos 1999 flood.

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– Interviews wurden durch trainierte, einheimische Interviewer in den privaten Haushalten durchgeführt. Das demographische Interview dauerte ca 1 Stunde, das psychologische ca 2 Stunden. Ergebnisse: 1. Zeitpunkt: – 24% aller teilnehmenden Personen erfüllten die DSM-IV-Kriterien einer PTSD – In Tezuitlán war die Prävalenz dreimal höher als in Villahermosa (die Interpretation ist aber schwierig, da die Einwohner von Tezuitlán auch anfälliger dafür waren andere potentielle Traumata zu erleben, zB interpersonelle Gewalt). Die Prävalenz von PTSD sank über die Zeit. Am Ende der Studie sanken die Raten von PTSD von 14 auf 8% in Villahermosa, und von 46 auf 19% in Tezuitlán. Auch 2 Jahre nach dem Ereignis war die Prävalenz von PTSD über der Basisrate von PTSD (2%). Der natürliche Verlauf von PTSD beinhaltet lineare und quadratische Trends. Dass heißt, Symptome wachsen zu Beginn an uns stabilisieren sich anschließend.

Langfristige Auswirkungen nach einem Erdbeben in Armenien (1988)31 Erdbeben in Armenien am 01.12.1988 Die Untersuchung beschreibt die Aktivitäten des „Psychiatric Outreach-Programm“ (POP), welches zuerst psychologische Hilfsangebote für die Opfer in der Erdbebenzone zur Verfügung stellte, und später, im März 1989, ein Trainingsprogramm für die lokalen Psychiater und Psychologen entwickelte. Das POP wurde durch in den USA lebende Armenier organisiert. Durch die durchgängige finanzielle Unterstützung ermöglichte das POP weit reichende psychologische Hilfe durch seinen Einfluss auf Prävention und öffentliche Gesundheitspolitik. Die Leistungen des POP umfassen: – Katastrophen Interventionen, – Training, – Forschung, – Service, – Öffentliche Gesundheitspolitik, – Durchgehende Konsultationen und Trainings. 31

Najarian LM (2004) Disaster intervention: Long-term psychosocial benefits in Armenia.

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(a) Eine Studie über doppelte Traumatisierungen wurde möglich, da viele Menschen, die in Azerbaijan Verfolgungen ausgesetzt waren, sich in die Erdbebenzone niederließen. Die Ergebnisse zeigten keine psychologischen Differenzen bezüglich Symptome oder Schweregrad zwischen Individuen, die an einem singulären Trauma litten, oder doppelt traumatisiert waren. (b) Eine Studie über Altersunterschiede verglich die Auswirkungen von Traumata auf ältere Personen (über 65 Jahre) gegenüber Erwachsenen unter 65 Jahren. Beide Gruppen unterschieden sich nicht in den Mittelwerten ihrer PTSD-Scores. Die Älteren zeigten relativ höhere (Über-)Erregungssymptome und relativ weniger Intrusionen. (c) Eine Studie über Komorbiditäten bei Kindern zeigte, dass Kinder nach Katastrophen ein Risiko für Bildung einer PTSD mit sekundärer Depression aufweisen. (d) Studie über Wegziehen aus dem Katastrophengebiet: Kinder mit ihren Müttern, die sofort aus der Krisenregion wegzogen wurden verglichen mit Kindern und deren Müttern, die in der beschädigten Stadt blieben. Es zeigten sich gleiche Raten im Auftreten von PTSD. Allerdings zeigten sich bei den Umgezogenen höhere Werte von Depression. Diese Untersuchung zeigt das Bedürfnis die Gemeinschaften in den Zustand vor der Katastrophe zu bringen, um so bald wie möglich wieder „funktionieren“ zu können. Basierend auf diesen Untersuchungen wurde ein Modell zur Behandlung von post-katastrophalen psychischen Beeinträchtigungen und -störungen entwickelt. Durch dieses Modell konnte eine der längsten Follow-Up-Studien in der Literatur vervollständigt werden. Es wurden Gruppen von Erwachsenen, die im Center behandelt wurden, evaluiert. Dadurch wurde die Effizienz von Trauma-fokussierter kurzzeitiger Psychotherapie bei der Prävention von komorbider Depression gezeigt. Ereignis: Autobombenanschlag in Nordirland32 Untersuchung: Studien in Forschungszentren haben ergeben, dass sich verschiedene Kognitive Verhaltenstherapien als effektiv in der Behandlung von PTSD bei Einzelpersonen 32

Gillespie K, Duffy M, Hackmann A, Clark DM (2002) Community based cognitive therapy in the treatment of posttraumatic stress disorder following the Omagh bomb. Behav Res Ther 40 (4): 345–357.

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oder kleinen Gruppen erwiesen haben. Allerdings gibt es weniger Informationen, inwieweit man diese Ergebnisse auf mehr klinische Behandlungssettings, bei allen Patienten oder von einem Trauma betroffene Gemeinschaften generalisieren könnte. Studie: Eine aufeinander folgende Serie von 91 Patienten mit PTSD durch den Bombenanschlag in Omagh wurde mit kognitiver Verhaltenstherapie behandelt (Richtlinien nach Ehlers und Clark, 2000). Es gab keine größeren Ausschlusskriterien, 53% der Patienten hatten zusätzliche Achse I Störungen (Komorbiditäten). Die Patienten erhielten durchschnittlich 8 Behandlungseinheiten. Es wurden signifikante und substantielle Fortschritte bei Behandlung der PTSD beobachtet. Komorbiditäten führen nicht zu schlechteren Ergebnissen, was damit zusammenhängen könnte, dass sie durchschnittlich mehrere Behandlungseinheiten bekamen (10 gegen 5 Einheiten). Patienten, die verletzt wurden, verbesserten sich weniger als jene, die nicht verletzt wurden. Die Arbeit des Teams wurde dreieinhalb Jahre später beendet. Das Team hatte Kontakt mit über 680 Personen (einschließlich Kindern). Ergebnisse brachten sehr gute Einblicke in die Coping-Strategien der Teilnehmer oder andere Reaktionen, die möglicherweise mit PTSD assoziiert werden konnten. Es gibt keine offiziellen Statistiken über die psychologischen Auswirkungen des 30jährigen Konfliktes in Nordirland, aber auf Basis der existierenden Forschungen über die Prävalenz von Traumata wird geschätzt, dass im Extremfall 20000 Personen eine PTSD entwickelten. Die „Cost of the Troubles“ Studie fand heraus, dass rund 30% derjenigen, die gewalttätigen Ereignissen ausgesetzt waren, Ausmaße von traumatischem Stress entwickelten, die nahe an eine PTSD heranreichten. Ereignis: Erdbeben in der Türkei33 Untersuchung: beschäftigte sich mit der Prävalenz von PTSD und Depression 14 Monate nach dem Erdbeben. Wichtiges Ziel der Studie: herausfinden, welche Auswirkungen die Erkenntnisse auf effektive Behandlungsmethoden haben können. Es wurden 2 randomisierte Stichproben gebildet: eine vom Epizentrum (N= 530) und eine 100 km vom Epizentrum entfernt (N=420). In jeder der beiden Regionen wurden von einer Liste aller Haushalte jeweils 1000 durch eine computerisierte Zufallszuweisung ausgewählt. 33

Başoğlu M, Kılıç C, Şalıoğlu E, Livanou M (2004) Prevalence of posttraumatic stress disorder and comorbid depression in earthquake survivors in Turkey: An epidemiological study.

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Eingesetzte Screening-Instrumente: – Survivor Information Form (SIF) – 28 Items (Demographische Daten, Persönliche und familiäre Geschichte, Trauma-Charakteristiken, Furchtintensität während des Traumas), – Traumatic Stress Symptom Checklist (TSSC), – Severity of Disability Scale. Ergebnisse: Die Raten von PTSD betrugen 23 und 16% im Epizentrum und 14 bis 8% in Istanbul. Der stärkste Prädiktor für PTSD war Furcht während dem Erdbeben, wohingegen weibliches Geschlecht, psychiatrische Erkrankung in der Vergangenheit, Schaden am Heim, Teilnahme an Hilfsarbeiten, vergangenes Trauma und Verlust nahe stehender Personen schwach signifikant waren. Stichprobenbias: Die Studie unterschätzte möglicherweise die PTSD-Raten, da viele Bewohner, deren Häuser durch das Erdbeben zerstört wurden, nicht kontaktiert werden konnten (diese waren möglicherweise stärker traumatisiert als jene, die für die Studie erreichbar waren). Auch waren die Verweigerungsraten der 2. Region sehr hoch. Die Gründe der Verweigerungen wurden zwar nicht untersucht, allerdings schien das Geschlecht der Interviewer eine große Rolle gespielt zu haben. Da die Ehemänner der interviewten Frauen unter Tags oft nicht zuhause waren, wurden weibliche Interviewer eher akzeptiert als männliche. Fazit: die Wichtigkeit von Furcht als Prädiktor von PTSD und Depression wird möglicherweise Auswirkungen auf die Gesundheitspolitik der Erdbebenüberlebenden haben. Die Erkenntnisse deuten darauf hin, dass ein Erdbeben auch eine Gefahr für die mentale Gesundheit der Überlebenden darstellen kann, auch wenn sie nicht großflächiger Zerstörung und Verlusten an Menschenleben ausgesetzt waren. In Anbetracht der Größenordnung der mentalen Probleme der Überlebenden ist eine schnelle, effektive, kostengünstige Behandlung nötig. Psychologische Interventionen, die sich auf Furcht konzentrieren, können speziell beim Reduzieren traumatischer Stress-Symptome und beim Verstärken der psychologischen Vorsorge bei zukünftigen Erdbeben nützlich sein.

Ereignis: Erdbeben in Taiwan von 199934 Untersuchung: Längsschnittstudie über die Veränderung depressiver Symptome bei umgesiedelten älteren taiwanesischen Erwachsenen (N=54, M=68 Jahre), und die 34

Watanabe C, Okumura J, Chiu T-Y, Wakai S (2004) Social support and depressive symptoms among disolaced older adults following the 1999 Taiwan earthquake.

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Auswirkung verschiedener sozialer Unterstützungsmaßnahmen zwischen 6 und 12 Monaten nach einem Erdbeben. Stichprobe: Für die Menschen von Ju-Sha-Stadt wurden für jene, die ihre Häuser während des Erbebens verloren, vorübergehend 125 Häuser gebaut. Ein Jahr später lebten noch immer 312 Personen darin. Die Teilnehmer der Studie waren alle über 55 Jahre alt und lebten in diesen Gebäuden (umgesiedelte Gruppe). Im April 2000, 6 Monate nach dem Erdbeben, wurden von 56 umgesiedelten und 48 nicht-umgesiedelten Personen Daten gesammelt. In der zweiten Phase wurden Daten 12 Monate nach dem Erdbeben gesammelt, wobei auf einer Datenerhebung bei der KG verzichtet wurde, da die Hälfte weggezogen war, um bei ihren Familie zu leben. In der umgesiedelten Gruppe konnten 96% erfolgreich abermals interviewt werden. Fragebögen: wurden durch Face-to Face Interviews vorgegeben. 1. Ressourcen-Verlust – persönliche Verluste, – Verlust des Hauses, – Verlust sozialer Aktivitäten, – Beeinträchtigung physischer Gesundheit. 2. Soziale Unterstützung: Social Support Scale (Noguchi, 1998) 3. Depressive Symptome: Self-Rating Depression Scale (SDS, Zung, 1965) Ergebnisse: der durchschnittliche Depressionswert zwischen 6 und 12 Monaten nach dem Erdbeben blieb unverändert auf dem Höchststand. Weitere Unterstützung der Kinder und der weiteren Verwandten in Bezug auf Depressionssymptome nach 6 Monaten. Im Vergleich dazu waren nach 12 Monaten signifikante Faktoren im Zusammenhang mit der Verringerung der depressiven Symptome: die soziale Unterstützung der weiteren Verwandten und Nachbarn und soziale Teilnahme. Interventionen zur Verstärkung sozialer Netzwerke und sozialer Teilnahme, innerhalb der neuen Umgebung in einer temporären Gesellschaft, werden sehr für ältere Erwachsene empfohlen. Fazit: In Anbetracht der Untersuchungsergebnisse wird angenommen, dass die Umsiedlung von älteren Menschen deren Erholung von durch die Katastrophe verursachten psychologischen Stress eher behindert. Die Studien zeigen auch, dass es sinnvoll wäre, soziale Systeme zur Unterstützung älterer Personen, die nach einer Naturkatastrophe in temporären Gemeinschaften zusammenleben müssen, zu schaffen. Aufgrund der zu geringen Stichprobengröße können diese Ergebnisse allerdings nicht generalisiert werden. Fazit: Die erhaltenen positiven Ergebnisse können gut auf ein allgemeines, nicht selektives primäres Versorgungssystem generalisiert werden.

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Übersiedlung nach einem Erdbeben35 Untersuchung: 25 Frauen, die nach einem Erdbeben in der zerstörten Stadt verblieben wurden mit 24 Frauen verglichen, die nach der Katastrophe umsiedelten und einer Vergleichsgruppe von 25 weiteren Frauen. Untersuchungsinstrumente: – Strukturiertes PTSD Interview, – Hamilton Depression Scale, – SCL-90-R. Ergebnisse: die beiden vom Erdbeben betroffenen Gruppen zeigten signifikant vermehrt Symptome von Vermeidung, Übererregung und totaler PTSD als die Vergleichsgruppe. Die umgesiedelten Frauen hatten signifikant höhere Depressionswerte als jene, die in der Stadt blieben. Im SCL-90-R zeigten die umgesiedelten Frauen die meisten Symptome, und die Vergleichsgruppe die wenigsten. Fazit: Umsiedelung nach einer Katastrophe scheint vermehrt mit dem Risiko einer Depression verbunden zu sein als einer PTSD in Situationen, wo die Erholung nach einem Trauma verzögert ist.

1.8. Zusammenfassung Die vorliegenden Forschungsergebnisse zeigen mit großer Deutlichkeit die destruktive Kraft traumatischer Ereignisse sowie die immense Elastizität der menschlichen Psyche, schwierigste Situationen zu überstehen und dennoch nicht zur Gänze daran zu zerbrechen. Selbst nach extremen Belastungen werden in den Studien immer noch Menschen gefunden, die zumindest psychisch keinen Schaden nahmen. Nichts wird dabei über das Schicksal des einzelnen ausgesagt und nichts wird über das ausgesagt, was nicht erhoben wurde. Viele der zitierten Studien beziehen sich auf PTSD, einige wenige erfassen auch die Suchtentwicklung oder die Depressionen. Nichts wird ausgesagt über die sozialen Folgen wie zB Arbeitsplatzverlust oder den Rückzug von Freunden und Familien oder über die Folgen der Trauer oder über die somatischen bzw psychosomatischen Folgen des Erlebens komplexer Ereignisse. Auch werden die Auswirkungen auf das Familienklima, die Entwicklung der Kinder, ihrer schulischen Leistungen, ihrer Beziehungsfähigkeit vernachlässigt bzw ist es äussert schwierig, diese zu erforschen. Dennoch sind diese 35

Najarian LM, GoenJian AK, Pelcovitz D, Mandel F, Najarian B (2001) The effect of relocation after a natural disaster. J Traumatic Stress 14 (3): 511–526.

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Forschungsergebnisse ein deutlicher Beweis für die destruktive Wirkung komplexer traumatischer Ereignisse und betonen wie wichtig hier präventive Maßnahmen sowie deren Anbindung an traumaspezifische Behandlungsangebote und soziale Maßnahmen sind. Es wird mit Deutlichkeit auf die Verletzlichkeit der menschlichen Psyche verwiesen, die die Notwendigkeit von akuten Interventionen untermauern und betonen und sie aus der humanitären Haltung hin zu einer gesellschaftlichen Verpflichtung transferieren können. Sie liefern uns trotz aller Mangelhaftigkeit (sowohl was die Fragestellung als auch was die Erhebungsmöglichkeiten betrifft) handfeste Argumente für eine Integration der psychotraumatologischen fundierten niveauvollen und hochwertigen Intervention in die Regelversorgung im medizinischen und psychosozialen Bereich. Insgesamt zeigt der Überblick über Standards und Guidelines, dass es ein weltweites Bemühen gibt, die psychosoziale Komponente von komplexen Schadensereignissen zur Kenntnis zu nehmen und entsprechende Strukturen zu schaffen. Gemeinsam ist den meisten Überlegungen und Konzepten eine Einteilung in Phasen, innerhalb derer die Entwicklung der Reaktionen, Symptome und Erholung beschrieben werden. Eine einheitliche Einteilung in Phasen erscheint, auch aufgrund der Forschungsergebnisse, die ebenfalls den Phasenverlauf berücksichtigen, nicht möglich. Einzig die Kategorien der Klassifikationssysteme begrenzen die akute Phase mit maximal bis zu einer Woche, die Diagnose einer PTSD kann erst ab vier Wochen nach dem Ereignis gegeben werden. Die Erfahrungen sprechen nicht immer für diese diagnostische Unterteilung. Sie gilt auch nur für Personen mit krankheitswertigen Reaktionen und hat primär ein singuläres Trauma im Familienverband im Zentrum. Zusammengefasst verweisen sowohl die guidelines, policy-papers, Standards und Forschungsergebnisse auf den prozeßhaften Verlauf traumatischer Reaktionen. Sie verweigern allerdings eine konkrete Grenze der akuten Phase nach komplexen traumatischen Ereignissen. Hier muß sich die PSNV auf ihre Kompetenz die konkreten Bedürfnisse Betroffener im Anlassfall zu erkennen verlassen. Dies gelingt der PSNV vor allem dann, wenn sie gut ausgebildet und in einem steten Training (durch zB Tätigwerden im Einzelfall) ihre Erfahrungen konstant evaluieren kann. Politik und Administration kann an dieser Stelle mit ihrem Wunsch nach konkreten Zeitangaben nur enttäuscht werden, hat aber die Chance durch entsprechende Gestaltung (dh auch Finanzierung) der genannten Kriterien eine gut funktionierende, Vertrauen verdienende Dienstleistungseinheit für die Bevölkerung im Anlassfall zur Verfügung zu stellen. Ebenso wenig einheitlich in der Zusammenfassung sind auch die Empfehlungen zur Vorgangsweise und das Niveau, mit dem die Interventionen stattfinden sollten. Die Vorgangsweise reicht von einer monoprofessionellen rein PTSD-orientierten Haltung über eine rein abwartenden, bis hin zur multiprofessionellen saltuogenetischen Orientierung, die sich in Strukturen und Ausbildungen sowie Vor-

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gangsweisen in der Intervention als solcher abbildet. Als Fazit kann im Moment der Bestandsaufnahme gesagt werden: „little do we know“.

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Kapitel 2

Die Bedingungen posttraumatischer Bewältigung Marion Krüsmann

2.1. Ein Überblick Gotthold Ephraim Lessing war es, der einmal gesagt hat: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“ „In einer abnormalen Situation ist eine abnormale Reaktion eben das normale Verhalten. Auch als Psychiater erwarten wir sozusagen, dass ein Mensch, je normaler er ist, desto abnormaler auf die Tatsache reagieren wird, dass er in die abnormale Situation geraten ist, …“ (Frankl, 1997, S 40).

Entsetzliche und traumatische Ereignisse, die eine Vielzahl von Menschen betreffen, passieren – anders wie man gerne denkt und hofft – nicht vereinzelt sondern zahlreich. Im Durchschnitt findet jeden Tag auf der Welt eine Katastrophe statt (Norris et al, 2002), und durch die Medien werden wir weltweit täglich mit Meldungen über Kriegsereignisse, Naturkatastrophen, von Menschen verursachtem Terror und Gewalt konfrontiert. Meist passieren diese „Dinge“ in sicherer Entfernung und der Abstand schützt häufig vor einer allzu großen Betroffenheit, vor schweren seelischen Erschütterungen und deren Folgen. Obwohl diese Ereignisse im Grunde jedem Menschen zustoßen können, beurteilen die meisten von uns die Welt um sich herum sicher und mehr oder weniger verlässlich. Auch Gedanken an Ereignisse wie schwere Unfälle, tödliche Krankheiten, oder der plötzliche Verlust einer nahe stehenden Person, die theoretisch jeden von uns zu jeder Zeit treffen können, halten wir im Alltag weit von uns fern. Wer könnte schon seiner alltäglichen Arbeit, seiner Freizeit, seinem Leben ruhig nachgehen, wenn prinzipiell das Schrecklichste, als jederzeit möglich, bewusst wäre. Das Leben erscheint uns über weite Strecken verlässlich und lenkbar und so versuchen wir es auch zu gestalten. Und trotzdem die meisten Menschen sich eher selten und nicht ohne Notwendigkeit mit der Möglichkeit eines plötzlichen Verlustes oder der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen, können Menschen seit jeher mit

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Marion Krüsmann

Sterben und Tod umgehen, sie sind Teil der Existenz, letztendlich wie die Geburt auch. Ohne Frage stellt die Verarbeitung von Schmerz, Trauer, Verzweiflung und Einsamkeit in der Folgen eines Verlustes eine enorme psychische Anstrengung und Leistung dar, und trotzdem finden die meisten Menschen mit der Unterstützung ihrer sozialen Umwelt nach „normalen“ Sterbefällen in ihre Balance zurück. Anders bei „abnormalen“ Todesfällen, bei von Menschen gemachten Gräueltaten, bei unvorstellbaren Unglücken und bei besonders schwer zu begreifenden Unfällen, wenn Fahrlässigkeit im Spiel ist oder zB viele Kinder betroffen sind. Dann, wenn von traumatischen Erfahrungen, komplexen Schadenslagen oder Katastrophen gesprochen wird, sind Menschen gefährdet langfristig psychisch zu erkranken. Die menschliche Fähigkeit mit Leid und Tod umzugehen, kann dann verloren gehen und immer wieder „zerbrechen“ oder „erstarren“ betroffene Menschen nach solchen Unglücken und kehren nicht wieder ins Leben zurück.

2.1.1. Von der Beschreibung traumabedingter Störungen zu ersten Ansätzen der Krisenintervention Was macht die Unterschiede aus wie Menschen auf traumatische Erfahrungen reagieren, wie sie diese in ihr Leben integrieren können oder eben nicht. Welche inneren Werte, innere Kraft, welche Unterstützung von außen und welche Rahmenbedingungen sind notwendig, um die unterschiedlichsten traumatischen Ereignisse bewältigen zu können. Eingang in medizinische und psychologische Theorienbildung haben diese Fragen erst seit etwa hundert Jahren gefunden. Rückblickend kann man feststellen, dass es bei der fachkundlichen und wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Folgen und Behandlungsmöglichkeiten traumabedingter Störungen immer wieder Zyklen unterschiedlicher Verantwortungszuschreibungen gegeben hat. War der Mensch der erkrankte, obgleich andere Personen gesund aus einem scheinbar gleichen Ereignis hervorgegangen sind, verantwortlich für seine Störungen oder war es das Ereignis, das Trauma, das die spezifischen Probleme auslöste und also Verursacher war (Hermann, 1993). Neben der Erforschung des Bedingungsgefüges traumabedingter Veränderung wurde eine Störung beobachtet, die sich häufig im Gefolge traumatischer Erfahrungen zeigte, und die im Laufe des vergangenen Jahrhunderts mit so unterschiedlichen Begriffen wie „Granantenschock“, „railroad spine“, „ÜberlebendenSyndrom“ oder „Rentenneurose“ bezeichnet wurde. Immer aber wurden ähnliche Beschwerden festgestellt und so kristallisierte sich ein Krankheitsbild heraus, das hauptsächlich durch drei Symptombereiche gekennzeichnet ist – quälende Erinnerungen, Vermeidungsverhalten und Übererregung. Zu diesem Störungsbild, das erstmals 1952 im DSM-I unter der Bezeichnung „schwere Belastungsreaktion“ beschrieben wurde, im DSM-II keine Erwähnung mehr fand und im DSM-III-R un-

Die Bedingungen posttraumatischer Bewältigung

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ter dem Begriff „Posttraumatische Belastungsstörung“ (APA, 1987) aufgenommen wurde, existieren mittlerweile eine Vielzahl von Forschungsergebnissen und Behandlungsstrategien. Das Thema ist mittlerweile in der Fachwelt gut etabliert, wobei sich das Hauptinteresse in den letzten Jahrzehnten eher auf langfristige Verläufe bezüglich Erkrankungshäufigkeit und die Behandlungsmöglichkeiten konzentrierte (Butollo, Hagl und Krüsmann, 1999). Anfang der neunziger Jahre wurde, meist ausgehend von im Rettungswesen tätigen Fachkräften, der konkrete Bedarf an Maßnahmen für akut traumatisierte Menschen erkannt und entsprechende Konzepte zur traumabezogenen Krisenintervention und Akutbetreuung realisiert (Müller-Cyran, 1995; v Wietersheim, 1995). Erst in den letzten Jahren richtet sich die Aufmerksamkeit der Forschungsgemeinde, sowie behördlicher Verantwortungsstrukturen, auf die psychologischen und soziologischen akuten Auswirkungen von komplexen Schadenslagen und Katastrophen (Butollo, 2002; Lueger-Schuster, 2004). Bezüglich Interventionen in der peritraumatischen Phase (also im Kontext des noch ablaufenden akuten Ereignisses), hat sich seit dem ein vielfältiges Angebot im Bereich ehrenamtlich rettungsdienstlicher und seelsorgerischer Tätigkeit etabliert. Zunehmend wurde in die Konzepte auch klinisch-psychologische und psychotherapeutische Fachkompetenz integriert. In einigen Systemen zB in Wien, wurde schon sehr früh ein konsequenter Weg der Vernetzung und Kooperation der unterschiedlichen Protagonisten von Krisenintervention, Akuthilfe und Notfallseesorge gewählt. Suchte man zu Beginn der Bereitstellung von Krisenintervention im Rettungsdienst und Notfallseelsorge nach Katastrophen und Großschadenslagen noch händeringend nach Hilfspersonal, entwickelte sich die Szene in einem Ausmaß, das schon wenige Jahre danach die Verantwortlichen ebenso händeringend nach Möglichkeiten suchten sich in dem Überangebot von Hilfskräften zurechtzufinden.

2.1.2. Ziele von Konzepten der Krisenintervention und Akutbetreuung Krisenintervention im Kontext von komplexen Schadenslagen und Katastrophen, in letzter Zeit unter dem Begriff PSNV1 zusammengefasst (Beerlage, 2004) hat im Kern zwei Zielrichtungen. Zum einen die Dynamik des Ereignisses – neben den Abläufen der Rettung und Bergung – auch aus psychosozialer Sicht so günstig wie unter den gegebenen Umständen möglich zu gestalten. Zum anderen sollen die Maßnahmen der psychosozialen Unterstützung im Kontext von komplexen Schadenslagen dazu dienen, für Betroffene eine mittel- und langfristige Begleitung sicherzustellen, so fern dies notwendig wird (Krüsmann und Müller-Cyran 2005; 1

Psychosoziale Notfallversorgung

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Marion Krüsmann

Watson und Shalev, 2005). Beide Ziele betreffen jeweils die Situation und Bedürfnisse aller anwesenden Personen (zB bezüglich Sicherheit, Wärme, Nahrung, Information) sowie die jeweils spezifischen und individuellen Bedürfnisse unterschiedlich betroffener Gruppen. Angehörige von Verstorbenen, die sich auf die Verabschiedung oder Identifikation vorbereiten haben andere Bedürfnisse wie Angehörige von vermissten Personen. Bei Einsatzkräften, Behördenvertretern oder Journalisten, die ebenfalls betroffen sein können, laufen wiederum andere Prozesse und daraus resultierende Bedürfnisse ab. Ob und welchen Einfluss die psychosoziale Unterstützung im unmittelbaren Kontext des Ereignisses auf die weitere psychische Entwicklung der betroffenen Menschen hat, ist wissenschaftlich wenig untersucht. Vorliegende Befunde lassen den Rückschluss zu, dass begleitete und betreute Menschen diese Unterstützung in der Retrospektive als besonders wertvoll einstufen (Krüsmann, Karl, Richter und Butollo 2001). Untersuchungen im Kontrollgruppendesign liegen aber nicht vor, so dass man über die tatsächliche Effektivität der Maßnahmen im peritraumatischen Intervall keine gesicherten Aussagen treffen kann. Notwendigkeit und Nützlichkeit von Interventionen im peritraumatischen Intervall können allerdings auf der Grundlage anderer psychotraumatologischer Befunde diskutiert und beurteilt werden.

2.2. Erscheinungsbild, Häufigkeit und Verlauf traumabedingter Störungen Unmittelbar nach dem Trauma reagieren praktisch alle Menschen mit Erschütterung, Schock, Dissoziation und Verzweiflung. Auch intrusive Phänomene (das Erlebte steht einem ständig vor Augen) sind die Regel. In den Tagen nach dem Ereignis sollten sich Schock und Dissoziation so weit reduzieren, dass eine Verarbeitung des Ereignisses möglich wird. Menschen, die auch noch Tage nach dem Ereignis „neben sich stehen“ oder sich „wie im falschen Film“ vorkommen, den emotionalen Impact des Ereignisses nicht wahrnehmen können oder leiden an Dissoziation, dem Leitsymptom der Akuten Belastungsstörung (ABS) nach DSM-IV, einer häufigen traumabedingten Erkrankung in den Wochen nach dem Ereignis. Einige Symptome, wie sie im Kontext der ABS beschrieben werden, wie zB Angst, Rückzug, Flashbacks oder Ärger sind für sich als normale Adaptationsreaktionen zu sehen, erst das zusätzliche Auftraten dissoziativer Symptome lassen von einer klinisch relevanten Störung sprechen. Dissoziative Symptome werden im DSM-IV folgend beschrieben: 1. subjektives Gefühl von emotionaler Taubheit, von Losgelöstsein oder Fehlen emotionaler Reaktionsfähigkeit, 2. Beeinträchtigung der bewussten Wahrnehmung der Umwelt (zB „wie betäubt sein“),

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3. Derealisationserleben, 4. Depersonalisationserleben, 5. dissoziative Amnesie (zB Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern) (APA, 1996). Nach einer maximalen Symptomdauer der ABS von vier Wochen, wird im weiteren Verlauf von der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gesprochen. Die Posttraumatische Belastungsstörung ist definiert als „die Entwicklung charakteristischer Symptome nach der Konfrontation mit einem extrem traumatischen Ereignis“ (American Psychiatric Association, 1994; dt Bearb v Saß, Wittchen und Zaudig, 1996, S 487). Solche charakteristischen Symptome sind (1) Formen des Wiedererlebens des Ereignisses, zB in wiederkehrenden Alpträumen oder in ungebetenen intrusiven Erinnerungen; (2) Versuche, die Erinnerung an das Ereignis und die Beschäftigung damit zu vermeiden, indem zB bestimmte Personen oder Situationen gemieden werden; außerdem auch eine insgesamt verminderte emotionale Ansprechbarkeit, ein emotionales Abstumpfen; schließlich (3) eine permanente Übererregung, die sich zB in Konzentrationsschwierigkeiten, erhöhter Reizbarkeit oder übertriebener Wachsamkeit zeigt. Besteht eine PTBS länger als drei Monate wird sie als chronifiziert bezeichnet. Besteht zwischen Ausbruch einer PTBS und der traumatischen Erfahrung ein zeitlicher Abstand so spricht man von einem verzögerten Beginn.

2.2.1. Häufigkeit des Auftretens der PTBS Eine wichtige Grundlage – neben dem Wissen über die Adaptationsprozesse – zur Entwicklung sinnvoller und effektiver Prävention sind Zahlen über das Verkommen und den Verlauf traumabedingter Störungen. Beispiele für traumatische Erfahrungen können sein: Vergewaltigung, kriegerische Auseinandersetzungen, kriminelle und familiäre Gewalttaten, Entführung und Geiselnahme, Folter und politische Inhaftierung, Kriegsgefangenschaft oder Gefangenschaft in einem Konzentrationslager, (natürliche oder durch Menschen verursachte) schwere Unfälle, Diagnose eine lebensbedrohlichen Erkrankung, Naturkatastrophen oder technische Katastrophen, sie beschränken sich aber nicht auf diese. Zeuge eines der oben beschriebenen Ereignisses zu werden, kann ebenso als traumatische Erfahrung erlebt werden, wie davon zu erfahren, dass eine nahe stehende Person davon betroffen ist oder war. Übereinstimmend wird beschrieben, dass ein gewisser Zusammenhang zwischen der Schwere des Ereignisses und der Schwere der posttraumatischen Symptomatik zu finden ist. Von Menschen gemachte, willentlich herbeigeführte Ereignisse wirken dabei in der Regel pathogener wie zufällige, schicksalhafte Traumatisierung, komplexe Schadenslagen schwerwiegender wie einfache Unfälle.

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Tabelle 1. Häufigkeiten verschiedener traumatischer Erfahrungen und die damit verbundene Störungshäufigkeit (Lebenszeitprävalenz) Männer Art des Stressors Vergewaltigung sexuelle Belästigung körperlicher Angriff Kampfeinsatz Bedrohung mit Waffe, Geisel, Entführung Lebensbedrohlicher Unfall Naturkatastrophe/Feuer körperlicher Mißbrauch in der Kindheit schwere Vernachlässigung in der Kindheit Zeugenschaft von gewaltsamen Tod oder schwerer Verletzung

Häufigkeit Trauma (%)

Frauen

PTB nach Trauma (%)

Häufigkeit Trauma (%)

PTB nach Trauma (%)

0,7 2,8 11,1 6,4 19,0

65,0 12,2 1,8 38,8 1,9

9,2 12,3 6,9 0,0 6,8

45,9 26,5 21,3 – 32,6

25,0 18,9 3,2

6,3 3,7 22,3

13,8 15,2 4,8

8,8 5,4 48,5

2,1

23,9

3,4

19,7

35,6

6,4

14,5

7,5

(nach Kessler, Sonnega, Bromet, Hughes und Nelson, 1995)

2.2.2. Zum Verlauf Zum Verlauf ist zu sagen, dass ein Großteil der Betroffenen bereits nach einigen Tagen zurück in seine prätraumatische Balance findet, zwischen 8% und 40% der Betroffenen entwickeln aber – je nach Art der traumatischen Erfahrung – eine Akute Belastungsstörung (Bryant und Harvey, 2000). Von diesen wiederum kann sich ca ein Viertel in den Wochen nach dem Ereignis erholen, die Symptome der ABS gehen zurück. Bei ca drei Viertel der Betroffenen jedoch geht die Anfangssymptomatik in eine posttraumatische Symptomatik über, bei denjenigen die eine hohe Ausgangssymptomatik aufwiesen nehmen die Beschwerden in den ersten Wochen sogar zu (Byrant und Harvey 1998; Harvey und Byrant, 1998; 1999; 2000; Brewin et al, 1999). Zusammenfassend kann man also zum jetzigen Zeitpunkt formulieren, dass langfristig nur ein geringer Prozentteil (bis zu 9%) der Betroffenen eine Posttraumatische Belastungsstörung (Breslau et al, 1998) entwickeln, obwohl die meisten traumatisierten Menschen von schweren Stressreaktionen im Kontext des belastenden Ereignisses sprechen.

Die Bedingungen posttraumatischer Bewältigung

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Dabei ist ein Zusammenhang zwischen Stressor und unmittelbaren Symptomen festzustellen und ebenso ein Zusammenhang zwischen der Schwere der Anfangssymptome und der Entwicklung chronischer Symptome (Shalev et al, 1998; Koren, Arnon und Klein, 1999). Hierbei ist insbesondere das Auftreten von dissoziativen Zuständen als wichtiger Modus zur Entstehung und Aufrechterhaltung traumabedingter Störungen zu nennen (Spiegel und Cãrdena, 1991; Tichenor, Marmar, Weiss, Metzler und Ronfeldt, 1996). Dem teilweisen oder vollständigen Verlust der integrativen Abläufe zwischen Bewusstsein, Gedächtnis, Identitätsgefühlen und Wahrnehmung der Umwelt unter schweren traumatisierenden Bedingungen – einen Zustand den Marmar und seine Kollegen als „peritraumatische Dissoziation“ beschrieben hat (Marmar, Weiss, Metzler, Delucchi, 1996; Marmar, Weiss, Metzler, 1998) – kommt eine hohe Bedeutung für das „wie“ der Verarbeitung traumatischer Erfahrungen zu. Peritraumatische Dissoziation – wird als wichtiger Prädiktor für die Entwicklung einer PTBS angesehen (Cãrdena und Spiegel, 1993; Koopmann, Classen und Spiegel, 1994; Bremner et al, 1992), allerdings erweitern neuere Forschungsergebnisse den Blick auf den psychischen Zustand in den ersten Tagen und Wochen nach dem Ereignis; dieser sagt offensichtlich mehr über den weiteren Verlauf aus, wie das Befinden unmittelbar nach dem Trauma (Spiegel, Claasen und Cãrdena, 2000). Endgültige Erkenntnisse über die Prozesse in den Stunden und Tagen nach einer traumatischen Erfahrung liegen also nicht vor. Für die Konzeption präventiver Systeme erhält durch diese Ergebnisse eine effektive Gestaltung der Versorgungsschnittstellen, die Gewährleistung von Unterstützung in den Tagen und Wochen nach dem Ereignis eine hohe Relevanz. Denn offensichtlich ist dem Ausmaß der peritraumatischen Reaktionen weniger Bedeutung für die langfristige Prognose beizumessen. So ist es nur folgerichtig, und diese Meinung wird hier auch deutlich vertreten, dass das Hauptaugenmerk einer psychosozialen Versorgung weniger auf die akute Versorgung am Ort des Geschehens zu richten ist, sondern vielmehr auf die Entwicklung von Schnittstellen in die mittel- und langfristige Versorgung, sowie in die Bereitstellung von psychologischen und psychotherapeutischen Fachkräften in den Tagen und Wochen nach dem Ereignis. Welche Symptome sind nun nach einer traumatischen Erfahrung zu erwarten, was weiß man über die komplexen Zusammenhänge der Entstehung, Aufrechterhaltung und Verarbeitung traumabedingter Reaktionsformen?

2.3. Zur Adaptation an traumarelevante Ereignisse Je unnormaler die Situation desto unnormaler die Reaktionen, wie eingangs zu lesen. Aber diese Reaktionen sind nicht per se pathologisch oder krankmachend, sondern angemessen. Sie unterliegen einer eigenen Ordnung, und sind in einem ge-

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wissen Sinne auch funktional und schützend, da sie häufig einen Zusammenbruch der mentalen Prozesse verhindern können in dem zB weder körperlicher noch seelischer Schmerz wahrgenommen wird, oder die Situation an sich nicht wie normal realisiert wird. Wie können nun unnormale Reaktionen eingeordnet werden, wie kann man verstehen, dass ein Familienvater, dessen gesamten Familie unter dem bei einem Erdbeben zusammengebrochen Haus unter Umständen lebendig begraben liegt, anfängt, sein Auto vom Schutt zu befreien? Oder wie lässt sich verstehen, dass der Besitzer einer Autowerkstatt die in Brand geriet, in großer Eile seine Mitarbeiter in Sicherheit brachte um sich dann wieder dem Fahrzeug zuzuwenden, an dem er arbeitete bevor das Feuer ausbrach. Was läuft innerlich ab wenn ein Überlebender eines Unglücks starr in der Ecke sitzt und auf Ansprache nicht reagiert, oder was passiert in einem Menschen der sich an seine Adresse nicht mehr erinnert? Und was kann dagegen unternommen werden, dass betroffene überlebende Menschen langfristigen psychischen Schaden nehmen, sondern dass Erlebte betrauern, verarbeiten, integrieren können?

2.3.1. Zur Besonderheit traumatischer Reaktionen Nicht alle Menschen reagieren auf ähnliche Situationen und extreme Ereignisse gleich. Unter Umständen können sehr unterschiedliche Reaktionsweisen auftreten. Aber – auch wenn die Reaktionsbreite ein Spektrum darstellt – sind die Reaktionen die entstehen, wenn ein Mensch ein traumatisches Ereignis erlebt, nachweisbar verschieden von denen unter Angst und Stress. Trauma ist nicht gleichzusetzen mit großer Angst oder großem Stress. Und meist sind es wenige Momente, die den traumatischen Anpassungsversuch in Gang setzen.

Angstreaktion Angst entsteht, wenn der Mensch eine bedrohliche Situation wahrnimmt. Es kommt zu einer Aktivierung stressrelevanter Zentren, dies sind der Locus coeruleus, der Hippocampus, die Amygdala und der Cortex. Die Amygdala, die eine zentrale Bedeutung bei der Entstehung und Steuerung von Emotionen einnimmt, aktiviert im Falle eines plötzlich auftretenden Stressors über den Hypothalamus die vegetativen Zentren, vornehmlich den Locus Coeruleus. Dieser versorgt das Gehirn mit Noradrenalin, was eine unmittelbare Aufmerksamkeit und Verhaltensbereitschaft in Gang setzt, der Mensch reagiert mit Kampf- oder Fluchtimpulsen. Parallel dazu gelangt über das Nebennierenmark vermehrt Adrenalin und Noradrenalin in den Blutkreislauf. Dies bewirkt ein Ansteigen der Herzfrequenz,

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eine Erhöhung des Blutdrucks, einen trockenen Mund, starke Schweißabsonderung sowie mehrere Veränderungen im Stoffwechsel, die eine sofortige Energieversorgung sicherstellen. Eine wenige Minuten später einsetzende Reaktionskette verläuft über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrindenachse und wird über die kleineren Zellen des Nucleus paraventricularis (Hypothalamus) über den CorticotropinReleasing-Faktor (CRF) vermittelt. Das CRF gelangt zu einer anderen Region im Gehirn, zur Hypophyse, die ihrerseits das Hormon ACTH an den Blutkreislauf abgibt. Das Blut transportiert dieses unter anderem zur Nebenniere. Sobald die Nebennierenrinde vermehrt ACTH empfängt, setzt diese das Hormon Cortisol frei. Erhöhte Cortisolspiegel steigern die Erregbarkeit, was Kampf- oder Fluchtverhalten begünstigt (Krystal, Bennett, Bremner, Southwick und Charney, 1995). Diese Kette läuft bei Angstreaktionen aller Art ab.

Stressreaktionen Im Unterschied zur Angst geht man bei Stresssymptomen davon aus, dass die betroffene Person die angstauslösende Situation und ihre individuellen Möglichkeiten diese zu bewältigen gegeneinander abwägt. Der Bewertung kommt hier also eine besondere Bedeutung zu. Abgeleitet ist dieses Modell von dem Bewertungsmodell von Lazarus: In der Theorie von Lazarus (1984) spielen Bewertungsprozesse, die in einer Situation stattfinden, eine entscheidende Rolle für die Einschätzung der Situation und den daraus resultierenden Stresspegel. Eine Person richtet ihre Aufmerksamkeit auf eine Situation. Wird diese als bedrohlich eingeschätzt, reagiert sie mit Stress und dieser Stress führt zu einer Aktivierung. Die Situationsbewertung wird als erster Schritt des Bewertungsprozesses („primary appraisal“) bezeichnet. In einem zweiten Schritt („secondary appraisal“) bewertet die Person die möglichen Reaktionen zur Bewältigung der Situation. Daraufhin kommt es zu einer Neubewertung („reappraisal“) der gefährlichen Situation. Diese Neubewertung erfolgt vor dem Hintergrund der Person individuell zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten. Die Beziehung, die so zwischen Person und Umwelt entsteht, nennt Lazarus „Transaktion“, im Sinne einer kontinuierlichen Wechselbeziehung zwischen Individuum und Umwelt. Die Reaktion einer Person auf eine Situation ist demnach von drei Bewertungsprozessen abhängig. In jeder Phase der Bewertung kann eine Anzahl von Variablen beteiligt sein. Kognitive Schemata (zB Kontrollüberzeugungen), Persönlichkeitsfaktoren, intellektuelle und körperliche Fähigkeiten sowie der persönliche Copingstil (zB vermeidender Bewältigungsstil) bedingen die Bewertung und da-

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Marion Krüsmann

mit auch die sich entwickelnde Emotion (zB Angst oder Wut). Die beschriebenen Angstreaktionen erhöhen sich unter Stress, die betroffene Person kann aber – in Abhängigkeit der vorgenommenen Bewertung – eine Reaktion zeigen, die zu einer Stabilisierung der Situation führen kann. Nimmt das Individuum durch die Stabilisierung wieder Sicherheitsaspekte wahr und bewertet die dann bestehende Situation als weniger bedrohlich, reduzieren sich die Stresssymptome indem es über eine (ebenfalls durch Cortisol bewirkte) Hemmung der Freisetzung von ACTH und CRF zu einer über Hippocampus und Cortex laufenden Einwirkung auf die stressbezogenen Aktivitäten der Amygdala kommt (Yehuda, 2001).

Traumareaktionen Traumatische Erfahrungen hingegen stellen eine akute, zumeist zeitlich begrenzte, Überforderung der Bewältigungs- und Handlungsmöglichkeiten der betroffenen Individuen dar. Darüber hinaus stellt einen wesentlichen Faktor einer traumatischen Erfahrung, die Bedrohung von Leib und Leben der eigenen Person oder aber anderer Personen dar. Während der Konfrontation mit einer als lebensbedrohlich eingeschätzten Situation, reagieren praktisch alle Menschen mit einer Aktivierung des autonomen Nervensystems. Unser Gehirn ergreift besondere Maßnahmen um die Belastung zu bewältigen, ein spezifischer Stress- und Notfallmechanismus kommt in Gang (Birbaumer und Schmid, 1999). Werden dabei keine sicherheitsspendenden internen oder externen Reize wahrgenommen, feuert die Amygdala weiter Alarmsignale und die Stressreaktion wird aufrechterhalten. Eine extreme Bedrohung kann einen dissoziativen Schutzmechanismus auslösen, der ua auch durch die Ausschüttung körpereigener Opioide vor der Überflutung durch überwältigende Informationen und Gefühle schützt (Scaer, 2001). Endogene Opiode tragen zu einer psychomotorischen Erstarrung, affektiven Betäubung, Hemmung der Schmerzwahrnehmung und Reduzierung der durch Noradrenalin ausgelösten Panikzustände bei (Ehlert, Wagner, Heinrichs und Heim, 1999). Die Funktion der Amygdala wird unter traumatischem Stress erhöht, während die Möglichkeiten des Hippocampus die Ausschüttung von Stresshormonen zu steuern unter als lebensbedrohlich wahrgenommenen Stress abnimmt. Während eines Amygdala-Alarms erleben die Betroffenen oft eine große innere Ruhe, die Umgebung wirkt entfremdet und die Bewegung durch das Geschehen wird zeitverzögert und schwebend wahrgenommen, jenseits von Sprache und Ordnung. Eigenes Schreien oder Wimmern kann wahrgenommen werden, aber es besteht keine Verknüpfung zum eigenen Selbst; jemand schreit, ich höre es aber das bin nicht ich. Ich schaue mir hier – quasi nicht zur Szenerie gehörend – das Geschehen an.

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1

4 Hirnstamm z.B. Lc. coeruleus

Cortex kognitive Integration autobiographisches Gedächtnis

Thalamus sensorische Integration

Sensorische Modalitäten ƒ visuell ƒ akustisch ƒ olfaktorisch ƒ gustatorisch ƒ kinästhetisch

Amygdala emotionale Bedeutung emotionales Gedächtnis

Hypothalamus

Hippocampus kognitive Landschaft Kontextualisierung Visualisierung faktisches Gedächtnis

2

3

endokrine Effekte

Abb. 1. Pfade der zerebralen Informationsverarbeitung unter traumatischen Bedingungen (aus Kapfhammer, 2005)

Der unmittelbare seelische und körperliche Zustand, der auftritt wenn nur noch das Amygdala-System, der Hippocampus und Sprachzentren sowie Frontalhirn gar nicht mehr reagieren können wird – wie bereits formuliert – als peritraumatische Dissoziation bezeichnet. Dissoziation kann als Rückzugsmechanismus aus einer unerträglichen Realität beschrieben werden (Kapfhammer, Dobmeier, Ehrentraut und Rothenhäufsler, 2001) und ist ein wesentlicher Bestandteil einer akuten Traumatisierung.

2.3.2. Implikationen für die PSNV Konzepte der Krisenintervention, Akutbetreuung und der PSNV kommen in erster Linie in Phasen zum Tragen, in denen die Betroffenen sich in einem dissoziierten Zustand befinden. Dem Wissen über die ablaufenden Prozesse muss im Rahmen dieser Konzepte Rechnung getragen werden. Hierbei stellt sich die Frage, welche Interventionen es den Betroffenen ermöglicht sicherheitsspendende Informationen und Reize wahrzunehmen um so wieder in einen Zustand der Handlungsfähigkeit zu gelangen. Gleichzeitig ist es wichtig, diejenigen Personen die trotz des traumatischen Ereignisses weiterhin handlungsfähig geblieben sind, nicht durch

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eine Intervention von außen in ihrer Handlungskompetenz zu schwächen, sie nicht dazu zu bringen die Verantwortung abzugeben. Was macht nun die Unterschiede aus wie Menschen auf traumatische Erfahrungen reagieren, wie sie diese in ihr Leben integrieren können oder eben nicht?

2.4. Traumabedingte Adaptationsprozesse Ob eine Person an einer traumabedingten Störung erkrankt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Entscheidend für den Verarbeitungsprozess sind alle Schutzund Risikofaktoren, die auf eine Person einwirken. Der Umgang mit der Trauer und Verzweiflung, aber auch mit den zunächst völlig natürlichen Symptomen wie Aufregung, Vermeidung und Erinnerungsdruck hat sich insgesamt als wichtiger Faktor für eine gelungene Anpassung erwiesen (siehe auch Butollo, Hagl und Krüsmann, 1999). Ob sich betroffene Personen weitgehend erholen oder eben nicht wieder in ihr Leben zurückfinden und eine traumabedingte Störung entwickeln, hängt neben dem Ausmaß des Stressors und den Bewältigungsmöglichkeit der Einzelnen auch davon ab, wie die Umgebung reagiert und Unterstützung leisten kann. So muss ein Modell, das die Ätiologie der PTB erhellen soll immer alle beteiligten Faktoren integrieren. Man geht hier von einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge aus, bei dem das Ereignis, die Person auf die dieses trifft und die Rolle der Umwelt zentralen Determinanten darstellen die auf dem Hintergrund ätiologischer Prozesse Erklärungsansätze bieten (Maercker, 2003).

2.4.1. Zur Ätiologie traumatischer Störungen Die verschiedenen Erklärungsansätze zu traumabedingten Belastungsreaktionen beschreiben das Zustandekommen der Symptomatik auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen. Für sich genommen reicht keiner dieser Ansätze aus um die Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung zu erklären, zusammen betrachtet können sie ein Erklärungsmodell bieten auf Grund derer dann Behandlungsansätze entwickelt werden können. Im Wesentlichen können dabei biologische, lerntheoretische, kognitive und biodynamische Erklärungsansätze herangezogen werden. Biologische Erklärungsmodelle setzen an den erkennbaren Symptomen wie der erhöhten Erregung, dem Herzklopfen oder Schwitzen, der Reizbarkeit und Schreckhaftigkeit den Konzentrationsstörungen und den Ein- und Durchschlafschwierigkeiten an. Die Auswirkungen einer chronischen posttraumatischen Belastung, zeigen sich zum Teil direkt in veränderten physiologischen Reaktionen und biochemischen Veränderungen, wie zB dem Ausschütten von Stresshormonen. Diese Veränderungen werden nicht nur durch die direkten Traumaauswirkungen, son-

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dern ebenso durch Intrusionen oder traumarelevante Reize, die nicht immer bewusst sein müssen, ausgelöst (Pitmann und Orr, 1995). Die Sinneseindrücke denen ein Mensch während einer traumatischen Situation ausgesetzt ist, werden – in Abhängigkeit von den biophysiologischen Stressreaktionen – anders verarbeitet, gespeichert und erinnert, wie Eindrücke aus nicht traumatisierenden Erfahrungen (Krystal, Bremner, Southwick und Charney, 1998; Bremner et al, 1995; van der Kolk und Fisler, 1995). Mit extrem starken Emotionen verknüpfte Erfahrungen werden nicht im Hippocampus, sondern über die Amygdala in einer fragmentierten Speicherung über das Limbische System gespeichert und erinnert. Dissotiative Zustände führen zu einer Zersplitterung und Fragmentierung der Eindrücke mit teilweise amnestischen Ausmaß. Die Abspeicherung dieser „Fragmente“ kann als nichtsprachlich bezeichnet werden, es sind eher diffuse sensorische Erinnerungen. Dabei kann ein Geruch, ein Geräusche, eine Bewegungen als auslösender Stimulus wirken und traumabedingte Assoziationen und Reaktionen auslösen. Weder muss dabei die Wahrnehmung des konditionierten (und oftmals generalisierten) Reizes bewusst erfolgen (Metcalfe und Jacobs, 1996), noch muss eine bewusste Erinnerung an den Reiz in der traumatischen Situation vorhanden sein. Häufig fehlen den Betroffenen zum Beispiel die Erinnerungen an akustisches Geschehen, das Martinshorn wurde nicht gehört und auch das Anfliegen des Hubschraubers wurde nicht wahrgenommen und auch in der Erinnerung sind keine Geräusche in den Minuten nach einem Unfall vorhanden. Und trotzdem kann bei der gleichen Person das Geräusch eines Hubschraubers oder ein entfernt klingendes Martinshorn Angstzustände und panische Reaktionen auslösen, ohne dass der/die Betroffene einen Zusammenhang mit dem traumatischen Geschehen herstellen kann. Um eine heftige Alarmreaktion auszulösen, braucht es im Gefolge von extrem lebensbedrohlich und unkontrollierbar wahrgenommenen Situationen teilweise nur unterschwellige Auslöser, die ohne bewusste Wahrnehmung die entsprechenden Reaktionen auslösen, wobei auch für die Reaktionen oftmals keine entsprechenden semantischen Gedächtnisinhalte vorliegen. Die ablaufenden Prozesse bewirken ihrerseits eine erneute und vertiefte Einprägung von unbewussten und unmittelbaren Furchtreaktionen, die dann mit bewussten Erinnerungen und kognitiven Interpretationen im Traumagedächtnis verknüpft werden, sodass die posttraumatische Angstsymptomatik weiter verstärkt wird. Klassische lerntheoretische Modelle können grundsätzlich zur Erklärung der Aufrechterhaltung und Ausweitung des posttraumatischen Vermeidungsverhaltens herangezogen werden, weitere typische Phänomene wie zB die Erregungssymptome oder intrusives Erleben können damit aber nicht zufriedenstellend erklärt werden. Foa und Kozak (1986) integrierten daher eine Theorie der Informationsverarbeitung in lerntheoretische Modelle und beschrieben die Repräsentation von Informationen und Erinnerungsbildern in komplexen Netzwerkstrukturen, die sie im Fall von angstbesetzten Inhalten als so genannte „Furchtstrukturen“ bezeichneten. Eine Furchtstruktur ist an sich nicht als pathologisch zu bezeichnen, sondern als

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sinnvolles Programm zur Erkennung und Vermeidung von Gefahren. Pathologische Furchtstrukturen entstehen dann, wenn zB auf Grund von traumatischen Erfahrungen bestimmte bewusste oder unbewusste Reize mit exzessiven unangenehmen und negativen Reaktionen (physiologische Reaktionen, emotionale Prozesse und kognitive Bewertungen) verknüpft sind und diese sich nicht durch neue Erfahrungen modifizieren lassen. Je ausgeprägter die Fruchtstruktur gestaltet ist und in Folge davon auch das Ausmaß der Vermeidungsstrategien, desto schwerer ist die Symptomatik in der Regel. Furchtstrukturen unterscheiden sich von Traumastrukturen in mehrerer Hinsicht. Der auslösenden Erfahrung wird eine existentielle Bedeutung zugeschrieben, die Intensität der Reaktionen ist auf der physiologischen wie auf der Handlungsund Interaktionsebene sehr hoch, und schließlich sind eine Vielzahl von bewussten und unbewussten, die Struktur aktivierende Reize eingebunden, zudem verhindern die traumabedingten Vermeidungsstrategien eine Modifikation der traumaassoziierten Strukturen (Foa, Steketee und Tothbaum, 1989). Kognitive und emotionale Verarbeitungsstile und Schemata sind in der Theorie von Horowitz, dem fast schon klassischen Ansatz, der als psychodynamisch/ kognitives Modell gesehen werden kann, die zentralen Elemente. Er beschreibt die typischen traumabedingten Symptome als sich komplementär gegenüberstehende Verarbeitungsweisen; auf der einen Seite das Phänomen des quälenden Wiederdurcharbeitens der traumatischen Erfahrung, auf der anderen Seite die gedankliche Verleugnung und die emotionale Erstarrung (Horrowitz, 1997). Bedeutung haben hierbei die durch das Trauma bedrohten prätraumatisch vorhandenen kognitiven Schemata, sowie die darauf hin einsetzenden Kontrollund Verarbeitungsprozesse, die zum Ziel haben die negativen Emotionen, die durch die Bedrohung oder das Zerfallen der Schemata ausgelöst wurden, zu reduzieren. Horowitz sieht die posttraumatische Adaptation und die damit einhergehenden Symptome grundsätzlich als konstruktive Auseinandersetzung in verschiedenen Teilschritten, sie dient der Durcharbeitung der traumatischen Erfahrung. Auf den kognitiven und emotionalen Verarbeitungsstil wirkt bei diesem Erklärungsansatz in erster Linie der prätraumatische Persönlichkeitsstil ein. So spielen die individuellen Schwächen und Stärken, kognitive Schemata und grundlegende Überzeugungen zur Welt und zu den Mitmenschen für den Prozess der Anpassung an traumatische Botschaften eine wichtige Rolle, sie können den Verarbeitungsprozess erschweren und zu pathologischen Reaktionen führen.

2.4.2. Risiko- und Schutzfaktoren Grundsätzlich lassen sich die relevanten Faktoren in peri-, prä- und posttraumatisch einordnen (siehe auch Krüsmann und Müller-Cyran, 2005).

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Die Bedingungen posttraumatischer Bewältigung Tabelle 2. Risiko und Schutzfaktoren

Prä traumatisch (vorher) Peri traumatisch (während)

Post traumatisch (nach)

Risikofaktoren

Schutzfaktoren

Alter, Geschlecht, Status Traumatische Erfahrungen Psychische Störungen Verlust der Handlungsfähigkeit Lebensbedrohung Schuldgefühle Mangelnde Information Dissoziation, Verdrängung der Symptome Mangelnde Unterstützung Sinnverlust

Kohärenzsinn Soziale Ressourcen Stabile Persönlichkeit Aufrechterhaltung eines Handlungsspielraums Schutz Information Hardiness Umgang mit Symptomen Soziale Unterstützung Informationen über Trauma Disclosure

(Krüsmann, 2005)

Risikofaktoren Für die folgenden Faktoren wurden Zusammenhänge mit der Entwicklung von Pathologien gefunden. Dabei stellt die strikte Einteilung die hier vorgenommen wurde natürlich nur eine künstliche Differenzierung dar. Einige der beschriebenen Faktoren stellen insofern sie vorhanden sind eine Schutzfunktion dar (zB soziale Unterstützung) und bei Abwesenheit einen vulnerabilisierenden Faktor. Prätraumatisch2 – Jüngeres Alter zum Zeitpunkt der Traumatisierung, in einigen Untersuchungen ebenfalls ältere Personen (verglichen mit solchen mittleren Alters). – Geringe Intelligenz, geringe Bildung, geringer sozialer Status (Untersuchungen im Rahmen von umweltbedingten Katastrophen mit hoher Sachzerstörung). – Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht. – Vorherige Traumatisierungen in der Kindheit oder im Erwachsenenalter. – Psychische und psychiatrische Erkrankung im Vorfeld der traumatischen Erfahrung. 2

Yule, 2001; Kessler et al, 1995; Keane, Scott, Chavoya, Lamparski und Fairbank, 1985; Boscarino, 1995; Silva et al, 2000; Brewin et al, 2000; Green, Wilson und Lindy, 1985; Breslau et al, 1998; Bremner, Southwick, Johnson, Yehuda und Charney, 1993; Resnick, Yehuda, Pitman und Foy, 1995; North, Smith und Spitznagel, 1994; Breslau, Davis, Andreski und Peterson, 1991.

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Peritraumatisch3 – Schwere der traumatischen Erfahrung (geringer Einfluss). – Verlust der Handlungsfähigkeit während der traumatischen Erfahrungen, ein „Sich-aufgeben“ (mental defeat). – Ausmaß der erlebten Lebensbedrohung bei sich und anderen, dieses Gefühl ist zum einen faktisch durch die Schwere des Ereignisses zum anderen aber auch durch die subjektive Interpretation des Geschehens bedingt. – Das Auftreten von schweren Schuldgefühlen. – Mangelnde Informationen über den Ablauf der Ereignisse und somit ein geringer Grad an Kontrolle und/oder Einflussnahme (zB in Bezug auf Möglichkeiten sich von verstorbenen Angehörigen zu verabschieden). Posttraumatisch4 – Das Ausmaß der psychischen Dissoziation in den Tagen nach dem Ereignis (persistierende Dissoziation). – Vermeidender Bewältigungsstil wird als aufrechterhaltender Faktor angesehen, dabei kann es sich um ein Vermeidungsverhalten nach außen (nicht darüber sprechen) oder um ein Vermeidungsverhalten nach innen (Gefühlsvermeidung und Gedankenunterdrückung) handeln. – Fehlende soziale Unterstützung und mangelnde soziale Anerkennung. – Verlust von sinngebenden Annahmen über die Welt und sich selbst, sowie der Verlust von religiöser Überzeugung.

Schutzfaktoren Den beschriebenen Risikofaktoren können eine Reihe von Schutzfaktoren gegenübergestellt. Prätraumatisch5 – Kohärenzsinn ist der Überbegriff für ein Konstrukt nach Antonovsky, welches die Fähigkeit bezeichnet, Ereignisse zu verstehen, mit den Auswirkungen umzugehen und sie in individuelle Sinnzusammenhänge einbauen zu können. Der 3

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Butollo und Hagl, 2003; Boos, Ehlers, Schutzwohl und Maercker, 1998; Ehlers et al, 1998; Ehlers, Maercker und Boos, 2000; Ursano, Carol, Fullerton, Vance und Kao, 1999; Ehlers und Clark, 2000; Krüsmann und Müller-Cyran, 2005. Panasetis und Bryant, 2003; Bryant und Harvey, 1998; Harvey und Bryant, 1998; 1999; 2000; Brewin et al, 1999; Cohen und Roth, 1987; Steil, 1997; Solomon, Mikulincer und Avitzur 1988; Dunmore, Clark und Ehlers, 2001; Fontana und Rosenheck, 1994; Brune et al, 2002. Antonovsky, 1987; 1997; Frommberger et al, 1999; Boscarino, 1995; Mikulincer, Florian und Weller, 1993; Dozier, Stovall und Albus, 1999; Maragkos, 2002; 2003; Green et al, 1985.

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Versuch die traumatische Erfahrung einzuordnen, das Geschehen zu verstehen, in das Weltbild, die Überzeugungen, den Glauben zu integrieren, kann zu einer positiven Verarbeitung des Ereignisses führen. – Das Vorhandensein von sozialen und finanziellen Ressourcen vor allem bei Ereignissen mit hohen materiellen Verlusten. – Für einzelne Persönlichkeitsfaktoren wurde allgemein kein deutlicher Zusammenhang bezüglich der Adapatation nach traumatischen Erfahrungen gefunden. Deutliche Hinweise wurden allerdings auf einen positiven Zusammenhang zwischen gesunden und stabilen Persönlichkeiten und einer gelungenen Adaptation festgestellt. Peritraumatisch6 – Menschen die während der traumatischen Erfahrung einen Handlungsspielraum aufrechterhalten konnten (mental planning), sich nicht aufgaben und ein Gefühl für die eigene Autonomie bewahren konnten, haben eine bessere Prognose. – Schnellstmöglicher Schutz und Wiedererlangung von Sicherheit erleichtert die Verarbeitung der traumatischen Erfahrung. – In diesem Zusammenhang spielt die Information, die Betroffen über den Ablauf des Geschehens erhalten, eine wichtige Rolle, um den erlebten Handlungsspielraum wieder zu erhöhen. Posttraumatisch7 – Das Konzept der Hardiness (Wiederstandskraft) beschreibt Überzeugungen, die es einem Menschen möglich machen, schwere Lebenskrisen zu bewältigen. Hardiness wird durch drei Bereiche charakterisiert: die subjektiven Überzeugungen bezüglich eines Eingebundensein, der Kontrollmöglichkeiten und des persönlichen Engagments. – Der initiale Umgang mit den Symptomen – ob diese als normale Reaktionen angesehen werden oder aber die Angst besteht, verrückt zu werden, ob es möglich ist, Intrusionen in Ruhe „da sein zu lassen“ und eventuell anderen darüber zu erzählen, oder ob diese angstvoll vermieden werden – stellt einen sehr wichtigen Faktor da. – Vorhandene soziale Unterstützung und soziale Anerkennung sind wichtige Schutzfaktoren. Für eine gelungene Adaptation ist es allerdings entscheidend, 6

7

Boos, Ehlers, Schutzwohl und Maercker, 1998; Ehlers et al, 1998; Ehlers, Maercker und Boos, 2000; Krüsmann und Müller-Caran, 2005. Kobasa, Maddi und Kahn, 1982; Maddi, 2004; Solomon, Mikulincer und Flum, 1988; Amir, Kaplan, Efroni, Levine und Kotler, 1997; Warda und Bryant, 1998; Dunmore, Clark und Ehlers, 2001; Kushner, Riggs, Foa und Miller, 1992; Gillespie, Duffy, Hackmann und Clark, 2002; Müller, 2003.

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dass die betroffenen Personen die Angebote der Unterstützung auch wahrnehmen und annehmen. – Psychoedukation im weiten Sinne, da mit Hilfe von psychoedukativen Informationen der initiale Umgang mit Symptomen (so) verbessert werden kann. – Das Offenlegen der traumatischen Situation – disclosure – in einem geschützten Rahmen und mit einem emphatischen und unterstützenden Zuhörer, kann die Verarbeitung der traumatischen Erinnerungen positiv beeinflussen. Letztendlich bleibt auf die Frage, wie es kommt, dass nach einer extremen Erfahrung nahezu alle betroffenen Personen Stresssymptome zeigen, sich aber schon in den ersten Tagen und Wochen deutlich unterschiedliche Adaptationsmuster entwickeln, die Antwort, dass Stressor-, Personen- und Umweltfaktoren eine wichtige Rolle in der posttraumatischen Anpassung spielen.

2.4.3. Zusammenfassung Das traumatische Ereignis hat – per Definition – die auslösende und aufrechterhaltende Rolle bei der Entstehung traumabedingter Störungen. Aber auch hier existieren große Unterschiede. Verschiedene traumatische Erfahrungen erzeugen unterschiedliche Wirkung. Definiert wird der Stressor durch quantitative aber vor allem auch qualitative Dimensionen. Letztlich ist die persönliche Bedeutungszuschreibung ausschlaggebend für die Bewältigung. Schon wenige Tage nach dem Ereignis ist es dann für die Verarbeitung relevant wie mit Trauer und Belastung und den zunächst bei einem Großteil der Betroffenen auftretenden Symptomen wie Übererregung und Wiedererleben umgegangen wird. Auch die Reaktionen des gesellschaftlichen sozialen Umfeldes sowie kulturelle Faktoren spielen nicht nur in der sozialen Beurteilung der traumatischen Situation eine Rolle, sondern bestimmen auch das Krankheits- und Heilungsmodell traumatisierter Menschen und damit auch die Bedürfnisse, die sich in Folge einer traumatischen Erfahrung entwickeln können. Darüber hinaus ist die Rolle der sozialen Unterstützung eng mit dem „Ob“ und „Wie“ der Adaptation verknüpft. Soziale Unterstützung kann für einen Menschen mit akuten posttraumatischen Symptomen Sicherheit, menschliche Wärme, Entlastung aber ebenso auch eine materielle Unterstützung bedeuten, dies bedeutet neben der tatsächlichen Unterstützung auch ein Stückweit eine „Gegenerfahrung“ zur traumatischen Situation. Krisenintervention im Rettungsdienst sowie Notfallseelsorge und psychologische Konzepte8 in der peritraumatischen Phase sind hier als eine Form von sozialer Unterstützung zu sehen, die dem Betroffenen dazu verhelfen die Situation 8

Diese werden in Deutschland oft auch als notfallpsychologische Konzepte bezeichnet.

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gemäß ihren Bedingungen bestmöglich zu gestalten. Nicht alle traumatisierten Menschen reagieren allerdings mit schweren Pathologien, ein Großteil der Betroffenen findet von alleine den Weg ins Leben zurück und es kann davon ausgegangen werden, dass diese Menschen nicht auf organisierte und strukturelle Unterstützung von außen angewiesen sind. Allerdings wäre es mehr als fragwürdig mit psychotherapeutischen Hilfsangeboten abzuwarten bis sich ausgeprägte Störungen manifestieren. Ein wesentlicher Schwerpunkt der psychosozialen Versorgung in den ersten Stunden und Tagen nach traumatischen Erfahrungen liegt daher in der Bereitstellung von Strukturen, die besonders belastete und gefährdete Personen identifizieren und Unterstützung anbieten können. Eine Reihe der dargestellten Risiko- und Schutzfaktoren lassen sich zur Beurteilung einer individuellen Vulnerabilität heranziehen. Dies sind allerdings in erster Linie prätraumatische Faktoren, die – im Unterschied zu Variablen, die eher die Selbstprozesse einer Person betreffen, also alle die Faktoren die die Interaktion zwischen Individuum und Welt betreffen (zB Schuldgefühle, Bewältigungsstil, Überzeugungen) – relativ einfach zu erfassen sind. Zudem haben sie sich nicht nur als Prädiktor für die Entstehung einer PTSD sondern ebenso für das Auftreten einer ABS erwiesen (Harvey und Bryant, 1999). Sucht man nach objektivierbaren Kriterien zur Beantwortung der Frage welche Personen von weiterführenden frühe Interventionen profitieren können, stellen die dargestellten Faktoren wichtige Anhaltspunkte dar (Roy-Byrne et al, 2004). Interventionen im peritraumatischen Setting haben neben dem Ziel einer generellen Unterstützung immer im Blick zur Prävention der Posttraumatischen Belastungsstörung beizutragen. Eine Problematik bei Personen mit dieser Störung ist ihre geringe Bereitschaft, sich Hilfe zu holen. Die Tendenz, alles zu vermeiden, was mit dem Trauma zu tun hat, führt dazu, dass Betroffene oft nur körperliche Beschwerden beim Hausarzt behandeln lassen, aber nicht nach professioneller psychologischer Unterstützung suchen. Ihr eigentliches Problem kann so übersehen werden. Als Präventionsmaßnahmen in Zusammenhang mit primär traumatisierten Menschen werden in anderen Kapiteln dieses Buches Interventionen beschrieben, die zum einen den Ablauf des Ereignisses strukturieren, so dass eine für die Betroffenen günstiger Verlauf ermöglicht werden kann, zum anderen werden Konzepte vorgestellt die einen gelungenen Übergang zu weiterführenden Hilfsmaßnahmen darstellen.

2.5. Zum Miteinander im Kontext von komplexen Schadenslagen Konzepte der psychosozialen Notfallversorgung haben als gemeinsames Ziel, dass qualifizierte Unterstützung möglichst zeitnah nach dem Auftreten einer traumatischen Krise einzusetzen habe. Bei Veränderungskrisen kann sich die Zuspitzung von bestehenden Problemen über einen längeren Zeitraum hin entwickeln. Anders bei traumatischen Krisen, die durch ein von außen eintretendes, plötzliches trau-

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matisches Ereignis ausgelöst werden. Diese Ereignisse finden in der Regel im Kontext der präklinischen Notfallversorgung statt, so dass es nicht verwundert dass sich erste Konzepte zur peritraumatischen Krisenintervention Anfang der 90er Jahre, als integraler Bestandteil des Rettungsdienstes entwickelten. Mittlerweile haben unterschiedlichste Organisationen und Fachrichtungen Konzepte entwickelt und Kräfte ausgebildet, die nach alltagsnahen Unfällen, komplexen Schadenslagen und Katastrophen, peritraumatische psychosoziale Versorgung anbieten. Zu nennen sind hier zB die Krisenintervention im Rettungsdienst, die Notfallseelsorge, Notfallpsychologie und Notfallpsychotherapie und Organisationen die fachübergreifende Akutbetreuung anbieten. Auf Grund der komplexen Anbietersituation – in einem Feld das eine hohe Attraktivität ausweist – ergeben sich in Hinblick auf komplexe Schadenslagen unter anderem folgende Aspekte: – Aufbau einer strukturellen Vernetzung zwischen den unterschiedlichen Anbieterorganisationen. – Abklärung und Definition der gemeinsamen und unterschiedlichen Kompetenzen. – Definierte Führungsstrukturen in den Organisationen. – Entwicklung und Akzeptanz von Führungsstrukturen zwischen den verschiedenen Anbietern bei gemeinsamen Einsätzen. – Entwicklung vernetzter Einsatzpläne gemäß der definierten spezifischen Kompetenzen. – Direkte Zusammenarbeit der verschiedenen Anbieter auf Kreisebene. – Koordiniertes Vorgehen vor Ort, dies beinhaltet: – Kontaktaufnahme zwischen den definierten Leitungspersonen der verschiedenen Anbieter, – Verteilung der Aufgaben, Schwerpunkte und Betreuungsorte, – Akzeptanz einer übergeordneten Führung, – Absprachen über die optimale Passung zwischen Fachrichtung und zu betreuender Person, – Gemeinsame Übergaben, – Kompatible Dokumentation der Betreuungen. – Gemeinsame Auswertung des Einsatzes. Ein letztes Wort zu der Diskussion um die Frage, wer „darf “ mit welchen Aufgaben betreut tätig werden. Ein Miteinander der verschiedenen Anbieter ohne Ausgrenzung und Abwertung bei gleichzeitiger Akzeptanz der unterschiedlichen Voraussetzung, käme zum einen den betroffenen und betreuten Menschen zu Gute, zum anderen aber sicher auch den Anbietern selbst. Dabei ist es sinnvoll und unverzichtbar, dass sich ehrenamtlich tätige Einsatzkräfte in der Versorgung von akut traumatisierten Menschen betätigen. Eine qualitativ hochwertige Ausbildung, die in regelmäßigen Abständen aufgefrischt und hinsichtlich ihrer Anwendung von

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erfahrenen Fachkräften geleitet und supervidiert wird, muss dabei aber unverzichtbarer Bestandteil ehrenamtlicher Systeme sein. Gerade dann wenn sie sich nicht nur bei alltagsnahem Ereignissen, sondern auch in komplexen Schadenslagen und Katastrophen betätigen, denn diese unterliegen einer anderen Dynamik die ein mehr an psychotraumatologischer, systemischer und klinischer Erfahrung und Handlungskompetenz benötigen. Ebenso ist es sinnvoll und unverzichtbar, dass sich beruflich ausgebildetes Fachpersonal in der Versorgung von akut traumatisierten Menschen betätigt. Da deren Kompetenz in der Regel nicht das Wissen um die spezifischen Bedingungen des Einsatzwesens umfasst, ist ein profundes Wissen um generelle Einsatzabläufe, die Strukturen der jeweiligen Organisation sowie die spezifischen Führungsstrukturen notwendige Vorraussetzung für deren Tätigkeit. Gerade wenn es sich um Einsätze bei komplexen Schadenslagen und Katastrophen handelt ist dabei die Einordnung in bestehende Einsatzstrukturen und auch die Unterordnung in gegebene Führungsstrukturen unbedingt einzuhalten.

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Kapitel 3

Organisation komplexer Einsätze Martin Alfare

3.1. Definitionen Einsatzarten In den bisher erschienenen Publikationen zu Einsätzen und Organisation von Einsatz-Einheiten wird immer wieder versucht, ein Schema für die Größe von Einsätzen zu finden, oder es wird ganz vereinfacht und oberflächlich von Katastrophen gesprochen. Die Autoren bemängeln unisono ein einheitliches Vokabular für die Begriffe Katastrophe, Krise, Großschadenslage und verwenden oft die aussagekräftigeren englischen Begriffe. Wir wollen daher an den Anfang unserer Überlegungen das von uns verwendete Schema stellen, um Irritationen beim Lesen der dann folgenden Ausführungen zu vermeiden. 3.1.1. Allgemeines Im Gegensatz zu den alltagsnahen Ereignissen, die nicht Gegenstand dieses Werkes sind, kommt der Struktur und Zusammenarbeit, aber auch der Aufgabenteilung und dem Wissen über die Kenntnisse und Fähigkeiten des jeweiligen Anderen, bei der Bearbeitung von komplexen Schadenslagen eine besondere Bedeutung zu. Während PSNV1-MitarbeiterInnen oder -Teams in alltagsnahen Ereignissen meist zu zweit ihre Arbeit aufnehmen und zeitversetzt zu den anderen Einsatzorganisationen tätig werden, kommen diese Teams bei größeren Ereignissen oft früher und in größeren Zahlen, oft direkt am Schadensplatz während der Abwicklung der medizinischen Rettung, zum Einsatz. Einsatzkräfte der Feuerwehren, Rettungsdienste oder Technisches Hilfswerk sind in Europa nicht nur beruflich organisiert. Es gibt gerade in Deutschland, Ös1

PSNV bedeutet Psycho-Soziale-Notfallsversorgung und wird im weiteren Verlauf des Kapitels mit PSNV abgekürzt. In den jeweiligen Ländern gibt es für PSNV unterschiedliche Bezeichnungen: AkutBetreuung (AB), Notfallseelsorge (NFS), KrisenInterventionsTeam (KIT), Groupe de Support Psychologique der Protection Civile (Psychologischer Dienst des Zivilschutzes-GSP).

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Martin Alfare

terreich und Südtirol eine große Anzahl an freiwilligen, ehrenamtlichen MitarbeiterInnen aus den verschiedensten Quellberufen und unterschiedlichsten Ausbildungen, ohne die ein flächendeckendes System der Hilfs- und Rettungsdienste nicht mehr vorstellbar ist. Sie absolvieren für ihre Tätigkeit neben technischen Ausbildungen (Grundausbildung Brandbekämpfung, Technische Hilfeleistung, Sanitätshilfe, ...) auch Führungsausbildungen, bei denen die Strukturen der jeweiligen Organisation, das Führen von Gruppen, Zügen und größeren Einheiten, sowie die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen (oft aber erst auf einer sehr hohen Stufe zB Seminare für höhere Führungskräfte oder Offiziersausbildungen) gelernt wird. Die dort gelernten und trainierten Strukturen haben sich bewährt und werden immer wieder verfeinert, erweitert und in Teilbereichen auch den wachsenden Bedürfnissen angepasst. Gerade für die ehrenamtlichen Einsatzkräfte sind diese klaren Strukturen sehr hilfreich, bieten sie doch einen gewissen Hintergrund und Sicherheit gerade im ersten allgegenwärtigen Chaos am Anfang eines Einsatzgeschehens. Die Qualität einer Einsatzleitung wird jedenfalls auch dadurch messbar, wie lange – respektive kurz – diese Chaos-Phase beim Ereignis gedauert hat, natürlich jeweils in Abhängigkeit von der Schwere und Komplexität des Ereignisses. Genau diese eigentlich Sicherheit bietenden Strukturen sind es aber, die für Außenstehende, nicht mit der Materie der Einsatzführung befassten Fachleute aus anderen Gebieten, oft hinderlich sind und Schwierigkeiten verursachen können. Es soll daher versucht werden, eine einfache und verständliche Interpretation darzustellen um vor allem jenen an der PSNV-Interessierten einen Überblick zu gestatten, welche nicht ohnehin in andere Einsatzorganisationen eingebunden sind. Wichtig erscheint auch der Hinweis, dass alle Gesetze und geltenden Richtlinien jeweils auf Länderebene ihre Gültigkeit haben, sich im Aufbau natürlich sehr ähnlich sind, aber sich in einigen Punkten und vor allem in vielen Bezeichnungen nicht unwesentlich unterscheiden können. Eine vollständige Aufzählung der geltenden gesetzlichen Regelungen über die Zuständigkeiten und Zusammensetzung der Einsatzleitungen würde den Rahmen sprengen, die zitierten Stellen sollen plakative Beispiele darstellen und zum Nachlesen und Vergleichen der eigenen Regelungen Anlass sein. 3.1.2. Katastrophen – catastrophies Wie bereits eingangs erwähnt, ist der Begriff der Katastrophe in den verschiedenen länderspezifischen Gesetzen oft sehr unterschiedlich definiert. Eine sehr umfassende Ausführung findet sich in einem Arbeitspapier des Staatlichen Katastrophenmanagements in Österreich:

Organisation komplexer Einsätze

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„Katastrophe: Ein Ereignis, bei dem Leben oder Gesundheit einer Vielzahl von Menschen, die Umwelt oder bedeutende Sachwerte in ungewöhnlichem Ausmaß gefährdet oder geschädigt werden und die Abwehr oder Bekämpfung der Gefahr oder des Schadens einen koordinierten Einsatz der dafür notwendigen personellen oder materiellen Ressourcen erfordert.“2

Dabei wird nicht nur auf das außergewöhnliche Ausmaß des Ereignisses, sondern auch auf die notwendigen Maßnahmen und den besonderen Koordinationsaufwand hingewiesen, der in der Regel auch den Einsatz mehrerer Organisationen und überörtliche Strukturen beinhaltet. Nicht als Katastrophe bezeichnet wird jede kriegerische Auseinandersetzung.

3.1.3. Der Großunfall – major disaster Der Begriff des Großunfalls kommt mehrfach in den Ausbildungsrichtlinien und Einsatz-Anweisungen einzelner Hilfs- und Rettungsorganisationen vor. So steht beim Roten Kreuz zu lesen : „Ein Großunfall liegt vor, wenn anzunehmen ist, dass das Ereignis mit den örtlichen personellen und materiellen Kräften und Mitteln nicht bewältigt werden kann, aber keine erklärte Katastrophensituation vorliegt.“3

Ein solchermaßen definierter Großunfall kann also auch dann vorliegen, wenn anfänglich nur eine einzige Organisation vor Ort ist und deren lokal verfügbare Mittel und Kapazitäten die Bewältigung und Abwicklung des Ereignisses nicht ermöglichen: Rettungsfahrzeuge der Nachbarbereitschaft werden zur Unterstützung angefordert. Die Gesamteinsatzleitung ist in diesem Fall schwerpunktmäßig vor Ort zu finden und ist gemäß den landesüblichen Gepflogenheiten gekennzeichnet.

3.1.4. Komplexe Schadensereignisse – complex emergencies Zwischen der amtlich ausgerufenen Katastrophe und dem Großunfall (oder einer Großschadenslage) hat sich aber in den letzten Jahren der Begriff der komplexen 2

3

Bußjäger P (2003) Katastrophenprävention und Katastrophenbekämpfung, S 1, zitiert nach einem Arbeitspapier des Staatlichen Katastrophenmanagements vom 27.3.2001. Österreichisches Rotes Kreuz, Rahmenvorschrift „Großunfälle“ idF vom 31.5.2002 S 2.

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Schadensereignisse etabliert. Eine Definition findet sich im Wiener Katastrophenhilfe- und Krisenmanagementgesetz aus dem Jahre 2003: „Als komplexes Schadensereignis im Sinne dieses Gesetzes ist jedes bereits eingetretene oder noch bevorstehende Ereignis zu verstehen, das – ungeachtet seines Ausmaßes – zu seiner Bewältigung einer erhöhten Koordination der Einsatzkräfte bedarf.“4

Dabei kommt der erhöhte Aufwand an Koordination der Einsatzkräfte zum Ausdruck, auch wenn eine außergewöhnlich hohe Anzahl an getöteten, verletzten oder gefährdeten Personen noch nicht vorliegen muss. Eine Einsatzleitung wird in diesen Fällen meist in einen technischen und einen behördlichen Zuständigkeitsbereich getrennt. Während sich die technische Einsatzleitung meist vor Ort im Schadensgebiet befindet, handelt eine behördliche Einsatzleitung zurückgezogen und unterstützend. In dieser behördlichen Einsatzleitung werden vorwiegend organisationsübergreifende Belange, juristische Aspekte, Maßnahmen für Wiederaufbau und längerfristige Aufgabenbereiche beraten und veranlasst.

3.1.5. Komplexität eines psychosozialen Einsatzes Beim Einsatz von PSNV-Teams wird die Komplexität auch von anderen Faktoren bestimmt. Hier stehen Kriterien wie wie viele Teams müssen eingesetzt werden, an wie viele verschiedenen Orten finden Betreuungen statt, sind viele Schnittstellen zu anderen Organisationen zu bedienen, wie lange dauert der Einsatz, kommt es zu gegenläufigen Interessen innerhalb des Familiensystems, werden familiäre oder gesellschaftliche Tabus berührt, liegen körperliche oder psychische Vorerkrankungen der zu Betreuenden vor, handelt es sich um „offene Ereignisse“: anhaltende Suchaktionen, Schiffsuntergang ohne derzeitige Möglichkeit für Bergung, Flugzeugabsturz im Meer. im Vordergrund. So ist es leicht denkbar, dass ein für die übrigen Einsatzkräfte als alltagsnahes Ereignis eingestufter vermutlicher Suizid zum komplexen psychosozialen Einsatz werden kann, wie folgendes Beispiel zeigt: – – – – – – – –

4

LGBL 60/2003, Maßnahmen zur Bewältigung von Katastrophen, Großschadensereignissen und komplexen Schadensereignissen sowie die Einrichtung eines Krisenmanagements (Wiener Katastrophenhilfe- und Krisenmanagementgesetz – W-KKG)

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Der Rettungsdienst wird zu einem vermuteten Suizid gerufen. Beim Eintreffen wird ein männlicher Patient im Schlafzimmer stranguliert aufgefunden, eine Reanimation wird aufgrund der sicheren Todeszeichen nicht mehr durchgeführt. Die Ehefrau hatte den Mann bei der Rückkehr von der Arbeit am Abend aufgefunden, nachdem sie bereits morgens das Haus verlassen hatte. Für die Betreuung der Ehefrau wird ein PSNV-Team verständigt, das kurze Zeit später mit dem Amtsarzt eintrifft, welcher die Totenschau durchführt. Der Rettungsdienst wird zu einem anderen Einsatz gerufen und verlässt den Einsatzort in der Meinung, dass es sich um einen tragischen Suizid handelt. Nun wird durch die Leichenschau klar, dass es sich bei der Todesursache nicht um einen Suizid handelt, sondern vielmehr ein „Unfall“ im Zuge einer ungewöhnlichen sexuellen Praktik vorliegt. Inzwischen sind auch die Kinder aus der Schule und die Tagesmutter eingetroffen. Die Familie wusste nichts von den Vorlieben des Mannes und die Situation wird verschärft, als eine Nachbarin läutet und fragt: „Ist es wahr, dass sich Herr A aufgehängt hat?“. Herr A war Religionslehrer an einer Grundschule und in mehreren Vereinen im Ort engagiert. Plötzlich stehen verschiedene Wahrheiten im Raum. Welche Tatsachen sind für welchen Personenkreis am Besten zu verarbeiten? Wie viel Information soll wer bekommen? Die Mitarbeiter des Rettungsdienstes werden von Familienangehörigen unter Druck gesetzt, dass auf dem Bericht nicht „Suizid“ zu stehen hat, aber auch die Wahrheit sollen sie nicht wissen. Es kommt in der Folge zu Schuldgefühlen bei den Einsatzkräften – Was haben wir falsch gemacht? Welche Bedürfnisse nach Information und Wahrheit haben die Kinder (3 und 5 Jahre), die Ehefrau (Was hat meinem Mann an mir gefehlt?) und die Eltern (Vater, 65 Jahre, Alkoholkranker) des Toten?

3.1.6. Zusammenfassung Die Begriffe Katastrophe, Großschadenslage und komplexes Schadensereignis werden sehr unterschiedlich verwendet, eine Abgrenzung ist oft schwierig. In den bestehenden Hilfs- und Rettungsorganisationen werden die bestehenden Einsatzstrukturen (meist Linienstrukturen mit Stabsstellen) als vorteilhaft bezeichnet und bieten den handelnden Einsatzleitern Sicherheit und Rückhalt für ihre Tätigkeit. Für die Tätigkeit von PSNV-Teams ist es besonders in den hier beschriebenen Ereignissen unumgänglich, diese Strukturen zu kennen, zu akzeptieren und möglichst auch für den eigenen Bereich anzuwenden, um Reibungsverluste und Missverständnisse im Anlassfall zu vermeiden. Durch die oft zeitversetzte und örtlich unterschiedliche Tätigkeit der PSNVTeams ist zu berücksichtigen, dass es sich für den Bereich der Betreuung durchaus um ein komplexes Ereignis handeln kann, wenn andere Organisationen von einem alltagsnahen Ereignis („normaler Unfall“) ausgehen. Es soll daher vor allem bei der Kommunikation unterschieden werden, ob die Dimension des Ereignisses als sol-

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ches oder der Einsatz der jeweiligen Organisation beschrieben wird. Ganz besonders der Begriff der Katastrophe wird dabei nur allzu oft inflationär verwendet. Für die Aufbau- und Ablauforganisation im Großschadens- oder Katastrophenfall muss außerdem auch die Tatsache der Örtlichkeit besonders beachtet werden. Es macht nun mal einen Unterschied, ob die PSNV-Mitarbeiter im gewohnten Umfeld, also vor Ort mit bekannten Einsatzorganisationen zusammen arbeiten, oder ob es sich um einen Einsatz handelt, der in einem Land stattfindet, in dem Zuständigkeiten anders verteilt sind, die PSNV insgesamt einen anderen Stellenwert hat, oder gar kulturelle und sprachliche Besonderheiten der bereits im Einsatz befindlichen Organisationen zu beachten sind.

3.2. Einsatz – Organisation Etwas näher beschäftigen wollen wir uns mit den Aufgaben und deren Verteilung in der Einsatzleitung.

3.2.1. Einsatzleitung Der Einsatzleiter trägt die Gesamtverantwortung für den Einsatz, führt selbst keine Einheiten oder Hilfsdienste und kann jederzeit an Ort und Stelle Einzelanordnungen treffen. Er ist dabei an keinen festen Ort gebunden. Sobald jedoch mehrere verschiedene Organisationen am selben Schadensplatz oder im selben Ereignis auch an verschiedenen Plätzen tätig werden, sind die landesgesetzlichen Regelungen bezüglich Unterstellungsverhältnisse und Assistenzleistungen, sowie Führungsstruktur zu berücksichtigen. So sieht zB das Rettungsgesetz im Bundesland Vorarlberg (Österreich) vor: „Erfordert eine Rettungsmaßnahme die Mithilfe der Feuerwehr, so ist der Rettungsdienst bzw die anerkannte Rettungsorganisation berechtigt, die Mitwirkung der Ortsfeuerwehr der Gemeinde im unbedingt notwendigen Ausmaß in Anspruch zu nehmen. Für die Dauer der Assistenzleistung unterstehen die angeforderten Feuerwehren den Weisungen des am Einsatzort anwesenden obersten Vorgesetzten des Rettungsdienstes oder der anerkannten Rettungsorganisation. Dieses Weisungsrecht umfasst jedoch nicht Anordnungen über die Art und Weise der Durchführung einer bestimmten technischen Maßnahme.“5

5

LGBL 56/1990 Vorarlberger Rettungsgesetz §12

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In diesen Fällen hat sich bisher immer die Bildung einer Einsatzleitung aus den Vertretern der beteiligten Organisationen bewährt, die auch gleichzeitig die Verbindung zu den eigenen Kräften darstellen. Auch hier soll der Grundsatz, dass ein Leiter nur 5 (+/– 1) Mitarbeiter führen kann, berücksichtigt werden, es sind nötigenfalls Unterstrukturen zu schaffen. Dabei wird gemeinsam beraten, jede Organisation bringt ihre Angebote und Bedürfnisse vor und regelt die eigenen Aufgaben meist autonom. 3.2.2. Einsatzstab Vor allem bei Einsätzen, die sich über einen längeren Zeitraum (mehrere Tage) hinziehen oder die mehrere Einsatzstellen (oft sogar mehrere Orte) betreffen, ist die Koordination durch einen Einsatzleiter alleine nicht machbar. Dafür hat sich bei allen Hilfs- und Rettungsorganisationen das Modell der Arbeit in Stäben (Sachgebieten) etabliert. Darunter versteht man eine – organisatorisch zusammengefasste Gruppe von Personen – zur Beratung und Unterstützung des Einsatzleiters bei der Durchführung von Führungsaufgaben, – mit klaren, zum Teil eigenverantwortlichen Aufgabenzuteilungen Ein solcher Stab gliedert sich wie folgt: (a) Chef des Stabes Koordiniert die Aufträge im Stab und ist der Stellvertreter des Einsatzleiters (b) Führungsstab Besteht aus den verschiedenen Sachgebieten wie S1 Personalwesen (Ablösen, ...) S2 Lageführung (Lagekarte, eingesetzte Ressourcen, ...) S3 Einsatzführung (Aufträge, Reserven, ...) S4 Versorgung (Treibstoffe, Verpflegung, Transporte, ...) S5 Öffentlichkeitsarbeit (Pressebetreuung, Informationsblätter, ...) S6 Kommunikation (Verbindungen, EDV, Funk, Telefon, ...), wobei nicht zwingend jede Funktion von einer eigenen Person besorgt werden muss. Im Roten Kreuz hat sich bereits das Sachgebiet S7 (Ganzheitliche Betreuung) etabliert. In den anderen Organisationen in Österreich ist dieses Sachgebiet jedoch nicht evident. (c) Fachgruppe Vertreter der beteiligten und betroffenen Hilfs- und Rettungsorganisationen

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Infrastrukturunternehmen, Sachverständige, Medizinischer Dienst, Ganzheitliche Betreuung. Ob nun ein eigenes Sachgebiet eingerichtet wird oder ein Vertreter der psychosozialen Betreuung in der Fachgruppe die Kompetenz für diesen Bereich vertritt, wird einerseits vom Einsatzgeschehen selbst, der Bekanntheit und Etablierung der psychosozialen Einrichtungen in der betroffenen Region und andererseits sicher auch von den Kenntnissen der Führungskräfte der psychosozialen Teams abhängen.

3.2.3. Ausbildung PSNV Die Ausbildung im Bereich der Psychosozialen Notfall-Versorgung muss demnach von zwei Seiten gesehen werden. So geht es einmal um die Ausbildung der Mitarbeiter der PSNV-Teams in Bezug auf Führungsstrukturen und Führungsverfahren, sodass sowohl die eigenen Teams im Einsatz professionell geführt werden können, als auch der gesamte Bereich der Betreuung in bestehende Führungsstrukturen integriert werden kann. Hilfreich dafür ist der Besuch von einschlägigen Lehrgängen und Ausbildungsveranstaltungen bei Hilfs- und Rettungsorganisationen. Die PSNV-Führungskräfte werden sich dadurch in den bestehenden Strukturen besser zurecht finden und sich bereits bei anderen Organisationen bewährte Prinzipien und Handlungsanweisungen aneignen, die auch unter schwierigen Einsatzbedingungen als hilfreich empfunden werden. Dieser Bereich der Ausbildung ist im Verantwortungsbereich der PSNV-Organisationen angesiedelt. Genauso wichtig und notwendig ist aber eine Schulung über die Auswirkungen von Stress, die Entstehung von Belastungsstörungen und deren Prävention und die Vermittlung des wissenschaftlichen Standes der Forschung im Bereich der Psychotraumatologie für die Führungskräfte anderer Einsatzorganisationen und behördlichen Einsatzleiter. Nur wenn die Notwendigkeit der psychosozialen Betreuung von Betroffenen und Einsatzkräften auch in den Köpfen der Einsatzleiter als ein wichtiges Bedürfnis den richtigen Stellenwert hat, werden Stabsfunktionen oder Fachgruppen-Mitglieder rechtzeitig aktiviert und deren Arbeit auch zugelassen. Sehr positiv wirken sich gemeinsame Tätigkeiten bei alltagsnahen Ereignissen aus. So wird etwa die Polizei sehr gerne auf die bereits bekannten Mitarbeiter von PSNV-Teams zurückgreifen, welche die Beamten schon aus den gemeinsamen Einsätzen bei der Überbringung von Todesnachrichten kennen.

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3.3. Regelkreis des Einsatzmanagements Wie das gesamte Katastrophenmanagement6 als ein sich ständig wiederholender Regelkreis beschrieben wird, finden sich die einzelnen Phasen auch im Bereich der Psychosozialen Notfall-Versorgung wieder.

3.3.1. Vorsorge/Vorbeugung Als präventive Maßnahmen für Einsatzkräfte ist nicht nur die Ausbildung und Einrichtung von Peer-Systemen anzusehen, sondern auch die Integration der Themen Stress und Belastungsstörungen in die Grundausbildungen der verschiedenen Einsatzorganisationen wie Rettungsdienst, Feuerwehr, THW und Polizei. Wer Symptome kennt, sich deren Ursache erklären kann und auch weiß, welche Möglichkeiten zur Entspannung und Regenerierung vorhanden sind, wird besser damit umgehen können und ist weniger gefährdet, tatsächlich zu erkranken. Als Beispiel darf hier die Ausbildung der Zivildienst-Leistenden im Rettungsdienst angeführt werden. In einem Seminarteil werden die Rettungsdienst-Mitarbeiter mit Praxisbeispielen an die Thematik herangeführt, Symptome besprochen und Möglichkeiten der Bearbeitung und Entspannung angeboten. Für jene Fälle, in denen externe Hilfe notwendig ist, werden die Wege der Anforderung dargestellt und die Arbeit der PSNV-Mitarbeiter mit Angehörigen vorgestellt.

3.3.2. Einsatzvorbereitung Neben einer fundierten, praxisbezogenen Ausbildung sind auch die Rahmenbedingungen und die Ausrüstung für einen erfolgreichen Einsatz der PSNV-Teams zu organisieren bzw bereit zu halten. Seit nunmehr 5 Jahren besteht in Österreich eine Plattform – Krisenintervention/Akutbetreuung. Vertreter dreier Bundesländer (Steiermark, Vorarlberg und Wien), das Rote Kreuz sowie die Notfallseelsorge (weitere Einrichtungen sind bereits vorgemerkt) haben sich verpflichtet, gemeinsam entwickelte Kriterien der Auswahl, Ausbildung und Organisation einzuhalten und tragen so zu einer intensiven Vernetzung bestehender Einrichtungen bei. Die in den verschiedenen Organisationen vorhandenen Ausbildungsgrundlagen wurden in einem Leitfaden für Psychosoziale Akutbetreuung zusammengefasst und angeglichen. Alle Mitarbeiter von PSNV-Organisationen, welche sich dieser Plattform angeschlossen haben, sind nach einheitlichen Kriterien ausgesucht und ausgebildet worden. Die Rahmenbedingungen (Ehrenamt, hauptberuflich, frei6

Carter WN (1991) Disaster management: a disaster manager’s handbook. Manila: Asian Development Bank.

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willig, ...) sind regional verschieden, wie es auch die Träger der entsprechenden Einrichtungen sind. In Großschadenslagen und komplexen Schadensereignissen haben sich Teams sehr bewährt, die auch bei alltagsnahen Ereignissen eingesetzt werden und deren interne Strukturen an jene von Einsatzorganisationen angelehnt sind. Dazu sind auch Einsatzübungen mit Hilfs- und Rettungsorganisationen dienlich, wenngleich auf die verschiedenen Bedürfnisse (vor allem was die Zeit der Übungen betrifft) der unterschiedlichen Teilnehmer Rücksicht genommen werden muss.

3.3.3. Einsatzdurchführung Bereits für die Alarmierung sind entsprechende Vorkehrungen zu treffen. In bestehenden Einsatzstrukturen hat sich das Tragen von Pagern, die auch für die alltagsnahen Ereignisse verwendet werden, gut bewährt. Die Sicherheit der Alarmierung bei Verwendung von SMS über Mobiltelefone ist nicht immer gewährleistet. Beim letzten Hochwasserereignis in Vorarlberg war beispielsweise das gesamte Mobilfunknetz eines Betreibers mehr als 12 Stunden unterbrochen. Der Auswahl der Mitarbeiter für einen komplexen Einsatz ist besonderes Augenmerk zu schenken. Fragen wie – findet der Einsatz in gewohnter Umgebung oder im Ausland statt? – welche Sprachkenntnisse für den Informationsaustausch mit den lokalen Behörden sind notwendig? – welche besondere Betroffenen-Gruppen sind zu erwarten? – werden primär traumatisierte Personen und/oder Einsatzkräfte erwartet? – wird seelsorglicher Beistand, spirituelle und rituelle Kompetenz erwartet? stehen im Vordergrund. Eine allgemeine Einsatzerfahrung, körperliche Gesundheit und ausgezeichnete Teamfähigkeit sind Grundvoraussetzungen. Im Einsatz selbst müssen sich die eingesetzten Teams oder Mitarbeiter auf eine klare Führungsstruktur auch in der PSNV verlassen können. Dazu gehören verlässliche Ansprechpartner für die Koordination zwischen den Teams, für den Austausch von Informationen oder die Organisation von Ablösen. Diese Führungskräfte sind selbst nicht aktiv in Betreuungsprozesse eingebunden. Ihre einzige Aufgabe ist die Sicherstellung der Unterstützung in allen fachlichen und organisatorischen Anfragen der Teams, die direkt mit den Betroffenen arbeiten, allenfalls die Herstellung von Verbindungen mit anderen Organisationen und die Öffentlichkeitsarbeit in Absprache mit der Gesamteinsatzleitung.

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3.3.4. Einsatznachsorge/Auswertung Dass für die Psychohygiene der eingesetzten Mannschaft eine Supervision angeboten wird, gilt als selbstverständliches Qualitätsmerkmal. Dieses Angebot ist aber unbedingt unter der Prämisse einer freiwilligen, unverbindlichen Teilnahme zu machen. Von „Zwangsdebriefings“7 wie sie teilweise nach dem Einsatz von Hilfsmannschaften, welche aus Thailand nach der Tsunami-Katastrophe zurückgekehrt sind, an Flughäfen stattgefunden haben, ist dringend abzuraten, da sie die individuellen und differenzierten Bewältigungsmechanismen zu wenig berücksichtigen. Für die Planung und Vorbereitung von weiteren Einsätzen wird aber die Reflexion des Einsatzes mit den beteiligten Mitarbeitern empfohlen. Dies kann durch strukturierte Interviews oder Fragebögen möglichst zeitnah am Ereignis selbst erfolgen. Die gewonnenen Erkenntnisse sollten dabei möglichst allen Beteiligten in geraffter Form zugänglich gemacht werden und insbesondere dort, wo es sich um Verbesserungsmaßnahmen handelt, auch zur Überarbeitung von Einsatzplänen und Unterlagen führen. Ein Beispiel eines Fragebogens8 für die Mitarbeiter in einem Call-Center nach der Tsunami-Katastrophe (für die eingesetzten PSNV-Mitarbeiter ein komplexes Schadensereignis): 1. Gibt es Rückmeldungen von Anrufern zu unserer Arbeit? 2. Ergeben sich daraus von Seiten der Betroffenen Änderungsvorschläge für zukünftige Einsätze? 3. Wie war die Arbeit innerhalb des Teams im Bezug auf (a) Klarheit der Aufgaben/Aufträge (b) Informationen zu den Aufgaben (c) zeitliche/körperliche/emotionale Belastung (d) Rahmenbedingungen (e) personelle Zusammensetzung? 7

8

Bei der Rückkehr von SAR-Einheiten (Such- und Bergeteams) aus Thailand wurden die gesamten Teams bei ihrer Landung nach 12-stündiger Flugzeit noch am Flughafen in einen Raum geführt, und dort ein Debriefing nach CISM-Standard (Mitchell) durchgeführt. Zum einen waren diese Personen überhaupt nicht mit entsprechenden Szenen konfrontiert worden, weil sie nur am ausländischen Flughafen ohne Transportmittel festsaßen und gar nicht eingesetzt werden konnten, und zum anderen wurden hier die individuellen Bedürfnisse der an sich erfahrenen Einsatzkräfte in keiner Weise berücksichtigt. So ist es doch verständlich, dass diese Personen lieber ein warmes Bad und ein gutes Essen mit ihren Angehörigen gehabt hätten, als krampfhaft 7 Phasen einer Intervention durchleben zu müssen, welche sie zu dieser Zeit für sehr entbehrlich hielten. Fragebogen für KIT-Mitarbeiter bei der Tsunami-Katastrophe im Call-Center in Vorarlberg 2005.

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4. Wie war die Zusammenarbeit mit der KIT-Einsatzleitung? 5. Gibt es auch Rückmeldungen von Außenstehenden (nicht Anrufern) über unsere Arbeit? 6. Sonstige Anregungen 7. Zusammenfassung des Einsatzes in einem kurzen Statement

3.4. Zusammenarbeit mit anderen Organisationen In den vergangenen 10 Jahren ist eine Vielzahl von Einrichtungen und Initiativen entstanden, die sich mit der psychosozialen Betreuung von Menschen in Krisensituationen beschäftigen. In manchen Regionen bestehen sogar ähnliche Einrichtungen nebeneinander, die von verschiedenen Trägern finanziert und zum Teil auch alarmiert werden. Durch die Erstellung eines Leitfadens für die Ausbildung, den Aufbau und den Betrieb einer psychosozialen Akutbetreuung und Krisenintervention ist es in Österreich gelungen, Standards zu definieren, auf deren Grundlage eine Zusammenarbeit verschiedenster Einrichtungen in diesem Bereich erlaubt und gleichzeitig auch eine gute Abgrenzung zu Nachbetreuung und Therapie oder psychiatrischer Behandlung sicherstellt.

3.4.1. Ausbildung Bereits in der Ausbildung der Mitarbeiter von PSNV-Teams ist darauf Wert zu legen, Referenten von Einrichtungen, mit denen später zusammen gearbeitet wird, einzubinden. So beinhaltet der Rahmenplan auch Kapitel über Katastrophen-Management, andere Einsatzorganisationen und Alarmierungseinrichtungen. Dabei lernen die neuen PSNV-Teams Vertreter dieser Einrichtungen kennen und können über diese auch ihre Anliegen und Wünsche transportieren. Die Einbindung von PSNV-Teams in Einsatzübungen ist ein anderer sehr beachtenswerter Ansatz. Damit dies aber nicht zu Frustration und Enttäuschung führt, ist sicherzustellen, dass bei der Übungsvorbereitung (Übungsleitung) auch ein PSNV-Mitarbeiter in die Planung mit eingebunden wird, der die speziellen Anforderungen an Darsteller und Bedürfnisse der PSNV-Mitarbeiter kennt. Das verhindert, dass eine groß angelegte Einsatzübung, die medienwirksam angekündigt und durchgeführt, just in dem Augenblick, in dem die PSNV-Mitarbeiter ihre Aufgaben übernehmen sollen, beendet wird. Ebenso realitätsfremd sind jene Darsteller, die ihre Rolle als „aufgeregte Person“ oder „schockierte Person“ zur Darstellung ihrer schauspielerischen Fähigkeiten missbrauchen und regelrechte Verfolgungsjagden inszenieren.

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Gute Erfahrungen wurden mit PSNV-Mitarbeitern gemacht, welche sich als Darsteller für solche Übungen angeboten haben, und dort in ihren Rollen den Einsatzkräften ein realistischen Gegenüber waren.

3.4.2. Alltagsnahe Ereignisse Neben den eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Akut-Intervention bei alltagsnahen Ereignissen ist die Zusammenarbeit vor Ort mit anderen Einrichtungen unumgänglich. Meist werden PSNV-Teams von Mitarbeitern des Rettungsdienstes, anderer Hilfs- und Rettungsorganisationen oder der Polizei verständigt. Somit ist eine Schulung für die betreffenden Mitarbeiter bezüglich der Indikationen und Symptome unabdingbar, um Fehleinsätze zu minimieren, oder aber zu verhindern, dass bei einem entsprechenden Bedarf keine PSNV-Kräfte nachalarmiert werden. Im Einsatz selbst treffen die PSNV-Mitarbeiter mit Beamten der Kriminalabteilung und Spurensicherung, den Bestattern, Stadtärzten, Ambulanten Familiendiensten, Jugendwohlfahrtsbehörden, Priestern, ... zusammen. Ein regelmäßiger Austausch der Erfahrungen mit diesen Einrichtungen ist Basis für eine gute Zusammenarbeit. Das Kennen lernen von regionalen Einrichtungen wie Krankenhäuser, Leichenkapellen, Krematorien, Polizeidienststellen geschieht meist während der Einsätze bei alltagsnahen Ereignissen, könnte aber auch ein Teil der Ausbildung sein.

3.4.3. Komplexe Schadenslagen Neben allen Einrichtungen, mit denen Kooperationen auch in alltagsnahen Ereignissen ohnehin notwendig sind und gepflegt werden, kann bei komplexen Schadenslagen sehr rasch der Ruf nach Zusammenarbeit mit PSNV-Mitarbeitern anderer Einrichtungen, anderer Regionen, oder anderer Berufsstände, ja sogar nach Internationaler Zusammenarbeit laut werden. Bei bekannten Großereignissen wie Lassing, Galtür, Kaprun oder Flugzeugunfällen tauchten plötzlich Helfer mit allen möglichen und unmöglichen Aufträgen auf. Hier gilt es, die Übersicht zu bewahren, klare Strukturen auch in der PSNV zu definieren und einzuhalten. Spezialisten, Teams aus anderen Regionen oder Einrichtungen haben sich der definierten Einsatzleitung unterzuordnen und klare Aufträge zu erfüllen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Problematik von Sekten hingewiesen, deren Mitglieder sich im Getummel einer Vielzahl von verschiedenen Einrichtungen nicht ungern am Schadens- oder Betreuungsplatz aufhalten, und ihre „Begleitung“ anbieten. Eine klare Kennzeichnung der PSNV-Mitarbeiter (Ausweis) und aller zur Mithilfe eingeladener Partner (zB durch temporäre Ausweise) und

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eine kompromissloser Schutz der Betroffenen vor außenstehenden Personen hat sich als zweckmäßig erwiesen.

3.5. Struktur Welche Strukturen sind nun notwendig, um psychosoziale komplexe Ereignisse, oder den psychosozialen Aspekt in komplexen Schadenslagen oder Katastrophen zu bewältigen? An den Anfang der Betrachtungen soll die Feststellung, dass der gesamte Aspekt der organisierten Betreuung in psychosozialen Bereich erst in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, und dies nicht zuletzt aufgrund der raschen und weltweiten Berichterstattung der Medien im Katastrophenfall. Die Bilder und Inhalte der Interviews haben bei den verantwortlichen Leitern der verschiedenen Behörden die Augen, Ohren und Herzen für die Anliegen der Fachleute geöffnet und so konnten in den letzten Jahren in nahezu allen europäischen Ländern Einrichtungen der PSNV entstehen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich organisiert und strukturiert sind. Wir möchten hier versuchen, positive Erfahrungen der Strukturen darzustellen um dem Leser die Möglichkeit zu geben, die eigenen Gegebenheiten zu überprüfen.

3.5.1. Einsatzführung PSNV Bereits vor den eigentlichen Einsätzen hat es sich bewährt, mit den Führungskräften anderer Organisation in ständigem Austausch zu stehen. Dazu zählen nicht nur die persönliche Bekanntschaft, wie sie bei diversen gesellschaftlichen Anlässen gepflegt werden, sondern ganz besonders gemeinsame Ausbildungen. Stellvertretend für viele gelungene Umsetzungen soll hier eine integrierte Führungskräfteausbildung angeführt werden, bei der Kräfte der verschiedenen Organisationen und Behörden gemeinsam ihre Kenntnisse über die jeweiligen Organisationen austauschen, sich in die Thematik der Führung in Katastrophensituation und komplexen Schadenslagen einlassen und zum Abschluss gemeinsame Planspiele und Stabsrahmenübungen abhalten. Bei diesen Anlässen können die Aspekte der PSNV allen beteiligten Organisationen hautnah demonstriert und aufgezeigt werden, welche Dynamik sich bei Unterschätzung der emotionalen Situation der Betroffenen entwickeln kann. Dass im Rahmen solcher Ausbildungen auch Kommunikationswege und -mittel, Fragen der Dokumentation, der Lageführung, Alarmierungswege und -mittel, usw besprochen werden, fördert das Verständnis von PSNV-Führungskräfte für die Gesamteinsatzleitung einerseits und bietet aber auch die Möglichkeiten, dort erworbenes Wissen im eigenen Bereich umzusetzen.

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Alarmierung Für die effiziente und sichere Alarmierung des benötigten Personals haben sich die Pager-Systeme der Einsatzorganisationen bestens bewährt und werden vielfach auch von PSNV-Einrichtungen verwendet. Über eine Leitstelle können so binnen weniger Augenblicke eine beliebige Anzahl an Mitarbeitern informiert werden. Voraussetzung ist jedoch, dass die entsprechenden Endgeräte auch tatsächlich immer einsatzbereit mitgenommen werden. Für die Motivation diese Geräte zu tragen ist es unbedingt notwendig, dass diese auch regelmäßig gebraucht werden – zB bei alltagsnahen Ereignissen ebenfalls über diesen Weg alarmiert wird. Sehr gut akzeptiert wird das eigene Handy, wenngleich hierzu anzumerken ist, dass leider die Sicherheit der Alarmierung via SMS nicht gegeben ist und es nachweislich zu Ausfällen und Verzögerungen kommen kann. Ausrüstung Im Einsatzfall muss jeder Mitarbeiter über einen möglichst fälschungssicheren Ausweis, eine deutliche äußere Kennzeichnung (Jacke, Überwurf) und eine Grundausstattung an Material (zB Rucksack mit Notfallmappe, Hygienematerial, ...) verfügen und die Kommunikationsmittel (Handy, Funkgerät, PC, ...) sollen verfügbar und einsatzbereit sein. Die Ausweise sollen unbedingt mit einem Foto versehen sein und möglichst ein Datum der Gültigkeit aufweisen. Transportmittel Während es bei alltagsnahen Ereignissen oft möglich ist, mit dem privaten PKW an den Einsatzort zu gelangen, ist dies aufgrund von gesperrten oder verstopften Straßen bei großen Schadenslagen kaum möglich. Dadurch sind entweder eigene Einsatzfahrzeuge für PSNV-Teams notwendig oder, und dies hat sich bewährt, es werden Abkommen mit anderen Einsatzorganisationen getroffen, in denen der Transport von PSNV-Mitarbeitern geregelt wird. Zweckmäßig ist es hier, dass Organisationen, die im betreffenden Einsatz nicht ihre gesamten Ressourcen benötigen, Mannschaftstransportfahrzeuge inkl. Fahrer zur Verfügung stellen. Einsatzleitung Die gesamte Koordination aller PSNV-Einrichtungen soll einerseits durch den im EU-Policypaper genannten PM (Psychosozialen Manager) in der Behördlichen Einsatzleitung aber auch vor Ort in der TEL (technischen Einsatzleitung) durch Füh-

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rungskräfte erfolgen. Diese sind speziell in Führungsmethodik und Taktik auszubilden und führen selbst keine Betreuungen durch. Ihre Aufgabe lässt sich wie folgt beschreiben: – – – – – – – – – – – –

Koordination der eingesetzten Teams, der Austausch von Informationen mit der Gesamteinsatzleitung, Bildung von Personalreserven und Nachalarmierung, Dokumentation und Lageführung, Ausarbeiten und Organisation von Merkblättern, Informationen, Austausch mit anderen PSNV-Organisationen, Einbinden von bestehenden Angeboten (Psychologen, Therapeuten, Seelsorger, Beratungsstellen, ...), Öffentlichkeitsarbeit für den PSNV-Bereich in Absprache mit der Gesamtleitung, Sicherstellung der Versorgung der eigenen Mitarbeiter, Organisation der Versorgung für Betroffene, laufende Reflexion des Bedarfs und Angebotes an psychosozialer Betreuung, Beratung der Einsatzleitung in psychosozialen Fragen.

3.5.2. Schnittstellen Besonders während eines in den Medien sehr präsenten Einsatzes wird es eine Vielzahl an Hilfsangeboten auch für den PSNV-Bereich geben. Hier hat die Einsatzleitung zu entscheiden, welche Angebote zweckmäßig und brauchbar sind und welche abgelehnt werden müssen. Für die Entscheidung ist das Wissen um Methoden, Ausbildung und Organisation der möglichen Partner enorm wichtig. In Österreich sind viele in der PSNV organisierte Einrichtungen in einer Plattform zusammengefasst, die einheitliche Auswahl- und Ausbildungsleitlinien erstellt haben. Dies erleichtert die Einschätzung der Arbeitsweise enorm. Aber auch an den Grenzen der PSNV ergeben sich Schnittstellen, die vor dem eigentlichen Ereignis geklärt werden sollen: wo können psychiatrische Fälle übernommen werden? wo sind Seelsorger anderer Konfessionen erreichbar? wie sind Dolmetscher erreichbar? wie sind niedergelassene Psychiater, Psychologen, Therapeuten organisiert einzubinden? – welche Aufgaben können Seelsorger übernehmen? – – – –

An all diesen Schnittstellen ist darauf zu achten, dass möglichst bereits in sich organisierte Einrichtungen eingebunden werden, da erfahrungsgemäß das Angebot von „Einzelkämpfern“ zwar sehr gut gemeint, aber kaum zu koordinieren ist.

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3.5.3. Öffentlichkeitsarbeit Der Umgang mit Medien ist gerade im Bereich der PSNV ein sehr sensibles Thema, geht es doch in viele Fällen um persönliche Daten („wer ist denn der Verstorbene?“) und auch sehr intime Angelegenheiten. Gerade von diversen Bildberichterstattern werden immer wieder Fotos und Filmmaterial veröffentlicht, die bei den Betroffenen oft Ärger, Zorn, Wut und das Bedürfnis nach Anzeigen auslösen. Doch dies ist nur die eine Seite. Auf der anderen Seite steht nämlich „die Gesellschaft“, also wir alle, ob wir nun in PSNV-Einrichtungen oder anderen Hilfs- und Rettungsorganisationen tätig sind, oder zur Zivilbevölkerung gehören, mit unserem Drang nach Information, manchmal auch fast als Neugierde zu bezeichnen. Dieses Bedürfnis weg zu diskutieren wird nicht gelingen, es ist gegenwärtig und die Medien sind jene Einrichtungen, die die bei uns vorhandenen Bedürfnisse abdecken. Dass hier oft der Boden der Realität verlassen und Grenzen überschritten werden, ist leider eine Tatsache, auf die es im Umgang mit den Medien zu achten gilt. Jene Führungskräfte, die Medienvertreter immer noch als Wölfe im Schafspelz sehen, jede Aussage kategorisch ablehnen und die Fotografen, mit dem Hinweis auf einen offensichtlich nicht vorhandenen Gefahrenbereich des Platzes verweisen, sind für die heutige Auffassung von Öffentlichkeitsarbeit völlig ungeeignet. „Wenn wir von jemandem etwas erwarten – und sei es nur eine faire Haltung –, müssen wir uns von Feindbildern lösen. Statt Gegner brauchen wir PARTNER.“9

Besonders mit den bekannten, regionalen Medienvertretern ist es möglich, eine gute Partnerschaft zu leben, wie die Erfahrungen im Bundesland Vorarlberg zeigen. Dort werden Medienvertreter direkt von der Rettungs- und Feuerwehrleitstelle zu definierten Ereignissen verständigt. Es bleibt dabei ihnen selbst überlassen, ob sie vor Ort gehen, oder sich die Informationen telefonisch einholen. Die Ansprechpartner der Einsatzorganisationen vor Ort wissen, welche Medienvertreter zu erwarten sind und bereiten ihrerseits Informationen auf. Von Seiten der Journalisten wird auf die zeitliche Verfügbarkeit der Einsatzkräfte Rücksicht genommen. Dieses Zusammenspiel bewährt sich auch dann, wenn Einsatzorganisationen ihrerseits Informationen verbreiten wollen. Natürlich sind einige Spielregeln einzuhalten: – Bei Großschadenslagen oder komplexen Ereignissen ist die Öffentlichkeitsarbeit stets mit der Gesamteinsatzleitung abzusprechen. Alleingänge sind absolut tabu. – Für die gesamte PSNV spricht ein Beauftragter, die einzelnen Mitarbeiter verweisen ausschließlich auf diese zentrale Auskunftsstelle. 9

Fetscherin A (1999) Keine Angst vor den Medien, S 15.

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– Betreute Personen sind vor der direkten Befragung und Abbildung durch Medienvertreter zu schützen und nur mit deren ausdrücklicher Zustimmung wird ein Kontakt hergestellt. – Die Verschwiegenheit bezieht sich auf alle persönlichen Gegebenheiten der Betroffenen, versuchen Sie daher, möglichst allgemein gültige Aussagen („Betroffene in dieser Situation reagieren oft/meist ...“) zu kommunizieren. Aus vielen Großereignissen ist bekannt, dass es auch Medienvertreter gibt, die sich an gar keine Regeln halten und auf oft unvorstellbare Weise versuchen, an Bilder oder Interviews zu kommen. So wird von Fotografen berichtet, die Einsatzkräften unbeschreibliche Summen geboten haben, um ihre Uniform für 1 Stunde ausleihen zu dürfen, um so an den Absperrungen vorbei gelangen zu können. Gleiches wird auch von Betroffenen erzählt, dass sich Leute zunächst als „Psychologen“ vorgestellt hätten und dann aber mit Notizblock und Bleistift Informationen gesammelt hätten, die dann am nächsten Tag in verschiedenen Zeitungen nachzulesen waren. Besser hat sich das aktive Zugehen auf Medien bewährt. Wenn an einem zentralen Ort aktiv konkrete und richtige Informationen angeboten werden, dann sind die Medienvertreter nicht gezwungen, diese benötigten Informationen direkt an der Front zu besorgen. Eine regelmäßige Medieninformation, die dem derzeitigen Wissensstand entspricht und die Ankündigung der jeweils nächsten Zusammenkunft, ist hier als positives Beispiel anzuführen. Werden bei den verschiedenen Veranstaltungen noch die einzelnen Führungskräfte der Einsatzorganisationen abwechslungsweise für weitere Fragen angeboten, so kann von einer professionellen Abwicklung gesprochen werden. Ähnlich verhält es sich auch mit den Bildberichterstattern. Es hat sich als bewährt, die Presse zu festgelegten Zeitpunkten an die Schadenslagen heranzuführen, damit sich diese einen Einblick in das Geschehen machen können. Wenn dies unter Aufsicht und Absprache mit den vor Ort eingesetzten Einsatzkräften geschieht, kann dafür Sorge getroffen werden, dass sich keine Betroffenen in diesem Bereich aufhalten und auch Tote würdig zugedeckt und verwahrt sind.10 3.5.4. Exkurs: Call-Center Meldungen von Großschadenslagen, komplexen Schadensereignissen oder gar Katastrophen werden heute durch die Medien in wenigen Minuten auf der ganzen Welt verbreitet. Ein enormer Informationsbedarf von möglicherweise Betroffener, von Angehörigen und Freunden wird innerhalb von wenigen Stunden auf die einsatzleitenden Organisationen und Behörden zukommen. Große Flughäfen, Landes10

Hüls E, Oestern H-J (Hrsg) Die Katastrophe von Eschede – Erfahrungen und Lehren. Celle 1999.

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polizeidienststellen, Katastrophenschutzeinrichtungen und ähnliche Organisationen haben sich daher mit der Thematik von Auskunftsstellen unter ganz besonderen Prämissen befasst und Lösungen erarbeitet, die bereits bei einigen Großereignissen europa- und weltweit bestens funktioniert haben. Teilweise werden dabei auch vorhandene Infrastruktur und Personal verwendet, die tagsüber im Normalfall für Auskunftsdienste von großen Konzernen, von Tourismusgesellschaften uä verwendet werden. Anhand eines Beispieles, wie es organisatorisch am Flughafen München umgesetzt ist, wollen wir einige Schwerpunkte aufzeigen. Anzumerken ist, dass die verwendete Software (Datenbank) als Grundlage für viele in anderen Einrichtungen verwendete Dienste verwendet wurde und daher ein problemloser Datenaustausch mit befugten Einrichtungen, zumindest technisch realisiert ist. So wurden Daten im Rahmen der Tsunami-Katastrophe in Südost-Asien über vermisste Personen in verschiedenen Ländern sowohl von der Polizei als auch von Katastrophenschutzeinrichtungen über nationale Grenzen hinweg per Internet ausgetauscht. Vorbereitung Die entsprechende Infrastruktur, bestehend aus Kommunikationseinrichtungen, EDV-Ausstattung, Sozialräume, Sicherheitseinrichtungen, usw sollte vorsorglich ausgewählt, und möglichst rasch aktiviert werden können. Hier gibt es Modelle, wo ganze Räume fertig eingerichtet zur Verfügung stehen und quasi auf Knopfdruck begonnen werden kann, sobald die ersten Mitarbeiter eintreffen. Andere Einrichtungen bedienen sich der vorhandenen und im täglichen Gebrauch stehender Infrastruktur, die im Einsatzfall zunächst abgeschirmt, durch zusätzliches Personal verstärkt und von „Normalbetrieb“ auf „Einsatz“ umgestellt werden muss. Das benötigte Personal ist jedenfalls sorgfältig auszuwählen und regelmäßig in Übungen (wenn nicht im Tagesbetrieb mit der Software gearbeitet wird) zu schulen. Auf einer Checkliste wird zweckmäßiger weise alles angeführt, das für die einberufenen Personen im Einsatzfall wichtig ist. Dies umfasst neben eigenen Telefonnummern für Mitarbeiter, die Möglichkeiten bezüglich Anfahrt/Transfer zum Call-Center, Abläufe für die Bereitschaftsmeldung, Inbetriebnahme der Hard- und Software, Hinweise für das Verhalten am Telefon, Besonderheiten im Umgang mit belasteten Angehörigen, ... . Ausstattung im Call-Center Alle Telefonarbeitsplätze sind mit Kopfhörer und vernetzten Personal-Computer ausgestattet. Die Arbeitsplätze selbst sind in Gruppen zu maximal 8 Plätzen im

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Kreis um eine zentrale Ablage angeordnet (das Karussell). Daneben befinden sich noch abgesetzte Arbeitsplätze für – Programmbetreuer, – fremdsprachenkundige Mitarbeiter, – PSNV-Mitarbeiter für emotional besonders schwierige Gespräche, – Vertreter der Polizei, – Vertreter von Fluggesellschaften, Firmen, ... Durch die Internet-Fähigkeit der Software können zusätzliche Arbeitsplätze auch an dezentralen Orten eingerichtet werden. An den Karussells werden einerseits Anruferdaten aufgenommen, und andererseits Daten zu betroffenen Personen erfasst und aktualisiert. Durch den Abgleich der verschiedenen Datenquellen kommt es zu „Treffern“, wenn über eine gesuchte Person auch von anderen Quellen Daten vorhanden sind. Dabei kann es sich dann um entlastende Tatsachen (Person war zwar involviert, aber jetzt in Sicherheit) oder um belastende Informationen (Person ist verletzt und im Krankenhaus XY, oder gar als tot identifiziert) handeln. Gerade in der Anfangsphase werden zu vielen Personen keine, oder nur noch nicht überprüfte und sichere Erkenntnisse vorliegen, wodurch die Beauskunftung zu gesuchten Personen oft noch nicht erfolgen kann. Die Arbeit im Call-Center Die Arbeit am Karussell (Anordnung der Telefon-Arbeitsplätze für die Entgegennahme von Anrufen) im Einsatzfall unterscheidet sich ganz wesentlich von der täglichen Auskunft über Straßenzustände, Zimmerbelegungen, ... Wir haben es hier mit besorgten, ihre Angehörigen in Lebensgefahr vermutenden, möglicherweise traumatisierten Personen in einer Ausnahmesituation zu tun und müssen darauf entsprechend reagieren. In den Schulungsunterlagen für die Arbeit im Call-Center sind genaue Anweisungen für strukturierte Gespräche und für das Ausfüllen der verschiedenen Masken auf dem Bildschirm festgehalten. Wichtig erscheint der Hinweis, auf den vorgesehenen Karussell-Manager, der für die Mitarbeiter für sämtliche Fragen und Abklärungen zur Verfügung steht und auch dafür zu sorgen hat, dass entsprechende Pausen und Ablösen eingehalten werden. Für besonders schwierige Gespräche (Fremdsprachen, emotionale Belastung, psychisch vorerkrankte Anrufer, ...) sollte ein eigener Arbeitsplatz mit besonders ausgebildetem PSNV-Personal möglichst etwas abseits zur Verfügung stehen. Die verschiedenen Datenquellen, aus welchen dann die Auskünfte erteilt werden können sind: – Anrufer, die ein Person suchen und zu dieser auch Angaben machen können,

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die Daten der Anrufer selbst, Passagierlisten, Unterlagen von Fluggesellschaften, Anwesenheitslisten bei, Veranstaltungen, Klassenaufzeichnungen in Schulen, ..., Personendaten von der Einsatzleitung des Rettungsdienstes, Polizeiliche Ermittlungsdaten, Ergebnisse von Zeugenbefragungen, verschiedene Listen im Internet (zB beim Einsatz nach dem Tsunami 2004).

Durch den Einsatz von speziell geschultem Personal ist sicher zu stellen, dass die verschiedenen Datenquellen verwendet und abgeglichen werden und sich somit ein aktueller Datenbestand an den Auskunftsplätzen befindet. Durch die Verwendung einer Internet-Plattform kann die Erfassung und der Abgleich der Daten dezentral und nahezu überall auf der Welt erfolgen, was jedoch gerade im Bereich des Datenschutzes und der Sicherheit enorme organisatorische Anforderungen ergibt. Einige Anregungen für das Verhalten am Telefon:11 – Prüfen Sie alle erhaltenen Informationen, zB Schreibweise von Namen und Adressen. – Immer buchstabieren lassen. – Erfragen Sie die Beziehung des Anrufers zur gesuchten Person (Verwandter, Bekannter, Arbeitgeber, usw). – Familien reisen nicht immer unter demselben Zunamen. Erfragen Sie ihn zu jeder Person. – Geben Sie am Telefon keine schlechten Nachrichten weiter. – Erspüren Sie während jedes Anrufes die seelische Verfassung ihres Gesprächspartners. Wenn Sie glauben, Hinweise auf eine mögliche Suizidgefahr bei ihrem Gesprächspartner erkannt zu haben, verständigen Sie sofort den Karussellmanager. – Wenn Sie irgendwelche Probleme oder Zweifel damit haben, was Sie dem Anrufer sagen können oder dürfen, fragen Sie den Karussellmanager, er wird Ihnen helfen. – Es ist besser, einen Anrufer zum Warten aufzufordern, um ihm die richtige Information zu erteilen, als ihn falsch zu informieren. – Immer die neuesten Informationen bereithalten. – Nur sachliche Informationen weitergeben. – Dem Anrufer zuhören, ihn reden lassen und seine Gefühlslage erkennen. – Keine zu langen Pausen entstehen lassen, dann selber Initiative ergreifen. – Offene, aber auch gezielte Fragen zur Informationsgewinnung stellen. – Dem Anrufer Sicherheit geben und ihm sagen, was Sie tun können und was nicht. – Den Anrufer unter Kontrolle halten und beruhigen, da er aufgeregt, verwirrt, verärgert sein oder unter Schock stehen könnte. – Ruhig und geduldig bleiben. 11

Schulungsunterlage GAST/EPIC Polizeidirektion Flughafen München. München 2002, S 10.

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Nach dem Einsatz Wie jeder andere Einsatz im psychosozialen Bereich kann auch die Arbeit im CallCenter emotionale Eindrücke hinterlassen. Gerade durch das Fehlen eines visuellen Kontaktes und die Möglichkeit, dass der Anrufer jederzeit das Gespräch durch Auflegen des Telefonhörers einseitig beenden kann, wird die Arbeit am Karussell oft als sehr belastend empfunden. Es ist daher sicher zu stellen, dass für Mitarbeiter kompetente Ansprechpartner zur Verfügung stehen, die das eben Erlebte zunächst direkt nach Abschluss des Einsatzes (beim Schichtwechsel) und bei Bedarf auch nach einer gewissen Zeit reflektieren können. 3.5.5. Exkurs: Betreuungszentrum Bei Anfall einer großen Anzahl an möglicherweise betreuungsbedürftigen Personen ist eine Einzelbetreuung, wie sie bei alltagsnahen Ereignissen oder auch in komplexen Situationen indiziert ist, nicht mehr möglich. Ein krasses Missverhältnis zwischen dem möglichen Angebot und den vorhanden Ressourcen einerseits und den Bedürftigen andererseits definieren diese Situation. Hier ist es angezeigt, die Betreuung noch klarer zu strukturieren, pro aktiv anzubieten und der Information einen sehr hohen Stellenwert einzuräumen. Die Betreuung selbst muss dabei nicht zwangsläufig an einem Ort stattfinden, es ist durchaus erwünscht, die verschiedenen Bedürfnisse auch an den entsprechenden Orten abzudecken, jedoch muss in diesem Fall eine zentrale Koordination und Information bestehen.

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Mögliche Struktur eines Betreuungszentrums Wie eingangs erwähnt, sollen die verschiedenen Bedürfnisse auch die Struktur definieren. Einmal ist mit einer großen Anzahl unverletzt überlebender Personen zu rechnen, die möglicherweise Unterstützung im psychosozialen Bereich, zB Klärung des Heimtransportes, Benachrichtigung von Verwandten, Auffinden von Gepäcksstücken, ... benötigen. Des Weiteren ist, je nach Ort des Ereignisses, auch relativ bald mit dem Eintreffen von besorgten Angehörigen von Verletzten oder gar getöteten Personen zu rechnen. In diesem Bereich geht es auch um Identifizierung und Verabschiedung, um Organisation und Begleitung, das Ermöglichen von Ritualen, usw. Bei einem Großereignis ist mit dem Einsatz einer großen Zahl an Einsatzkräften zu rechnen, welche auch abgelöst und verpflegt werden müssen. Dies wird meist durch die Einsatzorganisation selbst organisiert. Für die Einschätzung der möglichen Belastungen der Einsatzkräfte ist es vorteilhaft, an diesen Stellen auch Mitarbeiter des PSNV mit spezieller Ausbildung für Einsatzkräfte bereit zu stellen, um als Ansprechperson möglichst zeitnah zur Verfügung zu sein und das Angebot entsprechend den tatsächlichen Bedürfnissen anzupassen. Als vierte Komponente sollte das Betreuungszentrum auch die zentrale Auskunftsstelle darstellen (vgl Kapitel „Call-Center“), auf dessen Aufgaben nicht mehr näher eingegangen wird. Durch die Art des Ereignisses wird vorgegeben, ob alle Teile des Betreuungszentrums notwendig sind, ob sie an einem Ort in verschiedenen Räumen oder an ganz verschiedenen Einsatzorten eingerichtet werden. Bei Einsätzen nach Flugzeugunfällen hat es sich auch als zweckmäßig erwiesen, ein zentrales Betreuungszentrum mit allen Teilen am Flughafen selbst einzurichten, eine weitere Auskunfts- und Informationsstelle (als Satellit) am Unglücksort selbst und eine weitere Informationsstelle in den nahegelegenen Krankenhäusern. Bei allen auch unterschiedlichen Organisationsformen soll der Gesamteinsatz des Betreuungszentrums vom Psychosozialen Manager (dem Gesamteinsatzleiter für den psychosozialen Dienst) geleitet werden, der nötigenfalls Leiter für die verschiedenen Einsatzorte einteilt.

Betreuung für unverletzt Beteiligte Diese Stelle muss eine Art „sicheren Raum“ darstellen, aber doch möglichst nahe am Ereignis selbst eingerichtet werden, um aufwändige Transporte (Kapazität!) zu

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vermeiden. Auf eine sichere Abschirmung gegenüber den Medien ist an dieser Stelle ganz besonders zu achten. Unmittelbar nach dem Ereignis können die Betroffenen ein breites Spektrum an Bedürfnissen praktischer, medizinischer, sozialer, emotionaler und psychologischer Art entwickeln. Fragen nach dem Verbleib von Angehörigen oder Bekannten, die Zusammenführung von Familien, Verpflegung, Kleidung, Hygiene und Sicherheit sind nur ein Auszug der Erfahrungen nach Flugzeugunfällen mit überlebenden Personen. Eine Registrierung der anwesenden Personen ist an einer zentralen Stelle durchzuführen und der Informationszentrale weiterzuleiten. Ein Screening zwecks Identifizierung von Menschen, die möglicherweise psychologische Störungen entwickeln können, sofern dies in der Akutphase bereits zu erkennen ist, bildet eine zentrale Aufgabe bei dieser Personengruppe. Erfahrungen haben aber auch aufgezeigt, dass sich viele der Beteiligten bereits vor einer Registrierung vom Ort des Geschehens entfernen. Die Information, wo entsprechende Unterstützung bei Auftreten von psychischen Störungen in der nächsten Zeit angeboten wird, sollte sich daher nicht nur auf die Personen im Zentrum selbst beschränken, sondern über die Medien auch die bereits vom Unglücksort entfernten Personen erreichen.

Betreuung von Angehörigen Eine große Herausforderung für die PSNV-Mitarbeiter stellt die Betreuung von Gruppen dar. Allein die Bildung von Untergruppen erfordert eine rasche Auffassungsgabe, da diese Art der Einsätze recht selten vorkommt und vor allem in der Anfangsphase doch viele Unklarheiten und oft auch widersprüchliche Informationen die Lage bestimmen. Ein wichtiges Kriterium sollte jedenfalls sein, dass Angehörige von bereits verstorbenen Personen andere Bedürfnisse haben und eine andere Form der Betreuung benötigen, als jene, die noch nichts über den Verbleib ihrer gesuchten Beteiligten wissen. Bei den noch hoffenden Personen steht die aktuelle und sicher abgeklärte Information über den Stand der Rettungsaktionen und Evakuierungen in Krankenhäuser im Vordergrund. Die PSNV-Mitarbeiter in diesem Bereich müssen aber auch ständig die aktuellsten Pressemeldungen mitverfolgen und nötigenfalls abklären, wenn es hier zu widersprüchlichen Aussagen kommt. Nicht selten haben Medienvertreter eigene Recherchen durchgeführt und berichten bereits über Todesopfer, die es gar nicht gibt, weil die Auskunftspersonen nicht zuverlässig waren oder es zu Verwechslungen gekommen ist.

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Die Mitarbeiter in diesem Bereich tun gut daran, alle Anwesenden in regelmäßigen Abständen mit den neuesten Informationen zu versorgen und dazwischen für individuelle Fragen zur Verfügung zu stehen. Der Platzbedarf ist sehr unterschiedlich, sollte aber jedenfalls auch Rückzugsmöglichkeiten für kleinere Gruppen bieten und doch auch für Informationen an alle geeignet sein. Erfahrungen aus stattgefundenen Einsätzen haben gezeigt, dass die Identifikation der Zutrittsberechtigten und deren Registrierung von großem Vorteil sind. Von dieser Stelle aus sind auch Besichtigungen der eigentlichen Einsatzstelle für die Angehörigen zu organisieren. Zu diesem Zeitpunkt müssen unbedingt alle Rettungsarbeiten abgeschlossen sein und eventuelle Bergearbeiten eingestellt werden. Vorteilhaft ist es, wenn die Einsatzkräfte sich für diese Zeit überhaupt aus dem Einsatzgebiet zurückziehen können, um unnötige Konfrontationen mit den Emotionen der Angehörigen zu vermeiden.

Angebot für Einsatzkräfte Von Einsatzkräften werden beispielsweise folgende Einsatzarten als besonders belastend bezeichnet: – Katastrophen, die lange Zeit andauern und eine große Zahl an Verletzten und Toten fordern, – Großereignisse mit toten oder schwerverletzten Kindern, – Tod oder schwere Verletzung von Einsatzkräften, – Unfälle und Einsätze auf die die Einsatzkräfte nicht vorbereitet waren, – schwere Fehler im Einsatz, – Fehlen von Anerkennung und Wertschätzung, negative Kritik von Betroffenen selbst. Für die PSNV-Mitarbeiter sind die Kenntnisse über Verhalten und Arbeitsweise der Einsatzkräfte eine nicht zu unterschätzende Grundlage ihres Handelns. Dazu gehört auch das Wissen, dass eine direkte Ansprache von Einsatzkräften während des Einsatzes nicht angebracht ist. Erfahrungsberichte aus Einsätzen zeigen, dass es am ehesten möglich ist, mit den Einsatzkräften bei der Stelle der Verpflegung bei den Ablösen in Kontakt zu treten, die Präsenz zu zeigen, und dabei Bedürfnisse von Einzelnen oder Gruppen zu erspüren. Das Angebot von Interventionen soll dann an geeigneten Orten und zur richtigen Zeit gemacht werden, eine verpflichtende Teilnahme an „Zwangs-Debriefings“ ist jedenfalls abzulehnen und keinesfalls zielführend.

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3.6. Zusammenfassung In diesem Kapitel wurde versucht, die organisatorischen Voraussetzungen, Zusammenhänge und Abläufe bei Großunfällen, komplexen Schadensereignissen und Katastrophen im Bereich der PSNV darzustellen. Ein Großteil der Darstellungen bezieht sich auf praktische Erfahrungen mehrerer Arbeitsgruppen, die ständig im Austausch untereinander stehen und dabei die so unabdingbare Reflexion unter Fachleuten ermöglichen. Die verschiedenen Organisationen der PSNV sind aufgerufen, sich untereinander zu vernetzen, gegenseitigen Austausch zu pflegen und bestehende Grenzen der Zuständigkeiten zu respektieren, insbesondere dann, wenn Bedürfnisse erkannt werden, die in den Zuständigkeitsbereich von bestimmten Berufsgruppen wie Ärzten, Therapeuten oder Seelsorgern fallen, und diesen alleine vorbehalten sind. In den letzten Jahren ist gerade im deutschsprachigen Raum diesbezüglich vieles geschehen. Die Vernetzung der Einrichtungen auf regionaler Ebene, aber auch Bundes- oder sogar zwischenstaatlichen Ebenen (zB ein gemeinsames Internationales Betreuungszentrum für deutschsprachige Angehörige in Phuket nach der Tsunami-Katastrophe 2004) trägt erste Früchte. Die Verantwortlichen in den PSNVOrganisationen haben die Notwendigkeiten erkannt und ermöglichen so eine gute Entwicklung der Thematik auf fachlicher Ebene. Wo es noch Handlungsbedarf gibt, ist die Ebene Katastrophenschutz-Leitungen und Führung in den Einsatzorganisationen. Während die übrigen Hilfs- und Rettungsdienstorganisationen auf jahrzehntelange Erfahrungen verweisen können und die auch sehr unterschiedlich organisierten Feuerwehren oder Rettungsdienste von allen übergeordneten Dienststellen in ihrer Notwendigkeit außer Frage stehen, ist der doch noch sehr junge Bereich der PSNV noch nicht allgegenwärtig. Leider kommt es auch bei gut funktionierenden und organisierten Einheiten immer noch vor, dass deren Vertreter bei Besprechungen nicht eingeladen, im Anlassfall erst in letzter Sekunde alarmiert, oder gar ganz übersehen werden. In Regionen, in denen bereits komplexe Ereignisse stattgefunden haben, sich andere Einsatzkräfte oder Behörden vielleicht sogar schon überfordert gefühlt haben, geschieht dies wesentlich seltener. Nun wäre es leicht, einfach zu warten, bis jeder Gesamt-Einsatzleiter einmal selbst, wenn möglich noch durch eine persönliche Betroffenheit in Kontakt mit der PSNV kommt. Zielführender wird es aber sein, die Erkenntnisse aus Einsätzen und Übungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und daraus resultierende Anregungen auf breiter Basis mit bestehenden Einsatzorganisationen und übergeordneten Behördenvertretern zu diskutieren und entsprechende Strukturen zu schaffen, um im Ernstfall eine bestmögliche Effizient zu gewährleisten.

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Es gibt noch viel zu tun, ... Das vorliegende Werk stellt Anregungen und Erfahrungen der Verfasser zur Verfügung.

Literatur Bußjäger P (2003) Katastrophenprävention und Katastrophenbekämpfung, zitiert nach einem Arbeitspapier des Staatlichen Katastrophenmanagements vom 27.3.2001 Carter WN (1991) Disaster management: a disaster manager’s handbook. Manila: Asian Development Bank Fetscherin A (1999) Keine Angst vor den Medien. Zürich Hüls E, Oestern H-J (Hrsg) Die Katastrophe von Eschede – Erfahrungen und Lehren. Celle 1999 Österreichisches Rotes Kreuz, Rahmenvorschrift „Großunfälle“ idF vom 31.5.2002 Polizeidirektion Flughafen München, Schulungsunterlage GAST/EPIC. München 2002 Vorarlberger Landesgesetz, LGBL 56/1990 Vorarlberger Rettungsgesetz §12 Wiener Landesgesetz, LGBL 60/2003, Maßnahmen zur Bewältigung von Katastrophen, Großschadensereignissen und komplexen Schadensereignissen sowie die Einrichtung eines Krisenmanagements (Wiener Katastrophenhilfe- und Krisenmanagementgesetz – W-KKG)

Kapitel 4

Die peritraumatische Intervention in Großschadenslagen Andreas Müller-Cyran

4.1. Einleitung Trotzdem jede Großschadenslage ihre spezifischen Bedingungen und Variablen hat und es zum Wesen einer Katastrophe gehört, das in Teilen oder Aspekten „Undenkbares“ oder „Unvorstellbares“ geschieht, sind Abstraktionen dennoch möglich. Abstraktionen sind nötig, weil ohne sie keine Lehren für die Zukunft gezogen werden können und jede Form von Vorbereitung unmöglich wäre. Die Tendenz, Katastrophen komplett planen zu wollen und damit den Eindruck zu erwecken, sie strukturell „in den Griff zu bekommen“, verkennt ihr destruktives Potential. Katastrophen sind in ihren Ursachen, Verlauf und Auswirkungen immer wieder ganz anders, als erwartet oder „geplant“. Es besteht das Bedürfnis, die Auswirkungen von Katastrophen – wenn schon die Katastrophe selbst nicht zu verhindern ist – möglichst umfassend zu kontrollieren. Die Gesellschaft und die für sie politisch Verantwortlichen haben ein berechtigtes Interesse daran, die bedrohlichen und destruktiven Auswirkungen von Katastrophen „in den Griff “ zu bekommen, sie zu kontrollieren. In diesem Zusammenhang ist es ein Fortschritt, dass in den letzten Jahren zunehmend Konzepte für Katastrophen und Großschadenslagen entstanden sind, die die PSNV berücksichtigen.1 Eine zentrale Differenzierung der PSNV betrifft die Zielgruppen ihres Tätigkeitsfeldes: Einsatzkräfte und Bevölkerung. In diesem Beitrag geht es ausschließlich um die letztgenannte Zielgruppe. Selbstverständlich stellen unübersichtliche und ausgedehnte Schadenslagen eine erhebliche Belastung für die in der Rettung eingesetzten Kräfte dar, wie in einem anderen Kapitel dieses Buches beschrieben. 1

Hier ist vor allem das Engagement des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn hervorzuheben, in dem eigens ein Fachbereich „psychosoziale Notfallversorgung“ eingerichtet wurde.

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Andreas Müller-Cyran

Für die PSNV ist von Bedeutung, dass in jeder Großschadenslage Menschen akut psychisch traumatisiert und damit zu Betroffenen werden, weil sie (1) sich selbst einer lebensgefährlichen Bedrohung ausgesetzt sehen und massiv mit eigener Hilflosigkeit, Erschrecken und Grauen konfrontiert und/oder körperlich verletzt sind (Überlebende), (2) beobachten, wie andere Menschen, eventuell Angehörige, lebensgefährlich bedroht scheinen, schwer verletzt werden oder zu Tode kommen, sie selbst sich aber zu keinem Zeitpunkt durch das Ereignis bedroht fühlen (Augenzeugen), (3) davon (meist über die Medien oder über Mobiltelefone von Augenzeugen) hören, dass Angehörige verletzt, ums Leben gekommen oder vermisst sind (Vermissende). Diese drei Formen von Betroffenheiten (vgl DSM IV: 308.3) treten auch in Mischformen auf: es gibt vermissende und/oder trauernde Überlebende und Augenzeugen. Zur Definition der Großschadenslage gehört, dass dieses Schicksal nicht nur einige wenige bzw eine übersichtliche Zahl von Menschen miteinander teilen, wie dies im alltagsnahen Arbeiten der PSNV üblich ist. Hier geht es um eine (zu Beginn immer) unübersichtlich große und zunächst schwer erfass- und abschätzbare Zahl von Menschen, die in unterschiedlicher Weise von dem Ereignis betroffen sind. Eine unter dem Gesichtspunkt der PSNV „komplexe Schadenslage“ tritt dann auf, wenn das Ereignis für die Kräfte des Rettungsdienstes, der Feuerwehr und des Katastrophenschutzes keine Großschadenslage ist, weil wenig verletzte oder getötete Personen zu beklagen sind, allerdings aufgrund des Ereignisses eine Vielzahl von Betroffenen auftreten und durch Konzepte der PSNV zu versorgen sind. Ein etwa 20 Jahre alter Mann begibt sich morgens an seine Ausbildungsstätte und erschießt dort zwei Kollegen. Anschließend lässt er sich in einem Taxi zu der Schule fahren, die er bis vor einem Jahr besuchte. An diese Schule grenzen unmittelbar drei weitere Schulen an. Er begibt sich in eine Schule, erschießt dort im Sekretariat den Direktor, geht in der Schule umher, verletzt einen Lehrer durch einen Schuss und sprengt sich schließlich mit einer selbst gebauten Bombe in die Luft. Die Polizei braucht mehrere Stunden, bis sie zweifelfrei feststellt, dass nur ein Täter unterwegs und dieser tot ist. In dieser Zeit werden die ca. 2000 Schüler der vier Schulen evakuiert. Eine intensive und schnell einsetzende Medienberichterstattung führe dazu, dass hunderte Eltern sich auf den Weg machten, um ihre Kinder abzuholen. Innerhalb von zwei Stunden entwickelt sich eine Dynamik, die die gesamte Gemeinde betrifft.

Diese Lage wird von der Polizei geführt und erfordert für sie einen bedeutenden Aufwand. Für den Rettungsdienst und die Feuerwehr handelt es sich nicht um eine größere Schadenslage, die üblichen Ressourcen waren zu keinem Zeitpunkt des Ereignisses auch nur annähernd ausgeschöpft. Aus Sicht der PSNV jedoch han-

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delte es sich um einen aufwändigen Einsatz: es wurden die Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrern betreut und Eltern mussten empfangen und informiert werden, die Eltern mit ihren Kindern zusammen geführt werden. In der Betreuung stellt sich heraus, dass einzelne Schülerinnen und Schüler sowie einzelne Angehörige des Lehrerkollegiums, aber auch weitere nichtpädagogische Angestellte der Schulen (zB Sekretärinnen, Hausmeister, Verkäuferin eines Brotzeitstandes) psychisch erheblich belastet sind. Das Gesamt aller Formen von Auswirkungen und Betroffenheit kann und braucht die PSNV nicht bearbeiten. Da die Ressourcen räumlich und zeitlich nahe am Ereignis immer begrenzt sind, müssen Prioritäten festgelegt werden. Betroffene, die aufgrund der Prioritätensetzung zunächst nicht angemessen wahrgenommen werden können, müssen auf die Ressourcen der psychosozialen Regelversorgung (zB niedergelassene Psycho- und Traumatherapeuten, Sozialpsychiatrische Dienste, andere Beratungsstellen) verwiesen werden. Die Kriterien für die Prioritäten der strukturierten PSNV in Katastrophen folgen zwei Achsen: (1) dem zeitlichen Verlauf, dh die Dringlichkeit, mit der Maßnahmen vom PSNVPersonal für bestimmte Zielgruppen ergriffen werden, (2) den Zielgruppen, denen sich PSNV-Personal zuwendet, das sind die unter (1)–(3) aufgezählten Betroffenen. Eine weitere für die PSNV wesentliche Differenzierung betrifft die Frage, ob die Katastrophe vornehmlich oder ausschließlich Menschen betrifft, die in der Region, in der das Ereignis auftritt, ihre Heimat haben (gemeindenah). Beispiele für gemeindenahe Katastrophen sind Unwetter, Flut, Massaker an Schulen (zB in Freising und Erfurt), Einsturz von Gebäuden, die von Bürgern genutzt werden (Einsturz der Eislaufhalle in Bad Reichenhall 2006). Betroffenen stehen andere Ressourcen zur Verfügung und erleben Bedrohungen anders, ob sie in ihrer heimatlichen oder in einer fremden Umgebung exponiert sind. Gemeindeferne Katastrophen können Naturkatastrophen sein, die sich auch auf Urlauber auswirken (zB Tsunami 2004), Attentate oder Unfälle im Transportbereich (Flugzeug, Bahn und Bus). In der fremden Umgebung, Sprache und Kultur äußern Betroffene andere Bedürfnisse in der Betreuung. Eine letzte Unterscheidung, die hier eingeführt wird und für die PSNV in Katastrophen relevant ist, betrifft die polizeiliche versus die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr. In Katastrophen, die zB durch Attentate ausgelöst werden, wirken sich die Arbeitsaufträge der strafverfolgenden Behörden auf die PSNV unmittelbar aus. Wie im alltagsnahen Arbeiten gilt, dass die PSNV grundsätzlich unverzichtbarer integraler Bestandteil der Gesamtheit aller Maßnahmen ist, die für Betroffe-

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ne ergriffen werden. Dies gilt vom ersten Kontakt verletzter und unverletzter Überlebender mit Rettungskräften bis zur weiteren notfallmedizinischen, schließlich definitiven ambulanten oder stationären Versorgung Überlebender oder der Beerdigung der Leichname. Da die angemessene Wahrnehmung der Bedürfnisse betroffener Menschen ein integraler Aspekt der gesamten (Großschadens- bzw Katastrophen-)Lage darstellt, ist es unverzichtbar, dass psychosoziale Kompetenz in allen Entscheidungs- und Leitungsebenen vertreten ist. Aspekte der PSNV müssen ebenso kontinuierlich Berücksichtigung finden in allen polizeilichen Maßnahmen, zB der Zeugenbefragung, Leichensachbearbeitung und Hotline für Vermissende. Das bedeutet, dass alle Einsatzkräfte aus Rettungsdienst, Feuerwehr und Katastrophenschutz wie aus Polizei über Grund- oder Basiskompetenzen der PSNV verfügen. Diese Grundkompetenzen bestehen aus (1) Wissen über Auslöser von Belastungsreaktionen, (2) Wissen über spezifische Auswirkungen von Belastungsreaktionen, (3) Wissen über die Bedürfnisse belasteter Menschen, Handlungskompetenzen im Umgang mit ihnen, (4) Wissen über strukturierte PSNV-Angebote, ihre Erreichbarkeit und Organisationsform in der konkreten Lage, Vernetzung mit PSNV-Angeboten. Langjährige Erfahrung in der Schulung dieser Basiskompetenzen zeigen, dass zwei bis vier Unterrichtseinheiten die genannten Kenntnisse vermitteln können2 und zumindest für eine gewisse Sensibilisierung für das Anliegen sorgen. Die genannten Schulungsinhalte dienen der vertieften Wahrnehmung der psychischen Bedürfnisse Überlebender, Trauernder und Vermissender. Sie können im Rahmen der primären Prävention erweitert werden um Inhalte, die die Ursachen und Auswirkungen spezifischer Belastungen der Einsatzkräfte thematisieren und sekundärpräventive Maßnahmen nennen. In einer Katastrophe werden in einem Behandlungsplatz 8 verletzte, ansprechbare Patienten versorgt und warten auf den Transport in ein Krankenhaus. Keiner der Patienten vermisst einen Angehörigen, die Stimmung ist gefasst und ruhig. Das notfallmedizinische Hilfspersonal, das die Patienten körperlich versorgt, den Patienten bereits persönlich bekannt ist und in gutem Kontakt mit ihnen steht, fordern PSNV an. Es werden keine weiteren Patienten für diesen Behandlungsplatz erwartet. – Aus Sicht der strukturierten PSNV wäre es wünschenswert, wenn das Personal des Behandlungsplatzes – zumal die personellen Ressourcen zur Verfügung stehen und keine weiteren Patienten zur Versorgung erwartet werden – selbst 2

Vgl Müller-Cyran A (1999) Basis-Krisenintervention. Fundierter Umgang mit akut psychisch Traumatisierten. Notfall- und Rettungsmedizin 2: 293–296; Krüsmann M, Müller-Cyran A (2005) Trauma und frühe Interventionen. Möglichkeiten und Grenzen von Krisenintervention und Notfallpsychologie. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta, S 85ff.

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einen beruhigenden, allgemein menschlichen Kontakt zu den von ihnen versorgten Patienten halten kann bzw sich dies zutraut.

In Katastrophen kommen für die PSNV nur und ausschließlich ausgebildete und erfahrene PSNV-Mitarbeiter zum Einsatz. Wer nicht regelmäßig in alltagsnahen Bezügen psychosoziale Akutinterventionen durchführt, stellt keine Ressource für die PSNV in Katastrophen dar. Eine Handlungssicherheit, wie sie nur im alltagsnahen Arbeiten erworben werden kann, ist die Voraussetzung dafür, unter den Bedingungen einer Katastrophe qualifiziert mit betroffenen Menschen umzugehen. Dies wird hier nachdrücklich betont, weil es Bestrebungen und berufsständisch motivierte Interessen zu geben scheint, psychosoziale Fachkräfte in die peritraumatische Intervention bei Katastrophen einzubinden, die keine alltagsnahen Interventionen durchführen. Die Integration und Präsenz der PSNV auf allen Entscheidungsebenen ist die Voraussetzung dafür, dass (1) Menschen mit höherer Betreuungspriorität frühzeitig und verlässlich wahrgenommen werden, (2) inhaltliche Anliegen der PSNV in Entscheidungsprozessen angemessen Berücksichtigung finden, (3) der Einsatz des PSNV-Personals vernetzt bleibt mit anderen Einsatzabschnitten, (4) PSNV-Personal alle für die PSNV relevanten Informationen verlässlich und zeitnah erhält. Das Bewusstsein für den Bedarf einer Integration der PSNV in alle Entscheidungsebenen der polizeilichen wie der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr ist derzeit noch nicht überall ausreichend etabliert. Die Argumentation, die Zahl der Mitarbeiter in Stäben im Interesse ihrer Arbeitsfähigkeit klein und damit übersichtlich zu halten, ist nachvollziehbar. Dieses berechtigte Anliegen steht allerdings in Spannung zu den Erfahrungen aus Katastrophen und Großschadenslagen der letzten 10 Jahre, in denen die PSNV eine bedeutende Rolle spielt. Gelegentlich wurden kurzfristig Ansprechpartner für die PSNV ohne entsprechende Erfahrung und Strukturwissen in der Stabsarbeit mehr oder weniger gut eingebunden. Während die peritraumatische Intervention alltagsnah von immer mehr Mitarbeitern immer verantworteter durchgeführt wird, bleibt die strukturelle Einbindung der PSNV in Großschadenslagen solange unbefriedigend, solange sie nicht konsequent in die Strukturen der Einsatzleitung integriert ist. Der Erfahrung aus der PSNV in Großschadenslagen der letzten Jahre bestätigt, dass dort, wo eine alltagsnah arbeitende Einrichtung der PSNV qualifiziert

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arbeitet, sie selbstverständlich auch in der Großschadenslage die Organisation, Disposition und Leitung für dieses Arbeitsfeld hat und behält. Nur wer die PSNV-Strukturen und Angebotsträger in der Region gründlich kennt, kann sie in der Großschadenslage koordinieren, darüber besteht kein Zweifel. Es zeigt sich jedoch, dass immer wieder Fragen auftauchen, die nicht regional zu klären sind, weil sie sich auf Aspekte beziehen, die eine besondere Expertise im Bereich der PSNV in Großschadenslagen und Katastrophen wie auch der Psychotraumatologie insgesamt benötigen. Das dafür erforderliche Fachwissen haben sich in der zurückliegenden Dekade nur wenige Experten aneignen können. Ihre Erfahrung sollte im Rahmen von Beratungen der regionalen Einsatzleitung zur Verfügung stehen. In Großschadenslagen treten Besonderheiten auf, die durch Rückgriff auf die Erfahrungen aus der alltagsnahen PSNV nicht immer angemessen bearbeitet werden können.

4.2. Alarmierung: Keine PSNV ohne Auftrag Sobald Katastrophen auftreten, berichten kurz nach ihrem Eintritt Medien darüber. Sie sind schneller informiert als Behörden oder andere zuständige Einrichtungen, allerdings werden Inhalte in die Öffentlichkeit getragen, deren Wahrheitsgehalt in der Kürze der Zeit nicht geprüft werden kann. Behörden und andere zuständige Einrichtungen erteilen nur aufgrund einer mehr oder minder gesicherten Faktenlage Arbeitsaufträge und nehmen Alarmierungen vor. Die frühe Berichterstattung hat zur Folge, dass Menschen sich spontan aufgerufen fühlen, angesichts des zu erwartenden oder bereits medial transportierten menschlichen Leides zu helfen. Ausgehend von dem falsch verstandenen Grundsatz „Not kennt kein Gebot“ treffen nach kurzer Zeit am Ereignisort Hilfsangebote ein, deren Qualität und Motivation in der anfänglich verwirrenden Lage kaum zu beurteilen sind. Es liegen Kasuistiken vor, die belegen, dass mehr oder eher minder fachlich qualifizierte Hilfswillige sich auf den Weg machen, einfach weil sie „helfen“ wollen, aufgrund ihrer Qualifikation jedoch nicht in der Lage sind, fachlich verantwortet das zu tun, wozu sie antreten. Bei einer Katastrophe können Leichname der Opfer erst im Lauf der ersten drei Tagen nach Eintritt der Katastrophe geborgen werden. Bis zur Bergung der Leichen werden die vermissenden Angehörigen intensiv und von den Medien und anderen Störungen abgeschirmt betreut. Etwa 24 Stunden nach Eintritt der Katastrophe bemerken PSNV-Mitarbeiter, die die Vermissenden betreuen, dass sie eine neue, ihnen bis dahin unbekannte Kollegin zu haben scheinen. Sie sprechen die Frau, die die Einsatzbekleidung einer Hilfsorganisation trägt, an und stellen fest, dass sie ca. 750 km entfernt wohnt, im Radio von der Katastrophe hörte und sich spontan betroffen und angesprochen fühlte, zu helfen. Von ihrem früheren ehrenamtlichen Engagement bei der Hilfsorganisation verfügte sie über eine Aus-

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stattung. Sie trat die Reise mit dem Zug an, fragte sich vor Ort nach PSNV-Einsatzstellen durch und verschaffte sich schließlich Zutritt zu den Vermissenden. Im Gespräch wirkte sie nach kurzer Zeit deutlich verwirrt und wurde schließlich einem Psychiater übergeben.3

Die Frage, ob und wie sich bestehende überregionale Hilfsangebote in die PSNV-Strukturen vor Ort integrieren lassen, stellt ein wesentliches Qualitätskriterium ihrer Arbeitsweise dar. Besonders im Bereich der psychosozialen Notfallversorgung erweist es sich als kontraproduktiv und schädlich, wenn die Arbeit nicht mit klarem Auftrag, in enger Vernetzung zu relevanten Einrichtungen und ausreichender Dokumentation erfolgt. So wie jeder „irgendwie“ Erste Hilfe bei körperlich verletzten Personen leisten kann, so kann auch jeder „irgendwie“ akut psychisch traumatisierte Menschen betreuen. Der Betroffene erwartet allerdings zu Recht auch in der Großschadenslage, dass die Qualität der Versorgung sich an der Qualität der Versorgung bei alltagsnahen Ereignissen orientiert. Die Erfahrung zeigt, dass die vielfältigen, unübersichtlichen, teilweise penetrant und mit Drohgebärden begleiteten „Angebote“ in der Katastrophe zur „Stressbearbeitung“ selbst zu einem Stressor werden. Diesen und anderen bedauerlichen Tendenzen der PSNV kann nur wirksam begegnet werden, wenn ein Forum vorhanden ist, in dem alle PSNV-Angebotsträger, die in Katastrophen tätig werden, Absprachen in Bezug auf inhaltliche und formale Fragen treffen.4 In einer Katastrophe meldet sich der Mitarbeiter einer Hilfsorganisation beim PSNV-Einsatzleiter und bietet seine Hilfe an: er sei aus großer Entfernung (mehrere hundert Kilometer) mit einem Team aus fünf weiteren Personen angereist und wolle nun tätig werden. Als Auftraggeber nennt er eine Bundesbehörde, die jedoch keine Befugnisse hat, einen Betreuungsauftrag zu erteilen. Eine kurze Rückfrage bei der Behörde bestätigt, dass sie keinen Auftrag erteilt hat. Es zeigt sich, dass den Mitarbeitern der Hilfsorganisation Grundwissen fehlt, sie jedoch mit dem Kamerateam eines privaten Fernsehsenders angereist sind. Sie drohen, dass die Ablehnung ihres Hilfsangebotes in dem Fernsehsender öffentlich verbreitet wird. Ein regionaler Ansprechpartner der Hilfsorganisation bestätigt, dass sie tatsächlich im Auftrag der regionalen Gliederung angereist sind, die Kosten für die Anfahrt wurden vom Fernsehsender übernommen. Diese Gruppe kam nicht zum Einsatz. 3 4

Auch Mitglieder von Sekten verschaffen sich in Katastrophen Zugang zu Betroffenen. In und für Deutschland liegen „Empfehlungen für ein Netzwerk zur bundesweiten Strukturierung und Organisation psychosozialer Notfallversorgung“ vor, in denen Führungsfunktionen und –strukturen für die PSNV in Großschadenslagen beschrieben werden; außerdem werden Landeszentralstellen vorgestellt, die ua als entsprechendes Forum gedacht sind, vgl: Beerlage I, Hering T, Nörenberg L (2004) Entwicklung von Standards und Empfehlungen für ein Netzwerk zur bundesweiten Strukturierung und Organisation psychosozialer Notfallversorgung. http://www.psychosoziale-notfallversorgung.de.

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Sicherheitslage Größere Schadenslagen und Katastrophen im In- und Ausland, bei denen PSNV in den letzten Jahren zum Tragen kam, wurden durch einen Vorgang (zB Explosion, Unfall im Transportbereich, Naturkatastrophe) verursacht, der in einem engen Zeitsegment erfolgte und dann beendet war: Einsatzkräfte mussten mit den Folgen umgehen, der zerstörerische Vorgang als solcher war vorüber. Das Vertrauen, dass von einer Schadensstelle keine unberechenbaren Gefahren ausgehen, ist wesentliche und explizit wenig reflektierte Arbeitsgrundlage aller eingesetzten Kräfte. Bisher gab es keinen konkreten Anlass, diese unreflektierte Grundannahme in Frage zu stellen. Experten, die terroristische Bedrohungslagen einschätzen, machen in den letzten Jahren allerdings zunehmend darauf aufmerksam, dass die Möglichkeit von Anschlägen mit atomaren, biologischen oder chemischen Stoffen besteht. Die Gefahren, die von diesen Stoffen ausgehen, sind sensorisch für den Menschen nicht unmittelbar wahr- und einschätzbar. PSNV-Mitarbeiter stehen in einem direkten Kontakt zu betroffenen, eventuell auch kontaminierten Menschen. Die Konsequenzen, die sich für die PSNV aus der Gefahr von A-, B- oder C-Stoffen ergeben, sind weit reichend, auch wenn kaum Erfahrungswissen dazu vorliegt.5 Grundsätzlich gilt für die psychosoziale Notfallversorgung: sie findet nie in Bereichen statt, die unmittelbar gefährdet sind. Eine Grundregel der peritraumatischen Intervention besagt, dass die traumatische Exposition unterbrochen und Betroffene in eine sichere Umgebung verbracht werden. Wenn das PSNV-Personal wahrnimmt, dass es in einem Umfeld arbeitet, in dem die körperliche Integrität akut bedroht ist, wird es – vor allem, wenn es sich selbst nicht ausreichend schützen kann – mit Verunsicherung reagieren. Die Unsicherheit überträgt sich auf Betroffene. Eine erste psychische Stabilisierung ist unter diesen Umständen kaum möglich. Die Repatriierung überlebender Europäer nach der Flutkatastrophe vom 26.12. 2004 auf Phuket/Thailand erfolgte vom internationalen Flughafen, der unmittelbar am Strand liegt. Der Tsunami traf den Flughafen kaum, es waren einige leichtere Schäden an Bebauungen unmittelbar an dem Ende der Start- und Landebahn wahrnehmbar, das zum Strand hin zeigte. Die Halle, in der sich Verletzte, Überlebende und Einsatzpersonal aufhielten, bevor sie abflogen, lag ungefähr zweihundert Meter entfernt vom Strand. In den Tagen unmittelbar nach dem 26.12. 2004 kam es zu mehreren Tsunami-Warnungen, während sich in der Halle Hunderte von Menschen aufhielten. Die Halle wurde von den thailändischen Behörden nicht geräumt. Zeitweise entstand ein Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung, das einige Einsatzkräfte als starke zusätzliche Belastung wahrnahmen. 5

Helmerichs J (2006) Psychosoziale Notfallversorgung. Bevölkerungsschutz Sonderausgabe 2006.

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Nach einem Massaker an einer Schule konnte die Polizei zunächst nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass nur ein Täter an dem Massaker beteiligt war. Schwer bewaffnete und geschützte Polizisten suchten einen vermuteten weiteren Täter, während die psychosoziale Notfallversorgung der Schüler, Eltern und Lehrer bereits angelaufen war. Eine ähnliche Erfahrung wurde auch nach der Beendigung einer Geisellage in einem Flugzeug gemacht: die Polizei konnte nicht sicher ausschließen, dass ein oder mehrere Komplizen des Täters sich unter den Fluggästen aufhielten, die mittlerweile von PSNV-Mitarbeitern betreut wurden. In keiner dieser Fälle kam es zu einer realen Gefährdung. Es ist nicht vertretbar, die PSNV solange auszusetzen, bis mehr oder minder abstrakte Gefahrensituation mit letzter Sicherheit auszuschließen sind. Dessen ungeachtet sollte PSNV-Personal über die grundsätzlichen Gefahren informiert werden und die Möglichkeit der Entscheidung behalten, ob bzw ab welchem Zeitpunkt sie mit der psychosozialen Notfallversorgung beginnen. Die enge strukturelle Vernetzung der PSNV mit der polizeilichen Gefahrenabwehr dient der Sicherheit und Arbeitseffizienz aller.

Aufbau rückwärtiger Strukturen Bei komplexen Ereignissen zeigt sich immer wieder, dass Informationen über das Ereignis mit zunehmender Nähe zum Ereignisort immer schwerer zu erhalten sind. Einsatzkräfte mit einem verlässlichen Gesamtüberblick über die Lage sind nur in den abgeschirmten und schwer zugänglichen Stäben anzutreffen. Einsatzkräfte vor Ort haben jeweils nur Wissen zu dem Einsatzabschnitt, in dem sie unmittelbar eingesetzt werden. Deshalb hat es sich für die PSNV bewährt, dass aus der Entfernung relevante Medienberichte im Radio, im Fernsehen und im Internet gesichtet und für die PSNV ausgewertet werden. Da die Kommunikationsmöglichkeiten in der Nähe des Ereignisses oft sehr eingeschränkt sind – die Netze der Mobilfunkanbieter sind überlastet, Festnetzanschlüsse und Internetzugänge stehen kaum bzw nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung – kann es schwierig sein, Informationen zur PSNV-Leitung zu bringen. Manchmal bleibt nur noch die Möglichkeit, über SMS zu kommunizieren.

4.3. Eintreffen an der Einsatzstelle: Vom Chaos zur Struktur Mindestens in den ersten Stunden nach Eintreten einer Katastrophe herrscht Chaos. In der Literatur wird die erste „Chaosphase“ häufig abgewertet als ein in Kauf zu nehmender Übergang hin zu Etablierung wirksamer Strukturen. Ohne Frage müssen Strukturen geschaffen werden, sie sind der einzige Weg zu einer geregelten, qualifizierten und effizienten PSNV. Allerdings verhindert Chaos nicht nur an-

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gemessene Aktivität, sondern erschließt in einer Katastrophe Ressourcen, die sonst nicht nutzbar wären und geplant nie hätten einbezogen werden können. Der Besitzer eines Restaurants schließt angesichts einer größeren Schadenslage in seiner unmittelbaren Nachbarschaft sein Lokal und stellt es Betroffenen zur Verfügung. PSNV kann sich ausgehend von dieser Räumlichkeit gut organisieren.

Im Rahmen der Selbstorganisation und vorgesehener Einsatzpläne entwickelt sich nicht nur die Strukturen der Rettungsmaßnahmen, sondern mit ihnen auch die der PSNV – am Anfang der Bewältigung der Katastrophe steht jedoch grundsätzlich mit höchster Priorität die Rettung und Versorgung verletzter Menschen. PSNV hat gegenüber Rettung und notfallmedizinischer Versorgung grundsätzlich eine nachgeordnete Bedeutung. Nach und neben der notfallmedizinischen Versorgung vor Ort und dem Abtransport von Patienten in geeignete Einrichtungen entwickeln sich spontan erste Ansätze zur PSNV: Leichtverletzte und Überlebende äußern ihre Bedürfnisse mit zunehmendem Nachdruck, Ersthelfer und Einsatzkräfte kommen immer weniger umhin, auf ihre Bedürfnisse einzugehen. In der Chaosphase wird häufig von Ersthelfern, Anwohnern, unverletzten Augenzeugen, aber auch von Polizeibeamten, Rettungskräften bis hin zu Jugendgruppen von Hilfsorganisationen und allen Menschen „betreut“, die den Eintritt der Katastrophe wahrgenommen haben und sich zum Unglücksort begeben. Die Ersthelfer leiden gelegentlich nach einigen Tagen massiv unter den Eindrücken, die sie aus den ersten Minuten bzw der Stunden nach Eintritt der Katastrophe mitnehmen. Sie werden selbst zu Betroffenen, die dringend auf Wahrnehmung, Betreuung und Wertschätzung angewiesen sind. Zunächst jedoch wachsen sie über sich hinaus, aktivieren ungeheure psychische und physische Kräfte, von denen sie selbst nichts geahnt haben. Viele von ihnen dissoziieren und berichten später davon, dass sie automatisch, gleichsam ferngesteuert gehandelt hätten, dass sie sich wie in einer Filmszene bewegt hätten, dass sie alles als unwirklich und ohne jede Gefühlsbeteiligung erlebten. Die Ersthelfer werden leicht übersehen: sie bekommen keine angemessene Wahrnehmung, ihr Beitrag wird oft nur unzureichend gewürdigt. Eine wertschätzende öffentliche Wahrnehmung hätte auch psychotraumatologisch präventive Bedeutung. Der Eindruck von Ersthelfern und Überlebenden, übersehen und nicht wahrgenommen zu werden, führt immer wieder dazu, dass sie sich Medienvertreter als Gesprächpartner anbieten oder bereitwillig auf Anfragen eingehen, weil (nur?) diese ein Interesse an dem signalisieren, was sie erlebt haben. Die Darstellung in den Medien führt jedoch weniger zu einer Anerkennung und Wertschätzung der geleisteten Arbeit. Viel häufiger fühlen Betroffene sich durch die selektive, reißerische und tendenziöse Berichterstattung zusätzlich gekränkt und hilflos.

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Zudem besteht bei vielen Augenzeugen, Ersthelfern und bei Überlebenden gerade gemeindeferner Unglücke zunächst die Tendenz, den Vorgang, in dem sie durch die Katastrophe unterbrochen wurden, wieder aufzunehmen: wenn sie sich auf einer Reise befinden, setzen sie zunächst die Reise fort, vielleicht noch bevor ihre Personalien durch Einsatzkräfte aufgenommen wurden. Selbst Überlebende mit gravierenden Verletzungen, die sich unversorgt durchaus noch zu kritischen Zuständen entwickeln können, entfernen sich vom Ort der Katastrophe und des Schreckens – und realisieren erst dann, wenn sie sich sicher fühlen bzw wieder auf dem Weg sind, welche Dimension das Ereignis eigentlich hatte. An sicherem Ort dekompensieren sie, ihre soziale Umgebung wirkt verunsichert und sorgt sich, eventuell mehrere hundert Kilometer vom Ereignis entfernt, um Hilfe. Bei einem schweren Zugunglück überleben einige Fahrgäste unverletzt. Sie helfen zunächst den Schwerverletzten. Nachdem sie feststellen, dass viele Einsatzkräfte eingetroffen sind und tätig werden, nehmen sie, soweit möglich, ihre persönliche Gepäckstücke an sich, laufen auf den etwa 1 Kilometer entfernten Marktplatz, und setzen mit öffentlichen Bussen bzw Taxen ihre Reise fort. Manche von ihnen realisieren erst bei ihrer Ankunft am Reiseziel, welche Katastrophe sie überlebten.

PSNV-Mitarbeiter, die mit engagierten Ersthelfern in Kontakt kommen, brauchen ein feines Fingerspitzengefühl, um im Rahmen einer wertschätzenden Übergabe wichtige Informationen zu erhalten, Gruppen von Betroffenen zu identifizieren und einen Zugang zur Lage und ihren Besonderheiten zu erhalten. Umso später PSNV-Mitarbeiter eintreffen, umso größer wird das Risiko, von Ersthelfern, die sich selbst nach eigenen Maßstäben organisieren, als Bedrohung ihrer bisher geleisteten Arbeit wahrgenommen zu werden. Daher kann eine vorläufige Einbindung unumgänglich sein. Dabei ist in Betracht zu ziehen, dass die Ersthelfer selbst in hohem Maß traumatisiert sind. Viele spüren, dass sie in Gefahr sind, zu dekompensieren, wenn sie zur Ruhe kämen. Es fällt ihnen schwer, aus der Helferrolle, mit der sie sich bis dahin identifizierten, heraus zu gehen und „Betroffener“ zu sein, der Unterstützung braucht und annehmen kann. Es erweist sich immer wieder als lohnend, wenn jeder PSNV-Mitarbeiter für sich selbst bereits in der Chaosphase mit der Dokumentation zentraler Informationen zu beginnen: vieles, was peritraumatisch geschieht, wirkt sich später nachdrücklich aus. Vor allem sollten Namen, Erreichbarkeiten, Kontexte (zB Art der Betroffenheit) und für die spätere Rekonstruktion auch die Uhrzeit/Datum festgehalten werden. Was im Moment deutlich, offensichtlich und eher lapidar wirkt, kann nach kurzer Zeit kaum mehr erinnert werden. Um sich einen ersten Überblick über die Lage zu verschaffen, sollten PSNVMitarbeiter, die disponierende Funktionen haben, direkte Kontakte zu Betroffenen eher vermeiden. Betroffene sind nicht oder kaum in der Lage, eine verlässliche Darstellung auch nur dessen zu geben, was sie selbst gesehen und wahrgenommen ha-

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ben. Sie sind verständlicher Weise dominiert von ihren Bedürfnissen, Wünschen und Fragen – es fällt schwer, sie abzuweisen. Wenn man auf diese eher unstrukturierte Weise zu betreuen beginnt, gelingt es schwerer, den nötigen Abstand für einen Überblick zu bekommen. Ansprechpartner für diesen Lageüberblick ist selbstverständlich die Einsatzleitung, sofern diese bereits vor Ort wahrnehmbar ist und sich konstituiert hat. Sollte dies noch nicht der Fall sein, so erhält man Informationen von höherrangigen Einsatzkräften und vor allem von Polizeibeamten, die oft nicht unmittelbar in Rettungsmaßnahmen involviert sind und aufgrund ihres dienstlichen Selbstverständnisses und Auftrages eher ein Interesse haben, Abläufe von Ereignissen wahrnehmen und beschreiben zu können. Wichtig ist der Blick dafür, wo und wie sich spontan und selbst organisiert „Betreuungsabschnitte“ bilden.

4.4. Aufbau von Grundstrukturen Die Struktur der sich aufbauenden PSNV berücksichtigt die unterschiedlichen Gruppen der Betroffenen: Trauernde, Hinterbliebene Auf den ersten Blick und aus der Erfahrung aus der alltagsnahen PSNV scheint diese Gruppe von Betroffenen eindeutig und leicht zu definieren: Trauernde sind diejenigen, die den Tod eines Angehörigen zu beklagen haben. Während im alltagsnahen Arbeiten der Tod eines Menschen und seine Identität vom Arzt (in der Leichenschau) zweifelsfrei festgestellt werden und das Ergebnis unmittelbar vorliegt, ist dieser Vorgang bei Katastrophen, bei der eine Vielzahl von Toten auftreten, oft aufwändig und langwierig. In der Katastrophe sind nur die Menschen als Trauernde oder Hinterbliebene zu bezeichnen, die entweder die amtliche Aussage vorliegen haben, dass der Leichnam ihres Angehörigen identifiziert ist, oder die sich selbst subjektiv zweifelsfrei sicher sind, dass ihr Angehöriger die Katastrophe nicht hat überleben können. Nach einem Flugzeugabsturz bei A sind sich Angehörige sofort zweifelsfrei sicher, dass ihre Familie in diesem Flugzeug war und – wie alle anderen Passagiere – gestorben ist. Ein wichtiges, emotional bedeutsames Indiz für die Betroffenen ist der Umstand, dass sich bei allen Anrufversuchen auf den Mobiltelefonen der Familie immer nur die Mailbox einschaltet. Diese subjektive Gewissheit wird zu keinem Moment der Betreuung in Frage gestellt, die Angehörigen verstehen sich selbst aus Trauernde und Hinterbliebene. Erst Tage später kommt die amtliche Bestätigung, die für die Hinterbliebene nur eine formale Bedeutung hat. Alle Leichname werden gefunden, identifiziert und schließlich beerdigt.

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Bei einem Flugzeugabsturz vor B konnten nicht alle Leichname der Passagiere geborgen werden. Während der Leichnam eines Familienmitgliedes zweifelsfrei identifiziert wird, finden sich von einem anderen Familienmitglied keine Spuren. Nicht nur in den Tagen, Wochen und Monaten nach dem Absturz, sondern noch Jahre später fühlt sich eine Person aus der Gruppe der Angehörigen als Vermissende. Sie leidet selbst darunter, dass trotz aller Plausibilität (Passagierliste, seit Jahren kein Lebenszeichen vom Vermissten) sie sich nicht damit abfinden kann, dass auch der vermisste Angehörige sich beim Absturz im Flugzeug befunden haben muss. Sie sagt von sich selbst, dass sie das Gefühl habe, verrückt zu werden: während sie zu manchen Zeiten akzeptiert, dass der vermisste Angehörige gestorben ist, ist sie bereits mehrfach in das Land gereist, aus dem das Flugzeug abflog, um dort ihren Angehörigen zu suchen.

Die Kasuistik weist darauf hin, dass entgegen einer rationalen Erwartung Vermissende mit großer Energie über die Zeit unmittelbar nach dem Ereignis hinaus an Hoffnungen festhalten, die keinen Bezug zur Realität haben. Die Kasuistiken verdeutlichen, dass die Gruppe der Trauernden von der Gruppe der Vermissenden deutlich zu unterscheiden ist. Diese Unterscheidung gilt nicht erst in der mittelfristigen Nachsorge, sondern bereits unmittelbar unter dem Eindruck der Katastrophe.

Vermissende Sie hoffen zunächst mit aller Kraft, dass der vermisste Angehörige unter den Verletzen zu finden sein wird, die in umliegende Krankenhäuser verbracht wurden. Daher begeben sie sich dorthin, wo Verletzte versorgt und abtransportiert werden. Dort behindern sie jedoch nachhaltig die rettungsdienstlichen Maßnahmen. Es scheint Konzeptionen für Großschadenslagen zu geben, die davon ausgehen, dass Vermissende und notfallmedizinisch versorgungspflichtige Patienten mit geringem personellem Aufwand zu trennen seien. Dabei wird die Energie unterschätzt, die Vermissende motiviert, auf die Suche zu gehen.6 Wenn und in dem Maß, in dem Vermissende wahrnehmen, dass sie aus eigenem Handeln heraus den Verbleib ihrer Angehörigen nicht selbstständig recherchieren können, wenden sie sich an eine (bald zu errichtende) Stelle, die vermisste Personen registriert. Vermissende begeben sich selbst dort hin (wenn sie – zB über die Medien – erfahren, wo diese Stelle eingerichtet wurde) oder rufen an („Hotline“, in Deutschland: „Gemeinsame Auskunftsstelle“ – GAST). 6

Hier ist grundsätzlich anzumerken, dass Katastrophenübungen, die psychotraumatologisch relevante Reaktionsweisen verletzter und unverletzter Überlebender nicht berücksichtigen, wesentliche Aspekte der Realität ausgrenzen.

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Sobald Namenslisten zur Verfügung stehen, in denen die in Krankenhäuser verlegten Patienten erfasst sind, werden die Angehörigen informiert. Ihr vorherrschendes Interesse besteht nun an der Zusammenführung.

4.5. Schwerpunkte der psychosozialen Akutintervention Die Schwerpunkte der psychosozialen Akutintervention und ihre Abläufe unterscheiden sich wesentlich darin, ob Betroffene in ihrer vertrauten Umgebung einer Katastrophe ausgesetzt sind, oder ob sie entweder aus der Ferne und hauptsächlich über die Medien vermittelt Vorstellungen dazu entwickeln. 4.5.1. PSNV bei gemeindenahen Katastrophen Vermissende Die Erfahrung zeigt, dass Vermissende in der Nähe des Ortes der Katastrophe bleiben möchten. Sie begeben sich kaum und nur kurzzeitig nach Hause, weil sie sich dort vom Geschehen abgeschnitten fühlen. Vor allem möchten sie zeitnah relevante Informationen erhalten. Um sie vor Medien und anderen Irritationen zu schützen, sollten sie an einem Ort zusammengebracht werden, der möglichst folgende Kriterien erfüllt: – von außen nicht einsehbar: weder ebenerdig noch mit Fenstern zu gegenüberliegenden Gebäuden, zu denen sich Medienvertreter Zugang verschaffen können (Teleobjektive); möglichst nicht in unmittelbarer Blickweite zum Ort der Katastrophe. – Zugang leicht und ohne übermäßigen Personalaufwand kontrollierbar: der Zugang zu Vermissenden wird restriktiv begrenzt auf ihre sozialen Ressourcen (Familienangehörige, Freunde, Kollegen – sie bestimmen selbst, wen sie in ihrer Nähe haben möchten) und die PSNV-Mitarbeiter, die einen Betreuungsauftrag für diese Zielgruppe haben – alle anderen Personen (mit Ausnahme von Einsatzkräften, die die Vermissenden informieren) erhalten im Interesse größtmöglicher Ruhe und Intimität keinen Zugang. Der Zugang kann bei Bedarf über eine täglich wechselnde Ausweiskarte geregelt werden. – Toiletten- und Waschräume – Catering: ständiges Angebot von leichten Mahlzeiten, Obst und Getränken (kein Alkohol!) – Mehrere abtrennbare Räume: – für das PSU-Personal als Rückzug, für Besprechungen (Übergabe), Koordination/Disposition/Leitung des Unterabschnittes „Betreuung Vermissender“, Vernetzung zur GAST und Einsatzleitung,

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– für Einzel- oder Kleingruppengespräche mit Vermissenden, zB, wenn ein Leichnam gefunden bzw identifiziert ist oder Fragestellungen auftauchen, die nicht alle anwesende Vermissende betreffen, – für religiösen Ausdruck von Hoffnung und Trauer: zB um dort Kerzen anzuzünden, zu beten, kurze Gottesdienste abzuhalten, – wenn Vermissende länger als einen Tag ausharren: Ruhe- und Schlafraum, in dem Feldbetten aufgestellt werden, – Insofern Vermissende (zB als Zeugen) polizeilich relevant sind: Raum für Befragungen, Ergänzung weiterer Angaben für die Erhebung von Ante-Mortem-Daten bzw Vermisstenfragebögen. Vermissende werden so zeitnah wie möglich über den Stand der Rettungsarbeiten informiert. Zuverlässige und autorisierte Informationen sind für Vermissende das höchste Gut. Die Erwartung von Informationen sorgt dafür, dass Vermissende an dem für sie vorgesehen Ort bleiben. Bei der Vermittlung von Informationen muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Vermissende über Mobiltelefone Kontakt zu Menschen haben, die ihrerseits intensiv die Medienberichterstattung verfolgen. Aus diesem Grund müssen Informationen, die in Widerspruch zur Medienberichterstattung stehen, sorgfältig bedacht, formuliert und argumentiert werden. Umso mehr Zeit vergeht, umso mehr die Hoffnung auf eine lebende Rettung der Vermissten schwindet und umso erschöpfter Vermissende sind, umso größer ist die Bereitschaft, Medienberichten Glauben zu schenken, die Hoffnung signalisieren. Das Aufstellen eines Fernsehers oder eines Radiogerätes hat sich nicht bewährt, weil von ihnen Unruhe ausgeht und die Berichterstattung häufig zusätzlich dramatisiert oder falsche, zu mindest nicht verifizierbare Informationen verbreitet, die zu überflüssigen Irritationen führen. Es hat sich hingegen bewährt, dass Einsatz- oder Abschnittsleiter der technischen Rettung oder der Gesamteinsatzleiter (zB Bürgermeister, Landrat, etc) in regelmäßigen und erwartbaren zeitlichen Abständen (zB alle ein bis zwei Stunden) Vermissende über den konkreten Fortgang der Rettungsmaßnahmen informieren, auch und gerade dann, wenn die Arbeiten zu stagnieren scheinen. Jeder, der vor die Vermissenden tritt, sollte sich vorher mit dem zuständigen PSNV-Personal über Formulierungen und spezielle Fragestellungen verständigen, damit einheitliche Aussagen und Formulierungen präsentiert werden. Die Vermittlung von Informationen erfordert eine optimale Integration der PSNV in die bestehenden Einsatzstrukturen. Widersprüchliche Aussagen, unsicheres Auftreten und unbedachte Formulierungen führen schnell zu Bekundungen von Ärger, Misstrauen und Distanz. Authentisches Auftreten hingegen wird als Solidarität und Nähe verstanden. Die Auftritte von Einsatzleitern bei Vermissenden stellen eine enorme emotionale Belastung für sie dar, nicht jeder Einsatzleiter oder Politiker ist geeignet. Sie brauchen eine gute Beratung und Begleitung durch entsprechend erfahrenes und kompetentes PSNV-Personal.

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Die Betreuung Vermissender durch das PSNV-Personal zieht sich über Stunden, gegebenenfalls über Tage hin. Das PSNV-Personal arbeitet in nicht mehr als zwei Schichten, die sich gegenseitig ablösen. Dadurch wird gewährleistet, dass verlässliche Bezüge zu den Vermissenden hergestellt werden und auf einer vertrauten Beziehung aufgebaut bzw sie fortgesetzt werden kann. Eine stabile Beziehung ist besonders dann zentral, wenn eine Todesnachricht überbracht werden muss. Das PSNV-Personal achtet aufmerksam auf eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz zum Vermissenden. Erfahrungen aus der PSU in bisherigen Katastrophen belegen, dass nicht, schlecht oder unzureichend ausgebildete oder unerfahrene PSNVMitarbeiter in der Begleitung von Vermissenden eine übergroße Nähe entstehen lassen und sich schwer tun, Vermissenden eigenen Raum zu lassen. Die Trägfähigkeit und Bedeutung der Beziehung des PSNV-Mitarbeiters zum Vermissenden wächst nicht dadurch, dass der PSNV-Mitarbeiter nicht mehr von der Seite „seines“ Vermissenden weicht. Der PSU-Mitarbeiter begleitet die starken emotionalen Durchgänge Vermissender: Phasen, in denen sie sehr klar einschätzen, dass ihr vermisster Angehöriger keine realistische Chance hat, die Katastrophe zu überstehen, wechseln mit Phasen, in denen sie massiv unter dem schlechten Gewissen leiden, ihren Angehörigen in Gedanken aufgegeben zu haben. Sie klammern sich an jeden noch so schwachen Strohhalm der Hoffnung. In der Begleitung gilt es, die Hoffnungen, Gedanken und Gefühle nicht zu bewerten, sondern sie zu hören und aufzunehmen. Besonders heikel ist die Kernfrage für Vermissende, welche Aussichten auf Überleben die vermisste Person hat. Nach dem Tsunami 2004 boten Wahrsager und Pendler ihre teuren Dienste verzweifelten Vermissenden an, um ihnen mitzuteilen, wo sich die Vermissten aufhielten. Andere unseriöse Personen boten an, gegen Vorkasse den Aufenthaltsort Vermisster zu recherchieren, nachdem Vermissende Zettel aufhängten, auf denen ihre persönliche E-Mail-Adresse oder Telefonnummer vermerkt war.

Der PSNV-Mitarbeiter nimmt in diesem Anliegen mit dem Leitenden Notarzt in Verbindung auf und lässt sich über die Überlebenswahrscheinlichkeit und die Prognose Vermisster informieren. Eindeutige Aussagen sind in den Stunden und Tagen nach Eintritt der Katastrophe selten möglich oder zu erwarten, trotzdem gibt es Erfahrungswerte und Plausibilitäten. Vermissende reagieren misstrauisch, wenn nach einer Katastrophe nur mehr Leichname geborgen werden, jedoch weiterhin Optimismus verbreitet wird. Jede Aussage, die sich als falsch erweist, hat in diesem Kontext massive Auswirkungen zur Folge. Die natürliche Tendenz, Hoffnung zu haben und bestehen zu lassen (Motto: „Hoffen bis zuletzt“, „die Hoffnung stirbt als letztes“) wird ins Gegenteil verkehrt, wenn sie in der Realität keinen Grund mehr hat. Diese Form der Hoffnung hat nur mehr das Wort mit dem christlichen Verständnis von Hoffnung gemeinsam. Dahinter verbirgt sich die Weige-

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rung, Realität zu benennen und anzuerkennen. PSNV-Mitarbeiter müssen gegebenenfalls in der Einsatzleitung und bei Entscheidungsträgern als „Anwälte“ der Betroffenen einen Klärungsprozess intensivieren. Die Identifizierung von Leichen nach dem internationalen Standard der „disaster victim identification“ (DVI) durch die Polizei führt gelegentlich zu besonderen Schwierigkeiten im Hinblick auf die Betreuung Vermissender: auch wenn der Leichnam der vermissten Person gefunden ist und mit hoher Plausibilität die Identität der Leiche fest steht, gilt jedoch die vermisste Person erst dann als tot, wenn sie zweifelsfrei und nach formalen Kriterien identifiziert ist. Dazu werden bei den Vermissenden Daten erhoben, die für eine Identifizierung relevant sind (ante-mortem-Daten): – bei dem Zahnarzt, der den Vermissten zuletzt behandelt hat, muss das dokumentierte Zahnschema eingesehen bzw Kopien angefertigt werden. Die Identifizierung eines Leichnams durch das Zahnschema ist ein relativ rasch und zuverlässig zum Ergebnis führendes Verfahren. – Fingerabdrücke werden durch den Erkennungsdienst im Lebensumfeld des Vermissten genommen. – Dort wird auch DNA-Material gewonnen. – Vermissende werden nach markanten körperlichen Merkmalen (zB OP-Narben, Tätowierungen), Schmuck und persönlichen Dingen gefragt, die die vermisste Person bei sich trägt. Am Leichnam werden post-mortem-Daten erhoben. Ein Leichnam ist dann sicher identifiziert, wenn die ante-mortem- und post-mortem-Daten übereinstimmen. Dieses Verfahren kann je nach Aufwand der Datenerhebung einige Zeit in Anspruch nehmen. Mit den Kriminalbeamten, die für die Leichenidentifizierung zuständig sind (Identifizierungskommission „IDKO“), wird abgesprochen, ob zunächst alle Leichen identifiziert werden und dann die Vermissenden zum gleichen Zeitpunkt informiert werden. Alternativ zu dieser Vorgangsweise können die Vermissenden sukzessiv informiert werden. Die Vorgehensweise hängt vom Zeitfaktor ab: wenn sich die Identifizierung über mehrere Tage hinzieht, wird der zweite Weg angemessen sein. Wenn die Identifizierung hingegen zügig durchgeführt werden kann, ist der erste Weg praktikabel und vertretbar. Grundsätzlich gilt für die Identifizierung nach dem international vereinbarten DVI-Standard, dass eine Identifizierung durch „Inaugenscheinnahme“ als so unsicher gilt, dass sie nicht anerkannt ist. Bei manchen Katastrophen und Schadenslagen wird nicht nach dem DVI-Standard identifiziert. Die Identifizierung durch „Inaugenscheinnahme“ durch die Vermissenden entspricht dem Anliegen der PSNV,

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Hinterbliebenen den Abschied vom Verstorbenen zu ermöglichen. Die IDKO trägt dafür Sorge, dass die Plausibilitäten für die Identität des Leichnams ausreichend sind, damit weitgehend ausgeschlossen werden kann, dass ein falscher Leichnam bei der Verabschiedung präsentiert wird. Die Vorgehensweise bei der Verabschiedung wird mit der IDKO besprochen. Es hat sich bewährt, dass ein erfahrener PSNV-Mitarbeiter den Leichnam vor der Verabschiedung betrachtet und gegebenenfalls Teile der Leiche abdeckt. Die Hinterbliebenen werden mit dem PSNV-Mitarbeiter, den sie bereits kennen und zu dem eine Beziehung besteht, vor den Raum geführt, in dem die Leiche sich befindet. Dann geht der betreuende PSNV-Mitarbeiter zunächst mit seinem Kollegen zum Leichnam, um anschließend die Hinterbliebenen zum Leichnam zu begleiten. Dieses Verfahren hat sich in mehreren Katastrophen bewährt, weil der betreuende PSNV-Mitarbeiter mit seinem Kollegen zunächst ohne die Hinterbliebenen sich einen Eindruck vom Zustand der Leiche machen kann. Vermissende, die über mehrere Tage durch PSNV-Personal von Hilfsorganisationen begleitet wurden, äußerten sich eindeutig negativ zur Einsatzbekleidung, die durch manche Attribute (zB Leuchtstreifen, Tageslichtfarben, Helm, Overall, Springerstiefel) aggressiv und in der Situation (Gebäude außerhalb des Gefährdungsbereiches) unangemessen wirkt. Hier haben sich Überziehwesten bewährt, die sich bei Bedarf schnell anlegen lassen, aber auch einfach zusammenzufalten und in einer Tasche zu verstauen sind. Ein Namensschild in Scheckkartengröße erweist sich als ausreichend.7

Trauernde, Hinterbliebene Trauernde und Hinterbliebene haben Bedürfnisse, wie sie grundsätzlich aus Betreuungen in der alltagsnahen PSNV bekannt sind. Da Trauernden ihre sozialen Ressourcen zur Verfügung stehen und sie sich in einer Umgebung bewegen, die ihnen vertraut ist, benötigen Trauernde eine angemessene, jedoch keine über Tage ständig präsente Betreuung. Ein vorher angekündigter Hausbesuch, ein Telefonat, in dem unaufdringlich nach Schwierigkeiten und Bedürfnissen gefragt wird, sind angemessen. Die nachgehende Betreuung in den ersten Tagen nach einer Katastrophe wird von PSNV-Mitarbeitern durchgeführt, die im Rahmen eines Screenings in der Lage sind, den Bedarf an weiterführender psychosozialer Nachsorge zu identifizieren und Betroffene gegebenenfalls zu motivieren, Angebote in Anspruch zu nehmen. 7

Dem steht allerdings das ausgeprägte Bedürfnis einiger PSNV-Anbieter im Weg, besonders in Katastrophen öffentlichkeitswirksam aufzutreten und medial wahrgenommen zu werden.

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Nach Katastrophen finden auch dann Gottesdienste statt, wenn der Anteil an Christen in der Bevölkerung eher gering ist (zB nach dem Massaker an einer Schule in Erfurt). Die Gründe dafür, dass die Gottesdienste von der Bevölkerung gut angenommen werden, sind vielfältig. PSNV-Mitarbeiter nehmen mit den Seelsorgern, die den Gottesdienst vorbereiten, Kontakt auf und vermitteln besondere Anliegen oder Bedürfnisse der Trauernden.

Überlebende, Augenzeugen Unverletzte oder Überlebende mit Bagatellverletzungen und Augenzeugen wirken zunächst und unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe häufig kompensiert und unauffällig. Manche leisten Hilfe und sind dabei teilweise massiven traumatogenen Eindrücken ausgesetzt. Andere suchen relativ bald ihre normale und vertraute Umgebung auf. Mitunter vergehen einige Stunden bis hin zu Tagen, bis sie die Tragweite dessen realisieren, was sie erlebt und überlebt haben. Über eine Hotline, deren Erreichbarkeit in den Medien verbreitet wird, kommen sie an Unterstützung.

4.5.2. Bei gemeindefernen Katastrophen Vermissende Bei gemeindefernen Katastrophen reisen Vermissende an, um sich selbst auf die Suche nach ihren Angehörigen zu machen und sich ein „Bild“, auch und vor allem ein inneres Bild, von dem Katastrophenort und seiner Umgebung zu machen. Sie halten die relative „Untätigkeit“ zu Hause schwer aus und wollen die Distanz zwischen ihrer Heimat und dem Ort der Katastrophe verringern. Sie fühlen sich hilflos und abgekoppelt von Informationen. Wenn sie von Behörden mit Informationen versorgt werden, sind diese Informationen zwar inhaltlich verlässlich, allerdings können die Medien mit ungesicherten Informationen an die Öffentlichkeit treten und sind deshalb immer schneller als die Dienstwege der Behörden. Dies führt zu einem gewissen Misstrauen: zwangsläufig entsteht der Eindruck, dass die Behörden nicht umfassend und authentisch informieren. Wenn die Erfahrungen mit behördlicher Hotline problematisch sind, weil nicht zurückgerufen wird, weil ständig wechselnde, uninformierte Gesprächspartner angetroffen werden, weil unterschiedliche Auskünfte zum gleichen Anliegen gegeben werden, dann wird das Gefühl von Hilflosigkeit und Untätigsein so unerträglich, dass die Reise angetreten wird. Aber auch ohne die aufgeführten negativen Erfahrungen möchten Vermissende – teilweise auch wegen familiärer Dynamiken und in Begleitung von Menschen, die ihnen eine Ressource sind, anreisen.

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Aus Sicht der PSNV muss die Anreise der Vermissenden organisiert geschehen, sie sollten sich nicht auf „eigene Faust“ auf den Weg machen. Sie sind auf der Anreise betreut, haben Ansprechpartner in ihrer Nähe und können vor übergrifflichen Medienvertretern geschützt werden. Auf der Anreise entstehen unter den Betroffenen Kontakte, sie stützen sich gegenseitig und werden zu einer Schicksalsgemeinschaft. Vor Ort kann ihre Ankunft vorbereitet werden: – Unterkünfte werden besorgt, die über Räume verfügen, in denen die Gruppe versammelt werden kann. PSNV-Mitarbeiter sollten zwar in der Nähe, nach Möglichkeit jedoch nicht in der gleichen Unterkunft untergebracht werden. – Logistische Fragen (zB Beschaffung von Bussen für den Transport der Gruppe, Dolmetscher, Kontakte zu lokalen Behörden) können geklärt werden. – Die Besichtigung des Katastrophenortes und das Einrichten einer provisorischen Gedenkstelle werden möglich. – Informationsveranstaltungen zum Ablauf des Ereignisses und den ergriffenen Rettungsmaßnahmen können zentral Vermissenden und/oder Trauernden angeboten werden. – Politiker können ihre Solidarität zum Ausdruck bringen. – Eine gemeinsame, organisierte und betreute Rückreise kann geplant werden. Es hat sich bewährt, wenn von einer Behörde beauftragte PSNV-Mitarbeiter mit Erfahrungen im Umgang mit Menschen nach gemeindefernen Katastrophen und PSNV-Kräfte aus der Region, aus der Vermissende und/oder Trauernde anreisen, eng kooperieren. PSNV-Mitarbeiter mit Auslandserfahrung kennen die vielfältigen behördlichen Vernetzungen und sorgen in Absprache mit Behörden und Einrichtungen für einen angemessenen Rahmen. PSNV-Mitarbeiter aus der Region der Betroffenen haben damit die Ressourcen, für die Betroffenen im angemessenen Umfang da zu sein. Wenn Vermissende selbstständig anreisen, ist der Betreuungsbedarf kaum abzuschätzen. Auf der Suche nach Ansprechpartnern sind sie in einer fremden Umgebung einer Vielzahl von Irritationen ausgesetzt. Die Medienberichterstattung hat Zugang zu ihnen. Die Erfahrungen Betroffener sind zusätzlich belastend und tragen dazu bei, Traumatisierungen zu vertiefen.

Trauernde, Hinterbliebene Bei gemeindefernen Katastrophen äußern Trauernde einerseits das Bedürfnis, in der Nähe des Leichnams zu sein bzw zu bleiben. Wenn sie Gelegenheit zur Abschiednahme gehabt haben (und damit die Trauer im Vordergrund steht), reisen sie ab und warten zu Hause darauf, dass der Leichnam repatriiert wird, um ihn dann zu

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beerdigen. Zu Hause können sie die Trauerfeiern im Kreis der Familie vorbereiten und bewegen sich in einer vertrauten Umgebung, die ihnen mehr Ressourcen bietet.

Überlebende, Augenzeugen Verletzte und unverletzte Überlebende haben ein großes Bedürfnis, in ihre Heimat zu kommen. Für beide Gruppen muss dies organisiert werden. Wenn es sich um ein Transportunglück handelt (Unfall eines Flugzeuges, Busses, Zuges) sollte erwogen werden, ob die Heimreise mit einem anderen als dem verunglückten Transportmittel angetreten werden kann. Sollte dies zB aufgrund der Entfernung nicht möglich sein, muss mit den Heimreisewilligen die Modalitäten der Heimreise besprochen und beraten werden. Für verletzte Überlebende müssen medizinisch vertretbare bzw empfohlene Rücktransportmittel verwendet werden. Die Sichtung Verletzter in den Krankenhäusern erfolgt unter ärztlicher Aufsicht und Verantwortung. Für stationäre Patienten ist der erste Kontakt zu muttersprachlichen Einsatzkräften, die sie an ihrem Bett besuchen, von großer Bedeutung. Neben den konkreten medizinischen Fragen für die Repatriierung haben sie vielfältige Anliegen, die in den Bereich der PSNV fallen. Viele möchten Angehörige informieren, ihre Geschichte und Erfahrungen artikulieren, Sorgen und Ärger äußern. Viele körperlich verletzte und in Krankenhäuser aufgenommene Patienten haben auch psychische Traumatisierungen erlitten. Neben einer optimalen medizinischen Versorgung in der Heimat muss gegebenenfalls auch an eine psychotraumatologische Betreuung gedacht werden. Aus diesem Grund bilden Ärzte, die die medizinische Seite des Interhospitaltransfers besorgen, mit PSNV-Mitarbeitern, die entweder als Krankenhausseelsorger über entsprechende Erfahrungen verfügen oder Rettungsassistenten mit Erfahrung im Interhospitaltransfer sind, gemeinsame Sichtungs- und Repatriierungsteams.

4.6. Koordinierungsstelle Nachsorge, Opfer- und Angehörigenhilfe der Bundesregierung („NOAH“) NOAH übernimmt die Koordination der medizinischen und psychosozialen Betreuung von deutschen Staatsangehörigen, die im Ausland Opfer von Katastrophen oder anderen Ereignissen geworden sind. In Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt und den in den Bundesländern koordinierenden Stellen sorgt NOAH dafür, das Deutsche bei ihrer Rückkehr aus dem Ausland weiter die benötigte psychosoziale Betreuung bekommen und regionale PSNV-Angebotsträger informiert werden.8 8

Telefon: 0800-1888-433.

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Betroffene, die sich in der Fremde bewegen, haben eine natürliche und starke Tendenz zur Gruppenbildung. Organisatorische Notwendigkeiten wie Transporte im Bus oder die Unterbringung in einem Hotel, fördern die Gruppenbildung. Bei regelmäßig stattfindenden und vorher angekündigten Versammlungen werden Informationen zum Tagesablauf und zu anderen Anliegen gegeben. Die Zusammenkünfte werden auch für Psychoedukationen genutzt. Eine Psychoedukation umfasst folgende Inhalte: – Auswirkungen einer akuten psychischen Traumatisierung (Akute Belastungsreaktion), wichtig: nicht dramatisierend, sondern normalisierend, positive Erwartung schaffen. – Empfehlung einfacher Maßnahmen zur Psychohygiene. Die Psychoedukation erfolgt in einem freien Vortrag und bezieht gegebenenfalls konkrete Aspekte der Katastrophe mit ein (zB konkreter Hinweis auf Intrusionen, die mit sensorischen Reizen in Verbindung gebracht werden, die im Zusammenhang mit der Katastrophe eine Rolle gespielt haben). Da Betroffene gemeindefern unter erheblichen Anforderungen stehen, sind sie weniger noch als in gemeindenahen Kontexten in der Lage, komplexe Inhalte der Psychoedukation zu Erinnern. Aus diesem Grund werden Faltblätter ausgegeben, auf denen die wichtigsten Aspekte allgemeinverständlich zusammen gefasst sind. Außerdem kann auf dem Faltblatt ein Hinweis auf einen gemeindenahen Ansprechpartner für weitere Unterstützung und Begleitung ergänzt werden, auch können Behörden und andere Hilfseinrichtungen benannt werden. Wir sind der Auffassung, dass sich Gruppeninterventionen nach Mitchell (Critical Incident Stress Debriefing – CISD) in diesem Kontext nicht eignen. Mitchell konzipierte das Debriefing als Gruppenintervention für Einsatzkräfte, die etwa 5 bis 10 Tage nach Einsatzabschluss durchgeführt wird.9 Solange Betroffene sich in einer fremden Umgebung aufhalten, ist für sie das „Ereignis“ nicht abgeschlossen. Betroffene bilden zwar Gruppen und werden zu einer Art Schicksalsgemeinschaft, die Gruppe bleibt jedoch zu heterogen für ein Debriefing. Das Bedürfnis, Trauer, Betroffenheit, Ärger, Sprachlosigkeit und Verzweiflung in der Gruppe auszudrücken, ist nicht ausgeprägt. Überlebende, vermissende und trauernde Betroffene sind durch das strukturierte Gruppensetting des CISD eher überfordert und profitieren von Einzel- oder Kleingruppeninterventionen.

9

Mitchell JT, Everly GSJ (1995) The critical incident stress debriefing (CISD) and the prevention of work-related traumatic stress among high risk occupational groups. In GSJ Everly and JM Lating (eds), Psychotraumatology: Key papers and core concepts in post-traumatic stress (pp 267–280). New York: Plenum Press.

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4.7. Umgang mit Tumult Besonders bei gemeindefernen Unglücken und Katastrophen, aber gelegentlich auch nach gemeindenahen Ereignissen kann es in Gruppen zu Äußerungen von Wut, Zorn, Verzweiflung und Aggression kommen. Ausgelöst werden diese Zustände durch ein zusammenwirken folgender Faktoren: – Hilflosigkeit: Mangel an Gefühl, sich auswirken und/oder für sich selbst und andere sorgen zu können; Betroffene verlieren die Geduld, wollen handfeste und für sie verifizierbare Ergebnisse wahrnehmen; Betroffene stellen das Engagement von Behördenvertretern in Frage – Orientierungslosigkeit: Unverständnis oder Unkenntnis von Rettungs- und Bergungsmaßnahmen; Strukturen, Auftrag und Selbstverständnis unterschiedlicher zuständiger Behörden und Dienststellen sind nicht transparent; Betroffene kennen sich nicht aus und sind verwirrt im Hinblick auf Abläufe in ihrer Wahrnehmung; sie deuten Abläufe in ihrer Wahrnehmung falsch oder bringen kein Verständnis für sie auf. – Eindruck, nicht ernst- bzw wahrgenommen zu werden: unterschiedliche oder paradoxe Informationen und Auskünfte, wiederholte Angabe gleicher Daten bei unterschiedlichen Ansprechpartnern (zB Wohnort, Daten zur eigenen und zur vermissten oder verstorbenen Person, wiederholte Angaben über Art der Betroffenheit oder Abläufe). Es muss – vor allem von Entscheidungsträgern – ernst genommen werden, dass Verfahrensweisen und Umgangsformen auf die Bedürfnisse Betroffener abgestimmt werden. Dazu können sie das Wissen und die Expertise von FachberaterPSNV in Entscheidungsprozessen berücksichtigen. Tumulte in Gruppen führen immer zu einer enormen zusätzlichen Belastung Betroffener wie Einsatzkräfte. Es sollten von vornherein Maßnahmen ergriffen werden, die keinen Anlass für Tumulte geben. Gelegentlich jedoch neigen einzelne Betroffene zu Aggressionen. Jede Form von Gruppenintervention erfordert die Anwesenheit mehrerer PSNV-Mitarbeiter, die sich im Vorfeld absprechen und über die Inhalte und den Ablauf der Intervention verständigt haben. Neben einem Leiter bzw Sprecher, der die Gruppenintervention anleitet und moderiert, werden je nach Gruppenstärke mindestens ein PSNV-Mitarbeiter als „Doorkeeper“ („Türhüter“) vorgesehen. Seine Rolle entspricht der im Debriefing nach Mitchell: wenn jemand den Raum verlässt, geht er mit, um den Betroffenen außerhalb der Gruppe gegebenenfalls zu stabilisieren, Absprachen zu treffen und in die Gruppe zurückzuführen. Auch sorgt der Doorkeeper dafür, dass keine Störungen von außen kommen. Wenn ein Gruppenteilnehmer aggressiv und laut wird, geht sofort ein PSNV-Mitarbeiter zu ihm hin und spricht in direkt, leise und aus der Nähe an. Die Aufmerksamkeit der zornigen Person wendet sich von der Gruppensituation ab hin zum PSNV-Mitarbei-

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ter, der ihm signalisiert, ihn ernst zu nehmen und sein Anliegen sofort zu bearbeiten. Eventuell verlässt er mit ihm den Raum und bespricht sich mit ihm außerhalb. Besonders nach Ereignissen, bei denen mehrere hundert Personen in einem Saal oder einer Halle versammelt sind, werden tumultartige Szenen sofort, nachdrücklich und unmittelbar unterbunden. Da der Anlass für Tumult in sehr großen Gruppen häufig einander widersprechende oder paradoxe Informationen sind, muss strukturell dafür Sorge getragen werden, zuverlässige, verbindliche und autorisierte Informationen zu erhalten.

4.8. Ort für Gruppeninterventionen Der Zugang zum Ort der Gruppenintervention muss kontrollierbar sein, keinesfalls dürfen Medienvertreter und andere unbefugte Personen unbemerkt Zutritt bekommen. In dem Raum werden Getränke und Obst bzw ein kleiner Imbiss vorgehalten. Im Gegensatz zum Debriefing beim Mitchell muss kein Stuhlkreis gebildet werden. Wenn die Gruppenintervention eher informativen Charakter hat, wird frontal bestuhl („Klassenzimmer“). Wenn die Gruppe eher kleiner und homogen ist und Elemente von Austausch und (Rück-)Fragen stärkere Betonung finden, eignet sich ein Stuhlkreis. Der Raum ist nicht von außen einsehbar.

Medien Während der überwiegende Großteil der Medienvertreter Rücksicht auf die Intimität von Trauma und Trauer der Betroffenen nehmen, gibt es regelmäßig einige wenige Medienvertreter, die aggressiv und übergrifflich arbeiten. Vor ihnen sind die Betroffenen zu schützen. Leider kostet dies zusätzliche (Personal-)Ressourcen. Manche Medienvertreter zeigen großes Interesse an Bildern von Betroffenen, die zum Ort der Katastrophe gehen, um dort Blumen abzulegen oder Kerzen zu entzünden. Im Vorfeld werden Absprachen mit den zuständigen Behörden getroffen, um den Betroffenen einen sicheren Raum für ihre Trauer bieten zu können. PSNV widerspricht sich konstitutionell mit Medienarbeit, weil sie Menschen in der Intimität von Trauma und Trauer nahe ist. Andererseits berichten Medien nicht über die alltagsnahe Arbeit von PSNV, sondern zeigen erst in Katastrophen Interesse an der Arbeitsweise von PSNV. In den Medien wird die PSNV nur von Personen dargestellt, die selbst keinen Kontakt zu Betroffenen haben, sondern zB mit Dispositions- oder Beratungs- oder Leitungsaufgaben betraut sind. Wer als PSNV-Mitarbeiter selbst im Rahmen von Interventionen engen Kontakt zu Betroffenen hat, läuft Gefahr, intime Details aus der Betreuung in die Öffentlichkeit zu tragen. Außerdem bedeutet die Medienarbeit eine hohe zusätzliche Belastung. Ver-

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antwortungsträger in Katastrophen beziehen regelmäßig Vertreter der PSNV in Pressekonferenzen ein. Sie sind unverzichtbarer Bestandteil einer Präsentation geworden, in der sich Gesellschaft und Politik nach Katastrophen handlungsfähig gibt und negative Auswirkungen beseitigt (oder zumindest begrenzt).

4.9. Ende der psychosozialen Notfallversorgung Die psychosoziale Akutintervention kommt in der Katastrophe dann zu ihrem Ende, wenn der letzte Leichnam gefunden und identifiziert ist (bzw das Schicksal von Vermissten hinlänglich plausibel aufgeklärt ist). Wenn der Betroffene ein Trauernder ist, ist für ihn die Akutintervention beendet. Das bedeutet, dass Menschen, die trauern oder unter den psychischen Auswirkungen der Katastrophe leiden, nicht von den PSNV-Strukturen (und -Mitarbeitern!) begleitet werden, die peritraumatisch (unmittelbar nach Eintritt der Katastrophe) tätig wurden. Die fachlichen Anforderungen in der mittelfristigen PSNV unterscheiden sich maßgeblich von dem, was in einer qualifizierten und effizienten psychosozialen, peritraumatischen Akutintervention gefordert ist. Die Psychosoziale Akutintervention ist für ihre eigene Nachhaltigkeit auf eine gut strukturierte und inhaltlich qualifizierte mittelfristige PSNV angewiesen. In der qualifizierten psychosozialen Akutintervention bei Katastrophen wird von Anfang an mitbedacht, wie die Übergange in die mittelfristige PSNV (bis über den ersten Jahrestag des Ereignisses hinaus) gestaltet werden. Kommunale und regionale Ressourcen müssen dafür erfasst und in ein Netzwerk eingebunden werden. Grundlage für jede Übergabe Betroffener aus der Akutintervention in die mittelfristige PSNV bildet die Dokumentation.

4.10. Supervision des PSNV-Teams Die psychischen und physischen Belastungen von PSNV-Mitarbeitern in Katastrophen sind erheblich. In den meisten PSNV-Einrichtungen kommen ehrenamtliche Mitarbeiter zum Einsatz. Sie müssen in Katastrophen zum Teil mehrere Tage unter extremen Bedingungen tätig werden. Nach dem Ende ihrer Tätigkeit müssen sie so bald wie möglich ihrem Arbeitgeber zur Verfügung stehen, in vielen Fällen müssen ehrenamtliche PSNV-Mitarbeiter für ihren Katastropheneinsatz („Erholungs-“)Urlaub nehmen. Die politischen Rahmenbedingungen dieser Form von hoch qualifizierter Ehrenamtlichkeit können in weiten Teilen nur als Abwertung und Kränkung des Engagements gedeutet werden. Ehren- oder nebenamtlichkeit liegt in der Natur der PSNV: es wäre niemandem zuzumuten, in 40 Wochenstunden alltagsnahe PSNV durchführen (Todesnachrichten zu überbringen, Hinterbliebene nach Suizid

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zu betreuen, etc). Die schnelle Rückkehr an den Arbeitsplatz wird von manchen PSNV-Mitarbeitern als Entlastung wahrgenommen, weil sie wieder in ihren alltäglichen Bezügen stehen, die ihnen vertraut sind und ihnen Halt geben. Trotzdem wirken die Belastungen nach. Eine ausführliche und kompetente Supervision ist eine Selbstverständlichkeit. Ob sie alle Belastungen zu bearbeiten vermag, die sich aus der Tätigkeit in der PSNV bei Katastrophen ergeben, bleibt dahin gestellt. Die Erfahrung aus Katastrophen belegt, dass die PSNV im Nachhinein sowohl von Behörden wie von der Politik keine Wertschätzung und angemessene Anerkennung ihres Beitrages zu erwarten hat.

Literatur Beerlage I, Hering T, Nörenberg L (2004) Entwicklung von Standards und Empfehlungen für ein Netzwerk zur bundesweiten Strukturierung und Organisation psychosozialer Notfallversorgung. http://www.psychosoziale-notfallversorgung.de Helmerichs J (2006) Psychosoziale Notfallversorgung. Bevölkerungsschutz Sonderausgabe 2006 Krüsmann M, Müller-Cyran A (2005) Trauma und frühe Interventionen. Möglichkeiten und Grenzen von Krisenintervention und Notfallpsychologie. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta, S 85ff Mitchell JT, Everly GSJ (1995) The critical incident stress debriefing (CISD) and the prevention of work-related traumatic stress among high risk occupational groups. In GSJ Everly and JM Lating (eds), Psychotraumatology: Key papers and core concepts in post-traumatic stress (pp 267– 280). New York: Plenum Press. Müller-Cyran A (1999) Basis-Krisenintervention. Fundierter Umgang mit akut psychisch Traumatisierten. Notfall- und Rettungsmedizin 2: 293–296

Kapitel 5

Komplexe Einsätze der Psychosozialen Notfallversorgung in der Praxis Daniela Halpern

Das Ziel dieses Artikels ist es, die praktischen Anforderungen für die Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV)1 anhand von Einsatzbeispielen zu veranschaulichen. Die inhaltliche Analyse von vier PSNV-Einsatzberichten ermöglicht, einerseits die wichtigsten Aspekte einer komplexen Schadenslage (Ereignis, betroffene Personen, Einsatzkräfte, Faktor „Öffentlichkeit“ …) zu skizzieren, andererseits die Spezifika von PSNV-Einsätzen bei komplexen Schadenslagen (Einsatzdauer, Personalaufwand, verschiedene Einsatzorte, unterschiedliche Bedürfnislagen …) herauszuarbeiten.

5.1. Einsatzberichte Bei der Beschreibung der Einsatzbeispiele werden die unterschiedlichen Schadenslagen in ihrer Komplexität deutlich, die wiederum ihren Niederschlag in unterschiedlich komplexen PSNV-Einsätzen finden.2 1

2

PSNV bedeutet Psychosoziale Notfallversorgung und wird im weiteren Verlauf des Kapitels mit PSNV abgekürzt. In den jeweiligen Ländern gibt es für PSNV unterschiedliche Bezeichnungen: Akut-Betreuung (AB), Notfallseelsorge (NFS), Krisen-Interventions-Team (KIT), Groupe de Support Psychologique der Protection Civile (Psychologischer Dienst des Zivilschutzes-GSP). Um die Anonymisierung der Einsatzberichte zu gewährleisten, wird immer der Begriff Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) verwendet werden. Sämtliche der Autorin vorliegenden Einsatzberichte wurden anonymisiert, da die Tätigkeit in der PSNV der klinisch-psychologischen Schweigepflicht unterliegt und keinerlei Daten oder Details bezüglich Einsätze an Dritte weitergegeben werden dürfen. Aus diesem Grund werden die Einsatzerfahrungen in verdichteter Form wiedergegeben. Abkürzungen wurden von der Autorin beliebig gewählt und stehen in keinerlei Zusammenhang zu Namen von Betroffenen oder Bezeichnungen von Orten, Städten und Ländern.

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5.1.1. Schiffsunglück An einem Vormittag im Frühling unternimmt ein Großteil einer ausländischen Touristengruppe (40 Personen) eine Rundfahrt mit zwei Booten (A und B) in einem unterirdischen See. Diejenigen, die an dem Ausflug nicht teilnehmen, warten in einem Lokal in unmittelbarer Nähe des Ausflugsortes. Vor den Augen der Touristen im Boot B kentert das Boot A kurz vor dem Anlegen und begräbt einige Personen unter sich. Die eingetroffenen Einsatzkräfte des Rettungsdienstes, der Notarzt und die Feuerwehr leiten sofort alle erforderlichen Rettungsmaßnahmen ein. Zunächst wird eine Person tot geborgen, vier weitere Personen werden vermisst. Taucher3 der Feuerwehr führen eine Suchaktion durch und finden die vermissten Personen. Die Einsatzkräfte der Rettung versuchen diese Personen zu reanimieren, jedoch verläuft bei allen vier Personen die Reanimation erfolglos und sie versterben noch an der Unglücksstelle. Des Weiteren gibt es einige leichte Verletzte, die jedoch ambulant versorgt werden können. Die leicht verletzten und unverletzten Personen werden im Gemeindezentrum untergebracht. Der Bürgermeister überbringt der betroffenen Touristengruppe die Nachricht, dass 5 Personen bei diesem Unglück ums Leben gekommen sind. Ein örtliches PSNV-Team (zwei Personen) wird von der Einsatzleitung angefordert. Das örtliche PSNV-Team betreut in Einzelgesprächen die Personen aus der Touristengruppe, die Angehörige bei diesem Bootsunfall verloren haben. Diese Personen äußern sehr bald den Wunsch, ihre verstorbenen Angehörigen nochmals zu sehen. In Zusammenarbeit mit dem zuständigen Pfarrer begleitet das örtliche PSNV-Team die Hinterbliebenen zur Verabschiedung der verstorbenen Angehörigen. Zeitgleich alarmiert der Einsatzleiter das 40 km entfernte PSNV-Team aus der Nachbarstadt XY zur Unterstützung der psychologischen Betreuung der Betroffenen. In weiterer Folge sind 8 Mitarbeiter aus dem PSNV-Team der Nachbarstadt XY in den nächsten 33 Stunden in diesem Einsatz tätig. Das örtliche PSNVTeam4 übernimmt die Betreuung der Einsatzkräfte und des Bootslenkers. Das PSNV-Team der Nachbarstadt XY begleitet die betroffene Reisegruppe in ihr Hotel und steht in den nächsten Stunden als Ansprechpartner für diese zur Verfügung. Das PSNV-Team ist ua auch bei der Befragung durch die Polizei anwesend. Am Abend organisiert das PSNV-Team der Nachbarstadt XY eine Gedenkfeier, die die Kollegen der Notfallseelsorge in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Pfarrer gestalten. Während der Nachtstunden sind ebenfalls vier PSNV-Mitarbeiter als Ansprechpartner im Hotel anwesend. Da es sich um einen Einsatz mit internationaler Dimension handelt, gibt es eine enge Zusammenarbeit mit der betroffenen Botschaft. Mit dieser wird verein3

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Zur Vereinfachung für den Leser werden in weiterer Folge immer nur Bezeichnungen in männlicher Form verwendet, unabhängig davon, ob weibliche oder männliche Personen gemeint sind. Die Autorin beschreibt in diesem Einsatzgeschehen vor allem die Tätigkeit des PSNV-Teams aus der Nachbarstadt XY.

Komplexe Einsätze der Psychosozialen Notfallversorgung in der Praxis

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bart, dass zwei Mitarbeiter des PSNV-Teams aus der Nachbarstadt XY am nächsten Tag die Reisegruppe – auf ihren Wunsch hin – auf der Rückfahrt im Reisebus bis an die Grenze begleitet und dort die Übergabe der Touristengruppe an das PSNV-Team aus der Heimatregion der Touristen erfolgt. Während des gesamten Einsatzes ist es Aufgabe der PSNV-Einsatzleitung, mit dem großen Medieninteresse umzugehen. Der PSNV-Einsatz des PSNV-Teams aus der Nachbarstadt XY kann nach 33 Stunden intensiver Einsatzarbeit abgeschlossen werden. Im Anschluss an den Einsatz erfolgt eine ausführliche Nachbesprechung und Supervision des Einsatzes. Aus Sicht der PSNV ist es die wichtigste Aufgabe im Einsatz, der Touristengruppe das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, das den Betroffenen angesichts des Ausmaßes des Ereignisses verloren gegangen ist.

5.1.2. Verkehrsunfall Gegen 11.05 Uhr an einem Werktag während der Ferienzeit ereignet sich auf einer Schnellstraße vor einer Ortseinfahrt ein schwerer Verkehrsunfall. Ein LKW stößt aus unbekannter Ursache mit dem entgegenkommenden Fahrzeug, einem Kleintransporter, zusammen. Dieser wird durch den Zusammenstoß vollkommen zerstört. In weiterer Folge kommt es zu schweren Auffahrunfällen, in die mehrere PKW involviert sind. In diesen Unfall sind 23 Personen aus 6 Fahrzeugen verwickelt. Es gibt 10 leicht Verletzte, drei schwer Verletzte und 5 Tote (davon drei Kinder5) sowie einige nicht verletzte Personen. Alle verletzten und verstorbenen Personen werden in die umliegenden Krankenhäuser (A, B, C) gebracht. Die unverletzten Personen werden im Feuerwehrhaus der Ortschaft untergebracht. Erst gegen 14.30 Uhr, dh fast drei Stunden nach dem Unfall, sind alle beteiligten Personen (wer gehört zu wem und zu welchem Fahrzeug?) in einer Übersicht erfasst und dem Unfallgeschehen zugeordnet. Die Alarmierung des zuständigen PSNV-Teams erfolgt gegen 11.40 Uhr über den behördlichen Einsatzleiter mit dem Einsatzauftrag, die unverletzten und leicht verletzten Personen zu betreuen. Die Einsatzleitung PSNV veranlasst eine Großalarmierung der PSNV, klärt den Betreuungsbedarf und verteilt die PSNV in Zweierteams auf die verschiedenen Einsatzorte (Feuerwehrhaus und Krankenhäuser) auf. Drei Zweierteams der PSNV (6 Mitarbeiter) betreuen die unverletzten Personen im Feuerwehrhaus. Die dort betreuten unverletzten Personen setzen nach einiger Zeit ihre Urlaubsfahrt fort, nachdem sie über ihre Eindrücke mit den Mitabeitern der PSNV gesprochen haben. 5

Es wird immer der Begriff Kinder verwendet werden, unabhängig vom Alter der Kinder. Unter Kinder werden auch Jugendliche verstanden.

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Ein PSNV-Team betreut die leicht verletzten Personen, die im Krankenhaus A ambulant versorgt werden können. Ein PSNV-Mitarbeiter betreut den LKW-Fahrer, der ins Krankenhaus (KH) A zur medizinischen Erstversorgung gebracht wird. In weiterer Folge wird der Lenker in das KH E mit psychiatrischer Versorgung gebracht und dabei vom PSNVMitarbeiter begleitet. Am nächsten Tag erfolgt ein nochmaliger Besuch des Mitarbeiters der PSNV beim Unfalllenker im KH E, zumal der Unfalllenker das Ausmaß des Unfalls erfahren hat und sich nun große Vorwürfe macht. Laut ersten Angaben der Polizei hat der Lenker den Unfall verursacht. Ein weiteres PSNV-Team betreut eine verletzte Person X, die zur 7-köpfigen Besetzung des Kleintransporters gehörte. Ihr 10-jähriges Kind sowie eine befreundete Person und deren Kind sind bei diesem Unfall getötet worden. Ein PSNV-Team führt einen sehr intensiven und über zwei Tage dauernden Einsatz bei der 6-köpfigen Familie Z durch. Die Eltern und zwei Kinder erleiden Verletzungen leichteren Grades. Sie werden im KH A zunächst ambulant behandelt und dann stationär aufgenommen. Die Eltern wissen jedoch nicht, wohin ihre anderen beiden Kinder gebracht worden sind und wie es ihnen geht. Der Vater vermutet bereits, dass das eine Kind verstorben ist, da er gesehen hat, wie es an der Unglücksstelle reanimiert worden ist. Nachfragen durch das PSNV-Team ergeben, dass ein Kind der Familie Z im KH B operiert wird, sich aber nicht in Lebensgefahr befindet. Das andere Kind der Familie Z ist ins KH C gebracht worden und dort verstorben. Es erfolgt ein psychischer Zusammenbruch der Mutter, der das Eingreifen des medizinischen Personals erfordert. Das PSNV-Team unterstützt die Familie in den nächsten Stunden. Gemeinsam erfolgen ein Besuch beim operierten Kind sowie die Verabschiedung vom verstorbenen Kind. Verwandte werden informiert und die nächsten Schritte besprochen. Das PSNV-Team ist vor allem auch Ansprechpartner für die Kinder, die sehr geschockt und verunsichert sind. Es gelingt den PSNV-Mitarbeitern, einen guten Kontakt zu ihnen aufzubauen. Am nächsten Tag begleitet das PSNV-Team die Familie in das Krankenbaus ins benachbarte Ausland, wo die Familie Z stationär aufgenommen wird und weitere medizinische und psychologische Unterstützung erhält. Das PSNV-Team betreut in diesem Einsatz 23 Personen aus insgesamt 6 Fahrzeugen, wobei die Insassen von vier Fahrzeugen direkt in den Unfall verwickelt sind, die Insassen von zwei Fahrzeugen erleben als Augenzeugen das Unfallgeschehen. Insgesamt sind während der Einsatzdauer von zwei Tagen 17 PSNV-Mitarbeiter in dem Einsatz tätig. 5.1.3. Flugzeugabsturz An einem sehr nebeligen Vormittag, wenige Kilometer vom Flughafen der Stadt X entfernt, schlägt ein Flugzeug, besetzt mit 19 Passagieren (verschiedener Nationa-

Komplexe Einsätze der Psychosozialen Notfallversorgung in der Praxis

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litäten aus Europa) und 3 Crew-Mitgliedern (Pilot, Kopilot und Stewardess), auf einem Acker auf und zerbricht an einem hohen Hügel in zwei Teile. Das Flugzeug beginnt zu brennen. Der Notruf/Großalarm wird durch zwei Augenzeugen ausgelöst. Von den Einsatzkräften können an der Unglücksstelle 16 Passagiere und der Kopilot nur noch tot geborgen werden. Fünf Personen werden schwer verletzt geborgen. Einer davon ist der Pilot, der auch ansprechbar ist und aus dem Cockpit von den Einsatzkräften der Feuerwehr herausgeschnitten werden muss. Insgesamt sind 180 Einsatzkräfte mit 65 Einsatzfahrzeugen am Unglücksort tätig. Zur medizinischen Versorgung der schwer verletzten Personen wird eine Sanitätshilfsstelle aufgebaut und für die Toten ein Zelt errichtet. Die schwer Verletzten werden in die umliegenden Krankenhäuser gebracht. Von den fünf schwer Verletzten versterben in weiterer Folge drei Personen. Bei dem Flugzeugunglück gibt es insgesamt 20 Tote und zwei Überlebende. Die Toten können erst nach der kriminaltechnischen Begutachtung in eine drei Kilometer entfernte Leichenhalle gebracht und aufgebahrt werden. Dort findet auch die Identifizierung der Leichen durch die Gerichtsmedizin statt, die jedoch einige Tage dauert. Die Angehörigen werden genauestens über die Schritte der Identifizierung und den Zeitpunkt der Freigabe6 informiert. Die Einsatzleitung PSNV koordiniert und organisiert den PSNV-Einsatz und ist in die behördliche Gesamteinsatzleitung eingebunden. Es besteht während des gesamten Einsatzes eine enge Zusammenarbeit mit den anderen Einsatzorganisationen sowie mit den Verantwortlichen der Airline und denjenigen Führungskräften, die für Flugnotfälle zuständig sind. Diese werden – auf ihren Wunsch hin – seitens der PSNV bezüglich des Umgangs mit den Angehörigen der betroffenen Airline und den Angehörigen der verunglückten Passagiere beraten. Aufgrund der internationalen Dimension des Einsatzes gibt es enge Kontakte zum Außenministerium und zu den betroffenen Botschaften. Die PSNV-Teams sind zu verschiedenen Zeitpunkten an verschiedenen Einsatzorten tätig. Ein PSNV-Team steht Einsatzkräften als AnsprechpartnerInnen in den Rückzugs-Räumlichkeiten nahe der Unfallstelle zur Verfügung. Die PSNV-Teams sind immer wieder an den Orten (Unfallstelle, Gebäude …) tätig, wo sich Augenzeugen aufhalten, da sich die Betreuung von Augenzeugen als eine sehr zentrale Aufgabe für die PSNV herausstellt. Mitarbeiter des Flughafens und der betroffenen Airline nehmen das Angebot einer psychosozialen Betreuung durch die PSNV in einem nicht erwarteten 6

Freigabe bedeutet, dass die Gerichtsmedizin die Obduktion und Identifikation abgeschlossen hat und die Leiche „freigegeben“ wird. Erst jetzt können Angehörige alle weiteren Schritte für die Bestattung erledigen und erst nach der Freigabe ist eine Verabschiedung von den Verstorbenen – ein nochmaliges Sehen – möglich. Die Zeit bis zur Freigabe der Verstorbenen ist für die Hinterbliebenen sehr oft sehr belastend.

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Ausmaß in Anspruch. Angehörigen der betroffenen Crew wird Unterstützung durch die PSNV angeboten. Weiters unterstützt die PSNV die Hotline der betroffenen Airline und baut eine psychosoziale Hotline in der Notrufzentrale auf. Angehörigen der verunglückten Passagiere wird vielfältige Unterstützung durch PSNVTeams angeboten. Die Abholer aus den verschiedenen Ländern werden am Flughafen und im Hotel, das seitens der Airline zur Verfügung gestellt wird, in Empfang genommen. Im Laufe des Abends und in der Nacht reisen ca. 40 Angehörige an. Am nächsten Tag wird Angehörigen in Begleitung von PSNV-Teams ein erstes Gedenken an der Unfallstelle ermöglicht. Weiters können die Angehörigen, sofern sie es wünschen, von ihren Verstorbenen, die in der Leichenhalle aufgebahrt sind, Abschied nehmen. Dabei werden sie von Mitarbeitern der PSNV begleitet und auf den Anblick ihres/r Verstorbenen vorbereitet.7 Ebenso ist ein Geistlicher während der gesamten Zeit anwesend. Am Abend findet in Begleitung der PSNV eine erste ökumenische Gedenkfeier in der Kirche statt. Einige Tage später findet ein nationaler (ökumenischer) interreligiöser Gedenkgottesdienst statt. Die betroffene Airline stellt Sonderflüge für die Teilnahme an dieser Gedenkfeier zur Verfügung. Hinterbliebene werden, sofern der Wunsch besteht, von den gleichen Mitarbeitern der PSNV, wie bereits Tage zuvor, begleitet und unterstützt. Der PSNV-Einsatz dauert 13 Tage und wird von 49 KollegInnen der PSNV geleistet. In den ersten Tagen findet, bedingt durch die Ankunft von ca. 40 Hinterbliebenen, eine sehr intensive Betreuungstätigkeit statt. Nach 13 Tagen erfolgt eine Einsatznachbesprechung mit einer Auswertung des Einsatzes. Der Einsatz wird mit einer Supervision, an der die meisten im Einsatz gewesenen PSNV-Mitarbeiter teilnehmen, abgeschlossen.

5.1.4. Lawinenabgang Am Tag X in der Wintersaison kehren drei Personen von einer Wildfütterung am Fuße eines Berges nicht mehr ins Tal zurück. Seit diesem Zeitpunkt gelten diese Personen als vermisst. Am nächsten Tag führen die Einsatzkräfte der Bergrettung, Hundeführer und Alpinpolizei sofort eine groß angelegte Suchaktion durch, die jedoch wegen akuter Lawinengefahr vorerst abgebrochen werden muss. Erst nach Absprengung der Lawinenhänge können die Sucharbeiten weitergeführt werden. Alle technischen und 7

Für die Angehörigen ist es möglich und zumutbar, ihre Verstorbenen nochmals zu sehen, da diese bei dem Flugzeugunglück nicht bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurden. Der Verabschiedung in einem adäquaten Rahmen kommt eine große Bedeutung zu und bedarf bei der Planung und Durchführung allergrößter Vorsicht (siehe Kap. 7).

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personellen Möglichkeiten werden bei dieser Bergung ausgeschöpft (zB der Einsatz von speziellen Dampfsonden, die aus der Nachbarregion eingeflogen werden). Ein Bagger wird mit dem Hubschrauber zum Lawinenkegel gebracht. Die Anforderung des PSNV-Teams erfolgt über die Polizei, um die im Gasthaus X eingetroffenen Angehörigen zu betreuen. Im Laufe des Einsatzes erfolgt aufgrund der Komplexität der Problemlage und der immer größer werdenden Anzahl der zu betreuenden Personen eine Nachalarmierung von PSNV-Mitarbeitern. Ein erfahrener Kollege aus dem PSNV-Team übernimmt die Einsatzleitung für den PSNV-Einsatz. Es besteht eine enge Zusammenarbeit mit der behördlichen Einsatzleitung, mit der auch alle weiteren Schritte besprochen werden. Das PSNV-Team führt erste Gespräche mit den Verwandten, informiert über die Rettungsarbeiten und die geplanten weiteren Schritte der Suche. Die Hoffnung, die drei Männer noch lebend zu bergen, schwindet von Stunde zu Stunde. Die Schneemassen und das Flächenausmaß der Lawine werden den Angehörigen zuerst durch Bilder und dann durch eine Fahrt zum Lawinenkegel näher gebracht, sodass diese schließlich selbst zu der Erkenntnis kommen, dass ihre Angehörigen diese Naturgewalt nicht überlebt haben können. Die Suchaktionen werden eingestellt. Insgesamt werden an diesem Wochenende täglich zirka 40 betroffene Familienmitglieder und bis zu 200 Einsatzkräfte der Suchmannschaften von PSNV-Mitarbeitern betreut. Während der nächsten Wochen übernimmt ein Mitarbeiter der PSNV die Betreuung der Familien der vermissten Personen. Die psychosoziale Begleitung hat zum Ziel, offene Fragen, Sorgen und Bedürfnisse der Angehörigen wahrzunehmen und mit ihnen Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, sodass sie selbst wieder handlungsfähig werden. Die Suche nach den Vermissten geht weiter und die Einsatzkräfte führen tägliche Patrouillen am Lawinenkegel durch. Ein Monat später findet eine Gebietsübung der Bergrettung am Lawinenkegel statt, in der Hoffnung, die vermissten Personen zu finden. Die erneut anwesenden 20 Angehörigen werden von drei PSNV-Mitarbeitern in den Stunden des Wartens psychosozial betreut. Die Übung bleibt jedoch ohne Suchergebnis. Einige Tage später begleitet ein PSNV-Mitarbeiter die Polizei zu den Familien, um DANN-fähiges Material einzuholen. Die erste vermisste Person wird einige Tage nach der Übung tot aufgefunden. Bei der Überbringung der Todesnachricht begleiten zwei PSNV-Mitarbeiter die Polizei. Einen weiteren Monat später, dh drei Monate nach dem Lawinenunglück, werden mithilfe der Rettungshunde und der Dampfsonden die zwei noch vermissten Personen in vier Metern Tiefe tot aufgefunden und geborgen. Die Angehörigen werden nach Absprache mit der Einsatzleitung vor der Presse persönlich von dem PSNV-Mitarbeiter verständigt und finden sich anschließend wieder im Gasthaus X ein, wo sie weiterhin von einem PSNV-Team betreut werden.

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Bedingt durch das Vermisstsein der drei Männer umfasst die Einsatzdauer drei Monate, in denen immer wieder Einsätze durch Mitarbeiter der PSNV stattfinden. Insgesamt sind in diesem Einsatz 14 Mitarbeiter der PSNV eingebunden.

5.1.5. Besondere Belastungen für die betroffenen/zu betreuenden Personen In den oben beschriebenen Einsatzbeispielen erleben die betroffenen/zu betreuenden Personen ein traumatisches Ereignis mit den Merkmalen „Grauen erregend, fürchterlich, Horror, grotesk und überschwemmend“. Jede Person, unabhängig davon, ob sie direkt oder indirekt von dem Ereignis betroffen ist, ist einer Vielfalt von äußeren und inneren Belastungsfaktoren ausgesetzt. Diese führen zu den verschiedenen Gedanken und Gefühlen sowie zu unterschiedlichsten physischen und psychischen Reaktionen8: – Was ist passiert? Das darf nicht wahr sein! Bin ich verletzt? Wo ist mein Kind? Meine Freundin? Was ist mit dem Auto? – Ich höre Menschen schreien: Schnell Notruf – Rettung, Polizei anrufen! Ich muss helfen, wo soll ich anfangen? – Mein Kind liegt am Boden auf der Straße und blutet, ich kann ihm nicht helfen. – Wie geht es meinem Kind? Wo wird es hingebracht? Wieso sagt mir keiner etwas? – Ich muss aus dem Wasser heraus! Hilfe, ich will nicht ertrinken! Wo sind die anderen? – Es ist nass, kalt – werde ich überleben? – Wo sind meine Angehörigen? Meine Handtasche mit meiner Brille ist fort! – Ich sehe meine Frau nicht mehr, wir saßen gerade noch nebeneinander im Boot und haben uns unterhalten. – Mir wird schlecht … – Mir dreht sich alles, ich glaube, ich muss mich setzen … Wo ist ein Arzt? – Hört das Zittern auch wieder auf? Ist das normal? Ich habe es nicht unter Kontrolle … Ich habe hier gar nichts unter Kontrolle … – Ich glaube, mein Kopf zerspringt mir gleich. – Mir ist so kalt, eine Decke wäre gut. – Da sind lauter fremde Menschen in Uniformen – alle fragen das Gleiche. Was soll ich antworten auf die Frage, wie es mir geht? – Ich will wissen, wie es weitergeht. Niemand kann es mir sagen. Jeder sagt nur: Ich weiß nicht. Bitte bleiben Sie hier. Ich möchte weg, ich will gar nicht hier sein. – Ich will nach Hause, das darf nicht wahr sein. Ich träume nur, das ist nur ein schlechter Film. 8

Das sind „normale“ Reaktionen auf ein „nicht“ normales Ereignis.

Komplexe Einsätze der Psychosozialen Notfallversorgung in der Praxis

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– Warum nur haben wir nicht länger Pause gemacht auf der Raststation: Dann wären wir jetzt nicht in den Unfall involviert. Ich bin schuld, hätte ich nur darauf bestanden, eine längere Pause zu machen. – Wieso musste ich dieser blöden Bootsfahrt zustimmen? Meine Mutter wollte ohnehin nicht daran teilnehmen. Ich habe es ihr geraten. Wieso nur habe ich das getan? Wenn wir nicht teilgenommen hätten, dann wäre uns nichts passiert. – Nein, danke – essen kann ich nichts – ich will meine Ruhe, neue Informationen. Ah, jetzt kommt einer in Uniform, der hat etwas zu sagen: Nein, nein, nein, meine Lieben sind nicht tot – was redet der da, das stimmt nicht, das darf nicht stimmen. Was sage ich meiner Schwester? Das ist alles ein schlechter Scherz. – Ich will anrufen, aber wo ist mein Handy? Alle meine Sachen sind noch im Boot. Ich kann nicht mehr. Dabei hat es mir gut zu gehen, ich lebe noch, aber mein Nachbar ist ertrunken, das gibt es doch nicht … – Ich muss hinaus, eine Runde gehen, ich will hier nicht länger sitzen. – Fragen über Fragen nach Details: Ich kann mich nicht erinnern, es ging alles so schnell und doch wie in Zeitlupe, ich weiß nicht genau, was wann war. – Die Suchaktionen werden eingestellt? Das geht doch nicht! Meine Schwester ist doch noch immer nicht gefunden! Vielleicht lebt sie ja noch! – Ich will meine Verstorbenen nochmal sehen, ich glaube es einfach nicht. Was heißt, das geht nicht. Ich will aber, es sind meine Angehörigen. Es ist mir zumutbar. Ich will mich vergewissern, vielleicht ist alles nur ein Irrtum. – Wen soll ich jetzt verständigen? Meine Frau, meine Kinder, meine Mutter? Was mache ich nur? – Ich will nicht in die Zeitung kommen! Bitte helfen Sie mir, das zu verhindern. – Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Ich weiß nichts mehr. Alles, was gerade noch wichtig war, ist vollkommen nebensächlich. Es ist Aufgabe der PSNV, diese verschiedenen Belastungsfaktoren zu erkennen und den daraus resultierenden unterschiedlichen Bedürfnislagen der betroffenen Personen gerecht zu werden. Ziel jeder PSNV ist es, die akute Belastung zu verringern.

5.2. Begriff der Komplexität In Tabelle 1 werden die Fakten der einzelnen Einsatzbeispiele einander gegenübergestellt. Dabei ist zu erkennen, dass die Ausgangslagen in den einzelnen Einsatzbeispielen sehr unterschiedlich sind. So verschieden die komplexen Schadenslagen sind, so unterschiedlich sind auch die einzelnen PSNV-Einsätze. Verallgemeinert lässt sich sagen: Je komplexer eine Schadenslage ist, umso komplexer wird in der Regel auch ein PSNV-Einsatz in dieser Schadenslage sein. Eine komplexe Schadenslage begründet sich ua aus dem Ereignis selbst, der Anzahl der involvierten Einsatzkräfte und der eingeleiteten Einsatzmaßnahmen,

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der Anzahl von Toten und schwer verletzten Personen sowie der zu betreuenden Personen. Das Ausmaß an Öffentlichkeit, das dem Ereignis zukommt, ist ein weiterer wichtiger Faktor für komplexe Schadenslagen. Die charakteristischen Merkmale eines PSNV-Einsatzes in einer komplexen Schadenslage sind ua eine größere Anzahl von PSNV-Mitarbeitern, eine längere Einsatzdauer, unterschiedliche Einsatzorte, enge Zusammenarbeit mit Einsatzorganisationen und eine Vielzahl an Einsatzaufgaben für das PSNV-Team und die Einsatzleitung PSNV (vgl auch Kap. 2). Tabelle 1 Komplexe Schadenslage Schiffsunglück Zahl der betroffenen Personen Zahl der leicht Verletzten am Einsatzort Zahl der schwer Verletzten am Einsatzort Zahl der Vermissten Endgültige Zahl der Toten Zahl der Unverletzten Zahl der Angehörigen Einsatzkräfte

Verkehrsunfall

23 40 (in den Verkehrs(Touristengruppe) unfall involviert

Flugzeugabsturz Lawinenabgang 22 (Besetzung des Flugzeugs)

3 (vermisste Personen)

6

10







4

5



4





3

5

5

20

3

25

4





8

?

40

40

R, F, P; Anzahl unbek.

R, F, P; Anzahl unbek.

R, F, P, G; 180

R.-Hunde, Bergr., Alpinp.; BH – 200

Charakteristika eines komplexen PSNV-Einsatzes

Anzahl von PSNV (Zahl der) Einsatzorte Dauer des Einsatzes

Schiffsunglück

Verkehrsunfall

PSNV-Team P: 8 Insgesamt: 15

Flugzeugabsturz Lawinenabgang

17

49

15

6

6

10

5

33 Stunden

2 Tage

13 Tage

3 Monate

Komplexe Einsätze der Psychosozialen Notfallversorgung in der Praxis Legende: R F P G

Rettungsdienst Feuerwehr Polizei Gerichtsmedizin

Einsatzorte Schiffsunglück:

Einsatzorte Verkehrsunfall: Flugzeugabsturz:

Lawinenabgang:

R.-Hunde Bergr. Alpinp. BH

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Rettungshunde Bergrettung Alpinpolizei Bundesheer

Unglücksstelle, Gemeindezentrum, Verabschiedung von den Verstorbenen, Hotel, Reisebus, Begleitung der Betroffenen zur Bestattung im Ort des Unglücks Feuerwehrhaus, Krankenhaus A, Krankenhaus B, Krankenhaus C, Krankenhaus E, Krankenhaus Z. im benachbarten Ausland Unglücksstelle, Rückzugsmöglichkeiten für Einsatzkräfte, Hotline der Airline und Hotline in der Notrufzentrale, Flughafen-Ankunftshalle, Flughafen-Betreuungs- und -Informationszentrum, Hotel, Leichenhalle, erste Gedenkfeier, nationale Gedenkfeier Gasthaus X, Lawinenkogel, jede Familie zählt als 1 Einsatzort (3 Einsatzorte)

5.3. Komplexe Schadenslage Es erfolgt nun eine Zusammenstellung der wichtigsten Faktoren, die die Komplexität einer Schadenslage bedingen.

5.3.1. Das Ereignis per se Sehr häufig lassen bereits die ersten Informationen bei der Alarmierung der PSNV auf einen komplexen PSNV-Einsatz in einer komplexen Schadenslage schließen. Es handelt sich dabei immer um Ereignisse, die unbedingt Merkmale eines Traumas haben und die in ihrem Ausmaß „normale PSNV-Einsätze“9 bei weitem überschreiten. Die Situation selbst ist sehr häufig zu Beginn von Chaos und Unübersichtlichkeit gekennzeichnet. Die betroffenen bzw zu betreuenden Personen befinden sich in einem psychischen Ausnahmezustand, der gekennzeichnet ist von Fassungslosigkeit, Schock, Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Ratlosigkeit und Orien9

Unter „normalen PSNV-Einsätzen“ sind Einsätze wie zB plötzlicher Tod im familiären Bereich zu verstehen. Der Unterschied zu komplexen PSNV-Einsätzen besteht ua darin, dass es sich für die PSNV um einen zeitlich und personell überschaubaren Einsatz handelt. Zumeist reichen wenige Stunden seitens der PSNV-Mitarbeiter aus, um die Angehörigen emotional zu stabilisieren, sodass diese wieder handlungsfähig werden.

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tierungslosigkeit (vgl Lueger-Schuster und Krüsemann, Reaktionen nach einem Trauma …). Beim Einsatzbeispiel Schiffsunfall unternehmen Touristen eine Busreise ins Land X, um einfach ein paar Tage Urlaub zu machen. Bei einer Ausflugsfahrt in eine Höhle müssen sie miterleben, wie das eine Boot plötzlich kentert. Viele können sich retten. Doch es fehlen 5 Personen. Sie müssen noch im Wasser sein. Niemand kann sie zunächst finden. Und dann die traurige Gewissheit: 5 Personen, zum Teil Angehörige aus der Reisegruppe, kommen ums Leben. Aus einem harmlosen Ausflug an einem schönen Frühlingstag wird innerhalb weniger Sekunden so etwas wie ein Horrortrip. Nichts ist mehr ist so wie vor dem Ausflug. Noch dazu passiert dies in einem fremden Land, viele Kilometer von zu Hause entfernt. Zu Beginn herrscht nur Chaos und es gibt viele Fragen, die anfangs niemand beantworten kann: Was ist passiert? Ich lebe noch. Wo ist mein Angehöriger? Wie komme ich da hinaus? Wo sind meine Sachen? Meine Handtasche? Mir ist kalt! Ich bin nass! Wo sind die Personen, neben denen ich gerade noch im Boot gesessen bin? Ich kann sie nirgends finden. Wieso kann mir niemand Auskunft geben? Wieso muss die Polizei von mir wissen: Wie groß/wie schwer ich bin? Wo ich im Boot gesessen oder gestanden bin? Wer neben mir gesessen ist? Auch die Einsatzkräfte stehen fassungslos der Tatsache gegenüber, dass fünf Menschen trotz intensiver Reanimationsversuche noch an der Unglücksstelle versterben. Bei der Alarmierung „Kenterung eines Ausflugsbootes“ gehen die Einsatzkräfte nicht davon aus, dass Menschen dabei größeren Schaden erleiden, außer nass geworden zu sein. Für sie ist der unterirdische See bis zu diesem Zeitpunkt „ein sicherer Ort“ gewesen. Im Falle des schweren Verkehrsunfalls befinden sich Familien mit Kindern in ihren Autos auf der Fahrt in den Urlaub. Alles läuft wie geplant. Eben noch unterhalten sie sich, die Kinder schmieden Pläne, wie sie ihre Ferienzeit verbringen möchten. Ein LKW-Fahrer ist unterwegs. Er fährt diese Strecke nicht zum ersten Mal. Mit einem Mal kracht es, Reifen quietschen, Menschen schreien. Niemand kennt sich aus. Zwei Familien beobachten den Unfall, sie können ihn nicht verhindern. Einer von ihnen ist Arzt und leistet erste Hilfe. Später erzählt er den Kollegen der PSNV, dass er so einen schrecklichen Unfall noch nie erlebt hat. Zu Beginn herrscht Chaos. Einsatzkräfte sind bemüht, so schnell wie möglich die verletzten Personen zu versorgen und in Krankenhäuser zu transportieren. Eine Zuordnung der Menschen untereinander und zu den Fahrzeugen ist der PSNV-Einsatzleitung erst nach ca. drei Stunden möglich. Besonders betroffen macht bei diesem Ereignis die Tatsache, dass drei Kinder bei dem Verkehrsunfall ums Leben kommen.

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5.3.2. Die Zahl der betroffenen Personen und der zu betreuenden Personen sowie die unterschiedlichen Betroffenheitsgrade Tabelle 2 Ereignis betroffene Personengruppe, die von PSNV betreut worden sind: Augenzeugen unverletzte Personen leicht verletzte Personen nicht direkt betroffene Personen, waren beim Geschehen nicht dabei Personen, die Angehörige beim Unglück verloren haben / Personen vermissen Unfallverursacher Kinder/Jugendliche (nicht differenziert, ob direkt/indirekt betroffen/ verstorben Einsatzkräfte Nationalitätszugehörigkeit

Schiffsunfall

Verkehrsunfall

Flugzeugabsturz

Lawinenabgang

Ja Ja Ja

Ja Ja Ja

Ja – –

– – –

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja

Ja







Ja



Ja

Ja Ja

– Ja

Ja Ja

Ja –

Charakteristisch für komplexe PSNV-Einsätze in komplexer Schadenslage ist, dass es zumeist eine größere Anzahl von direkt betroffenen Personen, dh von tödlich verunglückten, schwer verletzten und vermissten Personen, gibt. Allerdings kann diese Anzahl, wie aus Tabelle 1 ersichtlicht ist, sehr variieren: so kommen beim Flugzeugabsturz 20 Personen ums Leben und beim Lawinenabgang werden „nur“ drei Personen vermisst. Wie in den Einsatzberichten deutlich wird, ist allerdings nicht nur die Anzahl von betroffenen Personen entscheidend, sondern es ist ganz entscheidend, welche Personengruppe betroffen ist (siehe auch Tabelle 2). Die Zahl der betroffenen Personen muss nicht zwangsläufig mit der Zahl der zu betreuenden Personen durch die PSNV übereinstimmen. Es kann in einem komplexen Einsatzgeschehen nur eine geringe Anzahl von Toten, schwer verletzten Personen und/oder vermissten Personen geben, aber eine große Anzahl von unverletzten bzw leicht verletzten Personen, die ein traumatisches Ereignis X (zB

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Schiffsunfall) körperlich unbeschädigt überstanden haben, jedoch psychisch durch das Ereignis sehr belastet sind. In jedem Fall gibt es Angehörige zu betreuen. Beim Flugzeugabsturz waren es alleine 40 Angehörige, die im Laufe des Abends in der Stadt X eintreffen. Beim Lawinenabgang gibt es drei vermisste Personen. Zu betreuen sind ebenfalls an die 40 Angehörige. Augenzeugen haben in der Betreuung der PSNV eine hohe Priorität, da diese in der Regel durch das Miterleben von traumatischen Ereignissen sehr belastet sind. Die Belastung rührt vor allem auch daher, dass sich das traumatische Ereignis vor ihren Augen abspielt, sie es jedoch nicht verhindern können. So ergeht es den Personen, die im Boot B sitzend das Kentern des Bootes A aus nächster Nähe miterleben, oder den beiden Augenzeugen, die beobachten, wie das Flugzeug am Acker aufschlägt und an einem hohen Hügel in zwei Teile zerbricht und zu brennen anfängt. Nicht zu vergessen sind Einsatzkräfte, die im Zuge von und nach Einsätzen ebenfalls von der PSNV zu betreuen sind, wie dies auch im Beispiel Lawinenabgang oder beim Flugzeugabsturz der Fall ist. Die Anzahl der zu betreuenden Personengruppen mit den unterschiedlichen Betroffenheitsgraden hat einen wesentlichen Anteil an der Komplexität eines PSNVEinsatzes und beeinflusst maßgeblich dessen Verlauf.

5.3.3. Einsatzkräfte Die Anzahl von involvierten Einsatzkräften ist je nach Schadenslage sehr unterschiedlich. Bei komplexen Schadenslagen (siehe Tabelle 1) findet man am Einsatzort Kollegen der Rettungsdienste, der Feuerwehr (zB zuständig für Berge- und Sicherungsmaßnahmen sowie Räumen der Unfallstelle) und KollegInnen der Polizei (zuständig für Absperrungen, Erhebungen etc). Alle involvierten Einsatzkräfte arbeiten engmaschig zusammen. Das Bemühen der Einsatzkräfte in jeder Schadenslage ist es, so schnell wie möglich betroffene Personen aus der Gefahrenzone zu bergen und die Unfallstelle zu räumen. Dies nimmt – abhängig von der Schadenslage – kürzere oder längere Zeit in Anspruch. – Unverletzte Personen werden so schnell wie möglich „an einen sicheren“ Ort (zB: Gemeindezentrum, Feuerwehrhaus, Gasthaus) gebracht, wo für die basalen Bedürfnisse (Essen, Trinken, trockene Kleidung, Telefon) der betroffenen Personen gesorgt wird. – Verletzte Personen werden nach der medizinischen Erstversorgung in die Krankenhäuser transportiert.

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Maßnahmen der Einsatzkräfte Auch die eingeleiteten Maßnahmen der Einsatzkräfte am Einsatzort weisen auf eine komplexe Schadenslage hin. – Nach dem Flugzeugabsturz ist die Flughafenfeuerwehr zunächst mit der Brandbekämpfung des Flugzeugs beschäftigt. – Der schwer verletzte, jedoch ansprechbare Pilot muss aus dem Cockpit durch die Einsatzkräfte der Feuerwehr herausgeschnitten werden. – An der Unglücksstelle wird eine Sanitätshilfsstelle zur medizinischen Versorgung der schwer verletzten Personen und ein Zelt für die Lagerung der Toten errichtet. – Die Toten können erst nach der kriminaltechnischen Begutachtung in eine 3 km entfernte Leichenhalle gebracht und aufgebahrt werden. – Die Operation der Einsatzkräfte am Tag des Ereignisses dauert 5 Stunden. – Am nächsten Tag wird das Flugzeugwrack von Einsatzkräften auseinander genommen und abtransportiert. Im Rahmen des Lawinenunglücks werden alle technischen und personellen Möglichkeiten bei der Bergung ausgeschöpft. – Spezielle Dampfsonden kommen zum Einsatz, die aus der Nachbarregion eingeflogen werden. – Ein Bagger wird mit dem Hubschrauber zum Lawinenkegel gebracht. – Die Schneemengen müssen abgesprengt werden, um die Sucharbeiten weiterführen zu können. – Einen Monat später wird im Zuge einer Gebietsübung der Bergrettung die Suchaktion fortgesetzt. – Zudem erfolgen täglich Patrouillen am Lawinenkegel. 5.3.4. Die „Öffentlichkeit“ eines Einsatzes Ein PSNV-Einsatz wird umso komplexer, je mehr sich die „Öffentlichkeit“ für den Einsatz interessiert und beispielsweise offizielle Stellen in diesen Einsatz involviert sind. Dies ist bei Einsätzen mit internationaler Dimension immer der Fall. Ein Einsatz für die PSNV wird auch umso komplexer, je mehr das Ereignis X in den Medien präsent ist. Einsätze mit internationaler Dimension Um einen Einsatz mit internationaler Dimension und damit immer um einen komplexen PSNV-Einsatz handelt es sich, wenn sich das Unglück in einem fremden Land ereignet und/oder Personen mit anderer Nationalitätszugehörigkeit von dem

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Unglück betroffen sind (zB Schiffsunfall, Verkehrsunfall, Flugzeugabsturz). Dies bedeutet, dass es im Einsatzverlauf enge Kontakte zu ausländischen Behörden, wie zB Außenministerium und/oder betroffenen Botschaften, gibt. Für die PSNV bedeutet dies wiederum einen erhöhten Koordinierungsbedarf. Beim Schiffsunfall gibt es während des gesamten PSNV-Einsatzes eine enge Zusammenarbeit zur eigenen und zu den ausländischen Behörden, insbesondere zur betroffenen Botschaft. Es bedarf Absprachen und des Einverständnisses der zuständigen in- und ausländischen Behörden, damit es möglich ist, dass zwei Mitarbeitern der PSNV aus der Nachbarstadt XY die Reisegruppe im Bus am nächsten Tag bis zur Grenze begleitet und dort die Reisegruppe an das PSNV-Team der Heimatregion der betroffenen Touristengruppe übergibt. Im Falle des Flugzeugabsturzes gibt es viele Personen mit anderen Nationalitätszugehörigkeiten. Aufgrund der internationalen Dimension des Einsatzes gibt es während des gesamten PSNV-Einsatzes enge Kontakte zum Außenministerium und zu den betroffenen Botschaften. Noch komplexer wird das Einsatzgeschehen für die PSNV, wenn es zu Verständigungsschwierigkeiten aufgrund von Sprachproblemen kommt. Dann müssen Dolmetscher hinzugezogen werden. Dies war in keinem der vier Einsatzbeispiele notwendig, kommt jedoch im Einsatzalltag immer wieder vor. Medienpräsenz Der Kontakt mit Vertretern von Medien erfordert seitens der PSNV ein ausgesprochenes „Fingerspitzengefühl“. Medien belagern fast 24 Stunden die Unterkunft der vom Schiffsunfall betroffenen Touristengruppe, um an Fotos und Interviews zu gelangen. Eine zentrale Aufgabe des PSNV-Teams ist es, die Touristengruppe – so gut es geht – von unerwünschten Kontakten zu Medien abzuschirmen. Aufgabe der PSNV-Einsatzleitung ist es, den Medienvertretern als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen und gleichzeitig die Intimsphäre der Betroffenen zu schützen. Das PSNV-Team, das die 6-köpfige Familie Z nach dem Verkehrsunfall im Krankenhaus A betreut, wählt den Hinterausgang, um gemeinsam mit den Betroffenen – von den Medien unbemerkt – das Krankenhaus verlassen zu können.

5.4. Charakteristika eines komplexen PSNV-Einsatzes Eine komplexe Schadenslage hat auch Auswirkungen auf die Komplexität eines PSNV-Einsatzes im Hinblick auf Dauer des Einsatzes, Personalaufwand, Betreu-

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ungstätigkeit von unterschiedlichen Personengruppen mit unterschiedlichen Bedürfnislagen. Um dieser Vielzahl an Einsatzaufgaben gerecht werden zu können, bedarf es einer Einsatzleitung innerhalb der PSNV.

5.4.1. Dauer des Einsatzes Einen komplexen PSNV-Einsatz zeichnet die lange Dauer des Einsatzes aus, die über die normale Zeitspanne eines PSNV-Einsatzes weit hinausgeht.10 Die Einsatzdauer ist abhängig von vielen Faktoren im Einsatzgeschehen. – – – – – – – –

Was ist passiert? Welches Ausmaß hat das Ereignis? Wer ist betroffen? Wer ist zu betreuen? Wo befinden sich die zu betreuenden Personen? Welche Grade an Betroffenheit und Bedürfnislagen gibt es unter den zu betreuenden Personen? Wie lange dauern die Bergungsarbeiten? Sind viele Wechsel von Einsatzorten notwendig? (Besuchen des operierten Kindes im Krankenhaus, Verabschiedung vom verstorbenen Kind …) Handelt es sich um einen Einsatz mit einer internationalen Dimension? Wie groß ist das Medieninteresse/die Medienpräsenz?

Im Rahmen des Schiffsunfalls sind 33 Einsatzstunden zu verzeichnen, weil erst nach diesem Zeitraum die betroffene Reisegruppe an das zuständige PSNVTeam an der Grenze übergeben werden kann. Die lange Einsatzdauer rührt daher, dass das PSNV-Team aus der Nachbarstadt XY während dieser 33 Stunden nahezu die gesamte Zeit den Betroffenen als Ansprechpartner zur Verfügung steht. Es gibt für die betroffene Reisegruppe kein anderes „vertrautes“ soziales Netz, da der Unfall sich in der „Fremde“ und nicht im eigenen Land ereignet hat. Aus diesem Grund besteht die Notwendigkeit, dass vier PSNV-Mitarbeiter auch während der Nachtstunden in der Unterkunft der Touristengruppe als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Die komplexe Betreuungssituation der Familie Z beim Verkehrsunfall sowie die Betreuung des Unfalllenkers führen zu einer zweitägigen Dauer des PSNV-Einsatzes. Die Mitarbeiter der PSNV können die Betreuungstätigkeit im Zuge des Lawinenabganges erst nach drei Monaten abschließen. Diese lange Einsatzdauer ist 10

Ein „normaler“ PSNV-Einsatz mit der Indikation „Tod eines Angehörigen im familiären Bereich“ beträgt durchschnittlich vier Stunden.

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bedingt durch das Vermisstsein von drei Personen. In den drei Monaten finden immer wieder Betreuungseinsätze zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt: – am ersten Tag der Suchaktionen, – während der nächsten Wochen fortlaufende Betreuung der Familien durch einen PSNV-Mitarbeiter, – und punktuelle Betreuungsangebote seitens der PSNV: – am Tag der Gebietsübung, – beim Einholen von DNA-Material durch die Polizei und – beim Überbringen der Todesnachricht und – beim abschließenden Betreuungseinsatz. Die lange Einsatzdauer des PSNV-Teams beim „Flugzeugabsturz“ (13 Tage) ergibt sich aus der Fülle von Einsatzaufgaben: – sehr intensive Betreuungstätigkeit während der ersten Tage, – Betreuungstätigkeit auch während der Nachtstunden – Ankunft von ca. 40 Hinterbliebenen aus verschiedenen Ländern, – Begleitung der Angehörigen zu Gedenkfeiern, – Betreuung von hot-/helplines, – Betreuung der Einsatzkräfte, – Betreuung der Augenzeugen, – Betreuung der Mitarbeiter der Airlines und der betroffenen Crew, – …

5.4.2. Personalaufwand (Nachalarmierung; mehrere Teams) Je komplexer ein PSNV-Einsatz wird, umso größer wird der Personalaufwand, um den Einsatz durchführen zu können. Die benötigte Anzahl an PSNV-Mitarbeitern hängt von der Anzahl der zu betreuenden Personen, den unterschiedlichen Bedürfnislagen der zu betreuenden Personen, der Anzahl der verschiedenen Einsatzorte und der zu erwartenden Dauer des PSNV-Einsatzes ab. In einen komplexen PSNVEinsatz sind in der Regel immer mehr als ein „normales“ PSNV-Team (zwei Personen tätig) involviert. Zumeist ergeht eine Großalarmierung und/oder eine Nachalarmierung an alle Mitarbeiter der PSNV, wie dies auch bei allen Einsatzbeispielen der Fall gewesen ist. Dies ist insbesondere auch deswegen wichtig, um zu gewährleisten, dass PSNV-Mitarbeiter ausreichend Ruhezeiten zur Verfügung haben. Wie aus Tabelle 1 zu ersehen ist, sind in den genannten Einsatzbeispielen zwischen 15 und 49 Kollegen tätig. – Im Einsatz Schiffsunfall erweisen sich seitens des PSNV-Teams aus der Nachbarstadt XY 8 Kollegen für die Durchführung des Betreuungseinsatzes als aus-

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reichend aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine relativ homogene Touristengruppe handelt, die in einer gemeinsamen Unterkunft untergebracht ist. Außerdem ist die Einsatzdauer begrenzt, da die Touristengruppe am nächsten Tag zurückfährt und der PSNV-Einsatz damit definitiv abgeschlossen sein wird. Das PSNV-Team wird jedoch in ihrer Einsatztätigkeit von Kollegen des örtlichen PSNV-Teams, der Notfallseelsorge und Kollegen der PSNV aus der Heimatregion der Touristen unterstützt. – Im Einsatz Verkehrsunfall werden 17 Kollegen der PSNV in der Betreuung benötigt, da viele unterschiedliche Personen an verschiedenen Einsatzorten zu betreuen sind. – Die große Anzahl von Mitarbeitern im Einsatzgeschehen „Flugzeugabsturz“ (49 Kollegen der PSNV) ist durch die große Anzahl von zu betreuenden Personen und die unterschiedlichen Personengruppen sowie die verschiedenen Einsatzorte und Einsatzaufgaben bedingt. Zudem müssen die Kollegen bei einer Einsatzdauer von 13 Tagen immer wieder „Einsatzpausen“ haben – und es daher „Personalablösen“ geben muss. – Im Einsatzbeispiel Lawinenabgang erfolgt aufgrund der Komplexität der Problemlage und der immer größer werdenden Anzahl der zu betreuenden Personen (Angehörige, aber auch Einsatzkräfte) eine Nachalarmierung von PSNVMitarbeitern. Die Anzahl von 15 PSNV-Mitarbeitern wird durch die Tatsache bedingt, dass immer wieder PSNV-Teams zu bestimmten Zeitpunkten tätig werden: erneute Suchaktion, Einholen von DNA-Material, Überbringen der Todesnachricht ...

5.4.3. Verschiedene Einsatzorte In komplexen PSNV-Einsätzen gibt es einerseits mehrere Einsatzorte (siehe Tabelle 1), an denen PSNV-Teams tätig sind, und andererseits können sich Einsatzorte jedoch immer wieder ändern. Im Einsatz Verkehrsunfall sind verschiedene PSNV-Teams gleichzeitig an verschiedenen Einsatzorten tätig: – Ein PSNV-Team betreut die unverletzten Personen im Feuerwehrhaus. – Ein anderes PSNV-Team ist bei den leicht Verletzten im Krankenhaus A. – Ein PSNV-Team betreut die Familie Z im Krankenhaus A, jedoch stellt diese Betreuung einen eigenen „PSNV-Einsatz“ dar, aufgrund der komplexen Familiensituation. Im Zuge der Betreuung der Familie Z finden mehrere Wechsel des Einsatzortes statt: – Das PSNV-Team betreut zunächst die Familie Z im Krankenhaus A, – begleitet dann die Familie Z zum operierten Kind ins Krankenhaus,

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– zur Verabschiedung vom verstorbenen Kind und – am nächsten Tag ins Krankenhaus des benachbarten Landes. Während des Einsatzes bei einem Flugzeugabsturz gibt es viele verschiedene Einsatzorte, an denen Mitarbeiter der PSNV tätig sind. – Ein PSNV-Team steht Einsatzkräften als Ansprechpartner in den RückzugsRäumlichkeiten nahe der Unfallstelle zur Verfügung. – PSNV-Teams sind immer wieder an den Orten (Unfallstelle, Gebäude …) tätig, wo sich Augenzeugen aufhalten. – PSNV-Mitarbeiter unterstützen die Hotline der betroffenen Airline und installieren eine psychosoziale Hotline in der Notrufzentrale. – Abholer aus den verschiedenen Ländern werden von PSNV-Teams am Flughafen und im Hotel, das seitens der Airline zur Verfügung gestellt wird, in Empfang genommen. Im Zuge der Betreuung der Angehörigen nach dem Flugzeugabsturz kommt es zu einem Wechseln der Einsatzorte der PSNV-Teams: – PSNV-Teams begleiten Angehörige zur Unfallstelle, – zur Verabschiedung in die Leichenhalle und – zur ökumenischen Gedenkfeier in die Kirche (sowohl zur ersten als auch zur nationalen Gedenkfeier). Einsatzorte, die außerhalb des Kerneinsatzortes der zuständigen PSNV liegen, wie zB beim Schiffsunfall, machen bereits eine gemeinsame Anfahrt des PSNVTeams notwenig. Ebenso können im Zuge von komplexen PSNV-Einsätzen Übernachtungen am Einsatzort wie im Falle des Schiffsunfalls oder Flugzeugabsturzes notwendig sein. Im Einsatz „Schiffsunfall“ sind die PSNV-Teams auch sehr „mobil“ unterwegs, indem zwei Mitarbeiter den Reisebus bis an die Grenze des Heimatlandes der Touristen begleiten. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben der PSNV-Einsatzleitung, die verschiedenen PSNV-Teams zu koordinieren, den Überblick zu behalten, wann und wo welches PSNV-Team tätig ist.

5.4.4. Eingehen auf unterschiedlichste Bedürfnislagen Die verschiedenen Betroffenheitsgrade von Personen nach traumatischen Ereignissen führen zu sehr unterschiedlichen Bedürfnislagen und sind für einen komplexen PSNV-Einsatz charakteristisch. Es ist Aufgabe der PSNV, die unterschiedlichen Bedürfnislagen von zu betreuenden Personen zu erkennen und entsprechend auf

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diese einzugehen. Aus der Analyse der vorliegenden Einsatzberichte können folgende Bedürfnislagen betroffener Personen erfasst werden: Bedürfnis nach einem „sicheren Ort“ – Die unverletzten und leicht verletzten Personen der betroffenen Touristengruppe beim Schiffsunfall möchten so schnell wie möglich in ihr Hotel zurück. Das PSNV-Team aus XY organisiert und begleitet die Fahrt in das Hotel. – Des Weiteren ist es der Wunsch der Touristengruppe, so schnell wie möglich in ihr Heimatland zurückzukehren. Es ist Aufgabe der PSNV-Einsatzleitung, dies in Ab- und Rücksprache mit allen zuständigen Verantwortlichen und Behörden zu organisieren. Bedürfnis nach „Verabschiedung“ von verstorbenen Personen – Die Personen, die beim Schiffsunfall Angehörige verloren haben, haben den Wunsch, ihre Verstorbenen nochmal zu sehen. Die Mitarbeiter der örtlichen PSNV ermöglichen in Zusammenarbeit mit dem ortsansässigen Geistlichen eine Verabschiedung. – Die angereisten Hinterbliebenen des Flugzeugabsturzes haben das große Bedürfnis, ihre Verstorbenen nochmal zu sehen und sich von ihnen zu verabschieden. Dies wird Ihnen in Begleitung der PSNV und in Zusammenarbeit mit einem Geistlichen ermöglicht.11 – Familie Z im Beispiel Verkehrsunfall möchte sich ebenfalls von ihrem tödlich verunglückten Kind verabschieden und wird dabei von dem PSNV-Team unterstützt. Bedürfnis nach „Ritualen“/Gedenkfeiern – Am Abend laden die Kollegen der Notfallseelsorge in Kooperation mit dem örtlichen Geistlichen die betroffene Reisegruppe des Schiffsunglücks zu einer 11

Der Verabschiedung von Verstorbenen und der Gestaltung von Gedenkfeiern kommt in jedem Einsatz (nicht nur in einem komplexen PSNV-Einsatz) eine große Bedeutung zu. Verabschiedungen und Gedenkfeiern müssen sehr sorgfältig vorbereitet und durch die PSNV begleitet sein (siehe Kap. 7). Bevor jedoch eine Verabschiedung möglich ist, müssen die Toten durch die Gerichtsmedizin identifiziert werden. Identifizierungen und Einholen von DNAMaterial durch die Polizei, wie dies im Beispiel Flugzeugabsturz oder beim Lawinenabgang der Fall ist, sind sehr häufig Bestandteile von komplexen PSNV-Einsätzen, wobei die Identifizierung längere Zeit in Anspruch nehmen kann. Im Falle des Flugzeugabsturzes beträgt diese einige Tage. Für die Angehörigen ist die Wartezeit auf die Identifizierung oft sehr belastend.

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Gedenkfeier ein. An dieser nehmen – in einem für die PSNV nicht erwarteten Ausmaß – viele Personen teil. – Im Falle des Flugzeugabsturzes wird eine erste und eine nationale Gedenkfeier organisiert und gestaltet. Viele Hinterbliebenen reisen extra an, um daran teilnehmen zu können. Bedürfnis nach Unterstützung bei organisatorischen Fragestellungen – Die Personen, die Angehörige beim Schiffsunfall verloren haben, möchten Unterstützung bei den nächsten organisatorischen Schritten (Bestattung, Überführung der Leichen …). Die PSNV-Teams sind bei all diesen Fragestellungen behilflich. – Die PSNV-Mitarbeiter sind der Familie Z nach dem Verkehrsunfall behilflich, bei – dem Herausfinden der Telefonnummern der noch zu verständigenden Verwandten, – der Klärung der nächsten Schritte bezüglich Bestattung und Überführung des Leichnams des Kindes. Bedürfnis, die Unfallstelle zu sehen – Die angereisten Hinterbliebenen möchten die Unglücksstelle, an der das Flugzeug abgestürzt ist, sehen. Erst dann können sie glauben, dass der Unfall wirklich passiert ist. Bis dahin gibt es noch Fantasien, dass dies doch alles nicht wahr sein kann. Bedürfnis nach Information – Die Angehörigen, im Beispiel Lawinenabgang, möchten so genau wie möglich über die Rettungsarbeiten und die geplanten weiteren Schritte der Suche informiert werden. Daher veranlasst das PSNV-Team, dass den Angehörigen die Schneemassen und das Flächenausmaß der Lawine zuerst durch Bilder und dann durch eine Fahrt zum Lawinenkegel näher gebracht wird. Diese genaue Information bewirkt, dass die Angehörigen zur Erkenntnis kommen, dass ihre Angehörigen diese Naturgewalt nicht überlebt haben können.12 12

Die komplexe Betreuungssituation ist durch die Tatsache der langen Phase des Vermisstseins von drei Personen bedingt. Solange Personen vermisst sind, besteht immer noch – zumindest eine geringe – Hoffnung, dass die vermissten Personen überlebt haben. Die Zeit des Wartens bis zum Auffinden der Vermissten ist für alle Betroffenen sehr belastend und mit vielen Emotionen verbunden.

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– Die Familie Z im Beispiel Verkehrsunfall möchte wissen, wohin ihre Kinder gebracht worden sind und wie es ihnen geht. Sie wissen nicht, dass ein Kind verstorben und ein Kind operiert worden ist. – Die Touristengruppe möchte nach dem Schiffsunfall genaue Informationen darüber haben, – wie es weitergeht, wann Sie nach Hause fahren können, – wie sie zu ihren persönlichen Sachen (Handtaschen, Fotoapparate …), die sie im Schiff zurücklassen mussten, kommen können. – Die Hinterbliebenen des Flugzeugabsturzes werden zB genauestens über die Schritte der Identifizierung informiert. Bedürfnis, über das Erlebte zu sprechen – Die unverletzten Personen und Augenzeugen des Verkehrsunfalls haben das Bedürfnis, über das Erlebte zu sprechen. Erst dann ist eine Weiterfahrt für sie möglich. – Die Eltern der Familie Z erzählen den PSNV-Mitarbeitern immer wieder, was passiert ist, und versuchen, Worte zu finden für das, was sie erlebt haben. – Auch der LKW-Fahrer des Verkehrsunfalls hat das Bedürfnis, mit dem PSNVMitarbeiter immer wieder über den Unfall zu sprechen. Dabei stehen seine Schuldgefühle im Vordergrund, zudem er laut ersten Aussagen der Polizei den Unfall verursacht haben soll. Bedürfnis nach psychosozialer Unterstützung – Die PSNV-Mitarbeiter stehen den Familien der Vermissten des Lawinenabgangs während der Zeit des Wartens als Ansprechpartner zur Verfügung mit dem Ziel, offene Fragen, Sorgen und Bedürfnisse der Angehörigen wahrzunehmen und mit ihnen Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, sodass sie selbst wieder handlungsfähig werden. – Komplexe PSNV-Einsätze zeichnen sich sehr oft durch intensive und länger dauernde Betreuungseinsätze in komplexen Familiengefügen aus; zB in der Betreuung der Familie Z nach dem Verkehrsunfall, bei dem die Eltern selbst verletzt, ein Kind verstorben und ein Kind operiert worden ist. In der Familiendynamik zeigt sich, dass der Vater – nachdem er über den Tod des Kindes verständigt wird – seine gesamte Familie zunächst schonen möchte. Es ist eine intensive Arbeit durch das PSNV-Team notwendig, bis es dem Vater möglich ist, seiner Frau und den beiden Kindern den Tod des einen Kindes mitzuteilen. Neben Klärung aller organisatorischen Fragen ist es die Aufgabe des PSNVTeams, die unterschiedlichen Bedürfnislagen der Eltern zu erkennen und diesen

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gerecht zu werden, ohne dabei die Kinder und ihre Bedürfnisse aus dem Auge zu verlieren. Diese Familienbetreuung stellt einen „eigenen“ komplexen PSNV-Einsatz im gesamten komplexen PSNV-Einsatz dar. Zusammenarbeit mit Einsatzkräften Für den Verlauf eines PSNV-Einsatzes ist die gute Zusammenarbeit mit allen Einsatzorganisationen, mit den behördlichen Einsatzleitern und den politisch Verantwortlichen Voraussetzung: – Im Einsatz Schiffsunfall – hat das PSNV-Team aus der Nachbarstadt XY Rück- und Absprache mit der eigenen Behörde zu halten, da sich der Einsatzort außerhalb des „Kerneinsatzgebietes“ des PSNV-Teams befindet und sich Einsatzorte immer wieder ändern bzw Übernachtungen am Einsatzort und eine Begleitung der Reisegruppe bis zur Landesgrenze erfordern. – Die PSNV unterstützt auf Wunsch der Polizei die betroffenen Personen bei den Einvernahmen durch die Polizei. – Die PSNV arbeitet eng mit den am Einsatzort befindlichen Rettungskräften zusammen. – Beim Einsatz Flugzeugabsturz – ist die Einsatzleitung PSNV in die behördliche Gesamteinsatzleitung eingebunden. – Des Weiteren gibt es eine intensive Kooperation mit den Verantwortlichen der Airline und denjenigen Führungskräften, die für Flugnotfälle zuständig sind. Diese werden – auf ihren Wunsch hin – seitens der PSNV bezüglich des Umgangs mit den Angehörigen der betroffenen Airline und den Angehörigen der verunglückten Passagiere beraten. – Beim Verkehrsunfall – ist der behördliche Einsatzleiter an der Unglücksstelle anwesend und veranlasst auch die Alarmierung des PSNV-Teams mit dem Auftrag, die unverletzten und leicht verletzten Personen zu betreuen. – Im Zuge des Einsatzes gibt es eine enge Kooperation mit dem ärztlichen Leiter der Notfallambulanz des Krankenhauses A. – Im Einsatz Lawinenunglück – bespricht die Einsatzleitung PSNV jeden einzelnen Schritt mit dem behördlichen Einsatzleiter. So ist es auch möglich, dass den Angehörigen, nachdem die letzten beiden vermissten Männer tot geborgen werden können, vor der Presse gemeinsam mit der Polizei diese Nachricht übermittelt werden kann.

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– Die Zusammenarbeit mit religiösen Vertretern, zB Geistlichen, ist in Bezug auf Begleitungen zur Verabschiedung und die Abhaltung von Gedenkfeiern sehr wesentlich, wie dies beim Schiffsunfall oder beim Flugzeugabsturz der Fall ist.

5.4.5. Einsatzaufgaben/Einsatzleitung In einem komplexen PSNV-Einsatz werden an die Mitarbeiter der PSNV aufgrund der komplexen Schadenslage und der verschiedenen betroffenen Personengruppen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnislagen wie oben beschrieben eine Vielzahl von Einsatzaufgaben gestellt. Zusätzlich zu den inhaltlichen Einsatzaufgaben arbeiten die einzelnen PSNVMitarbeiter in einer emotional sehr dichten, sehr chaotischen und unübersichtlichen Situation eng miteinander (siehe Abschnitt Einsatzdauer). Um sowohl den Einsatzaufgaben als auch der daraus resultierenden langen Dauer und dem erhöhten Personalbedarf an PSNV-Mitarbeitern gerecht werden zu können, gibt es in jedem komplexen PSNV-Einsatz eine PSNV-Einsatzleitung. Diskussionen innerhalb des PSNV-Teams und/oder mit der PSNV-Einsatzleitung im Einsatzgeschehen sind für einen erfolgreichen Verlauf eines PSNV-Einsatzes nicht nur nicht förderlich, sondern hinderlich. Aufgabe der PSNV-Einsatzleitung ist es: – den gesamten PSNV-Einsatz zu strukturieren und zu koordinieren; – Kontakte zu allen behördlichen Vertretern (in- und ausländische Behörde) sowie zu den involvierten Einsatzkräften zu halten; – sich sowohl mit der eigenen zuständigen Behörde zu koordinieren als sich auch mit den KollegInnen anderer PSNV-Teams (national wie international; Geistliche) abzusprechen und zu vernetzen13; – zu Beginn eines Einsatzgeschehens einen Überblick zu gewinnen. Der Einsatzleitung PSNV ist es beim Verkehrsunfall aufgrund des komplexen Einsatzgeschehens erst nach ca. drei Stunden möglich, alle Personen (wer gehört zu wem und zu welchem Fahrzeug?) in einer Übersicht zu erfassen und zuzuordnen; – den gewonnenen Überblick (inhaltlich und organisatorisch) zu behalten. Dies ist oft sehr schwierig, da komplexes Einsatzgeschehen ständigen Veränderungen unterliegt; – für die Personalplanung der eigenen Mitarbeiter verantwortlich zu sein: Wo arbeitet wann welches Team? Wann gibt es Ablösen? Wie erfolgen Übergaben?; 13

Im Einsatz „Schiffsunfall“ klärt die PSNV-Einsatzleitung die Arbeitsaufteilung zwischen den einzelnen PSNV-Teams. Das örtliche PSNV-Team übernimmt die Betreuung der Einsatzkräfte, das PSNV-Team aus der Nachbarstadt XY ist für die Betreuung der betroffenen Touristengruppe zuständig.

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– auf die Psychohygiene der eigenen Mitarbeiter zu achten: Wie geht es jedem Einzelnen im Einsatzgeschehen? Wer braucht eine Pause? Wie kann die PSNVEinsatzleitung die Mitarbeiter in ihrer Arbeit unterstützen?; – in Absprache mit dem Gesamteinsatzleiter Ansprechpartner für die Medienvertreter zu sein und mit dem großen Medieninteresse professionell in einer komplexen Schadenslage umzugehen; – für eine schriftliche Dokumentation des Einsatzgeschehens zu sorgen14; – vorauszudenken: Welche nächsten Einsatzaufgaben gibt es? Was bedeuten die Veränderungen im Einsatzgeschehen für die inhaltliche Arbeit der PSNV? Welche inhaltlichen Schritte seitens der PSNV sind notwendig …; – die normale Einsatzbereitschaft der PSNV außerhalb des komplexen PSNVEinsatzes aufrechtzuerhalten. Wo steht geschrieben, dass nicht zeitgleich an einem anderen Einsatzort ein PSNV-Team für einen „normalen“ PSNV-Einsatz oder auch für einen weiteren „komplexen“ PSNV-Einsatz alarmiert wird?; – nach Beendigung des Einsatzes eine ausführliche Einsatznachbesprechung durchzuführen und eine Supervision zu organisieren. Beides bietet Raum und Platz, sich intensiv mit dem Einsatzgeschehen aus Sicht der PSNV auseinander zu setzen, ein Resümee und Konsequenzen für einen nächsten Einsatz zu ziehen.

5.4.6. Besondere Belastungen für PSNV-Mitarbeiter Einige der Belastungsfaktoren, die sich in komplexen PSNV-Einsätzen für jeden einzelnen PSNV-Mitarbeiter ergeben, sind im Folgenden exemplarisch aufgelistet: – Zum Zeitpunkt der Alarmierung gehen dem PSNV-Mitarbeiter viele Gedanken und Fragen durch den Kopf: – Die Alarmierung klingt nach einem dramatischen Ereignis. Das ist etwas anderes als ein „Normaleinsatz“, das klingt nach einem größeren Einsatz. – Was wird da auf mich zukommen? Werde ich dem gewachsen sein? – Dieser Einsatz wird länger dauern. Kann ich so lange weg? Was muss ich für mich noch regeln: meine Kinder unterbringen, meinen Partner verständigen, meine Katzen füttern? – Bei der Hinfahrt überlegt sich der PSNV-Mitarbeiter: – Werde ich mich im Einsatzgeschehen zurechtfinden? Werde ich den Anforderungen, die an mich gestellt werden, gerecht werden? – Was sage ich Menschen, die gerade bei einer Bootsfahrt ihre Lieben verloren haben? Wie spreche ich mit der Mutter, deren Kind beim Verkehrsunfall 14

Einsatzgeschehen muss sorgfältig dokumentiert werden, um später jederzeit Einsatzverlauf, -ablauf und Interventionen (was, wann, wie, wen) nachvollziehen zu können.

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verstorben ist? Wie begegne ich den Angehörigen, deren Männer von der Wildfütterung nach dem Lawinenabgang nicht zurückgekehrt sind? Ich weiß, dass es keine Antworten auf die Fragen der Betroffenen gibt. Ich muss das Leid „einfach“ aushalten, Tränen und Schweigen ertragen. Werde ich Kontakt zu den betroffenen Personen finden – Beziehung aufbauen können? Wie werde ich mit meiner eigenen Betroffenheit umgehen? Gut, dass ich nicht allein in diesen Einsatz gehen muss. Wir sind ein großes Team, viele von uns haben schon viel Einsatzerfahrung in „täglichen“ Einsätzen. Das beruhigt ein bisschen. Ich fühle mein Herz pochen, bin aufgeregt. Vorbei ist es mit meiner „Alltagsruhe“. Jetzt kommt es auf mich an.

– Am Einsatzort angekommen, nimmt der PSNV-Mitarbeiter wahr: – Puh, da ist ein Chaos! Wer ist wer? Wer sind die betroffenen Personen? So viele Menschen. Wie finde ich heraus, wer was braucht? – Ich werde von vielen Menschen gebraucht. – Da sind so viele verschiedene Einsatzkräfte, die naturgemäß selbst im Stress sind. Wer ist mein Ansprechpartner? Gut, dass es eine PSNV-Einsatzleitung gibt. An die kann ich mich halten. – Welchen Einsatzauftrag bekomme ich? – Viele Menschen sprechen mich gleichzeitig an, ich sehe Tränen in vielen Augen. Wem soll ich mich jetzt zuwenden? Zudem kommen andauernd Einsatzkräfte, die Informationen von den betroffenen Personen benötigen. – Auch ich nehme das Chaos wahr, es ist schwer, an Informationen zu kommen. Ich kann mir vorstellen, wie es den betroffenen Personen geht. – Jetzt heißt es achtsam zu sein, auf die wechselnden Bedürfnislagen und die physischen und psychischen Befindlichkeiten der zu betreuenden Personen zu achten, was braucht wer? – Wie gehe ich mit der Weitergabe von Informationen um? Ich muss mich gut mit meinen Kollegen und der PSNV-Einsatzleitung koordinieren. – Ich bin froh, wenn ich klare Einsatzaufträge seitens der PSNV-Einsatzleitung erhalte. Meine PSNV-Einsatzleitung hat mich im Auge, erkundigt sich immer wieder nach meiner eigenen Befindlichkeit und fordert mich auf, auf meine Grenzen der Belastbarkeit zu achten und Einsatzpausen zu machen. Sie sorgt auch dafür, dass ich mit Essen und Trinken versorgt werde. – Die PSNV-Einsatzleitung lässt mir freie Hand in der inhaltlichen Arbeit, sie vertraut auf meine Fachkompetenz, mein Wissen und mein praktisches Arbeiten. Sie klärt für mich alle Fragen, beschafft mir Informationen und hält mich am Laufenden. Sie hat den Überblick und unterstützt mich in meiner Betreuungstätigkeit.

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– Wie kann ich die Medienvertreter von Übergriffen abhalten? Gut, dass ich Medienvertreter an die PSNV-Einsatzleitung verweisen kann. – Immer wieder spüre ich auch die Grenzen des Machbaren: Die Angehörigen können jetzt vom Verstorbenen, solange die Freigabe noch nicht erfolgt ist, nicht Abschied nehmen. Ich weiß, wie wichtig das für sie ist, aber zur Zeit geht es einfach nicht. – Ich weiß, die detaillierten Fragen durch die Polizei sind belastend für die betroffenen Personen, aber sie müssen gestellt werden. Ich kann versuchen, die Belastungen zu verringern, in der Zeit des Wartens unterstützend da zu sein. – Im Einsatz bin ich immer wieder gefordert, bei den Betroffenen zu bleiben und mich nicht aufzuhalten mit Ärger über Einsatzkräfte oder auch über eigene Kollegen. Dies hat Platz in der Einsatznachbesprechung. – Es ist mitunter schwierig und in jedem Fall anspruchsvoll, das Leid anderer auszuhalten, die Tränen auszuhalten und nicht selbst von der eigenen Betroffenheit übermannt zu werden, die sehr wohl auch spürbar ist. Ich habe doch selbst eine Freundin oder ein Kind in diesem Alter, muss bei dem Erlebten der Betroffenen an einen sehr guten Freund oder meine Großeltern denken. Aber meine Betroffenheit hat nur begrenzt Platz, Mitgefühl darf sein, nicht jedoch Mitleid. Es gilt beim Betroffenen und seinen Bedürfnissen zu bleiben: Was braucht er? Was kann ich tun? Wen kann ich verständigen? Welche Information möchte er haben? Er möchte spazieren gehen. Ich biete meine Begleitung an, bin aber nicht persönlich gekränkt, wenn dies abgelehnt wird. – Ich fühle mich nicht persönlich angegriffen, wenn jemand Betreuungsangebote ablehnt. Im passenden Moment setze ich ein erneutes Beziehungsangebot. – Nach dem Einsatz: – Wie komme ich wieder zur Ruhe? Kann ich abschalten? – Wie gliedere ich das erlebte Einsatzgeschehen in meinen Alltag ein? – Wie war es mit meinen Kollegen im Einsatz? Wie ist es mir mit diesen ergangen? – Welche Erfahrungen nehme ich für die nächsten Einsätze mit? Was habe ich in diesem Einsatz gelernt? – Kann ich den Einsatz nach einer Einsatznachbesprechung bzw Supervision abschließen? Oder denke ich noch oft an das Ereignis? Was brauche ich, um mich wieder „einsatzbereit“ zu machen?

5.4.7. Besondere Belastungen für die PSNV-Einsatzleitung Die PSNV-Einsatzleitung ist genauso wie jeder PSNV-Mitarbeiter den oben beschriebenen vielfältigen Belastungsfaktoren ausgesetzt.

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Zusätzlich zu diesen kommen jedoch noch weitere Belastungsfaktoren hinzu und stellen eine hohe Anforderung an die PSNV-Einsatzleitung speziell in komplexen Schadenslagen: – Die PSNV-Einsatzleitung muss schneller als der einzelne PSNV-Mitarbeiter einen ersten Überblick über das Einsatzgeschehen gewinnen, um erste Einsatzaufträge an die Kollegen der PSNV weitergeben zu können. – Die PSNV-Einsatzleitung darf sich im Allgemeinen nicht in die Betreuung Betroffener involvieren lassen. Dies ist oftmals sehr schwierig, da es viele Bedürfnisse seitens der zu betreuenden Personen gibt. – Die PSNV-Einsatzleitung muss immer wieder klare Arbeitsaufträge an die Mitarbeiter vergeben und gleichzeitig die Anliegen der Mitarbeiter gut wahrnehmen und diese so rasch als möglich abarbeiten (Beschaffen von wichtigen Informationen …). – Die PSNV-Einsatzleitung trägt die Verantwortung für den PSNV-Einsatz und muss oft sehr schnell Entscheidungen treffen. – Die PSNV-Einsatzleitung muss in einer emotional sehr dichten Situation Führungsaufgaben wahrnehmen. Dabei ist es wichtig, dass sie sich auf die Fähigkeiten und Kompetenzen der Mitarbeiter verlassen kann. Während des Einsatzes gibt es keine Zeit und keinen Rahmen, mit den Kollegen darüber zu sprechen, wie man betreut, sondern welche Anliegen gibt es seitens der Betroffenen? Die PSNV-Einsatzleitung ist ihren Mitarbeitern bei der Umsetzung der Anliegen der zu betreuenden Personen behilflich. – Die „Öffentlichkeit“ des Einsatzgeschehens bringt auch für die PSNV-Einsatzleitung Belastungen mit sich: Es ist schwierig, die Balance zu halten, „Betroffene“ vor unerwünschten Medienvertretern zu schützen und den Medienvertretern gleichzeitig als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen und auf ihre Fragen zu antworten, ohne die Intimsphäre der Betroffenen zu verletzen. – Für die PSNV-Einsatzleitung ist es oftmals noch schwieriger, Pausen zu machen, auf die eigene Ablöse zu achten und die eigenen Grenzen der Belastbarkeit zu wahren. Alle diese Belastungsfaktoren ergeben sich aus der Tatsache, dass jedes Einsatzgeschehen eine Eigendynamik hat. Je komplexer die Schadenslage, desto komplexer wird der PSNV-Einsatz und umso dynamischer das Einsatzgeschehen sein.

5.5. Zusammenfassung Grundsätzlich sind komplexe Einsatzgeschehen, wie die oben beschriebenen, sehr schwer miteinander zu vergleichen. Es können jedoch einzelne Charakteristika herausgearbeitet werden.

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Aus den Einsatzberichten lässt sich erkennen, dass komplexe Schadenslagen anfänglich sehr oft von Chaos und Unübersichtlichkeit geprägt sind. Es besteht dabei die Gefahr, dass Bedürfnisse der Betroffenen in komplexen Schadenslagen unberücksichtigt bleiben oder übersehen werden. Es ist Aufgabe der PSNV, die unterschiedlichen Bedürfnislagen von Betroffenen zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Ziel eines PSNVEinsatzes ist es, die akute Belastung von Betroffenen zu lindern, indem Struktur, Halt und Sicherheit in einer Situation der Angst, Unsicherheit und Hilflosigkeit vermittelt werden. Die Einsatzleitung PSNV hat einerseits die Aufgabe, den Einsatz zu strukturieren und zu organisieren; andererseits hat die Einsatzleitung PSNV auf die Psychohygiene der eigenen Mitarbeiter zu achten und im Bedarfsfall unterstützend einzugreifen. Entsprechende Einsatzerfahrung in der PSNV erleichtert den Mitarbeitern, sich in komplexen PSNV-Einsätzen zurechtzufinden und diesen gerecht werden zu können. Der laufenden Einsatzerfahrung von PSNV-Mitarbeitern in „kleineren“ Einsätzen ist aus diesen Gründen eine entscheidende Bedeutung beizumessen. Die Erkenntnisse, die die PSNV aus den „täglichen“ Einsätzen gewinnt, sind wesentliche Faktoren für professionelles Arbeiten der PSNV bei Einsätzen in komplexen Schadenslagen.

Kapitel 6

Möglichkeiten des Abschieds unter vielen Einschränkungen Léon Kraus Die plötzliche Nachricht vom Tod des eigenen Kindes, Partners, Familienmitgliedes, oder Freundes löst besonders im Familien-, Freundes-, oder Bekanntenkreis Bestürzung aus. Die Mehrheit der Gesellschaft interessiert sich jedoch kaum für dieses plötzliche Leid. Eine vor kurzem durchgeführte Umfrage bei Schülern bestätigte mir die Haltung, dass die Zivilgesellschaft zB Tote von Verkehrsunfällen weniger bewusst wahrnimmt als Verstorbene bei größeren Katastrophen. Sobald es viele Tote zu beklagen gibt, ist die Betroffenheit um ein Vielfaches gröβer. Besonders die Medien sorgen mit ihrem Informationsangebot dafür, dass die Anteilnahme der Bevölkerung und die persönliche Betroffenheit des Einzelnen noch zusätzlich gefördert wird. Der Tod wird zu einer Sensation, an der man live teilnehmen kann, wie zum Beispiel durch Direktübertragungen in Radio / TV, oder durch Photos von weinenden Betroffenen in Zeitungsberichten. Seit dem Tod von Prinzessin Diana hat sich die individuelle Betroffenheit bei anonymer Anteilnahme entschieden verändert. Die persönliche Trauer, der individuelle Abschied der anonymen Masse bekommen ein konkretes Gesicht durch Zeichen persönlicher Betroffenheit, wie zB Niederlegung von Blumen und Botschaften am Unglücksort. Die gemeinsame Betroffenheit wird in Ruhe und Stille erlebt und gelebt. Der Fall Lady Di hat uns noch etwas bewusst gemacht: Sobald die Öffentlichkeit an einem Schadensereignis teilnimmt, kommt es zu einem Paradigmenwechsel in vielen Hinsichten.

6.1. Die Notwendigkeit eines Betreuungszentrums 6.1.1. Wem gehören die Toten? Menschen, die schon einmal vom plötzlichen Tod eines Mitgliedes im engeren Freundes- oder Familienkreis überrascht wurden und in Ruhe vom Verstorbenen Abschied nehmen konnten, wären sicherlich überrascht wenn sie wüssten, wie anders die Situation sich bei größeren Katastrophen verhält. Hier verläuft der Ab-

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schied nach anderen Prinzipien. Während Ersteren der Tote meist sehr schnell übergeben wird, ist dies bei größeren Katastrophen nicht der Fall. Besonders die Verantwortlichen des Staates und der Länder, nötige Absprachen mit kirchlichen sowie religiösen Vertretern und all jenen, die ebenfalls durch Katastrophenpläne gefordert sind, begründen die lange Zeitspanne, die vergeht bis das persönliche Abschiednehmen vom Verstorbenen möglich wird. 6.1.2. Peritraumischer Intervall Damit Familienangehörige sich verabschieden können, bedarf es einer optimalen Betreuung im peritraumatischen Zeitintervall. Hierbei ist es wesentlich, dass die Symptome der Dissoziationen vom PSNV-Betreuer genauestens beobachtet und erkannt werden. Danach soll es zu einer Stabilisierung der Krisenreaktionen durch den Betreuer kommen. Eskalierende Reaktionen auf den traumatischen Verlust sind bei der persönlichen Verabschiedung für den Verlauf der Trauerreaktion sehr ungünstig. Mit Familienangehörigen oder vertrauten Freunden, die noch akut die Gefühle, Eindrücke und Körperreaktionen der Derealisation und Depersonalisation erleben, muss das Abschiednehmen verschoben werden. 6.1.3. Personlisierung der Betroffenen Im Unterschied zu einer alltäglichen Krisenintervention sind viele Familien und Betroffene in einer Groβschadenslage in einem Betreuungszentrum anwesend. In der Anlaufphase dürfte es schwierig sein, den individuellen Bedürfnissen einer jeden Familie nachzukommen. Diese Ansprüche werden von den Betroffenen auch nicht gestellt. Eher werden in einer solchen Situation durch allgemeine, gesicherte Informationen positive Betreuungsergebnisse erzielt. Besonders beruhigend dürfte es auf die betroffenen Angehörigen wirken, wenn sowohl ihr Name, als auch der Name dessen, den sie vermissen, schriftlich festgehalten wird. Hier bietet sich die Gelegenheit ihnen einen Namensausweis (Badge) auszustellen. Der Namensausweis vermittelt ihnen das Gefühl ernst genommen zu werden, und dass ihnen durch PSNV weiterhin geholfen wird. Er gibt den Betroffenen eine individuelle Bedeutung und verhindert gleichzeitig, dass sie immer wieder nach ihrem Namen gefragt werden. Des Weiteren wird auch visuell deutlich gemacht, wer zu den Opfern, und wer zu den Helfern zählt, was besonders hilfreich ist, wenn mehrere Teams zum Einsatz kommen. 6.1.4. Informationen Allgemeine, gesicherte Informationen beinhalten Angaben über den Ablauf eines dramatischen Unglücks, bei dem viele Tote zu beklagen sind.

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In der Regel dauert es eine bestimmte Zeit, die von den Angehörigen als sehr lange empfunden wird, bis zuverlässige, überprüfte Nachrichten von offizieller Seite vorliegen. Diese offiziellen, überprüften Nachrichten sind in Europa meistens das Privileg des zuständigen Innenministers. Da sämtliche Medien jedoch gleichzeitig informiert werden müssen, kommt es hier zu einer für Helfer und Betroffene unnötigen Zeitverzögerung, weil immer zuerst eine Pressekonferenz einberufen werden muss. Dieser Termin interessiert die direkten Opfer und Betroffenen jedoch recht wenig. Für die Angehörigen wäre es sicherlich von Vorteil, ihnen die überprüften Nachrichten sofort zukommen zu lassen. Sonst entsteht der Eindruck, die Öffentlichkeit wäre wichtiger als die Betroffenen. In der Praxis wird so fast immer die Öffentlichkeit vor den direkt Betroffenen über Geschehen und Ablauf des Ereignisses informiert. Ähnlich schnell wird die Öffentlichkeit von schweren Unglücken über Radio das in Kenntnis gesetzt, wenn es zu Straβensperren von Hauptverkehrswegen kommt. Oft sind in einem solchen Unglück zwei Fahrzeuge kollidiert, wobei in beiden Fahrzeugen Tote und Schwerverletzte zu beklagen sind. Eine optimale Betreuung bei der Überbringung der Todesnachricht kann dann erfolgen, wenn gesicherte allgemeine Informationen vorliegen. Deshalb ist es so wichtig, dass ein PSNV Mitarbeiter sofort vor Ort sein kann, um die Infos zu besorgen, die für die psychosoziale Unterstützung notwendig sind. Dieser Mitarbeiter ist auch das Bindeglied, wenn es zu einer Ortsbesichtigung durch die betroffene Familie kommt. Dieser Wunsch wird sehr oft erst Stunden später geäuβert, nach dem Besuch in der Friedhofhalle. Normalerweise ist der Unglücksort dann schon geräumt und der Autoverkehr braust ahnungslos über die Unglücksstelle. Die meisten Familien, umgeben von Freunden, kreuzen ohne weiteren Schutz an solchen Unglücksstellen auf und immer wieder kommt es zu bedrohenden Ausweichund Bremsmanövern, die nun wahrlich den Erholungsprozess der Betroffenen in keiner Weise fördern. Um eventuelle Nuancen in der Betreuung zu berücksichtigen, soll hier bemerkt sein, dass bei Groβschadenslagen die Unfallstelle in der Regel zuerst besucht wird, bevor die Friedhofhalle aufgesucht wird.

6.1.5. Management des Zeitdrucks Die größeren Katastrophen der Vergangenheit haben verdeutlicht, dass die Medien in der Übertragung von Erstnachrichten und Eindrücken vom Ort der Katastrophe viel schneller und effizienter sind, als die offiziellen Stellen. In der Erstphase sind die PSNV-Helfer recht schlecht informiert und bekommen ihre Informationen von auβen durch die betroffenen Familien, die über Handy mit Kollegen und Informanten in Kontakt stehen.

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Natürlich sind dies keine überprüften Nachrichten. Ab dem Zeitpunkt, wo es um konkrete Namen geht, ist höchste Vorsicht geboten. Sehr schnell kommt es hier zur Verwechslung von Namen, bedingt durch die telefonische Weitergabe. Die Leseart, Schreibweise eines Namens und die Weitergabe unter diesen schwierigen Bedingungen lassen zusätzlich die Fehlerquote steigen. Vom menschlichen „Feeling“ her ist die Wartezeit von einer Stunde als Grenze zu betrachten hinsichtlich verlässlicher Erstinformation im Sinne der Angehörigen und Betroffenen. Rund eine Stunde nach dem Erscheinen der ersten Rettungshelfer am Schadensort müsste es möglich sein, einen ersten Bericht über einige Fakten des Ereignisses zu geben. Ein weiterer Zeitpunkt für Informationen an die Betroffenen könnte ab einer Stunde nach dem Eintreffen der ersten Betroffenen im Betreuungszentrum sein. Die weitere Möglichkeit, mit Informationen vor die Betroffenen zu treten, ist eine Stunde nach Abschluss der Rettungsmaßnahmen, um einen Zahlenüberblick von Überlebenden, Toten, und Vermissten zu geben. Wenn diese verschiedenen Zeitpunkte verpasst werden, wird es im Betreuungszentrum unweigerlich zu Unruhe kommen. Diese Spannungen werden sich gegenüber den Betreuern höchstwahrscheinlich in Wutausbrüchen und Beschimpfungen entladen. All diese unzähligen Details sind Voraussetzungen, damit der spätere Abschied einen würdigen Rahmen erhalten kann.

6.1.6. Wichtige Unterschiede in der Betreuung In der Betreuung ist es wichtig in der Erstphase unbedingt zu verhindern, dass beteiligte Opfer und angereiste Betroffene in einem gemeinsamen Raum versammelt werden. Diese Regel ist ebenfalls aufrecht zu halten, wenn primäre Opfer und angereiste Betroffene zur gleichen Familie gehören, und bereits über Handy in Kontakt sind. Beteiligte Opfer sind primär Traumatisierte, die ihre Eindrücke ungefiltert wiedergeben. Allzu oft entsprechen ihre Erzählungen in keiner Hinsicht dem reellen Ablauf des Schadensereignisses. Viele Elemente der Erzählung sind wahr, andere werden in Trance hinzugefügt. Auch sind die Quellen von eventueller Wut und Aggressionen bei direkten Opfern und angereisten Betroffenen verschieden. Erstere kritisieren eher den zähen Rettungsverlauf und dass das Unglück überhaupt geschehen konnte. Die angereisten Betroffenen sind jedoch damit beschäftigt erst einmal zu begreifen was geschehen ist, und welche Veränderungen das Unglück für ihr eigenes Leben nun mit sich bringt. Primär und sekundär Betroffene können erst dann zusammengeführt werden, wenn bei diesen beiden Opfergruppen die spezifisch individuellen Verarbeitungsmechanismen eingesetzt haben. Schwierig ist hier der Umgang mit Telefona-

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ten zwischen direkt Betroffenen und deren Angehörigen während sie noch in separaten Räumen untergebracht sind. Eine Möglichkeit hier Missverständnisse erst gar nicht aufkommen zu lassen, ist eine konsequente Informationsvermittlung über den Ablauf und die Aufarbeitung des Ereignisses für die beiden Opfergruppen. Probleme bei der Zusammenführung wird es genauso geben bei einem Verkehrsunfall mit Toten, wo zwei Parteien drin verwickelt sind. Dabei kommt es immer wieder vor, dass der Verursacher unverletzt an der Unfallstelle bleibt, währenddem im anderen Auto eine Familie mehrere Tote beklagt. In wieweit ein unverletzter Verursacher auch ein Recht auf eine psychosoziale Betreuung hat, wird nirgends definiert, obwohl dieser Mensch gleichfalls einer belastenden Situation ausgesetzt ist. Normalerweise wird dieser „schuldige“ Fahrer von der Polizei in Gewahrsam genommen. Gibt es noch weitere unverletzte Fahrzeuginsassen werden Eltern und Freunde angefragt, um sie abzuholen. Bei vielen Abholern prämiert die Freude, dass der Zögling unverletzt überlebt hat. Erst der zweite Gedanke gilt den toten Opfern. Dabei kommt es zu tumultartigen Szenen, wenn Eltern aufkreuzen und ihrem eigenen erwachsenen Kind lautstark ihre emotionellen Vorwürfe äußern. Diese für Zuschauer interessanten Action-Szenen sind für die Betroffenen und die anstehenden Folgeprozesse von einer solchen Dramatik, dass PSNV gut daran tun, durch eine aufmerksame Betreuung solche erniedrigenden Tragödien abzufangen.

6.1.7. Ambiente Dieser Begriff wird normalerweise dazu verwendet um anzudeuten, dass viele Kleinigkeiten mit groβer Aufmerksamkeit aufeinander abgestimmt werden müssen, damit ein Mensch sich geborgen und angenommen fühlt. Wir sind gewohnt von Ambiente im Zusammenhang mit Speiserestaurants oder Büro-, und Wohnräumen zu sprechen. Wenn hier die Bezeichnung „Ambiente“ im Zusammenhang mit dem Verlust von Menschenleben verwendet wird, dann ist dies kein Widerspruch, denn das Abschiednehmen wird tatsächlich von vielen Kleinigkeiten des Umfeldes beeinflusst. Zum Ambiente gehört beispielsweise, dass das Betreuungszentrum ein abgeschirmter Raum mit Tageslicht sein sollte, und in keinem Fall ein Abstellraum in der hinteren Ecke. Es müssen auch Verpflegungsmöglichkeiten geschaffen werden: so sollen nichtalkoholische Getränke angeboten, und nur auf speziellen Wunsch hin zB eine Flasche Bier an die Betroffenen gereicht werden. Für manche wirkt eine Zigarette sehr entspannend, andere fühlen sich dadurch wiederum belästigt. Deshalb gilt es, eine Raucherzone von Anfang an mit einzuplanen, aber dabei Kulanz währen zu lassen. Ein willkommenes Angebot für Betroffene ist eine geschützte Freizone

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auβerhalb des Gebäudes, denn frische Luft in Begleitung eines PSNV-Mitarbeiters wird sowohl als physische als auch psychische Stärkung empfunden.

6.2. Besuch von Unglücksstelle und Leichenhalle 6.2.1. Entscheidung der Reihenfolge Die Beantwortung dieser Frage erfolgt durch genaue Beobachtung der Betroffenen. Wenn der Betroffene möglicherweise Zweifel daran äußert, ob der Vermisste überhaupt in das Unfallgeschehen verwickelt ist, oder dass es wohl unmöglich sein kann, dass er durch die Verletzungen gestorben ist, dann soll dem betroffenen Familienmitglied zuerst diese Gewissheit an der Unglücksstelle verschafft werden. Hat der Betroffene sich in seiner Vergangenheit bereits von Toten im Familienkreis verabschiedet, kann diese Erklärung dafür angesehen werden, zuerst die Leichenhalle aufzusuchen. Normalerweise dürfte allerdings der Besuch des Unglücksorts an erster Stelle stehen. Die Bilder der Zerstörung oder zB ein Flugzeugwrack verdeutlichen sicherlich jedem, dass es keine Überlebenschancen gab.

6.2.2. Zusammenstellung des „Convoy“ Bei einer großen Katastrophe finden sich meist viele Betroffene in einem Betreuungszentrum ein, oftmals mit dem Vorhaben auf „Spurensuche“ nach ihrem verstorbenen Angehörigen zu gehen. Hier muss auf viele bekannte und unbekannte Kleinigkeiten reagiert werden, weshalb im Vorhinein entscheidende Punkte geklärt werden müssen. Für diese „Spurensuche“ ist eine psychosoziale Betreuung sehr hilfreich, sie erfordert einige organisatorische Vorbereitungen: – Begleitung des „Convoy“ durch die Polizei. – Mitfahrt eines Einsatzleitwagens, der die Kommunikation mit sämtlichen Anlaufstellen Aufrecht erhält. In diesem Einsatzleitwagen werden die Entscheidungen schriftlich protokolliert, und es werden alle von außen kommenden Anfragen beantwortet. Hier kommen sowohl Botschaften aus der Notrufzentrale an, als auch Anfragen der „Assistance-Hotline“. Weil der geplante Zeitrahmen nicht immer eingehalten werden kann, obliegt es dem verantwortlichen PSNV-Einsatzleiter die Lage zu überblicken. Es müssen ausreichend PSNV-Mitarbeiter zu Verfügung stehen, die aufeinander bezogen und vernetzt arbeiten, um im Team die hohen Anforderungen einer derartigen Intervention zu bewältigen.

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Eine Groβschadenslage ohne Einsatzleitwagen (Polizei, Feuerwehr, Rettung, usw sind gerne bereit mitzumachen und diese zur Verfügung zu stellen) bedeutet Förderung von Chaos und Stress. – Die Präsenz eines Krankenwagens, der prophylaktisch mitfährt, falls es einen Schwächeanfall geben oder ein anderes medizinisches Bedürfnis auftauchen sollte (zB: Umknicken mit dem Fuβ).

6.2.3. Der Weg zur Unglücksstelle Der Besuch einer Unglücksstelle kann nur dann stattfinden, wenn der notwendige Schutz für die Betroffenen garantiert wird. Deshalb muss mit Polizei und Rettungskräften ein Termin für die Ortsbesichtigung abgeklärt werden. Sowohl Zeitpunkt, Dauer, Anfahrtsweg und jener Abschnitt des Unfallorts, der voraussichtlich besucht werden wird, sind dabei festzulegen. Während der vorab zeitlich definierten Ansicht der Unfallstelle müssen sämtliche Bergungsarbeiten eingestellt werden. Die Angehörigen sollen diesen Ort, der viele persönliche Erinnerungen in ihnen wach ruft, in aller Ruhe besichtigen dürfen. Jede Betriebsamkeit wird hier als Belastung empfunden, und ist somit ein Hindernis beim Beginn des Abschieds- und Trauerprozess. Eine solche Besichtigung stellt ohne Zweifel ein Presse-Event dar. Deshalb sollte die Presse die Möglichkeit haben, das Geschehen aus der Distanz verfolgen zu können. Der Pressesprecher darf allerdings die Photografen darauf hinweisen nur Bildaufnahmen mit vielen Menschen, keinesfalls Einzelaufnahmen zu machen. Die Unglücksstelle einer Groβschadenslage hat somit eine besondere Bedeutung. Eigentlich müsste die Unglücksstelle eines alltäglichen Unfalls mit Todesfolge die gleiche Bedeutung haben! Auch wenn die betroffene Familie genau den gleichen Belastungen ausgesetzt ist wie in der Groβschadenslage, so nimmt die Öffentlichkeit jedoch kaum Notiz davon und nur die lokale Presse hat Interesse an den Toten. Dieser Umstand löst bei vielen Familien und deren Angehörige, sowie Freunde im Nachhinein Unbehagen und Unmut aus, es kommt zum Gefühl als wäre ihr Verstorbener weniger wert als die Toten einer Groβschadenslage.

6.2.4. Die Unglücksstelle Der Besuch der Unglücksstelle geschieht in Begleitung der PSNV. Bereits im Bus, der mit einem WC ausgestattet sein sollte, werden allgemeine Informationen mitgeteilt. Falls mehrere Busse im „Convoy“ fahren, sollten die Mitteilungen mit Hilfe von Funkübertragung gleichzeitig in allen Bussen durch einen Sprecher erfolgen. Inhalte dieser Mitteilungen könnten sein: – Begrüβung: Liebe Angehörige, liebe Familien, …

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– Vorstellung: Zu ihnen spricht N.N. vom Team der PSNV. – Begleitung: Normalerweise wird der bereits bekannte PSNV-Mitarbeiter die Familie begleiten. (Falls die Gesamtgruppe der Anwesenden zu groβ ist, sollen Gruppen bis zu 20 Personen mit 3 PSNV-Mitarbeiter gebildet werden). – Gedenken: Blumen, persönliche Zeichen dürfen von jedem mitgenommen werden. Für diejenigen die nichts mitbringen konnten, halten wir zB Rosen bereit. – Gedenkplatz: Wir gehen gemeinsam zu dem von den Rettungskräften vorgeschlagenen Gedenkplatz, wo Erinnerungsgegenstände niedergelegt werden. – Zeit: Anschlieβend besteht die Möglichkeit in Begleitung eines PSNV-Mitarbeiters näher an die Unfallstelle heran zu gehen, um dort eine Zeit lang in Gedanken zu verweilen. – Fotos: sie dürfen auch Fotos von der Unfallstelle knipsen. – Pressetribüne: wir weisen sie darauf hin, dass die Presse mit ihren Photographen auf Distanz steht. Falls sie auf Fotos unerkannt bleiben möchten, bitten wir sie nicht in diese Richtung zu schauen. – Besinnung: Wir setzen uns mit ihnen dafür ein, dass am Unglücksort Ruhe und Stille herrschen. – Klärungsbedarf: Falls es Fragen gibt, versuchen die PSNV-Mitarbeiter mit ihnen eine Antwort zu finden. – Überblick: Um Ihnen bei der Auffindung der Busse (falls es mehrere Busse sind) behilflich zu sein, haben wir jedem Bus eine Nummer zugeteilt. An der Unglücksstelle brauchen die Betroffenen sehr viel Zeit, um auszusteigen und sich zur Unfallstelle zu bewegen. Wichtig ist, dass PSNV-Mitarbeiter nur Fakten erklären, gut zuhören und intensiv schweigen. Sie sollten eher darauf bedacht sein, die Gesichter der Betroffenen zu beobachten und bei Bedarf zur Verfügung zu stehen. Dieser Besuch erlaubt es den Betroffenen das Schreckliche zu begreifen. Familienangehörige reden untereinander und unterstützen sich selbst. PSNV-Mitarbeiter sind die anwesenden „Engel“, die sichere Stütze, auf die zurückgegriffen werden kann. Es sind die vertrauten Gesichter, die Sicherheit ausstrahlen an jener Stelle, an der dem/den Familienmitglied(ern) das Schreckliche zugestoβen ist. Tränen sind angemessen und müssen auch Raum bekommen. Genauso darf Wut geäuβert werden. Die gesamte Gefühlspalette kommt hier zum Ausdruck und deshalb ist es so wichtig, dass genügend Zeit eingeplant wird. Jene Betroffenen, die sich bereits nach einigen Minuten Kopf schüttelnd umdrehen, sollten von PSNV-Mitarbeitern zurück zum Bus begleitet werden. Hier gilt es nun zum richtigen Zeitpunkt der belastbare Ansprechpartner zu sein, ohne sich dabei aufzudrängen.

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Die Begehung einer Unglücksstelle lässt die Betroffenen die Wahrheit begreifen. Damit sind auch viele Fragen verbunden: – Hätte dieses Unglück verhindert werden können? – Handelt es sich um menschliches oder technisches Versagen? – Wer ist Schuld? Gleichzeitig wird jetzt aber auch von den Betroffenen nach eigenen, vorsichtigen Erklärungsstrategien gesucht, wie zB: letztes Mal hat er den Flug verpasst, warum nicht diesmal? Auch Gott kann als Thema aufkommen, besonders, wenn junge Menschen oder Kinder verunglückt sind. Dann kann es heiβen: Wie kann Gott das zulassen, dass die Mutter mit zwei kleinen Kindern nun alleine dasteht? Das Verweilen an der Unglücksstelle braucht, wie bereits gesagt, viel Zeit. Bis zu einer Stunde Aufenthalt sollte auf alle Fälle eingeplant werden. Häufig taucht bei einigen Betroffenen kurz vor der Heimfahrt der Wunsch auf, „etwas“ von der Unglücksstelle mit nach Hause nehmen zu dürfen. Natürlich ist es nicht erlaubt, Gegenstände des verunglückten Wracks oder Teile, die noch polizeilich untersucht werden müssen, einzusammeln. Es gibt allerdings zB Steine, einen Ast oder Erde, die mitgenommen werden können. Dafür sollten kleine Plastiktüten vorgesehen werden, die mit einem Stift beschriftet werden können. Diese zugestandene Zeit intensiven Begehens einer Unglücksstelle in einer Groβschadenslage ist für die Betroffenen von einem tödlichen Verkehrsunfall auf der Landstraβe kaum möglich. Wie bereits erwähnt geschieht dieser so wichtige Wahrnehmungsbesuch oft unter eigener Todesgefahr, da der Verkehr weiter läuft. Besonders schlimm und verkehrswidrig wird der Umstand wenn die Spurensuche auf der Autobahn erfolgt. Sicherlich wäre in diesem Bereich noch manches mit einfühlsamen Polizisten zu verbessern, denn auch wenn das Verkehrsgesetz eindeutig ist, lassen die Betroffenen sich immer weniger davon abhalten, um eigenständig Unfallorte zu begeben. Und wieso das Begehen des Unfallortes so wichtig ist, davon kann jeder erzählen, der selbst einmal seinen Lebenspartner oder sein Kind in einem tödlichen Unfall hergeben musste. Komplizierter wird es, wenn verschiedene Familien, die sich nichts zu sagen haben zum Unglücksort kommen und die Angst vor dem Anderen das dominante Gefühl ist. Eine solche Situationslage bietet sich an, wenn in zwei verschiedenen Fahrzeugen Tote zu beklagen sind, wobei der eine Fahrer der Verursacher ist. Über den Tod hinaus kann es gerade an einem solchen Ort in der Folge zu Szenen kommen wo Schuldzuweisungen verbal und nonverbal geäuβert werden. Eine gute psy-

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chosoziale NV wird bereits in der Anlaufphase auf diese Schwierigkeiten aufmerksam und wird somit entsprechende Hinweise geben, damit es nicht zur unkontrollierten Eskalation kommt. Diese Gefühlssteigerungen sind oft vorprogrammiert bei tödlich verunglückten Jugendlichen, wo die Eltern geschieden sind und sich total ignorieren, ja sogar bekämpfen. In einer solchen Situation als PNSV zu handeln, bedeutet gleichfalls Prellbock zu sein. Hier stellt sich sehr schnell die Frage wem die Leiche denn nun gehört, wo sie beerdigt wird? Das zuletzt wahr genommene Sorgerecht könnte eine Lösungshilfe sein. Aber auch der Ort der Unglücksstelle, der Besitz einer Familiengrabstätte auf einem Friedhof, … sind Möglichkeiten, die mit der einen und anderen Partei besprochen werden müssen. Bringt der PSNV-Mitarbeiter es fertig als neutraler Mediator sich in Szene zu stellen, versucht er die verschiedenen Anliegen und Sensibilitäten zu verstehen, so kann es zu einer Lösung kommen, in der beide Parteien sich wieder finden und das Gefühl haben, dass ihnen entschieden geholfen wurde. Diese Sisyphusarbeit lohnt sich, da beiden Parteien gleichermaβen ermöglicht wird einen normalen Trauerprozess zu beginnen. Dies ist ein erster Schritt, um vorzubeugen, dass es im Nachhinein therapeutische Behandlung geben muss.

6.3. Der Besuch der Leichenhalle 6.3.1. Der Anfahrtsweg mit Abklärungen Wenn die Betroffenen im Bus wieder Platz genommen haben, dann ist es wichtig ihnen ein Getränk anzubieten. Dafür ist es nicht notwendig, extra einen geeigneten Raum aufzusuchen. Mineralwasser mit-, oder ohne Kohlensäure in kleinen Flaschen ist ausreichend, damit der menschliche Körper die notwendige Flüssigkeit bekommt. Auch der Besuch in der Leichenhalle muss vorbereitet und die verschiedenen Verantwortlichen davon in Kenntnis gesetzt werden. Die Polizei muss in jedem Fall anwesend sein. Es sollte geklärt werden, ob die Staatsanwaltschaft die Leichen frei gegeben hat, und ob die Arbeit der Gerichtsmedizin beendet ist. Das ist der optimale Fall, wobei der Regelfall eher lauten wird, dass die Gerichtsmedizin bei ihrer Arbeit nicht gestört werden darf. In der Tat haben konkrete Einsatzsituationen gezeigt, dass Gerichtsmediziner zusätzlichen seelischen Belastungen ausgesetzt sind, wenn sie während ihrer Arbeit mit konkreten Familienschicksalen konfrontiert sind und dabei Trauernde weinen sehen und ihre Klagen hören. Erfahrungsgemäß ist das Miterleben des Leides der Familienangehörigen für Mitarbeiter der Gerichtsmedizin sehr belastend und erschwert es ihnen, die ohnehin schon sehr anfordernde Arbeit zu erledigen. Andererseits ist der Abschiedsbesuch für die spätere Trauerzeit der Angehörigen besonders wichtig. Hier ist PSNV gefordert, um mit viel Fingerspitzen-

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gefühl die Bedürfnisse des Einen wie des Anderen zu artikulieren, um in gezielten Verhandlungen mit konkreten Abmachungen besagte Besuchstermine zu erzielen. Äußerst wichtig ist die Anwesenheit eines Gerichtsmediziners, um die wesentlichen Fragen der Angehörigen zu beantworten. Dabei steht die Art der Verletzungen im Vordergrund, die zum Tode geführt haben. Wichtig für den Angehörigen ist ebenfalls zu wissen, ob der Verstorbene sofort tot war oder ob er leiden musste. Verständlich, dass solche Fragen die Kompetenzen eines PSNV-Mitarbeiters übersteigen. Falls die Anwesenheit eines Gerichtsmediziners aus oben erwähnten Gründen unmöglich ist, dann sind PNSV Mitarbeiter gut beraten sich Antworten auf vermutete Fragen zum Unglückskontext im Vorfeld zu besorgen. In dieser Wartezeit werden die Familienmitglieder verständlicherweise ungeduldig und wiederholen immer wieder die gleiche Frage nach dem Zeitpunkt, um den Verstorbenen zu sehen. Hier muss eine klare Antwort möglich sein und die kann nur erfolgen wenn ein regelmäβiger Kontakt zwischen PNSV und der Gerichtsmedizin besteht. Abschlieβend sei noch darauf hingewiesen, dass die Staatsanwaltschaft die Leiche endgültig frei gibt für die persönlichen Abschiedsrituale. Allerdings kann diese Freigabe zeitlich unterschiedlich sein für die einzelnen Familien in ein und der gleichen Groβschadenslage. Deshalb muss es einen geeigneten Raum außerhalb der Leichenhalle geben, wo die Angehörigen Schutz vor Schlechtwetter, Presse und Zuschauern finden und gemeinsam in Begleitung der PSNV-Mitarbeiter warten können. In diesem Raum werden die notwendigen Anweisungen für alle Beteiligten gemeinsam gegeben: – Erklärungen zur Arbeit der Gerichtsmedizin, zu den eventuellen zeitlichen Verzögerungen. – Der Weg zur Leichenhalle in Begleitung der PSNV. – Der Empfang und die zusätzlichen Hinweise vor der Leichenhalle. – Das Verweilen vor dem Toten und die Möglichkeit den Verstorbenen zu sehen. – Die Möglichkeit eine Erinnerung mit in den Sarg zu geben. – Das Angebot Blumen mitzunehmen, wobei allerdings im Voraus darauf zu achten ist, für jeden Blumen bereit zu halten. – Die Mitteilung, dass ein Zeitrahmen vorgegeben ist: es kann maximal 10 Minuten in der Leichenhalle verweilt werden. Im Warte- und Aufenthaltsraum sollte es Getränke, eventuell auch Kuchen geben. In der Nähe dieses Aufenthaltsraumes sollten unbedingt Toiletten vorhanden sein.

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6.3.2. In der Leichenhalle Die Leichenhalle muss so geplant werden, dass jeder einzelne Sarg in einen kleineren abgegrenzten Raum mit Stehwänden geholt werden kann. Falls die Leichen in Plastiksäcken auf dem Boden liegen, muss jeweils der Plastiksack mit dem Verstorbenen in den bereitstehenden Sarg gelegt werden. Dieser Sarg darf nicht auf dem Fuβboden stehen. Auf alle Fälle soll der Vorraum derartig beschaffen sein, dass die Trauernden sich geborgen fühlen. Keinesfalls darf es störende Geräusche geben. Der Grund dafür verdeutlicht ein afrikanisches Sprichwort: „Man störe die Ruhe eines Toten nicht“. Grüne Pflanzen oder ein Blumenstrauβ sind für das menschliche Auge ein lebenswichtiges Zeichen von Normalität. Das Grausame, Unverständliche braucht als Gegengewicht Bilder von Ordnung und Verständlichkeit. Abseits kann ein einfaches Kreuz, wenn möglich ohne Korpus oder ein zur Religion passendes Objekt aufgestellt werden. Besonders ein schönes Kreuz verdeutlicht auch einem Nichtgläubigen den Tod und wird von vielen Menschen nicht unbedingt nur als christliches Zeichen gesehen. Es sollte so stehen, dass es dem Gläubigen Kraft geben kann, und den Distanzierten in seiner Reflexion nicht stört. Der zugeteilte PSNV kommt mit der betroffenen Familie zur Leichenhalle, wo sich auch 2–3 Sitzstühle befinden. Auf dem Weg dorthin soll der PSNV-Mitarbeiter abklären, ob Religiosität für die Familie von Bedeutung ist, und ob ein persönliches Gebet durch einen Notfallseelsorger gesprochen werden soll. Vor der Leichenhalle wartet ein weiterer PSNV. Dieser Mitarbeiter führt jede einzelne Familie kurz in das Geschehnis ein, wobei diese Einführung lauten kann: „Sie kommen in eine Halle, wo ein Raum durch Stehwände abgegrenzt ist. Hier steht der geschlossene Sarg mit ihrem Verstorbenen. Nehmen Sie sich Zeit den Sarg anzusehen, miteinander Abschied zu nehmen. Falls Sie Wünsche/Fragen haben, können Sie diese jederzeit äuβern. Nur auf Ihren Wunsch hin wird der Sarg geöffnet. Sie bestimmen das Tempo. Dürfen wir nun mit Ihnen hineingehen?“ In der Leichenhalle bleibt es meist still, aber auch lautes Weinen und Klagen sind möglich. Erfahrungsgemäβ unterstützen die Familienmitglieder sich gegenseitig. Die Aufgabe der PSNV-Mitarbeiter beschränkt sich sehr oft auf reine Anwesenheit. Optimal ist es, wenn ein Vertreter der Gerichtsmedizin anwesend sein kann. Dies kann sich als sehr hilfreich erweisen, da nun einige Angaben zur Leiche erfolgen können. Wenn die Angehörigen den Wunsch äuβern den Sarg zu öffnen, wird der Holzdeckel vom anwesenden PSNV und einer Drittperson (Bestattungsinstitut) entfernt. Der psychosoziale Familienbegleiter darf darauf hinweisen, dass die Anwesenden auch wegschauen dürfen, dass jeder das nur so lange schaut, wie

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er auch wirklich schauen möchte. Keinesfalls sollte die Leiche mit den eigenen Augen fixiert werden. Die Drittperson und der anwesende PSNV sollten die Leiche im Vorfeld betrachtet haben. Jenen Familienmitgliedern, die sich für den ganz persönlichen Abschied entschieden haben, sollte die Möglichkeit gegeben werden, jenen Körperteil anzusehen, der nicht verstümmelt ist. Erfahrene PSNV-Mitarbeiter wissen den Menschen zu begegnen, ihre Wünsche zu erspüren, Grenzen zu erkennen und diese zu benennen. Das Betrachten des Verstorbenen ist das umstrittenste Thema im Abschiedsverlauf. Betroffene, die von professionellen PNSV begleitet wurden, äußerten sich im Nachhinein allerdings ausschließlich positiv darüber, dass sie den Anblick gewagt haben, und so die endgültige Sicherheit erhielten, dass es sich um ihren Angehörigen handelte. Falls ein Betroffener seine ablehnende Haltung mit den Worten: „Ich möchte meinen Verstorbenen so in Erinnerung behalten, wie ich ihn kannte“ untermauert, ist dies in jedem Fall zu respektieren. Wenn diese Aussage von Polizisten, Politikern oder bedeutenden Entscheidungsträgern als gut gemeinter Ratschlag vorgebracht wird, sollte sie überhört werden, da diese Aussage dann eher die Ängste der Unbetroffenen widerspiegelt. Allerdings werden diese guten Ratschläge allzu oft für bahre Münze genommen, obwohl nach der Freigabe durch die Staatsanwaltschaft der Leichnam einzig und allein seiner Familie gehört. Falls eine Leiche nicht angesehen werden darf, liegt dies an gesetzlichen Vorschriften, die hygienische Maßnahmen im Umgang mit Verstorbenen regeln. Diese ersichtlichen Gründe werden von einem Mediziner aus dem Gesundheitsministerium in einem Protokoll schriftlich festgehalten und erwähnen ua Gründe, die auf akute Ansteckungsgefahr für die Umwelt beruhen. Einleuchtend ist jedem, dass diese schriftlichen Aussagen nur sehr selten erfolgen und die meisten Verweigerungen auf hierarchischer Stärke beruhen. Dabei stoβen PNSV Mitarbeiter dann wirklich in ihrer Betreuung an menschliche Grenzen, die sie akzeptieren müssen. Als kleiner Trost kann in dem Fall der Familie mitgeteilt werden, dass die Gerichtsmedizin einen Bericht verfassen wird, sowie auch Aufnahmen von dem Verstorbenen gemacht werden, die irgendwann einmal über den juristischen Weg einzusehen sind. 6.3.3. Vor der gemeinsamen Trauerfeier Bei einer Groβschadenslage bittet das betroffene Land die Angehörigen eine spezielle, gemeinsame Trauerfeier organisieren zu dürfen. Dieser Einladung folgen normalerweise die betroffenen Familien, da eine solche gemeinsame Trauerfeier nochmals einen wichtigen Schritt im Trauerprozess des Einzelnen darstellt.

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Falls es allerdings aus nationalen Gründen geschehen sollte, dass Politiker und Würdenträger sich zeitlich vor den Familien von den Toten verabschieden, kann dies zu Unmut und Wut seitens der Angehörigen führen, da die betroffenen Familien es als ihr ureigenes Recht ansehen, ihrem Verstorbenen zuerst die letzte Ehre zu erweisen. Auch wenn dieses Erstrecht der Familie zusteht, hat der PSNV-Mitarbeiter jede abweichende Tatsache nicht zu kommentieren. Viel mehr sollte die Präsenz der PSNV versuchen diese empfundene Ungerechtigkeit und den damit verbundenen inneren Druck der einzelnen Familienmitglieder abzufangen. Wem könnten die Betroffenen sich denn eigentlich ehrlich mitteilen, wenn es keine PSNV gäbe? Dieses Abfangen des Unmutes reicht allerdings nicht aus, denn es sollte schon angedacht und ausgesprochen werden, dass Angehörige sich gegenüber den verantwortlichen Politikern äuβern dürfen. Hier spielt PSNV eine wichtige Brückenfunktion, um eine anschlieβende Begegnung mit den Politikern zu ermöglichen, wo diese und weitere Punkte von den Betroffenen selbst angesprochen werden. PSNV ermöglicht diese Begegnung und bereitet auch die Politiker auf die Konfrontation mit dieser Thematik vor. Normalerweise kommt es bei einer solchen Begegnung zu klärenden Mitteilungen und auch Entschuldigungen, so dass beide Seiten einen positiven Impuls zurückbehalten.

6.4. Rituale und Begegnungen des Abschieds 6.4.1. Der erste Gottesdienst Um die Vielfalt der Religionen zu respektieren, sollte entweder ein interreligiöser Gottesdienst oder eine ökumenische Gedenkfeier stattfinden. Dabei ist es ratsam, die Meinungen von Religionsvertretern mit einzubeziehen, die Erfahrungen mit Trauerprozessen bei großen Katastrophen haben. Hier geht es nicht darum eine liturgische Feier zu gestalten, um Gott zu gefallen. Es sollte eher darum gehen, die Bedürfnisse der Trauernden aufzugreifen, und diese in einem Zeitrahmen von ungefähr 30 Minuten unterbringen zu können. Der Gottesdienst sollte vor allem die Sprachlosigkeit der Menschen thematisieren. Die religiösen Vertreter sollen stellvertretend durch ihr Gebet das entsetzliche Unglück mit den vielen Toten vor Gott tragen. Im Kirchenraum dürfen die Ängste und Sorgen der Menschen in der Gemeinschaft mit anderen Betroffenen durch Gesänge, Musik, Texte, erklärende Worte und Gebete neue Horizonte erfahren, das religiöse Ritual soll neue Kraft geben. Gerade diese kirchliche Geborgenheit bietet dem Einzelnen die Möglichkeit seine eigenen Erklärungen zu finden, sich die eigenen Trostworte auszuwählen.

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Für einen solchen Impuls könnte der Text des Propheten Elija geeignet sein: „Da zog der Herr vorüber: ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.“ (1 Kön 19,11f) In diesem ersten Gottesdienst müssen auf jeden Fall die Namen der Verstorbenen genannt werden. Des Weiteren kann ein Familienangehöriger während eines Liedes eine Blume oder eine Kerze für den Verstorbenen zum Altar oder zu einem anderen geeigneten Platz bringen. Zu diesem Zeitpunkt sollte vermieden werden, symbolhaft einen Sarg oder mehrere leere Särge aufzustellen, da die Erlebnisse des Tages erst einmal verarbeitet werden müssen und da zu diesem Zeitpunkt keinesfalls eine Beerdigungszeremonie erfolgt. Dieser erste Gottesdienst ist für offizielle Gäste, Politiker und Entscheidungsträger der Gesellschaft eine willkommene Möglichkeit ihre Anteilnahme still zum Ausdruck zu bringen. Und zu guter Letzt: dies ist ein Angebot an die Betroffenen. Falls jemand eine frühzeitige Rückkehr ins Betreuungszentrum aus welchen Gründen auch immer wünscht, muss diesem Wunsch nachgekommen werden.

6.4.2. Der gemeinsame Abschluss Nach diesen Stunden der „Spurensuche“ nach ihren Verstorbenen, sind die betroffenen Familien wieder froh an ihren Ausgangspunkt zurück gebracht zu werden. Bevor sie aus den Bussen aussteigen, müssen noch einige klare Informationen erfolgen, am besten gleichzeitig über die Lautsprecheranlage sämtlicher Busse. Inhalte dieser Mitteilungen können sein: – Wir möchten diesen Tag nun abschlieβen. – Im Betreuungszentrum stehen ihnen die PSNV-Mitarbeiter weiterhin zur Verfügung. – Offiziell haben wir nun nichts mehr geplant, aber wir sind ihnen weiterhin behilflich, falls sie Fragen haben. – Auch wenn sie nun zum Hotel oder Bahnhof gebracht werden müssen, sind wir ihnen bei diesem Transfer (in Zusammenarbeit mit der Airline / Reisegesellschaft) behilflich. – Wir möchten darauf hinweisen, dass die N.N. uns heute bei all unseren Schritten unterstützt hat.

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– Am kommenden Tag X wird ein weiterer nationaler Gottesdienst stattfinden, zu dem sie eingeladen sind und über den sie noch telefonisch informiert werden.

6.4.3. Die Teilnahme der Bevölkerung Bei großen Katastrophen ist die Betroffenheit der Bevölkerung besonders vielseitig. Nicht nur die massive Anwesenheit der Presse, sondern auch die vielen Statements von Politikern und Verantwortlichen lassen das kritische Ereignis zu einem gesellschaftlichen „Event“ werden. Die Zuhörer und Zuschauer werden so in ihren Vorstellungen in das Ereignis miteinbezogen und sind demnach gezwungen eine persönliche Haltung, zum Ereignis einzunehmen. So ist es nur verständlich, dass es Menschen gibt, die nicht in erster Linie als Zuschauer, sondern aufgrund ihrer eigenen seelischen Belastungen an diesen Abschiedsfeiern teilnehmen möchten. Blumen und Botschaften, ganz individuelle Zeichen, werden mittlerweile an den Katastrophenorten von vielen anonymen Teilnehmern niedergelegt. Die Tendenz zur partizipativen Anwesenheit ist hier stark steigend. Oft wird diese Präsenz auch pejorativ als Katastrophentourismus bezeichnet. PSNV-Betreuung darf einen solchen Tourismus positiv wahrnehmen. Hier müssen die echten Bedürfnisse der Menschen wahrgenommen und aufgegriffen werden, damit gemeinsame Antworten auf die tiefe Betroffenheit und solidarische Anteilnahme möglich sind. Gerade der Unglücksort darf zur Schnittstelle werden, wo PNSV sowie Pfarroder Gemeindeseelsorge gemeinsam da sind für die betroffene, oft hilflose Bevölkerung oder für anreisende Beobachter, sowie Zuschauer. Der Reichtum der niedergelegten Botschaften, die Vielfalt der Blumenarrangements sollen durch Bild und Text dokumentiert werden. Hier bietet sich eine Gelegenheit den betroffenen Familien, die oft weit entfernt leben, nach sechs Wochen ein erstelltes Dokumentationsheft zur Erinnerung mitzugeben. In dieser Sonderschrift könnten auch Meditationstexte aufgeführt werden, die neue Horizonte eröffnen, welche Inseln sind im Meer der Emotionen und des Verlustes. So darf die Idee verwirklicht werden, je nach Disponibilität von Freiwilligen, wenigstens ein- bis zweimal die Woche, sogar vielleicht täglich gegen die Mittagszeit an der Unfallstelle ein Gebet zu sprechen. Hier sind der menschlichen Kreativität und Phantasie in der interreligiösen Gestaltung keine Grenzen gesetzt, allerdings geht die Qualität der Quantität voran. Schön wäre es eine kleine Glocke zur Verfügung zu haben, die Anfang und Ende der Zeremonie verdeutlichen. Sicherlich wird in kirchlichen Kreisen die Angst vor einer unkontrollierbaren Pilgerstätte aufkommen, werden gesellschaftsspezifische Fragen vom Versicherungsschutz als Vorwand aufgeführt. Doch auch wenn diese Einwände berechtigt sind, dürfen sie in keinem Fall diese einmalige Chance der gemeinsam gelebten Trauerzeit von Betroffenen und Zivilbevölkerung verhindern. Und schlussendlich sollte auch dar-

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an gedacht werden an dieser zeitlichen Gedenkstätte jeden Tag an jene Menschen sich zu erinnern, die tagtäglich Opfer eines Unglücks werden. Auf diesen Umstand ist besonders zu achten, da immer wieder Trauernde sich melden und meinen ihr Kind, Vater sei genauso bedeutend und wertvoll für die eigene Familie, wie das tote Kind oder der tote Familienvater in der Groβschadenslage.

6.4.4. Der zweite interreligiöse Gottesdienst Bei einer Groβschadenslage werden Presse und Bevölkerung bald schon viele Kritikpunkte äuβern. Besonders die Vertreter der Gesellschaft müssen hier die richtigen Erklärungen finden, sollten genügend, aber nicht zu lange im Rampenlicht stehen. Normalerweise wird die Landesregierung zu einem nationalen Gedenkgottesdienst einladen. Bis vor einigen Jahren war ein solcher Gottesdienst eine rein katholische Angelegenheit. Mittlerweile sind die politischen Verantwortlichen eher geneigt, sich für eine interreligiöse Feier zu entscheiden, um niemanden zu brüskieren und zu verhindern im Nachhinein unnötiger Kritik ausgesetzt zu sein. Doch auch hier muss zuerst die Frage gestellt werden: was die Familien der Verstorbenen wünschen? Die zivile Gesellschaft sollte sich zuerst einmal an den Bedürfnissen der Familien in der Gestaltung der Feier orientieren. Auf der Rückfahrt zum Betreuungszentrum kann diese Frage deshalb von den einzelnen PSNV-Begleitern angesprochen werden, da diese Mitarbeiter ein wichtiges Bindeglied für reelle Wünsche darstellen. Falls katholische und protestantische Familien betroffen sind, dann sollte man mutig genug sein, eine ökumenische Feier zu gestalten. Eine interreligiöse Feier ist nur da angebracht, wo es wirklich Angehörige von verschiedenen Religionen gibt. In diesem Fall sind explizit nur diese Religionsgemeinschaften anzusprechen. Wird diese Regel übergangen, kommt es zu Misstönen, die wiederum einem positiven Beginn der Trauerzeit schaden.

6.4.5. Der Umgang mit Überraschungen Zu den meisten Unregelmäßigkeiten und Überraschungen kommt es beim Versuch den Zeitplan einhalten zu wollen. Obwohl die Zeitangaben schriftlich feststehen, können sie meistens nicht eingehalten werden. Außerdem dürfte es einleuchtend sein, dass es unmöglich ist, trauernde Menschen wegen Zeitknappheit von einem Termin zum nächsten zu hetzen. Da verschiedene Orte besucht werden, ist es angebracht die teilnehmenden Personen immer wieder zu überprüfen, um ein Sicherheitsgefühl in den Trauermomenten zu ermöglichen und zu verhindern, dass sich unerwünschte Drittper-

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sonen einschleichen, mit dem Ziel die Öffentlichkeit mit vertraulichen Botschaften zu informieren. Mittlerweile gibt es genügend Beispiele dafür, dass sich Presseleute aller möglichen Mittel bedienten, um in diesen abgeschirmten Kreis gelangen zu können. So sollten die Familienangehörigen ihren Ausweis (Badge) bei sich tragen, um bei Bedarf diesen auch vorzuzeigen. PSNV-Begleiter und andere Mitreisende müssen sich genauso ausweisen können und darauf achten dezent gekleidet zu sein. Die Präsenz eines Pressesprechers sollte keinesfalls abgelehnt werden, da durch seine Anwesenheit die Medien einen offiziellen Ansprechpartner und verlässlichen Informanten haben. Es wird immer wieder vorkommen, dass Menschen von nah und fern anreisen, die Verwandte/ Bekannte von Verstorbenen sind oder dies vorgeben. Das Betreuungszentrum muss besetzt bleiben, um diese Neuankömmlinge zu überprüfen. Manchmal muss sogar mit der anwesenden, betroffenen Familie abgeklärt werden, ob der Neuankömmling dabei sein soll oder nicht.

6.4.6. Überprüfung des Angebotes „Abschied“ Das Abschiednehmen bei großen Katastrophen oder komplexen Ereignissen wird von zahlreichen Faktoren bestimmt. Von vornherein festzulegen, dass immer nur zwei Familienmitglieder teilnehmen dürfen, mag für viele als organisatorisch gerechte Lösung erscheinen, allerdings bleiben dabei viele Betroffene auf der Strecke. Hier gilt es Regeln aufzustellen, die der Familiengröβe Rechnung tragen. Ein Verstorbener ohne Familie wird sicherlich weniger Anteilnahme hervorrufen als beispielsweise der Tod eines jungen Familienvaters, der wahrscheinlich von beiden Seiten der Familie rege Teilnahme an den Trauerfeierlichkeiten auslösen wird. Auch muss das Phänomen der „Patchwork- Familien“ berücksichtigt werden, zum Beispiel bei Männern und Frauen, die schon einige Partnerschaften gelebt haben. Hier kann der plötzliche Tod bei so manchen Entrüstung, Entsetzen, Schuldgefühle und massive Trauer hervorrufen. Dabei kann es effektiv zu Auseinandersetzungen und Spannungen kommen, besonders wenn es darum geht, wem schlussendlich die Leiche gehört. Dieser zwischenmenschliche Streit nimmt an Intensität zu, wenn es um ein totes Kind geht. Hier manifestieren sich ebenfalls die Groβeltern und verweisen auf ungeschriebene Rechte. PSNV Mitarbeiter werden in solchen Situationen als Mediatoren tätig und versuchen die Anliegen so zu formulieren, dass jeder Betroffene sich in den Lösungsvorschlägen wieder findet. Oft geht es den streitenden Parteien eigentlich zuerst einmal darum von der Gegenpartei gehört und in den geäuβerten Vorschlägen ernst genommen zu werden.

Möglichkeiten des Abschieds unter vielen Einschränkungen

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Einige Verantwortliche haben für diese Menschen wenig Verständnis, eine optimale PSNV darf die Anliegen dieser Betroffenen allerdings nicht aus den Augen verlieren. Dabei ist der Gedanke angebracht, dass PSNV hier an seine Grenzen stöβt. Vorteilhaft ist es auf ein multidisziplinäres PNSV-Team zurückgreifen zu können, in dem geschulte Mediatoren vorkommen oder wenigstens dem gesamten Team Grundelemente der Mediation durch eine Sonderausbildung vermittelt wurden. Der Abschied von jemandem, der einem nahe gestanden ist, wie zum Beispiel vom plötzlich verstorbenen Lebenspartner, dem Vater oder der Mutter gelingt dann, wenn die psychosoziale Begleitung stimmt. Vergleichsbeispiele von Familien, die begleitet wurden, und jenen, die auf Begleitung verzichten mussten, gibt es in der Zwischenzeit genügend. Jenen Familien, die Begleitung erhielten, eröffnen sich viel schneller neue Horizonte. Sie finden Worte für die Katastrophe, und können ihre Ängste, Zweifel, ihre Fragen und Anklagen genauer formulieren. Diese Trauernden vermögen sich dem bitteren Ereignis besser zu stellen. Sie akzeptieren es zwar weiterhin nicht, können aber mit dem, was geschehen ist, den Kampf der Auseinandersetzung aufnehmen. Dies ist nur möglich, weil sie die Ereignisse mit Bildern verbinden und sie dabei zwischenzeitlich gelernt haben, die dazu gehörenden Emotionen auszusprechen und zu leben. Familien ohne Begleitung, ziehen sich eher zurück und resignieren häufig. Sie reagieren sehr schnell nur emotional auf Nachrichten und tausende Reize bewirken in ihnen ständig einen erhöhten Stresspegel, der ihre Lebensqualität entscheidend verändert. PSNV ist und bleibt ein Angebot für die einzelne Familie, die einen Ansprechpartner braucht, um ihre reellen Bedürfnisse zu äuβern und dabei ernst genommen wird. Und damit dieses Angebot in der Groβschadenslage gewährt ist, muss die Anwesenheit von PSNV in Zukunft bei jeder gröβeren Schadenslage automatisch möglich sein.

6.5. Schnittstelle: von der Akut- zur Mittel- und Langzeitbetreuung 6.5.1. Begleitung mit Brückenfunktion PSNV im deutschsprachigen Raum kennt ihre Grenzen und erlebt sich als eine begleitende Hilfe in der Akutsituation, um die eigenen menschlichen Ressourcen zu aktivieren. Diese ganzheitliche Betreuung pathologisiert den erlebten Tod eines nahe Stehenden keinesfalls und möchte zu einem salutogenetischen Ansatz verhelfen. Diese Sicht erlaubt es den PSNV sich zu einem gewissen Zeitpunkt zurückzuzie-

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hen, um die Betroffenen in ihre Trauerphasen, respektiv Trauerzeiten einsteigen zu lassen. Diese Schnittstelle kann zeitlich nicht genau bestimmt werden, da sie von den vielen hier dargestellten Gegebenheiten beeinflusst wird. In jedem Fall wird PSNV Brückenfunktion ausüben und dafür Sorge tragen, dass die Hinterbliebenen die Möglichkeit haben auf Angebote der Mittel- und Langzeitbetreuung zurückgreifen. Diese psychologischen Traumatherapeuten können über nationale Strukturen angefragt und aktiviert werden. In Luxemburg besteht eine eigens dafür ins Leben gerufene PSY-Gruppe, die unter der Leitung des Familienministeriums mit ausgewählten Therapeuten arbeitet. In Deutschland wird NOAH die koordinierende Vermittlungsstelle übernehmen. Die frankophonen Länder, besonders Frankreich, neigen eher dazu an Ort und Stelle mit psychiatrischen CUMP-Fachleuten zu intervenieren, um gezielt die Betroffenen auf etwaige posttraumatische Belastungsstörungen zu „screenen“, um sie dann an Fachkliniken weiterzuleiten oder dort eigenhändig den Patienten zu therapieren. Im deutschsprachigen Raum wird die psychosoziale Hilfe für Betroffene einer Groβschadenslage weniger pathologisiert und kann unter folgenden zwei Bereiche aufgeteilt werden: die eigentliche psychologische Begleitung, um eventuelle posttraumatische Störungen zu therapieren oder stockende Trauerzeiten zu ermöglichen; sowie die soziale Hilfe, die darin besteht, Unkosten zurückzuerstatten und Entschädigungsgelder zu zahlen bis hin zu juristischen Klagen, die zum richtigen Zeitpunkt erfolgen müssen. Gerade dieser sozial administrative und technische Bereich müsste die Freistellung eines Ombudsmannes(-frau) bei jeder Groβschadenslage mit sich bringen. Diese Ansprechperson vertritt die gemeinsamen Interessen der trauernden Betroffenen gegenüber den offiziellen Stellen und Versicherungen, wobei sie andere Funktionen als der Rechtsanwalt hat. Eine der Missionen besteht zu verhindern, dass Angehörige wegen der vielen administrativen Hürden noch ein zweites Mal Opfer werden durch verpasste Termine, Ungerechtigkeiten aller Art, sowie Telefonaten mit unendlichen Vertröstungen und Abwimmelungen, weil keiner sich zuständig fühlt. Dieser administrativ soziale Bereich wird erfahrungsgemäβ von allen Familien in Anspruch genommen. Besonders ist diese Anlaufstelle eine willkommene Informationsstelle über die späteren Geschehnisse und weiteren Entwicklungen des Groβschadensereignisses. So sind Angehörige, die in weiter Entfernung zum Schadensort leben schon interessiert an Zeitungsberichten. Diese Dokumente helfen die Trauerzeit zu beleben, indem sie die Möglichkeit geben nochmals neu über das Ereignis zu sprechen. Ebenfalls ist der Ombudsmann Anlaufstelle für Besuche, die Angehörige zu der Unglücksstelle organisieren, um dort zu trauern, um sich mit dem Schrecklichen, den letzten gelebten Sekunden ihres Verstorbenen auseinander zu setzen. In jedem Fall muss auf die Sprache der Familien geachtet werden, wenn sie sich in ein fremdsprachiges Land begeben müssen.

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6.5.2. Das Jahresgedenken Vorteilhaft ist es, wenn beim Jahresgedenken die Tauerbegleiter der Mittel- und Langzeitbetreuung, sowie die PSNV-Mitarbeiter die Betroffenen zur Unglücksstelle begleiten. Hier ist darauf zu achten, dass die Zeremonie zur Erinnerung an die Verstorbenen zu dem gleichen Zeitpunkt stattfindet, als das Unglück im Vorjahr. Am besten ist einen festen Treffpunkt für die zahlreichen Familienmitglieder in einigen Kilometer Entfernung zu vereinbaren. Jeder der sich an dieser Zeremonie beteiligen möchte, ist willkommen, es wird keiner ausgeschlossen. Mit entsprechend vielen Gästen ist zu rechnen und dementsprechend muss diese Versammlung genauestens vorbereitet werden. Dabei versuchen die PSNV die bereits vor 12 Monaten anwesenden Familien zu begleiten. Auf jeden Fall ist zu achten, dass die PSNV-Mitglieder diesmal nicht in einer akuten Krisensituation arbeiten. Der Auftrag muss im Vorfeld genauestens im Team besprochen werden, damit es ja nicht zu einer Überbetreuung kommt. Pro Bus reichen sechs Mitarbeiter, die behilflich sind beim Aus- und Einsteigen, die Ansprechpersonen sind für etwaige Fragen. PSNV Mitarbeiter geben Schutz und Sicherheit, erlauben den Trauernden, dass einer da ist, der sich um sie sorgt, falls etwas geschehen sollte. Die Anwesenheit von PSNV wird ebenfalls als Anteilnahme von den Familien erlebt und bewertet. Bei der Gedenkstätte ziehen sich die PSNV im Hintergrund zurück und überlassen den Familien den Vortritt. Die eigentliche Zeremonie sollte rund dreiβig Minuten dauern und anschlieβend die Möglichkeit bieten, dass Familienmitglieder Zeit zum Verweilen haben. Die PSNV sind verantwortlich, damit kein Bus ohne seine Passagiere abfährt. Falls es mehrere Busse sind, ist es von Vorteil die Busse mit entsprechenden Farben zu kennzeichnen und den Familien beim Einsteigen eine entsprechende numerierte Farbenkarte zu reichen. Damit ist schnell die Zahl der Passagiere zu ermitteln und diese individualisierte Karte kann sich auch als Ausweis bei etwaigen Kontrollsituationen bewähren. Den angereisten Familien soll abschlieβend die Möglichkeit geboten werden, sich in einem Saal zu treffen, um miteinander zu plaudern, sich zu begegnen. Dieses zwanglose Zusammensein ist nochmals ein wichtiger Augenblick für die PSNV. Hier gilt es auf jene Personen aufmerksam zu werden, die längere Zeit ohne Gesprächspartner sind. Die anwesenden Trauerbegleiter arbeiten in diese Lage gemeinsam mit den PSNV zum Wohl der Angehörigen/Freunde. Während PSNV sich des organisatorischen Teils annimmt, sind die psychologischen Trauerbegleiter eher verantwortlich für die individuellen Betreuungsgespräche. Diese Begegnung an der Todesstätte wird Erinnerungen aktivieren, die unterschiedliche Betroffenheit auslösen und wo es gut ist, wenn sichere menschliche Bezugspunkte in Reichweite sind. Ein solches Jahresgedenken wird aber auch durch die vielfachen Begegnungen neue Perspektiven eröffnen und wird deshalb nochmals als wichtiger Trauerabschnitt erfahren.

Kapitel 7

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Ab sofort ist nichts mehr so wie früher – wenn ich anläute, weiß ich, dass für den Betroffenen ein ungewolltes, neues Leben beginnt. „Der Tod ist etwas so Seltsames, dass man ihn, ungeachtet aller Erfahrung, bei einem uns teuren Gefährten nicht für möglich hält und er immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes eintritt. Und dieser Übergang aus einer uns bekannten Existenz in eine andere, von der wir auch gar nichts wissen, ist etwas so Gewaltsames, dass es für uns, die zurückbleiben, nicht ohne die tiefste Erschütterung abgeht“ schrieb JW von Goethe nach dem Tode eines nahen Menschen im Brief an Eckermann am15. Februar 1830: Es ist Freitag. Ein ganz gewöhnlicher Arbeits- und Schultag. Die Sonne scheint, es ist Frühling. Ich betrete eine Schule mit spür- und hörbarer Lebendigkeit. Ein Gespräch mit dem Direktor steht an, um alle notwendigen Rahmenbedingungen für die Überbringung der Todesnachricht zu schaffen. Auch mein Herz schlägt schneller als normal, wissend, dass sich für die beiden betroffenen Kinder die Welt durch meine Nachricht völlig verändern wird. Zwei junge Menschen schauen mich erschrocken an und wollen erfahren, warum ich hier bin. Ich bringe ihnen die Nachricht vom gewaltsamen Tod ihrer Mutter. Entsetzen, Starrheit, Schreien, Klagen und Verstummen sind die Reaktionen der nächsten Stunden.

In so einer Situation glaubt man die Aussage von Karl Marx zu verstehen, in der er meinte: „Der Tod ist kein Unglück für den, der stirbt, sondern für den, der überlebt.“ Es steht mir in diesem Kontext nicht zu, dieses Zitat zu interpretieren, es geht viel mehr darum, mit der Trauer, dem endlosen Schmerz und der Hilflosigkeit umzugehen und mit den Betroffenen als Akutbetreuer1 einen möglichst hilfreichen Weg einzuschlagen. Trauer ist keine Erkrankung. Der Trauernde braucht daher bei einem „normalen“ Trauerverlauf weder Medikamente noch Psychothe1

Im Sinne der PNVS.

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rapie. Sehr hilfreich kann sein, wenn der Betroffene jemanden an seiner Seite hat, ein tragbares soziales Gefüge besteht und er die Sicherheit verspürt, dass es Menschen gibt, die ihn verstehen und für ihn da sind. Aus dieser Begriffsdefinition heraus ergibt sich von selbst, warum ich mich in diesem Artikel im Wesentlichen auf die Trauer und ihre Reaktionen in der Akutphase beschränke.

7.1. Der Begriff Trauer Was bedeutet der Begriff Trauer und Abschied überhaupt? Aus einer Vielzahl von Versuchen, diesen so umfangreichen, wie ich meine, in allen Facetten nicht zu beschreibenden Begriff zu erfassen, wählte ich wie folgt aus: Im Internet, unter www.wikipedia.org, Wikipedia die frei Enzyklopädie, findet man unter dem Stichwort Trauer: „Die Trauer ist eine Stimmungslage des Menschen, die beim Verlust eines geliebten Gegenübers (Menschen, ggf. auch Tiere), bei einem schulischen oder beruflichen Misserfolg, beim Scheitern an einer Aufgabe o.Ä. auftritt. Trauer ist zunächst gesund, indem sie Anpassung an eine neue Situation erleichtert. Sie gehört zu einer Übergangsphase im Lebenslauf. Das etymologische Wörterbuch erklärt uns, dass truren im Althochdeutschen „die Augen niederschlagen“ (Trauergebärde, zB den Kopf senken) heißt, im Altenglischen gibt es ein Wort dreorig, welches „trübsinnig“ bedeutet. Der Brockhaus (Der Brockhaus in 15 Bänden. Permanent aktualisierte Online-Auflage. Leipzig Mannheim: FA Brockhaus 2002, 2003, 2004) definiert Trauer als „das schmerzliche Wahrnehmen eines Verlustes von Dingen, Lebensumständen und v.a. von geliebten Personen, sowie die damit zusammenhängenden Ausdrucksphänomene. Trauer bzw traurige Gestimmtheit (Traurigkeit) zeigt sich auf vielfältige Weise im Gesichtsausdruck, in Körperhaltung und Verhalten, zB in stiller Zurückgezogenheit, in Weinen, Langsamkeit der Bewegungen, auch Appetitlosigkeit, Beeinträchtigung des Schlafs, Unempfänglichkeit für andere Gefühle, Eindrücke, Interessen u.a. Die Dauer der Trauer und die Formen ihrer Überwindung durch eine kontinuierliche, bewusste ,Trauerarbeit‘ oder durch Umgestaltung in der Struktur der eigenen Daseinsweise können individuell erheblich variieren.“ 7.1.1. Komplexe Trauer Krankhaft wird Trauer, wenn sie nicht nach einer (unterschiedlich lange dauernden) Phase abklingt. Abzugrenzen ist Trauer vom umgangssprachlichen depressiv Sein und der medizinisch/psychiatrischen Diagnose Depression nach der DSMKlassifikation“ (DSM = Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen).

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Die pathologische Trauerreaktion versteckt sich generell meist hinter anderen Störungen, wie Depression, Dissoziation, psychosomatischen oder affektiven Störungen. Im Unterschied zu der „normalen“ Trauer spricht man in diesem Fall von komplizierter Trauer, von überaus heftigen bis selbstzerstörerischen Reaktionen, ebenso wenn Reaktionen über ein Jahr hinaus andauern. In dieser Zeit tritt kaum eine Abnahme der Trauerreaktion auf. Das traumatische Erlebnis und das damit verbundene Verhalten kann nicht in das Leben integriert werden. Häufig treten auch Verhaltensweisen, wie Ess- oder Schlafstörungen, Selbstmedikation und Vereinsamung auf. Maercker beschreibt in seinem Artikel: „Psychotherapie von Posttraumatischen Belastungsstörungen und komplizierter Trauer“, dass das Ursprungsereignis um später einen komplizierten Trauerverlauf zu erleben immer ein Todesfall sein muss. Im Gegensatz zur Posttraumatischen Belastungsstörung, bei der ein traumatisches Ereignis oder Erlebnis, das plötzlich und außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung liegend ist, als Auslöser gilt. Er geht davon aus, dass der Tod nicht unter dramatischen oder traumatischen Umständen erfolgt sein musste, dass das Risiko für einen komplizierten Trauerverlauf allerdings durch einen plötzlichen und unerwartet eingetretenen Tod steigt. Dies bedeutet für die Krisenintervention, dass die Akutbetreuer mit einer Gruppe von Menschen konfrontiert sind, die gefährdet sind, dass ihre Trauerarbeit einen komplizierten Verlauf nimmt. Untersuchungen mit Hilfe von Interviews zeigen, dass zirka 10% der Trauerverläufe sich zu einer komplizierten Trauer entwickeln. Bei der komplizierten Trauer gibt es ein Zeitkriterium. Klinische Beobachtungen zeigen, dass das erste Jahr nach einem Todesfall für den Betroffenen allgemein stärker belastend ist. Trauerjahr – Das Durchleben des Jahreskreises mit seinen Festen, Feier- und Gedenktagen lässt das Gefühl des Verlustes und der Trauer um einen geliebten Menschen immer wieder neu aufflammen. Treten die Symptomkriterien ab dem 13. Monat nach dem Todesfall auf, so spricht Maercker von einem komplizierten Trauerverlauf. Dieser kann sich in intrusiven Symptomen, zB andauernde Erinnerung, Gefühlsüberflutungen, Realitätsverkennungen, in Vermeidungssymptomen, zB Vermeidung von Situationen und Tätigkeiten, die an das Sterben erinnern, in Fehlanpassungssymptomen, zB Nichtentfernen persönlicher Gegenstände des Toten, äußern. Die Zuversicht und Zukunftserwartungen können erschüttert sein. Betroffene sind manchmal von ihrer anhaltenden Verletzlichkeit überzeugt und zeigen große Angst davor, dass sich das Unglück wiederholen könnte. Oftmals äußern diese Menschen negative Gefühle gegenüber dem Verstorbenen, da sie das Gefühl nicht loswerden können, verlassen worden zu sein. Die alltäglichen Lebensabläufe werden daher entscheidend beeinträchtigt. In diesen Fällen ist eine Psychotherapie anzuraten (vgl Maercker [1999]). Im Wörterbuch der Psychotherapie ist unter anderem zu lesen, dass Trauer ein sehr einsamer Prozess ist, wenn es auch wichtig erscheint, Hilfe eines anderen

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annehmen zu können, die wesentlich zum Gelingen der Trauerarbeit beiträgt. Trauern ist auch ein Prozess, der sich in allen Lebensphasen in den unterschiedlichsten Formen darstellt. Weiters geht man davon aus, dass der Depression in diesem Zusammenhang in all ihren Ausformungen eine nicht vollzogene Trauerarbeit zu Grunde liegt (vgl Bartosch, 2000, S 719). Trauer, Trauerarbeit (aus integrativer Sicht): „Prozesse der Trauer und Trauerarbeit werden bei Verlusten erforderlich bei endgültigem Abschied-Nehmen – und dies ist ein „Nehmen“, ein Hineinnehmen des Verlorenen in das Gedächtnis, ohne zu verdrängen oder zu dissoziieren, damit es zum Erfahrungsschatz des Lebens gehören kann“ (Petzold, 2000, S 719f). Weiters wird darauf hingewiesen, dass Trauern nach „stressfull life events“ ein ganzheitlicher Prozess mit den unterschiedlichsten Intensitäten ist. Das Ziel der Trauerarbeit ist die Integration des Erlebten und der damit verbundenen Neuorientierung. Gelingt dies nicht, kann es zu einer psychosomatischen Erkrankung in unterschiedlicher Ausprägung kommen (vgl Petzold, 2000, S 720f). Die Trauer und Trauerarbeit beschreibt Freud mit „…regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, …“ (Freud, 1946, S 429). Er schreibt weiter über verschiedene Trauerreaktionen, wie „(…) den Verlust des Interesses für die Außenwelt (…), den Verlust der Fähigkeit, irgendein neues Liebesobjekt zu wählen (…), die Abwendung von einer Leistung, die nicht mit dem Andenken des Verstorbenen in Beziehung steht“ (Freud, 1946, S 429). Die Trauer umfasst den Menschen in seiner Gesamtheit und fordert ihn als Ganzes (kognitiv, affektiv, somatisch und sein gesamtes Verhalten betreffend), und es ist ihm oft nicht möglich, sich etwas anderem als seiner Trauer und den damit verbundenen Reaktionen zu widmen. Im weitesten Sinn geht auch der heutige Begriff der Trauerarbeit auf Freud zurück. In seiner Veröffentlichung „Trauer und Melancholie“ geht er unter anderem der Frage „Arbeit, welche die Trauer leistet“ (Freud, 1946, S 430) nach. Seiner Ansicht nach geht es darum, den trauernden Menschen mit dem Verlust zu konfrontieren und sich gegen das Nicht-Wahrhaben-Wollen durchzusetzen. Damit kommt bereits hier zum Ausdruck, dass die Trauerarbeit eine aktive Beschäftigung mit dem zuteil gewordenen Schicksal erfordert und es daher gerechtfertigt ist, von Arbeit, wie ich meine von schwerer Arbeit, zu sprechen.

7.2. Die Person in der Trauer Die Dynamiken der raschen gesellschaftlichen Entwicklungen verändern in unserer Bevölkerung nicht nur Umwelt, Klima, Konsumverhalten und Beziehungsverhalten …, sondern auch die Einstellung zum Tod und die damit verbundenen Trauerverläufe. Die bekannten Trauermodelle, wie zB von Elisabeth Kübler-Ross (1969): Nicht-Wahrhaben-Wollen; Zorn; Verhandeln; Depression; Zustimmung,

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John Bowlby (1980): Betäubung; Sehnsucht und Zorn; Desorganisation/Verzweiflung; Reorganisation, Yorick Spiegel (1972): – Schock; Kontrolle; Regression; Adaption – und Verena Kast (1982): Nicht-Wahrhaben-Wollen; aufbrechende Emotionen; suchen und sich trennen; neuer Selbst- und Weltbezug – beschreiben Stufenmodelle, die von der Wiederherstellung des autonomen Individuums sprechen. Mögliche Gefahren der Stufen bzw Phasenmodelle liegen in der Einengung der Wahrnehmung, der Normierung und Bewertung des Prozesses und suggerieren eine lineare Abfolge des Trauerprozesses. Daraus ergibt sich eine mögliche Pathologisierung, da der eigene Trauerverlauf nicht mit den Stufen oder Phasen übereinstimmt und daher zur eigenen Unsicherheit führt oder gar zum Begriff einer abnormalen Trauer wird. Heute geht man eher von einem sehr unterschiedlichen und individuellen Trauerverlauf aus. Bei den unterschiedlichen Trauerverläufen möchte ich auch kurz auf die geschlechtsspezifischen Unterschiede von Mann und Frau hinweisen. Empirische Untersuchungen zeigten auf, dass es im Allgemeinen Frauen leichter fällt, über den Verlust und die damit verbundenen Gefühle, Bilder und über die Gedanken, die durch dieses Ereignis ausgelöst werden, sprechen zu können. Männer hingegen sind einerseits zögerlicher bei der Artikulierung und andererseits glauben sie ihrem Gegenüber, vorwiegend ihrer Partnerin, durch das Ansprechen eigener Gefühle noch mehr Schmerz zuzufügen. Übrigens trifft dieses sich Zurücknehmen, um den anderen zu schonen, auch auf Kinder zu, die ihre Bezugsperson nicht noch mehr belasten wollen. Deshalb vermeiden sie über das Ereignis und ihre eigene Trauer zu sprechen. Männer sind jene, die schneller und meist noch intensiver wieder der Arbeit nachgehen, um sich von dem schmerzhaften Ereignis „abzulenken“. In weitere Folge führt das Nicht-Sprechen darüber oder „öffentlich“ nicht trauern zu dürfen in vielen Fällen zu einer Art von Selbstmedikation, zB in Form von übermäßigem Alkoholkonsum – Alkoholmissbrauch. Im Vergleich dazu neigen Frauen eher zu depressivem Verhalten bzw zu Angststörungen (vgl Kersting [2005]). Wie bei den unterschiedlichen Trauerreaktionen der Betroffenen in der Akutphase ersichtlich wird, ist der Ausdruck der Trauer sehr sehr unterschiedlich. Die bis jetzt als „normal“ angesehene Weise zu trauern (anfangs tiefe Trauer/depressives Verhalten verschwindet nach einigen Wochen oder Monaten völlig) ist relativ selten. Ebenso selten ist die „verzögerte“ Trauer, wonach der Schmerz erst lange Zeit nach dem traumatischen Ereignis eintritt. Die „chronische“ Trauer trifft auf ungefähr ein Sechstel der Betroffenen zu. (vgl Wortman C, 2003, zitiert nach H Ernst: Wie man mit Schicksalsschlägen fertig wird. In: Psychologie Heute 2/2003, 12–13). Eine hohe Anzahl von Menschen zeigt überhaupt keine übliche Trauerreaktion. Daher ist es für uns psychische Ersthelfer von besonderer Wichtigkeit, mit einer offenen in sich stimmigen Haltung (kongruent, akzeptierend und einfühlsam) in den Einsatz zu gehen. Über die deutlichen Trauerreaktionen wie Weinen, Klagen, Schreien, Stampfen, Verstummen, … sei im Besonderen auf die Depersonalisation (der Betroffene erlebt sich in der Akutsituation als sich selbst fremd, eigene

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Gefühle und Erfahrungen sind fern oder gar verloren) auf die Derealisation (der Betroffene erlebt Objekte, Menschen und seine Umgebung als unwirklich, fern wie im Film) und auf die Dissoziative Amnesie (vollständiger oder teilweiser Erinnerungsverlust nach kürzlich traumatisierenden oder belastenden Ereignissen) hingewiesen (vgl ICD 10, 1993, S 175f, 194f). Diese bedürfen im Besonderen der Aufmerksamkeit des Kriseninterventionsteams. Anders formuliert: Menschen mit solchen Ausprägungen gehören jedenfalls in der Akutphase betreut. Ein Teil unserer Aufgabe ist es, für den Betroffenen den Blick auf die Realität (das nicht wieder gut zu Machende, das Verlorengegangene, das Endgültige – den Tod) möglich zu machen. Offensichtlich ist für den Betroffenen weniger die innere Stärke für eine Bewältigung maßgeblich, sondern die Fähigkeit, sich Trost und Hilfe bei anderen Menschen zu holen. Das (möglichst stabile und eng gewebte) soziale Netz und vor allem die Fähigkeit, diese Unterstützung in Anspruch zu nehmen, tragen wesentlich dazu bei, belastende Lebensereignisse verarbeiten zu können. (vgl Maercker und Müller, zitiert nach H Ernst: Wie man mit Schicksalsschlägen fertig wird. In: Psychologie Heute 2/2003, 12–13). Das traumatische Erleben in die neue Biografie des Betroffenen zu integrieren wird durch biografische Faktoren, wie zB bereits erlebte traumatisierende Verlusterfahrungen, gehäufte Schicksalsschläge, … soziale Faktoren, wie zB mangelnde soziale Sicherheit, … Persönlichkeitsfaktoren, wie zB Unsicherheitsgefühl, negative Selbstkonzepte, … Beziehungsfaktoren, wie zB Schuldgefühle, Abhängigkeit, … und erschwerende Umstände, wie zB verschollene Angehörige, Gewalttaten, … stark beeinflusst. Umstände, die die Betreuung erfordern bzw erschweren. In der Akutbetreuung können wir immer von erschwerenden Umständen bei den Betroffenen zur Trauerbewältigung ausgehen, da wir bei unvorhersehbaren, plötzlichen und außerhalb der Vorstellungskraft liegenden Ereignissen Betroffene und deren Angehörige betreuen. Diese werden durch das Geschehnis aus ihrem Lebensalltag herausgerissen und von einer Sekunde auf die andere mit ihrer eigenen Trauer konfrontiert. Die Komplexität der Akutbetreuung wird im folgenden Beispiel sichtbar. Beim plötzlichen Tod eines 15jährigen Schülers, der von einer nahe gelegenen Autobahnbrücke sprang, waren wir zunächst in der Begleitung der Exekutive bei der Überbringung der Todesnachricht der nächsten Angehörigen tätig. Wie sich schnell herausstellte, bedurfte es noch viel mehr an Betreuung. Die Familie hatte den Verlust eines anderen Kindes vor 4 Monaten zu beklagen. Die anwesende Mutter, die die Überbringung dieser Nachricht überhaupt nicht mehr „glauben“ konnte, war nicht mehr in der Lage zu reagieren oder Aktivitäten zu setzen. Daher übernahmen wir es die weiteren Angehörigen zu verständigen. Es erweiterte sich unser Einsatzgebiet auf folgende Betroffene: Betreuung der nächsten Verwandten; Betreuung des schockierten Autofahrers; Kooperation mit Schule und Schulpsychologie; Organisation einer psychologischen Einsatznachbesprechung für die Feuerwehr, die das Todesopfer persönlich kannte; Kontaktaufnahme mit

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der Bestattung und Ermöglichen, den toten Jugendlichen nochmals zu sehen, um sich zu verabschieden; Kontakt herstellen mit Familienhilfe, Hausarzt und psychosozialem Zentrum. Aufgrund der außergewöhnlichen Belastungssituation war in der Betreuung der Aufbau eines sozialen Netzes, das in den nächsten Tagen zumindest bis zum Begräbnis eine Rund-um-die-Uhr-Begleitung ermöglichte, vorrangig. Leider wurde diese zugesagte dauernde Präsenz durchbrochen und so stand die betroffene Mutter am Tag des Begräbnisses auch auf der Autobahnbrücke mit der Absicht ihrem Sohn nachzufolgen. Dies konnte verhindert werden, was jedoch die Einlieferung in eine psychiatrische Klinik zur Folge hatte. Nach Rücksprache mit der Klinik konnte die Betroffene in Begleitung zweier Mitarbeiter des Kriseninterventionsteams am Begräbnis teilnehmen. Einige Wochen danach bedankte sich die Frau für die Hilfestellungen unseres Teams und formulierte selbst, wie wichtig die Teilnahme am Begräbnis im Kreise ihrer Familie und Freunde war. Für die Trauerbewältigung war es ein wichtiger Schritt, sich einerseits vom Verstorbenen verabschieden und andererseits am Begräbnis teilnehmen zu können.

7.2.1. Abschiednehmen Einen möglichen Schritt, um den Verlust zu realisieren und in der Folge diesen möglichenfalls leichter in sein Leben integrieren zu können, stellt die Möglichkeit, sich vom Toten zu verabschieden, dar. Es sollte keinesfalls eine „Zwangshandlung“ sein, sondern sich um ein Angebot handeln, sich in all der Trauer und Verzweiflung in Begleitung der Akutbetreuer behutsam und ohne Druck, vielleicht mit einem vorher besprochenen Ritual oder in aller Stille zu verabschieden. Wichtig ist es, dass die Betreuer davor sich ausreichend informiert haben über das Aussehen des Verstorbenen und darüber, welche örtlichen Gegebenheiten zur Verfügung stehen. Manchmal kann diese Begegnung noch am Unfallort stattfinden, manchmal im Krankenhaus oder zum Beispiel bei der Bestattung. Nicht jedes Mal wird dies zumutbar sein, doch wir Helfer sollten daran denken, die Möglichkeit der Verabschiedung zu schaffen und auch den Betroffenen anzubieten. Es ist zunächst so unendlich schwer vorstellbar, dass der mir so Vertraute nie mehr kommen wird. Manchmal höre ich: „Das kann ja nicht sein, er ist doch in der Früh nur zur Arbeit gegangen, er muss ja auch wieder nach Haue kommen“. Durch diese Form, sich von dem Toten verabschieden zu können oder ihn vielleicht auch zu berühren, wird mein inneres Bild erweitert. Manche Menschen haben selbst große Angst davor oder werden durch gut gemeinte Interventionen von Freunden und Bekannten mit den Worten: „Behalte ihn so in Erinnerung, wie du ihn das letzte Mal gesehen hast!“ von einer letzten Begegnung abgehalten. In einem Einsatzbericht über den plötzlichen Tod eines Mountainbikers habe ich unter anderem über den Wunsch der Frau, ihren Mann noch einmal sehen zu dürfen, gelesen.

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Der Akutbetreuer nahm Kontakt mit der Bestattung auf und erkundigte sich, ob eine Verabschiedung vom Toten möglich sei. Der Bestatter nahm das Anliegen entgegen und organisierte in kurzer Zeit einen würdevollen Rahmen, um diese letzte Begegnung zu ermöglichen. Sie begleiteten die Ehefrau zur Aufbahrungshalle. „Ich(Akutbetreuer) hatte zu diesem Zeitpunkt schwere Bedenken, wie die Gattin die Verabschiedung verarbeiten wird können, denn sie wirkte stark schockiert und psychisch und physisch labil.“ Sie betraten gemeinsam die Aufbahrungshalle, wo alles vorbereitet war. Nach einiger Zeit bat die Frau die Betreuer, sie mit ihrem Mann alleine zu lassen. Nach zirka 20 Minuten gingen sie wieder in den Raum und sie war jetzt bereit und in der Lage den Ort und ihren toten Gatten zu verlassen. „Es war für mich (Akutbetreuer) ein beeindruckendes Erlebnis, welche Veränderung bei dieser Frau eingetreten war. Sie wirkte entspannt und in sich ruhend.“ Weiters äußert die Betroffene sich noch gegenüber dem Team, wie wichtig es für sie war, ihren verstorbenen Mann noch einmal sehen, berühren und spüren zu können. In dieser Phase äußerte sie zum ersten Mal, dass jetzt für sie ein neuer Lebensabschnitt beginnt, den sie mit ihrem sozialen Netz bewältigen wird können. Wie aus diesem Beispiel ersichtlich, wurde durch die sorgfältige Vorbereitung der Akutbetreuer der betroffenen Frau ermöglicht, sich trotz „guter“ Ratschläge von Freunden und ihrer eigenen Ängste, von ihrem toten Mann zu verabschieden. Wie sie selbst mitteilte, war es für sie besonders wichtig diesen Schritt mit Unterstützung zu gehen. Es ist in der Akutbetreuung immer notwendig auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen, um für den Betroffenen eine stimmige Möglichkeit zu finden, ohne den gesamten Überblick dabei zu verlieren (zB Selbst- und Fremdgefährdung). Dies bedeutet zB die Nähe und Distanz zum Toten zu beachten, wie weit der Tote abgedeckt werden soll, ein Gebet oder ein Text gesprochen werden soll; ob man immer dabei sein soll oder der Betroffene allein gelassen werden will, … Für den Betroffenen ist es in der Akutphase schwer möglich komplexe Entscheidungen zu treffen. Daher muss das Angebot des Kriseninterventionsteams gut aufgegliedert, klar und einfach formuliert sein. In der Gesprächsführung sollte man sich auf geschlossene Fragen beschränken. Aus dem Wissen heraus, dass es für den Betroffenen nach der Verabschiedung und dem anschließenden Prozess der Verarbeitung des Erlebten von großer Wichtigkeit ist, sollten wir Wegbereiter sein, dass das ermöglicht wird. Jedoch gilt auch in diesem Fall: Jeder muss selbst entscheiden – wir bieten an!

7.3. Welche Aufgaben und Grenzen haben die Akutbetreuer bei ihren Einsätzen im Umgang mit der Trauer? Unter Krisenintervention/Akutbetreuung versteht man Einsätze, bei denen Betroffene nach unerwarteten und außerhalb der Vorstellungskraft liegenden Ereignis-

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sen betreut werden. Es ist nicht die Anzahl der Betroffenen maßgeblich, sondern der Grad der möglichen Traumatisierung. Zu unseren Einsatzindikationen zählen die beim Trauma Typ I (kurz dauerndes traumatisches Ereignis) definierten Kriterien: Naturkatastrophen, Unfälle, Gewalttaten, technische Katastrophen. Unser Einsatz endet nach einer ersten möglichen Stabilisierung der Betroffenen und nach dem Aufbau eines stabilen sozialen Netzes. Wir verstehen uns keinesfalls als längerfristige Begleitung oder gar Behandlung. Unsere Aufgabe als Kriseninterventionsteam liegt bei der Betreuung der Betroffenen in der Akutphase. Durch unseren Einsatz sollte einerseits der Betroffene das Gefühl haben, in dieser Situation nicht allein zu sein, auch in der schlimmsten denkbaren Situation ist jemand da für mich, und andererseits sollen durch die rasch angebotene Unterstützung der posttraumatischen Belastungsstörung und der pathologischen Trauerreaktion entgegengewirkt werden (siehe Kap 3). Bei Ausbildungen werde ich oftmals gefragt, mit welchen Reaktionen Betreuer in solchen Situationen zu rechnen haben. Bei dieser Frage gehe ich in Gedanken viele meiner Betreuungen durch. Mein Erlebtes in dieser Situation reicht von Schreien, Davonlaufen, Zusammensinken, Nicht-Wahrhaben-Können, Aggression gegen sich und andere, Schuldzuweisungen, Zurückkehren zur täglichen Arbeit, wie Fenster putzen, kochen, … bis hin zu Reaktionen wie Erstarren, Verstummen, Bilder betrachten, Ohren zuhalten, … All diese Reaktionen sind normale Reaktionen auf dieses außergewöhnliche Ereignis. Diese sind, im Gegensatz zu den pathologischen Trauerreaktionen, notwendig und normal. Sie dienen dazu, den Verarbeitungsprozess des Erlebten in Gang zu setzen. Betrachtet man diese Reaktionen, stellt sich die Frage danach, was Trauernde in diesen Situationen brauchen und wie die Akutbetreuer den Bedürfnissen möglichst gerecht werden können.

7.3.1. Mitfühlen – Mitleiden Ein wesentlicher Schritt, dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist die notwendige Selbstreflexionsfähigkeit der Betreuer. Sie müssen sich mit ihren eigenen Trauererfahrungen und -reaktionen auseinander gesetzt haben, um in der Betreuung empathisch und gleichzeitig kongruent bleiben zu können. Das Motto lautet auch hier mitfühlen und nicht mitleiden. Handelt es sich um eine oben erwähnte normale Trauerreaktion, so wird der Akutbetreuer versuchen, guten Kontakt mit dem Betroffenen herzustellen, den Trauernden nicht allein zu lassen und ihm durch sein Dasein und Zeithaben das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. In weiterer Folge geht es auch um ein Schaffen von Klarheit im Sinne von der Weitergabe möglichst genauer Informationen, die im mittelbaren und unmittelbaren Zusammenhang mit der persönlichen Katastrophe des Betroffenen stehen. In all der Trauer dürfen wir nicht übersehen, auf die Grundversorgung der biopsychosozialen Bedürfnisse zu achten. Wenn es uns gelungen ist, den Trauernden spüren zu lassen, dass wir Zeit

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haben und für ihn da sind und seine Reaktionen stützend begleiten, werden wir versuchen, gemeinsam mit dem Betroffenen sein soziales Netz zu aktivieren. Wenn es dem Trauernden möglich wird, eine Handlung zB in Form eines Telefonates zu setzen, wäre dies bereits der erste Schritt in Richtung Normalität. Der Akutbetreuer hat in diesen Situationen darauf zu achten, die Selbstständigkeit des Betroffenen nicht unnötig einzuschränken. Die Grundregel heißt: Mit ihm und nicht statt ihm! 7.3.2. Rituale Eine weitere Möglichkeit, den fließenden Trauerprozess zu begleiten, ist das Anbieten eines Rituals. Dieses sollte nach den Bedürfnissen des Betroffenen gestaltet werden. Wir Akutbetreuer können ihn in der Umsetzung und Gestaltung unterstützen. Da uns Rituale, in welcher Form auch immer, durch unser Leben begleiten und etwas Vertrautes darstellen, können sie für den Trauernden in der für ihn ausweglosen und unfassbaren Situation ein Stück Sicherheit und Realitätsbezug bringen. Dazu fällt mir aus meiner Arbeit mit Trauernden folgende Begleitungssituation ein. Bei den Trauernden handelt es sich um den Lebensgefährten und um die Eltern einer vermissten Frau. Während der Begleitung durch die verschiedensten Trauerreaktionen kam das Gespräch auf die Möglichkeit eines Rituals vor Ort, wo der Lebensgefährte seine Frau zum letzten Mal gesehen hat. Die Trauerreaktionen fielen nicht nur wegen der dramatischen Umstände so intensiv aus, sondern auch durch die unterschiedlichen Naheverhältnisse zu der vermissten Person. Im Gespräch über den Ablauf des Rituals wurde zunächst um den richtigen Ort gerungen. Es sollte ja für alle drei Betroffenen der stimmige Platz sein. In weiterer Folge kam es zu einer sehr individuellen Vorbereitungszeit. An jeder Stelle, an der das Ritual durchgeführt werden sollte, wurde zunächst die individuelle Trauer sichtbar. Die Mutter hatte einige Bilder und Gegenstände von der Tochter mit. Der Vater ritzte schweigend und vertieft den Namen und ein Kreuz in einen Baum. Und der Freund nahm einen CD-Player aus der Tasche und spielte die Lieblingsmusik seiner Freundin. Ich als Betreuer hielt mich im Hintergrund und versuchte alle drei darin zu bestärken, für ihre Bedürfnisse zu sorgen. Nach längerer Zeit brachte ich den Vorschlag ein, ob wir, um diesen Teil der Trauer gut beenden zu können, ein gemeinsames Ritual finden. Der Vorschlag wurde gerne aufgenommen und wieder wurden die Bedürfnisse der Betroffenen miteinbezogen. Es wurden Kerzen entzündet, jeder wollte auch ein Stück lautes Zwiegespräch mit der Vermissten halten, und dann wurde der Wunsch nach einem Gebet und einem gemeinsamen Lied wach. Nach dem Gebet und dem Lied beendeten wir dieses Ritual mit dem sichtbaren Ausdruck des sich gegenseitigen Stärkens durch eine Umarmung. Die Betroffenen konnten, wie sie es selbst formulierten, erleichtert – es hatte sich was gelöst – diesen Ort verlassen.

Was bedeutet dies für den Betreuer in der Trauerbegleitung beim Durchführen von Ritualen? Einerseits ist es für den Akutbetreuer erforderlich, über Formen

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von Ritualen, unter Berücksichtigung der Kultur, Religion und Sozialisation, Bescheid zu wissen und diese auch anbieten zu können. Andererseits ist seine Sensibilität und Wahrnehmung gefordert, damit sich das Ritual an den Bedürfnissen des Betroffenen orientieren kann. Ist der Betroffene in der Akutsituation nicht in der Lage, seine Bedürfnisse zu fühlen und/oder zu äußern, ist ein vorsichtiges Anbieten und Ausprobieren eines Rituals, zB eine Kerze anzünden, ein Bild betrachten, … durch den Akutbetreuer möglich. Nicht wir wissen, was für den Betroffenen das Richtige ist, sondern der Betroffene selbst weiß es. Wir bieten an und hören wach hin.

7.4. Bevor wir uns aus dem Einsatz verabschieden So wie wir, bevor wir in den Einsatz gehen, uns auf die Situation vorbereiten, uns die nötige Zeit für den Einsatz schaffen, notwendige Informationen besorgen und Verständnis für die emotionalen Reaktionen der Betroffenen zeigen, ist es genauso notwendig, einen guten und klaren Abschluss zu finden. Das deutliche Beenden und Verabschieden ist ein Teil unseres Auftrages. Wessen bedarf es, damit wir „gut“ gehen können? Die Checkliste als Hilfsmittel für den Akutbetreuer – Aufklärung der Betroffenen und der Angehörigen über die möglichen psychischen und physischen Umstände in den nächsten vier Wochen. Bei länger anhaltenden Reaktionen oder bei besonders heftigen Trauerreaktionen, die nicht abzuklingen scheinen, soll eine Kontaktaufnahme mit einem psychosozialen Zentrum, einem Psychotherapeuten, der Traumaambulanz oder einem Psychiater erfolgen. – Folder hinterlassen: Die Einsatzerfahrungen zeigen, dass es notwendig ist, die bereits mündlich mitgeteilten Reaktionen auf das belastende Ereignis auch in schriftlicher Form den Betroffenen zur Verfügung zu stellen. – Übergabe eines Informationsblattes für die eventuell notwendige Weiterbetreuung über nahe liegende psychosoziale Einrichtungen, Behörden, Psychotherapeuten, Ärzte oder Krankenanstalten und Institutionen. Bei Bedarf stellen wir den nötigen Erstkontakt her. – Überprüfen des vorhandenen sozialen Netzes Nachfragen, wer für den Betroffenen in der nächsten Zeit da ist, damit er nach unserem Weggehen nicht plötzlich alleine ist. – Beendigung des Einsatzes vor Ort Innere Checkliste überprüfen, ob der Einsatzauftrag erfüllt wurde. Sich deutlich von den Betroffenen verabschieden. Für eventuelle Rückfragen die Visitkarte hinterlassen.

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7.4.1. Selbsthilfegruppe/Trauergruppe – kritisch betrachtet An dieser Stelle sei auch auf die Möglichkeit, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen, hingewiesen. Einerseits ist dies eine sehr wertvolle Einrichtung, die nach dem Peer- Konzept funktioniert. Andererseits möchte ich jedoch zu bedenken geben, dass durch das Einsteigen von Menschen, die selbst gerade eine traumatische Erfahrung erlebt haben, eine mögliche Retraumatisierung erfolgen kann. Es ist in so einem Umfeld nur schwer möglich, sich in seinem eigenen Trauer- und Verarbeitungsprozess weiterzuentwickeln. Bei Trauergruppen im Internet, die zB über einen Chatroom kommunizieren, besteht die große Gefahr, einerseits zu vereinsamen (ich chatte ohne soziales Umfeld) und andererseits in einer gewissen Phase der Trauer ohne Weiterentwicklungsmöglichkeit hängen zu bleiben. Diese Gruppen unterliegen einer eigenen Dynamik und sind meist an einen bestimmten Personenkreis, der im Nahverhältnis zu dem Geschehen steht, gebunden. Die weitere Schwierigkeit besteht darin, dass sie zeitlich meist nicht begrenzt sind. Daher fällt es für den Einzelnen schwer, sich dieser „Trauerarbeit“ zu entziehen, auch wenn für den Betroffenen dieser Prozess bereits abgeschlossen wäre. Es fällt deswegen so schwer sich zu entziehen, da es auf der einen Seite eine Solidarisierung mit den anderen Betroffenen gibt und ein Ausstieg den Verlust dieser Gruppe zur Folge hat. Wie bereits oben erwähnt, ist ein wesentlicher Teil der Verarbeitung der Trauer das soziale Netz in Form von Freunden und Bekannten oder, bei einem schwierigen Verlauf, die Zuziehung eines Therapeuten.

7.5. Woran erkenne ich, wann eine Psychotherapie notwendig ist? Es gibt betroffene Menschen, die ihre eigene Trauerreaktionen und die Folgen des Verlustes als so belastend erleben, dass sie dieser gegenwärtigen Lebenssituation nicht mehr gewachsen sind (zB das Gefühl tritt auf, seiner Arbeit nicht mehr nachgehen zu können, wenn dieser Zustand noch länger andauert, werde ich sicherlich krank werden, ich kann zur Zeit nicht einmal meine Freunde treffen, die Bilder vom Ereignis tauchen immer auf, Geräusche sind zu hören und Gerüche sind in der Nase und es gibt nichts, worauf ich mich überhaupt noch freuen kann …). Es scheint ihnen nicht mehr möglich zu sein, diese Flut der Trauer und Beeinträchtigungen alleine bewältigen zu können. In diesem Fall ist eine Psychotherapie dringend zu empfehlen. Wenn diese Gefühle zusätzlich noch mit körperlichen Beschwerden einhergehen, wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schlafstörungen, Veränderungen des Essverhaltens, … ist zusätzlich zur Psychotherapie noch eine medikamentöse Behandlung mit dem Facharzt abzuklären. Eine 45jährige Frau wird nach einer miterlebten Gewalttat in der Familie, wo zwei ihr ganz nahe stehende Tote zu beklagen waren, auf ihren eigenen Wunsch einer Psychotherapie zugewiesen. Sie und ihre Angehörigen wurden in der Akutphase

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von einem Kriseninterventionsteam betreut. Diese Betreuung ermöglichte ihr, eine gewisse Form der notwendigen Stabilität zu erreichen. Sie selbst meinte, dass ihr die Betreuung Stütze und Sicherheit war. Das Betreuungsteam klärte die Betroffene über mögliche Auswirkungen in der nächsten Zeit auf und gab ihr auch den Hinweis, dass sie bei Bedarf professionelle Hilfe in Anspruch nehmen soll. In den ersten Wochen trauerte die Frau sehr über den Verlust, hatte aber das Gefühl, die neue Lebenssituation ohne weitere Hilfe bewältigen zu können. Nach zirka fünf Wochen wurde ihre Trauer so übermächtig, dass es ihr nicht mehr möglich war, andere Gedanken zu fassen, sie fand auch keinen Schlaf mehr und die Angst vor der Zukunft war so groß, dass sie sich in therapeutische Behandlung begab.

An diesem Beispiel ist gut ablesbar, dass traumatische Erlebnisse und die damit verbundene Trauer nicht automatisch einer psychotherapeutischen oder ärztlichen Versorgung bedürfen. Dieser Frau ist es gelungen, nicht zuletzt durch die aufklärende Vernetzungsarbeit der Akutbetreuer, ihre momentane Situation richtig zu deuten und fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Durch die bewusste Aufklärungsarbeit der Betreuer in der Akutsituation wird es den Betroffenen leichter ermöglicht, auch wenn diese Reaktionen erst Wochen oder Monate später auftreten, diese mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung zu bringen. Aufklären, eigene Ressourcen stärken und Vernetzungen schaffen statt „Zwangsbeglücken“!

7.6. Hilfe für den Helfer – was mir hilft, mit der miterlebten Trauer umzugehen Es ist im Besonderen Aufgabe der entsendenden Institution darauf zu achten, dass die Ausbildung auf einem wissenschaftlich aktuellen Niveau durchgeführt wird und in weiterer Folge genügend Angebot für Einsatznachbesprechungen, Supervision und Fortbildung gegeben ist. Um Akutbetreuung überhaupt durchführen zu können, bedarf es einer intensiven speziellen Ausbildung und der professionellen Begleitung der Mitarbeiter, solange sie für diesen Dienst zur Verfügung stehen. Für den Einzelnen bedeutet das, dass genauso wichtig, wie der professionelle Umgang mit den Betroffenen, der respektvolle, wache Umgang mit sich selbst ist. Wenn ich für den anderen da bin, muss ich in besonderer Weise auf mich achten. Mein Umgang mit meinen Belastungen bedarf meiner eigenen Achtsamkeit und manchmal einer professionellen Unterstützung. Gut schauen auf sich selbst bedeutet: einen guten Einsatzabschluss zu finden; im Gespräch mit dem Einsatzkollegen nochmals die Betreuungsarbeit zu reflektieren; den Bericht verfassen, um für sich selbst einen Abschluss zu finden und die formalen Erfordernisse erfüllt zu haben. Immer wieder sich der eigenen Selbstreflexion stellen heißt auch, zu schauen, ob ich mögliche Grenzen erkenne und ob es zu keiner Vermischung zwischen Mitlei-

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den und Mitfühlen kommt, und zu überlegen, was für den Einsatz hilfreich oder hinderlich war. Regelmäßige Teilnahme an Gruppensupervision und bei Bedarf an Einzelsupervision ist unbedingt notwendig. Zusätzlich zum professionellen Angebot ist es unumgänglich sich nach einem Einsatz zu erholen, zu bewegen, ein Gespräch zu führen, Musik zu hören, sich etwas zu gönnen, Ruhe zu suchen, … Um zu wissen, was „Meines ist“, ist es, wie bereits oben erwähnt, für mich wichtig, mich und meine Reaktionen auf Belastungen gut zu kennen, um darauf adäquat regieren zu können.

7.7. Die Begleitungen von trauernden Menschen nach einer komplexen Schadenslage. Ein Beispiel aus der Praxis 40 Angehörige in einem Raum. Drei Frauen vermissen ihre Männer. Die ersten Stunden der Hoffnung auf einen guten Ausgang der Geschehnisse sind vergangen. Es wird immer mehr zur Gewissheit, dass die Vermissten nicht mehr lebend geborgen werden können. Verwandte und Bekannte sind bereits verständigt und eingetroffen. Durch die Betreuer zum Telefonieren angeregt, versuchen die Betroffenen an Telefonnummern zu gelangen – alle werden befragt, erste selbstständige Handlungen gesetzt – ein Stück Realität wahrgenommen. Die Bilder der Lawine lassen die Hoffnung auf Überlebende schwinden. Doch das Nicht-wahrhaben-Wollen findet immer wieder Erklärungen und Vermutungen, die die endgültige unausweichliche Tatsache des Todes hinausschieben. Vielleicht haben sie sich doch in eine Hütte retten können oder kommen über einen anderen Weg wieder ins Tal – vielleicht sind sie im Auto unter dem Schnee eingeschlossen und haben überlebt, ... Viele Menschen, viele Erklärungen für das, was passiert ist oder passiert sein könnte. 40 verschiedene Menschen, Kinder, Erwachsene und alte Menschen. Mit welchen Situationen und Reaktionen der Trauer sind die Akutbetreuer konfrontiert? Genauso individuell wie in der Theorie beschrieben erleben sie ein breites Spektrum in der Betreuung. Frau A. weint, klagt und stellt immer wieder die Frage, warum die Männer bei diesen Wetterverhältnissen den Berg bestiegen haben. Sie macht sich Sorgen, wer die Kosten für die Sucharbeiten übernehmen wird. Ein junges Mädchen verlässt den Raum, um zur Stelle hinauf zu schauen, wo die Vermissten vermutet werden. Nicht weit entfernt sitzt eine Frau, völlig erstarrt auf ihrem Sessel – ihr Mann soll unter der Lawine begraben sein. Er ist wie jeden Tag in der Früh von zu Hause fort und nie mehr wieder zurückgekehrt. Sie rührt sich nicht, ist wie versteinert, verzieht keine Miene und spricht kaum, starrt vor sich hin. Woran sie sich festhält, ist ihre Zigarette – die Packung öffnen, eine herausnehmen, anzünden, rauchen, tiefe Züge, ausdämpfen – anzünden, rauchen, ausdämpfen. Für die Betreuer eine sehr anspruchsvolle Situation. Wie gehen sie mit diesem Schweigen um? Was braucht diese Frau, und wie erkenne ich ihre Bedürfnisse, ohne dass sie sie äußert?

Für den KIT- Mitarbeiter beschreibt der von mir eingeführte Begriff „Aktives Nicht-Tun“ genau die Anforderung: Da sein, beobachten, Zeit haben und auf

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die Sicherheit und die Bedürfnisse der Person achten, sie mit Essen und Trinken versorgen und Menschen, zu denen ein Naheverhältnis besteht, an ihre Seite bringen. Als Akutbetreuer müssen wir uns dessen bewusst sein, dass enge Freunde und Angehörige, zu denen ein positives Verhältnis besteht, für die Betroffenen eine große Ressource darstellen. Auf diese Personen können sie auch nach der Akutphase immer wieder zurückgreifen, sie können in den Phasen der Trauer ein Stück weiterer Wegbegleiter sein. Wir Akutbetreuer steigen aus der Begleitung wieder aus, das soziale Netz einer Person bleibt jedoch erhalten. Doch zurück zur Akutbetreuung der betroffenen Frau: Ein Ritual verändert die Reaktion. Zum Gedenken an die vermissten Männer werden auf den Tischen Kerzen entzündet, und plötzlich trifft sie die Aussage: „Der kommt nicht mehr!“ Und wenige Tränen rinnen über ihre Wangen – ein Stück Realisierung der Situation ist gelungen. 40 Personen im Raum und alle weinen. Manche schluchzen, andere wieder stecken den Kopf bei einem nahen Angehörigen in den Schoß und manche verlassen den Raum, um ihre Tränen zu verbergen. Aber was macht der Akutbetreuer in solchen Situationen?

Mitfühlen aber nicht Mitleiden vermittle ich immer wieder in der Ausbildung. Ein Freund von mir antwortet auf die Frage, ob die Spritze weh tut, mit dem Satz: „Hängt davon ab, auf welcher Seite man steht!“ Ebenso verhält es sich mit einem Trauma oder Psychotrauma. Es tut sehr weh, aber nicht mir. Wenn ich als Akutbetreuer in den Sog des Mitleidens gezogen werde, kann ich nicht mehr hilfreich sein, da ich selbst ein Teil des trauernden Systems bin. Einige Warnzeichen für den Helfer sind: Nicht loslassen können, das heißt immer das Gefühl zu haben, weitere Hilfestellungen, Besuche oder Telefonate anzubieten, selbst den Schmerz spüren, den Drang zu umarmen oder das eigene Erstarren und die damit verbundene Handlungsunfähigkeit zu erleben. In dieser Situation ist es für den Helfer genauso schwierig bis unmöglich wie für den Betroffenen dies wahrzunehmen. Daher ist es von größter Bedeutung, dass der anwesende Kollege oder der Einsatzleiter dies wahrnimmt und den betroffenen Kollegen vom Einsatz abzieht. Auch das ist ein Grund, ausschließlich mindestens zu zweit in den Einsatz zu gehen. Zur professionellen Betreuung der Helfer gehört die organisatorische und die psychische Einsatznachbesprechung und das Angebot oder/und die verpflichtende Supervision. Das Erleben der Trauer eines Betroffenen hinterlässt immer Spuren in mir. Daher ist es für psychische Ersthelfer von großer Bedeutung, durch die Ausbildung über ein gutes Wissen bezüglich seiner eigenen Stärken, Schwächen und Belastungssituationen zu verfügen, um mit diesen erlebten Trauerreaktionen für sich gesund umgehen zu können. Daher nochmals: Mitfühlen ist keinesfalls Mitleiden. Eine graue Rauchwolke umgibt die Köpfe der Angehörigen, die Stimmung lädt nicht gerade zum Verbleib ein. Was tut er mit seiner eigenen Betroffenheit und

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Edwin Benko mit seinen Tränen? Auf sich selbst schauen ist besonders wichtig. Nimm dir eine Auszeit, gehe aus dem Raum, trinke einen Kaffee und rede mal über etwas anderes, überprüfe, ob du auf deine eigenen Grundbedürfnisse achtest, genügend isst und trinkst, gehe an die frische Luft und atme durch, ... . Jeder Akutbetreuer sollte in der Ausbildung reflektiert haben, welche Strategien ihm in diesen Situationen zur Verfügung stehen. 40 Personen in einem Raum, nicht alle erstarren durch ihre Trauer. Manche bringen ihre Gefühle durch Weinen zum Ausdruck, andere versuchen, ihre innere Leere durch Informationen zu füllen, sie fragen und wollen genau wissen, was getan und versucht wird, um die Vermissten zu finden. Der Akutbetreuer ist gefordert, gesicherte Informationen zu liefern, keine Vermutungen und keine Spekulationen. So weh diese Informationen auch tun, so unfassbar sie auch sind: Die Wortwahl soll vom Betreuer überlegt sein und es hat sich als sehr hilfreich erwiesen, dass alle im Einsatz stehenden KIT-Mitarbeiter ähnliche Formulierungen für die Geschehnisse verwenden, auch das bringt Sicherheit. 40 Personen in einem Raum, deren Leben sich schlagartig verändert hat. Nichts ist mehr, wie es war. Über drei Tage Hoffen, Warten und Bangen bis zur Gewissheit, dass alle drei Männer tot sind. Eine weitere Trauerreaktion kann beobachtet werden. Manche im Raum stellen sich immer wieder dieselben Fragen, sie sprechen laut vor sich hin: „Warum sind sie gegangen, wie konnte das passieren, warum gerade mein Mann, ...“

Zurückhaltung ist gefordert. Keine vorschnellen rationalen Erklärungen sind gefragt. Der Betreuer muss auch zulassen können, dass er keine Antwort weiß – die Frage nicht beantworten kann. Er wird damit konfrontiert, dass Personen immer wieder dieselben Fragen stellen oder in ihrer Trauer immer wieder das Gleiche erzählen. Manchmal erfährt man die gesamte Biografie eines Menschen. Das Zuhören ist wichtig und das verlässliche Nicht-weiter-Erzählen. 40 Personen in einem Raum. Was ist es, das den Schmerz erträglich macht? Die Erfahrung, das Leid nicht alleine tragen zu müssen und in der Familie gut aufgehoben zu sein, gibt Stabilität und Sicherheit. Der Prozess des Trauerns ist genauso individuell wie das alltägliche Leben. Über drei Tage der Betreuung hinweg beginnen die einen damit Kartentricks zu zeigen oder sich gegenseitig Rätsel zu stellen, eine Frau übergibt sich nach jedem Essen, die anderen bringen Bilder und fertigen Kerzen, und für alle ist klar: Das Leben hat sich verändert – es ist nichts mehr wie es war.

Was ist vor Ort passiert? Der Tod wurde traurige Realität. Die Hoffnung ist verschwunden. Trotzdem ist die Befindlichkeit der Betroffenen eine andere geworden. In Einzelgesprächen wurde mir gesagt, wie hilfreich es gewesen ist, diese Sicherheit zu haben, dass wir Akutbetreuer jeden dieser Tage vor Ort waren. Dass wir uns um die nötigen Informationen, Räumlichkeiten und Verpflegung kümmerten und „einfach“ da waren. Es ist in diesen Tagen gelungen, durch das Begleiten und Zulassen der unterschiedlichsten Trauerreaktionen, unter anderem auch

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durch Rituale, Stabilisierung zu erreichen und mit den Betroffenen einen kleinen Schritt in Richtung Normalität zu gehen. Ein Zeichen dafür, dass dies gelungen ist, ist neben den berührenden Danksagungen für die ihnen zuteil gewordene Hilfe durch uns auch, dass die Menschen mit uns und miteinander wieder über andere Themen reden konnten.

7.8. Abschließend Unvorhersehbarer, plötzlicher Tod und das damit verbundene plötzliche Abschiednehmen, sich darauf nicht vorbereiten, nichts mehr erledigen und ausreden können, bringt wohl das absolute Gefühl der Unfassbarkeit, des Nicht-wahrhaben-Könnens und des Schmerzes mit sich. Ein Betroffener formulierte es einmal so: „Ich habe das Gefühl vom Blitz getroffen worden zu sein!“ Ein großer Schmerz, der den Menschen als Ganzen trifft, ohne dabei äußere Verletzungen zu haben. Die verletzte Seele, die so oft in unserer Gesellschaft übersehen wird, schmerzt und beeinträchtigt einen oft massiv in allen Lebensbereichen. Daher ist es von besonderer Bedeutung, den direkt und den indirekt Betroffenen professionelle Hilfe möglichst unmittelbar nach dem Ereignis anzubieten, bis das eigene soziale Netz oder vorhandene Strukturen zu greifen beginnen. Die Aufgabe der Betreuung besteht nicht nur darin Spätfolgen möglichst zu verhindern oder zu verringern, sondern soll auch ein menschlicher Auftrag sein. Menschen, die leiden, die sich in diesem Moment meist von Gott und der Welt verlassen fühlen, ein Stück zu zeigen, dass jemand da ist, der für sie Zeit hat und der es auch gelernt hat in diesen Situationen handelnd dabei zu bleiben. Der Akutbetreuer hat gelernt, sich selbst und seine eigenen Reaktionen in solchen Situationen zu kennen, und er weiß auch welche Palette von Reaktionen bei den Betroffenen ausgelöst werden können. Es ist nicht ein normales Reden mit dem Gegenüber, sondern eine Begleitung und ein Gespräch, das sich nach eigenen Regeln und Standards orientiert. Es ist auch kein Mitleiden, sondern ein möglichst einfühlsames Verstehen, soweit es uns möglich ist. Dadurch können wir als Kriseninterventionsteam den Blick über den „Tellerrand“ bewahren und so möglichst gewährleisten, niemanden zu übersehen und die nötigen Schritte einzuleiten. Es gilt für uns auch ganz besonders, die Grenzen der Akutbetreuung wahrzunehmen und rechtzeitig und gezielt Vernetzungen herzustellen und wenn nötig weitere Hilfe herbeizuholen. Wir „blitzen“ in der Lebensgeschichte der Betroffenen nur kurz auf, dies aber in einem Moment, der so einschneidend ist, dass von uns ein höchstes Maß an Professionalität, Sorgfalt und Stabilität gefordert ist. Ich denke an die eigenen vielen Begegnungen mit Menschen in solchen Situationen – an die Vielfalt der Reaktionen, die ich erlebt habe, an das Begleiten zum Abschiednehmen, an mein eigenes Herzklopfen in der Begleitung Trauernder und an die vielen berührenden Momente während meiner Einsätze. Es bedarf für jeden einzelnen von uns Helfern ein großes Stück Selbstverantwortung mit sich selbst

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umzugehen, die nötigen Schritte einzuleiten derer es bedarf, um die eigene Belastung wieder abbauen zu können. Nur so können wir auch für den anderen da und hilfreich sein. Und wenn du dich getröstet hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein. Du wirst dich daran erinnern, wie gerne du mit mir gelacht hast. Antoine de Saint-Exupéry

Literatur APA (American Psychiatric Association) (1996) Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen. DSM-IV, 4. Aufl (dt Bearb v H Saß, H-U Wittchen und M Zaudig). Göttingen: Hogrefe, Verlag für Psychologie Bengel J (1997) (Hrsg) Psychologie in Notfallmedizin und Rettungsdienst. Berlin Heidelberg New York: Springer Bessel A, van der Kolk, McFarlane AC, Weisaeth L (2000) (Hrsg) Traumatic Stress: Grundlagen und Behandlungsansätze. Paderborn: Junfermann Der Brockhaus in 15 Bänden. Permanent aktualisierte Online-Auflage (2002/2003/2004). Leipzig Mannheim: FA Brockhaus Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (1993) (Hrsg) Internationale Klassifikation psychischer Störungen, 2. Aufl. Bern Göttingen Toronto Seattle: Hans Huber Frenzel P, Keil WW, Schmid PF, Stölzl N (2001) (Hrsg) Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie: Kontexte, Konzepte, Konkretisierung. Wien: Facultas Freud S (1946) Trauer und Melancholie. In: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Zehnter Band. Werke aus den Jahren 1913–1917 (Freud A, Hrsg). London: Imago Publishing Co, S 428–446 Jülicher J (2003) Es wird alles wieder gut, aber nie mehr wie vorher: Begleitung in der Trauer, 4. Aufl. Würzburg: Echter Kast V (1990) Trauern. Phasen und Chancen des psychischen Prozesses. Stuttgart: Kreuz Kast V (1994) Sich einlassen und loslassen. Neue Lebensmöglichkeiten bei Trauer und Trennung. Freiburg: Herder Kersting A (2005) Trauern Frauen anders als Männer? Geschlechtsspezifische Unterschiede im Trauerverhalten nach dem Verlust eines Kindes. Psychotherapeut 50: 129–132 Maercker A (1999) Psychotherapie der Posttraumatischen Belastungsstörung und Komplizierten Trauer. Psychomed – Zeitschrift für Psychologie und Medizin 11: 45–50. Maercker A, Bonanno GA, Znoj HJ, Horowitz MJ (1998) Prediction of complicated grief by positive and negative themes in narratives. J Clin Psychol 54: 1117–1136 Stumm G, Pritz A (2000) (Hrsg) Wörterbuch der Psychotherapie. Wien New York: Springer Wortman C, USA, zitiert nach H Ernst (2003) Wie man mit Schicksalsschlägen fertig wird. In: Psychologie Heute 2/2003: 12–13

Kapitel 8

Trauma im Kindesalter – komplexe Anforderungen in der psychosozialen Akutbetreuung Katharina Purtscher

Kinder und Jugendliche können einer Vielzahl von traumatischen Ereignissen ausgesetzt sein, sie sind Überlebende oder Augenzeugen von lebensbedrohlichen Unfällen, sind Opfer von Gewalt durch Misshandlung, durch sexuellen Missbrauch oder Opfer von psychischer Gewalt. Sie erleben wie Erwachsene auch, Naturkatastrophen, wie Lawinen, Hochwasser oder Erdbeben und sind Betroffene von technischen Großschadensereignissen, wie Busunfällen, Seilbahnunglücken oder Bränden. Traumatische Ereignisse, wie Unfälle, zwischenmenschliche Gewalt, Großschadensereignisse und Katastrophen sind für Kinder nach dem ersten Lebensjahr weltweit die häufigsten Todesursachen (Boney-McCoy, 1996, http://euro.who.int/ document/mnh/gbrief14.pdf ). Kinder und Jugendliche können von traumatischen Ereignissen entweder direkt betroffen sein, nämlich als verletzt oder unverletzt Überlebende, oder als Augenzeugen von Unfällen, Naturkatastrophen oder Gewalttaten. Indirekt sind Kinder und Jugendliche immer dann betroffen, wenn durch traumatische Ereignisse wichtige Bezugspersonen und Freunde wie zB nahe Familienmitglieder, Mitschüler, Freunde, Lehrer oder Trainer zu Tode kommen oder verunfallen.

8.1. Klassifikation traumatischer Lebensereignisse Nach der Art der traumatischen Ereignisse und zur Differenzierung der Reaktionen bzw Symptome von Kindern und Jugendlichen danach ist die von Terr vorgeschlagene Unterscheidung von traumatischen Ereignissen hilfreich (Terr, 1979; 1991). Demnach lassen sich einmalige traumatische Ereignisse (Typ I) von wiederholten traumatischen Situationen (Typ II) im Kindesalter unterscheiden.

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8.1.1. Traumatische Lebensereignisse vom Typ I Darunter werden Einzelereignisse wie Naturkatastrophen, Unfälle, einmalige Gewalttaten, technische Katastrophen usw verstanden.

8.1.2. Traumatische Ereignisse vom Typ II Betreffen alle chronischen und wiederholten Ereignisse wie Kindesmisshandlung, sexueller Missbrauch und Erfahrungen im Kontext von Krieg, Flucht oder sogar Folter (Bürgin, 1998).

8.1.3. Traumatische Situationsfaktoren Neben den vor dem traumatischen Ereignis bestehenden individuellen Schutz- und Risikofaktoren eines Kindes bei der Bewältigung und den Möglichkeiten der Unterstützung durch vertraute Bezugspersonen haben die situationsspezifischen Faktoren des traumatischen Ereignisses eine entscheidende Auswirkung auf die Reaktionen von Kindern und Jugendlichen (Antonovsky, 1979; Pynoos, 1993, 1995). Dies betrifft besonders folgende Faktoren: – das Ausmaß der subjektiv empfundenen Gefahr oder Bedrohung während des Ereignisses, – das Erleben von extremer Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein, – das Ausmaß der erlebten Schmerzen und körperlichen Verletzungen, – die Nähe der Beziehung zu den verletzten oder getöteten Personen, – bei zwischenmenschlicher Gewalt: die Nähe der Beziehung zum Täter, – bedrohliche oder schockierende Beobachtungen.

8.2. Reaktionen von Kindern und Jugendlichen nach einem akuten traumatischen Ereignis Das Erleben der traumatischen Situation ist gekennzeichnet durch ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen den bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses bewirkt“ (Fischer und Riedesser, 1996). Für Kinder und Jugendliche kann Trauma nur auf einem entwicklungspsychologischen Hintergrund definiert und verstanden werden.

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8.2.1. Erstreaktionen (Peritraumatisches Intervall) In der Akutsituation zB am Unfallort und in der Notfallversorgung ist das Kind häufig wie betäubt oder in einem emotionalen Schockzustand (Daviss, 2000a, b). Meist rasch anschließend folgt eine Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens oder NichtWahrhaben-Könnens. Dies ist oft durch ein Leugnen der physischen Unfallfolgen und ein generelles sich Zurückziehen gekennzeichnet. Die Kinder zeigen entweder mehr regressive oder aggressive Verhaltensweisen und fallen als besonders ängstlich und Hilfe suchend oder als unerschrocken und furchtlos auf. Dabei kann es zeitweise zum Auftreten von heftigem Weinen und panischen Ängsten kommen, vor allem im Zusammenhang mit dem Auftreten von Schmerzen, unerwarteten oder unerklärten medizinischen Eingriffen, der Trennung von den Eltern oder anderen Bezugspersonen. Ältere Kinder und Jugendliche zeigen in dieser Bewältigungsphase oft eine nur teilweise bewusste Kenntnisnahme des Unfalls oder der Verletzungen und verleugnen oder überspielen die darunter liegenden Ängste und Befürchtungen. Die psychologischen Bewältigungsstrategien von Vermeiden und Leugnen müssen in dieser Frühphase als schützende Abwehr respektiert werden, können jedoch andererseits zu völlig unrealistischen Wünschen des Kindes – zB sich so zu verhalten als wäre das Unglück gar nicht geschehen – führen.

8.2.2. Weitere Reaktionen von Kindern und Jugendlichen nach traumatischen Erlebnissen. Die unmittelbaren Reaktionen auf traumatische Ereignisse sind anfangs alle Formen des psychischen Schockerlebens, wie zB Angst, Panik, Erstarrung, aber auch heftiges Weinen oder Schreien (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2003). Je jünger Kinder sind, umso schwieriger ist es für sie, die völlig neue und verunsichernde, oft mit Schmerzen einhergehende, Situation im Rahmen eines traumatischen Ereignisses zu erfassen. Besonders schmerzhaft und emotional beeinträchtigend sind diese Erlebnisse immer dann, wenn die wichtigsten Bezugspersonen fehlen bzw vielleicht durch das Ereignis selbst verletzt wurden oder zu Tode gekommen sind (Yule, 1991). In diesen Situationen fehlt Kindern Schutz und die emotionale Geborgenheit. Es fehlt ihnen an Orientierung und Aufklärung über das, was geschehen ist. Die vielfältigen oft gänzlich neuen Eindrücke in der traumatischen Situation werden von Kindern je nach ihrem Entwicklungsstand – kognitiv und emotional – unterschiedlich wahrgenommen, interpretiert und bearbeitet. Bei all den vielfältigen individuellen Symptomen als Ausdruck einer traumatischen Belastung haben die mittelfristigen Reaktionen und Symptome von Kindern folgende Merkmale gemeinsam:

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Erhöhte Ängstlichkeit Allgemeine Ängste zeigen sich als Trennungs- und Verlustängste, Angst vor der Dunkelheit oder Angst vor dem Einschlafen. Spezifische Ängste, beziehen sich auf die ursprüngliche traumatische Situation und können sich zB als Angst im Straßenverkehr nach einem Verkehrsunfall, als Angst vor der Benützung eines bestimmten Spielgeräts, als Verunsicherung beim Betreten von Gebäuden zB nach einer Überschwemmung äußern (Terr, 1981; 1983a). Zusätzliche subjektiv belastende Symptome, wie übermäßige Schreckhaftigkeit, Irritabilität, motorische Überaktivität, Schlafstörungen und Konzentrationsstörungen sind Zeichen einer chronischen vegetativen Übererregbarkeit (Yule, 1990; 2001). Folgende Checklisten stammen von den Informationsblättern für Angehörige, die von den Kriseninterventionsteams der psychosozialen Akutbetreuung Steiermark, Vorarlberg und Wien gemeinsam verwendet werden (Purtscher, 2003). Tabelle 1. Häufige Reaktionen von Kindern und Jugendlichen nach traumatischen Lebensereignissen Kleinkinder x Furchtsamkeit, gesteigerte Schreckhaftigkeit x Trennungsängste von Bezugspersonen x Ängste in speziellen Situationen x Anhänglichkeit, Klammern, Angst vor dem Alleinsein x Traurigkeit, Weinerlichkeit x Schlafstörungen, nächtliche Unruhe, nächtliches Weinen x Plötzliche Aggressionsausbrüche x Verminderter Appetit, Essstörungen x kindlicheres Verhalten als zuletzt

Tabelle 2 Schulkinder x Gesteigerte Angst und Furchtsamkeit x Spezifische Ängste (vor Gewässern, vor Donner, Autos, ...) x Vermehrt Streit und Auseinandersetzungen mit Geschwistern x Körperliche Beschwerden (Kopfweh, Bauchweh, ...) x Schlafstörungen, Alpträume x Schulprobleme x Weniger Interesse an Freunden und Mitschülern, sozialer Rückzug x Vernachlässigung von Interessen und Hobbys x Verlust von Zukunftswünschen x Wiederholung des traumatischen Ereignisses im kindlichen Spiel x Zwanghaftes Wiedererinnern

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Tabelle 3 Jugendliche x Geringes Interesse an sozialen Aktivitäten, Freunden, Hobbys, Schule x Freudlosigkeit, Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit x Protest, Auflehnung x Antriebslosigkeit, Sozialer Rückzug x Körperliche Beschwerden x Essstörungen x Änderung der körperlichen Aktivität (Steigerung, Verminderung) x Konzentrationsschwierigkeiten, konfuses Handeln x Verlust von Zukunftsperspektiven x Riskante Verhaltensweisen, Substanzmissbrauch x Suizidgedanken

8.3. Die Phasen der psychologischen und psychosozialen Akutbetreuung 8.3.1. Sofortmaßnahmen der psychosozialen Betreuung Neben einer – falls erforderlich – adäquaten Schmerzbehandlung ist die Beruhigung des Kindes, wenn möglich durch vertraute Bezugspersonen, die wichtigste Hilfsmaßnahme. Sicherheit und Schutz zu gewähren und Geborgenheit zu vermitteln sind die wichtigsten ersten psychosozialen Maßnahmen. Vorschulkinder können sich über eine noch bestehende Bedrohlichkeit einer Situation oder das Ende der Gefahr oft kein Bild machen. Sie haben Angst vor einer möglichen Wiederholung des traumatischen Ereignisses zB dass noch eine Lawine kommt, dass weitere Überflutungen auch in vorübergehenden Schutzquartieren geschehen könnten (American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 1998). Deshalb ist eine kurze Information und Erklärung, die dem Kind hilft das Geschehene einzuordnen wichtig. Nur so kann das Ende einer Gefahr oder Bedrohung dem Kind vermittelt werden. Besonders wichtig ist es – wenn möglich – Kinder sehr rasch mit ihren vertrauten Bezugspersonen zusammenzubringen oder sie vorläufig über deren Verbleib und Befinden zu informieren und ihnen zu sagen, wann sie mit ihren Familienangehörigen zusammenkommen können. Hilfreich ist es dabei den Kindern und Jugendlichen mitzuteilen, welche Schritte dafür getan werden müssen, sodass manchmal lange Wartezeiten verständlicher werden (Monahon, 1997). 8.3.2. Frühphase der psychosozialen Betreuung = Akutphase Die Akutphase umfasst die Zeit vom Eintreten des Ereignisses, die darauf folgende Schockphase und die erste Orientierungszeit bis hin zum Wirksamwerden der ers-

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ten Hilfsmaßnahmen. Neben den erforderlichen Hilfsmaßnahmen durch Rettungsdienste und Sanitätspersonen sind besonders erste psychosoziale Unterstützungsmaßnahmen um Schutz und Sicherheit zu vermitteln und Informationsvermittlung zur Orientierung vorrangig (Müller-Cyran, 1999). Die Zusammenführung von Kindern und Jugendlichen mit ihren wichtigsten Bezugspersonen oder anderen vertrauten Personen wie Verwandten, Freunden der Familie oder vertrauten Personen aus dem Bereich Schule oder Sportvereinen ist immer so rasch wie möglich zu gewährleisten. Prinzipiell kann davon ausgegangen werden, dass die Bewältigung von traumatischen Ereignissen besonders bei Kindern nur in einer bestimmten Struktur erfolgen kann. Erwachsene müssen Voraussetzungen für Kinder und Jugendliche schaffen, die eine Bewältigung von traumatischen Ereignissen ermöglichen. Sie sind für ein Klima, in dem Sicherheit und Geborgenheit wieder möglich wird, verantwortlich (Eth, 1985). Die Komplexität der psychosozialen Betreuungsanforderungen in der Akutphase ist dabei nicht von der Zahl der Betroffenen oder der Opfer (Tote oder Verletzte) alleine abhängig, sondern auch viele andere Faktoren – individuelle, situative und soziale können dabei eine entscheidende Rolle spielen. Zielsetzung des psychosozialen Handelns in dieser Phase ist das Zuhören, ein Ermutigen zum Sprechen, ohne darauf zu drängen, der Ausdruck von Mitgefühl, die Bemühungen, Grundbedürfnisse zu befriedigen und die Basisversorgung sicherzustellen, sowie die sozialen Netzwerke der Betroffenen zu aktivieren. Besondere Bedeutung erhält das Herstellen einer sicheren Umgebung, die Familienzusammenführung und der Versuch, Informationen über das Ereignis zu geben, so dass es auch für Kinder und Jugendliche nachvollziehbar wird. Zweck allen Handelns ist es Sicherheit und Geborgenheit für die betroffenen Kinder und Jugendlichen zu schaffen.

Tabelle 4. Hilfe für Kinder und Jugendliche nach traumatischen Lebensereignissen Kleinkinder x Schutz, Sicherheit und Geborgenheit vermitteln durch vertraute Bezugspersonen, Betreuung und Begleitung bei neuen Herausforderungen x Vertraute Tätigkeiten und Rituale des Alltaglebens wieder aufnehmen (Schlaf, Mahlzeiten, Kindergarten, Schule, Hobbys, Vereinsaktivitäten, ...) x Zuwendung und Geborgenheit, körperliche Nähe, Zärtlichkeit x Die Ängste des Kindes respektieren x Anerkennung und Lob x Das Ereignis altersgemäß konkret erklären x Hilfe beim Ausdruck von Gefühlen, Ausdrucksmöglichkeiten im Spiel bieten (Ängste, Unsicherheit, Angst vor Wiederholung des Traumas, ...) x Erklärung von körperlichen Stressreaktionen

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Tabelle 5 Schulkinder x Die Ängste des Kindes respektieren x Ermutigung zum Ausdruck von Gefühlen (Ärger, Wut, Traurigkeit, spezifische Ängste, Schuldgefühle, ...) x Hilfestellung, um über das Ereignis sprechen zu können (Darstellung im Spiel, Zeichnungen, ...) x Information und Erklärungen über das, was geschehen ist, Hilfe bei der Rekonstruktion und Interpretation des Ereignisses x Klarheit über das, was getan werden kann x Struktur und Verlässlichkeit im Alltag (Schule, Freundeskreis) x Spiel, Sport, Erholung x Erklären von Stressreaktionen x Klarheit und Kommunikation zwischen den Betreuungspersonen

Tabelle 6 Jugendliche x Ermutigung über den Ablauf des Ereignisses zu sprechen x Ermutigung über Gedanken und Gefühle zu sprechen x Erklärung von traumatischen Belastungsreaktionen (zwanghaftes Wiedererinnern, Vermeidungsverhalten, ...) x Hilfestellung bei der Einordnung von Gefühlen x Bei Bedarf: Gespräch über Risikoverhalten, Suizidphantasien (Schuldgefühle, Wunsch nach Wiedervereinigung, Flucht, Lösung, ...)

8.4. Komplexe Anforderungen in der psychosozialen Betreuung bei „lange dauernden Akutaktionen“ (mittelfristige Betreuung) Such- und Rettungsaktionen nach vermissten Eltern oder nahen Bezugspersonen, die Tage oder Wochen dauern können stellen eine besondere Herausforderung in der psychosozialen Betreuung von Kindern und Jugendlichen und deren Angehörigen dar. Die Dringlichkeit der Rettungsmaßnahmen in der Frühphase, aber auch die zunehmende Ungewissheit und das Gefühl der Hilflosigkeit bei lange währenden Rettungsaktionen bedeuten für die Betroffenen ein ständiges Pendeln zwischen großer Hoffnung und Zuversicht, dass das Richtige und Entscheidende getan werden kann und andererseits oft auch Enttäuschungen, wenn sich bestimmte Aktionen wieder als nicht zielführend oder den gewünschten Erfolg bringend erweisen. Kinder, Jugendliche und ihre Angehörigen erleben ein ständiges Wechseln zwischen Hoffnung auf Rettung und enttäuschten Hoffnungen, wenn Such- oder Rettungsaktionen nicht gelingen. Dieses Auf und Ab der Gefühle stellt für alle eine große Anstrengung und Belastung dar. Dann kommen neben all der Angst um das Leben

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oder die Wiederkehr einer vertrauten Person noch Unzufriedenheit mit den gesetzten Rettungsmaßnahmen und oft Vorwürfe, dass nicht genug, nicht schnell genug, nicht ausdauernd genug alles zur Rettung der Betroffenen unternommen wird. Das ständige Wechseln zwischen Hoffnung und Enttäuschung, Zuversicht und Resignation spielt sich aber nicht nur innerhalb einer einzelnen Person, sondern oft auch innerhalb eines Gefüges von Eltern, Kinder, Verwandten und Freunden ab. Unterschiedliche Mitglieder dieses Kreises von Betroffenen können sich zu verschiedenen Zeiten in jeweils unterschiedlichen Phasen dieser ständig wechselnden Gefühle befinden und dadurch oft wenig Verständnis für die Reaktionen und Verhaltensweisen anderer Betroffener haben (Pynoos 1992). Ein zunehmendes Auseinanderweichen dieser emotionalen Zustände zwischen einzelnen Familienmitgliedern oder nahe stehenden Betroffenen kann so zu mehr und mehr Unverständnis für das emotionale Erleben der anderen Personen führen. Dadurch wird das gegenseitige Verständnis, die Anteilnahme und Unterstützung für einander zunehmend schwieriger und geringer. Hier zwischen den Personen, die sich in verschiedenen Phasen des Bewältigungsprozesses befinden, zu vermitteln, Verständnis bzw Verstehen für einander zu schaffen und im Sinne eines „Sprachmittlers“ für die Betroffenen zur Verfügung zu sein, ist eine wichtige Aufgabe der professionellen Hilfe (Helmerichs, 1997). Keinesfalls dürfen sich Helfer von diesen unterschiedlichen Phasen, Verläufen und den starken Emotionen, die große Hoffnung und Zuversicht einerseits und massive Enttäuschung und Resignation andererseits bedeuten können, anstecken lassen.

8.5. Abschied, Abschiedsrituale, Symbole Bei Todesfällen innerhalb der Familie sollen auch Kinder in die Vorbereitung der Verabschiedung und Beerdigung – so sie es wünschen – eingebunden sein. Kinder und Jugendliche äußern sich meist sehr klar dazu, ob sie an der Beerdigung oder anderen Ritualen des Abschieds teilnehmen wollen. Wenn Kinder diesen Wunsch äußern, sollte er wenn möglich respektiert werden. Wichtig ist es jedoch für eine entsprechende Begleitung zu sorgen, sodass Kinder auch jederzeit gut begleitet weggehen können. Beim Tod von Verwandten oder Freunden ist es hilfreich gemeinsam mit den Kindern Symbole und Rituale des Abschieds zu finden. Dies können Zeichnungen oder Briefe einzelner Kinder oder einer ganzen Schulklasse sein, die mit ins Grab gegeben werden können. Ein Symbol für etwas persönlich Verbindendes, das Jugendliche ihrer plötzlich verstorbenen Freundin mitgeben wollten war zB das Hufeisen des Lieblingspferdes der jungen Reiterin. Die übrigen jungen Reitkollegen wollten ihr dies zum Abschied mit in den Sarg geben.

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Manchmal entsteht in einer Gruppe von Freunden auch der Wunsche ein gemeinsames Symbol oder einen gemeinsamen Ort des Gedenkens zu schaffen zB an einer bedeutungsvollen Stelle einen Baum zu pflanzen.

8.6. Information und Aufklärung als Teil der Akutbetreuung Grundsätzlich basiert die Weitergabe von Informationen auf den Prinzipien von Einfachheit, Klarheit und leichter Verständlichkeit. Kinder und Jugendliche, die mit oder ohne ihre nahen Bezugspersonen ein traumatisches Ereignis erleiden, erleben sich in dieser Situation als besonders hilflos, verletzlich, schutz- und orientierungslos. Für eine erste Orientierung stellt die Vermittlung von wichtigen Informationen zum Ereignis den ersten Schritt dar. Selbstverständlich müssen die Informationen für Kinder oder Jugendliche dem Alter entsprechend formuliert und erklärt werden.

8.6.1. Gestaltung der Informationsübermittlung Wenn Kinder und Jugendliche gemeinsam mit ihren Bezugspersonen ein traumatisches Ereignis erleiden sind diese in der Akutphase (so sie dazu in der Lage sind) die wichtigsten und vertrauenswürdigsten Personen die den Kindern Informationen zum Ereignis geben können. Die Information und Unterstützung der Eltern ist somit immer ein wichtiger Teil der Hilfe für die Kinder. Falls Kinder oder Jugendliche jedoch ohne nahe Bezugspersonen sind, wird diese wichtige Aufgabe von den psychosozialen Betreuern übernommen. Die Vermittlung der Informationen kann je nach Situation in der Akutphase einzeln, in Klein- oder Großgruppen erfolgen. Das hohe Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gruppe der direkt Betroffenen stellt in den allermeisten Fällen einen wichtigen Schutzfaktor dar und soll in der Planung der Unterstützungsmaßnahmen und der Durchführung der Betreuung unbedingt Berücksichtigung finden. Die Information für Kinder und Jugendliche muss alle wichtigen zum Zeitpunkt der Mitteilung verfügbaren Kenntnisse zum Hergang des Ereignisses, den Verbleib bzw die Art der Gefährdungen oder Verletzungen von nahen Angehörigen oder Freunden oder Mitschülern enthalten. Beim Mitteilen von schlechten Nachrichten oder beim Überbringen von Todesnachrichten kommt es darauf an, dass entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dazu braucht es einen geschützten Ort, genügend Zeit und Betreuungspersonen, wenn möglich vertraute Bezugspersonen und klare Informationen über das, was geschehen ist. Zudem sollte darauf Rücksicht genommen werden, dass genügend Zeit für Fragen und emotionale Reaktionen eingeplant wird.

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Zum Schluss ist es hilfreich darüber zu berichten, was bisher getan wurde und Informationen dazu was noch getan werden kann bzw was die nächsten Schritte sein werden, zu geben. Wichtig ist es, dass die bisher geleisteten oder eingeleiteten Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen dargestellt und erklärt werden. So ist es zB für Kinder wichtig und hilfreich zu hören, dass für schwer verletzte MitschülerInnen oder Freunde oder getötete Kinder im Rahmen eines Unglücksereignisses Hilfe durch Rettungspersonal, Notärzte oder im Krankenhaus durch das Krankenhauspersonal geleistet wurde. Selbst wenn es zum Tod von Freunden oder Mitschülern gekommen ist, ist es hilfreich darzustellen, welche Hilfsmaßnahmen getroffen wurden und noch möglich waren. In diesem Zusammenhang sollten zB Rettungsmaßnahmen, Schmerzbekämpfung, würdevolle Bergung, Überführung usw Erwähnung finden. Selbstverständlich müssen all diese Informationen für Kinder und Jugendliche altersgerecht und dem jeweiligen Verständnis für Endlichkeit und Tod entsprechend dargestellt und verständlich gemacht werden. Nicht alle Details der Botschaften müssen besonders bei Gewaltereignissen oder Suizid bereits in einem ersten Schritt mitgeteilt werden. Wichtig ist es jedoch den Kindern zu vermitteln, dass sie weitere Fragen stellen können. Oft geben Kinder und Jugendliche durch ihre Fragen sehr klar zu erkennen, was ihre Wahrnehmung und möglicherweise Erklärung für das Ereignis ist oder auch welche Ängste und Befürchtungen sie haben (DiGallo, 1997). Sie signalisieren dadurch auch ob und von wem sie sich weitere Informationen erwarten oder wünschen.

8.6.2. Informationsmanagement und Vernetzung Hier ist manchmal zB bei Gruppenreisen von Kindern und Jugendlichen, bei Freizeit- oder Sportveranstaltungen, bei denen die TeilnehmerInnen vorher nicht bekannt sind, ein hoher logistischer Aufwand, um die entsprechenden Kontakte herstellen zu können, notwendig. Vor allem wenn es sich bei den Betroffenen um zB Insassen eines Busses auf der Durchreise in einem Land oder Besucher einer großen Freizeit- oder Sportveranstaltung handelt, muss mit vielen Organisationen, Vereinen und Behörden zusammengearbeitet werden, um entsprechende Informationen überhaupt erst zu erhalten oder weitergeben zu können. Hier spielt besonders bei der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Jugendlichen die Zusammenarbeit mit den Organen der Exekutive, aber auch anderen Behörden, wie Gemeindeämtern und Jugendämtern eine entscheidende Rolle. Nicht selten telefonieren natürlich Kinder so bald als möglich per Handy mit ihren Eltern und in dieser ersten Phase der Unklarheit, Unsicherheit und möglicherweise noch mangelnden Koordination der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen ist eine einheitliche Informationsweitergabe von besonderer Wichtigkeit und erspart oft viel Verwirrung, Unsicherheit, Ärger.

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8.7. Kooperationen 8.7.1. Zusammenarbeit mit der Exekutive Neben diesen vielschichtigen Anforderungen an die Krisenintervention und psychosoziale Akutbetreuung stellen manche Akutsituationen eine besondere Herausforderung an die Kooperation und Zusammenarbeit unterschiedlicher Institutionen und Hilfseinrichtungen dar. Situationen in denen zB der Verbleib oder Zustand von Verletzten oder Vermissten unklar ist bedeuten immer eine außergewöhnliche psychische Belastung für alle Angehörigen und erfordern eine gute Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Einsatzorganisationen, der Exekutive und Ersthelfern.

8.7.2. Jugendamt, Sozialamt Bei der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Jugendlichen kommt der Zusammenarbeit mit den Organen der Exekutive, der Behörden, wie zB Gemeindeämtern und Jugendämtern eine entscheidende Rolle zu. Eine rasche umfassende Informationsweitergabe ist nicht zuletzt deshalb besonders wichtig, weil Kinder sehr rasch mittels Handy mit ihren Angehörigen in Kontakt treten wollen. Hier gilt es von Seiten der psychosozialen Ersthelfer rasch zu planen und Entscheidungen zu treffen, wie und wo die weitere Betreuung der Kinder und Jugendlichen bzw die Zusammenführung mit deren Bezugspersonen erfolgen können wird. In den meisten Fällen empfiehlt sich die rasche Zusammenführung der Kinder und Jugendlichen mit ihren Eltern und Bezugspersonen, so dass fast immer für einen gemeinsamen Rücktransport gesorgt werden wird. Dieser muss rasch geplant werden, die Eltern und Verwandten müssen darüber informiert werden und die Kinder und Jugendlichen dabei begleitet werden. Die Einzelabholung von Kindern und Jugendlichen, womöglich mitten in der Nacht und manchmal durch eine entsprechend lange Wartezeit aufgrund verzögerter Informationsmöglichkeiten für die betroffenen Eltern oder Verwandten, ist oft nicht gut zu bewerkstelligen und für die Kinder und Jugendlichen nicht so hilfreich. Hingegen kann das gemeinsame Erleben der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen, die gemeinsame Rückkehr nach einem traumatischen Ereignis oft das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken und kann so als Schutzfaktor wirken und einen ersten Schritt der Bewältigung darstellen.

8.7.3. Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz Ergänzend zur Unterstützung in der Familie, durch Verwandte und Freunde und durch die psychosoziale Akutbetreuung sind Institutionen, die Alltagsstruktur und

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soziale Einbindung geben können eine wichtige Hilfe. Das sind besonders Einrichtungen wie Kindergärten und Schulen oder der Arbeitsplatz bei Jugendlichen- besonders wenn Kollegen oder Vorgesetzte Halt und Unterstützung bieten können (Riedesser, 1998; Steil, 2002). Diese sollten frühzeitig über die entsprechende Situation informiert werden und in das Netzwerk von Unterstützung und Betreuung einbezogen werden. Der Austausch kann einerseits Informationen über die vorübergehende Abwesenheit von Betroffenen betreffen oder aber auch eine wichtige Information über das was geschehen ist, was an Hilfe geleistet werden konnte oder welche Unterstützung noch geleistet wird, wenn das Kind oder der Jugendliche wieder in den Kindergarten oder die Schule zurückkehrt. Bei Schulkindern und Jugendlichen sollte dies auch immer mit diesen selbst vorher besprochen werden. Kinder und Jugendliche wissen oft sehr genau, wie sie sich die Informationsweitergabe an MitschülerInnen und Lehrer und die Unterstützung in der Schule wünschen. Möglicherweise möchten sie selbst ihre MitschülerInnen bei der Rückkehr in die Schule in der ersten Stunde darüber informieren, was geschehen ist und was bisher getan wurde. Es kann sein, dass sie den Wunsch haben, dass ein Lehrer ihres Vertrauens oder der Klassenvorstand für sie – in ihrer Anwesenheit oder ohne sie – die Mitschüler informiert.

8.8. Spezielle Formen der Betreuung von Kindern und Jugendlichen 8.8.1. Information und Betreuung in der Gruppe In Akutphasen mit lange währender Unsicherheit über den Verbleib von vermissten Personen oder das Überleben von verletzten Eltern und vielen betroffenen Kindern kann die Unterstützung und Betreuung der Kinder im Rahmen einer Kindergruppe sich als passende Organisationsform und als äußerst hilfreich erweisen. In der Kinder- oder Jugendgruppe bietet sich für die Betreuer die Möglichkeit, die immer aktuellen Informationen in einer dem Alter entsprechenden Form den Kindern weitergeben zu können und in Gesprächen und Rückfragen deren Verständnis und Bedeutungszuschreibungen wahrnehmen zu können. Speziell jüngere Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren mit noch magisch animistischem Denken sehen unberechenbare Mächte oder auch sich selbst oder ihr vermeintliches Fehlverhalten oft als Verursacher oder Auslöser von Naturereignissen oder tragischen Unglücksfällen. „Der liebe Gott hat meinen Spielplatz kaputt gemacht und meinen Teddybär hat er mir auch weggenommen“ (Vierjähriges Mädchen nach einem Hochwasser mit Überflutung des Elternhauses und weiter Bereiche des heimatlichen Dorfes). In solchen Fällen die Zusammenhänge der Entstehung eines Unfalls oder eines Schadensereignisses erklären zu können und so die Bedeutungszuschreibungen der Kinder verändern zu können, stellt für diese oft eine äußerst wichtige Entlastung dar.

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Die Betreuungsform in der Gruppe von Gleichbetroffenen bietet einen Ort, an dem die Trauer, die zu Hause oft aus Rücksicht auf belastete und trauernde Familienangehörige nicht im gleichen Ausmaße gezeigt wird, ausgedrückt werden kann. Spezifische Ängste vor zB weiteren Naturgefahren, Angst, dass sich das traumatische Ereignis wiederholen könnte, aber auch Wut oder Ärger über das, was geschehen ist, oder über vermeintlich zu langsame oder unzureichende Hilfs- und Rettungsmaßnahmen können hier vorgebracht werden. Intensive Gefühle, wie große Trauer oder Wut oder Ärger können oft bei „neutralen Dritten“, die in den Augen der Kinder mit mehr Emotionen belastet werden können als selbst belastete und trauernde Eltern oder nahe Bezugspersonen, leichter gezeigt werden und somit stellen diese eine wichtige Hilfe und Entlastung dar (Riedesser, 1998). Während einer langen Such- und Rettungsaktion für mehrere verschüttete Bergleute im Rahmen eines Grubenunglücks wurden die Kinder und Jugendlichen der Vermissten teilweise einzeln, teilweise in der Gruppe vom psychosozialen Akutbetreuungsteam unter der Anleitung einer Psychotherapeutin mehrere Wochen lang betreut. Der Satz eines 8-jährigen Mädchens in der Kindergruppe „Ich versuche zu Hause möglichst nicht zu weinen, weil die Mama ist oft so traurig. Wenn die Mama einmal nicht weint, dann mag nicht ich damit anfangen.“ zeigt eindrucksvoll die Zurückhaltung und Rücksichtnahme der Kinder gegenüber ihren angstvollen oder trauernden Eltern.

8.8.2. Gruppenbildung Falls in einer komplexen Betreuungssituation viele Kinder und Jugendliche betroffen sind und es zur Bildung mehrerer Gruppen von Kindern und/oder Jugendlichen kommt, stellt der Grad der Betroffenheit und nicht so sehr das unterschiedliche Alter der Kinder das Hauptkriterium für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe dar. Kinder, die im Rahmen eines Unglücks Eltern oder nahe Angehörige verloren haben, sind in einer anderen Gruppe zu betreuen, als solche, die zB durch eine Mure oder eine Lawine „nur“ materielle Verluste haben oder vorübergehend evakuiert werden müssen. Das identitätsstiftende Merkmal für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ist also der Grad der Betroffenheit, erst danach spielen andere Kriterien, wie Alter, Wohnort, gemeinsame Freunde oder Sprache eine Rolle.

8.8.3. Unterstützung der Bezugspersonen Die Reaktionen der wichtigsten Bezugspersonen auf ein traumatisches Ereignis, deren Betroffenheit und deren Bewältigungsstrategien haben einen wesentlichen Einfluss auf die Einschätzung und Bewertung des traumatischen Ereignisses durch das Kind. Wenn Kinder nicht selbst unmittelbare Opfer eines Unfalls, eines Schadensereignisses oder einer Gewalttat sind erleben sie oft erst an den Reaktionen der

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Erwachsenen die Tragweite des Ereignisses. Sie „lesen im Gesicht der Mutter“, an ihrer Mimik von Angst und Schrecken was passiert ist (Keilson, 1979; Resch, 1999). Die Unterstützung und Betreuung der Bezugspersonen ist deshalb die wichtigste indirekte Hilfe für Kinder und Jugendliche. Diese können dann ihren Kindern wieder viel eher Schutz und Sicherheit und Geborgenheit vermitteln und die vielfältigen neuen Eindrücke und Abläufe einer peritraumatischen Situation erklären (Bowlby, 1975).

8.9. Komplexe Anforderungen in der weiterführenden Betreuung Die Komplexität der Betreuungsanforderungen kann einerseits durch das Ereignis selbst bedingt sein, zB Kinder als Augenzeugen von schwerer intrafamiliärer Gewalt, bei schwerer Verletzung oder Tötung eines Elternteils oder durch die Komplexität der Anforderungen in der Betreuung danach, vor allem wenn das Zusammenspiel und die Vernetzung vieler Hilfssysteme erforderlich ist wie etwa beim Tod oder Suizid eines Schülers, bei Gewaltverbrechen oder bei strafunmündigen Jugendlichen als Täter (van der Kolk, 1998; Terr, 1995). Komplexe Betreuungsanforderungen entstehen auch in Situationen, in denen wichtige Bezugspersonen oder ein Elternteil an einer schweren Form einer psychischen Erkrankung leiden, die die Unterstützung und Beziehungsfähigkeit zum betroffenen Kind oder Jugendlichen erschweren, zB bei schweren psychiatrischen Erkrankungen, bei Suchterkrankungen oder bei inhaftierten Eltern.

8.10. Fallbeispiele für komplexe Betreuungssituationen 8.10.1. Schwerer Sportunfall eines Schülers Wenn es sich beim Tod eines Schülers nicht um einen privaten Freizeitunfall, sondern um ein Unfallgeschehen im Rahmen sportlicher Aktivitäten in einem Sportverein oder bei einem Wettkampf handelt, stellen sich die Anforderungen an die Betreuung von Familienangehörigen, Freunden, Kollegen und Zuschauern und die notwendige Kommunikation mit unterschiedlichen Verantwortungsträgern oft rasch als komplex und vielschichtig dar. Schon bald nach den ersten Rettungsmaßnahmen und einer kurzen Schockphase werden die Fragen nach den Ursachen und der Verantwortung gestell. Im schlechteren Falle kommt es zu raschen Schuldzuweisungen und Vorverurteilungen. In solchen Fällen empfiehlt sich ein stufenweises Vorgehen wie folgt: (1) Informationsbeschaffung und Orientierung Anfangs muss das Team der Kriseninterventionskräfte sich ein möglichst genaues Bild über die derzeitige Lage und die Personen und Gruppen von direkt und indirekt Betroffenen verschaffen. Zusätzlich sind alle verfügbaren Infor-

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mationen über den Unfallhergang und die Begleitumstände zu erheben. Anschließend ist es wichtig, sich über alle Maßnahmen die bisher im Sinne des Krisenmanagements geleistet wurden zu informieren. Besonders muss dabei auf die bisher geleistete Informationsweitergabe und Kommunikation von Seiten der Einsatzleitung einerseits mit den direkt Betroffenen wie Eltern, Angehörigen und Sportkollegen und Freunden geachtet werden, andererseits aber auch auf die Information für direkt involvierte Zuschauer. Sehr rasch treten in solchen Situationen natürlich Erfordernisse auch der externen Kommunikation, sprich Zuschauer und allgemeine Öffentlichkeit (Medien) auf. (2) Kooperationen Eine weitere Aufgabe der psychosozialen Akutbetreuung ist die fachliche Beratung der Einsatzleitung und Unterstützung der direkten Verantwortungsträger. Direkt betroffene Personen, dh Personen, die beim Ereignis anwesend und eventuell in Hilfsmaßnahmen involviert waren sowie direkte Verantwortungsträger brauchen in der Erstphase oft selbst Unterstützung, um anschließend wieder unterstützend im Sinne des Krisenmanagements tätig sein zu können. (3) Betreuungsmaßnahmen Erstmaßnahmen für Verantwortliche können Krisengespräche in der Gruppe oder einzeln sein. Nachfolgende Betreuungsgespräche mit den übrigen Sportlern werden vorzugsweise in Gruppen und im Beisein von Betreuern durchgeführt. Dabei können sowohl von den Funktionären und sportlichen Betreuern als auch den Fachkräften des Kriseninterventionsteams sehr unterschiedliche Bedürfnisse von Betroffenen erfüllt werden und von diesen in unterschiedlichen Funktionen beansprucht werden. Trainer, Funktionäre, Sportkollegen und vertraute Personen aus dem Verein können viel zur emotionalen Stabilität und Sicherheit beitragen. Eine besondere Betreuung ist erforderlich, wenn Kinder oder Jugendliche direkt in das Unfallgeschehen verwickelt waren oder aber direkt an den erfolglosen Rettungsmaßnahmen teilgenommen haben. Hier sollten die Unfallsituation und die erfolgten Maßnahmen genau erklärt werden, um mögliche Fragen, Selbstvorwürfe oder Schuldzuschreibungen aktiv beantworten zu können. 8.10.2. Suizid einer Schülerin/eines Schülers In der Akutphase geht es hier nicht nur um die Unterstützung und Betreuung der betroffenen Familie, sondern auch um die Betreuung der verschiedenen Personen und Gruppierungen an der Schule, die aufgrund ihrer Funktionen und Beziehungen in unterschiedlicher Nähe zum verstorbenen Schüler gestanden sind. (1) Information und Orientierung Beratung und Planungsgespräch mit dem Schuldirektor und weiteren Verantwortungsträgern an der Schule (Klassenvorstand, Schulpsychologe, Schularzt, ...).

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(2) Unterstützung für Verantwortungsträger Wenn es sich beim betroffenen Schüler um einen Schüler handelt, der schon eine belastete Vorgeschichte an der Schule hatte, wie zB Schulleistungsversagen oder auffallend oppositionelles Verhalten mit vielen Auseinandersetzungen mit den Lehrern und Schulautoritäten oder um einen Schüler/Schülerin, die durch psychische Vorbelastungen aufgefallen war (depressive Verstimmung, familiäre Belastung, belastende Lebensereignisse) entstehen bei den Verantwortlichen oft sehr rasch Zweifel an den bisherigen Maßnahmen oder Unterstützungsangeboten. Diese beziehen sich einerseits auf selbst gestellte Fragen wie „was hätten wir tun können?“, „wie hätten wir das vermeiden können?“ oder auch auf Vorwürfe von anderen wie „die Leistungsanforderungen waren zu hoch“, „die Schule kümmert sich zu wenig“. In diesen Fällen ist zuerst ein psychologisches Krisengespräch mit den verantwortlichen Lehrern erforderlich. Dies dient der Wahrnehmung der eigenen Betroffenheit, dem Ausdruck von Gefühlen, der Informationsvermittlung und schlussendlich der Stabilisierung des Teams. Erst anschließend können Vorbereitungen und Beratungsgespräche zum weiteren Vorgehen in der Betreuung der Schülerinnen und Schüler, in der Kommunikation mit den betroffenen Eltern und schlussendlich der Schule nach außen getroffen werden. (3) Gespräche mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern Diese Gespräche können in der Gruppe (= Klasse) gemeinsam mit den Klassenvorständen und/oder ergänzt durch andere Vertrauenspersonen durchgeführt werden. Nach gemeinsamer Vorbereitung und Abstimmung mit den entsprechenden Fachkräften der Krisenintervention können diese gemeinsam durchgeführt werden. (4) Rituale des Gedenkens, des Abschieds Die Rituale des Gedenkens und des Abschieds müssen den verschiedenen Phasen der Trauerbewältigung angepasst und jeweils modifiziert werden. Schritte: zB Kerze in der Klasse bis zur Beerdigung, Symbole der Verabschiedung bei der Beerdigung (Blumen, Kerzen, Briefe), eventuell Symbole des Gedenkens in der Klasse. Ein sensibles Thema ist der Umgang mit dem leer gewordenen Platz in der Klasse. Hier empfiehlt sich zB eine neue Sitzanordnung für die SchülerInnen oder zB zum Semesterwechsel oder Schuljahreswechsel entsprechende Veränderungen vorzunehmen.

8.11. Schlussfolgerungen für die psychosoziale Akutbetreuung von Kindern und Jugendlichen – Grundsätzlich ist festzuhalten, dass je nach traumatischer Situation in einem durch überwältigende Angst ausgelösten Mechanismus von Kampf-Flucht-Er-

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starren das Kind in eine Situation extremer Hilflosigkeit gerät. Die erlebten Stressreaktionen sind primär psycho-biologisch sinnvolle Alarmreaktionen und erste Bewältigungsversuche. Regressive Verhaltensweisen sind als Suche nach Schutz und Geborgenheit wie sie in der prätraumatischen Phase existierte zu werten. Außerdem sind sie ein Appell an Bezugspersonen und Helfer. Das Leugnen und Nichtanerkennen des Geschehenen oder des erlittenen Verlustes stellt möglicherweise primär einen Abwehr- und Schutzmechanismus dar. Dissoziative Mechanismen in der Akutsituation können als sinnvolle Reaktion oder Abwehrreaktion auf eine lebensbedrohliche Situation aufgefasst werden. Für die Betreuung und Unterstützung der Kinder kommt der Anerkennung des erlittenen Verlusts und der derzeitigen außergewöhnlichen Belastung der gesamten betroffenen Familien große Bedeutung zu. Wichtig ist es die Anstrengungen und die Fähigkeiten zur gegenseitigen Unterstützung innerhalb der Familie und des sozialen Netzwerks von Verwandten und Freunden wertzuschätzen und Hilfestellung zum Verstehen der oft unterschiedlichen Trauerreaktionen von Kindern und Jugendlichen anzubieten.

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Kapitel 9

Zur Prävention einsatzbedingter Erkrankungen Krüsmann, Karl, Schmelzer, Müller-Cyran, Hagl, Butollo

9.1. Einleitung Die Auseinandersetzung mit traumatischen Ereignissen und deren Folgen nehmen in der wissenschaftlichen Diskussion ebenso wie in den Anwendungsfeldern in den letzten Jahrzehnten zunehmend breiten Raum ein. Umfangreiche Forschungsergebnisse aus dem Fachbereich Psychotraumatologie sowie die Bereitstellung von spezifischen Therapiestrategien zur Behandlung traumabedingter Störungen führten zu einer zunehmenden Entwicklung der Behandlungsmöglichkeiten im ambulanten sowie stationären Setting. Durch die Großschadenslagen und Katastrophen der vergangenen Jahre, wurde die Relevanz der psychosozialen Versorgung und der Bereitstellung von Schnittstellen in die ambulante und stationäre Krankenversorgung zunehmend von einer breiteren Fachöffentlichkeit sowie an den entsprechenden staatlichen Stellen erkannt und Evaluation sowie strukturierte Bereitstellung entsprechender Konzepte initiiert (Butollo, 2002). Es wurden Methoden für Akutinterventionen, die einer Entwicklung traumabedingter Störungen entgegenwirken und eine Chronifizierung möglicher Symptome verhindern sollen, entwickelt und evaluiert (siehe auch Watson und Shalev, 2005). Auch für den Bereich der Einsatzkräfte wurde der Bedarf an einsatzspezifischen Präventionsmaßnahmen erkannt und es entwickelten sich – meist ausgehend von im Feld arbeitenden psycho-sozialen Fachkräften – Programme, die zum Ziel hatten, die negativen Effekte sekundärer Traumatisierung zu minimieren. Notfallpsychologische Konzepte, die in der peritraumatischen Phase zum greifen kommen, betreffen zum einen primär traumatisierte Menschen (direkt Betroffene, Bystander und Angehörige, also indirekt Betroffene) zum anderen aber auch so genannte sekundär traumatisierte Personen (Einsatzkräfte). Obgleich es sinnvoll scheint von der psychosozialen Notfallversorgung zu sprechen, da es zB auch im Falle von Katastrophen meist einen Koordinator für beide Bereiche geben wird, ist es für den organisatorischen sowie inhaltlichen Ablauf sinnvoll, die unterschiedlichen Konzepte für beide Gruppen getrennt zu denken und auszuarbeiten,

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da auch die Bedürfnislagen – insbesondere dann, wenn primär traumatisierte Menschen durch das Ereignis Angehörige zu betrauern haben – als sehr unterschiedlich zu betrachten sind. Das bekannteste und am weitesten verbreitete Konzept zur Einsatznachsorge ist das 1983 von Mitchell vorgestellte Critical Incident Stress Debriefing (CISD), eine Gruppenintervention, die in den Tagen nach dem Einsatz zur Anwendung kommt. Der Häufigkeit von einsatzbedingten posttraumatischen Störungen sollte aber nicht allein durch Maßnahmen der sekundären Prävention (nach dem Einsatz) begegnet werden, sondern auch durch Maßnahmen vor dem Einsatz im Sinne einer primären Prävention. Auch Mitchell griff diesen Aspekt auf und erweiterte das ursprünglich als einmalige Intervention nach belastenden Einsätzen gedachte Konzept. Er stellte 1995 zusammen mit Everly ein umfangreicheres Modell zur Prävention einsatzbedingter Störungen vor, das so genannte Critical Incident Stress Management (CISM). CISM ist nun als umfassendes Präventionsprogramm gedacht, die Hauptkomponenten von CISM sind die Vorbereitung auf berufsbedingten Stress, das Fördern und/oder Beschleunigen von Erholung und Gesundung und das Verhindern oder Auffangen von traumatischen Belastungsreaktionen, Angehörigenberatung wird ebenso wie der Einbezug des sozialen Umfeldes mitgedacht. CISD ist in diesem umfassenden Programm also nur ein Baustein der gesamten Methode (Mitchell und Everly, 1995). Neben dieser als klassisch zu bezeichneten Methode, entwickelten sich weitere psychologische Debriefingkonzepte mit unterschiedlichen Schwerpunkten (siehe auch zB Perren-Klinger, 2000).

9.2. Belastung und Bewältigung im Einsatzwesen Traumatische Ereignisse treten meist unerwartet und plötzlich auf, und die meisten Menschen fallen in eine Art Schockzustand, sie verlieren den Boden unter ihren Füßen, geraten außer sich oder erstarren in namenlosem Entsetzen. Dies nicht nur im Kontext von Katastrophen, Großschäden und besonders bizarren oder Aufsehen erregenden Vorfällen, sondern ebenso bei den Unglücken und einsamen Dramen im Kleinen. Erste und direkte Betrachter traumatischer Erfahrungen waren und sind in unserer Gesellschaft die Einsatzkräfte, die unmittelbar im Anschluss an das Ereignis Rettungs-, Bergungs- und Aufräumarbeit zu verrichten haben. Rettungskräfte, die ganz grundsätzlich die Geschehnisse bei denen sie Zeugen waren zu verarbeiten und oft auch unverletzte Angehörige und andere Personen vor Ort mit zu versorgen haben, und die zudem auch durch die Ausführung ihrer Hilfsmaßnahmen auf den Verlauf eines Ereignisses direkt einwirken. Wie verarbeiten Einsatzkräfte diese Erfahrungen, über welche Bewältigungsmöglichkeiten verfügen Einsatzkräfte und wie hoch ist das Ausmaß der Belastung? In einer Reihe von epidemiologischen Untersuchungen wurde festgestellt, dass Einsatzkräfte aufgrund ihrer beruflichen Belastungen als Hochrisikopopula-

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tion hinsichtlich der Erkrankungswahrscheinlichkeit für traumabedingte Störungen gelten müssen (Zusammenfassungen bei: Krüsmann, 2003; Teegen, 2001). Je nach Einzugsgebiet sind Einsatzkräfte bei einem nicht unerheblichen Teil ihrer Einsätze neben den physischen auch starken psychischen Belastungen ausgesetzt. Solche Extrembelastungen können posttraumatische Belastungsreaktionen und -störungen (PTBS), aber auch andere psychische Symptomkonstellationen wie Suchtproblematiken und Depressionen nach sich ziehen. Dabei lassen sich für die verschiedenen Berufsgruppen (Polizei, private Hilfsorganisationen und Feuerwehr) keine einheitlichen Prävalenzwerte finden. Bei Mitarbeitern im medizinischen Notfall- und Rettungsdienst kann man davon ausgehen, dass zwischen 3 % und 7 % der Einsatzkräfte unter einer PTB leiden (Hodgkins und Stewart, 1991; Mitchell und Bray, 1990). Etwas höhere Werte finden sich für andere traumabedingte Belastungsreaktionen oder für das Bild der subsyndromalen PTB. In den Untersuchungen zeigt sich durchgängig, dass die – vielleicht berufsbedingte – Abwesenheit von Vermeidungstendenzen die teilweise sehr geringe Häufigkeit der voll ausgeprägten PTB mitbedingt. Weiterhin wird vermutet, dass Einsatzkräfte im Notfall- und Rettungsdienst während ihrer Einsätze in der Regel nicht mit für sie lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert sind und somit die direkte Betroffenheit niedriger als bei anderen Berufsgruppen der Gefahrenabwehr ist. Im Bereich der Polizei finden sich Studien mit sehr unterschiedlichen Aussagen. Teegen, Domnick und Heerdegen (1997) fanden, dass von 155 Polizisten 5 % eine PTB hatten. 39 % litten an belastenden Rückerinnerungen, ohne dass das Vollbild der PTB erfüllt war. Eine Untersuchung von Gersons (1989) fand weit höhere Prävalenzen. Es wurden 37 Polizeibeamte nach kritischen Einsätzen untersucht: 46 % von ihnen litten unter einer PTB, 75 % berichteten von Intrusionen und 67 % zeigten eingeschränkte Affekte. Die untersuchten Polizisten waren allerdings alle in Einsätze mit Schusswaffengebrauch verwickelt gewesen. Auf ein entsprechendes Risiko speziell bei den Einsatzkräften der Feuerwehren in Deutschland weisen einige publizierte Studien hin. So fanden Teegen et al (1997) bei 198 Berufsfeuerwehrleuten in Hamburg eine Prävalenz des Vollbildes der PTBS von 9 % und der subsyndromalen Ausprägung von weiteren 13 %. Wagner, Heinrichs und Ehlert (1998; 1999) identifizierten bei den 402 von ihnen befragten Berufsfeuerwehrleuten bei fast einem Fünftel eine krankheitswertige PTBS. Zu beachten ist hier, dass diese Zahlen die durchschnittlichen Belastung im normalen Berufsalltag von Feuerwehrleuten darstellen. Untersuchungen bei Feuerwehrleuten nach Katastropheneinsätzen zeigen weitaus höhere Prävalenzraten für traumabedingte Störungen, so die Studie von McFarlane und Kollegen an australischen freiwilligen Feuerwehrleuten nach verheerenden Buschfeuern (McFarlane, 1989; McFarlane und Papay, 1992). Für Großschadenslagen in Deutschland existieren jedoch kaum Untersuchungen. Eine der wenigen ist die Erhebung von Bengel, Barth, Frommberger und

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Helmerichs (2003) nach dem Zugunglück von Eschede. Gut ein halbes Jahr nach dem Einsatz zeigten nur rund 6 % der befragten 665 Einsatzkräfte – ca 40 % waren Angehörige von Feuerwehr und THW – Symptome einer PTBS. Diese fast erstaunlich geringe Prävalenz im Vergleich zur oben genannten Studie von Wagner et al (1998), dürfte sich vor allem mit einer konservativeren Auswertungsmethode erklären lassen: Es wurde zwar das gleiche Instrument zur Messung der PTBS-Symptomatik verwendet, aber einer strengeren Auswertungsregel im Hinblick auf die PTBS-Diagnosestellung gefolgt. Die Autoren vermuten außerdem einen selektiven Rücklauf der Fragebögen als Ursache – unter der Annahme, dass stärker belastete Einsatzkräfte eher nicht antworteten (Bengel et al, 2003). Allerdings wurden auch in einer groß angelegten Untersuchung bei Freiwilligen Feuerwehren in Bayern und Brandenburg ähnlich niedrige PTB-Werte gefunden (Krüsmann et al, 2005). Die Zahlen machen aber insgesamt doch deutlich, dass Einsatzkräfte einem besonderen Risiko ausgesetzt sind, an traumabedingten Störungen zu erkranken. Die Untersuchungen zeigen auch, dass die Häufigkeit von einsatzbedingten Erkrankungen in einem deutlichen Zusammenhang zu extrem belastenden Einsätzen stehen. In einer Untersuchung von Bryant und Harvey (1996) lag daher der Schwerpunkt der Studie auf der Frage, inwieweit das Auftreten und der Schweregrad einer PTBS mit der Art und Häufigkeit des Stressors korrelieren. Es wurde keine eindeutige Beziehung zwischen Art des Einsatzes und Ausmaß der Belastungsreaktionen gefunden. Diese Beziehung fand sich hingegen für die Faktoren Schwere des Traumas, Schwere der körperlichen Bedrohung für sich selbst und andere und erlebte Hilflosigkeit. Ähnliche Ergebnisse wurden auch in einer deutschen Studie gefunden. Befragt wurden 649 Polizeibeamte im Kontext von sekundärpräventiven Maßnahmen hinsichtlich ihrer berufsbedingten Belastungen, die auslösenden Ereignisse wurden von den Autoren differenziert erhoben und geclustert (Bär, Pahlke, Dahm und Weiss, 2004). In dem Cluster mit der potenziell höchsten Belastung1 fanden sich signifikant häufiger psychische Störungen und ebenso signifikant häufiger eine PTBS. Um diesen spezifischen, mit besonders belastenden Einsätzen zusammenhängenden Belastungen zu begegnen, wurden unterschiedliche Programme mit dem Ziel entwickelt, die negativen Effekte traumatogener Einsätze zu reduzieren. Im Zusammenhang mit der Durchführung von Debriefings wird diskutiert und untersucht, ob den spezifischen Bedingungen des Einsatzwesens nicht durch eine rein 1

Cluster 1. Schusswaffenbebrauch mit Todesfolge von Polizeibeamten oder einer anderen Person (durch oder gegen Polizeibeamte) Dienstlicher Verkehrsunfall mit schwerer Verletzung oder Todesfolge der betroffenen Polizeibeamten Andere Gewalteinwirkung gegen Polizeibeamte mit tödlichen Ausgang Geiselnahme eines Polizeibeamten (Bär et al, 2004, S 197).

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kognitive Nachsorge, die ein Hauptaugenmerk auf die Psychoedukation richtet, besser gerecht werden kann.

9.3. Sekundäre Prävention durch Einsatznachsorge Das verbreitetste Konzept zur sekundären Reduktion einsatzbedingter Belastungen ist das Critical Incident Stress Debriefing (CISD), das von Mitchell 1983 vorgestellt und von Mitchell und Everly (1995) weiterentwickelt wurde. Es ist als Gruppenintervention konzipiert, um die negativen Folgeerscheinungen einsatzbedingten Stresses gesundheitsförderlich zu verarbeiten. CISD ist ausdrücklich keine Methode, die Psychotherapie oder Beratung beinhaltet. Denn zum einen setzen solche Interventionen eine entsprechende Ausbildung voraus, zum anderen kommen Therapie und Beratung in der Regel erst dann zum Einsatz, wenn bereits eine bestimmte Störung oder Problematik aufgetreten ist. CISD zielt hingegen darauf ab, dem Auftreten von negativen Auswirkungen hoher und häufiger Stressbelastungen vorzubeugen. Dazu werden die Teilnehmer eines Debriefing-Teams angeregt, ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu schildern und zu besprechen. Der gesamte Ablauf des Debriefing folgt einer vorgegebenen Struktur, wobei die Inhalte der verschiedenen Phasen von den Teilnehmern selbst bestimmt werden, da sie von der Art und dem Verlauf des Einsatzes abhängig sind. Eine CISD-Sitzung dauert in der Regel zwei bis drei Stunden und kann für Gruppen von vier bis 30 Teilnehmer angeboten werden. Das Debriefing sollte idealerweise 24 bis 72 Stunden nach dem Ereignis stattfinden, die Intervention findet für die jeweilige Gruppe nur einmal statt. Bei der Zusammensetzung der Gruppe wird nach Möglichkeit darauf geachtet, dass alle Teilnehmer der Gruppe entweder bei dem entsprechenden Einsatz dabei waren (bei großen Unfällen oder Katastrophen kann es durchaus vorkommen, dass sich die Teilnehmer des Debriefings nicht persönlich kennen) oder dass alle Teilnehmer einer Gruppe untereinander bekannt sind und in ihrer Arbeit verbunden sind, auch wenn nicht alle am zu besprechenden Einsatz beteiligt waren (zB wenn ein Kollege bei einem Einsatz tödlich verunglückte, können auch die Kollegen, die nicht unmittelbar dabei waren debrieft werden). Das CISD-Team setzt sich in der Regel aus vier Mitarbeitern zusammen, diese nehmen während der Nachbesprechung unterschiedliche Aufgaben und Funktionen wahr. Das Team wird von einer psychosozialen Fachkraft mit psychotraumatologischer Zusatzqualifikation geleitet, zB einem Klinischen Psychologen oder Psychotherapeuten aber auch von Seelsorgen und Sozialpädagogen. Der Begriff psychosoziale Fachkraft wird hier unscharf verwendet. Wer am effektivsten eine solche Nachsorge leitet wird kontrovers diskutiert. Diese Person kann selber als Einsatzkraft arbeiten oder gearbeitet haben, sie kann aber auch im Rahmen einer psychologischen, medizinischen, sozialen oder seelsorgerischen Tätigkeit die Leitung des

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CISD-Teams übernehmen und somit keine eigene Einsatzerfahrung aufweisen. Dem CISD Teamleiter stehen ein Co-Leiter und ein oder zwei so genannte peers zur Seite. Peers sind Einsatzkräfte, also immer „Berufskollegen“ der jeweils betroffenen Einsatzkräfte, die sich in speziellen Ausbildungen zu dieser Tätigkeit qualifiziert haben. Ein CISD-Team-Leiter kennt in der Regel einen Pool von peers, aus dem heraus er sich dann sein Team zusammensetzt. Idealerweise hat so ein Team eine feste Struktur, regelmäßigen Kontakt und Supervision. In der Realität wird dies auch zunehmend umgesetzt. Wie bereits erwähnt, hat der Verlauf eines solchen CIS-Debriefings eine festgelegte Struktur, die in sieben Phasen verlaufen soll (beschrieben nach Mitchell und Everly, 1995): – Konstitutionsphase (introductory phase): Die Gruppenmitglieder stellen sich vor und die Regeln der Gruppe werden erklärt (zB Verschwiegenheit). – Fakten (fact phase): Jeder Teilnehmer berichtet, was er (oder sie) erlebt hat. – Gedanken (thought/cognition phase): Es wird über Gedanken während und bezüglich des Ereignisses berichtet. – Reaktion/Gefühle (reaction/feeling phase): Es wird über die damit verbundenen Gefühlsreaktionen berichtet. – Symptomatik (symptom phase): Die Teilnehmer sprechen über Anzeichen von Stress, die sie an sich erleben. – Aufklärung (teaching/educational phase): Die Leiter der Gruppe vermitteln Informationen zur Normalität der Symptomatik und möglichen Bewältigungsstrategien. – Abschlussphase (re-entry/wind-down phase): Offene Fragen werden geklärt, das Ergebnis wird zusammengefasst, weitere Hilfsmöglichkeiten angeboten. Seit Ende der achtziger Jahre verbreiten sich nun verschiedene Modelle, die mehr oder weniger eng an CISD angelehnt sind, alle unter dem Schlagwort Debriefing. Diese Verallgemeinerung scheint nahe liegend, da die verschiedenen Debriefingkonzepte letztendlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen. 1995 stellten Raphael, Meldrum und McFarlane fest, dass CISD mittlerweile die am weitesten verbreitete Methode zur Prävention einsatzbedingter Stressreaktionen ist. Zahlreiche CISD-Teams entstanden hauptsächlich in den USA, Kanada und Australien. Zwar scheint es, dass prinzipiell die Durchführung von Interventionen nach belastenden Einsätzen sinnvoll sein kann, doch weiß man immer noch zu wenig über die Wirkung der Methode, insbesondere im Hinblick auf die differentiellen Faktoren in dem Bedingungsgefüge der Bewältigung posttraumatischer Erfahrungen. So sind zB noch folgende Fragen offen: Inwieweit kann und muss die Variation von Reaktionsmustern der posttraumatischen Bewältigung in einer Gruppenintervention berücksichtigt werden? Inwiefern haben individuelle Strategien, mit

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dem einsatzbedingten Stress in der unmittelbaren Konfrontation mit kritischen Situationen umzugehen, Auswirkungen auf die Bereitschaft zur Inanspruchnahme externer Unterstützungsangebote? Obgleich die Methode also inzwischen weltweite Aufmerksamkeit und Verbreitung gefunden hat, wurde die Effektivität von CISD im Speziellen und Debriefing im Allgemeinen bis heute nicht eindeutig nachgewiesen. Zunehmend wird der Einsatz von Debriefing kontrovers und kritisch diskutiert, denn die wenigen kontrollierten Effektivitätsstudien haben keine konsistenten Resultate gezeigt (siehe auch Krüsmann, 2003). Die Kernfrage zu den Auswirkungen derartiger sekundärer Präventionsmaßnahmen, die Frage ob Debriefing die Entwicklung von PTB bzw posttraumatischer Symptomatik positiv, in Richtung einer konstruktiven Adaptation, beeinflussen kann oder nicht, wird in unterschiedlichen Untersuchungen und Überblicksartikel kontrovers beantwortet. Einige Autoren gehen aufgrund der Befunde davon aus, dass Debriefings keinen Effekt haben oder sogar zu negativen Auswirkungen auf die betreuten Personen führen können. Raphael und Dobson (2001) weisen aber darauf hin, dass – wie gerade schon angemerkt – sich die Ergebnisse einzelner Studien auch nur bedingt vergleichen lassen. Gerade das Timing (Zeitpunkt des Debriefings nach dem Einsatz) halten sie für entscheidend, in dem Sinne, dass eine zu frühe Intervention eine Beruhigung eher verhindert. Die Autoren sind insgesamt eher skeptisch und warnen vor einer unkritischen Anwendung von CISD und anderen Debriefingformen. Auch Clemens und Lüdke (2000) kommen in ihrer Literaturübersicht zu dem Schluss, das Debriefing generell in seiner Effektivität nicht belegt ist, ebenso van Emmerik, Kamphuis, Hulsbosch und Emmelkamp (2002) in ihrer Meta-Analyse. In beiden Arbeiten wurden aber sehr unterschiedliche Settings betrachtet und sie bezogen sich nicht nur auf Debriefings bei Einsatzkräften. Ebenso in der Untersuchung von Mitte, Steil und Nachtigall (2005), die in einer Meta-Analyse unterschiedliche Konzepte psychologischer Interventionen nach akuter Traumatisierung untersuchten und ebenfalls keine positiven Effekte finden konnten. So auch Cuijpers, van Straten und Smit (2005), die in ihrer Meta-Analyse generell den Effekt von präventiven Maßnahmen auf den Ausbruch von psychischen Krankheiten hin untersuchten. Sie fanden, dass Debriefing das Auftreten einer PTBS nicht verhindert, sondern im Gegenteil einer höheres Risiko an PTBS zu erkranken in den Interventionsgruppen im Gegensatz zu den Kontrollgruppen besteht. Grundsätzlich kann aber davon ausgegangen werden, dass die Heterogenität der in die Untersuchungen eingeflossenen Variablen – wie Ereignis an sich, Setting, Interventionsverfahren, Anwenderausbildung, Freiwilligkeit der Teilnahme, Zeitpunkt der Intervention, Gruppengröße – eine zusammenfassende Beurteilung von Debriefing als unmittelbarer Intervention nach belastenden Einsätzen zum jetzigen Zeitpunkt schwer möglich macht. Auch die Frage wer überhaupt das Angebot von Nachsorge annimmt, und ob diese Personen nicht schon vor der Nachsorge belasteter waren als

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diejenigen die keine Nachsorge in Anspruch nahmen, kann auf Grund der vorliegenden Untersuchungen nicht beantwortet werden. Die Anwendung von klassischem Debriefings sollte jedenfalls nur auf dem Hintergrund einer vertieften psychotraumatologischen Kenntnis und unter Berücksichtigung einer möglichen Schädigung besonders exponierter und belastetet Einsatzkräfte stattfinden. So sollten zum Beispiel Einsatzkräfte die unter einer Akuten Belastungsstörung leiden nicht an einer Gruppennachsorge teilnehmen. Festgestellt werden kann aber, dass die vehemente Ablehnung von Debriefings für den Bereich Prävention einsatzbedingter Belastungen ebenso verfrüht erscheint wie die euphorischen Beurteilungen in den frühen neunziger Jahren. Im Zusammenhang mit den Untersuchungen, die positive Effekte fanden – zB einen positiven Effekt auf die allgemeinen Annahmen über die Welt (Harris, Baloglu und Stacks, 2002 – lassen die Aussagen von Einsatzkräften, dass ihnen die Einsatznachsorgegespräche persönlich geholfen haben und für sie eine wichtige Erfahrung waren, den Schluss zu, dass es durchaus sinnvoll sein könnte, Interventionen nach einem Einsatz durchzuführen. Andere Befunde über die Effekte von Gruppennachsorge lassen aber auch den umgekehrten Schluss zu – Debriefing schade mehr als dass es nutze. Hier ist abzuwarten was neuere Forschungsvorhaben an Erkenntnissen liefern. Verknüpft man aber neuere Befunde über Adaptationsprozesse und den Einsatz von frühen Interventionen für direkt Betroffene mit Forschungsergebnissen zur Gruppennachsorge sowie Erfahrungen aus der Arbeit mit Einsatzkräften können einige Faktoren definiert werden, die bei der Durchführung von Gruppennachsorge im Einsatzwesen auf jeden Fall beachtet werden sollten: – Für Einsatzkräfte die Symptome einer Akuten Belastungsstörung aufweisen sind generell Maßnahmen die auf eine emotionale Verarbeitung abzielen nicht zu empfehlen – Starkes konfrontatives Bearbeiten des potentiell traumatisierenden Einsatzes zu einem zu frühen Zeitpunkt hat vermutlich einen negativen Effekt auf die psycho/biologische Verarbeitung – differentielle Bewältigungsfaktoren müssen auch im Rahmen von Gruppenmaßnahmen Beachtung finden – unterschiedlicher Grad an Exposition während des selben Einsatzes muss während der Nachsorge berücksichtigt werden – wenig exponierte Einsatzkräfte dürfen nicht durch Berichte aus der „vordersten Front“ zusätzlich belastet werden – besonders gefährdete und/oder belastetet Einsatzkräfte sollten individuelle Beratungsgespräche angeboten bekommen – das Angebot einer Gruppennachsorge sollte in ein Gesamtkonzept Prävention eingebettet sein.

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9.4. Primäre Prävention durch vorbereitende Maßnahmen Mit der Erforschung des Ausmaßes psychischer Belastungen bei und nach außergewöhnlich belastenden Einsätzen wurde – wie bereits beschrieben – zunehmend der Bedarf an präventiven Maßnahmen erkannt. Dabei standen zunächst Methoden im Vordergrund, die nach einer Teilnahme an außergewöhnlich belastenden Einsätzen einer dysfunktionalen Entwicklung hin zu chronifizierten traumabedingten Störungen vorbeugen sollten, im Sinne einer sekundären Prävention. Bei differenzierter Betrachtung der Bedingungen der Entwicklung und Aufrechterhaltung posttraumatischer Symptomatik bei Einsatzkräften zeigt sich jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit von einsatzbedingten posttraumatischen Störungen neben Zahl und Schwere der belastenden Einsätze von einer Reihe von anderen Faktoren mitbestimmt wird, die unabhängig vom auslösenden Einsatz bereits vorher bestehen (vgl Meta-Analyse von Brewin, Andrews und Valentine, 2000; Zusammenfassung bei Butollo und Hagl, 2003). Neben Risikofaktoren wie psychiatrischer Vorgeschichte und erhöhter Stressanfälligkeit, können auch Schutzfaktoren identifiziert werden. Im Bereich der posttraumatischen Stresserkrankungen wurden dazu vor allem die Konstrukte „Kohärenzsinn“ (sense of coherence) von Antonovsky (1987) und Robustheit (hardiness) von Kobasa (1979) untersucht. Beide Konstrukte beziehen sich auf eine Reihe von grundlegenden funktionalen Überzeugungen bzgl der Sinnhaftigkeit des Lebens an sich, einer positiven Grundhaltung gegenüber Herausforderungen und der Überzeugung eigener Einflusskraft und sind positiv mit einer gesünderen Anpassung an traumatische Lebenserfahrungen assoziiert (zB Dudek und Koniarek, 2000; Jonsson, Segesten und Mattsson, 2003; Waysman, Schwarzwald und Solomon, 2001). Solche Ergebnisse weisen auf die Bedeutung einer entsprechenden Personalauswahl einerseits und auf die Notwendigkeit einer ausreichenden Vorbereitung auf außergewöhnlich belastende Ereignisse andererseits hin. Primärer Prävention sollte deshalb ein höherer Stellenwert zukommen, als dies bisher der Fall ist. Mitchell und Dyregrov (1993) geben ein Überblick über Ansätze zur primären Prävention bei Einsatzkräften und ziehen eine vorsichtige positive Bilanz: Zwar gäbe es noch keine ausreichenden empirischen Belege für deren Wirksamkeit, vor allem längerfristig, jedoch zeigen sich genug positive Befunde, die deren Weiterentwicklung und Einsatz rechtfertigen. Sie beziehen sich dabei auf eine eigene Studie (Mitchell, 1983) und ua zwei ältere Studien (Schwettmann, 1980; Staff, 1981) zu Stressreduktionsprogrammen mit Rettungsassistenten (paramedics). Wagner et al (2001) nennen als Ansätze zur primären Prävention Stressbewältigungsprogramme und so genannte Stress-Audits (zur Identifikation tätigkeitsbezogener Belastungen). Als wichtige Bausteine nennen sie darüber hinaus Entspannungsverfahren und Trainingsprogramme zur Bewältigung konfliktreicher Situationen (zB mit Angehörigen), ebenso wie Psychoedukation zu alltäglichem und traumatischem Stress. Auch nach Wagner und Kollegen steht jedoch der endgültige wissenschaftliche Nachweis zur Effektivität solcher Programme noch aus.

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Hinsichtlich der Bewertung von präventiven Programmen sollte in Zukunft jedoch differenziert werden zwischen: – Programmen, die letztlich der Einsatzkompetenz dienen (zB vorbereitende Videos, Strategie- und Kommunikationstrainings), – Programmen, die auf eine allgemeine psychische „Fitness“ und verringerte Stressanfälligkeit zielen und – Programmen, die sich unmittelbar mit der Bewältigungskompetenz nach außergewöhnlich belastenden Einsätzen befassen. Während Murphy (1996) in einem Überblick zu Anti-Stress-Trainings am Arbeitsplatz noch keine Studie im Bereich der Feuerwehren finden konnte, gab es in den letzten Jahren einige wenige publizierte Studien über die Zusammenhänge zwischen berufsbedingten Belastungen und Stressreaktionen (zB Murphy, Beaton, Pike und Johnson, 1999; Murphy, Bond, Beaton, Murphy und Johnson, 2002) und zu entsprechenden Interventionen bei der Berufsfeuerwehr (Throne, Bartholomew, Craig und Farrar, 2000; Beaton, Johnson, Infield, Ollis und Bond, 2001). Dabei zeigt die Untersuchung von Throne und Kollegen (2000) die Bedeutung körperlichen Trainings zur Erhöhung der Stressschwelle von Feuerwehrleuten. Feuerwehrleute, die für 16 Wochen ein zusätzliches Herz-Kreislauf-Training absolvierten, reagierten bei einer computersimulierten Brandübung mit geringerer kardiovaskulärer Aufregung und berichteten auch subjektiv im Durchschnitt weniger stressbezogene Emotionen während des simulierten Einsatzes. Von größerer Relevanz ist die Untersuchung von Beaton und Kollegen (2001): Die Autoren untersuchten in einem quasi-experimentellen Design die Wirkung eines kurzen multimodalen Führungskräftetrainings (Stressbewältigung und Führungskompetenz) in einer Berufsfeuerwehr auf die Beurteilung durch Untergebene und deren Einschätzung eigener Aufstiegsmöglichkeiten. Es konnte eine positive Wirkung des eintägigen Trainings im Vergleich zur Kontrollgruppe festgestellt werden, die allerdings im Follow-up nach neun Monaten kaum Bestand hatte. Bei den Führungskräften selbst zeigte sich immerhin eine Reduktion bei gastrointestinalen und anderen Stresssymptomen. Die Studie weist einige Schwächen in Methodik und Darstellung auf, ist aber immerhin richtungsweisend hinsichtlich möglicher Outcome-Variablen. Grundsätzlich zeigt sich, dass ein einmaliges Training aber nur geringen langfristigen Bestand hat und möglicherweise „Updates“ und das Auffrischen von Gelerntem in einem bestimmten zeitlichen Rhythmus nötig sind. Neben individuellen prätraumatischen Persönlichkeitsfaktoren sind ebenso strukturelle Bedingungen auf Organisations- und nicht zuletzt auf gesellschaftlicher Ebene für die Verarbeitung von außergewöhnlich belastenden Einsätzen der einzelnen Organisationsmitglieder von Bedeutung. Primärpräventive Maßnahmen sind auf allen Ebenen zweckmäßig und notwendig, um greifen zu können. So stellte Stephens (1997) fest, dass folgende strukturellen Voraussetzungen einer Organisation zur Reduktion der Wahrscheinlichkeit posttraumatischer Störungen beitragen:

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– Die Mitarbeiter können leicht über eine stressreiche oder traumatische Situation sprechen, – sie können dabei auch Emotionen ausdrücken ohne Repressalien fürchten zu müssen und – sie erhalten soziale Unterstützung von gleichrangigen und höher gestellten Kollegen. In diesem Zusammenhang sind auch die klinischen Beobachtungen von Pieper und Maercker (1999) zum Rollenverständnis männlicher Einsatzkräfte bedeutsam. Die Autoren beschreiben die Folgen eines ansozialisierten Männlichkeitsbildes („Risikoprofil des Alpha-Mannes“) und die damit verbundene Verleugnung von Hilfsbedürftigkeit und psychischer Beeinträchtigung. Erst die Überwindung dieses rigiden Rollenverständnisses ermöglichte in den geschilderten Fallbeispielen den betroffenen männlichen Einsatzkräften einen Zugang zu Therapie und Heilung. Zugleich sahen sich diese Männer in der Folge in einer Vorbildfunktion und engagierten sich im weiteren Verlauf in der Aufklärung von Kollegen über den Umgang mit traumatischen Situationen. Fullerton, McCaroll, Ursano und Wright (1992) fanden in einer qualitativen Auswertung der Gesprächsinhalte bei Debriefings folgende von Feuerwehrleuten beschriebenen unterstützende Faktoren bei der Verarbeitung eines Katastropheneinsatzes: vorausgehendes fachliches Training bzw Übungen, Unterstützung durch Kameraden und Angehörige, Humor, Trauerrituale und die besondere Vorbildrolle der Gruppenleiter bei der Verarbeitung des Erlebten. Die gerade beschriebenen Studien erforschten vor allem die Verarbeitung nach belastenden Einsätzen. Weisæth (1989) hingegen befasste sich in einer richtungsweisenden Arbeit mit den Reaktionen von Menschen während traumatischer Ereignisse und den daraus resultierenden psychischen Konsequenzen. In seiner Studie nach einer Brandkatastrophe in einer norwegischen Farbenfabrik konnte er zeigen, dass funktionales Verhalten der Arbeiter im Verlauf der Katastrophe vor allem durch vorausgehendes Training bestimmt wurde. Lag ein hoher Grad an Erfahrung vor (zum Teil durch einen militärischen Hintergrund) blieben die Betroffenen funktional – und zwar unabhängig vom Grad ihrer tatsächlichen Bedrohung in der Situation. Solchen Personen gelang es, eine Führungsrolle zu übernehmen und stärker in ihrer Handlungsfähigkeit beeinträchtigte Personen zu funktionalen Handlungen anzuleiten. Dies weist darauf hin, dass eine funktionale Rolle der von Vorgesetzen während außergewöhnlichen und besonders stresserzeugenden Einsätzen besonders wichtig ist und neben dem praktischen Einsatzergebnis auch den Grad der möglichen Traumatisierung der am Einsatz Beteiligten moderieren kann. Ungerer und Morgenroth (2001) beschreiben ausführlich die besonderen Anforderungen, die an Personen mit Führungspositionen, zB als Einsatzleitung, herangetragen werden und wie sich Überlastungen auswirken können. Die Autoren

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streichen die Fähigkeit zur Selbststeuerung als „unabdingbare Voraussetzung zur Distresskontrolle und -abwehr“ (S 233) heraus und – speziell im führungstaktischen Bereich – die Fähigkeit zur Fremdsteuerung, also zur Anleitung von Personen. Sie formulieren ergänzende Ausbildungsrichtwerte, in denen gerade die negativen Auswirkungen von Distress auf funktionales Verhalten während Einsätzen und auf die funktionale Anpassung nach Einsätzen im Vordergrund stehen, im Sinne einer „bedrohungsnahen Ausbildung“ zur Prävention posttraumatischer Stressreaktionen (S 267f). Es wird deutlich, dass den Vorgesetzen und der Organisationsstruktur an sich eine besondere Rolle in der Prävention von einsatzbedingten psychischen Stresserkrankungen zukommt., und zwar sowohl im primär- als auch im sekundärpräventiven Bereich. Auf Führungskräfteebene sind dabei folgende Thematiken zu betonen (Krüsmann, 2003, S 158f): – Sensibilität für einsatzbedingte psychische Symptomlagen und deren Präventionsmöglichkeiten in der Organisation, – Möglichkeiten zur Vermittlung sozialer Unterstützung und sozialer Anerkennung, – Wissen über besondere psychische Risikosituationen (zB keinen Einsatz in „erster Reihe“ für Einsatzkräfte, die in den Wochen vor dem Einsatz einen erheblichen Verlust oder eine Trennung erlebten), – Wissen über die besondere Relevanz von hoher Kooperation und Strukturiertheit während des Einsatzes, – Möglichkeiten der kollegialen Sensibilität und Unterstützung für emotionale Prozesse. Die jeweiligen Kompetenzen hinsichtlich Führung und Kommunikation, vor allem in Extremsituationen, bilden dabei die Basis, auf der solche Themen zu bearbeiten sind, auch in Hinblick auf Selbstreflexion des eigenen Führungsstils. In der professionellen Weiterbildung von hauptamtlichen Einsatzkräften, die Führungsaufgaben übernehmen, gibt es verstärkt Ansätze, diesen besonderen Anforderungen Rechnung zu tragen (zB Ungerer und Morgenroth, 2001).

9.5. Zur Umsetzung präventiver Konzepte Aus den bisherigen Erfahrungen zur Primären und Sekundären Prävention kann das Fazit gezogen werden, dass es für eine nachhaltige und effektive Prävention notwendig ist, diese in allen Ebenen einer Organisation zu verankern. Primäre Prävention bildet dabei einen eminent wichtigen Baustein, indem sie durch Bewusstseinsbildung hinsichtlich der Thematik, psychoedukative Elemente und erste Kontaktaufnahme mit den Ansprechpartnern den Türöffner bildet für eine Bereitschaft

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von Inanspruchnahme sekundär- und tertiärpräventiver Maßnahmen. Wenn dieser Grundstein fehlt oder nicht genügend auf die restlichen Maßnahmen abgestimmt ist, können nachfolgende Maßnahmen – unabhängig von ihrer Qualität – nur zufallsgesteuert greifen. Folgende Kernaussagen können zum jetzigen Zeitpunkt formuliert werden: Prävention, die an der Person ansetzt, kann nur gelingen, wenn deren Maßnahmen von den betroffenen Personen angenommen und umgesetzt werden – Einsatzkräfte können mit den Belastungen, die aus ihrer Einsatztätigkeit heraus entstehen umgehen, der Tendenz den ganzen Berufsstand „krank“ zu reden ist unbedingt entgegenzutreten, und – der Tabuisierung von Schwierigkeiten im Umgang mit auftretender Belastung ist durch wohldosierte Informationsvermittlung in Bezug auf Symptome und einem konstruktiven Umgang mit diesen entgegenzuwirken, – dabei sind besonders die kollektiven und individuellen einsatzkraftspezifischen Ressourcen zu berücksichtigen; – Prävention muss integraler Bestandteil der jeweiligen Organisation werden oder zumindest deutliche Merkmale aufweisen, die in diese Richtung weisen. Prävention, die an der Person ansetzt, kann nur gelingen, wenn deren Maßnahmen aufeinander abgestimmt sind und der Bedürfnislage sowie dem Adaptationsprozess der Betroffenen entsprechen – Einsatznachsorge muss auf die spezifischen und differentiellen Bedürfnisse der Organisationen und deren darin tätigen Personen zugeschnitten werden, – primärpräventive Maßnahmen dürfen vor allem im Bereich des Ehrenamtes in ihrer Wichtigkeit hinter sekundärpräventiven Maßnahmen, wie zB Debriefing, nicht zurücktreten2, – die Notwendigkeit von primärpräventiven Maßnahmen muss stärker in das Bewusstsein der Verantwortlichen verankert werden, – den Führungskräften kommt dabei eine Schlüsselposition zu, sie sollten eigens primärpräventiv geschult werden, da sie – unmittelbare Vorbilder für die Mannschaft sind, – der Mannschaft gegenüber eine Fürsorgepflicht ausüben müssen, – die Entscheidung hinsichtlich weiterer Maßnahmen treffen, – nach entsprechenden Schulungen die Anzeichen erhöhter Belastung bei ihren Kameraden erkennen können, 2

Möglicherweise spielt dabei die Mehrfachbelastung bei Ehrenamtlichen (durch Beruf, Familie und Ehrenamt) eine Rolle, die es schwer macht, Ausbildungen auszudehnen und zusätzliche Fortbildungsangebote anzunehmen, während für eine Einsatznachbesprechung – aus der akuten Notlage heraus – eher Zeit eingeräumt wird.

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– selbst zentral und mit erhöhter Verantwortung im Einsatzgeschehen stehen und eigene Belastungen aufweisen können, – sie selbst als leitende Einsatzkraft grundlegend für das Einsatzergebnis verantwortlich sind und unter einem erhöhten Leistungsdruck stehen. Entscheider sollten daher verstärkt über die Bedeutung und die Inhalte präventiver Maßnahmen aufgeklärt werden, dazu am besten selbst geschult werden und so Hinweise hinsichtlich ihrer Führungsaufgabe und hinsichtlich der Möglichkeiten mit eigener Belastung umzugehen an die Hand bekommen. Auch im Ehrenamt sollten Ausbildungseinheit, die psychotraumatologisches Wissen speziell im Hinblick auf die besonderen Kompetenzanforderungen als Einsatzleitung und Führungsperson vermitteln, angeboten werden. Im Rahmen dieser Schulungen kann dabei auch auf eventuell vorhandene eigene Belastungsfaktoren der Führungskräfte eingegangen werden.

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