Erkenntnistherapie für Nervöse: Psychobiologie der Krankheit und der Genesung [Reprint 2022 ed.] 9783112688007

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Erkenntnistherapie für Nervöse: Psychobiologie der Krankheit und der Genesung [Reprint 2022 ed.]
 9783112688007

Table of contents :
Vorwort.
Inhalt.
1. Kapitel. Vom Wesen der Neurose
2. Kapitel. Die Neurose als Infantilismus
3. Kapitel. Die Struktur der gesunden Erlebnisse
4. Kapitel. Die Struktur der neurotischen Erlebnisse
5. Kapitel. Zur Diagnose
6. Kapitel. Die Behandlung der Neurosen
Literaturverzeichnis.

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Erkenntnistherapie für

Nervöse Psychobiologie der Krankheit und der Genesung

Von

Hans Lungwitz Dr. med. et phil., Nervenarzt, Berlin-Charlottenburg

Motto: Eins ist not: Erkenntnis!

JjU^ BRÜCKE-VERLAG

KURT SCHMERSOW, KIRCHHAIN N.-L. 1932

Im Brücke-Verlag Kurt Schmersow, Kirchhain N.-L. erschien ferner:

Die Entdeckung der Seele Allgemeine Psychobiologie Von

Dr.med.etphil.HansLungwitz, Nervenarzt, Charlottenburg Zweite Auflage. — 707 Seiten. Preis brosch. RM. 14.—, in Ganzleinen RM. 16.— Die Bemühungen der Psychologie und Philosophie um die Klarstellung des Wesens der Seele haben bisher nicht zum vollen Erfolg geführt. Im v o r l i e g e n d e n W e r k e ist das Seelenp r o b l e m g e l ö s t . Ausgehend von der u n m i t t e l b a r e n E r f a h r u n g hat Lungwitz in steter enger Verbindung mit Psychologie einschl. Psychotherapie, Philosophie und Naturwissenschaften in mehr als zwanzigjähriger Forschung den Weg zur Entdeckung der Seele zurückgelegt. Seine Denkweiseist die biologische: P s y c h o b i o l o g i e hat Lungwitz die neue Wissenschaft genannt. Psychobiologie ist P s y c h o l o g i e a l s b i o l o g i s c h e W i s s e n schaft. Sie beschreibt das gesamte Geschehen, auch das sog. seelische als biologisch. Sie versteht den Menschen als Reflexwesen und gibt im besonderen eine klare Vorstellung von den biologischen Vorgängen im Nervensystem und in der Hirnrinde, die sie als Organ des Bewußtseins auffaßt und deren dreisphärische Gliederung sie mit dem dreifältigen Erleben (Gefühle, Gegenstände, Begriffe — Innenwelt, Außenwelt, Jenseits) in Einklang bringt. Sie hat so das W e s e n d e r A n s c h a u u n g geklärt. Mit der Entwicklung der Hirnrinde entwickelt sich die Anschauung: so ist Psychobiologie E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e d e r A n s c h a u u n g , sie führt die Welt des Embryos, des Kindes, des Erwachsenen, des Greises in den normalen und krankhaften Formen vor Augen. Hierbei werden auch Probleme wie Wesen und Klassifikation der Gefühle, Gegenstände und Begriffe, Bewußtes, Unbewußtes, Erinnerung, Hellsehen, Okkultismus, Suggestion, Hypnose, Schlaf, Traum, Krankheit, Heilung, Gott, jenseits, Ewigkeit, die „letzten Fragen" usw. gelöst. Als Weltanschauung ist Psychobiologie b i o l o g i s c h e P h i l o s o p h i e . Alle Lebens- und Wissensgebiete haben daselbst ihren Platz. Sie ist auch eine Wissenschaft von hoher praktischer Bedeutung. Besonders wichtig ist die Unterscheidung der f i k t i o n a l e n von der r e a l i s c h e n D e n k w e i s e , die mit Erkenntnis, Weisheit identisch ist, in der nicht mehr die Kausalität, der Motivismus, sondern lediglich die Zeiträumlichkeit gilt. Fortsetzung auf der 3. Umschlagseite.

Schule der Erkenntnis.

Erkenntnistherapie für

Nervöse Psychobiologie der Krankheit und der Genesung

Von

Hans Lungwitz Dr. med. et phil., Nervenarzt, Berlin-Charlottenburg

Motto: Eins ist not: Erkenntnisl

BRÜCKE-VERLAG KURT SCHMERSOW, KIRCHHAIN N.-L. 1932

Copyright by Brücke-Verlag Kürt Schmersow Kirchhain N.-L.

Vorwort. Die Frage nach dem Wesen der Seele und damit nach dem Wesen der Dinge ist das Grundproblem, das die Menschen von jeher beschäftigt hat und noch beschäftigt. Bisher weiß nur eine Verhältnismäßig kleine Zahl von Zeitgenossen, daß dieses uralte Problem nunmehr — kein Problem mehr ist. Die Psychobiologie, die Von mir begründete und entwickelte Wissenschaft, hat das Leib-Seele-Problem, wie es sich in der roh-dämonistischen Form der Zerlegung des Menschen in den Leib und die in ihm hausende Seele und in der verdünntdämonlstlschen Form des naturwissenschaftlichen und philosophischen Kausalitätsproblems darstellt, gelöst und somit an die Stelle der bisher giltigen d ä m o n i s t l s c h e n Weltanschauung die r e a l i s c h e , die biologische gesetzt. Die Psychobiologie ist also Weltanschauung, sie ist, des bin ich sicher, die Weltanschauung, die sich unter den Zeitgenossen mehr und mehr ausbreiten wird und der die Zukunft gehört. Somit ist klar, daß in der Psychobiologie alle Gebiete des Erlebens und der Beschreibung ihren biologischen Ort haben, und daß ich als Begründer und Verkünder der Psychobiologie die Pflicht habe, die Allgemelngiltigkeit meiner Lehre wenigstens im Grundsätzlichen nachzuweisen. Richtig, gut und schön, mit einem Worte: gesund ist nur die Lehre, zu der alle Tatsachen zwanglos stimmen, der keine einzige Tatsache widerspricht. Die Psychobiologie hält dieser strengsten und zugleich einfachsten Anforderung stand. Demgemäß habe ich mich nach der Abfassung der ».Entd e c k u n g der Seele", der allgemeinen Darstellung der Psychobiologie (erschienen Dezember 1925, 2. Aufl. 1932, BrückeVerlag), an die Niederschrift der in dem genannten Buche angekündigten speziellen Nachweisungen begeben, mußte aber alsbald sehen, daß sich die Einzeldarstellungen zu einem einheitlichen Werke zusammenschlössen. Von diesem umfassenden Werke, dem „ L e h r b u c h e der P s y c h o b i o l o g i e " , liegen seit etwa zwei Jahren die ersten beiden Bände, betitelt „Die W e l t ohne R ä t s e l " im Manuskript fertig vor. Die beiden letzten Bände sind in Arbeit: es ist dies ein Band „ P s y c h o b i o l o g i e der P e r s ö n l i c h k e i t " und ein Band



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„ P s y c h o b l o l o g i s c h e K r a n k h e i t s l e h r e " , in dem auch die Erkenntnistherapie ausführlich dargestellt werden wird. Bis zur Beendigung des Ganzen und seinem Erscheinen werden noch Jahre ins Land gehen. Daher haben mich meine Freunde seit langem immer wieder aufgefordert, ich möge zunächst eine kurzgefaßte Niederschrift über das Wesen der Neurosen, ihre Systematik und ihre Behandlungsmethoden in Buchform Veröffentlichen. Zwar ist die „Entdeckung der Seele" auch schon „ein Stück Erkenntnistherapie", aber speziell über die Neurosenlehre habe ich bisher nur eine größere Anzahl von Abhandlungen publiziert, die nicht allgemein zugänglich und auf alle Fälle zerstreut sind. Ich hatte eine kurze Zusammenfassung immer wieder zurückgestellt — aus Zeitmangel, aber auch aus der Erfahrung heraus, daß Darlegungen über die neue Lehre, die nicht ausführlich genug sind, leicht mißverstanden werden. Über diese Bedenken hinweg habe ich nun doch die Vorliegenden Grundzüge der psychoblologischen Neurosenlehre niedergeschrieben. Ich betone, daß ich in diesen wenigen Blättern nur Grundsätzliches mitteilen kann. Das ganze Buch ist zwar Erkenntnistherapie, aber es kann kaum mehr als eine Einführung sein, hoffentlich verbunden mit der Anregung für den Leser, die mitgeteilten Tatsachen am eignen Erleben im Sinne einer positiven Stellungnahme nachzuprüfen und sich so zu überzeugen, daß die mitgeteilten Tatsachen — tatsächlich Tatsachen sind. Diese positive, aufbauende Kritik ist von der negativen, zersetzenden Kritik zu unterscheiden (s. S. 93 f.). Es gibt nicht wenige Leute, die unfähig sind, Lehre anzunehmen und irgend etwas, was sie nicht schon selber wissen, also irgend etwas Neues positiv anzuerkennen. Wieviel mehr muß gar eine neue Weltanschauung zunächst auf Widerstand stoßen! Difficile est quieta movere — aber necesse est quieta movere. Die Angst vor dem Neuen ist allgemein-menschlich. Alles Neue wird zunächst bezweifelt, abgelehnt, bekämpft, dann nach und nach anerkannt, falls die allgemeine Entwicklung des Denkens die Richtung einschlägt, die das Neue zeigt; und „das Echte bleibt der Nachwelt unverloren." Weit verbreitet ist aber die neurotische („übertriebene", gewucherte, hypertrophlerte) Angst vor dem Neuen, die nervöse A n g s t v o r der E r k e n n t n i s : diese Nervösen lassen gar nicht „mit sich reden", sie lehnen Von vornherein alles ab, was „über ihren Horizont hinausreicht", — ja sie lehnen die Diagnose, daß sie grundsätzlich ablehnen, ebenfalls a b ; sie sind Geister,



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die stets Verneinen, die über ihre Vorurteile nicht hinauskommen und diese Vorurteile für ausgereifte Urteile halten; sie haben vor dem Neuen Angst wie vorm Tode und verhalten sich so, als ob schon die leiseste Beschäftigung mit einer neuen Lehre lebensgefährlich wäre, — und können auch das wieder nicht einsehen. Sind sie zugleich Schmerzneurotiker, hier in der Form der Streitsucht, Rechthaberei, Brutalität usw., dann setzen sie sich gegen das Neue mit einer Vehemenz, Hartnäckigkeit, Halsstarrigkeit, Spitzfindigkeit und Spitzfintigkeit zur Wehr, als ob wiederum das übermächtige Verhängnis drohe, — und wehren sich so auch gegen die Erkenntnis, daß ihr Verhalten eben so ist, daß sie nicht ehrlich kämpfen, sondern bloß streiten. Und letzten Endes haben sie wenigstens das auszusetzen, daß — nichts auszusetzen ist! Viele Gesunde und Kranke werden also das hier Mitgeteilte nicht gleich zugeben, positiv anerkennen. Wer etwas noch nicht weiß, muß es eben kennen lernen. Daß eine affektmäßige Einstellung gegen das Neue nicht förderlich ist, leuchtet ohne weiteres ein, und so betone ich besonders dem Neurotiker gegenüber, daß nur Lernbereitschaft, unvoreingenommenes sachliches Studium, positiv gerichtetes Nach-, Durch-, ZuEnde-Denken eine erfolgreiche Verarbeitung des Dargebotenen gewährleistet. Noch jeder, der sich mit der Psychobiologle und der Erkenntnistherapie hinreichend beschäftigt hat, ist mein Anhänger geworden. Die Psychobiologle muß eben studiert werden — wie jede Wissenschaft! Hinsehen, ein paar Brocken aufschnappen — und nun schon „urteilen" — das gilt nicht, mag das Vorurteil anerkennend oder ablehnend sein. Die Erkenntnistherapie ist die ärztliche Methode der Psychobiologie. Sie führt den Kranken, speziell den Neurotiker aus allen seinen Zweifeln heraus. Sie arbeitet nicht mit Fiktionen, sondern lehrt sie im Gegenteil als solche erkennen und verlassen. Sie bedarf nicht mystischer Umdunstungen, sondern steht auf dem Boden der reallsch erlebten Tatsachen, der biologischen Tatsachen und beschreibt sie als solche, hat und gibt Erkenntnis. N i e m a n d , der p h i l o s o p h i s c h oder ä r z t lich mit F i k t i o n e n , mit M y s t i k in i r g e n d e i n e m S i n n e a r b e i t e t , h a t das R e c h t , von sich zu s a g e n , er t r e i b e E r k e n n t n i s t h e r a p i e . Der Einwand, es gäbe auch andere Formen und Arten der Erkenntnis, ist hinfällig gegenüber der Tatsache, daß Erkenntnis mit Mystik nichts zu tun hat und daß alle Denkweisen, die in Unkenntnis der Hirnrinden-



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funktion die dämonistische „Seele" fingleren, also „psychologisch" geartet sind, zwangsläufig In Mystik enden, wie sie in Mystik anfangen. Zwischen allen diesen Denkweisen, die je nach der Entwicklungsstufe der Hirnrinde wie natürlich des ganzen Individuums roh- oder verdünnt-dämonistisch sind, und der realischen, der psychobiologlschen Denkweise ziehe ich einen Trennungsstrich, eine Grenzlinie, die freilich fluktuierend ist, aber doch auch als fluktuierend besteht. D i e E r k e n n t n i s t h e r a p i e i s t die zu e i n e r g a n z b e s t i m m t e n Denkweise, zur r e a l i s c h e n A n s c h a u u n g , zur P s y c h o b i o l o g l e g e h ö r e n d e ä r z t l i c h e M e t h o d e und kann niemals zu einer andern Denkweise gehören; sie ist Von allen andern psychotherapeutischen Methoden genau so getrennt wie die reallsche Anschauung von der dämonistischen. Der Nachdruck, den ich auf diese Tatsachen lege, wird verständlich sein, sobald der Leser erfährt, daß wiederholt Versuche gemacht worden sind und werden, die Psychoblologie und die Erkenntnistherapie mit der Psychoanalyse zu vermanschen oder sie zur Konstruktion eigener „Erkenntnistherapien" auszubeuten. Der gesetzliche Schutz des geistigen Eigentums liegt freilich noch sehr im argen; indes gibt es so etwas wie eine gute Sitte auch im künstlerischen und wissenschaftlichen Leben, und zu dieser guten Sitte gehört es, das Eigentumsrecht eines Autors an seiner Lehre und Methode und Ihren Termini anzuerkennen und zu respektieren. Wer also eine eigene Lehre oder Methode aufstellt, soll sie auch mit einem eigenen Namen bezeichnen und soll sich nicht mit fremden Federn schmücken, auch nicht fremdes Gut sich „zu eigen machen", ohne ehrlich die Herkunft anzugeben. Abgesehen von diesen mehr persönlichen Dingen — es wird mit der mißbräuchlichen Übernahme der wesentlichen Terminologie eines Autors in eine andere Lehre oder Methode eine Trübung gestiftet, In der sich vielleicht für den Nachahmer gut fischen läßt, gegen deren Anrichtung aber jeder ehrliche Mensch protestieren wird. Besonders bedenklich Ist eine solche Übernahme, sofern es sich um eine Verbalhornung der ursprünglichen Methode handelt. Und da muß Ich betonen, daß es nur e i n e E r k e n n t n i s t h e r a p i e gibt und geben kann, eben die m e i n i g e , die zur Psychoblologie, zur realischen Denkweise gehörige, und daß irgendeine andere ähnliche Methode, mag sie der meinigen noch so sehr nachempfunden sein, zum mindesten vermischt ist mit mystischen, dämonistischen, flktlonalen Ingredienzien, also eine Verunreinigung, eine Verbalhornung der Erkenntnistherapie Ist und weder



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sittlich noch sachlich den Namen Erkenntnistherapie zu führen berechtigt ist. E b e n s o w e n i g i s t j e m a n d b e r e c h t i g t , zu s a g e n , er ü b e die E r k e n n t n i s t h e r a p i e a u s , d e r sie n i c h t bei m i r g e l e r n t h a t u n d n i c h t v o n mir a u t o risiert ist. Das vorliegende Buch ist in erster Linie für Ä r z t e bestimmt. Ich möchte die Kollegen noch mehr als bisher für diese neue Methode der Neurosenbehandlung interessieren. Bei der weiten Verbreitung der Neurosen (s. S. 122 f.) ist eine relativ kurzdauernde Behandlungsmethode, die zur Heilung im eigentlichen Sinne, nicht bloß zu vorübergehender Milderung der Beschwerden führt, ein Bedürfnis, und auch die Kollegen, die nicht Nervenärzte sind, werden die psychobiologischen und erkenntnistherapeutischen Tatsachen im Rahmen ihrer Tätigkeit fortgesetzt gut verwerten können. Übrigens stehe Ich den Kollegen, die die Erkenntnistherapie erlernen wollen, gern zur Verfügung. Sodann ist das Buch für die G e s u n d e n bestimmt. Die Einsicht in die biologische Struktur und Funktion der Persönlichkeit schärft die Menschenkenntnis (die Selbst- und die Fremderkenntnis) und Ist mit einer Selbstentwicklung sowie mit einer Mehrung des Verständnisses für die Verhaltensweisen der Mitmenschen, besonders auch der Neurotiker verbunden, führt somit zu einer Milderung der Gegensätze, zu einer Harmonisierung des Zusammenlebens, zu einer biologischen Einschmelzung der Einzelnen in die Gemeinschaft — ja ist hierfür geradezu unerläßlich, sofern man unter Gemeinschaft nicht bloß die mosaikartige mechanische, unorganische Gruppierung, sondern die biologische Vereinheitlichung der Teile zu einem Ganzen, die wahre Gemeinschaft versteht. Und dann ist natürlich das Buch für die N e r v ö s e n , die N e u r o t i k e r bestimmt. Ich bin nicht für Geheimniskrämerei. Ich bin nicht dafür, daß man dem Neurotiker „weiß macht", er sei „kerngesund" und Neurose gäbe es eigentlich gar nicht. Im Gegenteil: der Neurotiker soll erfahren, daß und Inwiefern er krank ist, auch für ihn ist Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung. Ich bin dessen gewiß, daß die hier gegebenen Mitteilungen dem Neurotiker gute Dienste leisten werden, falls er sie gehörig studiert und Verarbeitet. Die Wahrheit kann niemals schaden. Auch in der Erkenntnistherapie wird dem Kranken die Wahrheit gesagt. Jede Kon-



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Zession an die Schwäche ist ein irreparabler Verstoß gegen die Methode. Der Kranke soll ja eben aus seiner Schwäche, d. i. seiner Krankheit herauskommen. Man soll auch nicht Starrheit mit Straffheit, Gespreiztheit mit Adel, Gewalt mit Kraft, Herrschsucht mit Herrentum, Rechthaberei mit Rechthaben usw. verwechseln, jene neurotischen Haltungen sind geblähte Schwäche, nur der Gesunde ist echt. Der Leser möge aber nicht glauben, daß die wenigen Blätter die ganze Erkenntnistherapie oder gar die ganze Psychobiologieseien. Wirbrauchen ja in der Erkenntnistherapie mehrere Wochen tüchtiger Arbeit zur Bewältigung des ganzen Stoffes. Aber der Leser findet doch eine Fülle von heilsamen Angaben und Hinweisen, viele auch „zwischen den Zeilen", falls er nachdenkt. Somit möchte ich das kleine Buch als ein Lese- und Lernbuch für Nervöse bezeichnen. Es ist ein Gliedinder Reiheder Veröffentlichungen, die ich zusammen mit meiner erkenntnistherapeutischen Praxis, meiner Vortragstätigkeit sowie der Vereinigung meiner Anhänger „Schule der Erkenntnis" genannt habe. Berlin-Charlottenburg, im Oktober 1932.

Hans

Lungwitz,

Inhalt. Seite

Vorwort

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1. K a p i t e l . Vom Wesen der N e u r o s e 2. K a p i t e l . Die N e u r o s e als I n f a n t i l i s m u s

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3. K a p i t e l . Die S t r u k t u r der g e s u n d e n E r l e b n i s s e . . . . 4. K a p i t e l . Die S t r u k t u r der n e u r o t i s c h e n E r l e b n i s s e . .

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Figur 1: das normale Erlebnis Figur 2: das hungerneurotische Erlebnis Figur 3: das angstneurotische Erlebnis Figur 4: das schmerzneurotische Erlebnis Figur 5: das trauerneurotische Erlebnis Figur 6: das freudeneurotische Erlebnis 5. K a p i t e l . Zur D i a g n o s e

49 50 60 84 106 113 122

6. K a p i t e l . Die B e h a n d l u n g d e r N e u r o s e n A. Allgemeines über Heilung und Heilmethoden B. Psychotherapie 1. Die Suggestion 2. Die Psychoanalyse a) Die Libidotheorie b) Zur therapeutischen Methodik c) Heilung? d) Die „Individualpsychologie" 3. Die Erkenntnistherapie

129 . .

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1. K a p i t e l .

Vom Wesen der Neurose. Ein nervöser, neurotischer Mensch — was ist das für einer ? Was fehlt ihm eigentlich? Gesund Ist er offenbar nicht, aber als Krankheit gilt die N e r v o s i t ä t , die N e u r o s e (Neur a s t h e n i e und H y s t e r i e ) doch eigentlich nur bei den Ärzten und bei den Nervösen (und auch noch nicht einmal bei allen) x ). Man nimmt im allgemeinen die Beschwerden und Klagen des Nervösen nicht allzu ernst, ja nicht selten macht man sich darüber lustig, lacht den „eingebildeten Kranken" aus, gibt Ihm den „guten Rat", er solle sich nur zusammennehmen, er müsse seine „Selbstbeherrschung" üben, mit „festem Willen" gehe es schon, man „schnauzt" ihn wohl auch an — und meint gar, ihm sei geholfen, wenn er sich nun nicht mehr über seine Leiden äußert, sondern sie stumm erträgt. Nervösen Kindern suchen unverständige Leute mit Härte, Strafen und Prügeln beizukommen—als ob die Kranken für ihre Krankheit bestraft werden müßten, als ob sich jemals eine Krankheit wegprügeln lassen könnte, als ob nicht vielmehr die Nervosität bei solcher „Behandlung" nur noch schlimmer würde! Freilich, grobe körperliche Veränderungen sind nicht vorhanden, man sagt, der Nervöse sei o r g a n i s c h g e s u n d , also muß die Nervosität wohl eine Art s e e l i s c h e r B e s o n d e r h e i t sein, an der gewiß, so glaubt man, niemand stirbt, die man also auf die leichte Schulter nehmen könne oder müsse, die Viele Nervöse g e n i e r e n s i c h ( h a b e n A n g s t ! ) d a v o r , i h r e N e r v o s i t ä t z u z u g e b e n ; sie wollen lieber organisch krank sein oder behaupten, überhaupt nicht krank zu sein. Solche Kranke erhalten bei Laien und Ärzten, die keine hinreichende Einsicht haben, Bestätigungen, — die sie freilich nicht von ihrer Nervosität befreien können. Es gibt viele „ E i n g e b i l d e t - G e s u n d e " , und es ist schwer mit ihnen umgehen. Die Angst des Nervösen, seine Nervosität zuzugeben, ist ein Symptom seiner Krankheit — und nicht das leichteste. Die Befreiung aus dieser Kampfhaltung, die Erkenntnis, krank zu sein und gesund werden zu können, ist für solche Nervöse schon ein bedeutender Schritt zur Genesung. Der Unfug aber, Nervösen „weißzumachen", sie seien gar nicht krank, und die Dummheit, zu glauben, man könne den Nervösen auf diese Weise heilen, kann gar nicht scharf genug zurückgewiesen werden.



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der Kranke mit seinem „Willen" unterdrücken könne und solle, die dem Kranken „ausgeredet" werden könne oder müsse (Suggestion, Autosuggestion, Überredung usw.). Und die Versicherung des Nervösen, daß seine Beschwerden äußerst quälend seien, ihm das Leben verbittern, ja zerstören können, glaubt man mit einem Lächeln oder bestenfalls mit ermunternden Redensarten abtun zu können. Die Verständnislosigkeit gegenüber dem Nervösen ist in der Tat noch immer sehr groß. Wer aber viel mit Nervösen zu tun hat und ihrer Persönlichkeit ein ernstes Interesse widmet, weiß, daß ihre Beschwerden keineswegs leichter zu ertragen sind als organische Symptome, ja daß sie oft, namentlich bei den ausgeprägteren Formen der Neurose, sehr viel peinigender sind, zumal dem Nervösen das Bewußtsein eines seltsamen Zwanges, einer allem Nachdenken trotzenden Rätselhaftigkeit, einer verhängnisvollen, aller Fluchtversuche spottenden Hartnäckigkeit, einer geradezu dämonischen Ubermacht der Symptome keineswegs fehlt, zur Krankheit selber sich also die Erfahrung gesellt, daß mit „gutem Willen", mit allen Anstrengungen gar nichts gegen sie auszurichten ist. Was ist's denn nun mit der Nervosität ? Was heißt es z. B.: Ich kann nicht schlafen; ich kann meine Gedanken nicht zur Ruhe bringen. Ich kann nicht über die Straße gehen, es sei denn mit einem Führer (der ein kleines Kind sein kann!), ja ich kann nicht einmal das Haus, das Zimmer allein verlassen und habe selbst im Zimmer noch Angst. Ich kann nicht in die Bahn einsteigen und „komme beim Fahren (bes. auf längerer Strecke) um vor Angst", möchte mich hinausstürzen. Es kostet mich schwere Uberwindung, an den Fernsprecher zu gehen, und manchmal gelingt es überhaupt nicht, da muß ich mich Verleugnen lassen, also blamiere mich vor dem Angestellten, muß lügen, was mich wiederum peinigt... Meine Schüchternheit mit Erröten, Gliederzittern, Schweißausbrüchen, Herzklopfen, Bauchangst . . . bringt mich noch zur Verzweiflung . . Es ist für mich eine furchtbare Qual, meine Unterschrift leisten zu müssen, besonders wenn jemand darauf wartet, Zahlenreihen zu addieren, öffentlich aufzutreten, Hausarbeit zu machen, eine Minute still zu sitzen, jemand anzusehen oder angesehen zu werden, jemand zu begegnen, angesprochen zu werden, mich Vorzustellen, eine Verabredung innezuhalten (Terminangst), in einen Vollen Saal (Hörsaal, Theater, Kino) einzutreten, in der Mitte, bei Tisch, in Gesellschaft zu sitzen, mit dem Weinglase anzustoßen . . .



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Im Unterricht peinigt mich ein unerträgliches Jucken — und ich muß diesem Zwang widerstehen . . abends im Bett kratze ich mich am ganzen Körper blutig . . . Beim Schreiben krampfen sich die Finger derart zusammen, daß der Bleistift herausgedreht wird (Schreibkrampf) . . . Jede offene Note bringt mich beim Violinspiel in furchtbare Erregung, die Hände zittern derart, daß ich nicht weiterspielen kann, ich muß meinen Beruf als Kapellmeister aufgeben Warum kann ich mich zu keiner Arbeit entschließen, welch unheimlicher Dämon schiebt mir fortwährend andere Dinge in den Sinn? Wie kommt es bloß, daß ich trotz allen Gegenwillens immerzu über ein bestimmtes Thema grübeln, einen Gedanken, eine Melodie zwanghaft fortwährend wiederholen muß, daß in der Vorlesung, beim Vortrag die Gedanken Irrlichtern („du wirst steckenbleiben" usw. — vgl. Lampenfieber), daß ich mich und andere unablässig nach lächerlichsten Dingen fragen, an allem zweifeln, alles peinlichst und doch ohne befriedigendes Ergebnis bedenken muß, daß die Gedanken wie weggeblasen sind, wenn ich sie am nötigsten brauche (Gedächtnisschwäche) ? . . . Wenn ich mich doch entschließen könnte, mich der heimlich Geliebten zu erklären! — aber jedesmal, wenn die Gelegenheit günstig ist, packt mich die kalte Angst. Und das junge Mädchen wird älter und älter, verzehrt von Liebessehnen — und flieht Vor jeder Annäherung, vor dem Alleinsein mit dem heimlich Geliebten — und weiß nun nicht, ob sie untauglich oder zu gut für Liebe und Ehe sei . . . Was bedeuten die ewigen Kopfschmerzen, der Kopfdruck, das „Band um den Kopf", das „Stechen auf der Schädelplatte", die Schwindel- und Ohnmachtsanfälle, die Migräne, die Beklemmungen, die Stimmschwäche, das Asthma, das Stottern, das jagende Herzklopfen, die innere Unruhe, die Rauch-, Trink-, Eßängste, der „Kloß im Halse",, die Verdauungsbeschwerden (Übelsein, Magen-, Leberdrücken auch anfallsweise wie Gallensteine auftretend, Verstopfung, Durchfälle, Blinddarmschmerzen, das „Gürtelgefühl", usw.), die sonderbaren Spannungen im Unterleib, das „Zittern und Greifen im Gedärm", das „ewige Klopfen im ganzen Körper", die Nierenkrämpfe, die Blasenschwäche, die Krämpfe und Schmerzen an diesem oder jenem Organ, die Last der Menstruation mit ihren Beschwerden, die Unfähigkeit zum Liebesgenuß (Impotenz), die absonderlichen zwanghaften Neigungen in Liebe und Beruf ? Warum kann ich ohne Schlafmittel, ohne Narkotika (Morphium, Cocain, Alkohol usw.) nicht mehr leben — trägt nicht der Arzt die Schuld, der mir „damals"



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das Schlafmittel verordnete, oder der Apotheker, der es mir als „ganz harmlos" freihändig verkaufte? . . . Welcher Dämon zwingt mich, jeden rostigen Nagel, jede Brotrinde aufzuheben und mir mit solchem Zeug die Taschen vollzustopfen? . . . Welcher Teufel sitzt in mir und Verführt mich dazu, an sich wertlose Gegenstände zu stehlen? . . . Werden die Hände niemals rein, trotzdem ich sie nun schon zwanzigmal hintereinander gewaschen habe (Waschzwang — eine Art Pendant zur Wasserscheu)? . . . Warum zehnmal zur Tür umkehren, mich zehnmal überzeugen müssen, daß sie verschlossen, obwohl ich doch genau weiß, daß es der Fall ist? Und zehn-, zwanzigmal muß ich zum Briefkasten zurückgehen und nachsehen, ob mein Brief auch wirklich durch den Schlitz gefallen ist! Und das Zubettgehen: eine gute Stunde verbringe ich mit allerlei unnützem Zeremoniell (bestimmtes genaues Hinlegen der Kleider, Anordnung der Dinge auf dem Nachttisch, Spaziergang um den Tisch herum und dann rasches Hinwerfen der Kleider . . . ) , und doch ist es unentbehrlich zum Einschlafen — die ganze Nacht liege ich wach, wenn Ich ein winziges Glied der Kette vergessen haben sollte — und darüber nun wieder muß ich grübeln und grübeln (wenn ich nun doch etwas vergessen hätte, was dann?!) . . . Warum rege ich mich bei jeder Kleinigkeit auf, gebe spitze, zornige Antworten, bekomme Wutanfälle, auf die im nächsten Moment tiefe Reue folgt? Warum halte ich mich jetzt für ein ganz geringfügiges Geschöpf und gleich darauf für eine überragende, geradezu göttliche Persönlichkeit — was von beiden trifft z u ? Warum bin ich immer allein, ausgestoßen, gemieden, mißverstanden — Ich meine es doch so gut und doch fliehen mich die Leute (oder ich sie?), habe ich bei allem Fleiße überall Mißerfolg, mache mich lächerlich, sehe es den Leuten an, „fühle es", daß sie sich über mich lustig machen (weshalb wohl? wohl wegen des Vorstehenden Schlüsselbeins oder der „Salznäpfchen" darüber oder der scheußlichen Stupsnase oder der entsetzlichen krummen Beine) ? . . . Ach und die vielen Schmerzen: bald reißt, schneidet, bohrt es da, bald dort — da müssen ja schlimme organische Krankheiten am Werke sein — oder welche Dämonen sonst suchen mich heim: am Magen, am Blinddarm, am Unterleib, am Herzen, am Kopf, am Hüftnerv, an den Rippen, allen Vorstehenden Knochen . . Neuralgie, Rheuma, „Harnsäure", Magengeschwüre, „Dünndarmgeschwürchen", Entzündungen . . . ? Das ganze Leben ist „ein großer Schmerz", mit „allen" Dingen und Menschen bin ich stets im Gefecht (und mit mir selber auch), stets gereizt,



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bissig, überempfindlich, gespannt auf der Hut, daß mir ja nichts passiere („überspannt" sagen die andern), somit allen Gefahren gewachsen — und weiß doch nicht, ob ich somit „allem" überlegen oder umgekehrt zu schwach bin, den Ansprüchen des Daseins zu genügen. Oder sind es „seelische" Schmerzen, mit denen ich gepeinigt werde nach der Formel „wen Gott lieb hat, den züchtigt er" und die mir im Jenseits vergolten, als „Nachfolge Christi", als „Leidensweg", als „gute Werke" angerechnet werden? Oder liegt — als Fluch für die Schuld der früheren Geschlechter? — ein unbegreiflicher, unerforschlicher Schicksalsspruch auf mir, daß ich so leide, die Welt fliehe, ein einsamer, tief trauriger, ewig verstimmter, unzufriedener, zerrissener, unglücklicher, verfolgter, rast-, ruhe- und ratloser Mensch bin, der selbst vor den kümmerlichen Freuden der Tage sich ängstlich hüten muß? Die Symptomatologie der Neurose ist unerschöpflich: alle B e w u ß t s e i n s e r s c h e i n u n g e n k ö n n e n k r a n k h a f t a u f t r e t e n . Was ist das W e s e n d e r N e u r o s e ? Ich sagte oben, daß die Neurose (Nervosität, Neurasthenie, Hysterie) in der Hauptsache als „seelische" Krankheit angesehen wird — abgesehen Von den überaus zahlreichen sog. Organneurosen, also nervösen Organkrankheiten, die der Laie und auch mancher nicht hinreichend erfahrene Arzt für organische Leiden zu halten geneigt ist, entsprechend der materialistischen Einstellung unserer Zelt und der weitverbreiteten Unkenntnis, daß Organe (also Lunge, Herz, Magen, Darm, Leber, Niere, Blase, Zeugungsorgane, Drüsen usw.) überhaupt nervös (d. h. funktionell) erkranken und so Symptome aufweisen können, wie wir sie auch bei organischen Krankheiten antreffen. Man deutet die nervösen Symptome gewöhnlich als innerseelische Vorgänge oder als Auswirkungen der Seele ( P s y c h e ) , o h n e i h r W e s e n zu k e n n e n ; man spricht andauernd von Seele, weiß aber nicht im geringsten, was man sich darunter vorstellen solle. Mag man das Wort „Seele" naiv oder wissenschaftlich gebrauchen, In jedem Falle ist das Wort der Name für ein rätselhaftes „Wesen Im Wesen", ein mystisches Materiell-Immaterielles, das im Menschen wohne und sein besonderes Leben führe, — ein X, das zwar in mannigfachen Zusammenhange mit dem Leibe stehe, aber seiner Natur nach eben unerforschlich sei (ein Bequemlichkeitswort, das immer sich zur rechten Zeit einstellt, wo die Wissenschaft nicht mehr weiter weiß). Mit dem Worte „unerforschlich" kann man auch die peinliche Frage umgehen, wie man denn überhaupt dazu komme, gewisse Erscheinungen als seelische 2



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oder seelischen Ursprungs, als psychisch oder psychogen von den körperlichen zu unterscheiden, inwiefern eine solche Klassifizierung überhaupt berechtigt sei, inwiefern man von der angeblich unerforschlichen Seele etwas wisse, ja überhaupt ihre Existenz behaupten könne — wo sie doch unerforschlich sein solle, also doch auch nicht soweit erforschbar sein könne, daß man ihre Existenz zu behaupten, berechtigt sei. Die Psychobiologle erst hat erkannt, daß es sich bei der Angabe „seelische Auswirkungen" usw. lediglich um eine D e u t u n g handelt, die ausgeht von der primitiven Zerlegung des Menschen in Leib und Seele als ein dämonisches Wesen, das irgendwo Im Leibe sitze und seine Funktionen lenke und leite und heute noch auch in der Wissenschaft grundsätzlich gilt, mag sie auch für diesen Dämon naturwissenschaftliche Bezeichnungen gewählt haben (Kräfte, Ursachen usw.). J a man zerdeutet „die Seele" weiterhin in ein Heer von Mächten, die sich gegenseitig befehden, besiegen, unterdrücken usw. könnten — und die doch nun wieder dem „Willen" unterworfen seien, von ihm beherrscht werden müßten usw., wobei nun freilich wieder die Frage nach dem Wesen des Willens unbeantwortet bleibt oder mit dem Schlagwort „unerforschlich" umgangen wird. Von diesem Standpunkt der Unklarheit darüber, was man denn eigentlich beschreibt, gehen auch alle Heilmethoden aus, die mit Suggestionen, Hypnose, Autosuggestionen, Ermunterungen, Willensstärkungen, Ansprüchen auf Selbstbeherrschung usw. arbeiten. Man behauptet, daß „das Bewußtsein" des Menschen gegen die „seelischen Mächte", etwa die, die aus dem „Reiche des Unbewußten" (wohin sie „verdrängt" seien) aufsteigen, ankämpfen könnte und daß dieser „Sieg über sich selbst" auch im Sinne der Genesung der „schönste Sieg" sei . . . Dies obwohl jeder einzelne Nervöse bei hinreichender Einsicht in seine Erlebnisweisen immer wieder betonen muß, daß das Wegzaubern der Symptome auch „mit dem besten Willen" nicht gelingt; man versuche doch einmal, der Migräne oder des Asthmas oder der Redeangst (Kanzel-, Kathederangst usw.) oder der Nervenschmerzen mit dem angeblichen „Willen" Herr zu werden! Suggestiv, d. h. als Ablenkung mag man zu einer vorübergehenden Erleichterung namentlich von Schmerzen kommen, aber das ist doch kein Willensakt und obendrein keine Hellung. Die P s y c h o l o g i e und die N e u r o l o g i e haben die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Neurose nicht geben können. Erst die P s y c h o b i o l o g l e , die von mir begründete



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und entwickelte Wissenschaft, hat auch dieses Problem gelöst; sie hat eben das Leib-Seele-Problem gelöst, um dessen Lösung sich die Jahrtausende Vergeblich bemüht haben. Die Neurose hat mit irgendwelcher Mystik gar nichts zu tun. Sie ist nicht die „normale Reaktion der Seele" auf eine angeblich abnorme Umgebung, und an die Dämonen, die angeblich Im Leibe oder gar nun „in" der Seele ihr Wesen oder Unwesen treiben und in neueren Theorien zu seelischen Kräften, Libidobesetzungen, psychischen Instanzen usw. umgetauft worden sind, brauchen wir, die wir w i s s e n , nicht mehr zu g l a u b e n . Wir reden demgemäß dem Nervösen auch nicht mehr gut zu, er solle seine Konflikte, seine Beschwerden usw. nur mit festem Willen unterdrücken, er solle sich ablenken, nicht daran denken (als ob das der Kranke machen könnte, wie „er wolle", und als ob es eine Heilung sei, an die — dabei doch noch weiter bestehende — Krankheit nicht zu denken!); wir geben keinerlei Suggestionen, auch keinerlei Medikamente, kein warmes oder kaltes Wasser, keine Elektrisationen usw. als angebliche Heilmittel, an die der Kranke „glauben" müsse, um „gesund" zu werden. Unser Weg, der Weg der Erkenntnistherapie ist ein ganz anderer, er ist der eines ärztlich-philosophischen Unterrichts, wobei der Kranke Wesen und Sinn seines Leidens einsehen und an Stelle der dämonistischen Deutereien, der Fiktionen die realische Erkenntnis gewinnen lernt, wie sie die Psychobiologie gefunden hat und lehrt. Wir halten uns allenthalben und unverbrüchlich an die klaren, bündigen, unbestreitbaren biologischen Tatsachen sowohl in der Erkennung des Wesens der Neurose, der Krankheit überhaupt wie der Methode, die zur Hellung führt. Im folgenden werde ich kurz zusammenfassend dartun, daß die bisher sogenannten „ p s y c h i s c h e n V o r g ä n g e " gar nichts weiter als bi ol o gi sc h e sind, daß also die sog. Psychologie recht Verstanden eine biologische Wissenschaft ist und Psychobiologie heißen muß; ferner daß das Wort „Seele" oder „Psyche" nur noch gelten kann in der Beschreibung der Anschauung, die Funktionseigentümlichkeit der Hirnrindenzellen ist und auch als Gegensätzlichkeit Subjekt: Objekt, Seele: Leib, Nichts: Etwas, Nichtseiendes: Seiendes usw. bezeichnet werden kann, so daß Seele und Nichts synonym sind, daß Seele Identisch mit N i c h t s ist. Der m e n s c h l i c h e O r g a n i s m u s i s t e i n e b i o l o g i s c h e K o m b i n a t i o n v o n R e f l e x s y s t e m e n . Ein Reflexsystem setzt sich zusammen aus der oberflächlichen Empfangsstation 2*



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des sog. Reizes 1 ), der zentralwärts leitenden (sensibeln) Nervenstrecke, der zentralen Nervenzelle mit der ableitenden Nervenfaser und dem Ausdrucksorgan (Muskel-, Drüsenzelle, Bindegewebe in den mannigfachen Differenzierungen). W e i t e r f i n d e t sich a m O r g a n i s m u s n i c h t s v o r . Die Reflexsysteme (Persönlichkeitsanteile) gruppieren sich in die t r o p h i s c h e n ( e r n ä h r e r i s c h e n , b e r u f l i c h e n ) und die genischen ( z e u g e r i s c h e n ) ; erstere sind vorwiegend den Ernährungsorganen (Magen-Darm mit Anhängen wie Leber, Bauchspeicheldrüse usw., Atmungsapparat und Herz-Gefäß-Nierensystem), letztere vorwiegend dem Zeugungsorgan zugehörig. Indes sind beide Gruppen mannigfach miteinander verbunden, so daß genlsche Reflexsysteme auch zu den Ernährungsorganen, trophische auch zu den Zeugungsorganen gehören. Die Nervenzentren liegen außerhalb und innerhalb des Zentralnervensystems, also des Rückenmarks und Gehirns einschl. der Hirnrinde. Der R e f l e x a b l a u f i s t e i n r e i n b i o l o g i s c h e r V o r g a n g : im Nerven verkehrt der N e r v e n s t r o m (Aktionsstrom), von mir aus philosophischen Ableitungen „ E r o n e n s t r o m " genannt. Es werden also von den antennenartigen Empfangsstationen „Paßformen" aufgenommen, wanderndurch die Reflexbahn, die über das Rückenmark oder das Gehirn, auch über die Hirnrinde führt, und werden in Form der Funktion der Muskeln, Drüsen usw. „ausgedrückt", abgegeben (Eronenlehre). Wir unterscheiden das s y m p a t h i s c h e Nervensystem, das die innern Organe versorgt, und das s e n s o r i s c h e Nervensystem, das die Skelettmuskeln innerviert. Es zeigt sich also, daß die früher sogenannten „psychischen Vorgänge" einfach und schlicht biologische sind und gar nichts weiter. Genaue Mitteilungen über diese Dinge finden sich in meinem Buche „Die Entdeckung der Seele, Allgemeine Psychobiologie" und dann im „Lehrbuch der Psychologie". Nun weiter: Die H i r n r i n d e i s t d a s O r g a n d e s B e w u ß t s e i n s . Ihre wesentlichen Elemente sind Nervenzellen, Die Psychobiologie ist nicht mit der russischen P a w l o w - B e e h terewschen Reflexologie zu verwechseln. Ich habe diese Lehre erst lange der Entwicklung der meinigen kennen gelernt Es besteht die grundsätzliche Ubereinstimmung in der Auffassung des Menschen als eines Reflexwesens. Das ist viel, aber das ist auch alles. Was zu dieser Grunderkenntnis von der Reflexologie theoretisiert wird, gehört — wie die psychoanalytische Theoretik, die sich mit jener gegenseitig bestätigt, — ins Reich der unbeschränkten Möglichkeiten und kann auf Exaktheit, auch auf die Exaktheit des logischen Denkens (mit dem Ergebnis der logischen Evidenz) keinen Anspruch erheben. Siehe Verzeichnis meiner Arbeiten am Ende dieses Buches.



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in die der von der Peripherie ankommende Eronenstrom aufgenommen wird und aus denen weiterhin der Eronenstrom zu den Ausdrucksorganen fließt. Die Funktion der einzelnen Reflexsysteme verläuft p e r i o d i s c h , in einer ansteigenden und abfallenden Kurve, und weiterhin ist die Funktion jedes Reflexsystems, also auch jeder Nervenzelle s p e z i f i s c h . Hat eine Hirnrindenzelle (von mir „ D e n k z e l l e " genannt) ihren Funktionshöhepunkt erreicht, so findet daselbst im Zellkern ein spezifischer biologischer Vorgang, eine Art Zeugungsprozeß s t a t t : die Vereinigung eines positiven (männlichen) Partners mit einer negativen (weiblichen) Hauptsubstanz, und eben hierbei, auf dem Höhepunkte der Vereinigung erscheint als spezifische Funktionseigentümlichkeit der positive Partner als das B e w u ß t e , d a s O b j e k t , die A k t u a l i t ä t . Dieser Funktionshöhepunkt ist die Spitze einer Kurve und hat somit weder Dauer noch Ausdehnung. Indem aber jeweils immer nur eine Denkzelle „aktuell" funktioniert, dann die andere usw., geht die eine Aktualität in die nächste über, reiht sich das Bewußte aneinander, ist d a s B e w u ß t e i m m e r a n d e r s u n d z w a r S y m b o l x) a l l e s B e w u ß t e n , b i o l o g i s c h e Summe aller möglichen A k t u a l i t ä t e n aller Denkz e l l e n , die ja auch alle miteinander direkt oder indirekt verbunden, „assoziiert" sind. So kommen wir zu dem Satze: d e r M i k r o k o s m o s i s t (biologisches) S y m b o l d e s M a k r o k o s m o s , im Einen stellt sich symbolisch das Ganze dar. Auch aus der unmittelbaren Erfahrung ist die Erkenntnis zu gewinnen, daß d a s O b j e k t d e m S u b j e k t p o l a r g e g e n ü b e r s t e h t . Das Subjekt ist eben „die Seele", und es ist das Nichtseiende, sofern wir das Objekt als das Seiende bezeichnen, das Nicht-Faßbare, Nicht-Beschreibbare, Nicht-Sichtbare usw. gegenüber dem Faßbaren, Beschreibbaren, Sichtbaren usw., kurz: das Nichts gegenüber dem Etwas. Es zeigt sich auch in jedem Falle, daß das Etwas niemals „in" ein anderes Etwas, sondern immer nur zwischen die Teilchen, zwischen denen eben „nichts" ist, eindringen kann; ein fallender Stein fliegt „durch" die Luft, zwischen den Luftteilchen hindurch, nicht aber in die Luft als solche, als Substanz, Etwas hinein. Diese Erkenntnisse treffen natürlich auch für die Hirnvorgänge, also auch für den spezifischen Prozeß in der einzelnen Denkzelle (wir haben deren einige Milliarden) zu. Somit ist die A n s c h a u u n g g l e i c h G e g e n s ä t z l i c h k e i t , die man eben, wie angeführt, verschieden bezeichnet, auch als negativ: positiv, ffunßdUeiv zusammenwerfen.



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weiblich: männlich usf. Ich benenne sie mit dem griechischen Worte Eros, das eigentlich auch nur (genau wie lat. sexus, Sexualität) Gegensätzlichkeit benennt und somit als einheitliche Bezeichnung für das genische wie für das trophische Geschehen, für Liebe und Ernährung (einschl. Beruf) gelten kann 1 ). Die Anschauungseinheit, also der Einzelfall der Subjekt: Objekt-Beziehung, das einzelne Bewußte und das Negative als polarer Gegensatz heißt hiernach E r o n und ist Individuum schlechthin, unteilbar: das Objekt kann niemals für sich allein existieren, sondern immer nur in gegensätzlicher Zugleichheit mit dem Subjekt. Auch hierüber Genaues in dem gen. Werke; Im Sinne der Erkenntnistheorie ist die psychobiologische Lehre bis in alle Einzelheiten nachgeprüft und bestätigt. Es gibt schlechterdings keine Tatsache, die meiner Lehre widerspräche, die sich nicht zwanglos in das Ganze einordnete. Ich betone das gegenüber jeglicher Kritik; Tatsachen lassen sich bekanntlich nicht ablehnen, sie bleiben bei jeglicher Stellungnahme eben Tatsachen. DiePsychobiologie kann nur ablehnen, wer die Tatsache« ungenügend kennt oder wähnt, man könne Tatsachen phraseologisch wegdisputieren oder mit Affekturteilen (Angst vor der Erkenntnis, Neid, Eifersucht usw.) umstoßen. Das Bewußte ist also Funktionseigentümlichkeit der Denkzellen. • „Das U n b e w u ß t e " ist Bezeichnung für alle Funktionsstufen, die unterhalb der Höhe der aktuellen Funktion liegen; diese Höhe ist ja eben nur ein Punkt, der Gipfel der Funktionskurve. Aktuell funktioniert jeweils immer nur e i n e Denkzelle, alle andern Zellen funktionieren dabei unaktuell, unbewußt. „Das Unbewußte" Ist also n i c h t e i n m y s t i s c h e s S e e l e n r e i c h , in das, wie F r e u d u. a. lehren, allerlei dem Bewußtsein Peinliches „verdrängt" würde und allerlei seelische Kräfte ihr Spiel treiben — und wie diese Phantasien, diese allemal dämonistischen Deutungen lauten mögen. Die Sache ist viel einfacher. D i e E r k e n n t n i s v o n der biologischen F u n k t i o n der D e n k z e l l e n löst alle P r o b l e m e des b e w u ß t e n E r l e b e n s und d e r u n b e w u ß t e n V o r s t u f e n , also auch die Probleme des Schlafes, des Traumes, der Suggestion, der Hypnose, der Halluzinationen, Visionen, des Hellsehens, des Okkultismus usw., darüber hinaus die Probleme, die man die „ l e t z t e n F r a g e n " nennt: Leben, Tod, Diesseits, Jenseits, Unsterblichkeit, Ewigkeit, Gott — *) Mein Terminus „ E r o s " oder „Sexualität" ist also nicht mit „ L i b i d o " sinnidentisch (s. S. 142 f.).



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jene Probleme, die allesamt Aufsplitterungen des einzigen, des zentralen Problems der Menschheit sind: des Problems der Herkunft, der Kausalität 1 ). Wer die Psychobiologle hinreichend kennt, für den bleibt kein Zweifel mehr übrig, und so ist die Psychobiologle und die zu ihr als ärztliche Methode gehörende Erkenntnistherapie der einzige Weg, aus allen Zweifeln und Nöten erlöst zu werden und die wahre Gesundheit zu erlangen. Die klare, p r ä z i s e , zwei fei f r e i e E r k e n n t n i s i s t die e i n z i g e L e b e n s f o r m , die d e n h e h r e n N a m e n „Gesundheit" Verdient, und die p s y c h o b i o l o g i s c h e Lehre ist die einzige, die dieseEr k e n n t nis hat und lehrt. Was aber sind die G e f ü h l e und die B e g r i f f e (Erinnerungen, begrifflichen Vorstellungen, auch die Wortbegriffe, die sog. „innere Sprache") dem Wesen nach? Sind sie nicht gerade das, was man als „seelisch" bezeichnet? Auch hier hilft die Einsicht In die Struktur und Funktion der Hirnrinde. Die histologische Untersuchung der Hirnrinde zeigt durchweg eine d r e i s c h i c h t i g e A n o r d n u n g der D e n k z e l l e n : es sind zu unterscheiden die Schicht der kleinen, der großen Pyramidenzellen und die der polymorphen Zellen (nach ihrer Gestalt benannt). Alle diese Zellen stehen mittels sog. Assoziationsbahnen (d. s. verbindende Nervenfasern) in direktem oder indirektem Zusammenhang. Und nun haben wir ein d r e i f a c h e s E r l e b e n : wir erleben G e f ü h l e , G e g e n s t ä n d e und B e g r i f f e . Diesem dreifältigen Erleben entspricht die J ) Ich verwahre mich ausdrücklich gegen die Unterstellung, daß die Psychobiologie eine m a t e r i a l i s t i s c h e Lehre sei. Man verwechselt gerne Materialismus mit R e a l i s m u s ; die Psychobiologie ist eine realistische, ich sage lieber: realische Lehre, sie lehrt die realische Anschauung, also z e i g t d i e D i n g e , w i e s i e s i n d , und löst alles fiktionale Denken, alle deuterischen und somit zweiflerischen Erlebnis- und Beschreibungsformen, allen Mystizismus, allen Dämonismus auf. Sie ist aber eine d u a l i s t i s c h e Lehre (daher: P s y c h o - b i o l o g i e ) und erkennt, daß es andere als dualistische Lehren überhaupt nicht gibt — g e m ä ß dem erkenntnistheoretischen Grundsatz: Anschauung ist Gegensätzlichkeit. Mithin ist auch der Anspruch einer Lehre, materialistisch zu sein, rein fiktional. Er ist ebenso fiktional wie der Anspruch der A t h e i s t e n , sie hätten das Gottesproblem gelöst, indem sie Gott leugnen; für sie gilt das Wort „Die Toren sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Gott", und sie gleichen dem Schüler, der die Aufgabe durchstreicht, s t a t t sie zu lösen, — nur weiß der, daß er faul oder dumm ist, während die Atheisten wähnen, sie wären die ganz gescheiten Leute! Die größte Dummheit ist aber die, die nicht einsieht, daß sie — Dummheit ist. Die Psychobiologie hat das Gottesproblem gelöst, sie kennt das Wesen Gottes und bedarf keines Versuches, seine Existenz zu beweisen (alle solche Versuche sind doch nur Kennzeichen des Zweifels!). Psychobiologie als Religion ist also biologische, realische Religion, ist die Religion der „wahren F r e i h e i t " ( J o h a n n e s B r e s l e r ) ; s. S. 174.



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dreifache Schichtung der Denkzellen. Ich unterscheide sonach die G e f ü h l s - , die G e g e n s t a n d s - und die B e g r i f f s s p h ä r e . Die Schicht der kleinen Pyramidenzellen ist die Gefühlssphäre, die der großen Pyramidenzellen die Gegenstandssphäre, die der polymorphen Zellen die Begriffssphäre. Ein Gefühl ist also vorhanden im Moment der Funktionshöhe einer Gefühlszelle, und zwar ist jedes einzelne Gefühl für eine bestimmte Gefühlszelle spezifisch. Wir unterscheiden hiernach f ü n f G r u n d g e f ü h l e , nämlich H u n g e r , A n g s t , S c h m e r z , T r a u e r u n d F r e u d e (sie schließen sich im Erlebnis auch stets in dieser Reihenfolge aneinander an), dazu Stauungs- und Mischgefühle (Nuancen), und bezeichnen Hunger und Angst als negative, Trauer und Freude als positive Gefühle, während Schmerz sowohl als negatives wie als positives Gefühl auftritt (wie ich an anderer Stelle nachgewiesen habe). Ebenso erscheint ein gegenständliches Bewußtes, eine gegenständliche Aktualität im Moment der Funktionshöhe einer Gegenstandszelle, und wiederum ist jede einzelne Aktualität für eine bestimmte Gegenstandszelle spezifisch. Das Analoge gilt für die begrifflichen Aktualitäten, die Begriffe. Es sind also G e f ü h l e , G e g e n s t ä n d e u n d B e g r i f f e O b j e k t e , p h y s i s c h , und so sind auch die in der Hirnrinde als dem Organ des Bewußtseins verlaufenden Vorgänge, also Wahrnehmen und Denken (die Anschauung), mag das Wahrgenommene Gefühl, Gegenstand oder Begriff (Erinnerung) sein, mögen die Vorgänge bewußt oder unbewußt Verlaufen, Reflexe, deren biologische Natur die Psychobiologie klargestellt hat. Beschreibbar sind nur die Objekte. Gefühle, Gegenstände und Begriffe sind beschreibbar, sie sind Objekte, Etwasse, physisch, zusammen das Physische. Die Seele (die Psyche, das Seelische, Psychische) dagegen ist das Subjekt, das Nicht-Beschreibbare, das Nichts. Die E n t w i c k l u n g d e s M e n s c h e n i s t die E n t w i c k l u n g der R e f l e x s y s t e m e , also auch der Denkzellen und ihrer Verbindungen. Diese Entwicklung geht nun nicht immer in einheitlicher Front vor sich, sondern gewisse Reflexsysteme können auf einer frühen (kindlichen, infantilen) Entwicklungsstufe stehen bleiben, während sich die andern weiterentwickeln. Die z u r ü c k g e b l i e b e n e n R e f l e x s y s t e m e — ich nenne sie die i n f a n t i l i s t i s c h e n — können sich vermehren, wuchern hypertrophieren, und sie tun das besonders in der Zeit der Entwicklungsschübe, also z. B. in der Pubertätsperiode, die sich zunächst Vom 14. bis zum 16. Jahre, in ihren letzten Erhebungen bis in spätere Jahre erstreckt. D i e s e



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R e f l e x s y s t e m e s i n d die k r a n k e n . Es kann auch eine Verödung (Atrophie) solcher infantilistischer Reflexsysteme eintreten: dann könnensich „Ausfallserscheinungen" bemerkbar machen 1 ). Meist besteht die Atrophie neben der Hypertrophie. Sind die krankhaften Veränderungen grober Art, so sprechen wir Von o r g a n i s c h e n K r a n k h e i t e n ; sind sie „feinerer Art" (also makro- oder mikroskopisch noch nicht nachweisbar), so sprechen wir von f u n k t i o n e l l e n K r a n k h e i t e n ; ich bezeichne erstere als H a d r o s e n (griech. hadros grob), letztere als L e p t o s e n (leptos fein), mit Rücksicht darauf, daß bei jeder Funktionsstörung auch (klinisch unmerkliche) organische Veränderungen Vorhanden sind, die Unterscheidung „funktionell" und „organisch" also ungenau ist. K r a n k h e i t ist also, ganz allgemein, I n f a n t i l i s m u s 2 ) . Die N e u r o s e n sind sog. funktionelle Krankheiten (Leptosen), und zwar ist N e u r a s t h e n i e ( T r o p h o s e ) Bezeichnung für die neurotischen Krankheiten des ernährerischen, des trophischen; Anteils der Persönlichkeit, H y s t e r i e (Genose) für die neurotischen Krankheitendeszeugerischen, desgenischen Anteils der Persönlichkeit. Beide Arten, die Neurasthenie und die Hysterie treten meist kombiniert auf in der überreichen Symptomatologie, die wir von der Nervosität kennen. Die N e u r o s e i s t a l s o e i n e k ö r p e r l i c h e K r a n k h e i t , die von der organischen sozusagen nur graduell unterschieden ist. Stets ist das gesamte Reflexsystem krank. Doch sind meist einzelne Anteile besonders betroffen, entweder die zentralen Teile und da wieder die Hirnrinden- oder die tiefer liegenden Zentren oder die Ausdrucksorgane. Hierbei ist zu bemerken, daß die sympathischen Reflexsysteme, zu denen die Gefühlssphäre der Hirnrinde gehört, den innern Organen zugeordnet sind, die sensorischen Reflexsysteme, zu denen die Gegenstandssphäre der Hirnrinde gehört, den Skelettmuskeln zugeordnet sind, während die Begriffssphäre ihre Eronen aus beiden Gebieten erhält und nur ganz spärlich mit Ausdrucksorganen In direkter Verbindung steht. Die kranke Funktion zeigt sich in einer Krankhaftigkeit (Absonderlichkeit) des Wahrnehmens und Denkens (der AnAlles „zu viel" und alles „zu wenig" ist krank. ) Gewisse Krankheiten und Krankheitsgruppen sind bereits vor mir als Infantilismen erkannt worden (vgl. meine Arbeit „Zur Systematik und zur Psychotherapie der Neurosen" in der Ztschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 105, H. 3/5). Das in dieser Hinsicht grundsätzlich Neue meiner Lehre besteht darin, daß ich ganz allgemein Krankheit als Infantilismus, erkannt und ihre biologische Struktur dargestellt habe. 2



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schauung) und des Ausdrucks, also der zugehörigen Muskelund Drüsenaktionen. Wir nehmen Gefühle, Gegenstände und Begriffe wahr und so haben wir (genlsche und trophische) G e f ü h l s n e u r o s e n (Hunger-, Angst-, Schmerz-, Trauer- unq Freudeneurosen in ihren mannigfachen Kombinationen, hierbei Störungen der Funktion innerer Organe als „Organneurosen"), G e g e n s t a n d s n e u r o s e n (Zwangsneurosen im engeren Sinne, also krankhafte Wahrnehmung und Deutung von Gegenständen und zwanghafte „äußere" Handlungen) und Beg r i f f s n e u r o s e n (Denkzwang, Grübel-, Frage-, Zweifelsucht, Verfolgungs-, Beziehungsideen usw.). In der Regel finden sich Symptome der verschiedenen Neurosenklassen vereint, Ist also z. B. eine Angstneurose von Zwangshandlungen oder Grübelsucht begleitet usf.

2. K a p i t e l .

Die Neurose als Infantilismus. Wir sagten, die kranken Reflexsysteme sind auf einer kindlichen (infantilen) Entwicklungsstufe stehen geblieben, haben sich nur bis zu einer relativ geringen Höhe entwickelt und sind dann auf dieser relativ geringen Entwicklungshöhe gewuchert. Diese Auffassung entspricht der Tatsache, daß der Ablauf der kranken Reflexe, also d a s n e r v ö s e D e n k e n u n d T u n , die n e r v ö s e n S y m p t o m e d e m k i n d l i c h e n D e n k e n u n d T u n n o c h g a n z n a h e s t e h e n . Freilich ist bei der Analyse der nervösen Symptome zu bedenken, daß die infantilistischen Reflexsysteme ebenso alt sind wie der gesamte Organismus des Nervösen, also sich im Laufe der Jahre biologisch Verändert haben (Stoffwechselvorgänge), daß demnach auch die Funktion sich entsprechend modifiziert hat, ohne indes eine höhere Differenzierungsstufe zu erreichen als eben jene kindliche. Und ferner ist zu bedenken, daß die infantil gebliebenen Reflexsysteme ja eben während des Heranwachsens des Menschen gewuchert sind und daß sich damit eine Verbreiterung, eine Erweiterung der Funktion eingestellt h a t ; erst von einem gewissen quantitativen Grade an wird ja die Krankheit „manifest" (offenkundig), bis dahin war sie nur dem Fachmanne offenbar oder überhaupt „latent" (verborgen). Auch der gesunde Erwachsene hat sich natürlich aus dem Kinde entwickelt, auch das gesunde Denken und Tun ist also eine Entwicklungsform des kindlichen Denkens und Tuns; das kranke Denken und Tun steht aber — In der besprochenen modifizierten Art — dem kindlichen Denken und Tun nocfi ganz nahe: darin eben liegt die Krankhaftigkeit. Will man also die nervösen Symptome verstehen, so muß man „sich in die Kindheit zurückversetzen", die analogen normalen Verhaltensweisen des Kindes aufsuchen, dazu auch die kindhaften Deutungen; diese Deutungen, mögen sie dem Kranken erinnerlich sein oder nicht, sind die „richtige" d. h. für ihn zutreffende Beschreibung des nervösen Erlebens. Wir wollen das an einigen B e i s p i e l e n nachweisen. Fräulein Martha Z., 29 Jahre alt, Sprachlehrer!n, leidet an einer



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Angst- und Schmerzneurose mit allerlei Zwangssymptomen. Die genauere Krankengeschichte würde mehrere Bände füllen, wie ja eben immer das gesamte Leben eines Nervösen durchsetzt ist von funktionellen Einmischungen seiner Krankheit — entsprechend der Tatsache, daß die infantilistischen Reflexsysteme doch eben zu seinem Organismus gehören und so an allen Funktionen in einem geringeren oder höheren Grade beteiligt sind. Ich beschränke mich hier auf die Besprechung einzelner Symptome von mittlerer Schwere; die leichteren und die schwereren sind analog zu Verstehen. Fräulein Martha muß (zwanghaft) knmer „alles auf Zettel schreiben"; sie legt diese Zettel in die Schublade ihres Schreibtisches, in der ein tolles Durcheinander herrscht. Sie findet einen Zettel, den sie gerade sucht, erst nach längerer Zeit, in der sie eine quälende Angst hat. Hat sie den Zettel gefunden, so sieht sie, daß sie das, was da notiert ist, so schon wußte, und quält sich nun mit dem Gedanken ab, es müsse wohl noch etwas anderes gewesen sein, das sie notieren wollte, nicht notiert hat und das ihr nun nicht gegenwärtig ist, so daß sie in der betr. Arbeit oder Besorgung aufgehalten wird usw. Ihre „Zettelwirtschaft" ist „ihr Kummer", aber ein ordentliches Blatt oder Buch nehmen, dazu ist sie nicht imstande: es müssen lose Blätter, abgerissene Zettel sein und diese müssen verlegt werden. Nun, das „Zettelsymptom" ist uralt: schon als ganz kleines Kind saß Martha unter dem Schreibtisch des Vaters und zerschnitt, zerriß Papier; das war ihr Spiel, sozusagen ihre „Arbeit", der Papierkorb lieferte ihr reichliches Rohmaterial, das sie mit der Schere „veredelte", sozusagen zu Fertigfabrikaten umwandelte. Die hierbei beteiligten Reflexsysteme sind etwa auf der damals erreichten Entwicklungshöhe stehen geblieben: sie zerschneidet, zerreißt noch heute Papier, sie wirft die Zettel noch heute durcheinander, die „Zettelwirtschaft" ist noch heute ein unentbehrlicher, ein wesentlicher Teil ihrer Beschäftigung. Selbstverständlich hatten auch die kindlichen Reflexsysteme damals schon ihre Entwicklung aus noch früheren Stadien gehabt, die meist in die Vergessenheit gesunken sind, wie ja überhaupt immer nur Weniges aus der frühen Kinderzeit erinnert werden kann. Als das Kind älter wurde, bauten sich die Reflexsysteme dahin aus, daß die Zettel bemalt, mit dem Bleistift usw. vollgezeichnet, dann mit richtigen Worten beschrieben wurden usw., aber die ursprüngliche Handhabung: Zerschneiden des Papiers und „Wegwerfen" blieb erhalten, wenn auch in einer dem jetzigen Alter Marthas entspr. modifizierten Form. Aus dem ganzen „Zettelsymptom"

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habe ich nur eine Einzelheit mitgeteilt; die beteiligten Reflexsysteme waren mit zahlreichen andern assozlert, und so gehörten noch allerlei andere Symptome mehr oder weniger dicht zur „Zettelwirtschaft". Es kommt hier nur darauf an, den infantilistischen Charakter der nervösen Symptome aufzuzeigen. Das Zerschneiden („Töten", eine Art der kindlichen Naturforschung) ist übrigens eine bei allen Kindern sehr beliebte Beschäftigung. Die Tatsache, daß beim Gesunden diese Beschäftigung in normale Entwicklungsformen (Schneider, Schlächter, Chirurg, Buch- u. Papierhändler usw.) übergeht und beim Kranken ins Symptom, verstehen wir eben aus der Differenz der Entwicklungshöhe, die die beteiligten Reflexsysteme beim Gesunden und beim Kranken erreichen: bleiben sie auf kindlicher Entwicklungshöhe stehen, so ist auch ihre Funktion der kindlichen noch ganz nahe. Das gen. Symptom ist im wesentlichen eine Zwangshandlung, also gegenständlicher Natur 1 ); aber auch die Gefühle, und zwar besonders das Angst- und das Schmerzgefühl sind beteiligt und ferner ängstliche und schmerzliche Grübeleien, ängstliche und schmerzliche Begriffsreihen. Auch die Angst hat ihre kindliche Vorlage: schon das Verkriechen (eine Art Verstecken) des Kindes in die Höhlung des Schreibtisches war ein Angstausdruck, in aller Heimlichkeit trieb es sein Spiel, es ließ sich nicht gern dabei entdecken und verbarg auch die Schnitzel (einen wichtigen Teil des kindlichen Besitzes), so weit es ihm jeweils möglich war, — und so verbirgt Pat. noch heute ihre Zettel im Schubfach, das sie sorgsam verschließt. Das kindliche ängstliche Suchen nach ihren Zetteln ist erhalten geblieben in der Form, daß sie nun einen bestimmten Zettel sucht, es hat somit einen logischen Sinn („Zweck") erhalten, der ebenfalls einer frühen Entwicklungsstufe noch ganz nahe steht: sie l ) Solche Zwangshandlungen der verschiedensten Art sind sehr zahlreich. Sie werden durchweg im aber-, im zaubergläubischen Sinne gedeutet ganz nach kindlichem Muster. Das Kind sagt oder denkt z. B . : wenn ich bis zur nächsten Straßenecke keinem Hund begegne oder immer auf die Querritzen des Bürgersteigs trete oder mit der zehnmaligen Wiederholung eines Satzes (z. B. „ich und du, wir sind zwei Schuh" und ähnlichen „ U n sinns", dessen „ S i n n " eben in der Unsinnigkeit, Geheimnishaftigkeit besteht) fertig werde usw. usw., dann werde ich meine Schulaufgabe heute „können". Dieses abergläubisch-ängstliche Zauberspiel, mit dem das Schicksal befragt (Orakel!), anerkannt und zugleich beherrscht wird, findet sich in zahllosen Variationen bei allen Kindern und auch bei allen Neurotikern in entsprechend modifizierter Form. Viele Kranke sehen den Unsinn ein, führen aber das Zeremoniell doch wieder aus entsprechend dem Ablauf der betreffenden Reflexe, die kein „ W i l l e " dirigieren kann. Die Deutungen sind allemal Zweifel, der freilich o f t als „ G l a u b e " auftritt.



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„motivierte" auch in der (späteren) Kindheit schon das Herumwühlen in ihren Zetteln damit, daß sie einzelne Zettel herausfinden müsse, die ihr irgendwie wichtig erschienen, z. B. in dem Sinne, daß sie eben in der Menge nicht fehlten, daß sie mit andern Zetteln zusammenpaßten, daß sie in ihrer Gestalt irgend etwas darstellten, dem ein besonderes „Interesse" galt usw. Und daran schlössen sich auch schon frühzeitig grüblerische Gedanken ängstlich-schmerzlicher Art, die besonders Zweifel an der „Richtigkeit" der ausgesuchten Zettel, an der Vollständigkeit ihrer Zahl usw. waren und nun später in die Form des Grübelns über die mögliche UnVollständigkeit ihrer Notizen übergegangen waren. Die Schmerzneurose bestand einmal in Schmerzen (also Gefühlen), und zwar „schneidenden", „reißenden" Neuralgien, die besonders den linken Arm und das linke Bein betrafen und allen Mitteln trotzten (außer der Erkenntnistherapie); sodann eben u. a. in dem zwanghaften Zerreißen oder Zerschneiden Von Papier (als gegenständlicher Schmerzhandlung); auch in schmerzlichen Gedanken, die sie in Verbindung mit ihrer Zettelwirtschaft usw. spann und auf keine Weise unterdrücken konnte, z. B. der Gedanke: nun ist der gesuchte Zettel weg, er hat sich von ihr getrennt, sie wird den notierten Sachverhalt nie wiederfinden, kann die Angelegenheit nicht erledigen, ist „innerlich moralisch" benachteiligt (als unordentlich) und kann „äußeren" Schaden leiden usf. Auch die Schmerzsymptome lagen in ihrer Form dem kindlichen Erleben ganz nahe: sie erinnerte sich sehr wohl, daß sie „ein Schmerzenskind" gewesen war, überempfindlich gegen Berührungen, gegen Temperaturveränderungen, „dicht ans Wasser gebaut" (d. h. zum Weinen geneigt), ein zartes Kind, das „man kaum anfassen durfte", das oft stürzte, sich verletzte, schrie, „als wenn es am Spieße stecke", gelegentlich auch mal geschlagen wurde. Gegen Beginn der Pubertätsperiode deutlicher abgegrenzte und charakterisierte linksseitige Neuralgien, dann Menstruationsbeschwerden usw. Jede Trennung von Vater oder Mutter erlebte sie schmerzlicher als robustere Kinder, es war immer ein wahrer Abschied auf Nimmerwiedersehen — und wieviele solche Abschiede hat sie in der ganzen Kinderzeit erlebt! Auch das Zerschneiden, Zerreißen von Papier usw. waren Abschiede, ein schmerzliches Spiel mit der Trennung. Und die schmerzlichen (auch traurigen) Erlebnisse wurden gedeutet: sie dachte sich einsam und verlassen, sobald sich nur die Tür hinter der Mutter schloß, sie war im Zweifel, ob die Mutter wiederkäme, später waren ihre Schmerzen Beweise



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für ihre Schlechtigkeit, waren verdiente Strafen für ihre Sünden — und zugleich Beweise dafür, daß sie eine Auserwählte sei, denn „wen Gott lieb hat, den züchtigt er" — die Schmerzen usw. waren Züchtigungen, also Liebesbezeigungen. Und In dieser Ebene lagen jetzt noch ihre Deutungen, ihre zweiflerischen, schmerzlichen Gedanken. — Herr Paul Z., 31 Jahre alt, „kann nicht telephonieren" (ein Symptom unter zahlreichen andern). Er muß aber viel telephonieren. Sein Tagewerk ist so eine fortgesetzte Qual. Von einem Anruf wartet er voll ängstlicher Spannung auf den nächsten — und schellt der Apparat, dann gerät er erst recht in Aufregung. Er atmet auf, sobald er merkt, daß das Gespräch vom Personal erledigt wird, aber immer geht das nicht. Was t u n ? Er ist momentan „besetzt", hat „eine Konferenz"; die Angestellte fragt: „Darf ich nichts bestellen?" Und auch das geht nicht immer. Er hat Angsterlebnisse, die so verlaufen, daß er am Telephon spricht. Die Schwierigkeit ist auch die, daß er seinen Namen nennen muß. Gewiß, er könnte ja „Hallo!" sagen, aber das widerstrebt ihm, er hält es für unhöflich, er muß eben seinen Namen sagen, er befindet sich in einer Angstsituation, bei der er seinen Namen nennen muß 1 ). Die Nennung des Namens gehört zur Angstsituation. Als er noch ein kleiner Junge war, wurde er, wie alle kleinen Kinder, oft gefragt: „Wie heißt du denn, mein Junge?" Antwort: Schweigen — oder die denkwürdigen Worte: „Paul sagt nicht, wie er heißt". Auch dieses Symptom steht natürlich In einem weitausgreifenden Zusammenhang, ich will hier aber nur die nahe Analogie des nervösen Symptoms mit kindlichen Erlebnisweisen aufzeigen, hier also nicht weiter auf die Zusammenhänge eingehen. Die an der Namensnennung beteiligten Reflexsysteme sind auf jener kindlichen Entwicklungsstufe verblieben: das Kind erlebte bereits eine aus weiter zurückliegenden Entwicklungsstufen herausgewachsene krankhafte Angstsituation, indem es nach seinem Namen gefragt wurde und zwar von einer mächtigeren Persönlichkeit, die „von oben", aus einer Entfernung zu ihm sprach; in einer nächstanalogen Weise erlebte er nun die bereits mit dem Klingeln des Fernsprechers gegebene Aufforderung, sich zu melden, die Aufforderung geht von einer entfernten Stelle aus und hat für Ihn einen Befehlscharakter, indem das Amt das Zeichen gibt usw. Vergl. I. Mose, 3, 9: „Und Gott der Herr rief Adam l ) Ähnliche Angstsituationen sind anders gelagert und werden von den Kranken auch anders „motiviert".



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und sprach zu ihm: Wo bist d u ? Und er sprach: Ich hörte deine Stimme und fürchtete mich." So fürchtete sich Paul Z. vor dem Herrn, der ihn nach dem Namen fragte — und der ihn anrief, so daß er sich melden mußte, ängstigte sich, als ob er zum Gericht zum Verhör, aufgerufen würde, und in der Angst Hegt das sog. schlechte Gewissen. So m u ß t e er auch seinen Namen nennen, wie er als Kind seinen Namen nannte — sozusagen ohne ihn zu nennen („Paul sagt nicht, wie er heißt"), und diesen infantilistischen Zwang, den Namen zu nennen, deutete er so, daß er aus der Not eine Tugend machte (es ist unhöflich, am Fernsprecher nicht den Namen zu nennen), während tatsächlich er sich nur so verhielt, wie er sich als Kind verhalten hatte. — Ein Patient, E . D., 30 Jahre alt, leidet seit zwei Jahren an einem Pharynxkrampf, der sich einstellt, so oft er ißt und trinkt. E r ist zunächst von fester Nahrung auf flüssige übergegangen, aber seit etwa einem halben J a h r ist auch das Schlucken von Flüssigkeiten zunehmend schwieriger geworden, und so ist seit einigen Monaten die tägliche Nahrungsaufnahme auf einige Löffel Suppe oder Kakao, die auch nur ganz allmählich den Gaumen passieren, und auf Schokoladestückchen, die er im Munde vollkommen zergehen läßt, abgesunken. Nicht selten, besonders nachts macht sogar das Schlucken des Speichels Schwierigkeiten; oft muß er ihn ausspucken. Bei jedem Schluckversuche, ja oft schon beim Gedanken daran tritt Larynxangst (Erstickungsangst, Kontraktion der Angstmuskeln des Kehlkopfs, ausgiebiges Räuspern usw.), Herzangst (Palpitationen), mehr minder große Unruhe und Erregtheit auf. Pat. hat als Tischgerät außer einem Kinderlöffel (einem „teuren Andenken") ein Haarsieb, durch das er die Suppe, die schon in der Küche sorgfältig filtriert ist, nochmals durchsiebt, damit auch die kleinste Partikel von zäher oder fester Konsistenz herausgefischt wird; falls auch nur das kleinste Klümpchen in den Schlund kommt, ist sogleich der Pharynx-Larynxspasmus mit den ungemein quälenden Nebenerscheinungen da, und es dauert geraume Zeit, bis diese krankhaften Angstreflexe abgeklungen sind. Der Löffel Suppe oder Kakao wird ungezählte Male gekaut, wobei Pat. mit der Zungenspitze nach festen Partikeln fahndet und, sofern er eine, z. B . ein Eiweißfäserchen, findet, diese zu zerdrücken sucht oder aus dem Munde nimmt. Erst nach dieser umständlichen und langwierigen Vorbereitung setzt der Schluckreflex ein, der aber auch da noch vorwiegend aus Angstkontraktionen besteht, aber solchen, die noch eine dünne Öffnung des Gaumen-



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Rachenrings frei lassen, durch die nun die Flüssigkeit allmählich hindurchrinnt; oft aber schließt sich der GaumenRachenring vollkommen, und da muß der P a t . eben hungern und dursten. (Der Fall erinnert einigermaßen an die Therese Neumann, nur ist diese Hysterika, während E . D. zu den Neurasthenikern zu rechnen war; ich habe übrigens noch andere Fälle behandelt, die der Neumann noch näher-analog waren, z. B. eine 27jährige Jungfrau, die aus den Ohren blutete, und einen 36 jährigen verheirateten Geistlichen, der aus den Achselhöhlen blutete, d. h. ein blutig-seröses Sekret ausschied, eine 30 jährige verheiratete Frau mit schwerer hysterischer Sitophobie, die lange Zeit auch nur von wenigen Löffeln Suppe lebte und schließlich in einen neuerlichen Dämmerzustand mit Astasie-Abasie verfiel, ferner eine 29jährige Jungfrau, die in periodischen Wiederholungen wochenlang nur von der täglichen Zufuhr des Saftes einer Apfelsine lebte und diese „Hungerkur" als sehr heilsam — Mazdaznan — ansah, usw.). E . D. (wie alle seine Leidensgenossen) war von früher Kindheit an ein „vorsichtiger Esser" gewesen. Die Zubereitung der Speisen in der Küche, das Hantieren der Mutter mit den Küchengeräten, am Herde, dann die Zerlegung des Fleisches usw. bei Tisch und das Aufspießen mit der Gabel und Einführen in den Mund und dann das Schlucken selber war ihm gruselig-interessant gewesen: so als ob die Nahrungsaufnahme ein Geheimnis enthielte, dessen Offenbarung er suchen müsse und doch immer wieder vergeblich suchte. Flüssige Kost nimmt der Fötus (der Fruchtwasser trinkt) und der Säugling auf. Der Übergang zu gemischter Kost mit der Absetzung, Dentition usw. ist ein erheblicher Entwicklungsschub; das junge Kind muß essen lernen, d. h. die betreffenden trophischen Reflexsysteme entwickeln sich allmählich, aber rasch genug, so daß der Übergang normaliter alsbald gelingt. E . D. aber hatte die Aufgabe, die in Form der Aufnahme fester Speisen an ihn herantrat, innerhalb seiner kranken Systeme nicht gelöst, d. h. seine krankhaften Reflexsysteme blieben auf jener fötal-infantilen Entwicklungshöhe stehen und wucherten in der Folgezeit nur noch in die Breite, d. h. die Angst Innerhalb des trophischen Erlebens nahm zu, die Speisen waren und blieben Rätseldinge, ihre Aufnahme unheimlich, unbegreiflich, zweifelhaft. Gewiß gehörten zu den oro-pharyngealen Reflexsystemen auch gesunde (oder fast gesunde), aber ihre Funktion trat um so mehr zurück, je stärker die kranken Systeme aufwucherten, und schließlich gewannen die kranken Reflexe 3



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in perverser Verbindung mit laryngealen Reflexsystemen sozusagen das Übergewicht: die Aufnahme fester Speisen wurde überhaupt unmöglich, die Aufnahme flüssiger Nahrung fast unmöglich. Ich habe den Symptomenkomplex „Sitophobie" genannt. Die Nahrungsaufnahme war somit für E . D. eine Aufgabe, der er noch nicht gewachsen war. Die Nahrungsmittel waren ihm auch in den dem eigentlichen Ausbruche der Krankheit vorangehenden Jahren als gegenständliche Objekte unklar, unverständlich geblieben: er stocherte in den Speisen herum, zerschnitt sie in unwahrscheinlich kleine Teile, die er als „Hochkauer", wie er sich nannte, Viele viele Male im Munde bearbeitete, bis sie „verflüssigt" und damit also schluckrecht geworden waren; er galt als „Feinschmecker", war ständig auf der Suche nach neuen Gerichten und trieb geradezu einen Kult mit der Nahrung, die er nicht verstehen konnte, deren Geheimnis er immer und immer wieder zu lüften unternahm. Hunger war wohl da, aber die Angst, die sich an den Hunger anschloß, war größer: die Nahrungsaufnahme unterblieb (die puberale Appetitlosigkeit, die Eßangst der Bleichsüchtigen ist eine, vielfach hysterische, Parallele hierzu). So war er schließlich auf das Sieb gekommen, die Nahrung nahm den Charakter der fötalen und frühinfantilen Kost an, auch der Menge nach, der ganze Mechanismus, die Funktion der beteiligten Reflexsysteme verlief ganz analog jenen Frühstadien, bis zu deren Differenzierungshöhe eben die kranken Reflexsysteme nur gediehen waren. Nicht eine „Regression" (Freud) hatte da stattgefunden, sondern eine Hypertrophie jener fötal-infantilen Reflexsysteme, und nicht eine „Verdrängung" oder ähnliche mysteriöse psychische Prozeduren hatten sich abgespielt, sondern biologische und biologisch faßbare Entwicklungen krankhafter Art, die schließlich zu einer grob-klinischen Manifestation kamen. Die Hypertrophie der kranken Systeme erstreckte sich auch auf die Beschreibung, die der intelligente Patient an die phänomenalen Beobachtungen angeschlossen hatte, sagen wir: die Theorie, mit der er seine Absonderlichkeiten im trophischen Verhalten motivierte. Er hatte sich dilettierend, aber immerhin reichlich, mit der Chemie, der Hygiene, der Zubereitung der Nahrungsmittel beschäftigt, allerhand vage Ideen über die richtige Art des Essens erdacht, Diätkuren unternommen und führte auch sein Leiden auf eine Diätkur zurück: eine Rettigkur, die in der täglichen Zufuhr von etlichen mit geschabtem Rettig belegten Stullen bestand und die „den Körper reinigen



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und kräftigen sollte" (er hatte sie aber nur zwei oder drei Tage durchgeführt). In allen neurotischen Fällen finden wir eine mehr oder minder ausgedehnte motivistische Theorie, die sich allemal als ein Sammelsurium von Deutereien erweist, oft freilich von solchen, deren pseudo-logischer Charakter sich erst bei genauer Analyse enthüllt. Die neurotische Logik bewegt sich z. T. in Kreisen, die unangreifbar sind, so lange das Fiktionale der motivischen Denkweise nicht überhaupt eingesehen wird — und gerade diese Einsicht vermittelt (nur!) die Erkenntnistherapie. Diese Beispiele mögen hier genügen. G a n z a l l g e m e i n g i l t : Die Entwicklung des Menschen ist die Entwicklung seiner Reflexsysteme, also auch seiner Denkzellen, also auch seines bewußten Erlebens und Beschrelbens, kurz: seines Denkens und Tuns. Gemäß der noch geringen Entwicklungsstufe des Kindes, also auch seiner Denkzellen ist das kindliche Bewußte, sind die kindlichen Aktualitäten noch unpräzis, je nach dem Alter mehr oder minder verschwommen, rätsei-, zweifelhaft, und ebenso sind es alle neuen Aktualitäten, die das Kind entwicklungsgemäß erlebt. So ist für das Kind die Welt voller Rätsel, und kaum daß eines gelöst ist, tauchen an seiner Stelle — in unendlicher Reihe — neue Rätsel auf. Das neurotische Denken und Tun liegt in der infantilen Entwicklungsebene und Ist lediglich im Sinne der Erweiterung und der dem jeweiligen Lebensalter entsprechenden biologischen Veränderung der zurückgebliebenen Reflexsysteme modifiziert. Der N e r v ö s e d e n k t u n d t u t a l s o , s o w e i t er k r a n k i s t , n i c h t i n f a n t i l , s o n d e r n i n f a n t i l i s t l s c h x ). W a s i h m f e h l t , i s t e i n S t ü c k E n t w i c k l u n g i n n e r h a l b der k r a n k e n Reflexsysteme. Für gewisse abgegrenzte Krankheiten ist der infantilistische (bzw. archaistische) Charakter schon länger bekannt und anerkannt. Auch hat Freud die These aufgestellt, daß das neurotische Symptom, so wie er es versteht (nämlich als von verdrängter Libido verursacht), auf einer sog. Regression, d. h. auf einer Rückkehr seelischer Arbeitsweisen auf frühere Entwicklungsstadien beruht, indes ist eben die Freudsche Lehre von der ausschließlich llbldinösen ( = geschlechtlichen) Natur der Neurosen ein Irrtum, somit auch die Deutung der neurotischen Symptome als Regredlerungen auf Infantile Stufen der Libidoentwicklung, ferner ist es gänzlich unbiologisch, von Regression in dem Sinne zu sprechen, daß eine spätere J

) Im völkergeschichtlichen Sinne nicht archaisch, sondern archaistisch.





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Entwicklungsstufe auf eine frühere zurückkehren könne, es handelt sich vielmehr um das Stehenbleiben auf einer infantilen Entwicklungsstufe, und endlich hat Freud, der noch durchaus mit Vorstellungen wie „psychische Energie", „psychische Instanzen" usw. arbeitet, also psychologisch-dämonistisch beschreibt, den biologischen Sachverhalt, der sich im neurotischen Symptom demonstriert, noch nicht erkannt, ja er betont ausdrücklich, daß „die echten »Neurosen' ihrer Namengebung zum Trotz wohl bald aus der Klasse der Nervenkrankheiten entfernt werden müssen", — während wir umgekehrt zeigen, daß die Neurosen (und „Psychosen") physische Krankheiten sind wie alle Nervenleiden, wie alle Krankheiten überhaupt. Erst die Psychobiologie hat das gesamte Geschehen, das normale und das abnormale, als biologisches nachgewiesen und somit allem Mystizismus, allem Dämonismus ein Ende gemacht. Wer das kindliche Denken und Verhalten hinreichend kennt, für den wird es nicht eben schwer, j e d e s e i n z e l n e n e u r o t i s c h e S y m p t o m als k i n d ä h n l i c h , i n f a n t i l istisch zu durchschauen; freilich ist die hierzu ausreichende Kenntnis des kindlichen Erlebens, des kindlichen Denkens und Verhaltens nur wenigen beschieden, ja es ist auffällig (liegt aber in der Natur der Sache), wie wenig die Eltern von ihren Kindern wissen, wie wenig die Angehörigen entfernterer Altersklassen einander kennen. Also auch die organneurotischen Beschwerden sind Infantilismen. Die Innern Organe sind „im Bewußtsein vertreten" in Form der Gefühle, die Gefühle sind den einzelnen Organen zugeordnet und in das je zugeordnete Organ (bis zur Körpergrenze) lokalisiert. Magenschmerzen z. B. sind Aktualitäten solcher Gefühlszellen, die dem Magen zugeordnet sind. Der Gesunde hat keine Magenschmerzen, wohl aber Magenschmerzsysteme (außer Magenhunger-, Magenangst-, Magentrauer- und Magenfreudesystemen), die nur die aktuelle Funktionsstufe nicht erreichen, also unaktuell funktionieren. Sind diese Magenschmerzsysteme kindhaft geblieben und gewuchert, dann treten Magenschmerzen auf, so oft diese Reflexsysteme gemäß ihrer spezifischen Funktionsperiode den aktuellen Funktionsgrad erreichen (also in gewissen kürzeren oder längeren Zwischenräumen). Der Magen ist sozusagen den erwachsenen Ansprüchen noch nicht „gewachsen". A u c h die D e u t u n g e n , mit denen sich der Kranke seine Beschwerden — bald so, bald so — zu erklären sucht, liegen in kindhafter Ebene, sind allemal dämonlstisch (zweiflerisch); meist werden Essen



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und Trinken, Erkältungen usw. als „Ursache" der Beschwerden angegeben oder wird eine organische Erkrankung vermutet, und nun wird innerhalb dieser Auffassung kuriert, — während doch zunächst die Diagnose, ob neurotisch oder organisch, vom hinreichend erfahrenen Arzte gestellt und der neurotisch Kranke zur eigentlichen Heilung, d. h. dahin, daß er wie der Gesunde essen und trinken usw. kann, geführt werden sollte. Diese „Heilung" im eigentlichen Sinne ist freilich nicht mit Bade- oder Diätkuren oder Medikamenten oder Operationen zu erreichen, sondern nur auf dem Wege des Ausgleichs der Entwicklungsunterschiede der zurückgebliebenen, lnfantilistischen Reflexsysteme, also ihrer Normalisierung, wie sie nur die aufbauende Funktionstherapie, die Erkenntnistherapie in bewußter Zielsetzung erreichen kann.

3. K a p i t e l .

Die Struktur der gesunden Erlebnisse. Die Hirnrindenzellen sind entwicklungsmäßig derart miteinander verbunden, daß zu einer bestimmten G e f ü h l s z e l l e eine bestimmte G e g e n s t a n d s - und eine bestimmte Beg r i f f s z e l l e gehört; dies ist das Schema des Aufbaus eines k o r t i k a l e n (Hirnrinden-) Reflexsystems, d. h. eines solchen, das sich in der Hirnrinde (cortex) befindet. Die drei Zellsorten sind miteinander mittels Nervenfasern (sog. Kollateralen) verbunden. Die einzelnen Reflexsysteme sind nun wiederum untereinander mannigfach verbunden, assoziiert; im Laufe der Entwicklung bilden sich sog. a s s o z i a t i v e S y s t e m e heraus, deren Aktualitäten die zusammengesetzten Individuen, die sog. G a n z h e i t e n oder Ganzen sind. Und weiterhin sind diese Individuen miteinander zu Reihen assoziiert, die in ihrer Gesamtheit eine Ganzheit höherer Ordnung, eine Erlebnisganzheit bilden. (Die Psychobiologie hat auch das Ganzheitsproblem, das Problem der sog. „psychischen Strukturen" gelöst; diese sind nur aus der biologischen Funktion der Hirnrindenzellen zu verstehen.) Ich habe die einzelnen Reflexsysteme nach der Aktualität der zugehörigen Gefühlszelle bezeichnet, unterscheide also Hunger-, Angst-, Schmerz-, Trauer- und Freudes y s t e m e . Nun gibt es auch S t a u u n g s - u n d M i s c h g e f ü h l e ; erstere sind z. B. Haß (gestauter Hunger) und Ekel (gestaute Freude, Übersättigung), letztere z. B. Hoffnung (freudehaltiger Hunger), Neid (hunger-angsthaltiger Schmerz), Trost (freudehaltige Trauer) usw.; hiernach sind die betr. Reflexsysteme zu bezeichnen. Übrigens sind auch in den Gefühlszellen, deren Aktualitäten Hunger bzw. Angst usw. sind, Eronen aller Gefühlsspezies anwesend, vorwiegend aber Eronen der einen, also in der Hungerzelle vorwiegend Hungereronen, in der Angstzelle vorwiegend Angsteronen usf.; d i e A k t u a l i t ä t i s t die s y m b o l i s c h e E i n h e i t , die der Gesamtheit der in der Zelle anwesenden (darüber hinaus schließlich aller) Eronen entspricht. Das Hungergefühl ist also nicht 100 %ig, sondern je nach der Kombination der Eronen in der Hungerzelle



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nuanciert, z. B. mehr angst- oder mehr schmerzhaltlg usf. Dies gilt für alle Gefühle. Der zu einem Hungergefühl gehörige G e g e n s t a n d und B e g r i f f ist hungergefühlig, der zu einem Angstgefühl gehörige Gegenstand und Begriff ist angstgefühlig usw.; es gibt also h u n g e r - , a n g s t - , s c h m e r z - , t r a u e r - und f r e u d e g e f ü h l i g e G e g e n s t ä n d e und B e g r i f f e (nach den Grundgefühlen). Die Entwicklung geht derart vor sich, daß sich zunächst die Gefühlszellen bis zu aktueller Funktion differenzieren, dann die zugehörigen Gegenstands- und zuletzt die Begriffszellen; hierbei strömen die Eronen aus den Gefühlszellen, sich entsprechend entwicklungsmäßig verändernd, in die Gegenstands- und dann in die Begriffszellen über. Die W e l t der G e g e n s t ä n d e e n t s t e h t also nach oder aus der W e l t der G e f ü h l e , die W e l t der B e g r i f f e e n t s t e h t nach oder aus der W e l t der G e f ü h l e und der W e l t der G e g e n s t ä n d e . Entsprechend den Gefühlen sind auch die je zugehörigen Gegenstände und Begriffe nuanciert. So sind die weitentfernten Gegenstände im Ablaufe des E r l e b n i s s e s der A n n ä h e r u n g relativ stark hungerhaltlg, die näher liegenden rel, stark angsthaltig, die nächstliegenden relativ stark schmerzhaltlg, die sich entfernenden zunächst relativ stark trauer-, dann relativ stark freudehaltlg — zu welcher Gefühlsspezies sie auch gehören mögen. Man weiß ja, daß es „einen nach der Weite hungert" (hinaus in die Ferne!), daß die Annäherung um so ängstlicher ist, je enger der Kreis sich schließt, daß dann die schmerzliche Zerlegung, das „Gefecht", der friedliche oder unfriedliche Kampf, die Trennung, der Abschied stattfindet, weiterhin die Befreiung, und zwar zunächst als Trauerstadium, dann als Freudestadium folgt. Alle E r l e b n i s s e e n d e n in der F r e u d e , a u c h das L e b e n s e l b s t . Auch die nicht über die Hirnrinde Verlaufenden Reflexsysteme sind in der genannten Weise zu benennen und zu klassifizieren. Ein kortikales Hungerreflexsystem hat also Verwandte außerhalb der Hirnrinde, das sind die peripher sich anschließenden Strecken des gesamten Reflexsystems; auch in diesen verkehren natürlich Hungereronen (vorwiegend, also neben Angst- usw. Eronen, die in der Minderzahl sind, s. o.). Das Analoge gilt für die Angst-, die Schmerz-, die Trauerund die Freudesysteme (usw.). Die Reflexsysteme, zu denen die G e f ü h l s z e l l e n gehören, sind die s y m p a t h i s c h e n , bilden zusammen den Sympathikus (hier einschl. des sog. Parasympathikus), in ihnen Verkehren die sympathischen



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Eronen. Die Reflexsysteme, zu denen die G e g e n s t a n d s z e l l e n gehören, sind die s e n s o r i s c h e n (Sinnesnerven); sie stehen mit dem Sympathikus in der obengen. entwicklungsmäßigen Verbindung. Die B e g r i f f s z e l l e n erhalten ihre Eronen aus der Gefühls- oder der Gegenstandssphäre. In den sensorischen Nerven verkehren die sensorischen Eronen. Die die Begriffssphäre passierenden Eronen heißen idealische (idea Begriff, Idee). Wie gesagt, treten sympathische Eronen sich entsprechend verändernd In die sensorischen und Idealischen Bahnen über und umgekehrt. Die Reflexsysteme führen zu je bestimmten A u s d r u c k s a p p a r a t e n hin, und zwar die s y m p a t h i s c h e n zu den M u s k e l n d e r I n n e r n O r g a n e , also den glatten Muskeln und zu den elastischen Fasern, die s e n s o r i s c h e n zu den S k e l e t t m u s k e l n , den querstreifigen Muskeln. An ihnen finden also die Reflexe ihren Ausdruck, d. h. der in der motorischen (ableitenden) Nervenfaser fließende Eronenstrom tritt in die Muskelzelle über, und hierbei zieht sie sich zusammen, k o n t r a h i e r t sie sich. Die Innern Organe sind H ö h l e n oder R ö h r e n (z. B. Herz, Blutgefäße, Magen, Darm usw.) oder aus solchen Anordnungen zusammengesetzt (z. B. Niere, Milz, Leber usw.). Die Wandungen der Höhlen oder Röhren bestehen aus r u n d , s c h r ä g u n d l ä n g s an g e o r d n e t e n F a s e r n (Muskeln, elastischen Fasern) und zwar gehören an einem bestimmten Organ die l ä n g e r e n R u n d f a s e r n als Ausdrucksapparate zu den H u n g e r s y s t e m e n , sind also sympathische Hungerausdrucksapparate, die k ü r z e r e n R u n d f a s e r n zu den A n g s t s y s t e m e n , die S c h r ä g f a s e r n zu den S c h m e r z s y s t e m e n , die k ü r z e r e n L ä n g s f a s e r n zu den T r a u e r s y s t e m e n und die l ä n g e r e n L ä n g s f a s e r n zu den F r e u d e s y s t e m e n . Die Kontraktion der Hungerausdrucksapparate ist eine V e r e n g u n g der Höhle bis zu einer gewissen, der H u n g e r w e i t e ; die Kontraktion der Angstausdrucksapparate ist die w e i t e r e V e r e n g u n g bis z u m V e r s c h l u s s e ; die Kontraktion der Schmerzausdrucksapparate ist die D r e h u n g , Windung, wobei je nach der Richtung der Fasern eine Verengung oder eine Erweiterung In geringem Maße stattfinden kann; die Kontraktion der Trauerausdrucksapparate ist die langsam b e g i n n e n d e E r w e i t e r u n g ; die Kontraktion der Freudeausdrucksapparate ist die s i c h v o l l e n d e n d e E r weiterung. So verstehen wir die Funktionsabläufe der innern Organe, auch die der Drüsen — und analog, nämlich als Verengungen, Drehungen und Erweiterungen bzw. Beugungen, Drehungen



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und Streckungen vollziehen sich auch die Aktionen der Skelettmuskeln(Rumpf- und Extremitätenmuskeln), die ebenfalls rund, schräg und längs angeordnet sind. Ein vollständiger Funktionsablauf z. B. die Herzaktion besteht also aus V e r e n g u n g Hunger, dann Angstausdruck), dann folgt die D r e h u n g Schmerzausdruck), dann folgt die E r w e i t e r u n g (Trauer-, dann Freudeausdruck), dann beginnt der neue Funktionsablauf. Alle diese Funktionen vollziehen sich in geringeren oder höheren Intensitäten unausgesetzt, so lange der Organismus existiert; die zu den einzelnen Reflexsystemen gehörenden Hirnrindenzellen brauchen dabei keineswegs aktuell zu funktionieren, d. h. wir brauchen von all diesen Funktionen „nichts zu wissen", sie können sich u n b e w u ß t abspielen. Es Ist klar, daß sich im Falle der Hypertrophie, der Wucherung von Reflexsystemen auch die Ausdrucksaktionen „hypertrophisch" vollziehen, d. h. krampfig; besonders auffällig als Symptome sind die Angst- und Schmerzausdrücke, die sich bei den Organneurosen an inneren Organen abspielen und zu Innern Verkrampfungen, Verstopfungen, Stauungen, Drüsenverschlüssen mit ihren Folgeerscheinungen führen. Auch die Skelettmuskeln können krampfig funktionieren, ähnlich wie es die primitiven Muskeln (die des Embryo und Foetus) tun, z. B. beim Zittern, bei Krämpfen, Ticks, der Angststarre usw. Sämtliche Reflexsysteme sind während des Bestandes des Organismus ständig in Funktion. Ihre Funktion ist aber nicht gleichmäßig, sondern verläuft in Kurven, und zwar hat jedes Reflexsystem seine spezifische Funktionskurve. Die Kurve steigt an und fällt ab, steigt dann wieder an und fällt wieder ab usw., In einer für jedes einzelne System spezifischen Periodik. Es sind also bald diese, bald jene Systeme in höherer oder geringerer Funktion; die Funktionsintensität entspricht der Stärke des jeweils im System verkehrenden Eronenstromes x ). Für die Denkzellen gilt, daß jeweils eine den höchsten Funktionsgrad, bei dem das Objekt, das Bewußte erscheint, inne hat, wie früher beschrieben. So verstehen wir den unaufhörlichen Wechsel und den Zusammenhang des menschlichen Erlebens und Verhaltens. Es zeigt sich nun, daß dem Schema nach alles Erleben sich als Ü b e r g a n g in der R e i h e n f o l g e H u n g e r , A n g s t , S c h m e r z , T r a u e r , F r e u d e vollzieht, mag es in der Gefühlsoder Gegenstands- oder Begriffssphäre oder, wie meist, In Die Eronen sind nicht mit den „Elektronen" zu verwechseln! Erstere sind biologisch, letztere physikalisch. Die Elektronen sind eine Klasse der Eronen.



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den drei Sphären wechselnd ablaufen. Ein „vollständiges Erlebnis" ist eine solche Reihe ; es gibt auch „unvollständige Erlebnisse", solche, bei denen die eine oder andere Gefühlsspezies unaktuell bleibt. Das L e b e n s e t z t sich s o n a c h aus Übergängen, Erlebnissen zusammen. Das erste Stadium ist das H u n g e r s t a d i u m (Hunger im trophischen wie genischen Sinne, Gefühl der Höhlung, der Leere, Verlangen, Begehren, Sehnsucht, Suchen, Neigung usw.), dann folgt das A n g s t s t a d i u m (Gefühl der Enge, Hemmung, Zögern), dann das S c h m e r z s t a d i u m (Überschreiten der Schwelle, Kampf, Trennung), dann das T r a u e r s t a d i u m (Teil- oder Stück-Sein, eine Art Pause, Verlangsamung des Vorganges, Ermattung nach dem Kampfe), endlich beschließt das F r e u d e s t a d i u m das Erlebnis (Ganzes-sein, Fertig-sein, das Werk ist vollbracht, das Ziel erreicht, der Erfolg ist da). Im Gegenständlichen vollzieht sich besonders deutlich dieser Übergang so, daß sich a u s e i n e m R u n d e n e i n G e r a d e s „entwickelt", „hervorgeht" und dabei in ein anderes Rundes eingeht. Das Runde ist das Hunger- und (falls enggerundet) das Angstgefühlige, das Gerade ist das Trauer- (als „Stück") und Freudegefühlige (als „Ganzes"), schmerzgefühlig ist das Gedrehte. Es g i b t n u r R u n d e s ( G e h ö h l t e s ) u n d G e r a d e s ( G e s t r e c k t e s , Volles), beides kann auch gedreht, also schmerzgefühlig sein. Kombinationen von rund und gerade sind die zusammengesetzten Individuen, so ist das Weib vorwiegend aus runden, weniger aus geraden Anordnungen zusammengesetzt, umgekehrt der Mann. Statt rund kann man auch weiblich, negativ, statt gerade auch männlich, positiv sagen. Näheres in der „Entdeckung der Seele"; ich betone wiederholt ausdrücklich, daß ich hier nur einiges Grundsätzliche mitteilen kann. Ein typisches Beispiel ist die G e b u r t . Das geburtsreife Kind (Foetus) hungert „nach Freiheit", nach Verlassen seiner zu eng gewordenen Welt, nach der neuen Lebenssphäre, seine Organe sind bis zu dem Grade entwickelt, daß die Nahrung, der vom mütterlichen Blute übernommene Sauerstoff usw. nicht mehr ausreichen. Dies ist das erste, das Hungerstadium. Aber der Weg in die neue Welt ist dornenvoll: die Angst vor der Schwelle, dem Abschied stellt sich ein (Angststadium). Nun tritt das Kind In den engen Beckenring ein, dreht, bohrt, windet („Wehen") sich durch das harte Hindernis hindurch, arbeitet sich dann rhythmisch (entsprechend jeder Wehe) durch den weichen Geburtskanal hindurch, bis es die Pforte der Lichtwelt erreicht: Schmerzstadium, durchsetzt von Hunger

— 43 — und besonders Angst. So „schneidet das Kind durch", wie der Geburtshelfer sagt, nimmt Abschied vom Mutterleibe, die Brücke zur Mutter, die Nabelschnur, wird durchtrennt: traurig, vergrämt begrüßt das Kind die neue Welt, und sieben lange Wochen, wie die alten Physiologen sagen, hält das Trauerstadium an, dann erst lacht das Kind, hat die Trauer überwunden, ist ins Freudestadium eingetreten, — an das sich alsbald eine neue Periode, beginnend mit Hunger, sich fortsetzend in Angst usw., anschließt. (Über die Dauer des Trauerstadiums mag man verschiedener Meinung sein, vorhanden ist es in jedem Falle). Das Bewußtsein des Foetus besteht zunächst aus noch dunkeln Gefühlen, dann treten auch schon dunkel, verschwommen Gegenstände auf, Begriffe (Erinnerungen) aber erst einige Zeit nach der Geburt. Nach diesem Schema vollziehen sich sämtliche E r l e b n i s s e als U b e r g ä n g e . Man achte nur darauf. Ich sitze im Zimmer und habe „Lufthunger", Verlangen auszugehen. Ich gehe zur Tür überlegend, ob ich nicht Heber bei der Arbeit bleiben soll (Angststadium). Ich öffne aber nun doch die Tür (die Angst ist vorüber), drehe mich über die Schwelle, durch die Türöffnung hindurch (Schmerzstadium), und zwar gehe ich „stückweise" hinaus: erst ein Fuß, ein Bein, der Kopf usw. und bleibe auch noch, die Tür hinter mir schließend, eine kurze Zeit stehen (Trauerstadium), bis ich mich abwende und „entschlossen" weitergehe (Freudestadium). Natürlich muß man nicht annehmen, daß die hierbei ablaufenden Reflexe immer und in allen Teilen bewußt wären, daß ich also z. B . eine bewußte Angst, einen bewußten Schmerz (als Gefühle) hätte. Vielmehr können die Reflexe unbewußt verlaufen, es brauchen die Gefühle überhaupt nicht aktuell zu sein, sondern der Vorgang kann sich gegenständlich bewußt vollziehen oder auch begrifflich (indem ich nachdenke). Das Schema des menschlichen Erlebens ist auch in der P a r a d i e s s a g e dargestellt. Adam hungert nach „Erkenntnis", aber da setzt die Angst ein, der Zweifel, was geschehen wird. Diese Angst ist geschildert in der Form von Worten: Gott droht Adam den Tod an, aber die Schlange verheißt ihm umgekehrt die Erlangung der Göttlichkeit, das Wissen, was gut und böse sei. Adams Versuchung ist dieses Angststadium. Es geht vorüber: Adam „sündigt", er überschreitet die Schwelle — auch des Paradieses, wird ausgestoßen wie das Kind aus dem Mutterleibe. Und schaut nun traurig zurück zu dem „verlorenen Paradies", an dessen Pforte der Engel des Herrn mit flammendem Schwerte steht, die Rückkehr für alle Zeit



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verwehrend. Dann strafft sich sein Mut: mit Eva im Arme fordert er „ein Jahrhundert in die Schranken", sieht er stolz und aufrecht der Zukunft entgegen. (Dies alles kann ich hier nur in großen Zügen schildern). — Analog Wotans Weg zur Erda, Siegfrieds Weg zur Brünnhilde usw. usw. Die Paradiessage ist ein typisches Beispiel der primitiven P u b e r t ä t s f e i e r n , die ja Analogien zur Geburt sind. Bei allen Völkern wird die Reife der Jugend, die Mannbarkeitserklärung mit Festen begangen, die in primitiven Zeiten mit grausamen Martern (vergl. die mittelalterlichen Foltern) einhergingen. Es war ursprünglich ein Kampf zwischen dem (den) Jungen und dem (den) Alten (den Älteren = Eltern), und der Kampf ging auf Leben und Tod: wer unterlag, Verlor sein Leben. Mit steigender Kultur milderten sich auch diese Sitten, aber irgendwelche „Kämpfe", heutzutage in Form von allerlei Prüfungen (vergl. Konfirmation, Abendmahl, Reifeprüfung, Doktorprüfung usw., Liebesproben), finden immer noch statt und werden immer stattfinden. Da ist also auch das Verlangen, die Sehnsucht der erste Akt der Feier: Hunger nach Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen (Gläubigen, Eingeweihten usw.). Nun folgt die Angst (der Zweifel): ob das schwierige Werk gelingen werde, die Prüfung bestanden werden könne. Nun die Prüfung selber (Schmerzstadium), wobei der Adept „geschunden", „geschliffen", befragt, verhört usw. wird, wo er Auskunft geben muß, ob er weiß, was zu wissen nötig ist, um in die Gemeinde der Eingeweihten (in die höhere Gemeinschaft) einzutreten. Gut, der Prüfling löst die Aufgabe, besteht die Probe; er nimmt Abschied von der bisherigen Umgebung, verläßt die Schule, seine bisherige Gemeinschaft: Trauer. Dann aber kommt die Freude auf: er ist jetzt „wer", wird „Sie" (Mehrzahl! als ob er eine Familie repräsentiere) angesprochen, bekommt lange Hosen, erwachsene Kleider, darf dann auch rauchen, allein ausgehen, zum andern Geschlecht Beziehungen anknüpfen usw. Und in primitiven Völkern wird der Prüfling, der alle Martern ertragen hat, in die Kriegerkaste aufgenommen, erhält Waffen, Besitz und Weib. Ich habe die Erlebnisse der Geburt und der Pubertät herausgegriffen als die umfangreichsten Entwicklungsschübe, die der Mensch erlebt, hochkritische Perioden, wobei alle (genischen und trophischen) Reflexsysteme in hoher Funktion sind und sich das allgemeine Schema des Erlebens am prägnantesten offenbart. Die Pubertätszeit war ursprünglich ein konzentriertes, auf kurze Dauer zusammengedrängtes Ereignis ; im Laufe der Menschheitsentwicklung ist sie eine über



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mehrere oder viele Jahre sich erstreckende in mehreren Erhebungen verlaufende Periode geworden. Auf die Schulentlassung folgen die Lehrzeit oder weitere Studien auf den höheren Schulen mit erneuter Reifeprüfung usw., und auch die Geschlechtsreife fällt keineswegs mehr mit der Zeugungsund Ehereife zusammen. Und alle diese Übergänge, die man auch Prüfungen nennen kann und nennt, Verlaufen nach dem von der Psychobiologie zuerst gesehenen Schema — und so verlaufen überhaupt alle Erlebnisse, alle Ubergänge: das ganze Leben besteht so aus „Prüfungen".

4. K a p i t e l .

Die Struktur der neurotischen Erlebnisse. Die (wie gesagt, ganz gedrängte) Darstellung der Struktur des normalen Erlebnisses war nötig zum Verständnis der neurotischen Erlebnisse. Sie sind sozusagen Karikaturen des normalen Erlebnisses. Ich führte schon aus: die g l e i c h mäßige E n t w i c k l u n g des M e n s c h e n i s t die g e s u n d e , und der gesunde Mensch i s t der h a r m o n i s c h e . Auch er hat die bekannten Hunger-, Angst-, Schmerz-, Trauer-, Freudesysteme (abgesehen von Haß-, Ekel- usw. Systemen). Es gibt also normalen Hunger, normale Angst (Vorsicht usw.), normalen Schmerz (der allerdings gering ist oder überhaupt unaktuell bleibt), normale Trauer und normale Freude. Der N e u r o t i k e r dagegen i s t der u n h a r m o n i s c h e M e n s c h , er hat eine u n g l e i c h m ä ß i g e , z e r k l ü f t e t e E n t w i c k l u n g s f r o n t , er hat zurückgebliebene, gewucherte (infantillstische) Reflexsysteme, und zwar Hunger- oder Angst- oder Schmerz- oder Trauer- oder Freude- oder Haß- oder Ekelsysteme usw., fast immer aber solche mehrerer Gefühlsgattungen. Die erreichten Entwicklungsstufen der einzelnen infantilistischen Reflexsysteme (Persönlichkeitsanteile) sind verschieden: nebensolchen, die nicht über foetale, vorgeburtliche Stufen hinausgekommen sind, gibt es solche, die auf der Entwicklungshöhe des ersten oder zweiten oder achten usw. Jahres stehen geblieben sind; sie liegen jedenfalls im vorpuberalen Alter. Innerhalb der kranken Reflexsysteme hat der Nervöse seine Pubertät im genlschen oder im trophischen oder in beiderlei Sinne noch nicht erledigt x ). Die kranken Bezirke sind aber nicht mit Die Nervosität ist freilich schon ins Kindesalter, ja ins Säuglingsalter vorgerückt. Wir haben nervöse Kinder, ja Säuglinge die Fülle. Diese haben also auf noch jüngerer Entwicklungsstufe stehen gebliebene Reflexsysteme, und diese sind beim Heranwachsen bereits vermehrt, gewuchert und unterscheiden sich von den höherentwickelten gesunden Reflexsystemen. Viele Säuglings- und Kinderkrankheiten, auch solche, die man noch ohne weiteres für organisch hält (z. B . viele Katarrhe), viele Absonderlichkeiten in Charakter und Haltung, viele sog. Kinderfehler (Bettpissen, Daumenlutschen des älteren Kindes, Vertrotztheit, Verlogenheit, „Überintelligenz" usw.) sind neurotische Symptome und müssen demgemäß behandelt werden.



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einer Mauer umgeben, vielmehr sind sie die Krankheitsherde, die mit der näheren und weiteren Umgebung Verbunden und so in größerem oder geringerem Maße in allen Erlebnissen symbolisch beteiligt sind. Es ist oft recht schwierig, den kranke n Anteil, die krankhafte Nuance an „gesunden" Erlebnissen des Nervösen herauszuschälen; bei hinreichender Sachkenntnis gelingt es indes immer. Das neurotische Erlebnis ist grundsätzlich genau so gebaut (strukturiert) wie das gesunde, es verläuft ebenfalls nach dem Schema alles Geschehens: Hunger, Angst, Schmerz, Trauer, Freude. Nur ist eben das eine oder das andere oder mehrere Stadien hypertrophiert (gewuchert), infantilistisch, kindähnlich und insofern Vom gesunden Erlebnis mehr oder minder deutlich verschieden. Die nachstehenden Figuren mögen den Sachverhalt versinnbildlichen. Die Ordinate (senkrechte Linie) stelle den Gang des Erlebnisses vor, die Abszisse (horizontale Linie) die Schwelle, also das Schmerzstadium. Dabei ist vernachlässigt, daß die Bewegung bis zur Schwelle sich auch in Rundungen vollziehen kann, von der Schwelle aber an in Geraden erfolgt; zur möglichst einfachen Veranschaulichung sind die einzelnen Stadien mit Geraden verbunden, die zusammen also die Längsachse des Erlebnisses darstellen. Die Buchstaben sind die Anfangsbuchstaben der Gefühle, nach denen die einzelnen Stadien, auch die des gegenständlichen und des begrifflichen Erlebnisses bezeichnet werden.

Figur 1: Das normale Erlebnis H—F. Figur 2: hungerneurotische Erlebnisse (Beispiele) H—F, H—S1—F, H—S1—FJ, H—S1—F8, H—S1—F* usw. Figur 3: angstneurotische Erlebnisse (Beispiele) H—F, H—S1—F, H—S1— Fa, H—S1—F* usw.

F i g u r 7.

Figur 8.

Figur 4 : schmerzneurotische 1

Erlebnisse

Figur 9.

(Beispiele)

H—F,

H—S—F l f

H—F,

H—T—F 1 ,

2

H—S—T —F, H—S—F , H—S—F* usw. Figur 5: trauerneurotische

Erlebnisse

(Beispiele)

H—T—F 2 usw. Figur 6: das freudeneurotische Erlebnis H—F. Figur 7—9: Beispiele kombinierter Neurosen. Figur 7: angst-schmerzneurotische Erlebnisse mit reichlich H- und TKomponenten. Figur 8 : angst-trauerneurotische Erlebnisse. Figur 9 : trauer-freudeneurotische Erlebnisse (Zyklothymie).



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Figur 1: das normale Erlebnis. An das Hungerstadium schließt sich das Angst-, an dieses das Schmerz-, an dieses das Trauerstadium an, und das Freudestadium ist das Ende, das erreichte Ziel. Die Punkte der Figur bezeichnen die einzelnen Stadien; sie gehen natürlich ineinander über. Der G e s u n d e k a n n a l s o n u r a n s g e s u n d e , n o r m a l e Ziel g e l a n g e n , nirgends anders hin. Es ist ihm unmöglich fehlzugehen. Er geht immer den geraden Weg, nie den krummen (d. h. neurotischen). Er ist selbst das Gesetz, die Norm. Das Erleben, das Verhalten des gesunden Menschen ist die einzige Norm, die wir haben; eine transzendentale, übersinnliche Norm oder Normierung gibt's nur in der Deutung der Dämonisten. Der g e s u n d e M e n s c h Ist d a s M a ß a l l e r D i n g e . Die Gesetze sind nicht Ursachen der menschlichen Verhaltensweisen, sondern ihre zur allgemeinen Formel zusammengefaßte Beschreibung. Der Gesunde braucht sie nicht zu kennen, er handelt doch echt gesetzmäßig (also „ungezwungen"), er kann gar nicht anders, es ist nicht sein Verdienst, es ist lediglich seine Erlebnisweise, die eben seiner Organisation entspricht („für die er nichts kann"). Er ist „der gerade Charakter". Der Gesunde hat keinen endgiltigen Mißerfolg, er wird sich immer (früher oder später) durchsetzen, er wird niemals Aufgaben unternehmen, die über den Rahmen seiner Persönlichkeit, also über die Norm hinausreichen. Selbstverständlich „wählt" er sich die Aufgaben nicht, sondern sie stellen sich als Funktion seiner Reflexsysteme ein und sind somit seiner Persönlichkeit gemäß, „angepaßt". Auch das begriffliche Denken sowie die Beschreibung des Gesunden ist korrekt und endet am echtpositiven Ziel. Die Entwicklungsgeschichte des Menschen (und der Völker) zeigt drei Perioden; sie gehen ineinander über. In der ersten erlebt sich der Mensch als unumschränkten Herrscher, als Schöpfer seiner Welt, als G o t t : dieses Zeitalter ist das der ganz frühen Kindheit; in der ganzen Welt genießt das Kind göttliche Ehren (Christus das Kind, „Kind ist Häuptling" der Wadschagga, „Kind ist Gott" der Finnen usw.; vergl. Ed. Norden, Die Geburt des Kindes, Leipzig 1924). Auf diese Periode der Allmacht folgt die des Kampfes um die Macht, der G o t t wird zum H e l d e n : das heranwachsende Kind erlebt Dinge, die sich seinem Bereich („Reich", „Reicht u m " = das, was in meiner Reichweite liegt, was ich erreichen kann) entziehen, und kämpft um seine Vollkommenheit, ringt um Macht, Größe mit denen, die es als mächtiger, größer 4



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erlebt, und reift so zum Endkampf heran, den der Pubertätsübergang darstellt. In diesem Endkampf, der ursprünglich zwischen Jung und Alt auf Leben oder Tod als kurzes, kompaktes Ereignis stattfand, bei steigender Kultur aber sich milderte und auf eine jahrelange Periode mit einzelnen steilen Erhebungen ausdehnte, entscheidet es sich, ob der Prüfling sich durchsetzt oder nicht, ob er ein echter Held oder nur ein halber oder viertel Held, sozusagen ein Unheld ist, d. h. ob er gesund oder krank, schwach ist. Der Gesunde erringt sich im heldischen Kampfe Besitz und Weib, die trophische und die genlsche Reife, die Selbständigkeit in Beruf und Liebe und überschreitet so die Schwelle zur dritten Periode: zum echten M e n s c h e n t u m , wird ein Mensch mit heldischer Gesinnung. Als solcher ist er nicht mehr wie der Junge Held im Angriff, sondern Held in der Verteidigung. Der Unheld dagegen erreicht entweder das Ziel auf Umwegen, er „stellt sich nicht heraus", er kämpft unehrlich — oder er erreicht ein falsches, ein krankes Ziel. Alle Neurotiker sind solche Unhelden — und unheldisch sind alle Völker, die ihren Lebenskampf nach neurotischen Methoden führen. Figur 2: das hungerneurotische Erlebnis. Die Hypertrophie des Hungers ist in der Größe des Punktes H angegeben. Es besteht also ein infantilistischer Hunger, (Wunsch, Verlangen, Begehren, Mut usw.), ein gewucherter kindhafter Hunger auf genischem oder trophischem Gebiete, also krankhaft gesteigerter Liebeshunger oder Ernährungshunger (Typen: Eß-, Trink-, Luft-, Arbeitshunger) oder beides in mannigfachen Kombinationen. Die übrigen Stadien des Erlebnisses treten mehr oder minder zurück und sind allesamt relativ stark hungerhaltlg, also niemals ganz gesund, können aber den gesunden Stadien zum Verwechseln ähnlich sein, anderseits in allen Schattierungen ihre Krankhaftigkeit demonstrieren. Ist die Hungerneurose vorwiegend G e f ü h l s n e u r o s e , sind also vorwiegend die Gefühlszellen hypertrophisch, dann leidet der Kranke an gesteigertem Hungergefühl und die übrigen Gefühle treten mehr minder zurück und sind allesamt relativ stark hungerhaltlg, so daß eine volle Befriedigung(Freude, Sättigung) nicht erreicht wird, sondern die auf den Hunger folgenden Gefühle auch im Sinne der Hungernuance allesamt mehr oder minder von der Norm abweichen, oft so, daß sie zum Teil überhaupt unaktuell bleiben, oft so, daß sie die Nuance



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des Leeren, Unechten prägnant zeigen, oft so, daß sie so gut wie gesund erscheinen, — wobei freilich der Patient nur Vergleiche mit anderen seiner Gefühle ziehen und im übrigen sein Urteil aus den Mitteilungen und Beobachtungen anderer Menschen gewinnen kann, — ein Urteil, daß als das des Nervösen nicht gerade zuverlässig ist. Alle hypertrophischen, kranken Gefühle, aber auch Gegenstände und Begriffe sowie die zugehörigen Beschreibungen des Kranken haben den Charakter des Unechten, des Unreifen, besser: Unausgereiften — wie ja eben Krankheit so viel wie Hypertrophie (und Atrophie, auf die wir hier nicht eingehen wollen) von Unreifem, Infantilem ist. So hat auch der krankhaft gesteigerte Hunger etwas „Uneigentliches" an sich. H u n g e r i s t d a s G e f ü h l d e r L e e r e . Es ist auf die Erfüllung gerichtet. Aber der kranke Hunger hat es gar nicht so recht auf die Erfüllung abgesehen, er ist in seiner Übersteigerung die Hauptstation des Erlebnisses, ist gewissermaßen „Selbstzweck" — und eben darin kennzeichnet sich alles Unechte, daß es mehr in sich selbst verbleibt, in sich selbst aufgeht. Gewiß geht auch das hungerneurotische Erlebnis zu Ende, ein Ziel wird in jedem Falle erreicht, aber dieses Ziel entspricht tatsächlich nicht der Übergröße des Hungers (Wunsches, Willens). So bleibt der KrankhaftLiebeshungrige „unbefriedigt", er ist „gefühlskalt" bei aller Begierde, bei allem krampfigen Suchen und Versuchen. „So tauml' ich von Begierde zum Genuß und im Genuß verschmacht' ich nach Begierde". Nicht selten sind die genischen Anteile von Ernährungsorganen hypertrophiert, so daß z.B. gesteigerter Magenhunger auftritt, der eigentlich Liebeshunger ist und natürlich auch mittels Nahrungsaufnahme nicht gestillt werden kann (hysterische Magenleiden, Fellatio usw.). Umgekehrt kann der trophische Hungeranteil der Zeugungsorgane hypertrophiert sein, so daß ein unechter Genitalhunger auftritt, der für einen Liebeshunger gehalten werden kann und doch bloß auf Erwerb abzielt (männliche und weibliche Dirnen). Alle P e r v e r s i o n e n s i n d N e u r o s e n , und alle Neurosen sind hinsichtlich der Struktur ihrer sensibel-motorischen Verbindungen und ihrer Assoziationen Perversionen (Verdrehtheiten). Die sympathischen A u s d r u c k s w e i s e n hypertrophierter Hungerreflexe sind krampfige Einstellungen der Höhlen und Röhren auf die Hungerweite, Verbunden mit den entsprechenden Stoffwechselstörungen, die man als lokalisierten oder mehr allgemeinen chronischen Hungerzustand mit periodischem Intensitätswechsel (gemäß der Funktionsperiodik der kranken 4*



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Reflexsysteme) bezeichnen muß. Auch die an die kranken Reflexsysteme angeschlossenen Drüsen (Leber, Milz, Schilddrüse, Bauchspeicheldrüse, Eierstöcke, Hoden usw. und all die unzähligen Drüsen der Organe) funktionieren abnorm, womit Abweichungen in der Zusammensetzung der produzierten Stoffe (Sekrete, Inkrete, Hormone usw.) Verbunden sind. Alle Hungerneurotiker sind mager, vielfach lang aufgeschossen (Vergl. K r e t s c h m e r s „schizoide Typen"), selbst ihr Blut ist „leer". Ist die Hungerneurose vorwiegend G e g e n s t a n d s n e u r o s e sind also vorwiegend die zugehörigen Gegenstandszellen hypertrophisch, dann erlebt der Kranke innerhalb seiner kranken Bezirke, in der Ganzheit seines jeweiligen Erlebnisses Vorwiegend hungergefühlige Aktualitäten, hohle, leere Anordnungen von infantilistischer Beschaffenheltundauch alle andersgefühligen Aktualitäten des kranken Bezirks sind relativ stark hungerhaltig; er findet sich hier „dem Nichts gegenüber", sowohl in der Liebe wie in Ernährung und Beruf (falls er genisch oder trophisch krank ist), die Welt „gibt ihm nichts", all sein Sehnen „nützt ihm nichts", für ihn heißt es „Suchet, so werdet ihr nicht finden, klopfet an, so wird euch nicht aufgetan". A u s d r u c k s o r g a n e der sensorischen Reflexe sind die Skelettmuskeln (Rumpf- und Extremitätenmuskeln). So irrt der Hungerneurotiker „ziellos" mit unheimlichem, dämonisch anmutendem Zwange in der Weite umher, hat, wie man sagt, das Ziel aus dem Auge verloren, ist ewig auf der Suche, ein ewiger Wanderer zu Fuß, in der Bahn, im Auto, Schiff, Flugzeug, ein „Horizontspalter", eine Art Ahasverus, Chidher, Wotan, ja er ist oft nicht mehr bloß Sucher, er ist Süchtiger: in der Art des Liebesüchtigen, der, „immer unverstanden", um so weniger Erfüllung findet, je brünstiger er sie ersehnt (Sehn,,sucht"); in der Art des Alkoholsüchtigen (magerer Typus), des Nikotin-, Kokain-, Morphium-, Schlafmittelsüchtigen usw.; in der Art des Streit-, Besitz-, Ehre-, Größen-, Machtsüchtigen, der doch, wenn überhaupt, nur halbe (unechte) Erfolge erzielt; in der Art des Weltbummlers, mag er oder sie sich andauernd auf Badereisen oder Vergnügungsreisen oder Forschungsreisen oder Berufsreisen befinden, rastlos, ruhelos, kaum angekommen, schon wieder aufbruchsbereit, ohne Sinn für den behaglichen Rhythmus des Gesunden, den er höchstens für langweilig hält (und doch beneidet); in der Art des „Gernegroß", der einen ungeheuren Anlauf nimmt, um über einen Strohhalm zu springen, der mächtig ausholt — und „nichts leistet" (vergleichbar dem gewaltig kreißenden



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und doch nur ein Mäuslein gebärenden Berge, wie der lat. Sinnspruch sagt), der — als Schüler — indianische Idiome oder Kants Philosophie oder die „entlegensten" Dinge „studiert", sich aber in sein Schulpensum nicht Vertieft; in der Art des Habenichts, der fragt, was die Welt koste, des Rechtsuchers, der niemals zu „seinem" Rechte kommt, des Plänemachers, der nie etwas (ganz) durchführt, des Prahlhans, der in Wünschen schwelgt, einen Kult mit seinem „Willen" (Wille = Hungerreflexe) treibt und seine nichtigen oder mageren Ergebnisse nach der Übergröße seines Willens beurteilt und so überschätzt, des Enthusiasten, der nach allen Richtungen schwärmt und schweift, des Resignierten, der von sich sagt: wollen habe ich wohl, aber Vollbringen das Gute finde ich nicht Für das Verständnis der Begriffsneurosen ist es wichtig, zu wissen, daß die Begriffe die Erinnerungen an die zugeordneten Gegenstände (auch gegenständlichen, also geschriebenen oder gesprochenen Worte) sind. Den H u n g e r b e g r i f f s n e u r o t i k e r kennzeichnet innerhalb der kranken Bezirke die Hypertrophie, der Infantilismus der Begriffe, die also analog den Gegenständen gestaltet sind, und zwar analog den Gegenständen, wie sie in einem kindlichen Alter Vorhanden waren, oder analog den jetzt vorhandenen Infantilistischen Gegenständen; so haben die kranken Erinnerungen den besonderen Charakter des Unausgereiften wie die infantilistischen Gegenstände und Gefühle, sie sind Reste kindlicher Entwicklungsstufen, die auf diesen Stufen so alt geworden sind wie der ganze Mensch, dessen gesunde Anteile sich höher, zu erwachsenen Stufen entwickelt haben. In derartigen hungrigen Phantasien besteht das kranke Begriffsdenken des Hungerneurotikers: hohl und leer sind die Erinnerungen an Längst- oder Jüngstvergangenes oder sie sind relativ stark hungerhaltig, Objekte der Sehnsucht auf genischem oder trophischem Gebiete, „Idealgestalten" und begriffliche „Ausmalungen" des Künftigen, wie sie dem Kinde „vorschwebten" und nun dem Begriffskranken noch, gealtert, Vorschweben, Erinnerungen auch an die unzähligen vergeblichen Wünsche, Versuche, Sehnsüchte nach Heldentum, Größe, Vollendung, Glück. Zwanghaft stellen sich diese Ideen ein, nämlich so oft die hypertrophierten Zellsysteme aktuell funktionieren; sie sind nicht zu bändigen, sie kommen, wann sie kommen. Sie sind oft ganz spezialisiert: ein Quadrat taucht beim Erwachen „in Gedanken" auf, und in dieses müssen über Eck immer kleinere Quadrate bezeichnet werden, bis sie zuletzt ganz klein werden

— 54 — wie ein Punkt — und doch ist das kleinste noch immer kein Punkt! — Stunden vergehen allmorgentlich mit diesem Rätselspiel, einem Beispiel übrig gebliebener kindlicher Naturforschung, die lebhaft an die Forschung um die Quadratur des Kreises erinnert; ein anderer Patient berichtete, er stelle sich zwanghaft eine Pendeluhr vor, die einst in seinem Kinderzimmer gehangen und ihm mit Gehäuse und Pendel das Rätsel der Ruhe und der Bewegung (das übrigens jedes Kind aufs lebhafteste beschäftigt) vorgeführt habe, und so tritt jetzt noch in reifen Jahren dieses Ziel seiner Kindersehnsucht „vor sein geistiges Auge" — ungerufen und mit dämonischer Unwiderstehlichkeit ins Tagewerk sich einmischend, wie ein Zauber, der auch zauberhaft gedeutet wird (Erinnerung an die Lebensaufgabe, momento mori usw.); eine Kranke teilte mit, daß sie sich während der Umarmung ihres Mannes das „Bild" des Jugendgeliebten vorstellen müsse und so um jeden Liebesgenuß komme; ein Politiker „träumt" zwanghaft bei Konferenzen usw., wie er einst als Knabe gepredigt und sich Ins Kloster gesehnt habe („nun muß ich statt dessen mir hier den Quatsch a n h ö r e n " ) . . . Die B e s c h r e i b u n g des Hungerneurotikers von seinem kranken Erleben ist allemal dämonistisch, deuterisch, zweiflerisch : das überspannte Hungergefühl ist dem Wesen nach unverständlich, Frage: was ist es, warum ist es und warum bei mir, wie wirkt es, kann ich es beherrschen oder nicht und warum das eine oder das andere oder beides oder beides nicht? Ist es ein guter oder ein böser Dänion, ein Gott oder Teufel ? Und analoge Zweifel knüpfen sich auch an das kranke gegenständliche und begriffliche Erleben a n : die kindlichen Zweifel am Objekt, gewuchert, gealtert — es sind i m m e r die w e l t a n s c h a u l i c h e n , die „ p r i n z i p i e l l e n " Z w e i f e l , die l e t z t e n F r a g e n , die sich Im kranken Erlebnis und in seiner Beschreibung im Sinne einer erweiterten kindhaften Beschaffenheit vorführen und ohne deren Lösung nie ein Neurotiker irgend einer Art endgiltig gesund werden kann. So kann auch die — in den einzelnen Fällen natürlich verschieden lautende — Beschreibung des Kranken von seinen Symptomen nur krank sein. Und wie sich vom Herde der kranken Erlebnisse „Ausstrahlungen" ins Gesunde erstrecken und dieses nuancieren (S. 28, 47), so geht auch die Krankhaftigkeit der Symptombeschreibung anteilig in die gesunde Beschreibung ein und gibt ihr ein besonderes Gepräge. Die hungerneurotische Beschreibung (gesprochene, geschriebene Worte) hat speziell im kranken Bezirk, „verdünnt" auch im allgemeinen etwas Hohles,



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Leeres, Nichtssagendes, den Kern in weitem Bogen Umgehendes an sich, sie ist nicht gerade zielgerichtet, sondern para- oder periphrasisch, vielfach wichtigtuerisch, großartig aufgebläht, „ohne Inhalt" —, Vergl. „viel Worte um Nichts", „der langen Rede kurzer Sinn". Oft finden sich s p e z i e l l e F o r m e l n , die auch normalerweise in der Beschreibung von Hungersituationen vorkommen, beim Hungerneurotiker aber den kindhaften (kindischen) Charakter haben und zwanghaft-gehäuft auftreten, z. B. „Wenn ich erst m a l . . . (Direktor bin usw.)", „Hätte ich d o c h . . . (jetzt Geld, dann würde ich ein ganz großes Geschäft machen)", „Laßt mich nur machen!", „Der Wille kann alles", „Man muß nur wollen", „Wer rastet, rostet" usw., Redewendungen, die der Hungerneurotiker oft im Munde führt und die hier „leeres Gerede", oft eine Art Bluff („es steckt nichts dahinter") sind, ferner Floskeln wie „nicht wahr?", auch in Wiederholung „nicht wahr, nicht wahr?" oder „nicht wahr, nicht? (Hunger nach Bestätigung) oder Verwünschungen, Flüche, auch Zoten (als restierende Angaben kindlicher Geschlechtsneugierde) usw. Analog ist das hungerneurotische W o r t b e g r i f f s d e n k e n (kurz: Wortdenken). Auch hier finden sich weitschweifende, in großen Kreisen umlaufende, leere Wortreihen, die sozusagen als Worthöhlen in sich abgeschlossen sind oder zu geringfügigen Resultaten führen, ferner Zwangsideen im engeren Sinne, also zwanghaft auftretende Worte oder Sätze, die einen infantilistischen Wunsch beschreiben, z. B. mischte sich in den Wortgedankenablauf eines Kranken zwanghaft die Formel „Sprung auf! Marsch, marsch!" (Rest aus dem Soldatenspiel, das die Kinder betrieben hatten), eines andern Kranken das Wort „Hungerleider" (womit einst die Schulbuben die sozialen Unterschiede nach den Frühstücksstullen gekennzeichnet hatten), ein dritter „ermutigte" sich mit der Zwangsidee „es hat zwar keinen Zweck, aber" (häufiger, wahrscheinlich auch zwanghafter Ausspruch des Vaters) usw.; oft sind solche begriffliche Zwangswörter oder -sätze gemein, obszön, oft das Gegenteil, oft religiös usf. Vom Standpunkte des Hungrigen aus e n t s p r i c h t die I n t e n s i t ä t des H u n g e r s (Verlangens usw.) der G r ö ß e , d e m W e r t e d e s s e n , w o r a u f s i c h der H u n g e r r i c h t e t ; über die Zwischenstadien Angst, Schmerz, Trauer richtet sich der Hunger auf die Freude, den freudegefühligen Gegenstand, den Erfolg, die Erfüllung. Der Hungernervöse überschätzt also vom Standpunkte des hypertrophischen Hungers aus (im Sinne des Zweifels) das Künftige, worauf sich der Hunger richtet,



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das Begehrte, Ersehnte, seine „Erwartungen sind überspannt", und er unterschätzt das bestenfalls Erreichte, das ja niemals dem übertriebenen Hunger entsprechen kann; er überschätzt ferner sich selber, daß ihn — Fatum !— so hochgespannte, so „große Energie", so weitausholende Pläne „beseelen", und unterschätzt sich, daß er doch stets weniger „schafft", als er sich vorgenommen hat; er überschätzt ferner andere, die mehr erreichen als er, und unterschätzt sie, daß sie es ohne die große „Willenskraft" erreichen, also sozusagen sich schenken lassen. So beschreibt der Hungernervöse seine Erlebnisse Im Sinne der M e h r - u n d M i n d e r - , der U b e r - u n d U n t e r W e r t i g k e i t wechselnd seiner selbst, der Dinge, anderer Menschen, immer im Zweifel, was denn nun eigentlich zutreffe. Und diese Zweifel wuchern weiter; an eine Minderwertigkeitsidee schließt sich sogleich eine neue Mehrwertigkeitsidee und umgekehrt, z. B. die: die allzu große und erfolglose Sehnsucht richtet sich eben nicht auf irdische Ziele, der so Sehnende ist zu Größerem auserlesen und wird dereinst für sein ungestilltes Verlangen, für seine Not (aus der er so eine Tugend macht), seine Entbehrungen himmlischen Lohn empfangen — oder die: wie Verworfen, sündig, schuldig muß ich sein, daß mir die Brust fast Vor Sehnsucht birst und ich doch nichts erreiche! vielleicht ist es etwas Böses, wonach es mich so stürmisch hungert, dann leben in mir böse Wünsche, und es ist nur gut, daß sie nicht Erfüllung finden (insofern bin ich gesegnet, werde ich geprüft und bestehe die Prüfung, indem ich nichts erreiche, alle Freuden meide), vielleicht ist es etwas Gutes, wonach es mich treibt, dann wird es mir von meinen Neidern, Vom neidischen Schicksal vorenthalten oder ich bin nicht wert, Gutes zu erfahren,... wer kann mir sagen, was gut und böse ist? niemand außer Gott, die göttliche Stimme in mir, d. h. eben jene Zweifel, Deutungen, Fiktionen... aber dann wäre ja Gott in mir, wäre ich selber göttlich, ein Auserwählter, „der Ewige, auf den alles ankommt, der das Schicksal der Welt ist" — oder ein Von bösen Wünschen Besessener, der „die Kraft" hat, ihnen nicht nachzugeben, der Versuchung zu widerstehen... Es versteht sich, daß alle diese Deutungen dämonistisch sind, daß sie p r a g m a t i s c h e Z w e i f e l (ob richtig oder falsch usw.) oder e t h i s c h e Z w e i f e l (ob gut oder böse) oder ä s t h e t i s c h e Z w e i f e l (ob schön oder häßlich) sind; sie bauen sich regelmäßig zu weitschweifigen „leeren" Reihen aus, wovon hier nur ein ganz kurzes Beispiel gegeben ist. Der Z w e i f e l i s t der K e r n j e d e r N e u r o s e . Gewiß, auch der Gesunde, soweit er nicht Psychobiologe ist, deutet die Dinge, denkt dämonistisch, zweifelt (deuten



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svw. in zwei, duo zerlegen, also svw. zwei-feln), aber seine Zweifel machen ihm nicht eben viel zu schaffen, sie sind nicht gewuchert, sie sind — man möchte sagen: nicht so zweiflerisch wie die neurotischen Zweifel. Seine Erlebnisse sind präzis, er geht seinen Weg, erreicht sein Ziel, und wenn er auch das Wesen der Dinge nicht kennt (falls er nicht Psychobiologe ist), so verläuft sein Leben genau so harmonisch wie das Leben des Menschen, der die letzten Fragen gelöst hat, — wie das Leben alles Gesunden. Natürlich gibt es Unterschiede in der Differenzierung: der eine ist Muskel-, der andere Hirnarbeiter usw., der eine hat starke, intensive Erlebnisse (gemäß der Funktion seiner Reflexsysteme), ist willensstark, „energisch", d. h. hat intensive Hungerreflexe, und an sie schließen sich in harmonischem Ablauf große Ergebnisse, der andere ist zu hohen Leistungen nicht befähigt und ist doch ein „ganzer Kerl", bereit im Dienste an einer großen Sache sogar sein Leben hinzugeben und so seine Höchstleistung zu vollbringen, ein Held unbekannt zwar, aber nicht geringer als der Held, von dessen Ruhm die Erde erfüllt ist. Der Neurotiker aber ist immer nur ein halber oder viertel Held, und selbst eine „heldische" Leistung schillert für den Kenner in neurotischen Farben, hat etwas Unechtes, Unorganisches, Gemachtes, Gezwungenes, Übertreiberisches, Uberflüssiges an sich, hat keinen Dauerwert, baut nicht auf, sondern verbaut oder baut (zerstörerisch) ab. Menschen sind wir alle, gesunde oder kranke: der Gesunde, sofern er nicht letzte Erkenntnis begehrt und in die biologische, die realische Weltanschauung hineinwächst, lebt in seinen dämonistischen Zweifeln fast unbehelligt von ihnen, der Denkkranke, der Neurotiker aber kann nur gesund werden, indem er sich aus seinen Zweifeln, seinen Deutungen hinausentwickelt, indem sich sein Denken korrigiert — und diese eben geschieht im Wege der Erkenntnistherapie, er muß die letzten Fragen gelöst haben, sonst gibt es für ihn kein Heil. Zwei A r t e n des A u s g a n g e s des neurotischen Erlebnisses gibt es: entweder der Neurotiker erreicht ein Ziel, das dem normalen Ziel zum Verwechseln ähnlich ist, oder er erreicht ein krankes Ziel. (Mit Ziel ist hier das Freudestadium gemeint, es kann auch Ende oder Zweck genannt werden, ohne daß das Wort „Zweck" etwa eine dämonistische „Zwecklichkeit" [Finalität] angeben soll, vgl. „Zweck" als mittelalterliche Bezeichnung für den Zielpunkt der Scheibe, svw. das Hineingesteckte, die Zwecke.) Natürlich kann das einzelne Erlebnis nur „sein" Ende haben. Bei der Erwähnung des Heldentums habe ich schon den Unterschied zwischen der echten, also



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normalen Leistung und der unechten „normalen" Leistung skizziert. Es ist klar, daß einer an das Ziel F über die normale Schwelle S oder über eine abseitige (abnormale) Schwelle S', sagen wir kurz auf gradem oder auf krummem Wege gelangen kann. Der Gesunde geht und kann nur gehen den geraden Weg (über S). Der Hungerneurotiker hält sich dagegen entweder zu lange im Hungerstadium auf, bis er den geraden Weg (über S) findet, oder er geht (schleicht sich) In weitem Bogen um S herum, passiert S'. Die Hungerreflexe finden stets ihren Ausdruck in weiten Rundbewegungen, und so bewegt sich der Hungerneurotiker zunächst allzu lange In weiter Runde und kommt erst nach solchen — je nachdem mehr oder minder ausschweifenden und oft wiederholten — Bewegungen zu den weiteren Stadien des Erlebnisses. Im erstgenannten Falle passiert er S, im letztgenannten Falle geht er im Bogen um den „heißen B r e i " herum, und dann liegt auch sein Angst-, Schmerz- und Trauerstadium nicht auf der Geraden zum Ziele, und noch mehr als im erstgenannten Falle sind diese Stadien stark hungerhaltlg, die „normale" Angst, den normalen Schmerz, die normale Trauer kann der Hungerneurotiker in seinen kranken Vorgängen gar nicht erleben, er passiert also die Schwelle abseits von dem normalen Punkte, an dem die normale Prüfung (das Sich-durchsetzen usw., vgl. S. 42ff.) stattfindet, er rennt oder schleicht in weitem Bogen um den „Baum der Erkenntnis" herum, er springt nicht über das Seil, sondern umgeht die Sprungständer — und kommt schließlich auch dahin, wohin Adam, der vom Baume der Erkenntnis aß und so die Probe bestand, gelangte, wohin der gesunde Springer, der sich über das Seil schwingt und so die Aufgabe echt löst, gelangt. Der Unterschied beider Leistungen ist offenkundig, und die Beispiele lassen sich beliebig mehren. Der Hungerneurotiker kann also, falls seine Reflexorganisation entsprechend gebaut ist, also seine Reflexe entsprechend ablaufen, bei unechter Leistung doch ans normale Ziel gelangen, aber dieses Ziel ist dann eben nur „äußerlich" das normale, der Kenner sieht es sehr wohl, ob der Erfolg auf geradem oder krummem Wege erreicht wurde, ob das Geleistete echtgesund oder scheingesund ist. Die z w e i t e Möglichkeit des Ausganges des neurotischen Erlebnisses'ist die Erreichung eines abnormen Zieles. Der Weg des Hungerneurotikers ist dann derart gerichtet, daß das F unserer Figur nicht erreicht wird, sondern irgend ein anderes F, dasjenige eben, zu dem der Ablauf der kranken Reflexe im einzelnen Falle hinführt. Diese Bewegung mag gehen,



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wie sie mag, ein Ziel, ein Ende hat sie natürlich immer, es ist dann aber ein abweichendes, irriges, nichtiges, wertgeringes oder wertloses. Auch dieses Erlebnisse haben ja die bekannten fünf Stadien; es findet also stets die Überschreitung der Schwelle statt, nur liegt die Schwelle gemäß der mehr minder abweichenden Richtung des Erlebnisses verschieden, auch außerhalb der Linie, die in den Figuren „die Schwelle" schematisch darstellt; so haben auch die Erlebnisse, die nicht über diese Linie nach oben hinausführen, dennoch je ein Schwellenstadium. An diese Sachverhalte knüpfen sich ja eben auch naturgemäß die Deutungen, Zweifel des Neurotikers an, die Vergleiche seiner Ziele mit denen anderer Menschen, die Mehr- und die Minderwertigkeitsideen, die ganze Rätselhaftigkeit des Zwanges zu kranken oder doch bestenfalls nur scheingesunden Zielen. Bezeichnen wir die Hungerreflexe mit „Willen", dann kann ja der Hungerneurotiker als „Willenskranker" nicht noch obendrein einen gesunden Willen haben, der die kranken Reflexe dirigiere und korrigiere, ein Wille kann doch nicht krank und gesund zugleich sein! Hieraus erhellt schon der Unsinn des dämonistischen Anspruchs auf „Selbstbeherrschung": als ob im Menschen ein Anderes (Seele, Geist, Wille usw.) drinsäße, das den Menschen beherrsche (und merkwürdigerweise wiederum „vom Menschen" beherrscht werden solle), das die kranken Reflexe umstellen könne, ja müsse usw., während es sich doch um rein biologische Abläufe handelt, die sich gemäß der Struktur der Persönlichkeit vollziehen. Es ist kompletter Unsinn, zu verlangen, der Kranke solle seine kranken Reflexe beherrschen. Wie soll er das bloß machen! Nein, so geht es nicht: der Kranke kann nur, falls ihn seine Entwicklung dazu führt, aus der Krankheit seiner Reflexe derart, daß diese sich in Richtung Norm ausbauen, daß sich ihre Entwicklungsdifferenz ausgleicht, hinauswachsen, das allein heißt gesund werden, und das kann nicht durch Medikamente oder Badekuren oder gutes Zureden (Suggestionen) oder Couesche Zauberformeln oder Hypnose geschehen, auch nicht durch Erweiterungen des ganzen dämonistischen Deutekrams, wie sie die „Psychoanalyse" Freuds und. die „Indivi dual Psychologie" Adlers und ähnliche mystisch-phraseologische Lehren betreiben, sondern einzig und allein auf dem Wege des allenthalben an die biologischen Tatsachen sich haltenden Unterrichts, der die Differenzen zwischen der Struktur der normalen und kranken Persönlichkeit, des normalen und kranken Erlebens und Beschreibens aufzeigt und so dem Kranken Gelegenheit ver-

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schafft, die realischen Sachverhalte kennen zu lernen und sich aus seinem erlebnis- und beschreibungsmäßigen Nöten, Konflikten, Zweifeln, Deutungen und Deutereien zur einzig-möglichen Erkenntnis, zur Klarheit und Wahrheit emporzuentwickeln; dieser Weg, der nicht um Haaresbreite von der biologischen Tatsächlichkeit abweicht, der frei von jeder Mystik, jeder Fiktion ist, ist eben der psychobiologische Unterricht, die Erkenntnistherapie. Sobald sich so die hypertrophischen Reflexe z. B. des Hungerneurotikers normalisiert haben, wird er keine Umwege mehr machen können, nicht mehr zum kranken Ziele gelangen können, wird er nicht mehr anders wie gesund „wollen" können. Wir sprachen bisher von der Hypertrophie der einen Gefühlsspezies, des Hungers. Die Neurosen können nun aber k o m p l i z i e r t sein, es kann also noch eine zweite und dritte Gefühlsspezies hypertrophiert, die Hungerneurose also mit Angst- und (oder) Schmerzneurose kombiniert sein (Fig. 7—9). In welche Rubrik dann die Neurose einzuordnen ist, ergibt sich aus dem Überwiegen der Hunger- oder der Angst- oder der Schmerzsymptome; stehen also die Hungersymptome im Vordergrund, so rechnet klinisch der Krankheitsfall zur Hungerneurose, ist eine komplizierte Hungerneurose. Die Erkenntnistherapie erstreckt sich dann nicht bloß auf die eine Kategorie von Symptomen, sondern auf das Gesamt der Krankheit; es ist also unmöglich, daß jemand seine Hungerneurose verliert und z. B. seine Migräne behält, so daß diese dann extra behandelt werden müßte. Es ist War, daßbei der komplizierten Neurose die einzelnen Symptome entsprechend nuanciert sind, die Hungeraktualitäten also z. B. relativ stark angsthaltig sind usw. Fig. 3: das angstneurotische Erlebnis. Die Hypertrophie der Angst ist in der Größe des Punktes A angegeben (von der Besprechung der Atrophie wollen wir hier absehen). Es besteht also eine infantilistische Angst, eine gewuchert-kindhafte Angst auf genischem oder auf trophischem Gebiete, also krankhaft gesteigerte Liebesangst oder Ernährungsangst (Typen: Eß-, Trink-, Luft-, Arbeitsangst) oder beide in mannigfachen Kombinationen. Die übrigen Stadien des Erlebnisses treten mehr oder minder zurück und sind allesamt relativ stark angsthaltig, also niemals ganz gesund, können aber den gesunden Stadien zum Verwechseln ähnlich sein, anderseits ihre Krankhaftigkeit in allen Schattierungen demonstrieren.



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Ist die Angstneurose vorwiegend G e f ü h l s n e u r o s e , sind also vorwiegend die Gefühlszellen hypertrophisch, dann leidet der Kranke an gesteigertem Angstgefühl (innerer Unruhe, Beklemmung, Druck usw.) und die übrigen Gefühle treten mehr oder minder zurück und sind allesamt relativ stark angsthaltig, so daß sie im Sinne der Angstnuance von der Norm abweichen, also auch keine volle Befriedigung erreicht wird. Auch die hypertrophischen Angstreflexe können natürlich unaktuell verlaufen (wie alle normalen und kranken Reflexe); man darf also nicht glauben, daß nur der angstkrank sei, der bewußte Angstgefühle habe. Die Hypertrophie kann sich auch ohne bewußte Angst in Form kranker Organfunktionen äußern, die dann ihrerseits (als Herzklopfen, Magen-Darmbewegungen, inneres Zittern usw.) bewußt sein können (und zwar in einem besonderen Hirnrindenzentrum, dem koordinativen Zentrum, in dem die Muskelaktionen registriert werden). Auch die übrigen Gefühle eines Angsterlebnisses können zum Teil unaktuell bleiben oder an Intensität mehr oder minder zurücktreten — immer sind sie in einer gewissen Welse anders wie die normalen gleichnamigen Gefühle, sie sind eben stark angsthaltig, angstnuanciert und haben so etwas Unechtes an sich, wie bei der Hungerneurose (p. 51) für diese besprochen; was da über das Wesen der Hypertrophie gesagt ist, gilt auch für die Angst- wie jede andere Neurose. Während der Hunger das Gefühl der Leere, der weiten Höhlung ist, ist die A n g s t d a s G e f ü h l der Ö f f n u n g , der Einengung, die allerdings auch eine Leere (weiblich, negativ) ist, aber eben einer eingeengten; die Öffnung liegt zwischen Höhlung und Schwelle, ist also der Übergang von der weiten Höhlung zur engen Schwelle und somit selbst Einengung (Vgl. Ang-st, Äng-ste, Eng-e, lat. ang-ina, ang-ustae Engpaß usw.). Auch die krankhaft gesteigerte Angst hat es sozusagen weniger auf die Erfüllung abgesehen, sie ist sozusagen die Hauptsache Im Erlebnis, und erst nachdem die Angstreflexe ihre hohen Funktionsgrade Verlassen haben, die Angst entsprechend abgeklungen ist, geht das Erlebnis in das Schmerzstadium usw. über. Die normale Angst dagegen ist auf den glatten Fortgang des Erlebnisses ins Schmerzstadium gerichtet, also nicht in sich „verkrampft". So bleibt der KrankhaftLiebesängstliche unbefriedigt („Gefühlskälte" als Angstsymptom), vor lauter Angst kommt er nicht zum „Anschluß" oder nicht zum Orgasmus oder zu einem so schwachen genitalen Freudegefühl, daß es eben „unbefriedigend" Ist. Auch bei der Angstneurose finden sich die bei der Hunger-



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neurose (S. 51) erwähnten P e r v e r s i o n e n , d. h. genische Anteile trophischer Organe oder trophische Anteile der Genitalien sind hypertrophiert, so daß die betr. genischen Gefühle einem trophischen Organ, die betr. trophischen Gefühle dem Genitale zugeordnet sind und diese Reflexe auch an den „verkehrten" Stellen ihren Ausdruck finden. Die A u s d r u c k s w e i s e n der hypertrophischen Angstreflexe sind — mindestens während ihrer Hochfunktionen — krampfige Verengungen der zugeordneten Organe, also krampfige Kontraktionen der kurzen Rundfasern, die sich an den Höhlen- und Röhrenwandungen, besonders aber an ihren Öffnungen vorfinden (Vgl. S. 40). Die H a r n b l a s e ist z. B. ein solches Hohlorgan; kontrahieren sich mehr die Angstfasern, die In der Wandung des Blasenkörpers liegen, dann drückt sich die Blase aus, der Harn läuft a b ; kontrahieren sich dagegen die Angstfasern der Öffnung (des Schließmuskels) dann kann der Harn nicht austreten. I m Falle der Angsthypertrophie wird also entweder der Harn sehr oft, in kleinen Mengen ausgeschieden (der Kranke muß alle Augenblicke „laufen"), oder er kann gar nicht gelassen werden, es besteht Krampf des Schließmuskels, und bis er sich gelöst hat, kann kein Tröpfchen austreten, oder es besteht Inkontinenz, Unfähigkeit, den Harn zu halten, entweder in der Form des ersten Falles, wobei der Kranke alle Augenblicke ein paar Tröpfchen ausscheiden muß, oder in der Form des Bettpissens oder in der Form, daß der Harn ständig absickert, also eine krampfige Lähmung des Schließmuskels oder der ganzen Blase besteht (die Lähmungen können auch Symptome eines organischen Nervenleidens sein). Bei der Hungerneurose kommen solche starke Verengungen nicht vor, also auch nicht derartige Symptome. Es ist dies der Fall der „Blasenangst" (sog. Blasenschwäche). Sind die zum D a r m gehörigen Angstreflexsysteme hypertrophiert, also auch die Ausdrucksapparate, die kurzen Rundmuskeln, dann zieht sich der Darm krampfig zusammen, es besteht Stuhlträgheit, wobei auch die beiden Schließmuskeln des Mastdarms krampfig geschlossen sein können (Verstopfung). Die Darmschleimhaut ist dicht mit Drüsen besetzt; vollzieht sich der hypertrophische Angstausdruck an den Drüsenkörpern, dann fließt reichlich Schleim, Darmsaft in den Darm ein, auch bei Beteiligung der Blut- und Lymphgefäße Serum aus diesen, der Kot ist schleimig, durchfällig; sind dagegen die Drüsenöffnungen krampfig Verschlossen, dann ist der Stuhl abnorm trocken, Indem zu wenig Schleim



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usw. abfließt. Verschließen sich die G a l l e n w e g e krampfig (Gallen- oder Leberangst), dann kann die Galle nicht in den Darm fließen, es gibt Gallenstauung, Leberanschoppung (Leberschwellung), Gelbsucht usw. — alles als neurotische Symptome, als Organneurose; hierbei ist auch die Galle selber abnorm zusammengesetzt. Analog finden sich neurotische Störungen der B a u c h s p e i c h e l d r ü s e n f u n k t i o n mit mangelndem Abfluß des Verdauungssaftes in den Darm oder des Inkrets ins Blut, also Störungen der Verdauung, des Stoffwechsels (nervöser Diabetes). Verschließt sich im Angstkrampf der Magenpförtner, kann die Speise aus dem Magen nicht in den Darm übertreten, bis sich der Krampf gelöst h a t ; sind Vorwiegend die Angstfasern des Magenkörpers in krampf iger Funktion, dann wird der Speisebrei zu rasch in den Darm übergeführt oder es tritt Erbrechen ein. In beiden Fällen sind die Magen-Darmdrüsen derart beteiligt, daß die Verdauungssäfte zu reichlich (Übersekretion) oder zu spärlich (Untersekretion bis zur Saftlosigkeit, Achylie) fließen und ein abnorm zusammengesetzter Verdauungssaft abgesondert wird, woraus sich die Verdauungsstörungen (Appetitlosigkeit usw.) bis zur Entstehung von Magen-Darmgeschwüren verstehen. Bei hypertrophischer L u n g e n - oder L u f t a n g s t kontrahieren sich die zu den gewucherten Reflexsystemen gehörigen kurzen Rundfasern der Luftwege, entweder der Lungenbläschen an bestimmten Stellen, so daß eine echte Lungentuberkulose — auch u. U. dem Fachmanne — vorgetäuscht werden kann (jede ärztliche Untersuchung ist eine Angstsituation, wobei sich eben die speziellen Angsterscheinungen, hier also Lungenkontraktionen, z. B. an der Lungenspitze einstellen können, die sich sofort lösen, sobald die Untersuchung vorüber), oder der Lungenbläschen in weiterem Umfange, auch mit Beteiligung der AlVeolargänge und Bronchiolen, ja auch Bronchen, so daß Beklemmungen, Atemnot bis Asthma einsetzen. Auch am K e h l k o p f kann es — eben in Angstsituationen — zu Angstverschlüssen kommen: es kann kein Wort entweichen, vox faucibus haeret, es wird gestottert usw., oder zu Schrecklähmung (Aphonie). „ H e r z n e u r o s e " ist gewöhnlich Bezeichnung für Herzangst, auch mit Herzschmerz, also für Hypertrophie der zum Herzmuskel gehörigen Angst- und Schmerzsysteme. Hierbei kommt es also zu Herzkrämpfen mit Verengungen, Herzflimmern, Unregelmäßigkeit des Pulses (Extrasystolen usw.), Herzasthma, Herzstichen, ausstrahlenden Herzneuralglen usw. Kontrahieren sich die arteriellen H a a r g e f ä ß e (Kapillaren)



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d e r H a u t , dann wird sie blaß; kontrahieren sich die venösen Haargefäße der Haut, dann wird sie rot, indem sich das arterielle Blut staut: das bekannte E r b l a s s e n - E r r ö t e n angstnervöser Menschen. Vollziehen sich solche Kontraktionen im Gebiete der H i r n r i n d e , dann stellen sich Bewußtseinstrübungen, Schwindel- und Ohnmachtsanfälle, Seh-, Hör-, Tast-, Riech-, Schmeckstörungen usw. ein; die Kopfangstgefühle selber werden als Druck im Kopf, auf die Kopfplatte, Band um die Stirn usw. beschrieben. Bei Migräne gesellt sich hierzu noch der hypertrophische Kopf-, Augen-, Magen-, Leber-, Gallen-, Genital-, Nervenschmerz usw. Krampfige Angst- und Schmerzkontraktionen von Blut- und Lymphgefäßen, im Verein mit solchen der umgebenden Muskeln führen zu Blut- und Lymphstauungen (Schwellungen, Ödemen, Krampfadern, Hämorrhoiden usw.); es ist ohne weiteres einzusehen, daß die eigentliche Heilung in der dauernden (nicht bloß vorübergehenden, mit Arzneimitteln usw. erreichbaren) Lösung der krampfigen Zusammenziehungen besteht, wie sie mittels der Erkenntnistheorie erzielt wird. Die G e n i t a l a n g s t d e s W e i b e s äußert sich in Form krampfiger Kontraktionen der kurzen Rundmuskeln der Genitalien. In den großen Schamlippen liegt der Scheidenschließmuskel : kontrahiert er sich krampfig, z. B. vor oder bei dem Liebesverkehr, dann verengt sich oder verschließt sich der Scheideneingang und da ist der kräftigste Mann hilflos (Vaginismus, wobei manche Frauenärzte immer noch gewaltsame Dehnungen Vornehmen, statt die Frauen zum Nervenarzt zu schicken; penis captivus). Verschließt sich der Muttermund krampfig, dann kann keine Samenzelle eindringen, keine Befruchtung eintreten, aber auch das Menstrualblut kann nicht eher abfließen, als bis sich der Krampf gelöst hat (Menstruationsbeschwerden, Dysmenorrhoe, die in den meisten Fällen zum Nervenarzt, nicht zum Frauenarzt gehört); dies gilt auch für krampfige Verschlüsse des Eileiters, wobei ebenfalls Befruchtung unmöglich, am Eierstock, wobei Störungen der Funktion sowohl bei dem Eiaustritt wie bei der Absonderung des Inkrets mit ihren Folgen; dies gilt für den Uterus selbst mit ständigen Beschwerden (Unterleibsdruck, -schmerz), mit zu reichlichen oder zu spärlichen Menstruationen, mit Unfruchtbarkeit, Vorzeitiger Abstoßung der Frucht (Abort), G e b ä r s c h w ä c h e m i t neurotischen Katarrhen (Weißem Fluß *) Die Stillschwäche ist in sehr vielen Fällen nicht „Mangel an Milch", sondern nervöse Angst- und Schmerzkontraktion der Brustdrüsen (einer oder beider), also Ausdruck der Angst vorm Stillen, des Schmerzes beim



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als Sekretionsneurose, also hypertrophische Drüsenfunktion). Die meisten „unterleibskranken" Frauen bedürfen nervenärztlicher Behandlung, und zwar der Erkenntnistherapie. Die G e n i t a l a n g s t des M a n n e s äußert sich in Verschluß der Blutkammern des Gliedes, so daß es nicht steif werden kann oder im gegebenen Moment erschlafft, oder anderseits nicht mehr erschlaffen kann, indem das eingetretene Blut nicht abfließt (Priapismus). Kontrahieren sich hypertrophierte kurze Rundfasern der Hoden, Samenleiter, Samenblasen, Prostata, der Ejakulationsmuskeln, dann wird der Same zu rasch ausgeworfen (vorzeitige Samenentleerung, Ejaculatio präcox) oder anderseits zu lange oder (intra coitum) überhaupt zurückgehalten; kontrahieren sich die Angstfasern der Vorsteherdrüse (Prostata) allein, dann wird Prostatasaft, vermischt mit Samenzellen, abnorm ausgeschieden, ohne Erektion, bei allen möglichen Gelegenheiten, die der Kranke nervös-ängstlich erlebt (Begegnung mit der Geliebten, Stuhlentleerung usw.). Auch die S i n n e s o r g a n e (Auge, Ohr, Haut usw.) können neurotisch funktionieren, und besonders auffällig sind auch hier die angst- und schmerz neurotischen Funktionen (die man z. T. leicht für Zeichen organischer Krankheiten halten kann), z. B. Veränderungen bis Verlust des Sehvermögens (Feinsehen, neurotische Kurzsichtigkeit, Blindheit), Flimmern (z. B. Flimmerskotom bei Migräne usw.), Einengungen des Gesichtsfeldes, Fehlsehen, Schielen, Bindehautkatarrhe, Zwangsweinen usw.; Schwer- und Feinhörigkeit (jem. „hört das Gras wachsen", „Hörüberempfindlichkeit"), Ohrensausen u. a. „subjektive Ohrgeräusche", häufiges Verhören (Fehlhören), Schwindel usw.; Hautveränderungen wie Fältelungen (vorzeitige Krähenfüße, Stirnrunzeln, Grimassieren usw.), Hautstarre, Verfärbungen abnorme Trockenheit oder Talgabscheidungen, Schweißausbrüche, Blutungen („Stigmen", vgl. Therese Neu mann u. a.), Urtikaria (Nesselsucht) u. a. Schwellungen (flüchtiges Oedem usw.), Fälle von Psoriasis (Schuppenflechte), Akne u. a. Dermatosen; Heuschnupfen (Heufieber), nervöser Schnupfen, Schwellungen der Schwellkörper der Nasenmuscheln, Schleimfluß („Ergüsse"), abnorme Trockenheit mit Störungen (bis Verlust) des Riechvermögens, Feinriechen (Überempfindlichkeit gegen Gerüche) usw.; analoge Stillen — immer mit langer Vorgeschichte (z. B. das Mädchen schämt sich seiner schwellenden Brüste usw.). Wird die Neurose (erkenntnistherapeutisch) behoben, dann kommt die Milchabsonderung in Gang. 5



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Störungen des Schmeckorgans wie überhaupt der Mundhöhle usw. usw. Diese wenigen Beispiele mögen hier genügen. Alle Funktionen aller Organe kommen in neurotischer Abart, als Oberund Unterfunktionen Vor. Bei alledem können Angstgefühle bewußt sein, brauchen es aber nicht, die Reflexe können unbewußt verlaufen — und dann die Symptome um so rätselhafter sein, auch für den Arzt, der die Psychobiologie nicht kennt und so zunächst immer auf organische Krankheiten eingestellt ist, also mit Medikamenten, dem Messer, Brenner usw. gegen (unerkannte oder erkannte) nervöse Leiden vorzugehen Versucht. Ich erwähnte ferner schon, daß genische Gefühle auch trophischen Organen und umgekehrt zugeordnet sein können ( P e r V e r s i o n e n ) , auch die Ausdrucksweisen sind dann pervers; so können sich hypertrophische genische Angstreflexe, statt, wie man erwartet, am Genitale, auch am Magen, an der Lunge, am Herzen usw. ausdrücken; es besteht dann ein genisches (hysterisches) Magenleiden (vgl. Appetitlosigkeit der Verliebten, Erbrechen der Schwangeren), ein genisches Asthma, eine genische Herzneurose usw. Ob eine Neurose genisch oder trophisch Ist, muß von Fall zu Fall entschieden werden; die Symptome sind sich vielfach ganz ähnlich, in den meisten Fällen liegt eine Mischneurose vor mit vorwiegendem genischem Anteil (Genose, Hysterie) oder vorwiegendem trophischem Anteil (Trophose, Neurasthenie). Die Angstneurotiker sind mager, sofern z. B . Eßangst besteht oder die Darmgefäße sich krampfig kontrahieren, so daß nur relativ wenig Nahrungsstoffe resorbiert werden, oder eine Stoffwechselangst derart, daß die Zellen nicht genügend Nährstoffe aufnehmen, mit begleitenden Drüsenfunktionsstörungen (hormonalen Störungen) vorliegt. Ausgeprägt findet sich oft auch eine Hautangst, deren Zeichen eine Verengung Zusammenziehung, Verhärtung der Haut, besonders der sichtbaren Hautpartien (Gesicht, Hände) während der Angstsituationist (vertrotztes, „Verbocktes" Gesicht); die Haut wird sozusagen zum Panzer. Andere Angstneurotiker sind wohlproportioniert, wieder andere fett, z. B . viele Herzneurotiker, Asthmatiker usw. Genug hiervon, ich kann bei weitem nicht alle Symptome angeben, ich will nur Grundsätzliches mitteilen und an Beispielen erläutern. Der Leser beobachte und denke nach! Ist die Angstneurose Vorwiegend G e g e n s t a n d s n e u r o s e , sind also vorwiegend die zu den kranken Reflexsystemen gehörigen Gegenstandszellen hypertrophiert, dann erlebt der

— 67 — Mensch innerhalb seiner kranken Bezirke vorwiegend angstgefühlige Aktualitäten, enggerundete hohle Anordnungen von infantilistischer Beschaffenheit an den Individuen und Situationen und auch alle andersgefühligen Aktualitäten des kranken Bezirks sind relativ stark angsthaltig — wie denn von dem Krankheitsherde aus auch in gesunde Gebiete Angstanteile (Angsteronen) „ausstrahlen" und so die gesunden Erlebnisse mehr oder minder angstnuanciert, also eigentlich nicht ganz gesund sind (s. S. 28,47,54). Innerhalb des kranken Erlebens, das mehr oder weniger ausgedehnt sein kann (je nach der Ausdehnung und Verbreitung der Hypertrophien), ist die Welt bedrückend, bedrängend, fremd, unheimlich in der rätselhaften „Kraft" ihres — allemal dämonistisch gedeuteten — „Einflusses", in ihrer geradezu gespenstischen, eben dämonischen und so unbegreiflichen Macht, um so unheimlicher, als es keine Möglichkeit gibt, sich dieser Macht zu entziehen, als auch „der beste Wille" glatt versagt. Wie schon bemerkt, ist die Gegenstandsneurose stets mit Angstgefühlen (und angstgefühligen Begriffen) durchsetzt, so daß das gegenständliche Angsterlebnis noch unheimlicher wird, insofern als der D e u t u n g nach die Ängste von den Gegenständen „verursacht" werden — wiederum eine rein dämonistlsche Deutung biologischer Sachverhalte und Zusammenhänge. Die Angst wird selber zum Dämon, der geheimnisvoll aus der Umwelt wirkt und auf den Menschen übergehen, ihn besessen halten kann, ohne daß er sich dieser Mächte erwehren kann. A u s d r u c k der sensorischen Angstreflexe sind die Aktionen der kurzen Beugemuskeln, also die Angst- (Schutzusw.) Bewegungen. Sie sind im Falle der Neurose, also der Hypertrophie, krampfig: hastig, zuckend, zitternd, „schreckh a f t " bis zu ausgeprägt klonischen und tonischen Formen (Ticks, epileptische, hysterische Krämpfe, Schreckstarre). So zwinkert z. B. der sehängstliche Neurotiker fortgesetzt, besonders auffällig in Angstsituationen, mit den Augen, quetscht die Lider zusammen, hat Lidflimmern, schielt usw.; dem Schreibängstlichen zittert die Hand, sobald er die Feder ergreift oder ansetzt; der Sprechängstliche spricht ,;überstürzt", unterbricht „ungezogen" den Andern, stottert, stammelt, verstummt; der Gehängstliche trippelt, hastet, hetzt oder steht „wie festgebannt"; der Arbeitsängstliche ist wie der Liebesängstliche übertätig, übereifrig, überfleißig usw. — und alle leisten bei aller Anstrengung und Überanstrengung nichts Rechtes, ja vollführen in ihrer Angst oft gerade das, was sie vermeiden wollen, d. h. geraten ans kranke Ziel. 5*



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Alle Ü b e r a n s t r e n g u n g i s t k r a n k h a f t , somit auch alle Unteranstrengung (Zurückhaltung, Faulheit, Scheu, Erschöpfung, Unfähigkeit, trophische und genische Impotenz): beides sind nur verschiedene Funktionsabläufe der kranken Reflexsysteme. „Überanstrengung" ist immer Funktion hypertrophischer Reflexsysteme, und es ist eine Erfahrungstatsache, daß diese Funktion in kürzeren oder längeren Perloden in ein Stadium der (mehr oder minder ausgeprägten) krampfigen oder schlaffen Lähmung übergeht; man spricht dann von „ N e r v e n z u s a m m e n b r u c h " und deutet ihn dämonistisch als Wirkung der Überanstrengung, indem man wähnt, daß auch ein Gesunder sich überanstrengen und diese Überanstrengung „die Nerven" schädigen könne, während realiter die Überanstrengung schon Kennzeichen der Neurose, Krankheitszeichen und „das Versagen der Nerven" nur eben ein Stadium im Funktionsverlauf der kranken Reflexsysteme ist. So kann der Sehängstliche unfähig zu sehen werden (neurotisch erblinden, kurzsichtig werden, Gesichtsfeldeinengungen haben, das Anblicken vermeiden usw.), der Schreibängstliche schreibunfähig, der Sprechängstliche stumm werden, der Gehängstliche fallen, gehunfähig werden, der Arbeits-, der Liebesängstliche arbelts- bzw. liebesunfähig werden usw. Und alle diese, alle neurotischen Symptome „liegen" In kindlicher Entwicklungsebene: der Arbeitsängstliche „spielt" arbeiten oder arbeitet spielerisch, der Liebesängstliche „spielt" lieben usf. E i n z e l n e S y m p t o m e : nervöse Angst vorm (beim) Aufstehen, vorm Anfang (und Ende), Vorm Tage, vorm Anziehen (also hungrig-ängstliches Liegenbleiben), vorm Waschen, Zähneputzen, Vorm Frühstücken, Vor gewissen Getränken(Kaffee,Tee, Milch usw.), vorm Klosett, vor der dort notwendigen Entblößung, vor der Stuhlentleerung, Harnentleerung, vorm Hinausgehen (man wird gesehen!), vorm Wetter (Wärme, Kälte, „Zug", Erkältung, Gewitter), vorm Ausgang, vor der Straße (Straßen-, Platzangst), vor der Arbelt (Faulheit), vor Arbeitsgenossen, Vor dem Vorgesetzten (Prüfer), vor dem Schreibfräulein, vorm (beim) Telephonieren, Diktieren, Schreiben, Lesen, Rechnen usw. usw., vorm Eintritt in ein Zimmer, vorm Verlassen des Zimmers, beim Sitzen In der Bank, in der Mitte, Vor und bei Konferenzen, Vorm und beim Fahren mit der Bahn, dem Auto, dem Schiff (Reisefieber, Fahrkrankheit) usw., vorm Eintritt in einen Laden, ein Lokal, vorm Hinsetzen und Aufstehen, vorm Essen (gewisser Speisen) und Trinken (Wein, Bier usw.), vorm Rauchen,



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vorm Oberkellner (dem man eine Bestellung sagen muß, der einen ansieht — wie es andere Gäste auch tun, „aller Augen sind auf mich gerichtet '), Vor der Beendigung des Tagewerks (das man mit nervöser Hast oder Peinlichkeit Verrichtet hat), vor der Heimkehr in die „leere Bude" (Budenangst, horror vacui, Angst vorm und beim Alleinsein) oder zur Frau, Vor der Verabredung, vorm Termin (auch vor Gericht usw.), vor der Unterhaltung, vorm Kino, Theater, der Musik, der Geselligkeit, der Werbung, der Verlobung, Hochzeit, Begattung, Mutter-, Vaterschaft, vorm Sitzen bei Tisch, vorm Gefragt-, Angesprochenwerden, vor der Antwort, Vorm Sprechen überhaupt (Stottern, Stammeln, Lispeln, Stimmschwäche, Heiserkeit, Verschleimung), vorm Auftreten auf der Bühne, dem Katheder, der Kanzel (Lampenfieber), vorm Singen, Vortragen (chronische Katarrhe der Sänger, Redner, Lehrer), vor Geräuschen, Vorm Schlafengehen, vorm Bade, vorm Einschlafen, vor der Nacht (Schlaflosigkeit), Aufschrecken, schwere Träume usw., Angst Vorm Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, vor Berührungen, Bewegungen usw., Angst Vor Bazillen, Krebs, Krankheit überhaupt (Hypochondrie) usw. usw. . . . Kurz, alle Erlebnisse können angstgefühlig, Von nervösen Ängsten begleitet sein, ja es kann allgemeine Lebensangst (Abstinenz, Askese, Weltflucht usw.) bestehen, und manch einer flieht aus lauter Angst vor dem Leben in den Tod. Analog ist die kranke B e g r i f f l i c h k e i t des A n g s t n e u r o t i k e r s beschaffen, Vgl. hierzu S. 5 3 f . Er leidet also an „Unfähigkeit zu denken" (Denk-, Gedächtnisschwäche), an Angstvorstellungen, die Erinnerungen an gegenständliche Angsterlebnisse der weitzurückliegenden oder jüngsten Vergangenheit sind und auch den Charakter des Künftigen tragen können (begriffliche Ausmalungen möglicher Angstsituationen, vgl. Allen Edgar Poe). Auch diese Angstvorstellungen treten zwanghaft, „gegen den Willen" des Kranken auf und zeigen somit wiederum, eben in dem Zwange, ihre (vermeintliche) unheimliche Macht (Denkangst, Denkzwang). Nicht selten sind mit ihnen Angstgefühle verbunden, auch die entsprechenden Innern Ausdrucksweisen am Herzen (Herzjagen), an der Lunge (Beklemmung, beschleunigte Atmung), an der Haut (Schweißausbrüche, Kälteschauer), am Genitale (Ausscheiden von Sekret) usw. Die Angstvorstellungen sind wieder genische oder trophische; sie stellen sich ungerufen und dringlich bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten ein und sind überaus lästige Störenfriede, so genische Vorstellungen (nackte Frauen oder Männer, Teile ihres Körpers,



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onanistische usw. Vorgänge) während der Arbeit oder umgekehrt (begriffliches Zeitunglesen, Beten, Einkaufen usw., während des Kusses, des Koitus). Ein Kranker stellte sich zwanghaft vor der ehelichen Umarmung zwei kämpfende Mädchen vor, deren eines unterliegen mußte, — wobei er schwere Angst als unentbehrlichen Vorläufer der Erektion bekam. Usw. Auch die B e s c h r e i b u n g des Angstneurotikers von seinen Symptomen ist allemal krank — wie überhaupt die Beschreibungen, die die Neurotiker von ihren kranken Erlebnissen geben. Und wie schon bei Besprechung der Hungerneurose gesagt, auch im Wortbezirk, also in der Beschreibung zeigt sich das Ausstrahlen aus dem Krankheitsherde in die Umgebung, so daß die Beschreibung des Kranken im ganzen etwas Schillerndes, Abartiges an sich hat. So trägt jedes Wort des Angstkranken wenigstens für den Kenner das Stigma der Angstneurose : die Beschreibung geht um den „heißen Brei" herum wie die des Hungernervösen, aber in einem engeren Kreise, auch der Angstnervöse meidet es, auf den Kern der Sache einzugehen, er umschreibt ängstlich, er hat Angst vor einem bestimmten, sicheren Worte, vor einer klaren Bezeichnung, die ja eine Entscheidung bedeuten würde. Und die Entscheidung ist die Schwelle, und Vor der Schwelle liegt eben die Angst. So spricht er immer mit Vorbehalt, immer vorsichtig, mißtrauisch, rückzugsbereit und rückzugsfähig, stotternd, überstürzt, undeutlich (vgl. die Vorstellung mit Namennennung!), sich immer die Möglichkeit offen lassend zu behaupten, er wäre mißverstanden worden; er lügt und leugnet oft — hinterhältig oder derart, daß er schließlich selber an die Wahrheit seiner Lügen glaubt, an Wahrheit und Lüge zweifelt, er verspricht sich oft und typisch — und sucht mit seiner Angstlogik, mit hundert und tausend Vorwänden und Ausreden jeder Entscheidung über die Tatsache der Lüge usw., ihre Berechtigung usw. zu entgehen. Gemäß dem infantilistischen Erleben kann auch die Beschreibung nur infantilistisch sein, also kindähnlich im Sinne der Hypertrophie. Das Kind will „alles essen", aber der gesunde Erwachsene ißt nicht mehr „alles" weder in dem Sinne, daß er andern nichts lassen will, noch in dem Sinne, daß er etwa Steine äße; sagt aber ein Erwachsener „Ich möchte alles essen", so zeigt sich in dem Ausspruch die Hungerneurose und dazu die Angstneurose (Angst davor, daß ihm etwas weggenommen werden könnte, Angst um die Allmacht, den Allbesitz, wie sie beim ganz jungen Kinde normal ist). Ein



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Bankbeamter (!), der an Rechenangst litt, beschrieb diese so: die Zahl sagt mir nichts. Ja, was soll ihm denn die Zahl sagen?! Der Satz beschrieb die ersten Zahlenerlebnisse des Kindes, das Kind stellt an die Zahl, die ihm natürlich unbekannt, fremd und somit unheimlich ist wie alles Neue, in dieser oder jener Formulierung die Frage nach dem Wesen, etwa so: antworte mir, Zahl, was bist du, wie kommst du Strich dazu, „eins" zu heißen und „eins" zu bedeuten, und du Schnörkel sollst eine Zwei sein, nicht bloß 1 plus 1, sondern eine Summe? — was ist das; eine Summe? wie kommt sie zustande und warum ist eins und noch eins soviel wie zwei? Und siehe, die Zahl blieb in unserem Falle stumm, eine Sphinx, eine Gottheit, ein Dämon, der sich niemals enthüllt — warum nicht ? Antwort: „erkennt ihr ihn, so muß er von euch ziehn", d. h. der Dämon hat seine Macht verloren, sobald er erkannt ist, der Dämonismus löst sich auf gegenüber der Erkenntnis (daher „Erkenntnistherapie" als Heilmethode für alle kranken — und gesunden Dämonisten!). Natürlich sind solche Sätze nicht die ganze Beschreibung des Kranken von seinem Leiden, sie sollen nur ein Beispiel für den Infantilismus der Beschreibung sein; der Bankbeamte schilderte, wie ihn die Zahlen narren, wie sie erfüllt sind von der „Tücke des Objekts", wie sie ihm unter den Augen wegrutschen, so daß die Additionen usw. zehn-, zwanzigmal wiederholt werden müssen und den Rechner immer noch der Zweifel quält, ob die Sache stimmt oder nicht (er ist eigentlich Bankbeamter geworden, um hinter das Geheimnis der Zahl zu kommen). So bewegte er sich auch beschreibungsmäßig um die eigentliche Problematik der Zahl herum, er konnte auch in Worten nicht mit ihr umgehen, selbst beim Bericht über sein Leiden hatte er Angst vor der unheimlichen Zahl, die man eigentlich nicht nennen darf, um sie oder ihre dämonische Macht nicht zu zitieren, zu beschwören, er erzählte angsterfüllt von seinem Zeremoniell wie von einem Gottesdienst, bei dem man die Gottheit nicht mit Namen, sondern nur mit einem Ersatz-Namen benennen darf, er „umschrieb" den Kernpunkt — und konnte ja auch gar nicht anders reden, wo ihm doch der Kernpunkt eben unbekannt war. Mit der Lösung der neurotischen Probleme ändert sich auch die Beschreibung, sie wird präzis, zielsicher, knapper und gewöhnlich merkt das die Umgebung des Kranken eher als der Kranke selber (er merkt es vielfach überhaupt nicht). Auch der Angstneurotiker hat nicht selten spezielle Floskel n, die er zwanghaft äußert, eher hervorstößt, z. B. begrüßte,



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mich ein Stotterer jedesmal mit den vor meinem Gruß hastig voreilig hervorgestoßenen Worten „Wie gehts?" Man muß das freilich gehört haben: das reine Angstprodukt war's, als wäre er erlöst, nun das erste Wort gehabt zu haben, zunächst von weiterem Sprechen entbunden zu sein, eine somit überragende Leistung vollbracht zu haben (etwa wie das Kind solche Redewendungen der Erwachsenen nachspricht und sich so „groß" vorkommt). Hierher gehören die sog. Verlegenheitswörter; ein ängstlicher Redner wird gern „äh-äh", „ehemehem" oder Klischeewörter wie „wissen Sie" oder „gewissermaßen" oder „kann man sagen" oder „ich möchte mich so ausdrücken" oder „natürlich" oder „blendend" usw. einflechten oder sich häufig räuspern (er gewinnt so Zeit). Hierher gehört auch das ängstliche, starre Festhalten an bestimmten Formulierungen (zeremoniöses Sprechen, nicht „abweichen vom Worte, das dir gesagt ist", Vom Worte des Herrn, des Meisters) — usw. Im W o r t b e g r i f f s d e n k e n des Angstnervösen finden sich ebenfalls enggerundete, In sich verschlungene Wortreihen Vor, also solche, die sich Vor der Entscheidung in Worten, vor dem Zu-Ende-denken, vor der Erkenntnis, der Wahrheit vorsichtig hüten, auch solche, die sich „streng" (str-eng, also eng, ängstlich) an einmal gegebene, Vorgeschriebene Richtlinien halten — derart wie auch das Wortsprechen und -schreiben des Angstneurotikers vielfach etwas Formelhaft-Erstarrtes, AuswendigGelerntes (aus Kinderjahren restierend!), Phonographisches an sich hat. Auch hier zeigt sich, daß der Mensch nichts beschreiben kann, was er nicht erlebt h a t ; hat also der Neurotiker vorwiegend eng-hohle Erlebnisse, also solche, bei denen die andersgefühllgen Gegenstände zurücktreten und obendrein relativ-stark angsthaltigsind, nun so kannerauch nicht anders beschreiben. Auch die „Gedanken" kreisen zwanghaft um den Kern der Sache herum. Ein Politiker (einer??) konnte, stolz auf seinen Gedankenreichtum, seine Rednergabe, stundenlang, „in Gedanken" und „laut" reden, ohne „etwas" „zu sagen", d. h. ohne zielgerichtete, positive Sachlichkeit; es waren leere, hohle, verhüllende Worte, hunger-angstgefühlige Tiraden, gewiß in einer Art Logik aneinandergereiht, aber im Sinne des in sich verschlungenen Gedankenfilzes, Phrasen, wie man sie auch in den Orakeleien mancher Wissenschaftler findet, die — ehrlich oder unehrlich — den schon Vom Titel Suggestionierten mit ihren Wortgaukeleien tiefgründige Gelehrtheit Vortäuschen, „blauen Dunst vormachen" und natürlich auch solchen Gallimathias begrifflich denken, ja sogar ganze



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Lehrgebäude auf dem windigen Fundament solcher Gedankeninzucht und mit ständiger Verwendung solcher leerer, aber gelehrt klingender Fiktionen aufkonstruieren. Auch der Denkund Rededrang — eine Art Pendant zum Stottern — gehört hierher. Manche solcher (Hunger- und) Angstneurotiker wissen, daß sie — nichts wissen, daß sie „falsches Zeugnis reden", ihre Hohlheit hinter Wortgepränge „Verbergen" (und gerade mit ihren Phrasen offenbaren 1 )), können aber eben nicht anders denken und reden, wie ihre Reflexe Verlaufen; andere halten ehrlich ihr Geschwätz für Weisheit und ahnen nicht, daß sie nur hohles Wortgeträtsche zum besten geben und daß die Formulierung, also die Technik „es nicht macht", sondern daß die Ausreifung der Worte und ihrer Reihen zu erwachsenen, zu normalen Gebilden vonnöten ist, zu solchen Reihen, die über die einzelnen Stadien Hunger, Angst, Schmerz, Trauer zur Freude, zum normalen Ergebnis dahinfließen und dazu einen normalen Sinn (=_ Wortbedeutung, Wortanalyse) haben. Das „Kleben an der Formel" ist angstneurotisch (Denkzwang), die Formel oder Formulierung wird geradezu zur Gottheit, gegen die man nicht sündigen darf (vivat formula, pereat m u n d u s ! ) — s i e ist aber lediglich ein in der Kindheit - Lehrzeit auswendig Gelerntes oder zeigt die Persistenz des kindlichen Verfahrens, sich mangels Selbständigkeit strikte an die Worte der Älteren (Eltern) zu halten, dann hat man ja keine Verantwortung, falls die Worte, denen man gehorcht, die man nachbetet, falsch oder unwahr sind („ipse dixit"). Besonders schwierig ist es, diese Sachverhalte neurotischen Gelehrten aufzuzeigen, namentlich sog. exakten Wissenschaftlern, die in Formeln denken und den Nachweis ihres überängstlichen Klebens an der Formulierung mit einem Angriff auf die Richtigkeit ihrer Formeln und somit ihres allerhöchsten Denkens verwechseln und mit einer Halsstarrigkeit und Heftigkeit abwehren, als ob es auf Leben oder Tod ginge. Auch im Wortbegriffsdenken finden sich s p e z i e l l e F o r m e l n , die als Zwangsideen bekannt sind, z. B. „was will die Welt Von mir?", „die Leute sind hinter mir her", „ich werde Verrückt", „was soll bloß aus mir werden?", im Vortrag: „jetzt bleibst du stecken" usw. oder Einzelworte wie „Kindesmörderin", „Syphilitiker", „Lampendoktor" (in der Kindheit des Patienten wurden die Lampen gelegentlich zum „Doktor" gebracht, der Patient wurde Arzt, aus der Kindheit datiert 1 ) Das (angeblich) Fouquésche „Les paroles sont faites, pour cacher nos pensées" gilt nur für schlechte Menschenkenner.

— 74 — das Wort „Lampendoktor" als Erinnerung daran, daß das Kind Klempner werden wollte, eben ein großer Lampendoktor, den es enorm bewunderte, vor dem es große Ehrfurcht, eine Art Angst hatte). Das Stimmenhören mancher Geisteskranker gehört hierher, sofern es nicht Halluzinationen sind. Die „innern Stimmen" sind der Deutung nach dämonistische Warnungen, Gebote, Verbote, das gute oder das böse Gewissen, Einflüsterungen Von Gott oder Teufel, Versuchungen, Irrlichter — kurz allemal dämonistische Gebilde oder Auswirkungen. Solche Zwangsideen mischen sich als Kennzeichen der Angstsituation in das Wortbegriffsdenken oder Wortsprechen (bei Vorträgen, Predigten usw.) oder Wortlesen ein, unterbrechen den ruhigen Fluß der Wortreihen und durchsetzen sie mit einem mehr minder großen Angstgehalt, so daß die Rede usw. im Zeichen der quälenden Unsicherheit steht, zumal ein solcher Redner usw. aus der Erfahrung Vom „Irrlichtern der Gedanken" heraus sich genau vorbereitet, auswendig lernt und so an bestimmte Formulierungen gebunden ist (Zwangsidee: „Wehe, wenn du sie um Haaresbreite verläßt!"). Vom Standpunkte der nervösen, also hypertrophierten Angst aus e n t s p r i c h t die G r ö ß e der A n g s t (im S i n n e des Z w e i f e l s ) d e r G r ö ß e , d e m W e r t e des B e v o r s t e h e n d e n , dessen, worauf sich die Angst richtet, also zunächst des Schwellen-, dann des Trauer-, endlich des Freudestadiums. Die Überschreitung der Schwelle (die Leistung) erscheint dem Angstnervösen eine so große Gefahr, wie die Angst groß ist, eine Gefahr auf Leben und Tod (vgl. „welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben"), ein todeswürdiges Verbrechen, eine Todsünde, — mit der der Übertritt „Ins Gottsein" („du wirst sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist"), in die Freiheit, in die genische und trophische Selbständigkeit (Weib und Besitz, Mann und Besitz) erkauft wird — ganz nach primitivem Muster des Pubertätskampfes, bei dem die Jugend das Alter, der Jüngling den Vater, das Oberhaupt überwand und tötete, falls er nicht selber fiel (Vgl. S. 44, 50). Ist es also richtig oder falsch, den Kampf zu wagen, überhaupt (irgend etwas) zu leisten, ist es gut oder böse, schön oder häßlich, was ich tun will, wozu es mich treibt und was zu tun mir dennoch die Angst Verbietet, wovor sie mich warnt („Gewissen") ? Angstausdruck ist Hemmung, gewiß, aber Hemmung ist nicht „absoluter" Stillstand, das Erlebnis geht weiter — und eben dieses gehemmte Weitergehen ist das Schwanken, ob ich muß, soll, darf, kann oder nicht, und die schwankende Beschreibung ist die Deutung der Angst und der auf sie folgenden



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Stadien. Angsthaltige Trauer ist Reue; also werde ich die Überschreitung der Schwelle bereuen müssen, und so ist diese Überschreitung wiederum als „Übertretung" Von mehr minder hoher Schuldhaftigkeit gekennzeichnet. Anderseits folgt zuletzt das Ergebnis, die Erreichung des Ziels, das Freudestadium, also ist doch „am Ende" das Schwellenstadium, der schmerzliche Abschied vom Bisherigen nur ein Vorstadium zum Erfolg, nach dem es mich hungert, — gewiß, aber: ist dann eben die Freude, der Erfolg nicht etwas Falsches, Schlechtes, Häßliches, wenn doch nur ein schuldhafter Kampf dazu führt, ist es nicht gerade richtiger, anständiger, schöner, „sich selbst zu besiegen", sich ohne Kampf zu unterwerfen, den Kampf um so fragwürdige „Güter" zu meiden, „zu tun, als ob man täte", Kind zu bleiben („so ihr nicht werdet wie die Kindlein..."), unschuldig zu bleiben, sich zu opfern — und „von andern zu leben" (als Schuldenmacher — wie das Kind, das „von Vater und Mutter lebt", usw.)? Oder ist es nicht nur eine Schwäche, dem Kampfe, dem Schmerz, dem Leiden und so der Erkenntnis, der Wahrheit, dem Erfolge auszuweichen — wo doch so viele andere glücklich zum Ziele kommen und die irdischen Freuden der Liebe, des Essens und Trinkens, der Arbeit, kurz die natürlichen Freuden des Lebens genießen? Aber sind diese Leute wirklich glücklich? Es scheint wohl nicht — oder doch? — also so ganz eindeutig als richtig, gut, schön ist ihr Lebenswandel wohl nicht? — wenn aber die Möglichkeit besteht, daß ich falsch, schlecht, häßlich handle, indem ich die Schwelle überschreite, wenn die Möglichkeit besteht, daß ich unterliege, indem ich siege, daß ich mich (pragmatisch, ethisch, ästhetisch) blamiere, indem ich trotz aller Warnungen „meines Innern" oder „Von außen", also trotz der Angst den entscheidenden Schritt riskiere, dann bleibe ich lieber, wie und wer ich bin, bin Sieger, indem ich die Versuchung niederkämpfe, mich beherrsche, dann bestehe ich die Prüfung, indem ich gar nicht erst hingehe (majg ein anderer für mich gehen!), besiege das Leben, indem ich seinem Anspruch, seiner Herausforderung widerstehe, besiege den Tod, indem ich den Lebenskampf meide, bin ein Held des Verzichts, ein Tapferer in der Feigheit, ein Starker in der Schwäche, um so stärker, je größer die Angst, der Stärkste, gar ein Dämon, Gott selber: unsterblich, unnahbar, in „spendid isolation", unverantwortlich, allweise, allmächtig — wie das Kind im Mutterleibe, wie der Säugling, der seine kleine Welt beherrscht, für den andere leisten — der Schwächste der Schwachen!?... So finden sich auch hier wieder die (schon



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S. 56 angeführten) wechselnden, verfilzten, unlösbar sich im Kreise drehenden Ü b e r - und U n t e r s c h ä t z u n g e n , Ü b e r und U n t e r w e r t i g k e i t s i d e e n , das Karussell infantilistischer Fiktionen, in dem man schwindelnd und festgeklammert, unsicher-scheinsicher, feige-scheinmutig, ratlos-selbstgewiß, unter-überheblich, verzagt-großtuerisch, sklavisch-herrisch, Gott-Teufel spazieren fährt — immer im Kreise. — Diese nervöse, hypertrophische A n g s t hat der Neurotiker auch v o r d e r G e n e s u n g . Er hungert zwar danach, aber an den Hunger schließt sich das Angststadium an, und in seiner Angst ist ihm die notwendige therapeutische Arbeit, der Übergang in die Gesundheit mit seinen Folgen (nämlich daß er leistet, wovor er ja in seiner Neurose eben gesteigerte Angst hat!), die Überschreitung der Schwelle eine ungeheure, übermenschliche, dämonistisch gedeutete Aufgabe, ein Kampf auf Leben und Tod. Wir sahen: Krankheit ist Infantilismus; insofern der Mensch neurotisch ist, hat er die Pubertätschwelle noch nicht überschritten, die Pubertätsprobe noch nicht bestanden, noch nicht Vom Baume der Erkenntnis gegessen, ist er noch unreif. Und so erlebt er den (eigentlichen, nämlich erkenntnistherapeutischen) Genesungsweg wie der Primitive die Pubertätsprobe, die ja ein Kampf auf Leben oder Tod war (s. S. 44, 50). Seite Deutungen lauten grundsätzlich: Ich zweifle, ob die Erkenntnistherapie wirklich der Heilweg ist; wäre er es, so wäre er längst gefunden, so müßten viele oder alle Ärzte diese Therapie anwenden oder doch anerkennen; ich muß mir zunächst ein eignes Urteil bilden, um mich zu entscheiden, ob ich den Weg gehe (d. h . : ich muß gesund werden, um mich zu entscheiden, ob ich gesund werden kann! Das Urteil des Kranken ist nämlich — krank; er kann ein gesundes, also richtiges Urteil erst haben, nachdem er gesund geworden ist, also die Erkenntnistherapie erlebt hat); ich muß an die Sache mit allem Vorbehalt herangehen; denn wenn auch viele Kranke geheilt worden sein mögen, braucht mir die Erkenntnistherapie noch lange nicht zu helfen; ich bin der Allerkränkste, mir kann keiner helfen, könnte mir ein Mensch helfen, so hätte mir einer der 30 oder 50 Ärzte, darunter weltberühmte Autoritäten, gewiß geholfen — und könnte mir jemand helfen, dann wäre meine ganze Lebensauffassung, wonach ich der Kränkste, der größte Leider, Sünder, Sühner, Christus selber, ja ein Über-Christus bin, wonach ich die Mission habe, die Menschen mit meinem Leiden zu erlösen, hinfällig — und was wäre ich dann noch? — Nichts statt Alles — das würde ich nicht ertragen; und



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erreiche ich die Gesundheit, so werde ich das leisten müssen, wovor ich Angst habe, wovor mich die Angst warnt; die Aufgaben werden sich mehren und vergrößern, bis ich sie doch nicht mehr werde leisten können — und dann ist es besser, ich fange gar nicht erst an, zumal ich vielleicht in Sünde und Schuld falle, wenn ich mich „in die Welt", „ins Leben" begebe — in Todsünde, die ja nur mit dem Tode, gar dem ewigen Tode, bestraft wird; erreiche ich aber die Genesung nicht, dann muß ich verzweifeln, wenn doch die Erkenntnistherapie der einzige Heilweg ist — und da ist es wiederum besser, ich bleibe, wie ich bin, so habe ich wenigstens das Leben, ein mühseliges zwar, aber vielleicht eben darin gesegnetes, eine Vorbereitung auf ewige Seligkeit, einen Wechsel auf himmlischen Lohn . . . ; vielleicht ist der Arzt doch bloß — wie „alle" Ärzte — ein Scharlatan, ein Schwindler, ein Teufel, das Böse In Person — und da soll ich mich mit ihm einlassen, seiner Lehre folgen? apage, satanas! — oder er ist wirklich ein Erlöser, ein Gott: wie sollte ich Armseliger diesem erhabenen Wesen mich nähern dürfen, wer könnte Gott und seine Weisheit ertragen, Heber bete ich: führe mich nicht in Versuchung! in die Versuchung, Gott zu versuchen! So — in Form Von Vorwänden beschreibt der Nervöse seine Angst vor der Genesung; sie sind auch trivialer: die Behandlung kostet Zelt und Geld — und Zeit hat der Nervöse hierfür nicht, obwohl er sein Dasein übertätig-untätig verbringt, verspielt, vergeudet, und das Honorar kann auch der Wohlhabende oder Reiche seiner neurotischen Angst nach nicht aufbringen: er war erst in dem teueren Bade oder in jenem Sanatorium, er hat eben erst eine große „Erholungsreise" gemacht oder „will" sie „erst noch" unternehmen, er hat schon „zu viel" Geld für die Ärzte „geopfert" — er hat für alle möglichen Dinge Geld, nur nicht für die Behandlung, die ihm das kostbarste Gut, die Gesundheit verschafft. All das sind Vorwände, Angstbeschreibungen, krankhafte Aussprüche oder Gedanken ängstlicher Abwehr gegen den Arzt, der — nicht den Kranken in seiner Krankheit bestätigt, sondern ihm aus seiner Krankheit herausführen will und kann. In ihrer nervösen Angst vor der Gesundheit fliehen nicht wenige Neurotiker vor der Therapie, die allein zur Gesundheit führt, in die Bequemlichkeit der Pulver und Mixturen, der Bade- und „Erholungsreisen", des sog. „Wechsels des Milieus" usw., und bleiben Säuglinge im Großformat. Wer aber den eigentlichen, den rechten Weg in die Genesung zu gehen beginnt, hat schon halb gewonnen. Natürlich ist der



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Genesungsweg nur vom Standpunkte des Neurotikers aus gesehen so schwierig; wer ihn zurückgelegt hat, findet ihn genau so einfach und selbstverständlich wie die Leistungen, in denen er als Kranker versagte, wie das gesunde Leben überhaupt. Zwei A r t e n des A u s g a n g e s gibt es auch für das Angsterlebnis (vgl. S. 57): entweder der Angstneurotlker erreicht das Ziel, das dem normalen „gleicht", oder er erreicht ein krankes Ziel. Er kann nach längerem, überlangem Zögern den „rechten Weg" über S einschlagen oder sich im engeren Bogen als der Hungerneurotiker um den Schwellenpunkt S, den „Baum der Erkenntnis" herumschleichen 1 ) und so über S' zum äußerlich gleichen Ziele F gelangen wie der Gesunde, der geradenwegs den Schwellenpunkt aufsucht und dort kämpft, wo der echte Feind steht. Der Angstnervöse springt im letzteren Falle nicht über die Sprungschnur, sondern kriecht drunter weg: er hat sie genau so wenig berührt wie der Gesunde, der sich frisch, fromm, fröhlich, frei darüber schwingt, er hat das gleiche Ziel wie dieser erreicht — und hat sich obendrein die Mühe des Springens gespart, „ein kluger, intelligenter Kopf". Das angstnervöse Pferd springt nicht glatt über die Hürde wie die gesunden Rösser, es tänzelt hin und her, schnaubt und schwitzt, bäumt sich und bockt — na ja, vielleicht geht's schließlich doch noch, falls die Angst nicht allzu groß ist und der Reiter Geduld und Geschick (und nicht selber Angst) hat — oder es geht nicht, der Gaul bricht aus oder legt sich einfach hin oder er rennt ventre à terre nach Hause, in den Stall, allwo er sein Futter genau so gut kriegt wie die gesunden Gäule, schließlich hat er ja auch fleißig gearbeitet, hat sich sogar mehr angestrengt wie die gesunden, die nicht schweißbedeckt und abgejagt nach Hause kommen, bloß — er hat „nichts" geleistet, und die andern haben „etwas" geleistet und stehen höher in Preis und Klasse. Das Ausbrechen des Pferdes ist schon ein Beispiel für das Erreichen des kranken Ziels, das gesunde Ziel liegt jenseits der Hürde. So bricht, weicht mancher Angstnervöse vor der eigentlichen Entscheidung, der echten Prüfung, dem normalen Schmerzstadium aus : je nach der Organisation seiner Reflexe biegt er nach links oder rechts, nach allen möglichen Richtungen, sogar nach hinten ab, flieht Vor der normalen Schwelle S, schlägt einen Ab-, Irrweg ein, schreckt zurück, steht wie geDie „Umzingelung des Gegners" (bei S), die „List", die noch zum ehrlichen Kampfe gehört, ist noch normal; sie k a n n aber krankhaft sein, sofern der „Dolchstoß von hinten" erfolgt und heißt dann „Hinterlist".



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bannt in trotziger, verstockter, erstarrter Haltung, — er mag „wollen" oder nicht, d. h. nach dem gesunden Ziel hungern oder nach dem kranken, einen gesunden (genauer: fast gesunden) Hunger haben oder einen hypertrophischen, einen auf abwegige Ziele gerichteten; der „gute Wille" ist eben kein Dämon, der im Menschen wirkt und mittels dessen der Angstnervöse es fertig bringen könnte, nicht angstnervös zu sein, seine Angstreflexe zu beherrschen, abzuschaffen, umzustellen, den „bösen Willen" niederzuboxen — und wie die dämonistischen Deutungen lauten mögen. Nennen wir den gesunden Hunger den „guten Willen", dann muß der kranke Hunger der „böse Wille" heißen, aber wer einen gesunden Hunger hat, hat eben keinen kranken und umgekehrt, von einem Kampf zwischen beiden und mit der Angst kann da keine Rede sein. So verläßt der Schüler acht Tage vor der Abschlußprüfung die Schule — mit der „Motivierung" (lies: dem Vorwand), er werde bei dem „Chikaneur von Mathematiklehrer" doch durchfallen und die Freude wolle er dem nicht machen; dem Fuchs sind eben die — unerreichbaren — Trauben zu sauer. Der schüchterne Liebhaber redet seinem Mädchen immer wieder statt von der Liebe vom Wetter usw., bis der andere ihm das Mädchen wegnimmt, und natürlich ist dann der andere ein Schweinehund („warte nur, dir Vergelt ich's!" mit der Faust in der Tasche!) oder das Mädchen ist eben auch so „wie alle andern": treulos, „zu haben" — „äx, die Weiber!" für die ist „er" viel zu gut — aber so ist er einsam, verlassen, heimlicher Liebhaber, der „ihr" Gedichte und viele Briefe schreibt, „papierener Liebhaber", voll Sehnsucht nach Liebe, nach den zarten Armen — vor denen er doch immer ängstlich zurückweicht, — um so mißtrauischer, je mehr sie sich ihm öffnen, ein Schwächling und (oder) doch ein Held? Eine „Heldin" ist auch das junge Mädchen, das jede Berührung mit der „Sinnlichkeit" peinlichst meidet („man muß sich eben beherrschen, mit sich selber fertig werden") und „rein" und „unschuldig" ins 27. Lebensjahr eintritt: voll Angst vor der Liebesprobe In ihren einzelnen Entwicklungsstadien, Angst vorm Tanzen, vor „jeder Berührung", vor der Geselligkeit, vor der Unterhaltung, vor jedem Witz, vor dem Zusammengehen, vorm Geständnis, vorm Kuß, vor der Verlobung, der Ehe, aber überfleißig, übergewissenhaft in der Arbeit. Sieghaft hat sie alle „inneren" und „äußeren" Versuchungen niedergekämpft (Askese, Abstinenz); sie hat zwar mal in den Ubergangsjahren die „abscheuliche Jugendsünde" begangen, aber jetzt „denkt" sie sich lieber „satt" oder redet ihre genischen



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Reflexe ab, indem sie die Liebe herabsetzt und alle Menschen davor warnen möchte; sie gründet dann wohl einen Verein für gefallene junge Mädchen, ist Frauenrechtlerin und trägt pathetisch über die „sittliche Verworfenheit" der heutigen Jugend oder der „Jetztzeit" oder gar „Heutzeit" überhaupt und über die Fallstricke des Bösen vor, sie wird vielleicht gar („Beziehungen"!) ein Amt als Eheberaterin bekommen! So redet mancher Angstnervöse negativ, statt das, wovon er negativ redet, positiv zu tun. Er redet im Sinne der Perversion : sein Reden (und Denken) ist ein Ersatz für die Tat, und das Schimpfen über die Liebe ist ebenso Ausdruck genischer (allerdings hypertrophischer negativer) Reflexe wie das Liebeswerk! Andere Eheängstliche bleiben im „Verhältnis"-Stadium stecken, sind Schürzenjäger bzw. Freundinnen, Hetären oder leben in „wilder Ehe" und preisen diese unreife, also unfreie Liebe gar noch als „freie Liebe". Der Gesunde hält sich natürlich auch in der Liebe gesund, er wird zur rechten Zeit reif, sein endgiltiges Ziel ist die Vereinigung mit dem Geschlechtspartner, dem einen, zu dem er sich nach der Periode des Suchens hinentwickelt hat, und er wird sich diesen Menschen auf geradem Wege erringen, koste es, was es wolle, und wird die Einehe führen, ja der Gedanke des Ehebruches ist ihm einfach lächerlich, er hat ihn nicht einmal von sich aus, sondern hört nur davon, er lebt mit seiner Familie in vollkommener Harmonie, seine Ehe ist keusch und züchtig. — Aber es gibt nicht wenige v e r h e i r a t e t e J u n g g e s e l l e n weiblichen und männlichen Geschlechts: sie sind, insoweit sie die Ehe brechen, eben noch nicht ehereif, noch auf der vorehelichen Entwicklungsstufe. Manch einer (oder eine) gibt den Kampf um die Geliebte (den Gellebten) auf, ehe er begonnen h a t ; er ängstigt sich vor den Widerständen, hat tausend Bedenken und hunderttausend Vorwände — der Angstneurotiker ist der M e n s c h d e r V o r w ä n d e (nb! Vor-wände!), er ist der negative Held, er verzichtet „heldenmütig" auf das eigentliche, das normale Liebesziel, bleibt in der Einsamkeit (der Schwäche, nicht der Stärke) — oder er gerät immer wieder („es ist wie verhext") an ein unerreichbares Liebesziel (genischer Überehrgeiz: das „herrlichste Mädchen", die „erhabenste Frau" ist für ihn gerade gut genug — und dieses Idol sieht er nun ausgerechnet in einem Weibe, das sozial oder dem Alter nach oder als schon gebunden vernünftigerweise gar nicht in Betracht kommt, ja das er eben nur als unerreichbar „liebt" und nur so lange liebt, wie sie unerreichbar ist). Und dann triumphiert er — nicht



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anders wie jener, der vor dem normalen Liebesziel aus Angst abbog, — über sich und seine „Leidenschaft", über die Weltordnung usw. — und nimmt den allzu leicht erreichbaren Ersatz, nimmt („sich herablassend", überstürzt, mit krampfiger Versessenheit usw.) die „erste beste" — und die erste ist da keineswegs immer die beste —, erreicht ein krankes Liebesziel, schließt eine „ t e c h n i s c h e E h e " , eine formale Ehe (etwa wie der kleine Hans und die kleine Grete „Ehe" spielen), Innerhalb deren sich die trophische wie die genlsche Gemeinschaft ohne eigentliche Hingabe, mit äußerster Vorsicht, „nach Vorschrift", nach der Formel abspielt, eine Ehe, die „äußerlich" durchaus glücklich, normal erscheint, bei genauerem Zusehen aber sich als A n g s t e h e offenbart; beide Partner haben vor einander eine Mauer des Mißtrauens, eine Angstmauer aufgerichtet, sind ängstlich darauf bedacht, daß darin ja nicht die allergeringste Lockerung eintrete, daß ja der eine den andern nicht entdecke, sind ständig im Kampfe um die Überlegenheit. Grabeskälte herrscht da, eine Gemeinschaft, eine Bindung nur im Angstgebiete oder im Schmerzgebiete... die armen Kinder! — Oder andere Angstnervöse haben eine so große Angst Vor der reifen Liebe, daß sie auf „ F e t i s c h e " abirren, Ersätze für den Liebes- und Ehepartner in einem Stück Pelz, einer Locke oder Lockensammlung, Wäschestücken, Kunstgegenständen usw. finden und in kindhaften Formen der Liebesbefriedigung verblieben sind — Männlein wie Weiblein. Auch alle genlschen Perversionen sind psychobiologisch verständlich. — Da kommt ein junger Herr daher, einziger Sohn seiner Eltern, schon in den Dreißigern. Beruf: Stellungsuchender! Jawohl, er t u t gar nichts weiter als Stellung suchen. Er war Musterschüler auf der „Penne", er fing auch an zu studieren, aber kurz vorm Referendar entdeckte er, daß das juristische Studium „ n i c h t s f ü r I h n " sei, daß er dazu nur „gezwungen" sei von der Mutter, der „zu L i e b e " er sich seine sechs Semester mit dem öden Jus abquälte, bis es eben nicht mehr auszuhalten war. Wie gesagt, dies entdeckte er kurz vor der Prüfung! Er wich ihr aus. Wurde Privatgelehrter. Saß zu Hause in seinem Zimmer und „studierte" Medizin, die ihn von jeher angelockt hatte, namentlich Psychologie, von der ja nicht ganz feststeht, ob sie zur Medizin oder zur Philosophie gehört — eine prächtige Schaukel zwischen zwei Berufen, deren keiner ergriffen wurde, weil ja eben die Psychologie... usw. So kam er sich hochgebildet vor und war doch nur Gehirnfatzke. Zu den Mahlzeiten steckte er die Füße unter Vaters Tisch. Er 6



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war „hochbegabt", der Stolz der Mutter, — aber er wurde nichts. Der Vater drängte: „Du m u ß t d o c h a b e r e t w a s w e r d e n , J u n g e ! Da gab es eine „ B e z i e h u n g " zu einer pharmazeutischen Firma. „Psychologie der Reklame". Er ging hin, aber seine Leistungen „waren viel zu gut", sie waren „so vorzüglich, daß alle Kollegen ihn beneideten und chlkanierten, wo sie konnten", und auch der Chef „ h a t t e k e i n V e r s t ä n d n i s f ü r seine I d e e n " . Da konnte er „unmöglich" bleiben. Er saß also wieder zu Hause und suchte eine neue Stellung. Alle Verwandten und Bekannten wurden eingespannt. So war er noch in einem Sanitätsgeschäft, einer Drogenhandlung, einem Röntgeninstitut, einer Krankenkasse tätig, überall kurze Zeit, nirgends wurden seine „hervorragenden" Leistungen anerkannt. Nun ist seine Theorie: es hat keinen Zweck, eine Stellung anzunehmen, von der er nicht von vornherein sicher weiß, d a ß es n i c h t w i e d e r e i n F i a s k o g i b t . Eine Stellung, die ihm diese Sicherheit nicht bietet, kommt nicht in Betracht. Da wartet er lieber. So oft sich eine Möglichkeit bietet, stellt er die ominöse Frage — und erhält die selbstverständliche Antwort, daß man ja nicht vorher wissen kann, wie er sich einrichten werde, daß man das eben abwarten müsse. Nun ist er gerettet: eine solche Stellung nimmt er nicht an. Da sucht er lieber weiter. Er wird nie eine „ihm passende" Stellung finden. Er ist HungerAngstnaurotiker. Ein Fräulein Von 24 Jahren leidet s e i t z e h n J a h r e n a n S c h l a f l o s i g k e i t . „Sonst ist sie nicht nervös". Bloß periodisch Kopfschmerz (Migräne) usw. Auch Appetitlosigkeit. Augenbeschwerden: immer entzündet, wechselnde Sehschärfe. Leicht erregbar. Wird bald rot, bald blaß. Dann juckt es am ganzen Körper, besonders in der Klasse (Beruf: Lehrerin) — und so kommt ein ganzes Heer von Beschwerden zum Vorschein. Also sie s c h l ä f t n i c h t : d a s A u s k l e i d e n d a u e r t e i n e g u t e S t u n d e , da muß jedes Kleidungsstück an einem bestimmten Platz in einer bestimmten Anordnung liegen, z. B. die Wäsche auf dem Stuhl, und die Strümpfe so, daß sie herunterhängen, und zwar mit den Füßlingen nach dem Gesicht zu, darüber muß der Morgenrock (der rot sein muß) so liegen, daß alles bis auf die vorguckenden Füßlinge eingehüllt ist. Auf dem Kopfkissen muß ein kleineres Kissen überquer liegen, die Bettdecke darf nur bis zu halber Brusthöhe heraufreichen und muß ganz fest um den Leib liegen. Auf dem Nachttisch müssen die Gegenstände — und zwar eine Karaffe halb gefüllt, ein Glas dito, die Photographie des gefallenen Bruders, ein



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Röhrchen Adalin, ein Stück Schokolade und die Uhr — in einer ganz bestimmten, peinlichst durchgeführten und kontrollierten Anordnung liegen. Nun also, das ist alles erledigt, sie liegt im Bett: da muß sie nach der Tür sehen, ob n i c h t e t w a die K l i n k e h e r u n t e r g e h t (sie wohnt bei den Eltern), sie muß denken: ob ich wohl zugeschlossen habe? (das will sie nämlich nicht), der Zweifel wächst, sie muß aufstehen nachzusehen. Es stimmt, die Tür ist offen, sie legt sich wieder hin. Aber da — hat sich nicht die Klinke bewegt? Nochmals nachsehen! D a s w i e d e r h o l t s i c h z e h n m a l u n d ö f t e r . Schließlich sagt sie sich, es ist doch zu dumm, diese Komödie, also Licht aus und schlafen! Jawohl, kaum ist das Licht aus, meldet sich der Zweifel wiederum, fängt an heftig und heftiger zu bohren und zu zwicken. Schließlich — was ist zu machcn, sie dreht das Licht an und sieht nochmals nach — und dreht wieder das Licht aus und fängt wieder an zu zweifeln und dreht wieder a n . . . Die B o r d s c h w e l l e ! Was die manchen Leuten zu schaffen macht! Über die Straße gehen — um Gottes Willen! Das kann man nicht! Wie gebannt steht die oder der Kranke an der Bordschwelle: als ob der Schritt herunter der Schritt ins Verderben sei! Aber ei n klei nes Kl nd führt den Kranken hinüber! Ich sah eines Tages, wie ein junges (nicht mehr ganz junges) Mädchen einen Schupo bat, sie über die Straße zu geleiten. Aber, sagte der, Sie sind doch groß genug, allein hinüberzugehen! Sie ging aber nicht, sie k o n n t e n i c h t ! Auch war der Schupo ein stattlicher junger Mann. Angst vor der Straße — ein langes Kapitel. Sie Ist sehr fruchtbar, diese Angst: es gesellt sich Angst vor der Treppe, vor der Korridor-, vor der Zimmertür, v o r d e m A u f s t e h e n h i n z u : der oder die Kranke ist an den Stuhl gefesselt aus unbegreiflicher Angst, die wie ein tückischer Dämon bei jedem Versuch sich zu erheben, ja nur ans Aufstehen oder Ausgehen zu denken, zur Stelle ist. Das sind schwere Fälle, gewiß. Aber diese Symptome sind nur Vergröberungen analoger m i l d e r e r B e s c h w e r d e n , die eben kaum als nervös gewürdigt werden und in aller Ruhe zu schweren Formen aufwuchern können. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß auch der Angstneurose nicht mit Medikamenten, Badekuren, Sanatoriumskuren, Suggestionen, Hypnose im Sinne einer eigentlichen Heilung beizukommen ist, sondern daß der Nervöse lediglich auf dem Wege des „Aussteigens aus dem Karussell" eigentlich genesen kann, „eigentlich", d. h. nicht bloß symptomatisch, vorübergehend, sondern 6*



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radikal, von Grund auf, so daß die Neurose endgiltig vorüber Ist. Dies gilt für jede Neurose. Verliert der Angstkranke vorübergehend seine Angst, z. B. mittels Broms usw., dann ist seine Angstverfassung keineswegs auch nur im geringsten geändert, es ist alles wie vorher, nur sind die Angstzellen betäubt, narkotisiert, der Erlebnisablauf ist insofern nuanciert, aber doch beileibe nicht normalisiert, im Gegenteil, zum neurotischen Charakter des Erlebnisses t r i t t noch die Betäubung hinzu, da wird nicht etwa nunmehr das gesunde Ziel erreicht, falls es vorher (ohne Brom, Schlafmittel usw.) nicht erreicht wurde, sondern es bleibt alles beim Alten. Und wer wird einem Menschen gar noch raten, sich so zu „helfen" ?! Die Angstneurose kann mit den übrigen Neuroseformen k o m b i n i e r t sein, am häufigsten ist sie es mit der Hungerund der Schmerzneurose, dann auch mit der Trauerneurose, mit letzterer derart, daß zeitweise die angst-, zeitweise die trauerneurotischen Symptome im Vordergrund stehen, während Hunger-, Angst- und Schmerzsymptome in bunter Reihe sich Vorfinden. Figur 4: das schmerzneurotische Erlebnis. Gemäß der Hypertrophie der Schmerzzellen bestehen infantllistische, gewuchert-kindhafte Schmerzen auf genischem oder trophischem Gebiete, also krankhaft gesteigerte Liebesoder Ernährungsschmerzen (einschl. Berufsschmerzen) oder beide in mannigfachen Kombinationen und Perversionen. Die übrigen Stadien des Erlebnisses treten mehr oder minder zurück und sind allesamt relativ stark schmerzhaltig, also niemals ganz gesund, mögen sie auch den gesunden Aktualitäten zum Verwechseln ähnlich sein. Ist die Schmerzneurose vorwiegend G e f ü h l s n e u r o s e , sind also vorwiegend die Gefühlszellen der kranken Schmerzsysteme hypertrophiert, dann leidet der Kranke an gesteigerten (infantilistischen) Schmerzgefühlen und die übrigen Gefühle treten mehr oder minder zurück und sind allesamt relativ stark schmerzhaltig, so daß sie insofern von der Norm abweichen, also auch die Freude „schmerzlich" ist. Schmerzneurotisch ist aber nicht bloß der, der bewußte Schmerzen hat, sondern auch der, der sich überschmerzlich Verhält, d. h. in vielen und letzten Endes allen seinen Verhaltensweisen, mögen sie sich an innern Organen oder in Funktionen der Skelettmuskeln vollziehen, ein „Allzu-Schmerzllches", den Besitz hypertrophischer Schmerzsysteme demonstriert; die Schmerz-

— 85 — reflexe können also auch — wie alle andern gesunden oder kranken Reflexe — unbewußt, d. h. ohne Einschaltung von Aktualitäten ablaufen. Die Hypertrophie der Gefühlszellen kann sich also auch ohne bewußte Schmerzen in Form kranker Organfunktionen äußern, die als solche, als organneurotische Symptome bewußt werden. Natürlich ist das prägnanteste Symptom der Schmerzneurose eben der Schmerz als bewußtes Gefühl. Der S c h m e r z ist das S c h w e l l e n g e f ü h l (vgl. S. 51, 61). Die Schwelle ist die engste Stelle des Uberganges; sind jedoch die Schmerzfasern mehr längsangeordnet, so kann sich die Schwelle schon etwas erweitern (Verzerren, eckig werden); auch kann sich die Öffnung, besonders bei krampfiger Zusammenziehung bis zum Verschluß einengen. Bei intensiver Kontraktion oder struktureller Engigkeit kann die Schwelle während der Passage des aus- oder eintretenden Geraden einreißen, gesprengt werden (Forzierung stets krankhaft). Die Schwelle ist weiblich, leer, das sie Uberschreitende, aus der Höhle-Öffnung Aus- und somit in eine andere ÖffnungHöhle Eintretende ist männlich, als schmerzgefühlig gedreht, gewunden, zugespitzt, eingekerbt, eingeschnitten, zerschnitten, zerlegt, zerteilt usw. Auch der krankhafte Schmerz ist gewissermaßen „Selbstzweck", das Erlebnis bleibt sozusagen „im Schmerz stecken", d. h. es geht zwar stets in Trauer, Freude über, aber diese Stadien treten eben mehr minder weit zurück, sind unaktuell oder so stark schmerzhaltig, daß man mit einem gewissen Rechte, wenn auch ungenau sagen kann, das Erlebnis bleibe im Schmerz, in der Schwelle stecken — wie es beim Angstnervösen in der Angst, beim Hungernervösen im Hunger sozusagen stecken bleibt. Die A u s d r u c k s w e i s e n der hypertrophischen Schmerzreflexe sind krampfige Kontraktionen der Schrägfasern, die an den Hohlorganen, speziell an den Übergängen, d. h. eben Schwellen angeordnet sind, und zwar entweder mehr in der Rundung oder mehr in der Länge, so daß die Kontraktion eine verengende, Verschließende oder mäßig erweiternde Drehung ist, der die Drehung des die Schwelle passierenden Geraden (Füllmaterials) entspricht; im Falle des Verschlusses kann das Füllmaterial nicht austreten, es wird von dem schon ausgeschiedenen Geraden abgetrennt. Auch die normale Schwelle schließt sich periodisch, gemäß dem Ablauf der AngstSchmerzreflexe, jede Aufnahme und jede Abgabe verläuft in dieser Weise, das Gerade muß eben die Schwelle passieren; im Falle der Schmerzhypertrophie kommt es aber zu länger



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anhaltendem Verschlusse, zu intensiveren, rascheren Drehungen, zu abnormen Verläufen der Aufnahme und der Abgabe, zu Stauungen oder kurzrhythmischen Zerteilungen des Füllmaterials; vielfach sind die Vorgänge bei der Schmerzhypertrophie klinisch ganz ähnlich denen bei der Angsthypertrophie und mit ihnen kombiniert. Hierher gehören z. B. die neurotischen Katarrhe, die viel häufiger sind als die organischen (Nasen-, Rachen-, Kehlkopf-, Bronchial-, Magendarm-, Genitalkatarrhe usw.). Die Schmerzen sind — wie die anderen Gefühle — den einzelnen Organen z u g e o r d n e t , Magenschmerz also dem Magen, Blasenschmerz der Blase usw. Es können die genischen Schmerzsysteme trophischer Organe hypertrophiert sein und umgekehrt. So kann z. B. Magenschmerz genisch sein, also in genischen Situationen auftreten (bei Liebesbegegnungen usw.), bei krankhaft verlaufenden genitalen Vorgängen (Periode, Schwangerschaft usw.), wobei man die Schmerzen, wenn sie schon auftreten, eigentlich am Genitale erwarten sollte; da liegt eben eine P e r v e r s i o n (Verdrehtheit) vor. Anderseits können Genitalschmerzen trophischer Art sein; so bekam ein Patient regelmäßig während der Mahlzeit ziehende Schmerzen in Samenstrang und Hoden, er wagte schließlich nicht mehr ordentlich bei Tisch zu sitzen, eine ordentliche Mahlzeit zu sich zu nehmen; hier waren also die trophischen Schmerzreflexsysteme des Genitales hypertrophiert und in abnormer Weise mit denen des Magens verbunden (Perversion). Die Schmerzen bezeichnet man — wie die anderen Gefühle — nach dem Organ, dem sie zugeordnet sind; man spricht also von Kopf-, Herz-, Lungen-, Magen-, Blinddarm-, Nieren-, Haut-, Augen-, Ohren-, Nervenschmerzen (Neuralgien), Muskel-, Gelenk-, Genitalschmerzen usw. Jeder Schmerz von gewisser Heftigkeit oder Dauer ist „nervös", er zeigt stets einen krankhaften Vorgang an, mag dieser rein neurotisch oder Begleiter organischer Krankheiten sein. Im ersteren Falle ist die entsprechende Psychotherapie die Behandlungsmethode der Wahl, im letzteren Falle ist zunächst die Behandlung des organischen Leidens erforderlich, mit dessen Besserung erfahrungsgemäß auch die begleitenden Schmerzen u. a. nervöse Symptome sich bessern; bleiben Schmerzen usw. zurück, dann ist die Psychotherapie am Platze. Es sei aber wiederholt darauf hingewiesen, daß rein neurotische Schmerzen u. a. Beschwerden unter den Krankheitsfällen viel zahlreicher sind, als gewöhnlich angenommen wird. Die noch in weiten Kreisen gültige Auffassung, daß solche Schmerzen, die ohne organische Ver-



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änderungen, wie man sagt „ohne objektiven Befund", auftreten, „eingebildete", also nicht vorhandene Schmerzen waren, die man sonach auch nicht behandeln, sondern höchstens lächerlich machen könne und solle, ist durchaus unrichtig; Schmerzen sind Schmerzen, ob rein nervös oder von organischen Krankheiten begleitet, sie „tun" auf alle Fälle „weh". Es ist also sachgemäß, in jedem Falle von Schmerzen (u. a. Symptomen) eine genaue Untersuchung auch auf organische Krankheit vorzunehmen, es ist aber unsachgemäß, an das Vorhandensein von Beschwerden nur zu glauben, sofern sich organische Veränderungen feststellen lassen, oder zu meinen, wo Beschwerden da seien, müßten sich organische, sog. „objektive" Veränderungen vorfinden. Der Ausdruck der Schmerzreflexe ist, wie gesagt, die Drehung. Wir können einen Schmerzmenschen schon am Gesicht erkennen: die Haut ist in feiner oder gröberer Weise gefaltet, zerfurcht, gezerrt, verzerrt, die Züge sind herb, scharf, oft verbissen, es sind elastische Schrägfasern der Haut in hypertrophischer Funktion; vielfach gesellt sich dazu der stechende, listige Blick, oft scheu, verhüllt (mit Angstkomponenten), oft mehr suchend, forscherisch (mit Hungerkomponenten), ferner die spitze Nase, die „spitze Zunge" usf. Schmerzmenschen sind sehr oft mager, doch gibt es auch wohlgenährte und fettleibige Typen unter ihnen, und die Volksmeinung, Neuralgiker usw. müßten dafür sorgen, daß ihre Nerven „im Fett lägen", hat nur insofern Gültigkeit, als gesunde Leute eben ein normales Fettpolster haben und magere Schmerzmenschen bei der Genesung auch an Gewicht gewinnen (wie auch Hunger- und Angstmenschen). Ist die Schmerzneurose Vorwiegend G e g e n s t a n d s n e u r o s e , sind also vorwiegend die zu den kranken Reflexsystemen gehörenden Gegenstandszellen hypertrophiert, dann erlebt der Mensch innerhalb seiner kranken Bezirke vorwiegend schmerzgefühlige Aktualitäten, gedrehte, gewundene, geschraubte, eckige, spitze, gedehnte usw. Anordnungen Von infantilistischer Beschaffenheit an den Individuen und ihren Reihen und auch die andersgefühligen Aktualitäten sind relativ stark schmerzhaltlg — wie denn auch in die gesunden Gebiete Schmerzanteile mehr minder reichlich einstrahlen und so überhaupt alle Erlebnisse mehr minder schmerzlich sind (vgl. S. 2 8 ) : „das ganze Leben ist schmerzlich, ist Kampf ums Dasein, ein ewiger Kampf" usw. Der Schmerzneurotiker ist somit stets im Gefecht, wie der Angstneurotiker „toujours en vedette" ist. E r ist ständig im Angriff (aggressiv, streit-



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süchtig, spitzfindig, stichelnd, dreherisch usw.) und in der Abwehr (überschlagfertig, übelnehmerisch, malitiös, spinös, hinterlistig usw.; „der leiseste Hauch bringt ihn in Harnisch". Der Streit ist ihm „Selbstzweck", Ist ihm sozusagen schon Erfolg; wenn er streiten, stechen, schneiden, zerstören, auflösen kann, ist er sozusagen „zufrieden" — wie der Hungerneurotiker „zufrieden"-unzufrieden ist in seinem unruhigen Schweifen in die Ferne, der Angstneurotiker in seiner ewigen Vorsicht, Zurückhaltung, Weltflucht, der Trauerneurotiker in seiner Verstimmung, Niedergeschlagenheit, der Freudenneurotiker in seinem Schwärmen, seinem läppischen Großtun — d. h. eben das Erlebnis der einzelnen Typen der Neurotiker ist als Hypertrophie des einen Stadiums gekennzeichnet. Bei genauerem Zusehen Ist freilich kein Neurotiker, auch kein Freudeneurotiker „zufrieden" im echten, eigentlichen Sinne, es „sieht nur so aus" für den Nichtkenner, zu denen auch viele Neurotiker selber gehören — und alle Neurotiker, sofern und solange sie sich überschätzen, aus der Not eine Tugend machen, ihre Schwäche für ihre Stärke halten. Der D e u t u n g nach ist der Schmerz ein Dämon, der den Menschen besessen hält, ihn quält, Ihn antreibt andere zu quälen, aber auch — wie die Angst — warnt, auf dem Wege weiterzugehen, also — wie die Angst usw. —sozusagen doubliert ist: einerseits ist er schmerzwirkender Dämon, anderseits von ihm gewirktes Leiden. Gott, das Schicksal Verhängt über die Menschheit das Leid — wozu? fragt der Zweckgläubige (Teleologe, Finalist) — sehr einfach: um die Menschen zu bessern, zum Heil zu führen, sie zu strafen, Schuld zu rächen, Sünde zu sühnen. Somit ist der Schmerz eine Rache, eine willkommene, hellsame Züchtigung, eine Gnade, und wer recht viele Schmerzen zu erdulden hat, ist der große (größte) Sühner, der für sich und andere büßt, der Erlöser gar . . . oder ist der Schmerz nicht doch ein Unheil, ein Krankheitszeichen, ein Zeichen der Sündhaftigkeit und Schuld? Wer das Wesen des Schmerzes (also die Psychobiologie) nicht kennt, ist außerstande, diesen Zweifeln, die sich weit ausspinnen und immer — wie bei allen andern Neurosentypen — Weltanschauungszweifel sind, zu entgehen — so zu entgehen, daß sie nicht mehr auftreten, daß sie gelöst sind, zugleich mit den Schmerzen selber. Je mehr also jemand Schmerzzellen hat, desto schmerzlicher sind die kranken Erlebnisse, desto mehr schmerzliche Erlebnisse hat er (dies gilt analog für jeden Neurotikertypus). Welche Gruppe von Reflexsystemen hypertrophiert ist, da



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eben ist das Erlebnis krank. Bewußte Schmerzen brauchen bei der Gegenstandsneurose und Begriffsneurose ebensowenig aufzutreten wie bewußte Ängste bei der Angstneurose usw. Wir unterscheiden wieder die g e n i s c h e n von den t r o p h i s c h e n Schmerzneurosen. Der eine kämpft im neurotischen Sinne auf dem Gebiete der Liebe, der andere auf dem Gebiete der Ernährung, des Berufes, der Arbeit; meist kämpft der Schmerzneurotiker auf beiden Gebieten, vorwiegend aber auf dem einen. Der (die) eine ist ständig im Übergang, in der Trennung, im Abschied, er (sie) nörgelt, schikaniert, zankt, streitet mit Worten oder auf andere Weise gegen den Liebespartner, „schießt los, bevor der andere geladen h a t " , ist stets in höchster Alarmbereitschaft, nimmt alles „krumm", legt jedes Wort, selbst das erahnte auf die Goldwage, greift (voreilig) an und wehrt sich geradezu auf Tod und Leben, um die Existenz gegenüber der (dem) Geliebten, dem Ehepartner; um die allerhöchste „Autorität", die Überlegenheit handelt es sich, und ein kleines, kleinstes Nachgeben wäre gleichbedeutend mit der Vernichtung im Waffenkampfe, man darf sich also nicht die allergeringste Blöße geben (sonst stößt der andere zu), muß vollkommen — nein, übervollkommen, 150 % vollkommen, göttlich sein, sonst ist man überhaupt verloren, denn sonst ist ja ein anderer „größer", vollkommener und mit der Selbstvergottung ist es Essig! Demnach ist „meine Angst, mein Schmerz mein Lebensretter". So ist der Schmerzneurotiker überaus „feinfühlig", „empfindlich", wendig, fix, fleißig, listig, oft tückisch gerade den geliebten Personen gegenüber, peinigt und kränkt sie (und sich!), wo es nur irgend möglich ist, und hält sich für einen schlechten Helden, falls er „sich mal Vergessen" hat, eine Gelegenheit zum Sticheln, Stechen, Heruntermachen, Hetzen, Schimpfen, ja auch zum Prügeln nicht ausgenützt hat ,,bis zum Alleräußersten und noch weit darüber hinaus". Daß sich hiermit oft auch Genital- und andere genische Schmerzen verbinden, liegt in der Natur der Sache: es sind ja bei der genischen Schmerz neurose eben genische Reflexsysteme hypertrophiert, Schmerzzellen bei der Gefühls-, Gegenstandszellen bei der Gegenstands-, Begriffszellen bei der Begriffsneurose. So gehören zum Erlebnis des genischen Sado-Masochisten Hautschmerzen (Hiebe, Folterungen usw.). Die Schmerzensfrau bekommt regelmäßig Ihre Migräne oder sonstige Kopf-, Magen-, Herz-, Genitalschmerzen usw., sobald Sonntag ist oder die Perlode einsetzt oder der Liebhaber zu Besuch kommt, so-



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bald der Ehemann sich ihr liebend naht, sobald der Säugling gestillt werden — sollte usf. Wer die erste Periode mit großen Ängsten und Schmerzen erlebt, zeigt damit an, daß die genische Angst- und Schmerzneurose sich (vom Keim her) zur offenkundigen Form entwickelt hat, und wird auch später in Liebe und Ehe sich angst- und schmerz neurotisch benehmen. Das Analoge gilt für den Jüngling, der seine Reifung mit allzuviel Ängsten und Schmerzen „durchmacht". Auch im Trophischen sind nicht selten die schmerzneurotischen gegenständlichen und begrifflichen Erlebnisse von Schmerzgefühlen an den Ernährungsorganen begleitet. Mancher R e c h t s a n w a l t ist bloß streitsüchtig, ist, wie der Volksmund sagt, Rechtsverdreher, es kommt ihm nicht auf die Wahrheitsfindung im R e c h t s s t r e i t an, sondern auf den R e c h t s - s t r e i t , er stellt Anträge über Anträge, überbietet sich an spitzfindigen, gewundenen, den Gegner möglichst kränkenden, herabsetzenden, „verwundenden", listig ausgeheckten, wichtigtuerischen Redensarten, mit denen er das Gericht zu chloroformieren sucht, jeder Gegenzeuge ist ein Verbrecher, dem jeder Meineid oder Falscheid zuzutrauen ist, usw., immer und immer muß er in seiner geschwollenen Eitelkeit recht haben, immer ist er findig und fintig, und die Prozeßordnung gibt dem Gericht kaum eine Handhabe, das verzwickt-logizistische Vorbringen eines solchen Rechtskundigen als krankhaft übersteigert, als ein Mißverständnis und einen Mißbrauch der Rechtspflege abzuweisen; der Laie begreift oft nicht, daß sich „die Gerichte auf alles einlassen". Manche solcher Schmerzneurotlker haben dabei aktuelle Schmerzen, z. B. Magenschmerzen (man sagt „der Kerl liegt mir im Magen") oder Herzschmerzen usw., die dann gern larmoyant als „seelisches Mitgefühl" gepriesen werden. Und wie stolz sind solche Kranke (und ihre Angehörigen) auf diese „fabelhafte Tüchtigkeit", die nichts ist wie infantilistische Wortfatzkerei! Ein besonderer Typus solcher „Rechtsverdreher" sind die „Prozeßhansels", die Querulanten: Schmerzneurotlker mit relativ starken Hunger-Angstanteilen (Rechtsucher, Angst um „mein Recht", unermüdliche „Kämpfer ums Recht"). Mancher A n g e s t e l l t e „hält nirgends lange aus", nimmt immer Abschied; er ist überfleißig, übergewissenhaft, überzuverlässig (und somit unzuverlässig), überpünktlich, auf des Messers Schneide balanzierend, Haarspalter, jedes Wort ist ihm eine Kritik, die man sich „energisch verbitten muß" — und somit ist er unerträglich für jeden Gesunden, der sich ja innerhalb der normalen Variationsbreite der Erlebnisse



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bewegt. Ein solcher Neunmalkluger reibt sich an allen Arbeitsgenossen, brüstet sich dem Vorgesetzten gegenüber mit seinen Spitzfindigkeiten, ist glücklich über jeden Hieb, den er — listig, tückisch, scheinheilig — ihm versetzen kann, ist immer darauf gespannt, ihn herunterzureißen, sich über ihn zu erheben (sich zu überheben), und „bietet" auch seinen Kollegen und Untergebenen unaufhörlich „die Spitze", es ist mit ihm nicht auszukommen, er streitet stets „bis aufs Blut", er hat keinen Freund — außer etwa eine „gleichgestimmte Seele", die ihm ihre Bewunderung zu Füßen legt oder die ihm ihrerseits „auf den Kopf kommt" (der Streitsüchtige braucht natürlich einen Partner, ohne ihn kann er ja nicht streiten; freilich kann er sein eigner Kampfpartner sein, d. h. er muß „mit sich fertig werden", „sich selbst besiegen" usw., oder er kämpft begrifflich). Die Leistungen sind — bei allem Fleiß usw. — allemal krank, mögen vielfach „imponieren", sind aber nie vollwertig. In den meisten Fällen ist da auch ein großer Posten Hunger und Angst Vorhanden (vgl. Beispiel „Stellungsuchender", S. 81; ein Patient nannte sich selber den „ewigen Abiturienten": er ging, arrogant und frech, wie er war, von jeder Stellung nach kurzer Zeit ab, wobei es ihm überaus wichtig war, im gegebenen Augenblick mit s e i n e r Kündigung eine halbe Nasenlänge zuvorzukommen). Es gibt eine Menge Menschen, die „Vor l a u t e r A r b e i t n i c h t z u r L i e b e k o m m e n " , die nie Zeit haben, immer im Betrieb sind, jede Kleinigkeit selber erledigen „müssen", sich zersplittern und ihre ängstlich-schmerzliche Rastlosigkeit natürlich „logisch begründen" (z. B. „auf die Kleinigkeiten kommt es oft an", „kleine Ursachen — große Wirkungen", „die Angestellten taugen alle nichts" usw. usw.); sie wissen nicht, daß sie nur ihre Neurose verteidigen. Sie erkennen die Norm nicht an, also die Tatsache, daß normaliter tagsüber die trophischen, abends die genischen Reflexsysteme in Hochfunktion sind — oder die Norm habe eben für sie keine Gütigkeit, wenigstens nicht „Im Augenblick", wo man noch mit dem Aufbau der Existenz beschäftigt sei usw. Solche Menschen können wohl auch heiraten, sie tun das „arbeitsmäßig", „pflichtgemäß", sie arbeiten auch in der Liebe. Manche Hausfrau hat den Reinemach-, den S a u b e r k e i t s f i m m e l : sie putzt und wischt und fegt den ganzen Tag, sie wird nicht fertig, und noch beim Einschlafen prüft sie sich und die andern, ob „alles" sauber sei, und macht Pläne für den nächsten Tag; sie verkehrt „mechanisch" mit ihrem Manne, bekommt mechanisch Kinder, ihr Liebesleben Ist „eine Art



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Arbeit". Der S c h l a f l o s e arbeitet die ganze Nacht hindurch, dreht sich fortwährend im Bett herum, wälzt ruhelos Gedanken, schrickt aus dem Schlummer auf, als ob er mit dem Schlummer etwas versäumt hätte (etwas, wovon Leben und Tod, „die Existenz" abhänge) usw. Solche A r b e i t s f a n a t i k e r , Polypragmatiker haben hypertrophische, also infantilistische Arbeitsreflexe: sie leisten bestenfalls die äußerlich gleiche Arbeit wie der Gesunde, erreichen also mit all ihrer Mühe auch nur das Ziel wie der Gesunde, der sich viel weniger müht, der „in aller Gemütsruhe" arbeitet — oder sie leisten Minderwertiges, Unechtes, Unbefriedigendes, sie kommen ans kranke Ziel. Ihre Arbeitsreflexe sind über die normale Arbeitszeit hinaus im Gange, ihre genischen Reflexe sind im Sinne der PerVersion durchsetzt Von Arbeitsreflexen, oder sie treten wenigstens zurück (Neurasthenie, Trophose). In andern Fällen sind hypertrophische genische Reflexe im Sinne der Perversion an den Arbeitsreflexen beteiligt, so daß insofern die Liebe in die Arbeit eingeht und so für die eigentliche Liebe „keine Zeit" übrig ist (Fälle Von Hysterie, Genose). Es ist ein Mißverständnis, den Ubereifer zu loben, das „Arbeitspferd" für einen besonders tüchtigen und wertvollen Menschen zu halten, den Überfleißigen, der finster, mit verbissenem Ernste „Tag und Nacht arbeitet", der „keine Zeit für Weib oder Mann, für Liebe und Freundschaft, für Liebhabereien (Lektüre, Kunst usw.), für die Genüsse des Lebens hat, der „keine Ruhe kennt" (bis er schließlich, zusammengebrochen, nur noch „ruht"), den Kämpfer, der nur kämpft, um zu kämpfen, der nichts weiter t u t als kämpfen und kämpfen, besser: krämpfen, als Vorbild, als Führer, als sittlich besonders hochstehend usw. zu preisen. Der Gesunde arbeitet am Tage und schafft in acht Stunden mehr und Besseres, als der Neurotiker in der doppelten Zeit. Und „nach getaner Arbeit ist gut ruhen", d. h. auf die trophischen Hochfunktionen folgen die genischen Hochfunktionen, folgt die Zeit der „Erholung", der Freundschaft, der Liebe. Aller Fanatismus ist krank, neurotisch, und aller Fanatismus führt früher oder später zum Zusammenbruch. Nicht wenige G e l e h r t e sind (Angst- und) Schmerzneurotiker. Die Neurose ist speziell auf je einem besonderen Gebiete in Blüte, dem Spezialgebiete des Gelehrten; die Bildung ist hier Verbildung. In einem gewissen Hirnabschnitte findet sich eine gewaltige Zellhypertrophie, meist im Verein mit geringen Entwicklungen oder mit Atrophien in andern Hirnbezirken, so daß dieser „einseitige" Mensch fast ausschließlich



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in seinem „Spezialgebiet" beschäftigt ist und „für die übrige Welt" geradezu abgestorben ist (der „zerstreute Professor, der „Bücherwurm", der Laboratoriumsfanatiker usw.). Ein solcher Forscher ist „groß" im Zerlegen, Analysieren, Zerstören, Zerfasern, Mikroskopieren, er ist ein Töter im kindähnlichen Sinne: er tötet seine Untersuchungsmaterialien wie das Kind die Uhr, die Puppe, den Stein, die Pflanze, das Tier usw. „tötet". Er ist leidenschaftlicher Experimentator, und nichts kann vor ihm bestehen, das nicht „experimentell bewiesen ist"; er ist Vivisektionist und opfert für jeden „Gedanken" — je entlegener, um so besser! — Hekatomben von Tieren; er näht Katzen die Augenlider zu und tötet sie dann serienweise, um experimentell nachzuweisen, was für jeden vernünftigen Menschen selbstverständlich ist, daß sich das Sehzentrum während der Inaktivität verändert; er ist Zerleger des Organischen oder des Anorganischen, er lebt in einer zerstückelten, zertrümmerten, schmerzzuckenden, zerquälten Welt: so meint er, müsse es doch wohl endlich mal gelingen, das Rätsel der Dinge zu lösen, das Geheimnis Leben und Tod zu lüften, und ist dünkelhaft-stolz auf seine „exakte" Methode. Und er muß sehen, daß „wir nichts wissen können", d. h. daß er so „nichts Rechtes herauskriegt", daß seine Ergebnisse Trümmer, Teile, Unorganisches sind, die niemals befriedigen, denen gegenüber „ihm schier das Herz verbrennt". Der gesunde Forscher kommt zum gesunden Ende, er zerlegt nur, um aufzubauen, nicht bloß um zu zerlegen. Er ist Analytiker nur im Gange der Synthese: aus Ruinen kann neues Leben erblühen, aber es gibt auch Ruinen, die (fast) nichts weiter als Ruinen sind. Es ist richtig, mit jeder Analyse ist eine Synthese Verbunden, d. h. das Erlebnis geht bis zum Freudestadium weiter, aber wir wissen: das kranke Erlebnis ist in dem einen oder andern Stadium überwuchert zuungunsten der übrigen Stadien und ist im ganzen unecht; es führt also auch das schmerz neurotische Forschen zu einem Ziele, aber das Ziel ist nicht gesund, ist geringfügig oder ganz abwegig, wertlos, lohnt nicht die überspannte Mühe, das verbissene Ringen. Schmerztypen finden sich besonders zahlreich auch bei den K r i t i k e r n . Kritisieren heißt zerlegen, ist also an sich schon eine schmerzliche Arbeit, aber auch hier gilt das vorhin Gesagte: der gesunde Kritiker zerlegt prüfend, um aufzubauen, er sieht an einem Werke nicht bloß das seiner Meinung nach Fehlerhafte, sondern auch das Gelungene, er verreißt nicht, sondern erkennt auch an, gibt positive Hinweise, hilft im



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Rahmen seiner Einsichten fördern. Der neurotische Kritiker dagegen hat schwere Angst vor der Gefahr, irgend etwas gar anerkennen zu sollen oder zu müssen, dann hätte ja der Autor etwas gewußt, was der Kritiker noch nicht gewußt hat, das wäre ja unerhört: ein Kritiker ist ja doch ein Mensch, der alles besser weiß (sonst wäre er ja kein Kritiker)! Nun kommen die hypertrophischen Schmerzreflexe (oft nuanciert zu Neid, Eifersucht, oft mit Haß, Gehässigkeit im Bunde) an die Reihe: das Werk wird zerfleischt, der Verfasser, Dichter, Maler usw. dazu, es werden Stücke und Stückchen aus dem Zusammenhang gerissen (wie weh t u t das schon!) und nochmals gierig zermartert, bis „nichts" mehr übrig geblieben ist — und indem etwas Positives am Werke für diese Sorte Kritiker überhaupt nicht existiert, bleibt in einer solchen neurotischen Kritik vom ganzen Werke eben überhaupt nichts übrig! So eine Kritik zu verbrechen, ist ein rein kannibalisches Erlebnis: der Autor ist an den Marterpfahl gebunden, er ist völlig wehrlos, vielleicht ist er noch, falls er es nicht verschmäht, imstande, dem Peiniger ins sadistisch Verzerrte Gesicht zu spucken, sonst aber kann der Kannibale sein Mütchen an ihm kühlen, ihm stück-, ja atomweise die Haut, das Fleisch abschneiden (vgl. „Ehre abschneiden") und an jedem Tröpfchen Blut sich laben: der Wehrlose muß es sich gefallen lassen! So spricht der neurotische Kritiker „im Namen des Rechts auf freie Meinungsäußerung", „im Namen der Pressefreiheit", „im Namen der Wissenschaft", „im Namen der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehren", prunkt daher wie ein Pfau, aufgebläht über sein „Amt", mit dessen Übertragung bekanntlich auch der erforderliche Verstand übertragen wird! Er ist tabu, er, der Herr Kritikus, ist erhaben gegen Kritik, wehe jedem, der dem Hanslick, dem Beckmesser entgegenzutreten wagt, der Herr Rezensent ist ja wer weiß wie lange als Sachverständiger bei einer Zeitung oder Zeitschrift tätig, er hat die Presse zur freien Verfügung — und das Würmchen von Autor? Die Schriftleitungen selber erklären — mit ganz wenigen rühmlichen Ausnahmen — ihre Mitarbeiter als sakrosankt, was gedruckt ist, ist gedruckt, das darf nicht berichtigt werden, das würde das Unfehlbarkeitsdogma, an das die Leser glauben müssen, antasten — um Gottes willen! Lieber mag der verrissene Autor mit seinem Werke vor die Hunde gehen! — Wie sollte es denn nicht auch neurotische Redakteure geben! Ach, der diesem ganzen Betrieb Fernstehende ahnt nicht, wie schlimm die Hanslicks alias Beckmessers, die Neidlinge, Eifersüchtlinge, Kretins,



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die nur In Dummheit, Arroganz, Dünkel, Ubergeschnapptheit, Gehässigkeit, Tücke exzellieren, Im Reiche der Kunst und Wissenschaft hausen — mit und ohne akademischen Rang! Auch mancheÄrztesind Schmerzneurotiker, sie sind immer Chirurgen (auch als Frauenärzte usw.), sie arbeiten mit Messern, Scheeren, Klemmen, Brennern, Nadeln, schneiden auf und schneiden ab — alles im neurotischen Sinne, wohlverstanden, sie greifen zum Instrument, sobald sich ein Kranker blicken läßt, ihre Fragestellung Ist nicht: was liegt hier Vor, sondern was kann ich hier auf- oder wegschneiden, wegbrennen, dehnen? Und sie sollten nichts finden? Ja wozu kommt denn der Kranke zum Chirurgen? Es muß ihm doch was fehlen — und daß läßt sich allemal operieren! („Es fehlt ihm nichts, er hat etwas zu viel!") Ein solcher Arzt operiert eine Neurose genau so, wie er einen Krebs operiert. Die neurotischen Frauen mit Scheidenkrampf, mit Angst- und Schinerzsymptomen an den Genitalien usw. werden genau so chirurgisch (mit gewaltsamen Scheidendehnungen, Tampons, Spülungen, Auskratzungen, Bauchschnitt, ja Kastration) behandelt wie die Myom- oder Krebskranke. Der Magenneurotiker wird mit Magenausspülungen, Sondierungen kompliziertester Art traktiert, wohl gar operiert ¡Psychotherapie 1 ) ist solchen Chirurgen (und Internisten) gleichbedeutend mit Schwindel, und obendrein wird eben in vielen Fällen die Differentialdiagnose, ob Neurose oder organisches Leiden, überhaupt nicht gestellt, manche Ärzte verstehen davon rein gar nichts. Ich wiederhole, daß nur neurotische Ärzte gemeint sind, und unter diesen gibt's sehr Viele, die mit peinlichster Gewissenhaftigkeit vorgehen, sehr geschickt operieren, aber sie alle erleben den Kranken als Objekt ihrer Schneidekunst, sie schneiden den Kranken auf wie das Kind der Puppe den Bauch aufschlitzt, Tiere „seziert", Schmetterlinge aufspießt usw. Der gesunde Chirurg stellt andere Indikationen für die Operation, er schneidet nicht, um (bloß) zu schneiden, sondern für ihn ist die Operation ein unvermeidliches Übel, eine Etappe zur Genesung. Wiederum scheuen manche Ärzte „das Messer" in neurotischer Übertreibung. Chirurgie ist notwendig, aber auch interne Medizin und — das sei besonders betont — Psychotherapie 1 ) ist notwendig. — Diese wenigen Beispiele für viele. Auch die kranken B e g r i f f e der S c h m e r z n e u r o t i k e r sind infantilistlsch, also auf kindhafter Entwicklungsstufe realiter Neuro- oder Funktionstherapie, s. S. 131



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gewuchert. Dieser Kranke leidet an Denkschmerz („denken" hier = begrifflich denken), er schlägt sich mit seinen Gedanken herum, er hat schmerzliche begriffliche Vorstellungen, Erlebnisse, wiesie der Gegenstandsneurotikerim Gegenständlichen hat, er quält, zerlegt, untersucht usw. „In Gedanken" und zwar auf genischem oder trophischem Gebiete (begrifflicher Sadismus und Masochismus; begriffliche forscherische Zerlegung, begrifflicher Konkurrenzkampf in zwanghafter Art usw.), mit oder ohne interkurrente Schmerzgefühle (Kopfschmerz usw). Ein solcher Begriffskranker schwelgt in grausamen Phantasien, stellt sich z. B. vor, wie er einen Menschen, mit dem er in geschäftlicher (trophischer) Konkurrenz steht, oder einen Menschen, den er liebt (genischer Sadismus), ganz allmählich abschlachtet, wie er ihm die Haut in Streifen abzieht, ihn schindet wie Apollo des Marsyas, den unterlegenen Rivalen in der Sangeskunst, bis er sich „erbleichend, verblassend auflöst", bis der geliebte Mann seiner Mannheit beraubt verblutet, bis „ich ihn vor Liebe auffressen kann" . . . (vgl. Beispiel von den kämpfenden Mädchen, ein angst-schmerzgefühliges Begriffserlebnis, Von bewußten Angstgefühlen begleitet, p. 70). Solche kranke Begriffsreihen sind oft bis ins kleinste ausgearbeitet: die Kranke hört begrifflich das leise Knirschen des Fleisches, in das sie die Zähne schlägt, hört das schmerzliche Seufzen des zu Tode Besiegten . . . oder der neurotische Forscher sieht begrifflich (in „Innerer Schau") die Blume, die in solchen Einzelheiten Ihre Geheimnisse enthüllt, wie es die gegenständliche Blume niemals tut, d. h. eben: die Begriffszellen sind in den kranken Bezirken hypertrophiert auch im Sinne der Zahl, wie das auch im Gegenständlichen der Fall sein kann (z. B. sagt man, jemand höre das Gras wachsen, die Flöhe husten, er hat ein überfeines Gehör, hört, sieht usw. mehr als andere Menschen). — Andere quälen sich mit akustischen Erinnerungen herum, besonders mit Melodien, die „nicht aus dem Kopfe wollen", mit gewissen Geräuschen, auch Stimmen (vgl. S. 74). Auch die B e s c h r e i b u n g des Schmerzneurotikers ist ausgeprägt schmerz neurotisch oder doch — außerhalb der eigentlich kranken Bezirke — stark schmerzhaltig, so daß sie sich wenigstens für den Kenner leicht von der gesunden oder der andersneurotischen Beschreibung unterscheidet. Die schmerzneurotische Beschreibung ist gedreht, gewunden, geschraubt, schneidend, spitz (findig), malitlös, bissig, naseweis, frech, dreist, aufsässig-bescheiden, aggressiv-abwehrend, gereizt-fechterisch, rechthaberisch (jemand „muß das letzte



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Wort haben"), spintisierend, zersetzend, kritizistisch (nicht gesund-kritisch), skeptizistisch, logizistisch usw. „Mit Worten läßt sich trefflich streiten" — so kommt es nicht mehr auf die Sache, sondern aufs Streiten an. Ein solcher Mensch hält sich und gilt in „Unwiderlegbarkeit" seiner Dialektik für außergewöhnlich intelligent, bei einigem Zusehen offenbart sich aber, daß ein solcher „Intellektueller" das Wort nicht zur förderlichen Beschreibung eines Tatbestandes, sondern als Waffe im Wortgefecht, das er nach dem Muster der primitiven Pubertätsproben als auf Leben oder Tod abgestellt erlebt, Verwendet und somit mißversteht; solche Diskussionen sind nur noch leere Phrasen („Phrasengedresche") in zwangslogischer Formulierung, sterile Haarspalterei, öde Wortklauberei, wobei die Worte selber zerlegt, umgebracht werden und ihr Sinn dazu. Solche (Angst- und) Schmerzprodukte sind auch nicht wenige wissenschaftliche Werke, besonders solche der deutenden Wissenschaften. Da ist es möglich, so herum und anders herum zu reden, und der neurotische Spintisierer wird immer und Immer noch etwas „besser wissen". Solches Herum- und Hinund Herreden findet sich in vielen solcher Schriften, in denen sich eine Art roher Dämonismus breitmacht, wie z. B. in Werken der sog. klassischen Psychologie, der gültigen Ethik und Ästhetik sowie der psychologisierenden (d. h. fast aller) Philosophie und Weltanschauungslehre; aber auch in „exakt" wissenschaftlichen Werken kommt oft genug, und zwar sobald die Deutungen von Tatsachen vorgetragen werden, die nervöse Angst um die Lösung der Probleme, der nervöse Schmerz bei der Deutung zum Ausdruck: ängstlich-schmerzliche Umschreibungen, krampfige Zurechtlegungen, verkomplizierende Umbiegungen und Verschlingungen mit einer mehr minder gut kaschierten Ratlosigkeit, mit einem resignierenden Ausklang. Alle P h r a s e o l o g i e i s t n e u r o t i s c h e n G e b l ü t s . Und nicht wenige „Exaktheit" im Ausdruck ist nur Pseudoexakthelt, ist nur auf des Messers allerdünnste Schneide gelegte Formalistik, Rabulistik, Sophistik; aber die Formulierer und PseudoWissenschaftler halten, dünkelhaft und überheblich wie sie sind, ihr Tun und Treiben, ihr Reden und Schreiben — wenigstens sobald sie zur Rede gestellt werden oder sich zur Rede gestellt fühlen, sei es auch nur derart, daß einer nun wirklich exakt, wissenschaftlich schreibt oder redet, — für das Nonplusultra der Gelehrsamkeit und Wissenschaftlichkeit und wissen nicht oder geben um keinen Preis zu, daß sie nur in Drehereien und Haarspaltereien sich ergehen und hierin gewiß Unübertreffliches, aber im Sinne des Krank7



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haften leisten. Ein bildhafter Vergleich: auch die Krebszelle würde nicht zugeben, daß sie eine kranke Zelle ist, und mit Stolz auf ihre ungeheure Fruchtbarkeit, auf die den ganzen Organismus unterjochende Ubermacht ihrer Sippe hinweisen.. Oft findet man auch hier s p e z i e l l e F o r m e l n , die zwanghaft auftreten, z. B. jemand hat „die Gewohnheit", fast jeden Satz mit „nein, i c h . . . " oder „ja a b e r . . . " oder „pardon, i c h . . . " oder „nun gestatten Sie mal" oder „weißt du" usf. zu beginnen; es kommt dann immer eine „ E r w i d e r u n g " , ein „ E n t g e g n u n g " , nicht ein Ausdruck förderlichen Weiterdenkens, ein Mitziehen am Karren der Erörterung, sondern eine Pike, Aufsässigkeit, ein Angriff gegen das vom andern Gesagte oder eine gereizte Abkehr und Abwehr — so wie wenn zwei Pferde den Wagen nicht in gleicher Richtung ziehen, sondern sich gegeneinander oder voneinander weg w e n d e n . . . da wird der Karren weit kommen! Zu speziellen Zwangsformeln gehören die unermüdlichen Fragen, die der Fragesüchtige ausspricht ( F r a g e z w a n g ) ; er benimmt sich wie ein Kind, das bekanntlich in einem gewissen Alter auch unablässig fragt. Der Fragezwang ist Symptom einer kombinierten Neurose: Kennzeichen des infantlllstischen Hungers nach Erkenntnis, der kranken Angst Vor der Erkenntnis, des kranken Schmerzes beim Erkennen; diese Fragen drücken in wechselnden Nuancen die kindähnliche Neugier, die kindähnliche Angst vor dem Wissen, das Schwanken (ist es so oder so? ich weiß es nicht, du mußt es sagen, ich bin noch klein, unschuldig und doch darin — groß) und die kindähnliche Prüfung des „Andern": ob er weiß oder nicht, und der Sache: wie sie beschaffen ist, also ein zweiflerisches Zerlegen, Trennen, Unterscheiden aus. In manchen Fragen überwiegt der Hunger, in manchen die Angst, in manchen der Schmerz. So ist es auch bei den Formulierungen der Zweifel, Bedenklichkeiten, Möglichkeiten; manche Neurotiker können sich nur in dieser hypertrophisch ängstlich-schmerzlichen Weise ausdrücken — beim Sprechen, Schreiben und bei andern Muskelaktionen. Das kranke W o r t b e g r i f f s d e n k e n des Schmerzneurotikers kann man treffend mit dem Worte „Grübelzwang" oder „Grübelsucht" bezeichnen. Mit „Sucht" ist hier der hypertrophische Denkhunger, aber auch die „Endlosigkeit", die Ergebnislosigkeit des in sich verschlungenen Angst- und Schmerzdenkens angegeben. Das „ewige" Weitergleiten der wortbegrifflichen Drehereien, Verfilzungen, Verknäuelungen kann man sehr wohl als Sucht bezeichnen. Viele Schlaflose leiden an der hypertrophischen Funktion „des Denkens",

— 99 — die Gedanken, oft mehr hungrig, oft mehr ängstlich, oft mehr schmerzlich, „kommen nicht zur Ruhe", der Gelehrte „knobelt weiter", der Kaufmann kann sein „Büro nicht abschließen", schreibt begrifflich zahllose Briefe, der Liebeskranke kann „seine Liebesgedanken nicht bändigen" — Liebesgedanken im weitesten Sinne, also endlose Grübeleien über die „Geschlechtsfrage", ethische Gedanken über Onanie, Existenz der Genitalien, Zeugung, Dissonanzen mit dem Liebespartner, Auch verkrampftes Spintisieren über Eheprobleme usw. hier spezialisieren sich Zwangsgedanken oft zu gewissen Formeln, die sich in kürzeren oder längeren Perioden mit einer quälerischen Aufdringlichkeit als lästige Störenfriede, gegen die es keinen Sieg gibt, einfinden, z. B. „Ich bin Christus der Gekreuzigte" oder „o Haupt voll Blut und Wunden, Voll Schmerz und Voller Hohn" oder „Keine Pein wird dir erspart" oder „lerne leiden, ohne zu klagen!" oder „jetzt muß(t) Ich (du) sterben" usw., auch Schimpfworte, solche, die dem Kranken, und solche, die dem „Gegner" gelten und die manchmal grobe Zoten (Gedankenunzucht) sind — eine Art des „Stimmenhörens" (S. 74, 96). Vom Standpunkte des hypertrophischen Schmerzes aus e n t s p r i c h t die G r ö ß e des S c h m e r z e s d e r G r ö ß e , d e m W e r t e d e s s e n , w o r u m d e r K a m p f g e h t (vgl. S. 55, 74), letzten Endes geht da der Kampf — nach dem Muster der primitiven Pubertätsproben — um Leben oder Tod. Wir finden hier also die analogen Deutungen wie beim Hungerund Angstnervösen; sie sind allemal dämonistisch: der Schmerz selbst ist Dämon, die gegnerische Welt ist „beseelt" und In ihr, aus ihr kämpft die dämonische Macht, nur so ist die unheimliche Art des Kampfes, seine Dauer, Heftigkeit, sein Zwanghaftes, das ganze Unterschiedliche Vom gesunden Verhalten zu „verstehen", ein gewöhnlicher Kampf ist das nicht, da müssen schon mystische und mysteriöse Kräfte ihn führen, In mir und gegen mich . . . So kommen wir wiederum zu den Ü b e r - u n d U n t e r s c h ä t z u n g e n , den U b e r - u n d M i n d e r w e r t i g k e i t s f i k t i o n e n , die den Leidenden zu Gott, Christus, den auserwählten Streiter Gottes, zum Hiob usw. und zum Teufel, zum größten Sünder, Verbrecher, zum Allerschuldigsten (mit weniger tut's der Neurotiker nicht) — und so wiederum zum größten Sühner, zum Allerweltserlöser erhöhen-erniedrigen, über-unterheben Zwei A r t e n des A u s g a n g e s gibt es auch für das Schmerzerlebnis (vgl. S. 57,78): entweder erreicht der Schmerzneurotiker das „normale" Ziel oder das kranke Ziel. Daß 7*



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das „normale" Ziel nicht eigentlich normal, sondern in seiner Schmerznuance vom „ganz" normalen Ziel abweicht, ist aus den früheren Erörterungen bekannt. Immerhin setzt dieser Schmerzneurotiker nach Erledigung des hypertrophischen Schmerzstadiums seinen Weg geradlinig fort, über die (fast) normale Trauer zur (fast) normalen Freude. Er hat sich nur eben zu sehr angestrengt und wird entweder enttäuscht sein, daß „dabei nicht mehr herausgekommen ist", oder meinen, daß zur Erreichung dieses Ergebnisses (für ihn oder allgemein) eben so viel Anstrengung nötig sei, oder er wird das Erreichte gemäß seinen Anstrengungen überschätzen, gegen eine normale Einschätzung mit der gewohnten Zähigkeit und Spitzfindigkeit verteidigen, den andern für den Nörgler, Angreifer, Neurotiker, „Verrückten" halten usf. Oder der Schmerzneurotiker kommt ans kranke Ziel, er weicht von der normalen Richtung ab und ist nun wieder im Zweifel, wie das Erreichte einzuschätzen ist, ob er es richtig oder falsch gemacht hat. Hat der Schmerzmensch noch obendrein eine Hunger- oder (und) Angstneurose, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß er die Schwelle an einer abseitigen Stelle passiert und zu einem abseitigen (absonderlichen) Ziel kommt, besonders groß. Hierbei wird auch das Ergebnis besonders mager sein, das Streitobjekt ist oft im Streite vernichtet, dieser Mensch hat vergeblich gekämpft, sich vergeblich abgemüht, er hat „nichts" geschafft, ist „erfolglos" geblieben, die Leistung wird nicht anerkannt, sie Ist minderwertig, eben krank. Aber der Neurotiker lernt nichts aus der Geschichte (vielen Politikern ins Stammbuch)!, seine Reflexe laufen eben ab und immer wieder ab, und immer wieder versucht er sich an seinen Aufgaben und kommt zum gleichen nichtigen Resultat — bis sich (das wäre die Heilung) die kranken Reflexsysteme in Richtung Norm entwickeln und sich nun die Erlebnisse in harmonischem Verlaufe der einzelnen Stadien vollziehen. Mit diesen neurotischen Leistungen sind nicht die ü b e r r a g e n d e n Arbeiten und Schöpfungen g e n i a l e r g e s u n d e r M e n s c h e n zu verwechseln (es ist ein schwerer Irrtum zu meinen, daß Genies immer krank sein müßten!). Solche Menschen sind, wie die Geschichte an zahlreichen Beispielen zeigt, in dem Sinne erfolglos, als ihnen meist die Anerkennung der Zeitgenossen (bis auf relativ wenige) fehlt, sie im Gegenteil Verspottet, Verhöhnt, für verrückt erklärt, verketzert, Verleumdet und auf jede mögliche Weise heruntergerissen, ja getötet (auch in Form des „Totschwelgens") werden. In diesen



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Fällen sind die Zeitgenossen gemäß ihrer Hirnentwicklung noch nicht imstande, die geniale Leistung zu verstehen und zu würdigen; das Genie ist immer seinen Zeitgenossen Voraus, er ist der Wegweiser der Entwicklung, nicht im dämonistischen Sinne (als ob er die Entwicklung lenken könne), sondern rein tatsächlich, der Vorläufer, der Verkünder einer Zukunft, der Prophet. Und so kann er von den Menschen seiner Gegenwart nicht verstanden werden, sie haben zwar H u n g e r nach weiterer Erkenntnis, nach Zukunft, aber dann kommt das zweite Stadium aller Erlebnisse, das Angststadium, die A n g s t v o r der E r k e n n t n i s , vor dem Neuen, das dem Ängstlichen so unheimlich, „furchtbar", ungeheuerlich, fremd erscheint, wie groß seine Angst ist (und immer haben die Fachgenossen eines Genies die meiste Angst!), weiterhin setzt das S c h m e r z s t a d i u m ein: die geniale Leistung und sein Schöpfer wird, wie oben gesagt, bekämpft bis aufs Blut (und wiederum sind die Fachgenossen die erbittertsten Gegner, sie wähnen, noch dazu als Neurotiker, sie müßten gegen den „Neuerer" um ihre Existenz, ihr Leben kämpfen x ) und wenn schon einer auf der Strecke bleiben soll, so wenigstens der Neuerer). Aber die geniale Leistung (natürlich nur die echte!) ist nicht umzubringen, man kann ihren Schöpfer geißeln, kreuzigen, verbrennen oder, wie in unsern Kulturzeiten, mit Verleumdungen, Totschweigen usw. langsam zu Tode martern, sein Werk wird die Stürme siegreich überstehen und der Zukunft gehören, es gibt ja nur vorauseilend die künftige Entwicklungsstufe der Gehirne an, also kann es unmöglich zugrunde gehen, es ist ein monumentum aere perennius, es hat Ewigkeitswert. „Was glänzt, ist für den Augenblick geboren, das Echte bleibt der Nachwelt unverloren". Hat sich die Menschengruppe, die es angeht, — in Weltanschauungsdingen die ganze Menschheit, eingeteilt in Kulturkreise, Rassen, Völker — durch das Schmerzstadium hindurchentwickelt, nimmt es t r a u r i g , abgekämpft, matt Abschied von der bisherigen Lebenssphäre (Denkweise, Anschauung), und schließlich geht die Entwicklung ins F r e u d e s t a d i u m ein: die geniale Leistung ist allgemein anerkannt, ist selbstverständlich geworden, man erlebt und beschreibt wie das Genie vor hundert Jahren, man hat es längst Vergessen, sein Name ist vielleicht nur noch den Historikern b e k a n n t . . . Aber schon ist ein neues Genie Als Pythagoras seinen berühmten Lehrsatz gefunden hatte, opferte er den Göttern eine Hekatombe (einhundert Stück) Ochsen. Seitdem zittern alle Ochsen, wann eine neue Wahrheit aufkommt — sagte Kant (oder war's Ludwig Börne?).



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erstanden, das wiederum die Zukunft weissagt, ein neuer Prophet — und wiederum gilt er nichts im Vaterlande, wiederum wird er abgelehnt und mißverstanden, wiederum befinden sich die Zeitgenossen erst im Hungerstadium, Angststadium, Schmerzstadium Die n e u r o t i s c h e L e i s t u n g dagegen, die auch genial sein kann, aber unecht-, krank-genial ist, h a t k e i n e n E w i g k e i t s w e r t , sie kann in kranken Zeiten Zustimmung finden, ihre Anerkennung kann eine Massensuggestion, eine Seuche sein, aber bestenfalls wird m a n c h e s aus der ganzen genialen Arbeit in die Zukunft hineinleben, das meiste zugrunde gehen, oder das Ganze ist wie eine Geschwulst, die mit ihrem Träger stirbt. Ist der T o d d e s K ä m p f e r s allemal ein krankes Ziel? Mit nichten! Jeder Kampf geht mit Verletzungen, Verwundungen, Verlusten einher, jede Überschreitung der Schwelle Ist Abschied, Trennung, Verlassen der bisherigen Lebenssphäre, und es ist grundsätzlich gleichgültig, mit welchen Waffen der Kampf geführt wird. Orientieren wir uns kurz an dem Hauptereignis des geborenen Menschen, dem P u b e r tätsübergang. Er ist nicht bloß die g e n i s c h e , sondern auch die t r o p h i s c h e R e i f u n g , ein Entwicklungsschub von höchstem Ausmaße. Wie schon p. 44 kurz dargestellt, verläuft auch dieser hochkritische Übergang nach dem Schema alles Geschehens: Hunger, Angst, Schmerz, Trauer, Freude. Das Schmerz- oder Schwellenstadium ist die Prüfung; der Kampf, und zwar fand und findet immer z u e r s t die t r o p h i s c h e P r ü f u n g statt, also die Prüfung auf dem Gebiete der Ernährung und des Berufs, sodann, nachdem diese trophische Prüfung bestanden war und ist, die genische, die Liebesprobe (vgl. „man muß erst in der Lage sein, eine Frau zu ernähren, ehe man ans Heiraten denken darf"). In primitiven Zeiten war die Pubertätsprobe ein auf ganz kurze Zeit, einen oder mehrere Tage zusammengefaßtes Erlebnis von ungeheurer Wucht, das mit der „Erneuerung" des Jahres — als Frühlingsfest — zusammenfiel. In den Zeiten steigender Kultur wird aus dem kompakten Erlebnis eine Periode, die In mehreren Erhebungen verläuft. Während ursprünglich der Jüngling, die Jungfrau nach Bestehen der Probe sogleich oder alsbald in den Besitz -und Ehestand eintraten, ist heute die Schulentlassungsprüfung von der Gesellen- und der Meisterprüfung (mit Erwerb der beruflichen Selbständigkeit) und anderseits die Geschlechtsreife von der Begattungsreife und von der Ehereife um mehrere Jahre getrennt, ja die jungen Leute der höher differenzierten Volksklassen erreichen die



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letzte Station der Pubertät erst gegen Ende der zwanziger Jahre. Die Prüfungen fanden in den primitiven Frühzeiten als Kampf zwischen Jung und Alt (Vater, Oberhaupt) und zwar immer auf Leben oder Tod statt (vgl. „le roi est mort, vive le roi!"), der Sieger erwarb Besitz und Weib, aber mit dem Weibe mußte er nun wieder eine harte Prüfung bestehen, die wiederum auf Leben oder Tod abgestellt war. Es ist klar; daß solche Kämpfe den ganzen Menschen beanspruchten, In späteren Zeiten milderten sich die Sitten: es kämpfte jung und alt, aber auch jung mit jung Vor dem Alten, und es wurde der Besiegte nicht mehr selbstverständlich getötet, aber die Prüfungen erstreckten sich auf alle Sinnesgebiete und waren Fragen: wie viel hält der Junge aus, was kann er ertragen, kann er den üblichen Anforderungen an den Krieger, Waffenfähigen und den Ehemann erfüllen oder nicht? So sind auch die heutigen Prüfungen zu Verstehen. Mit Waffen wehrt sich der Mann, sagt Hunding zu Siegmund, aber er muß sich auch mit dem Worte zu wehren müssen, er muß Rätsel lösen, denken können, er muß Kunstfertigkeiten Vollbringen können, modern: die Prüfungsfragen In den verschiedenen Fächern beantworten können usw. Als P r ü f u n g Ist also jeder Übergang ein „Schinden, Quälen, Auf-dle-Folter-Spannen" usw., auch ohne daß es veritable Wunden als Hautverletzungen gibt (vgl. aber Studentenmensur, Prügelelen junger Leute usw.); man muß „Haare lassen", man muß leiden und im Leid erprobt sein, man muß viel „durchmachen", „aushalten", man muß durchhalten, man ist stolz auf seine Narben usw., man zieht beim Übergange den alten Adam aus und den neuen an, man verläßt das Elternhaus und geht in die Fremde, man ist Fahrender und dann Erfahrener, in Gefahren gehärtet, gewitzt, ein Ausgekochter, Hartgesottener, ein mit allen Hunden Gehetzter, ein Gerissener, Geriebener (vgl. Christus von grlech. christos svw. gerieben, Verletzt, verwundet und somit gesalbt, „eingerieben" usw.), ein Brandfuchs und dann ein Gebrannter, Gebrandmarkter (der die Brennprobe ausgehalten hat) usw. — will man noch mehr? Ähnliche Proben haben auch die jungen Mädchen zu bestehen. Es gibt also biologisch keine M ö g l i c h k e i t , die Schwelle zu ü b e r s c h r e i t e n , ohne V e r l u s t zu h a b e n ; selbst als Besucher mußt du Hut und Mantel (Helm und Rüstung) ablegen, selbst zu irgend einem Vergnügen mußt du „Eintritt" bezahlen usw. Die Vergangenheit mußt du zurücklassen, den alten Adam. Aber mit diesem Verlust



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erwirbst du größeres Gut, erreichst ein höheres Entwicklungsziel, wirst „mehr" als vorher, steigst aufwärts zu größerer Macht, Bedeutung, gewinnst die Freiheit, immer größere Freiheit. Unter gewöhnlichen Umständen ist der Kampfpreis weniger wert als das Leben der Kämpfer, es gibt aber normale Ziele, die h ö h e r e n Wert h a b e n als das Leben des E i n z e l n e n : es sind dies ü b e r i n d i v i d u e l l e G ü t e r , solche, die von jedem Mitglied einer Gruppe als Gemeinschaftsbesitz begehrt und verteidigt werden, mag die Gruppe eine kleinere oder größere Gemeinschaft sein, eine Familie, Sippe, ein Stamm, ein Volk, eine Rasse, eine Art oder eine Glaubens-, Gesinnungs-, Weltanschauungsgemeinschaft. Auch die Entwicklung der Gruppen vollzieht sich nach dem Schema alles Geschehens, auch sie erleben ihre Übergänge und dabei ihre Schmerz- oder Schwellenstadien, ihre Kämpfe. Eine organisierte Gruppe ist eine biologische Gesamtheit höherer Ordnung, ein Ganzes, In das die einzelnen Individuen eingegangen sind. Der Tod der Einzelnen im Gruppenkampf ist also gleich der Verwundung, dem Verlust des Individuums im Einzelkampfe. Der gesunde erwachsene Zeitgenosse setzt für persönliche Ziele sein Leben nicht ein — im Gegensatz zum Primitiven und zum Neurotiker besonderer Prägung (manche Verbrecher); seine persönlichen Ziele liegen im Rahmen des Bestandes seines Organismus. Er setzt es aber unbedenklich und selbstverständlich für gesunde Gemeinschaftsziele ein und stirbt, falls die biologische Kurve seines Lebens hierbei ihr Ende erreicht, den Heldentod. Der geniale Mensch erkennt hohe und höchste Gemeinschaftswerte eher als die Zeitgenossen, und mancher Wegbereiter ist den Heldentod gestorben für die künftigen Geschlechter. Niemand hat je etwas Großes geleistet, d.er nicht bereit war, für sein Werk kämpfend unterzugehen. Und der ehrliche Tod fördert das Werk, die Idee, für die der Held stirbt, weitaus mehr als ein kompromißlerisches, opportunistisches Leben. Indes k a n n der Tod des Kämpfers ein k r a n k e s Ziel sein. Der Hungerneurotiker kann gegen die Welt, die angeblich „ihm die "Erfüllung versagt", mit dem Hungertode (übertrieben) protestieren, der Angstneurotiker kann „vor Schreck" sterben, der Schmerzneurotiker im „sinnlosen", im NurStreite, im verbrecherischen Kampfe fallen, der Trauerneurotiker sich selbst zerstückeln, töten, der Freudeneurotiker 1 ) „Primitiv" heißt hier stets svw. „kindhaft", onto - wie phylogenetisch, nicht aber svw. „einfach", „schlicht". Der echte Kulturmensch ist immer einfach und schlicht, nicht aber primitiv.



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die Nachricht, daß er das große Los gewonnen habe, mit dem Tode quittieren — sterben können sie alle, und sie werden keine Sekunde eher oder später sterben, als ihre biologische Lebenskurve zu Ende ist, der Organismus sich unter den gewissen Umständen auflöst. Aber dies ist der Tod als kra nkes Ziel. Viele Neurotiker sind I n d i v i d u a l i s t e n (Säuglinge im Großformat) und sterben (falls sie sterben) für persönliche Ziele, die, wie wir wissen, krank bis fast-gesund sind; sie überschätzen-unterschätzen und werfen ihr Leben hin, vergeuden es „für nichts", z. B. tötet sich der angstneurotische Schüler aus Angst vordemTadel oder „besiegt" der schmerz neurotische Sohn den Vater, indem er sich für eine Ohrfeige, eine Versagung das Leben nimmt, oder „überwindet" der abgewiesene Liebhaber die Geliebte (oder ihre oder seine Eltern) mit seinem (und manchmal zugleich der Geliebten) Tode usw. Die sind keine Helden, keine echten Helden — sagen wir: sie sind neurotische Helden, negative Helden, Unhelden. Andere Neurotiker sind „Kommunisten" Im Sinne von „Gemeinschaftsfanatikern", sie haben ein klndhaft-gewuchertes „Gemeinschaftsgefühl", sie leben in ihrer Gemeinschaft wie das Kind in der seinigen, sie teilen „alles mit allen", sie haben Angst Vor der Persönlichkeit, die sie selber werden könnten, Vorm Groß-sein, vorm Eigentum, das sie verteidigen müßten und das sie zum Diebstahl entwerten (Proudhon), vorm Besitz des einen Weibes, das ihnen streitig gemacht werden könnte und das sie Vorsorglich ebenfalls zum Gemeingut entwürdigen usw., sie sind Sektlerer, die sehr wohl imstande sind, für „die Idee", „die Ideale" der Sekte zu sterben, den kranken Tod zu erleiden. Immerhin stehen sie dem echten Heldentum näher als die Gemeinschaftsfanatiker, die die Gemeinschaft nur als Leibgarde benutzen, sich mit ihrem ewig schlechten Gewissen nur in der Gemeinschaft einigermaßen sicher fühlen, somit verkappte Individualisten sind. In der Menge können sie „untertauchen", „Verschwinden", in der Gemeinschaft sind sie geschützt, ¡a sie haben am Gemeinschaftsziel sogar ein „persönliches" Interesse insofern, als die andern Mitglieder — wohl gar unter ihrer geheimen Leitung — sich herausstellen, für das gemeinsame Ziel kämpfen und dem im Hinterhalt sitzenden „Führer" der Löwenanteil der Beute überlassen. Unter diesen Typen gibt es Menschen, die aus lauter Angst, ertappt, erkannt zu werden, sich gerade dahin begeben, wo die mögliche Gefahr droht, — und darin umkommen, den Feigheitstod sterben, aber Vom Gutgläubigen oder Heuchler (Mitwisser) als Märtyrer einer großen Sache, als echte Helden



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gepriesen werden. Es gibt Schmerzneurotiker, die — der Besonderheit ihrer neurotischen Verfassung, also der Organisation ihrer Reflexsysteme gemäß — überall, wo „etwas los ist", anzutreffen sind, allzu leicht in kämpferische Tätlichkeiten ausbrechen und sich gar viel darauf zu gute tun (Raufbolde usw.); sie sind den Verbrechern verwandt, die unter Einsatz ihres Lebens Beute machen — genische oder trophische (Berufs-, Geschlechtsverbrecher), nur haben diese ein „materielles" Ziel, während jene nur kämpfen, um zu kämpfen, — vielleicht daß sie sich rühmen, für die Schwachen einzutreten. Manchen ereilt hierbei der Tod, und auch dieser Tod ist ein krankes Ziel. Ein krankes Ziel ist auch der Selbstmord, den mancher Weltschmerzler begeht, um seinem Leiden ein Ende zu machen oder gar „sich für die Leiden der Menschheit zu opfern", die Welt zu erlösen... Manch einer, den die Geschichte preist, hat sich neurotisch zum Tode gedrängt, um so seine Widersacher zu „besiegen". Figur 5: das trauerneurotische Erlebnis. Gemäß der Hypertrophie der Trauerzellen besteht infantilistische, gewuchert-kindhafte Trauer auf genischem oder trophischem Gebiete, also krankhaft gesteigerte Liebes- oder Ernährungstrauer (einschl. Berufstrauer) oder beide in mannigfachen Kombinationen und Perversionen. Die übrigen Stadien des Erlebnisses treten mehr oder minder zurück und sind allesamt relativ stark trauerhaltig, also niemals ganz gesund, mögen sie auch den gesunden Aktualitäten zum Verwechseln ähnlich sein. Ist die Trauerneurose vorwiegend G e f ü h l s n e u r o s e , sind also vorwiegend die Gefühlszellen der kranken Reflexsysteme hypertrophiert, dann leidet der Kranke an gesteigerten Trauergefühlen, und die übrigen Gefühle treten mehr oder minder zurück und sind allesamt relativ stark trauerhaltig. Auch die hypertrophischen Trauerreflexe brauchen nicht (immer) aktuell zu verlaufen, auch hier gilt das S. 84 über die Schmerzreflexe Mitgeteilte. Die T r a u e r ist das G e f ü h l d e s S t ü c k - s e i n s , der K l e i n h e i t , des Verlassenseins (vgl. S. 51, 61, 85). Das Erlebnis ist stets der Übergang eines Geraden aus einem Runden in ein anderes Rundes; so entsprechen Hunger- und Angstgefühle und eine Sorte Schmerzgefühl den runden gegenständlichen Anordnungen, sind also negative Gefühle, dagegen entsprechen eine Sorte Schmerzgefühl sowie das Trauer- und das



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Freudegefühl den geraden gegenständlichen Anordnungen, sind also positive Gefühle. Das Gerade kann natürlich nur stückweise die Schwelle überschreiten, ein Mensch kann z. B. nicht gleich als Ganzer durch eine Tür hindurchgehen, sondern erst überschreitet der eine Fuß, das eine Bein, der Kopf usw. die Schwelle, dann schließen sich die andern Teile des Ganzen an, und auch sogleich nach vollzogener Überschreitung dauert das Trauerstadium noch an (kurzes Verweilen, Zurückblicken nach dem Abschied usw.), bis das Freudestadium das Erlebnis beendet. Beim Trauerneurotiker hält nun das Trauerstadium zu lange an, ist die Trauer im Verlauf des ganzen Erlebnisses zu intensiv, wenn auch noch nicht so anhaltend und intensiv wie beim ausgesprochenen Melancholiker (als Geisteskranken). Die Trauer ist da sozusagen das Hauptgefühl, die Hauptsache des ganzen Erlebnisses, wiederum — wie der hypertrophische Hunger usw. — sozusagen „Selbstzweck", die andern Gefühle treten mehr minder zurück, das Erlebnis bleibt sozusagen „in der Trauer stecken". Die A u s d r u c k s w e i s e n der hypertrophischen Trauerreflexe sind krampfige Kontraktionen der kurzen Längsfasern, die in den Wandungen der Hohlorgane sich Vorfinden und deren Kontraktion eine vom Verschluß beginnende, langsam sich Vollziehende Erweiterung bis zu einem gewissen Ausmaße (an die sich dann die Freudeerweiterung anschließt) ist. Dieser allmählichen Erweiterung entspricht regelmäßig das in die Höhlung aufgenommene Stück Füllmaterial (also des Geraden), mag es sich um Herz- oder Lungen- oder Darm- oder Drüseninhalt usw. handeln. Dieses Stadium der beginnenden Erweiterung ist im Falle der Trauerneurose zu lang, zu intensiv im infantilistischen Sinne. Die Erweiterung kommt somit „nicht recht Vom Flecke", ist gehemmt (Trauerhemmung), somit auch die Bewegung des Füllmaterials, —eine Hemmung, die wir auch bei den Trauerbewegungen der Skelettmuskeln beobachten. Diese Trauerhemmung ist also eine spezielle krankhafte Funktion der Organe, eine Verlangsamung, Stockung der Bewegung Von Sekret (Galle, Magensaft usw.) oder anderem Füllmaterial (Speise, Kot, Kind in der Geburt, Atemluft, Blut usw.), ähnlich wie bei der Angstneurose. Auch diese Erscheinungen gehören zu neurotischen Katarrhen u. a. Dysfunktionszuständen der Organe. Auch die Trauergefühle sind den einzelnen Organen zugeordnet — gemäß der Reflexorganisation, auch finden sich die Perversionen Vor, indem genische Anteile trophischer Organe hypertrophiert sind und mit den genitalen Reflex-



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systemen derart in Verbindung stehen, daß sich auch genitale Reflexe an dem trophischen Organ ausdrücken können, z. B. genische Trauer als Magenverstimmung, Atmungsstörungen, Herzstörungen usw. im Sinne der Trauerhemmung, der Trägheit auftritt — und umgekehrt. Zur Blutbewegung des Traurigen vgl. etwa Hagens Worte (Götterdämmerung): „Mein Blut verdarb' euch den Trank! Nicht fließt mir's echt und edel wie euch; störrisch und kalt stockt's in mir; nicht will's die Wange mir röten". So ist auch der Stoffwechsel des traurigen Menschen träge, und so ist der Traurige überhaupt träge, faul, phlegmatisch, fett, die Haut Ist gedunsen, glatt und blaß, die Gesichtszüge haben etwas Trauer-starres, Vergrämtes an sich, sind langsam und in kurzen Rhythmen beweglich. Der Trauerneurotiker Ist untersetzter, gedrungener Gestalt vom Typus des Zykloiden (nach Kretschmer); er sieht der Beleibtheit nach aus, als ob es ihm recht gut ginge. Die T r a u e r wird nicht selten mit dem S c h m e r z verwechselt, man spricht Von „seelischem Schmerz" und meint damit die Trauer zum Unterschied von den sog, „körperlichen Schmerzen". Wir wissen aber, daß Schmerz eben Schmerz ist, daß es einen Unterschied „seelischer und körperlicher Schmerz" nicht gibt; die Auslegung, daß der sog. körperliche Schmerz ein solcher Schmerz ist, der — im Unterschiede vom „seelischen Schmerz" — von organischen Krankheiten begleitet ist, können wir als unsachgemäße Deutung nicht anerkennen. — Angsthaltige Trauer ist R e u e : die Überschreitung der Schwelle ist geschehen, was steht mir nun bevor? (Angst, die Entscheidung, die Tat könne falsch, schlecht, schuldhaft gewesen sein und werde bestraft werden). Freudehaltige Trauer ist T r o s t (beginnende Aufrichtung). Ist die Trauerneurose vorwiegend G e g e n s t a n d s n e u r o s e , sind also vorwiegend die zu den kranken Reflexsystemen gehörenden Gegenstandszellen hypertrophiert, dann erlebt der Mensch innerhalb seiner kranken Bezirke, in der Ganzheit seines Erlebnisses vorwiegend trauergefühlige Aktualitäten, Stücke, kurze gerade Anordnungen von langsamer, schwerfälliger Beweglichkeit und auch die andersgefühligen Aktualitäten sind relativ stark trauerhaltig, wie denn überhaupt alle Erlebnisse mehr oder minder stark trauernuanciert sind, der traurige Mensch „alles" „schwarz sieht". Das trauerneurotische Erlebnis bleibt im Gegenständlichen (und Begrifflichen) im Teilerfolg stecken, aus dem Runden entwickelt sich zwar das Gerade, aber in der Hauptsache bleibt es Stückwerk, Trümmer, unvollkommen, „zerschlagen", wie sich der Traurige nach



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Überschreitung der Schwelle immer fühlt (vgl. „ich fühle mich frühmorgens oder nach der Arbeit, der Liebesbegegnung usw. wie zerschlagen" in Analogie zum Zerschlagen-Niedergeschlagensein nach einem Waffenkampf), und wenn auch das Erlebnis zum Freudestadium fortschreitet, so ist das Freudegefühlige (lange Gerade) dennoch stark trauerhaltig und der Erfolg somit stets matt und Verkümmert. Der D e u t u n g nach ist die Trauer ein Dämon, der den Menschen befällt, ihn niederdrückt, ihm die Welt in dunkeln Farben, in ihrer UnVollkommenheit zeigt, in den Dingen wirkt und den Befallenen zu seiner Hoffnungslosigkeit, Verlassenheit verurteilt (vgl. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"). Die Erde ist ein Jammertal, weinet über euch und eure Kinder, unfroh leben die Menschen dahin, bis der Tod sie aus all dem Elend, der dauernd lastenden Kette von Sünden und Sühnen, Schuld und Strafe erlöst. Warum sonst gibt es diese unerklärliche Schwermut, warum sonst befällt sie mich so nachhaltig, so zentnerlastend, daß mir Blut und Atem stockt, daß ich nicht mehr frei aufatmen kann, nicht mehr Freude habe am Essen und Trinken, an den Meinen, an der ganzen Welt? Doch nur, damit ich meine Schuld, die die Schuld der Menschheit, der Welt ist, die Hoffnungslosigkeit alles irdischen Strebens erkennen und meine sehnenden Gedanken auf das bessere Jenseits richten, mich so auf die ewige Seligkeit vorbereiten k a n n . . . Ist die tiefe Verschattung meiner Welt ein Segen — oder ein Fluch und damit Vielleicht die Strafe, Sühne? Der A u s d r u c k der sensorischen (der Gegenstandssphäre zugeordneten) Trauerreflexe ist als „ T r a u e r h e m m u n g " zu kennzeichnen: der Trauerneurotlker bewegt sich langsam, schwerfällig, pomadig, phlegmatisch, in kurzen, schleichenden Rhythmen, kommt nicht recht vorwärts (vgl. Trauerschritt bei Beerdigungen), ist gebeugt, niedergedrückt, deprimiert, schafft nichts Rechtes, bleibt in der Teilleistung stecken, ist faul (in besonderer Art), träge, matt, müde, erschöpft, zerschlagen. Am liebsten sitzt und liegt er herum, unzugänglich, „ohne Initiative", er hat ja etwas geleistet, und eben in dem Stückwerk ist ihm der Beweis geliefert, daß „all unter Tun umsonst ist, auch in dem besten Leben," wie ihm ja jedes neue (wiederum traurige) Erlebnis bestätigt. Er ist Fatalist, legt die Hände in den Schoß und läßt das Schicksal walten — Allah il Allah! Und huscht einmal ein leises Lächeln über seine ernsten Züge, so ist es ein trauriges Lächeln und voll von ungeweinten Tränen.



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Auch die kranken B e g r i f f e der T r a u e r n e u r o t l k e r sind infantilistisch. Trauergefühlig und relativ stark trauerhaltig im Sinne der Hypertrophie sind alle Erinnerungen, nur Trauriges bleibt im Gedächtnis haften. Langsam schleichen die Gedanken und zerstückt, ohne den fließenden Zusammenhang der normalen Reihen... Nicht anders vollzieht sich die B e s c h r e i b u n g . Der Trauerneurotiker ist wortkarg, spricht in kurzen, plumpen, abgerissenen Rythmen, ist „zu faul zum Reden", und was er mühsam von sich gibt, ist entweder Klage, Zerknirschung, Seufzer, Schuldbekanntnls, Reue oder doch mit dem Unterton des Jammerns, der Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung verbunden. Bestimmte Formeln wiederholen sich zwanghaft: „die Not, die Not, die Not!", „ich bin ja so unglücklich, unglücklich, unglücklich!", „für alle gibt es Hilfe (Rettung, Vergebung, Erlösung usw.), nur nicht für mich", „Gott sei mir Sünder g n ä d i g " . . . usw., und viele Sätze fangen an mit „Hätte ich bloß n i c h t . . . ! " . Von dem, was andere sagen, hört der Trauerneurotiker nur das Traurige heraus, das, was ihm „in den Kram paßt", und was er liest (falls er überhaupt liest), ist ihm nur Bestätigung seiner Verzagtheit, Zerknirschung. (Analog geht es übrigens jedem Neurotiker in der seiner Neurose entsprechenden Besonderheit). Es versteht sich aus dem Wesen der Neurose als Infantilismus, daß auch der Traurige zweifelt, nicht etwa entschieden ist in all seinen finsteren Deutungen, sondern immer fragt: ist es wirklich so und warum ist das so und was hat das für einen Sinn? Nicht anders verlaufen die W o r t b e g r i f f s r e i h e n . Da finden sich ausgebreitete Trauergedanken mit all den Zweifeln um richtig oder falsch, gut oder böse, schön oder häßlich In mannigfachsten Variationen, nicht selten auch spezielle perseverlerende Zwangsformeln (Stimmenhören, S. 99), z. B. „Warum hast du das getan?" usf. Das begriffliche Denken hat sozusagen den Vorzug, heimlich vor sich zu gehen, der Kranke kann sich so ohne Kontrolle in seinen Gedanken ergehen; dies trifft natürlich für alles begriffliche Denken, also auch das des Hunger-, Angst- usw. Neurotikers zu, die allesamt mindestens in den kranken Bezirken kranke Denker, denkkrank sind und sich — ähnlich wie die Gefühlsneurotiker— vor Beobachtung einigermaßen sicher fühlen. Der Denkkranke zweifelt aber sowohl an der Natur der „Gedanken" (er kennt ihr Wesen nicht und deutet sie allemal als Dämonen: unheimlich, übermächtig, unfaßbar, flüchtig usw.) wie an der Art, wie er ihre „Reichhaltigkeit" (Hypertrophie) einschätzen soll: einer-

— 111 — seits tut er sich auf seinen Gedankenreichtum (der realiter nur einer Ansammlung vonFalschgeld gleicht) etwas zu Gute, hält sich für einen wer weiß wie großen Denker, faselt von der „Allmacht der Gedanken" und ist somit selbst allmächtig, ein Gott oder iy2 Gott (vgl. die oft anzutreffende Überheblichkeit gelehrter Leute, den Standesdünkel), anderseits geht ihm des „Gedankens Blässe" auf und neigt er dazu, die Gedanken überhaupt und seine hypertrophischen im besonderen zu unterschätzen, — gemäß der kindlichen Unklarheit der Begriffe und ihrer Deutungen. Vom Standpunkte des Traurigen entspricht die Größe der Trauer der Größe, dem Werte des Geleisteten, der Entscheidung. Der Trauerneurotiker mit seiner hypertrophischen Trauer muß also „entsprechend viel durchgemacht haben", wobei der Zweifel besteht, ob das Geschehene (also das Hunger-AngstSchmerzstadium des Erlebnisses) „an sich" so bedeutsam im pragmatischen, ethischen, ästhetischen Sinne war oder ob ein an sich offenbar geringfügiges Geschehen „in sich" eine somit verborgene Größe enthielt, der die Größe der Trauer entspricht, ob also die Trauer gerechtfertigt ist oder nicht (übertrieben ist), der Traurige sich also auf die Schwere des Geschehenen (des Geschicks, Schicksals) berufen kann oder sich beherrschen müßte usw. usw. Jeder Übergang ist p r a g m a t i s c h ein Verlust und damit ein Gewinn (s. S. 103 f.): das Alte bleibt dahinten, das Paradies ist verloren, die Vergangenheit, die „gute alte Zeit" unwiederbringlich dahin, die Brücken sind abgebrochen, der Schutz der bisherigen Umgebung (Elternhaus, Jugend usw.) ist verlassen, — und so ist die neue Lebenssphäre gewonnen, der Schritt in die Selbständigkeit getan, die Entscheidung gefallen, die Leistung i n s o w e i t vollbracht, die Tat geschehen. Aber, deutet der Trauerneurotiker (und verschärft noch der Melancholiker), ist nicht, gemessen an der Größe der Trauer, der Verlust riesengroß und der Gewinn dagegen winzig? Habe ich nicht zu viel darangegeben, falsch gehandelt, eine Ware überzahlt („Umtauschsucht" vieler Menschen), hat „es der Mühe gelohnt" (vgl. Trauer nach dem ersten Koitus) — oder kann ich die immanente Größe nur nicht erkennen? Ach könnte ich, „sagt" die Reue, alles rückgängig machen! Aber es gibt kein Zurück! Könnte ich nochmals Von vorn anfangen — da würde ich es ganz anders machen! Aber niemand kann von neuem geboren werden, und obendrein sind die Erlebnisse nur einmalig, und der Mensch kann immer nur so handeln, wie er handelt und niemals anders, „er würde" also doch wieder so handeln, wie er gehandelt hat, „wenn er"



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nochmals beginnen könnte. — Der e t h i s c h e Zweifel in der Trauer zerlegt das Geschehene nach Schuld und Buße, Sünde und Sühne, Unrecht und Recht, böse und gut: ist das Geschehene eine Schuld so groß wie die Trauer, wie kann ich, dann der größte Sünder der Welt, je Vergebung finden, wie sie sühnen? oder ist sie (vielleicht) gering, weshalb dann die tiefe Trauer? ist sie ein Zeichen besonderer Fühlsamkeit für eine auch nur kleine Sünde, also ein Vorzug oder ein Nachteil gegenüber dem robusten Gewissen? oder ist das Geschehene schon die Buße, ist der Verlust — nicht Schuld, sondern Ausgleich... ? — So auch die ä s t h e t i s c h e n Zweifel. Und Immer involvieren die neurotischen Zweifel das „Prinzipielle", das „Letzte", das „Extrem". Wie anders wären sie zu lösen als mit der Erkenntnis des Wesens der Dinge, mit der Lösung des LeibSeele-Problems ! Auch beim Trauerneurotiker treffen wir also die Ü b e r und U n t e r w e r t u n g , die Mehr- u n d M i n d e r w e r t i g k e i t s ideen, den Zweifel in Hypertrophie. Wiederum gibt es auch für das trauerneurotische Erlebnis zwei A r t e n des A u s g a n g e s : nach Abklingen des Trauerstadiums schließt sich das fast normale Freudestadium an, der Kranke erreicht das fast normale Ziel, oder er kommt ans kranke Ziel. Wie gesagt, ist auch das fast normale Ziel relativ stark trauerhaltig (daher „fast") und insofern nicht ganz befriedigend, die Freude ist vergällt, der gegenständliche Erfolg aus Stücken zusammengesetzt, die sich immerhin noch voneinander abheben, es ist kein ganz reines, klares, vollkommenes Ergebnis. Noch mehr den Charakter des Zerstückelten, Zusammengestoppelten, in bizarrer Konstruktion Zusammengefügten hat das kranke Ergebnis („Werk" in irgend einem Sinne, genisch oder trophisch), es haftet ihm sozusagen Verwesungsgeruch an. Und der Trauerneurotiker sieht nun — analog den andern Sorten der Neurotiker—in diesemseinem Erfolg das Produkt einer Über- oder einer Unterleistung, eines göttlich-übermenschlichen oder teuflisch-untermenschlichen Wirkens — mit all den Zweifeln über Wert und Unwert seiner Persönlichkeit und der Umwelt. Das Ziel kann auch der Tod sein: der Trauerneurotiker und noch mehr der Melancholiker neigen dazu, sich selbst zu zerstückeln, das Niedergeschlagensein, das Zerschlagensein bis zur Selbstvernichtung zu übertreiben — wiederum mit all den Deutungen um Sünde und Sühne, Schuld und Strafe, Gott und Teufel usw., um die letzten Fragen. Wie groß und übergroß muß meine Schuld sein, wenn ich so überaus traurig bin und die Reue mir Tag und Nacht



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keine Ruhe läßt, wenn Gottes Stimme, die Stimme des Gewissens mich mit so überaus heftigen, dringlichen Mahnungen heimsucht! Wie kann ich die Sünden sühnen, die ich, der Trauer und Reue nach, begangen haben muß, auch ohne mir ihrer bewußt zu sein? Man kann also auch sündigen, ohne es zu wissen (Problem des freien und unfreien Willens usw.)? Je größer die Sündenlast, die ich mir, meinen Nächsten, meiner Familie, den Menschen, Tieren, der Welt, Gott gegenüber offenbar doch begangen habe, desto größer die Buße, und da ich nicht alle Sünden kenne, sühne ich am besten für die Unendlichkeit meines Sündenregisters mit der größtmöglichen Buße: mit Hingabe des Lebens (sonst auch des Gliedes, mit dem ich gesündigt habe oder haben könnte: der Augen, der Finger, der Hand, der Zunge, der Genitalien usw. — vgl. „so dich dein Auge ärgert, reiß es aus und wirf es von dir!"; Gesetz der Talion: Abschlagen der Hand für Diebstahl, Abschneiden der Zunge für Verleumdung usw.). Aber Ist diese Selbstbestrafung nun wirklich Sühne — für meine Untaten, ja für die Untaten aller Menschen — oder ist sie nicht neue U n t a t ? Aus Zweifeln wird so die Verzweiflung. Wer kann die Zweifel lösen? (Nur die Psychobiologie, die der Kranke kennen lernen muß, die Erkenntnistherapie, für die allerdings meiner Erfahrung nach Trauerneurotiker und Melancholiker schwer zugänglich sind.) Die Trauerneurose ist nicht selten kombiniert mit Angstund Schmerzneurose, nicht selten tritt die Angstneurose abwechselnd mit der Trauerneurose aktuell auf; ferner wechselt die Trauerneurose nicht selten mit der Freudeneurose ab (Zyklothymie). Figur 6: das freudeneurotische Erlebnis. Gemäß der Hypertrophie der Freudezellen besteht krankhaft gesteigerte, infantilistische Freude auf genischem oder trophischem Gebiete, also übertriebene Liebes- und Ernährungsfreude (einschl. Berufsfreude) oder beide in mannigfachen Kombinationen und Perversionen. Die Vorangehenden Stadien treten mehr oder minder zurück und sind allesamt relativ stark freudehaltig, also niemals ganz gesund. Ist die Freudeneurose vorwiegend G e f ü h l s n e u r o s e , sind also vorwiegend die Gefühlszellen der kranken Reflexsysteme hypertrophiert, dann leidet der Kranke an krankhaft gesteigerten Freudegefühlen (Glücksgefühlen), die sich in ihrer kindischen, unechten Art sehr wohl von der erwachsenen 8



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Freude unterscheiden, und die übrigen Gefühle treten mehr oder minder zurück und sind allesamt relativ stark freudehaltig, es beginnt also ein relativ stark freudehaltiger Hunger (Hoffnung, froher Mut), dann schließt sich eine freudige Angst (Zuversichtlichkeit), ein freudiger Schmerz (eine Art Schmerzlust, Algolagnie, besonders bekannt auf genischem Gebiete als Nuance des Sadomasochismus, Lust am Quälen anderer und seiner selbst), dann eine freudige Trauer (eine Art „leichtgenommene", flüchtige Trauer, ein Rasch-Getröstetsein) an. Die F r e u d e ist das G e f ü h l d e s G a n z - s e i n s , d e r G r ö ß e , der Vollendung (vgl. S. 51, 61, 85,106). Der Übergang ist im ganzen vollzogen, das Werk ist Vollbracht (vgl. „Es ist vollbracht"), das Erlebnis (das Leben) zu Ende, Gott sei Dank! Bei der Freudehypertrophie (Gefühl der Übergröße) ist wiederum die Freude das Hauptgefühl, die andern Gefühle treten zurück, man kann deuten: sie wären nur dazu da, um zur Freude zu führen und spielten so eine vorbereitende Rolle im Dienste der endlichen Freude. Die A u s d r u c k s w e i s e n der hypertrophischen sympathischen Freudereflexe sind krampfige Kontraktionen der langen Längsfasern, die in den Wandungen der Hohlorgane sich vorfinden und deren Kontraktion eine an die Trauererweiterung sich anschließende Vollendung der Erweiterung ist. Dieser Erweiterung entspricht regelmäßig die maximale Füllung des Hohlorgans (die aber noch nicht wie beim Ekel eine Überfüllung Ist), doch kann die Erweiterung des Hohlorgans wie überhaupt jedes Funktionsstadium auch bei Leere eintreten. Im Falle der Freudehypertrophie ist diese Erweiterung zu langdauernd, zu intensiv im infantilistischen Sinne. Der ganze Vorgang ist sozusagen nach dem Stadium der Freude hin verschoben. Die Freudebewegung ist normaliter eine in schönem, lebhaftem Rhythmus langhin sich erstreckende; der hypertrophische Ausdruck ist die krampfartige Abart, hat etwas Flatterndes, Übertriebenes, Übers-Ziel-schießendes an sich, ebenso die Bewegung des Füllmaterials. Die „Uberfreude" ist — wie die normale Freude und die andern Gefühle — den einzelnen Organen zugeordnet, und auch hier finden sich Perversionen. So kann eine kranke Magenfreude, ein Sättigungsgefühl ohne Nahrungsaufnahme aktuell sein im Falle der Hypertrophie genischer Freudesysteme des Magens, die mit genitalen Freudesystemen in Verbindung stehen; vor Liebesglück kann dieser Neurotiker nicht essen, er Ist von der Liebe satt (Flitterwochenglück als überschwänglich). Anderseits kommen abnorme genitale Freudegefühle



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trophischer Art vor als Begleiter trophischer Vorgänge an Ernährungsorganen; diese — in die Genitalregion lokalisierten — Gefühle sind nicht Wollustgefühle, sondern gleichen mehr dem Behaglichkeitgefühl nach dem Essen, oder dem Völlegefühl, wie es sonst in den Magen-Darm usw. lokalisiert ist; sie kommen bei Fressern und Säufern, auch bei Atmungsfanatikern vor und können die Liebesfreuden ersetzen (d. h. diese werden dann überhaupt nicht aktuell). Krampfige Erweiterungen sind bei dem neurotischen Emphysem, beim Asthma (Lungenblähung), bei der neurotischen Herzerweiterung, Gefäßerweiterung (Plethora), Magen- und Darmerweiterung (Blähungen), bei einer Art des Priapismus (zu lange anhaltende Erektion), bei der neurotischen Schwangerschaft usw. zu konstatieren. Gemäß einer Überfreude am Essen und Trinken sind alle Zellen und die Fettdepots des Organismus stark gefüllt, der Freudeneurotiker also wohlgenährt bis fettleibig, die Haut prall gespannt, glatt, die Miene überfreundlich, überfröhllch, immer lächelnd oder lachbereit, kindisch-heiter, die ganze Haltung freudeerregt, großartig, manieriert, exaltiert. Ist die Freudeneurose Vorwiegend G e g e n s t a n d s n e u r o s e , sind also vorwiegend die Gegenstandszellen der kranken Reflexsysteme hypertrophiert, dann erlebt der Kranke innerhalb seiner kranken Bezirke vorwiegend freudegefühlige Aktualitäten, („Freudiges"), Fertiges, Vollkommenes im infantilistischen Sinne (also Unecht-Vollkommenes) und auch die übrigen Aktualitäten sind relativ stark freudehaltig, zeigen sich „im rosigen Lichte". Der Freude neurotiker sieht immer den Himmel voller Geigen, erlebt immer nur Erfolge, die freilich keine ganz echten sind, aber doch oft mit echten verwechselt werden. Alles gelingt ihm, alles führt er zum guten Ende, er schwelgt im Glücke, aber in einem unechten, „schillernden", in einem kindischen, kindähnlichen Glücke. „Seid umschlungen, Millionen!" Der D e u t u n g nach ist die Freude wiederum ein Dämon, ein „schöner Götterfunken", eine oder die „Tochter aus Elysium", von deren Antlitz ein sonniges-wonniges Strahlen über die ganze Welt hinflutet. Wie sollte sonst die Freude, das Freudige, die günstige „Fügung" der Dinge zu erklären sein? Es muß doch eine geheimnisvolle Kraft am Werke sein, die alles Geschehen zum besten wendet? Und diese magische Kraft ist auch in mir tätig, sie bewirkt, daß mir alles gelingt, daß ich immer vergnügt und guter Dinge bin, sie spricht zu mir, berät mich — und immer richtig. Wie wäre sonst zu verstehen, daß ich immer Glück habe, wenn ich nicht das 8*



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,,Glück" hätte, in mir trüge? Fortuna ist mir hold. Aber sie hilft nur denen, die es verdienen, fortes fortuna adjuvat, also zwinge ich sie mit eigner Kraft (wieder eine Kraft!) zu meinem Dienste, sie m u ß mir gehorchen, ich bin mächtiger als das Glück — so muß ich wohl selber ein Göttersohn, Gottessohn, ein Gott sein. So deutet der Freudeneurotiker eine Allmacht in sich hinein, ganz so wie jeder andere Neurotiker. Und ebenso zäh wie jeder andere Neurotiker, wie das junge Kind verteidigt er diese dämonistische Allmacht gegen jeden geringsten, allergeringsten Versuch, ihr Abbruch zu tun, bloß daß der Freudeneurotiker sich mit überlegener Haltung kitschig-liebenswürdig über die Hindernisse wegschwingt. Jeder Neurotiker verteidigt seine Neurose mit den Waffen seiner Neurose. Sobald ein anderer, irgend etwas über mich triumphiert, bin Ich nicht mehr der Allmächtige — und wer, was bin ich dann noch? Halte ich mein Schicksal nicht in der Hand, dann bin ich ein Spielball der Schicksalsmächte und dem Verderben preisgegeben? Also muß ich ständig auf der Hut sein, mein Einzig-sein, mag man es Gott oder Teufel heißen, zu erhalten — wie das junge Kind sein dämonistisches Einzig-sein erlebt (und nur mit tausend Schmerzen, mit schweren Kämpfen aufgibt). Natürlich gelingt dem Freudeneurotiker nicht (wie er sagt) „alles", aber auch im Mißlingen erlebt er das Gelingen, deutet es als glückliche Fügung, „wer weiß, wozu es gut ist", „es hätte noch schlimmer kommen können", er ist ja vom Schicksal, vom Glück gesegnet eben darin, daß auch mal was „schief geht", denn „noch keinen sah ich fröhlich enden, auf den mit immer vollen Händen die Götter ihre Gaben streu'n". So ist er über alles erhaben, ihm kann nichts geschehen, er ist Liebling der Götter, Gottes — und ihm geraten alle Dinge. So übernimmt er — wie jeder Neurotiker — Erfahrungssätze aus dem normalen Erleben in seine Theoretik als Bestätigungen und als „Motivierungen" seines Verhaltens, seiner Beschreibung und wehrt sich gegen jeden Versuch der Aufklärung darüber, daß es ein Mißverständnis ist, die Norm als Bestätigung der Abnorm anzuführen, ja daß eben dies schon ein Symptom ist und daß ein Symptom sich nicht mit andern Symptomen, die Krankheit sich nicht mit sich selber rechtfertigen läßt. Freilich ist Selbst vergottung irgendwelcher Art, wie der Dämonismus überhaupt nur als Z w e i f e l möglich. Entspricht die Größe der Freude, des Erfolges der Größe der Leistung, so wäre die Leistung allemal groß, ja übergroß, auch in dem Falle, daß „mir der Erfolg in den Schoß fällt", „ich keinen



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Finger gerührt habe". Ist dann auch die geringste Leistung schon Träger der Allmacht, des Glückes — oder wird mir der Erfolg geschenkt? Gott zaubert mit einem Worte die Welt hervor, so muß auch mein Wort voll unheimlichen Zaubers sein — oder ich bin ein Nichts, ein armseliger Wicht, der nur „dem Geiste gleicht, den er begreift"? Und ist das „ewige Gelingen" nicht Teufelswerk (Faust!), Zwang der himmlischen Mächte (mögen sie auch naturwissenschaftlich bezeichnet werden), die uns ins Leben hineinführen, bloß um uns schuldig werden zu lassen, die uns zu irdischen Freuden, zur bösen Lust verlocken und dann der Rache der Schuld überlassen? So wird die Freude in der dämonistlschen Deutung und besonders in den zweiflerischen Deutungen der Neurotiker geradezu zur Schuld, Sünde, zum Übel, zum Verbrechen, Unrecht, zum Fehler und der Erfolg zu einem Dämon, der sich dem Erfolgreichen an die Sohlen heftet wie ein Verfolger, um den Verfolgten um so sicherer zu v e r n i c h t e n . . . Der A u s d r u c k der sensorischen Freudereflexe ist die sich vollendende Erhebung, Aufrichtung, Streckung, sie geschieht in lebhaftem, flotten, freihinfließendem Rhythmus. In krampfiger Abart verlaufen die Ausdrucksbewegungen des Freudeneurotikers (wie des Freudepsychotikers, des Manischen): sie sind geziert, manieriert, übertreiberisch, gespreizt, läppisch, albern, „fimmelig", aufgeregt, sie sind unecht wie alle neurotischen Ausdrucksbewegungen. Die kranken B e g r i f f e des F r e u d e n e u r o t i k e r s entsprechen den überfreudigen gegenständlichen Erlebnissen. Der Begriffsneurotiker schwelgt in freudigen Vorstellungen, Ideen, er sieht „im Geiste", d. h. eben begrifflich immer nur die glänzendsten Erfolge, das Wohl- und Überwohlgelingen, er malt sich die Geschehnisse aus wie das phantasierende Kind, das „Zauberer" spielt, nur hypertrophisch, die Begriffszellen der kranken Freudesysteme sind hypertrophiert. Der Kranke lebt in der Phantasie ein überaus herrliches, überherrliches, göttliches Leben, er wünscht —und die Ideen gehorchen, wie er befiehlt, so geschieht es, und wie er gebietet, so steht es da („Allmacht der Gedanken"). So deutet er die Tatsache der biologischen Hypertrophie der Begriffszellen der Freudesysteme dämonistisch aus — aber, meldet sich der Zweifel, — warum kann ich „meine Ideen nicht Verwirklichen", warum entspricht die Gegenständlichkeit nicht den idealen Großtaten? Bin ich ein „geistiges Wesen", ein Held des Geistes, dessen Reich nicht „von dieser Welt ist", ein vom heiligen Geiste Gesegneter — oder ein Kerl mit Verrückten Ideen, ein



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nutzloses Mitglied der menschlichen Gesellschaft, das Illusionen nachhängt, statt zu arbeiten, das seine Liebe in Phantasien erfüllt, statt die Liebste, den Liebsten zu küssen? Über die B e s c h r e i b u n g des Freudeneurotikers haben wir schon manches gesagt. Der Freudeneurotiker ist redeselig, spricht in langen, beschwingten Sätzen, immer positiv, überoptimistisch, in heitergestimmter Melodie, den Assoziationen, dem Sinne nach oft kindisches Geschwätz, „dummes Zeug", albernes, läppisches, geziertes, aufgeblasenes Kauderwelsch, ohne rechten Zusammenhang, sprunghaft das Thema wechselnd, voll kindischer Witzhaftigkeit und mit allerlei Buchstabenund Wortmanschereien, die auch zwanghaft auftreten können. Dieses Charakteristische der freudeneurotischen Beschreibung ist mehr oder minder leicht erkennbar, am leichtesten beim Submanischen. Der Menschenkenner merkt aber sehr wohl, wieviel an der Rede eines Menschen Geschwätz, oberflächlich dahinschwebender Dunst, übertriebener Optimismus, Enthusiasmus, Leichtfertigkeit i s t . . . und der Freudeneurotiker mag manchmal überrascht sein, daß seine Worte am wenigsten von denen ernstgenommen werden, die er am heftigsten überzeugen möchte, — wie er umgekehrt überrascht sein mag, daß er die ernstgemeinte Rede des Gesunden nicht ernst genommen und so mißverstanden hat. J a es ist s c h w e r für die Mens c h e n , sich zu v e r s t e h e n ! Der G e s u n d e , der m i t N e r v ö s e n s p r i c h t , w i r d in dem der Schwere und Ausdehnung der Neurose entsprechendem Grade i m m e r mißv e r s t a n d e n , und in einer andern Welse wird der Gesunde einer höheren Bildungsstufe leicht von dem Gesunden einer geringeren Bildungsstufe — und umgekehrt mißverstanden. Jeder kann nur gemäß dem Bau seiner Hirnrinde auffassen. Auch die W o r t b e g r i f f s r e i h e n , das „Wortdenken" des Freudeneurotikers sind ein heiter-hüpfendes Dahinschweben, die neurotische Art der I d e e n f l u c h t . Das saubere, eindringliche Durchdenken eines Sachverhalts ist ihm nicht möglich sein Urteil ist schon fertig und ist immer ohne weiteres anerkennend in der Art eines in mehr oder minder großen Dosen hineingeschmolzenen Enthusiasmus. So kommt er wieder zur S e l b s t v e r h e r r l i c h u n g (Stolz auf die Geschwindigkeit, Reichhaltigkeit, Positivität seiner Gedanken) und zur S e l b s t h e r a b s e t z u n g (Erfahrung, daß seine Gedanken Verführer sind, daß die Dinge anders sind, als sie seinen Ideen nach sein müßten). Und die freudigen, überfreudigen Gedanken jagen sich, es ist ein „ewiges Gedankenglück" im Freudeneurotiker, sein Geist beherbergt alle guten Geister — die vielleicht auch



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alle bösen Geister sind, jedenfalls wohnt „das Glück („mag es auch das Unglück sein") in seinen Gedanken" usw. Diese „Größenideen" können noch neurotisch sein, sie sind sozusagen lockerer, weniger tief eingegraben, weniger verfestigt, man möchte sagen: weniger ernstgemeint als die psychotischen Größenideen, mögen sie auch gleichlauten. Auch der Freudeneurotiker kann die Zwangsidee haben „ich bin der Ewige" oder „bin ich nun Gott (Christus) oder Teufel"? oder „die Welt liegt mir zu Füßen" oder „aut Cäsar aut nihil" usw., aber solche neurotische Ideen sind Aktualitäten von Begriffszellen, die biologisch der Norm immer noch näher stehen als die Begriffszellen deren, Aktualitäten die Größenideen des Manischen usw. sind. Der Neurotiker wird nicht von sich sagen, er sei der Kaiser von China, er besitze sämtliche Silberflöze der Welt, er lebe seit 5000 Jahren usw. J e d e s E r l e b n i s (auch das l e t z t e ) e n d e t mit dem F r e u d e s t a d i u m , also kann das freudeneurotische Erlebnis nicht zwei Arten des Ausganges haben, es ist aber eben das Freudestadium krank, der Erfolg, das Ziel infantillstisch In mehr oder minder ausgesprochenem Maße — je nach dem Grade der Entwicklungsdifferenz der kranken von den gesunden Reflexsystemen. Insofern unterscheidet sich die gesunde von der kranken Freude: diese ist gewucherte kindhafte Freude, kindische Freude, jene ist erwachsene Freude. Das Lachen des Gesunden ist anders wie das „Gelache" des Freudeneurotikers, das freudige Gebahren des Gesunden anders wie das alberne Getue, die Überheiterkeitsausbrüche des Freudeneurotischen. So ist auch der A r b e i t s - und der L i e b e s e r f o l g des Gesunden anders wie der des Freudeneurotikers, mögen beide Erfolge, rein äußerlich betrachtet, zum Verwechseln ähnlich sein. Es versteht sich, daß es für die Bedienung einer einfachen Maschine gleichgültig ist, ob ein Gesunder oder ein Kranker „auf den Knopf drückt". Ist aber die beanspruchte Tätigkeit einigermaßen kompliziert, so kann die Faselei, Oberflächlichkeit des Freudeneurotikers schon allerlei Unheil anrichten, zu irgendwie kranken Ergebnissen führen. Der freudekranke Handwerker liefert tatsächlich minderwertige Produkte, die er für ausgezeichnet hält, indem er nur das Gelungene sieht, nicht die Fehler. Der freudekranke Kopfarbeiter legt mit „genialem" Schwung seine „Geistesprodukte" hin und kann nicht begreifen, daß er ausgelacht wird. Der kindische Enthusiast ist mit allen Problemen eins, zwei, drei fertig, aber der gründliche, ernsthafte Gesunde hat diesen Lösungen gegen-



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über ein gesundes Mißtrauen. Umgekehrt vermag der neurotische Denker die Wahrheit nicht zu erkennen und ist ablehnend oder mißtrauisch — weniger da, wo in seiner Manier gedacht, gearbeitet wird, wo er sozusagen in seiner (kranken) Auffassung bestätigt wird, als gerade da, wo es etwas zu lernen gibt, wo ihm die Wahrheit gesagt wird (die kann er eben als Kranker nicht erkennen und nicht anerkennen). Der freudekranke Unternehmer ist der Mann des Erfolges, gewiß, er sieht in seinen Produkten das Nonplusultra und benebelt mit seiner Reklame die suggestible Masse, schart so auch Anhänger um sich, die den stets erfolgreichen Stürmer als selbstkranke Mitläufer oder berechnende Beutegeier begleiten, ihm nach dem Munde reden, ihn redlich oder unredlich bestätigen. Aber sobald die Suggestion vorüber ist, erweist sich die ganze Herrlichkeit als Bluff und mag niemand mehr etwas von dem Schwindel wissen. Der freudekranke Unternehmer hochstapelt unterdes schon wieder auf einem andern Gebiete. So wird er reich, Millionär, lebt in Villa oder Schloß — nicht als, sondern wie ein Grandseigneur — mit Gastereien, Sektgelagen, mit Weibern und „Freunden", mit all den läppischen Überschwänglichkeiten des Protzen — bis der unecht geraffte Gewinn zerrinnt und das Spiel des erfolgreichen Blenders von neuem beginnt. Der Genisch-Freudeneurotische hat in der Liebe „unverschämtes Glück". Sofern er über das Onaniezeitalter hinaus entwickelt ist (was viele Neurotiker nicht sind), also seine „Liebeserfüllung" nicht in der Einsamkeit findet, „laufen ihm die Weiber nach" und vermag er wohl auch mal eine echte Frau zu düpieren; er ist Hochstapler der Liebe. Aber auch diese Erfolge sind unecht, Scheinerfolge, mag auch die Eroberung der Frau — eben Eroberung sein. Er wirft die Frau alsbald weg, wie der Hotelgauner das Geraubte vergeudet, und hat schon wieder eine andere — neben einer vielleicht abergläubisch festgehaltenen, aber Vernachlässigten „Hauptfrau" die Reihe der „Nebenfrauen", die er, kaum geküßt, verläßt und die ihn, den Prahlhans, verlassen. Klar, daß sich auch in der Freudeneurose die Perversionen vorfinden, die Verdrehtheit der Reflexe, die krankhaft gesteigerten Lüste, die allesamt nicht annähernd so viel wert sind wie eine einzige gesunde Lust. Eine (unkomplizierte) Freudeneurose derart, daß das Ziel nicht in der normalen Richtung läge, kommt nicht vor. Jedes neurotische Erlebnis ist infantilistisch, vollzieht sich auf einer infantilen Entwicklungsebene und ist im Sinne der Wucherung



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abartig. Die dem freudeneurotischen Ergebnis vorangehenden Stadien sind also mehr oder minder ausgeprägt krank, aber nicht derart, daß sich ein Abweichen von der normalen Richtung vollzöge, wie wir das als die eine Verlaufsart des hunger- oder angst- oder schmerz- oder trauer-neurotischen Erlebnisses kennen. Findet das Abweichen statt und ist das Ziel freudeneurotisch, dann liegt eine komplizierte Neurose, meist eine Trauer-Freudeneurose In zyklischem Ablauf vor. Die Mangelhaftigkeit des freudeneurotischen Erfolges ist stets in der infantilistischen Beschaffenheit gegeben. Und aus der Tatsache dieser Unechtheit sind die M i n d e r - und M e h r w e r t ! g k e i t s i d e e n des Freudeneurotikers zu verstehen.

5. K a p i t e l .

Zur Diagnose. Die Neurosen (Leptosen, s. S. 25) sind funktionelle Störungen und als solche von den organischen Krankheiten (Hadrosen) unterschieden. Die Aufgabe der Diagnose ist es, in jedem einzelnen Falle zu entscheiden, ob eine funktionelle oder organische Störung vorliegt; mit dieser Entscheidung ist zugleich der Behandlungsweg angegeben. Nun muß stark betont werden, daß u n t e r den K r a n k h e i t s f ä l l e n die N e u r o s e n viel z a h l r e i c h e r s i n d , als man bisher allgemein a n n i m m t . Nicht nur der Laie, der Kranke selber, sondern auch der Mediziner ist gemäß der technisch-mechanistisch orientierten Weltanschauung unserer Zeit darauf eingestellt, für alle Symptome „körperliche Ursachen" zu suchen. Hierzu dient der außerordentlich ausgearbeitete diagnostische Apparat des modernen Arztes und besonders des Klinikers. Die gültige Auffassung ist diese: auch falls die bis ins kleinste gehende Untersuchung des Kranken auf „körperliche" (organische) Veränderungen einen positiven Befund nicht ergibt, so kann dennoch eine mit den heutigen Mitteln trotz ihrer Feinheit noch nicht erkennbare „körperliche" Krankheit vorliegen, deren Vorhandensein eben im Symptom sich anzeigt. Und die Behandlung hat sich dann innerhalb dieser Auffassung auf die vermutete organische Krankheit mit denjenigen Mitteln zu richten, die gegen eine offenkundige organische Krankheit angewendet werden. So wird die Diagnose „Neurose" viel zu s e l t e n g e s t e l l t , und auch der Kranke ist viel mehr geneigt, anzunehmen, daß er ein organisches Leiden habe, als zuzugeben, daß er „nervös" sei. Der Nervosität jeglicher Form haftet ein gewisses Odium an; Neurose ist Denkkrankheit, der Laie sagt wohl auch, der Nervöse sei „verdreht", „meschugge" usw., ein organisches Leiden dagegen gilt als „anständig". Hinzu kommt der Aberglaube, daß der Nervöse nicht nervös zu sein brauche, wenn er nur den guten Willen habe; es liegt in dieser ganz unsinnigen Annahme ein Vorwurf, eine Beschuldigung des Kranken dafür, daß er krank ist, somit eine



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Herabsetzung der Persönlichkeit, die der Nervöse um so mehr übelnimmt, je nervöser er ist, je mehr er aber auch einsieht, daß er mit dem berühmten „guten Willen", mit aller Anstrengung, Energie gegen die Neurose nichts ausrichten kann, im Gegenteil erfahren muß, daß diese vermeintliche Abwehr der Neurose selber neurotisch, selber ein Krankheitszeichen ist. Es ist schon ein wichtiger Schritt zur Besserung getan, sobald sich der Kranke aus seiner Krampfeinstellung, mit der er wähnt die Krankheit niederzwingen, unterdrücken zu können, gelöst hat. Ich weiß, daß ich mich (auch) mit dieser Erkenntnis in vollem Gegensatz zur bisher gültigen Auffassung befinde. Die Abwehr der richtigen Diagnose „Nervosität" seitens des Kranken ist also selber neurotisch, und die diagnostische wie die therapeutische Aufgabe kann doch nicht darin bestehen, daß man die neurotische Einstellung des Kranken als richtig bestätigt, indem man die Diagnose „Nervosität" oder „Neurose" überhaupt belächelt oder doch ein organisches Leiden auch da noch annimmt, wo die technisch-diagnostischen Apparate einen organischen Befund nicht ermitteln. Das Augenmerk muß viel mehr als bisher auf die funktionellen Störungen gerichtet werden, sie müssen als „richtige" Krankheiten anerkannt und behandelt werden, man muß einsehen lernen, daß auch die funktionelle, die neurotische Krankheit nicht wegzuzaubern ist, indem man sie als Krankheit überhaupt leugnet oder ihr bestenfalls die Rolle der „eingebildeten Krankheit" zubilligt, einer solchen, die „eigentlich" gar nicht existiert, also auch nicht behandelt werden kann. Was hat es denn überhaupt mit der Diagnose „ e i n g e b i l d e t e K r a n k h e i t " auf sich? Kann man sich wirklich eine Krankheit einbilden? Da klagt z. B. jemand über Schmerzen im rechten Bein. Der Arzt kann einen organischen Befund nicht feststellen, und falls er nicht in der Meinung, Schmerzen müßten immer auf organische Veränderungen kausal zurückgeführt werden, eine Nervenentzündung usw. diagnostiziert, belehrt er den Jemand dahin, daß er nervöse Beschwerden habe und sich die Schmerzen bloß einbilde. Der Jemand hat etwa einen Bekannten besucht, der wegen Beinschmerzen bettlägerig war, und klagt seit diesem Besuche nun ebenfalls über solche Schmerzen. Zwei Möglichkeiten liegen hier vor: entweder der Jemand hat tatsächlich Schmerzen und zwar nervöse, dann ist der Schmerz genau so gut ein Schmerz wie der bei organischen Krankheiten auftretende (die besonders bei Laien weitverbreitete Meinung, nervöse Schmerzen



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seien keine Schmerzen, ist durchaus unrichtig), — oder der Jemand hat tatsächlich keine Schmerzen, er klagt sie bloß, dann liegt eben darin, daß er Schmerzen klagt, seine Krankheit, die freilich immer eine Neurose, darum aber nicht weniger eine Krankheit ist wie jede andere. Nur im letzteren Falle kann man von „eingebildeten Schmerzen", „eingebildeter Krankheit" sprechen, und daß sich jemand eine Krankheit „einbildet", das eben ist schon Krankheit, und diese Krankheit kann sich jedenfalls niemand einbilden. Nur Nervöse leiden an der „ E i n b i l d u n g s - K r a n k h e i t " , wiederum ein Zeichen, daß die Einbildung von Krankheiten selber Krankheit ist. Ein Gesunder bildet sich niemals eine Krankheit ein; sein Denken ist gar nicht zu solchen Abwegen fähig. Aber auch nicht alle Nervösen sind in der Lage, sich eine Krankheit einzubilden; es ist hierzu ein ganz besonderer InfantiHsmus von Sprechrefiexen und im Wortdenken erforderlich : wer ihn nicht hat, kann nicht so reden und wortdenken wie der, der ihn hat. Dagegen gilt der Satz: alle Eingebildet - Kranken sind Neurotiker. Sie sind suggestible Menschen, sie imitieren den Kranken und seine Klagen, ganz ähnlich wie das Kind das Gebahren anderer Leute, besonders der Erwachsenen gern nachahmt. Auch bei primitiven Völkern ist die N a c h a h m e k r a n k h e i t (vgl. Latah oder Mali-Mali der Malaien) wohlbekannt; ein solcher Kranker „muß" seinem Vorbild alles nachmachen, d. h. er leidet an einer Zwangskrankheit, Zwangsneurose und kann sich daraus eben so wenig befreien, wie irgend ein anderer Kranker sich von seiner Krankheit befreien kann, sondern warten muß, bis sie abgeklungen ist oder therapeutisch heilt. Auch bei Kulturvölkern ist die Nachahmesucht ein weit verbreitetes Übel. Sie erstreckt sich natürlich nicht bloß auf Krankheiten. Ein Patient entdeckte als 31 jähriger plötzlich, daß er „eigentlich" eine Frau haben müsse; so ging er hin und freite — rein technisch, wie etwa ein Kind die Spielgefährtin „heiratet", er mimte Ehemann, ja lebte mit der jungen „Frau" (natürlich nahm er sich eine „gleichgestimmte Seele" und konnte ja auch nur eine für seine neurotische Beschaffenheit „passende" Partnerin finden) zusammen, wie etwa Kinder „Ehe" spielen. Die „Bindung an die Formel" (S. 73) ist eine analoge Krankheit. So sind die Eingebildet-Kranken Nachahmer; sie spielen Krankheit wie die Kinder „Onkel Doktor und Patient" spielen. Da ist kein schlechter oder schwacher Wille die „treibende Kraft"; „willentlich" kann kein Mensch krank werden, auch



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nicht die Einbildungskrankheit sich zulegen; er muß schon so gebaut sein. Es ist nur dämonistische Deutung, daß mansagt, jemand „wolle" krank sein, jemand sei krank, weil er es gewollt habe und wolle. Selbst der Simulant ist Nachahmer, ein solcher, der weiß, daß er nachahmt; er leidet an der S i m u l a t i o n s k r a n k h e i t , simulieren kann nur der Neurotiker, niemals der Gesunde. Es ist ganz unverständig, den Eingebildet-Kranken mit Vorwürfen und Drohungen zu kommen. Sie können für ihre Krankheit ebensowenig wie irgend ein anderer Kranker, wie der Gesunde für seine Gesundheit. Das Gegenstück zu dieser Krankheitsform ist der E i n g e b i l d e t - G e s u n d e , er spielt „Gesundheit" wie die andern „Krankheit" spielen, er imitiert die Gesunden, wie er sie erlebt, nicht wie sie sind. Es geht ihm seiner Meinung nach oder angeblich Immer gut, er kennt keine Krankheit, er verträgt alles, — sagt er; er verheimlicht ängstlich seine Nöte und Beschwerden und brüstet sich mit seiner vermeintlichen „Energie", mit der er „allem gewachsen" ist. Zur nächsten Verwandtschaft all dieser Kranken gehören die H y p o c h o n d e r , d. s. Leute, die an neurotischer Angst vor der Krankheit, am neurotischen Zweifel, was gesund und was krank ist, leiden. Die Auffassung, daß die Neurose allemal eine „eingebildete Krankheit" sei, daß also der Neurotiker tatsächlich gesund sei, ist ein ebenso schweres Mißverständnis wie die häufig anzutreffende Auffassung des Neurotikers, er sei der Gesunde und „die andern" seien krank. Solche Mißverständnisse erinnern an gewisse Theorien, z. B. an die Adlers, der erklärt, Neurose sei die normale Reaktion der Seele auf die abnorme Umgebung", und auf dieser rohdämonistischen Fiktion eine ganze Lehre aufgebaut hat (die sog. Individualpsychologie), oder an die Theorie der Christian science (Christlichen „Wissenschaft", Gesundbeterei), die erklärt, Krankheit sei Irrtum, der Kranke sei also tatsächlich gesund, er irre sich bloß, wenn er meine, es gäbe Krankheiten und er sei krank, usw. Solche Verdrehtheiten der Theoretik knüpfen logisch an die dämonistische Zerlegung des Menschen in Leib und Seele an: die Seele (der Geist) ist dämonisch, göttlich, mithin kann sie nicht erkranken, sie kann nur „normal" auf die kranke Umgebung „reagieren" oder das, was man Krankheit nennt, gibt es überhaupt nicht. Daß solche Lehren viele Anhänger finden, spricht nicht für ihre Richtigkeit. Es ist nichts so dumm, daß es nicht Gläubige fände. Die Dummheit der Menschen ist größer als ihre Bosheit, sagt H a n s M u c h .



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Freilich wer — o b Arzt, ob Laie — die Psychobiologie nicht kennt, für den ist die Neurose ihrem Wesen nach ein Buch mit sieben Siegeln, und es bleibt ihm gar nichts übrig, als sie dämonistisch zu deuten — oder überhaupt zu leugnen und nur organische Krankheiten anzuerkennen. Damit ist freilich das Problem nicht gelöst, es ist nur im Sinne des Zweifels umgangen. Uns ist die Neurose kein Problem mehr. Die Psychobiologie hat auch das Rätsel der O r g a n n e u r o s e gelöst — und niemals kann eine andere Lösung gefunden werden. Bisher wird die Organneurose noch allzu oft als organisches Leiden diagnostiziert. Die allgemein gültige grundsätzliche Auffassung ist die: die Beschwerden, über die ein Patient an diesem oder jenem Organ (z. B. Rachen, Kehlkopf, Lunge, Herz, Magen, Darm, Leber, Niere, Genitale usw.) klagt, sind Hinweise auf ein organisches Leiden, und falls die klinisch-mechanistische Untersuchung nichts Positives ergibt, so ist sie mangelhaft durchgeführt oder noch nicht exakt genug durchführbar; nur „im Notfalle" soll man sich zur Diagnose „funktionelle Störung" entschließen, und selbst dann noch organische Ursachen vermuten. So gewissenhaft diese Methodik der mechanistischen Denkweise sein mag, so ist eben diese Denkweise unzulänglich: sie hat das Wesen der Nerven- und Organfunktion, das Wesen der nervösen (neurotischen) Krankheit noch nicht erkannt. Gewiß, die Organneurose ist ein Leiden „am" Organ, aber eben kein organisches, sondern ein funktionelles; Gallenkrämpfe (mit ihren Folgen) z. B. sind krankhafte (hypertrophische) ängstlich-schmerzliche Kontraktionen an den Gallengängen und sicher sehr oft reln-funktioneller A r t : Ausdruckserscheinungen der zugeordneten hypertrophierten Angst- und Schmerzreflexsysteme. Es gibt auch neurotische Veränderungen, die hart bis an die Grenze der organischen Veränderung gehen. Die O r g a n s t ö r u n g e n s i n d viel h ä u f i g e r f u n k t i o n e l l , n e u r o t i s c h , als b i s h e r all gerne in a n g e n o m m e n w i r d ; es g i b t s e h r v i e l e n e u r o t i s c h e Katarrhe, Entzündungen, Stauungen, Schwellungen, V e r h ä r t u n g e n , B l u t u n g e n , A u s s c h e i d u n g e n (In-, Seund Exkretionsneurosen), S ä f t e v e r ä n d e r u n g e n (Blut, Lymphe, Magensaft usw.), F i e b e r e r s c h e i n u n g e n usf. Druck, Schmerz „an" Organen, Dysfunktionen (Über-, Unterfunktionen) sind kein Beweis für das Vorliegen einer organischen Krankheit. Nicht selten aber schließen sich an neurotische Veränderungen solche organischer Art an, z. B. an eine neurotische Kontraktion (Verkrampfung) der Lungenspitze eine organische Tuberkulose usw.



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Somit genügt in vielen Fällen die übliche mechanistische Untersuchung nicht, sie muß nach den Gesichtspunkten der Psychobiologie vervollständigt werden. Man wird dann mehr und mehr erkennen, daß unter den Kranken ein sehr hoher Prozentsatz, j a ich behaupte aus meinen Erfahrungen und denen anderer Ärzte heraus, daß der w e i t ü b e r w i e g e n d e P r o z e n t s a t z d e r K r a n k e n N e u r o t i k e r sind — ganz abgesehen davon, daß alle Organisch-Kranken nervöse Begleitsymptome aufweisen. Es gibt Neurosen als H y p e r t r o p h i e n und als A t r o p h i e n Im ersten Falle sind die Denkzellen auf kindlicher Entwicklungsstufe gewuchert, also einzeln im Sinne der Hypertrophie verändert oder (und) an Zahl vermehrt, im zweiten Falle sind sie im Sinne einer Verkümmerung verändert und (oder) an Zahl unternormal. Daß die funktionellen Störungen sich immer nur an Apparaten vollziehen können, die organisch nicht ganz intakt sind, leuchtet ein; diese organischen Abweichungen sind aber eben so „zarte", daß sie sich nur in Form der funktionellen Störung bemerkbar machen (daher leptotische Krankheiten); sie sind auf anderem Wege heilbar wie die „organischen" (hadrotischen, „groben") Krankheiten, die übrigens natürlich auch alle mit funktionellen Störungen einhergehen. Wie oben bemerkt, fallen die neurotischen Hyper- und Atrophien nicht in den Bereich der mittels der mechanistischen Apparate diagnostizierbaren Krankheiten. Die Unterscheidung der hypertrophischen und der atrophischen Neurosen ist nur bei eingehender psychobiologischer Untersuchung möglich und kann in Kürze nicht erläutert werden. So kann die sog. W i l l e n s s c h w ä c h e Bezeichnung für die neurotische Atrophie Von Hungerzellen, aber auch für die neurotische Angsthypertrophie sein. Der allzu großen Angst gegenüber kann auch der fast normale Hunger der in diesem Falle relativ stark angsthaltig ist, „schwach" erscheinen; streng genommen — und die Psychobiologie „nimmt streng" — kann nur der neurotisch atrophische Hunger als schwach, und falls man die Hungerreflexe mit „Wille" bezeichnet, als „Willensschwäche" (Hypoboulie) bezeichnet werden. Von dieser Willensschwäche ist wiederum die W i l l e n s l ä h m u n g zu unterscheiden, die eine besondere Art der neurotischen Dysfunktion ist. Der A n g s t a t r o p h i k e r hat zu wenig Angst, zu wenig Hemmungen, geht blindlings, unvorbereitet in das Schmerzstadium, in die Entscheidung; er ist zu unterscheiden vom Angstgelähmten (im Sinne der krampfigen oder schlaffen Lähmung) usw. Auf alle diese Verhältnisse werde ich im „Lehrbuch der Psychobiologie" eingehen.



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Ebenso genüge hier der Hinweis darauf, daß sich g e n i s c h e und t r o p h i s c h e oder, wie man bisher sagt, hysterische und neurasthenische Symptome sehr wohl unterscheiden lassen. Meist sind die Neurosen Kombinationen beider Klassen von Symptomen derart, daß die eine Klasse überwiegt; je nachdem die genischen oder die trophischen Symptome überwiegen, sprechen wir von Genosen (genischen Neurosen, Hysterie) oder von Trophosen (trophischen Neurosen, Neurasthenie). Die Unterscheidung genisch — trophisch ist natürlich auch für die Therapie von größter Wichtigkeit, insofern als man trophische Symptome nicht als genische und genische nicht als trophische behandeln, aufklären und lösen kann.

6. K a p i t e l .

Die Behandlung der Neurosen. A. Allgemeines über Heilung und Heilmethoden. Die Psychobioiogie lehrt: Krankheit (jeglicher Art) ist Infantilismus. Gewisse Reflexsystetne (Persönlichkeitsanteile) eines Organismus sind gemäß ihrer biologischen Beschaffenheit auf einer relativ frühen (infantilen) Entwicklungsstufe stehen geblieben und auf dieser Stufe ebenso alt geworden wie die übrigen zum Organismus gehörenden weiterentwickelten Reflexsysteme. Der kranke Anteil kann so geringfügig oder unentwickelt sein, daß das Bewußtsein von seiner Existenz überhaupt fehlt und er auch für den geschulten Beobachter unbemerkt bleiben kann (late n t e K r a n k h e i t , D i s p o s i t i o n). Er kann ferner soweit wuchern, daß die Krankheit „ausbricht", m a n i f e s t wird. Nun Hegen zwei Möglichkeiten vor. Der kranke Anteil entwickelt sich unter Ausscheidung von „Krankheitsstoffen" zur Norm: dann tritt die Krankheit e i n m a l i g auf, der Organismus ist nachher gesund (z. B. Masern, Scharlach u. a. Kinderkrankheiten). Oder der kranke Anteil als solcher bleibt erhalten und wuchert sogar weiter, seine Funktion erreicht in gewissen Abständen (spezifische Periodik) ihre Höhepunkte: dann ist die Krankheit c h r o n i s c h und nimmt in gewissen Zwischenräumen a k u t e Formen an (Anfälle, Rezidive, Exacerbationen), in der Zwischenzeit ist sie (mehr oder minder) latent, d. h. treten die Symptome mehr oder minder zurück. In einem Organismus können sich Verschiedene solcher kranker Anteile vorfinden, eine gewisse Krankheit also latent und eine andere manifest werden, es kann ein Teil der kranken Reflexsysteme atrophieren, ein anderer hypertrophieren, so daß eine V e r s c h i e b u n g der S y m p t o m e , ein Umbau der kranken Reflexsysteme eintritt. Bis auf die Kinderkrankheiten sind alle Krankheiten chronisch, und auch jene können in chronische Formen übergehen (z. B. Scharlachnephritis usw.). Wie im einzelnen der Lebensablauf, die Funktionsperiodik der kranken Reflexsysteme sich vollzieht, ist Sache ihrer biologischen Beschaffenheit, ihrer Spezifität. 9



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Die H e i l u n g im e i g e n t l i c h e n S i n n e ist hiernach die Normalisierung der kranken Persönllchkeitsanteile, d. h. die Nachentwicklung zur Norm, der Ausgleich der Entwicklungsdifferenz, so daß sich die gesamte Persönlichkeit auf einer einheitlichen Entwicklungsstufe befindet. Wird die Krankheit latent, dann spricht man auch von Heilung: die Symptome sind mehr oder minder zurückgetreten, die Hochfunktion der kranken Reflexsysteme ist abgeflaut; aber es ist klar, daß diese „Heilung" nicht die Heilung im eigentlichen Sinne ist. Der Herzneurotiker, der In der Sommerfrische, im Bade weilt, mag eine Zeitlang keine Beschwerden Verspüren; sobald er aber nach Hause zurückgekehrt ist und seine kranken Reflexsysteme wieder in ihre Hochfunktion eintreten (was eben gemäß ihrer spezifischen Funktionsperiode der Fall ist), dann hat er wieder seine Beschwerden und wird erkennen, daß er nur „abgelenkt" war, seine Krankheit vorübergehend nicht bemerkt hatte, nicht aber eigentlich geheilt ist. Der Gichtiker hat periodisch seine Anfälle und Verschlimmerungen, er ist In der Zwischenzelt nicht eigentlich geheilt (gesund), sondern nur mehr oder weniger beschwerdefrei. Jede Krankheit hat also Ihre spezifische Periodik, jeder Krankheitsanfall seine spezifische Kurve. Die ansteigende Kurvenstrecke ist die Zunahme der Funktionsintensität der lnfantllistischen Reflexsysteme, die absteigende Strecke ist die Abnahme der Funktionsintensität; der Höhepunkt heißt Krisis. Das Krankheitsgeschehen selber, insbesondere das postkritische ist also der Heilungsvorgang, und gewisse Erlebnisse des Kranken und seiner Umgebung nennt man Pflege, Kur, T h e r a p i e . Das Ganze ist ein biologischer Ablauf, ein solcher also, dessen Glieder sich zeiträumlich aneinanderschließen etwa wie die Perlen einer Kette oder die Tage eines Jahres; die Therapie ist also nicht die Ursache der Heilung, sondern lediglich eine Reihe von Umständen, die biologisch zum Krankheitsablauf gehören, demnach gar nicht aus ihm wegzudenken sind. Die Therapie ist somit je nach dem biologischen Charakter der Krankheit Verschieden. Wir unterscheiden die c h i r u r g i s c h e , die i n t e r n i s t i s c h e und die n e u r o l o g i s c h e B e h a n d l u n g s w e i s e . Die Chirurgie arbeitet im wesentlichen mit Instrumenten, die interne Medizin mit Medikamenten und diätetisch-physikalischen Maßnahmen, die Nervenheilkunde mit „innern" Mitteln (und ist insoweit internistisch) und mit rein funktionellen Mitteln, in erster Linie mit Worten (und ist insoweit „Psychotherapie").



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Es ist also zu betonen, daß die sog. P s y c h o t h e r a p i e sich dem Wesen nach von allen andern Methoden unterscheidet: sie ist rein auf Ä n d e r u n g e n v o n F u n k t i o n e n abgestellt, ist F u n k t i o n s t h e r a p i e , während alle andern Behandlungsweisen auf a n a t o m i s c h e Ä n d e r u n g e n abzielen. Natürlich sind mit anatomischen oder „organischen" Änderungen immer auch funktionelle Änderungen gegeben, aber es gibt eben nur-funktionelle Krankheiten (eben die Neurosen 1 ), und bei diesen kommt somit eine Therapie, die auf anatomische Veränderungen abzielt, grundsätzlich nicht In Betracht. Im Übrigen ist das Wort „Psychotherapie" ein Requisit der dämonistischen Denkweise, die in den Leib eine Seele hineinfingiert und weiterhin annimmt, diese Seele könne erkranken oder aber man könne die Seele des Kranken derart beeinflussen, daß sie die Krankheit zur Heilung bringe oder die Seele oder die seelischen Kräfte des Therapeuten können die Krankheit wegzaubern usf. So lange das Leib-Seele-Problem ungelöst war — und das war es bis zur Psychobiologie —, war man auf derartige mystische Deutungen angewiesen. Heute wissen wir, d. h. ich und meine Anhänger, daß Gefühle, Gegenstände und Begriffe, alles Erleben schlechthin physisch ist, also „psychische Heilmittel" überhaupt nicht existieren, daß auch die Worte physisch sind und somit das Hauptmittel des sog. Psychotherapeuten genau so gut physisch Ist wie die Instrumente des Chirurgen, nur eben ein anderes (nämlich verbales) Physisches. M i t h i n g i b t es r e a l i t e r k e i n e P s y c h o t h e r a p i e oder seelische Behandlungsweise, die P s y c h o t h e r a p i e i s t N e u r o t h e r a p i e u n d z w a r F u n k t i o n s t h e r a p i e , der eine Zweig der neurologischen Behandlung, und a l l e P s y c h o t h e r a p e u t e n s i n d N e r v e n ä r z t e (nicht aber umgekehrt!). (Über das Wort „Psychobiologie" s. S. 23 Fußnote). Man kann also auch die chirurgische, die internistische und die funktionelle Behandlungsweise unterscheiden; indem das wesentliche Mittel der Funktionstherapie das Wort ist, kann man sie auch V e r b a l t h e r a p i e nennen. Die einzelnen Behandlungsweisen greifen in gewissen Grenzen in einander über. So verwendet der Chirurg auch innere Mittel und suggeriert den Patienten allerlei ein, der Internist bedient sich ziemlich ausgiebig der Verbalthera pie, indem er außer seinen eigentlichen Mitteln „gut zuredet", *) und gewisse,,Psychosen", von mir „Enzephalo-Leptosen" genannt (Ztschr. f. d. Neur. u. Psych., Bd. 105 H. 3/5, 1926).

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Ratschläge gibt usw. Dagegen h a t sich die F u n k t i o n s t h e r a p i e auf ihr „Werkzeug" zu b e s c h r ä n k e n ; sie arbeitet im wesentlichen mit dem W o r t e , und m i n d e s t e n s mit i h r e n e n t w i c k e l t e n F o r m e n ist die D a r r e i c h u n g i n t e r n i s t i s c h e r H i l f s m i t t e l usw. d u r c h a u s u n v e r e i n b a r . Sollen also die nervösen Begleiterscheinungen organischer (hadrotischer) Krankheiten funktionstherapeutisch behandelt werden, so ist es durchaus unmethodisch, beides: die internistische oder chirurgische und die funktionstherapeutische Behandlung zugleich vorzunehmen, sondern das einzig Richtige, erst die internistische oder chirurgische und d a n a c h die funktionstherapeutische Behandlung anzuwenden, wenigstens soweit es sich nicht bloß um die einfachen Suggestionen oder Aufklärungen handelt, die jeder Arzt jederzeit und ganz unvermeidlich gibt. Natürlich muß die Diagnose richtig gestellt werden. Es geht nicht an, Organneurosen usw. als organische (hadrotische) Krankheiten, also falsch zu diagnostizieren, dann eine mehr oder minder ausführliche „Psychotherapie", wohl gar neben internistischen usw. Mitteln, anzuwenden und hinterdrein zu behaupten, die „Psychotherapie" hätte die „organische" Krankheit geheilt. Diese irrige Auffassung findet sich übrigens in Reinkultur bei den Gesundbetern und Wundergläubigen aller Schattierungen. Die D o m ä n e der c h i r u r g i s c h e n und der i n t e r n i s t i s c h e n B e h a n d l u n g s w e i s e n s i n d die o r g a n i s c h e n ( h a d r o t i s c h e n ) K r a n k h e i t e n . Beide Artender Behandlung zielen ihrem Wesen nach nicht auf einen Ausgleich der Entwicklungsdifferenz der kranken Reflexsysteme ab. Die Chirurgie entfernt Krankes am Organismus instrumenteil, d. h. zum Verlauf der sog. chirurgischen Krankheiten gehört der instrumenteile Eingriff, wobei regelmäßig sich die kranken Reflexsysteme nicht in Richtung Norm höherentwickeln, sondern nur sich umbauen oder bestenfalls atrophieren (S. 129). Die internistische Therapie will auf unblutigem Wege, also mittels Medikamenten, Diät, Bestrahlungen, Wasseranwendungen, klimatischen Veränderungen usw. dem Kranken zu einem möglichst beschwerdefreien Dasein Verhelfen, d. h. zum Verlauf der sog. internistischen Krankheiten gehören die Maßnahmen des Internisten, aber auch da entwickeln sich regelmäßig die kranken Reflexsysteme nicht in Richtung Norm, sondern bleiben, wie sie sind, oder wuchern weiter (die Krankheit weicht nicht, verschlimmert sich, die Mittel „helfen nichts") oder gehen ins Stadium der Krankheitslatenz über (die Krankheit als Anfall kehrt dann wieder) oder



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bauen sich um (die Symptome verschieben sich, die Krankheit verändert sich, tritt anders oder an anderer Stelle auf) oder atrophieren bestenfalls (die Krankheit kommt manifest nicht mehr wieder). Sehen wir von den akuten Kinderkrankheiten (S. 129) ab, so gilt das folgende. E i n e H e i l u n g im e i g e n t l i c h e n S i n n e (Ausgleich der Entwicklungsdifferenz) w i r d r e g e l m ä ß i g w e d e r auf c h i r u r g i s c h e m n o c n a u f i n t e r n i s t i s c h e m W e g e e r r e i c h t . Dies liegt in der Natur der Sache, nicht an Mängeln dieser Behandlungsweisen. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß sich organisch-krankes, hadrotisch verändertes Gewebe nicht zu voll-gesundem aufentwickelt, daß eine organische Krankheit (Hadrose) nicht im eigentlichen Sinne ausheilt. Es gibt kein Mittel, einen solchen biologisch nicht vorkommenden Prozeß zu erzwingen, — es müßte denn ein „Zaubermittel" sein. In der Tat gelten ja in weitesten Kreisen die „Medizinen" noch als Zaubermittel; man schreibt ihnen geheimnisvolle (dämonistische) Kräfte zu und sieht in ihnen die Ursache des Erfolges oder des Mißerfolges. Und der Arzt ist dann der Oberdämon, der Gott, von dem Wohl und Wehe, Leben und Tod abhängt! Auch die A r z n e i e n können nicht heilen Im eigentlichen Sinne. Sie sind chemische Stoffe, die im Gange des Stoffwechsels in einer bestimmten Form in die kranken Zellen aufgenommen werden; diese Zellen funktionieren nunmehr anders als vorher, aber sie sind und bleiben krank. Die Arzneien im engeren Sinne (also abgesehen etwa vom Alkohol, Kaffee [Coffein], Tee [Thei'n] usw., die man ja Genußmittel nennt) sind überhaupt nur „Paßformen" für kranke Zellen, auf dieser Tatsache beruht die sog. spezifische Therapie (z. B. Quecksilber bei Syphilis); in überarzneilichen Dosen sind sie Gifte, die Vergiftung aber ist ein besonderes Krankheitserlebnis, das nur einem so-speziflsch disponierten Organismus passiert. Manche kranke Zellen funktionieren bei Einverleibung gewisser Arzneien intensiver (An- u n d E r r e g u n g s m i t t e l ) , manche weniger intensiv ( B e t ä u b u n g s m i t t e l ) , immer aber ist die Funktion krank, bleiben die Zellen krank, und sobald die Arzneistoffe wieder ausgeschieden sind, ist die kranke Funktion, wie sie vorher stattgefunden hatte, wieder da, nicht selten verschlimmert, falls die Zelle bei Aufnahme und Verarbeitung der Arznei kränker wird, die Arznei also in diesem Falle ein Zellgift ist. Entgiftende Arzneien oder andere e n t g i f t e n d e M i t t e l (Ableitung nach der Haut, dem Darm, Bakteriotherapie usw.) sind solche chemische Stoffe, die sich



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mit den giftigen Stoffwechselprodukten kranker Zellen zu ungiftigen oder weniger giftigen Stoffen verbinden, so daß die Gifte in diesen Verbindungen ausgeschieden werden; aber damit werden bloß die jetzt vorhandenen Gifte entfernt, nicht etwa wird die Zelle geheilt, sie produziert (als stoffwechselkrank) entweder neuerdings ihre Gifte oder geht ins latentkranke Stadium über — mehr Ist da eben nicht zu erreichen. Mittels n ä h r e n d e r A r z n e i e n usw. kann die kranke Zelle ebenfalls nicht gesund gemacht werden; die Zelle nimmt nur die Stoffe auf, zu deren Aufnahme sie fähig ist, und man soll ja nicht glauben, daß die Ernährung Ursache der Entwicklung ist, sie ist vielmehr lediglich einer der Umstände, unter denen sich die Entwicklung vollzieht. Die kranke Zelle wird also ernährt, aber durch die Ernährung wird ihre Höherentwicklung nicht verursacht. Kurz: es gibt keine Zaubermittel und keine Zauberer! Der Aberglaube sollte aus der Medizin endlich verschwinden. Es ist gewiß oft schwierig, eine latent gewordene Krankheit zu diagnostizieren; mit den feinen Mitteln der Funktionsanalyse, besonders der psychobiologischen Analyse wird „der Rest" immer erkennbar sein. Die Ausführungen über Heilungsabsichten und Heilungsmöglichkeiten gelten auch für die n e u r o l o g i s c h e Therapie, mag sie internistisch oder „Psychotherapie" sein. E i n z i g u n d a l l e i n die z u r P s y c h o b i o l o g i e g e h ö r e n d e E r k e n n t n i s t h e r a p i e z i e l t b e w u ß t auf d e n A u s g l e i c h d e r E n t w i c k l u n g s d i f f e r e n z , auf die H e i l u n g i m e i g e n t lichen Sinne ab und ist somit eine g r u n d s ä t z l i c h n e u e M e t h o d e , die s i c h s c h a r f v o n a l l e n b i s h e r i g e n a b h e b t und unter keinen Umständen mit ihnen verwechselt werden darf, mögen manche Psychotherapeuten noch so gern sich mit meinen Federn schmücken. Die E r k e n n t n i s t h e r a p i e k a n n es n u r e i n m a l g e b e n , sie ist entweder Erkenntnistherapie, oder jemand bezeichnet irgend eine andere Methode zu Unrecht mit diesem Namen. Die D o m ä n e der Psychotherapie, sagen wir genauer: der F u n k t i o n s t h e r a p i e s i n d die N e u r o s e n , die f u n k tionellen (leptotischen) S t ö r u n g e n jeglicher Art. Können die Neurosen auch chirurgisch oder internistisch behandelt werden? Im allgemeinen wird man den Nervösen wegen seiner Nervosität n i c h t o p e r i e r e n . Kein Chirurg wird den Schlaflosen oder den Zankteufel usw. wegen „Ihrer Nerven" unters Messer nehmen. Es ist auch mit Recht verpönt, S u g g e s t i v -



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O p e r a t i o n e n auszuführen; sie führen ebensowenig wie andere Suggestionen zum dauernden Erfolg. Ein Beispiel: Ein Hypochonder meiner Bekanntschaft glaubte, einen Magenkrebs zu haben; auf die flehentlichen Bitten des Kranken hin ließ sich nach langer Weigerung ein ihm befreundeter Chirurg herbei, einen Bauchschnitt zu machen und wiederzuzunähen und dann dem Kranken das Märchen zu erzählen, er hätte den Krebs entfernt; nach einer Woche war beim Patienten die alte Krankheitsidee wieder da, erweitert um den Zweifel, ob ihm der Arzt die Wahrheit gesagt habe, ob er den Krebs auch wirklich entfernt habe, ob er nicht vielmehr inoperabel gewesen sei usw. usw. — die Freundschaft wurde brüsk abgebrochen, der Patient fluchte allen Ärzten — auch denen, die in solchen Fällen noch helfen können, und schoß sich tot. Sehr oft, allzu oft werden Organneurosen operiert. Entweder werden sie nicht erkannt, also fälschlich für organische (hadrotische) Krankheiten gehalten, oder im Sinne der Suggestivoperation mit dem Messer, Brenner usw. „behandelt". Wir betonen, daß die C h i r u r g i e m i t d e n O r g a n n e u r o s e n wie ü b e r h a u p t m i t d e n N e u r o s e n g r u n d s ä t z l i c h n i c h t s zu t u n h a t . Es mag Kranke geben, von denen eine Operation als solche, als Vorgang nach Art einer primitiven Pubertätszeremonie (Marterung, „Tötung" in Form der Narkose, der Verletzung, Beschneidung, s. S. 44) erlebt wird und bei denen sich eine jenem primitiven Ereignis analoge Entwicklung vollzieht, so daß die Beschwerden nachlassen oder latent werden. In andern Fällen mag die Entfernung des neurotisch kranken Organs (z. B. des Eierstocks, der Gebärmutter usw.) zu einem Aufhören der Organsymptome, zu einer Verschiebung der Symptomatik, also zu einem Umbau der Reflexsysteme führen. Aber solche Fälle, die doch regelmäßig Verstümmelungen und damit eine Neusetzung mehr oder minder ausgeprägter Beschwerden erfahren, rechtferigen nur ganz ausnahmsweise die chirurgische Behandlung der Neurose. Manche Patienten haben zwar geradezu eine Gier nach dem Messer, aber man darf ihnen nicht willfahren, sondern muß diese Operationsbereitschaft als neurotisches Symptom erkennen und den Fall dem Nervenarzt übergeben. Es ist nachgerade bekannt, daß es Vereinzelt (neurotische)! Chirurgen gibt, die „operationswütig" sind und jeden Kranken, der sie konsultiert, auf den Tisch des Hauses legen, aber auch abgesehen von solchen neurotischen Verirrungen werden noch allzu viele Operationen bei Organneurotikern — man denke nur an die Operation des Asthmas, der neurotischen Magen-Darm-



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geschwüre, Gallenleiden, Blinddarmbesch werden, Krämpfe, Frauenleiden, Neuralgien u. a. Schmerzen usw. —ausgeführt. D i e i n t e r n i s t i s c h e B e h a n d l u n g g e h t gru ndsätzlich darauf aus, Erfahrungen über das Verhalten kranker Menschen zu sammeln und diese Erfahrungen den Individuen der verschiedenen Krankheitstypen mit dem Anraten eines analogen Verhaltens mitzuteilen (Verordnung). Bei diesen Verhaltensweisen hat erfahrungsgemäß der Kranke das Geringstmaß von Beschwerden, er ist und bleibt aber krank. Beschwerdefreiheit braucht also nicht Heilung zu sein. Es kann sich freilich auch Im Gange oder im Gefolge internistischer Maßnahmen eine Entwicklung Vollziehen wie oben angegeben, aber hierauf Ist grundsätzlich die internistische Therapie ebenso wenig wie die chirurgische abgestellt, sie beabsichtigt diese Entwicklung nicht, ja sie kennt nicht einmal ihre Möglichkeit. So macht ein neurotischer Kehlkopfkatarrh weniger Beschwerden, so lange der Kranke den Kehlkopf „schont", also möglichst wenig spricht, nicht raucht, trinkt usw., also auf die Schwäche des Kehlkopfes alle Rücksicht nimmt; aber damit ist der Katarrh nicht geheilt, er heilt auch nicht bei Injektionen, Inhalationen usw., die Beschwerden treten wieder auf, sobald sich der Kranke wie ein Gesunder zu benehmen versucht. Ein schmerzhafter Magenkrampf kann bei geeigneter Diät weniger beschwerlich sein, aber diese Diät ist auf den Krankheitszustand abgestimmt und trägt zur Heilung des Krampfes im eigentlichen Sinne, d. h. zur Entwicklung des Magenkranken zu einem Magengesunden (der alles verträgt, was der Gesunde ißt und trinkt) nichts bei. Das Gleiche gilt für Medikamente. Ein Patient, selbst Arzt, war seit mehr als 20 Jahren auf sein Magenleiden hin mit allen erdenklichen Methoden und von allen erdenklichen Autoritäten untersucht und behandelt worden; er litt angeblich an Achylie (Fehlen des Magensaftes), seit langer Zeit nahm er künstlichen Magensaft zu sich. Es fiel mir auf, daß er mit einer minimalen Menge auskam, dabei genügend aß und trank und recht wohl aussah; ferner klagte er über allerlei andere Magenbeschwerden (er schluckte Luft, „kontrollierte" die Magenbewegung, Indem er die gefalteten Hände auflegte usw.) und über ein Heer von andern nervösen Symptomen. Er litt seit jeher an einer Magenneurose (mit Angstverschluß der Magensaftdrüsen bei Angstsituationen, z. B. bei der ärztlichen Untersuchung mit dem Magenschlauch usw., so daß kein Magensaft austrat!), aber niemand hatte sie erkannt, das Fehlen des Magensaftes kann nach bisheriger (irriger) Auffassung nur als Zeichen



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einer sehr ernsten organischen Magenerkrankung, nämlich der anatomischen Verödung der Magendrüsen gelten. Schmerzstillende oder krampflösende Mittel sind Bet ä u b u n g s m i t t e l und ändern an der Krankheit als solcher nichts. Narkotika sind auch die S c h l a f m i t t e l ; mitihnen wird ein schwerer Unfug getrieben. Sie können die Schlaflosigkeit als solche nicht heilen, sie betäuben nur die krankhaft funktionierenden Hirnrindenzellen, helfen also immer nur über ein oder zwei Nächte hinweg, aber der Schlaflose bleibt schlaflos: läßt er das Betäubungsmittel weg, dann schläft er eben nicht. Und nimmt er das Schlafmittel, so gibt er seinen an sich kranken Hirnzellen noch Gift zu schlucken! Er gleicht einem Menschen, der seine Sorgen mit Alkohol, dem „Sorgenbrecher" betäubt; am nächsten Tage hat er zu seinen Sorgen obendrein den Katzenjammer, ist arbeitsunfähig usw. In manchen Fällen von Asthma verändern sich bei K a l k z u f u h r die kranken Reflexe derart, daß ihre Funktion in gewissem Mäße und auf gewisse Zeit herabgesetzt ist, sie bleiben aber krank. Die O r g a n t h e r a p i e , die H o r m o n t h e r a p i e 1 ) kann den Infantilismus der kranken Reflexsysteme nicht beheben, sondern lediglich den Mangel an „innerm Sekret", an inkretorischen Stoffen auf gewisse Zeit und in gewissem Maße ausgleichen — so etwa wie Sauerstoffzufuhr bei Asthma den Sauerstoffmangel ausgleicht, aber das Asthma nicht heilt; die eigentliche Heilung ist die endgültige Lösung des neurotischen Verschlusses der innern Drüsen (Schilddrüse — man denke an die Basedowsche Krankheit!—, Eierstöcke, Hoden, Bauchspeicheldrüse usw. — alle innern Organe sind ja mit Inkretdrüsen reichlich ausgestattet oder selber Inkretdrüsen). B. Psychotherapie. Weder die chirurgische noch die internistische Behandlungsweise ist auf die Heilung Im eigentlichen Sinne abgestellt. Wie steht es mit der sog. P s y c h o t h e r a p i e ? Wir können die funktionstherapeutischen Behandlungsweisen in drei Gruppen einteilen: in die z u d e c k e n d e n und a b l e n k e n d e n Methoden (Suggestion im Wachen oder in Hypnose, als Überredung [Persuasion Dubols], Arbeitstherapie, Ubungstheraple [sog. Psychogymnastik] usw.), in die a u f l ö s e n d e n Methoden ( F r e u d s Psychoanalyse und ihre Nebenrichtungen, die sich Die Hormone spielen in der Gegenwart die Rolle von Dämonen, wie zur Zeit der bakteriologischen „Hausse" die Bakterien sie spielten und ausklingend noch spielen.



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an die Namen C. G. J u n g und A l f r e d Adler knüpfen) und die a u f b a u e n d e Methode (meine Erkenntnistherapie). Einige Autoren haben versucht, der Psychoanalyse eine Psychosynthese gegenüberzustellen, indes läuft diese im wesentlichen auf eine an allerlei analytische Erörterungen sich anschließende suggestive Überredung und auf landläufige, im ethischdämonistlschen Fahrwasser plätschernde Belehrungen hinaus; im übrigen habe ich schon in meiner Broschüre „Uber Psychoanalyse" und in meiner „Entdeckung der Seele" darauf hingewiesen, daß „jede" Auflösung immer mit Neuformungen koinzidiert, die Absonderung sog. psychosynthetischer Methoden also auf einem Mißverständnis beruht. Auch die Erkenntnistherapie, die ich auch psychobiologische Analyse genannt habe; „löst", nämlich die Rätsel und Zweifel des Neurotikers; diese Lösung hinterläßt nicht Trümmer, die „in der Seele" wild umherliegen, sondern ist soviel wie Befreiung, Überschreitung der Schwelle im Entwicklungsgange (man verstehe das Wort „ent-wickeln" wohl, es bedeutet soviel wie: aus dem „Wickel", der Hülle, dem Dunkel herausgehen, die Schwelle aus dem bisherigen Lebenskreise zu einem „höheren" überschreiten, sich befreien, die Lösung und so Erlösung finden usw.), Eintritt in eine neue Anschauung, die über der bisherigen liegt, und deren Annahme die Erlösung aus der Gefangenschaft der kranken Anschauung und Erlebnisweise ist. So baut die Erkenntnistherapie lösend, erlösend die Persönlichkeit auf. 1. Die Suggestion. Die Suggestion beläßt ihrem Wesen nach die kranken Reflexsysteme in ihrer kranken Verfassung. Sie geht nicht auf den Ausgleich der Entwicklungsdifferenz aus und kann ihn auch nicht erreichen. Und wer die Suggestionen, etwa in der Hypnose, mit allerlei Belehrungen verbrämt, handelt ebenso abwegig, wie ein Schulmeister handeln würde, der den Schlafzustand seiner Schüler als beste Gelegenheit zum Unterricht benutzen wollte. Wer ernsthaft, auch therapeutisch, belehren will, muß im Gegenteil Wert darauf legen, daß sein Schüler vollwach ist und aufpaßt. Während der Suggestion befindet sich der Suggestlonierte stets im Zustande mehr oder minder herabgesetzter Hirnrindenfunktion, also herabgesetzten, eingeengten Bewußtseins. Die Suggestion wendet sich ihrem Wesen nach niemals an den kritischen Verstand; sie gibt nicht eine höhere Einsicht, ist nicht erzieherisch. Die suggestive Situation ist vielmehr ein nahes Analogon zur Situation



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Kind: Ubermacht (repräsentiert durch Vater oder Mutter oder Gott), nur ist hier das Kind eben der Kranke, der Infantilist, und die Suggestion erzieht ihn nicht, sondern zwingt, überwältigt ihn einfach, schlägt ihn sozusagen nieder, narkotisiert ihn, chloroformiert ihn, oder sie umgeh'- die eigentliche Aufgabe. Und das soll eine Hellmethode sein? Der Kranke ist Infantilist, infantilistische Reflexsysteme sind an der suggestiven Situation beteiligt — aber es geschieht nichts, sie zu entwickeln, im Gegenteil, der Suggestionierte muß oder soll ja eben wie ein Kind parieren, es wird ihm gut zugeredet oder er bekommt Befehle, strenge Befehle, Befehle in der schärfsten Form, nämlich der im Präsens oder im Futurum gehaltenen Order „Sie haben keine Schmerzen!" „Sie werden morgen um drei Uhr an der und der Stelle sein!" usw. Neuerdings „heilt" ein Wiener Arzt sogar mit einer betonten Heraushebung des Subordinationsverhältnisses des Kranken gegenüber der ärztlichen Autorität! Der Kranke muß in „Respekthaltung" stehen, der Arzt befiehlt in einem patriarchalischen, energischen Wohlwollen mit Rauhigkeiten und Derbheiten, sagen wir ruhig, er schnauzt den armen Sünder gehörig zusammen. Damit wird der Wille des Kranken gekräftigt!! Die Behandlungszeit erstreckt sich „kaum" über zwei bis drei Monate. Schizoide und Hysteriker sind für die Methode nicht geeignet!! Wer denn sonst? Die Behandelten haben sich bei Rückfällen sofort vorzustellen! Unter 95 Kassenpatienten (!) versagte nur einer vollkommen, 19 Fälle sind „vollkommen geheilt, soweit man bei Neurosen von Heilung sprechen kann"!! (nb! „Vollkommen" und dann „soweit man von Hellung sprechen kann"). Der Leser glaubt, ich wolle ihm einen Bären aufbinden? Nein, das „Ganze" ist eine „neue" Methode aus einem Universitätsinstitut! Sie hat auch einen Namen, versteht sich, sie heißt kurz und bündig: Subordinations-Autoritäts-Relations-Psychotherapie! Eine noch neuere Methode würde vielleicht die Subordinations-AutoritätsRelation mit einer therapeutischen Tracht Prügel (natürlich für den Kranken, lies: Kassenpatienten) vervollständigen! Die suggestive Situation ist für den Kranken wesentlich eine A n g s t s i t u a t i o n , und zwar allemal eine neurotische, mag sie im Wachzustande, d. h. hier bei einem relativ geringen Grade der Bewußtseinseinengung und -herabsetzung, oder in Hypnose erlebt werden. So ist denn auch die Fähigkeit und Bereitschaft, sich Suggestionen zu unterwerfen, sich hypnotisieren zu lassen, nur Infantilisten, Neurotikern eigentümlich, und zwar auch nur denjenigen, die vor der suggestiven Situation



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nicht allzu große Angst haben. Gesunde lassen sich weder hypnotisieren noch ärztliche Suggestionen erteilen, und wer das Gegenteil behauptet, versteht sich schlecht auf die Neurosendiagnostik. Bei der Suggestion kommt es ihrem Wesen nach nicht darauf an, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird: es muß kommandiert werden, die Worte des Suggestors, gleichgiltig wie sie lauten, müssen glaubwürdig klingen, der Kranke sozusagen muß auf sie hereinfallen, er muß sie blindlings anerkennen, ohne ihren Sinn, ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, wie das junge Kind die Worte des Vaters, wie der Mensch Gottes Wort einfach hinnimmt. Die s u g g e s t i v e S i t u a t i o n g e h ö r t zu d e n k r a n k e n E r l e b n i s s e n des N e u r o t i k e r s , sie ist im wesentlichen eine neurotische Angstsituation. An dieser wird mittels suggestiver Befehle usw. therapeutisch nichts geändert. Auch dem Kinde läßt sich bekanntlich nicht einmal das ABC einsuggerieren, und die Tatsache, daß die kindlichen Reflexe vielfach gemäß den Worten des übermächtigen Vaters usw. Verlaufen, also das Kind Befehle befolgt, auch ohne ihren Sinn zu verstehen, kann doch dem analogen Verhalten des Suggestionierten und der Suggestion überhaupt nicht einen therapeutischen Wert verleihen. So kann auch v o n e i n e m e i g e n t l i c h e n H e i l e r f o l g der S u g g e s t i o n im E r n s t e n i c h t g e s p r o c h e n w e r d e n . Die suggestive Situation ist nichts weiter wie ein krankhaftes Erlebnis des Neurotikers, und zwar ein anderes wie seine sonstigen kranken Erlebnisse, seine Symptome; diese sind während der Dauer der Suggestion unaktuell, unbewußt oder können es sein. Liegt die Suggestion auf einem andern Gebiete als dem der Symptome, so spricht man von Abi e n k u ng. Jemand leidet an Grübelzwang; man sagt ihm, er müsse sich ablenken, „nicht daran denken", Verreisen usw. Es ist klar, daß, solange andere wie die kranken Zellenaktuell funktionieren, sich die kranken Erlebnisse nicht vollziehen, die Symptome „weg" sind; so lange, im Vergleich gesprochen, die blauen Lampen brennen, brennen eben die roten nicht. So ist auch der „Erfolg" des Coueschen Zauberspruches zu verstehen. Sobald aber die kranken Zellen ihren aktuellen Funktionsgrad wieder erreicht haben, sind eben die Symptome wieder da — und obendrein die Einsicht, daß die Ablenkung „nicht geholfen hat". Oder die Suggestion liegt im Krankheitsgebiete selber, dann sind (möglicherweise) die Denkzellen, deren Aktualitäten die Symptome oder das Krankheitsbewußtsein sind, im unaktuellen Funktionszustande, solange die Suggestion anhält; in diesem Falle ist die Suggestion einer N a r k o s e gleich-



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zusetzen, wie sie bei Anwendung beruhigender Arzneien eintritt. Weder Ablenkung noch Narkose (Hypnose!) sind eigentliche Heilverfahren; der „Erfolg" hält nur so lange an, wie die Suggestion vorhält, der suggestive Zustand besteht, und er besteht niemals lange. Man darf also von der Suggestion eine dauernde Hellung, eine Heilung im eigentlichen Sinne nicht erwarten; als „symptomatische Therapie", eben im Sinne einer vorübergehenden Ausschaltung der Symptome mag sie eine gewisse Berechtigung haben. Die A r b e i t s - und die Ü b u n g s t h e r a p i e (sog. Psychogymnastik) gehören zu den ablenkenden Methoden, sie umgehen die eigentliche therapeutische Aufgabe: die Neurose selbst anzugreifen. So lange sich der Kranke mit gewissen Arbeiten beschäftigt, ist er von seiner Krankheit abgelenkt, d. h. es sind andere als seine kranken Reflexsysteme in hoher Funktion, so daß der Kranke von seinen nervösen Beschwerden vorübergehend „nichts weiß", sie vorübergehend „Vergißt". Aber die kranken Reflexsysteme sind nach wie vor da, und sobald sie ihre Hochfunktion wieder erreicht haben, sind die Beschwerden wieder bewußt. Bis dahin ist an ihre Stelle der Z wa ng zur Arbeit getreten, der „äußere Zwang" (Sanatoriumsordnung, Arbeitsreglement, Kontrolle seitens des Arztes usw.) oder der „Innere Zwang" (Vorsatz nach Art eines Gelübdes usw.), d. h. die Angst, die Vorschrift zu übertreten, — und diese Angst ist in allen diesen Fällen nervös, ist die Charybdis zur Scylla! Der Kranke ist nicht geheilt, sondern kränker geworden, seine Angst hat sich erweitert. Auch die „Psychogymnastlk" arbeitet mit äußeren und inneren Zwängen. Ein Kranker kann „früh nicht aus dem Bett finden", er hat Angst v o r m T a g e , seinen Verpflichtungen, er kann sich nicht entschließen aufzustehen. Die Übungstherapie geht nicht etwa diese Angst an, sucht nicht den Kranken dahin zu entwickeln, daß er „von selbst", d. h. als Gesunder aufsteht (das tut nur die Erkenntnistherapie), sondern sie schreibt dem Kranken allerhand Kunstgriffe vor, wie er sich sozusagen an seiner Tagangst technisch vorbeilisten kann: die Frau muß mit sanften bis heftigen Ermahnungen den Neurotiker zum Aufstehen zu bewegen suchen, er muß „sich fest vornehmen, morgen 10 Minuten eher aufzustehen", also einen innern Zwang entwickeln, ein Zwangszeremoniell innehalten — ähnlich dem Sektierer, der sein religiöses Zeremoniell krampfhaft, in neurotischer Angst vor dem Zorne Gottes usw. bei leisester Übertretung, verrichtet. Und wie der Sektierer bei peinlichster Gewissenhaftigkeit den



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vorgeschriebenen Ritus doch nicht „ganz genau", ja um so weniger genau, je gewissenhafter er vorgeht, innehalten kann und somit alsbald in die Brüche gerät, so geht es dem Neurotiker mit seinen Übungen: eine Zeitlang mag (manchmal) die Sache klappen, immer aber im Sinne des Zwanges und aller Zwang gleicht einer Krücke für den Lahmen: er bleibt lahm auch mit der Krücke und hat immer Angst um seine Krücke, und obendrein zerbricht sie in vielen Fällen — gerade dann, wenn er sie am nötigsten braucht. — Der S t o t t e r e r (Angst vorm, beim Sprechen) kann mittels sprechtechnischer Übungen dahin kommen, daß die kranken Sprechreflexe mehr oder minder „ausgeschaltet" sind und die (fast) gesunden ablaufen. Zwanghaft umgeht er die „schwache Stelle", sie bleibt aber erhalten, und sobald der hinzugenommene Zwang sich lockert oder bricht, sobald die sprechtechnische Spannung, selber neurotisch, nachläßt, versagt, dann stottert der Stotterer wieder in alter Welse : er ist ja immer Stotterer geblieben, auch im Zwange, das Stottern zu Vermeiden, ja in diesem Zwange erst recht, der ja nichts ist wie ein angstvoll ausgeführter Technizismus, „um das Stottern herumzureden". — Wer an F a h r a n g s t leidet, erhält die Anweisung, eine bestimmte Strecke zu fahren und sie täglich nach genauem und genau innezuhaltendem Plane um ein Gewisses zu verlängern. Wie aber, wenn er nicht in den Wagen einsteigen kann? Ja, sagt der Seelenturnlehrer, das müssen Sie natürlich können, sonst können Sie ja das Fahren nicht üben. Noch immer kommt die Armut Von der pauvreté. Ein anderer kriegt es fertig einzusteigen, aber bei den Fahrübungen wird nicht etwa die Fahrangst behoben, sondern im Gegenteil mit der Angst, die Vorschrift zu übertreten, kompliziert. Das soll eine Heilung sein? Es gibt gewisse Neurotiker, deren Krankheit sich in der geschilderten Weise ausweitet und zu einer Art „Schaukeln zwischen den Symptomen" führt, aber ein Heilweg ist das nicht, und die Übungstherapie ist eine Pseudotherapie wie alle suggestiven Methoden. 2. Die Psychoanalyse. a) L i b i d o t h e o r i e . Unter Psychoanalyse versteht man die Freudsche Behandlungsmethode der Neurosen. Sie ist hervorgegangen aus der sog. kathartischen Methode, die von J o s e f B r e u e r gefunden wurde und darin bestand, daß der (hysterisch) Kranke in Hypnose versetzt wurde und, über seine Symptome im



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historischen Sinne befragt, allerlei Erinnerungen aussprach und hierbei auch ein (vermeintlich) „erstes" Ereignis, sog. „ p s y c h i s c h e s T r a u m a " (seelische Erschütterung) sozusagen wiederentdecken oder wiedererleben und berichten konnte, das (irrigerweise) als Ursache der Neurose angesehen wurde und dessen „Wiederbewußtwerden", wie man meinte, die Heilung der Neurose im Sinne einer „seelischen Reinigung" (griech. Katharsis) bedeutete. Freud prüfte das Verfahren an einer Anzahl von Patienten weiter und kam so zu seiner Methode. Er ließ zwar die Hypnose weg, verzichtet aber nicht auf eine gewisse Einengung des Bewußtseins: der Kranke muß sich hinlegen, soll in eine träumerische Stimmung versinken, die Kritik ausschalten und so die „freisteigenden" Einfälle aussprechen; Freud meint, daß in einem solchen Zustande die Erinnerungen leichter als bei vollem Wachbewußtsein kommen und so auch das (angeblich) verursachende psychische Trauma gefunden werden könne und daß der Kranke in seinem Hindämmern eher geneigt sei, auch Unangenehmes, Peinliches auszusprechen, zumal wenn der Arzt für ihn unsichtbar sei (er sitzt hinter dem Kranken) 1 ). Die so erhaltenen Mitteilungen des Kranken werden nun in einer ganz bestimmten Weise, nämlich gemäß der L i b l d o t h e o r i e gedeutet. Diese Theorie lautet kurz so: das Verursachende psychische Trauma ist allemal peinlichen, nämlich l i b i d i n ö s e n (ges c h l e c h t l i c h e n ) I n h a l t s und darum /on gewissen seelischen Kräften aus dem Bewußtsein „verdrängt" worden; es ist aber bei dieser „ V e r d r ä n g u n g " nicht aus der Welt geschafft worden, sondern lebt in einem mystischen Seelenreich, dem „ U n b e w u ß t e n " weiter, ja zieht sogar noch „psychische", d. h. nach Freud „libidinöse E n e r g i e " an und wartet so, als „ e i n g e k l e m m t e r A f f e k t " , bis sich ihm Gelegenheit bietet durchzubrechen, seine „Affekt-" oder „Libidobesetzung" auch gegen die verdrängenden seelischen Kräfte „abzureagieren". Diese Gelegenheit soll das Verdrängte nun im neurotischen Symptom haben, das freilich nur eine Maske (Freud sagt „Symbol") des Verdrängten sei, ferner, mehr oder minder demaskiert, im Traume, den Freud als Erfüllung verdrängter l ) Freud hat — nach W i t t e l s , Technik der Psychoanalyse, p. 34 — einmal mitgeteilt, daß er es nicht vertrüge, seinen ganzen Arbeitstag acht Stunden lang von Menschen angestarrt zu werden. Es scheint, daß aus diesem offenbar nervösen Gefühl die genannte technische Anordnung entsprungen ist. Ich glaube, daß für viele Kranke damit nicht eine Entspannung, sondern eher eine peinliche Situation (mit Nachdenken, was wohl der unsichtbare Arzt jetzt tue usw.) gegeben ist.



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libidinöser Wünsche ansieht (mit Ausnahme gewisser Träume der Krlegsneurotlker!), und endlich beim kritiklosen Aussprechen von Einfällen. Im Traume und ähnlich beim träumerischen Hindämmern werde nämlich der Widerstand der „verdrängenden psychischen Kräfte" oder „Instanzen" mehr und mehr gelockert und schließlich überwunden, so daß nun das Verdrängte über die „Zensurstellen" ins Vorbewußte und Bewußte übertreten könne und es sozusagen nicht mehr nötig habe, seine Energie zum Symptom werden zu lassen, das Symptom zu verursachen. Die Psychobiologie sieht in der Libidotheorie einen Denkfehler, eine fehlgehende Denkrichtung. Breuer und Freud gingen aus von Beobachtungen an Hysterischen; die Hysterie (In ihren vielfältigen Formen) Ist in der Tat die „libidinöse Neurose", wie ich sage: die Genose, und es ist klar, daß der Hysteriker, sobald er innerhalb seiner Krankheit erlebt und beschreibt, Libidinöses erlebt und beschreibt, klar auch, daß diese genische Hypertrophie sich auch in den „gesunden" Anteilen der hysterischen Persönlichkeit mehr oder minder deutlich manifestiert (oft freilich nur für den Sachkenner), indem der Mensch eine Einheit ist und vom kranken Bezirk Ausflüsse in die „gesunden" Bezirke übergehen. Breuer und Freud haben also richtig beobachtet, als sie die hysterischen Symptome und ihre Genese als libidinös registrierten; es mag dahingestellt bleiben, inwieweit sie damit eine neue Einsicht brachten. Der Denkfehler Freuds besteht nun darin, daß er alle neurotischen Symptome, alle Neurosen für libidinös erklärte, also die Neurasthenie von der Hysterie nicht abgrenzte. Die Neurasthenie ist aber, wie ich klargestellt habe, keine libidinöse, keine genische Krankheit, sondern ist (in ihren mannigfachen Formen) die trophische Neurose, die Trophose. Freuds Denkfehler ist um so verhängnisvoller, als er nicht bloß die Neurosen in seine Libidotheorie einbezog, sondern auch alle möglichen andern Erscheinungen und Vorgänge auf allen möglichen Lebens- und Wissensgebieten im Sinne dieser Theorie zu deuten versuchte, freilich In der ihm eignen zweiflerischen Art, die gewiß nicht mit der vorsichtigen Exaktheit des wissenschaftlichen Denkens zu verwechseln ist. Was besonders seine Schüler an solcherlei Deutungen und Deutereien geleistet haben und leisten, dafür ist die psychoanalytische Literatur ein einziger großer Beweis. Das ganze psychoanalytische Gedankengebäude schwebt auf dem schmalen Fundament der an Hysterischen gewonnenen Erfahrungen. Die bei seinem Aufbau gefundenen oder benutzten Tatsachen



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können nichts daran ändern, daß der Plan des Architekten an einem grundsätzlichen Denkfehler leidet. Mit dieser Auffassung weiß ich mich eins mit zahlreichen urteilsfähigen Autoren, doch sei mir der Hinweis gestattet, daß erst die Psychobiologie mit der Erkenntnis der biologischen Funktion des Nervensystems einschließlich der Hirnrinde als des Organs des Bewußtseins, also mit der Erkenntnis des Wesens der Dinge jenen Denkfehler am Objekt demonstrieren konnte. b) Zur t h e r a p e u t i s c h e n M e t h o d i k . Es zeigte sich alsbald, daß das psychoanalytische Forschen nach dem sog. psychischen Trauma nicht zum therapeutischen Ziele führte. Der Kranke stellt allerlei (übrigens an sich fragwürdige) Erinnerungen zur Verfügung, darunter auch solche Von besonders hoher Gefühligkeit, auch solche aus dem kindlich-jugendlichen Liebesleben, nach denen ja die Psychoanalyse ausschließlich fahndet, auf die sie ausschließlich Wert legt. Solche Erlebnisse hat auch jeder Gesunde; die Frage, wie es kommt, daß theoretisch gleiche Erlebnisse bei dem einen (angeblich) die Neurose Verursachen, beim andern nicht, hat die Psychoanalyse nicht beantworten können; ebensowenig die Frage, wieso sehr viele andere auch hochgefühlige Erlebnisse vergessen werden genau wie die „anstößigen", und wieso jene nicht ebenfalls als „verdrängt" aufgefaßt werden müssen. Es wurden und werden in der „psychoanalytischen Situation" fortgesetzt Ereignisse erinnert und ausgesprochen, von denen der Analytiker wie der Analysand hofft, es sei endlich das „psychische Trauma" gefunden und damit die Neurose geheilt — und jedesmal trügt diese Hoffnung. Das Auffinden und Aussprechen von Erinnerungen, auch solcher, an die sich Gewissensbisse anschließen, ist keineswegs mit Heilung identisch; auch die Beichte heilt nicht, erlöst nicht endgültig, sondern ist ein Erlebnis auf dämonistischer Ebene, die — genau so gut wie beim psychoanalytischen Beichten — erhalten bleibt1), d. h. die als Sünde aufgefaßten Handlungen usw., die Sündengedanken kehren wieder, wie die Symptome wiederkehren, eine neue Beichte findet statt usw., freilich können sich die Symptome „verschieben" — aber das ist keine Heilung. Freud meint, der hindämmernde oder gar wachbewußte x ) Innerhalb des dä monistischen Denkens kann man eben nur — dämonistisch denken.

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Kranke habe eben allzustarke bewußte oder unbewußte „Hemmungen", peinliche Erlebnisse, unter denen am Ende das verursachende psychische Trauma zu finden sei, auszusprechen. Er untersucht also die T r ä u m e des Kranken, die er für Boten aus dem Unbewußten im Sinne der Libidotheorle hält, in denen sich also mehr oder minder demaskiert die verdrängten libidinösen Erlebnisse manifestieren (der Traum als „via regia ins Unbewußte"). Demnach werden die Träume so lange gedeutet, bis sich der libidinöse Sinn „offenbart" und auch der Kranke daran glaubt, daß die Träume immer libidinös sind; die Deutungsmethode ist allerdings denkbar einfach: jede Einzelheit im Traum ist „Symbol" der Genitalien und ihrer Funktionen, man muß sie nur in diesem Sinn ausdeuten. Aber auch auf diesem Umwege wird niemals das verursachende p s y c h i s c h e T r a u m a gefunden. Es kann auf keine Weise gefunden werden: es e x i s t i e r t n ä m l i c h gar nicht! Die Psychobiologie hat zuerst klargestellt, daß das Individuum Im Moment der Amphimlxis (Vereinigung Von Samen- und Eizelle) fix und fertig ist, wie sich übrigens schon an der allgemein bekannten Tatsache zeigt, daß dieser Mensch sich nur aus „seiner" Keimzelle und jener aus der „seinigen" entwickelt hat. Alle auf die Keimzelle folgenden Entwicklungsstufen sind lediglich biologische Entfaltungen des zuerst in Form ¡der Keimzelle existenten Individuums; die] Keimzelle Ist das biologische Symbol aller Entwicklungsstufen des eben aus ihr sich entwickelnden Individuums, und die Annahme von Innen- und Außenfaktoren ist lediglich eine Deutung, die im dämonistischen Denken liegt. Es kann also ein gesunder Mensch „durch äußere Einwirkungen" nicht krank werden, sondern ein Mensch, der in irgendeinem Sinne krank wird, wird es entwicklungsmäßig und war schon ab ovo mindestens latent krank (bei verfeinerter Diagnostik kann man natürlich die Krankhaftigkeit schon viel eher sehen als bei der üblichen recht groben und leider fast ganz mechanistischen Diagnostik). Die Annahme also, ein gesunder Mensch werde durch ein „psychisches Trauma" Neurotiker, und es bedürfe nur der Bewußtmachung dieser „Ursache", dann wäre die Neurose geheilt, ist eine leere Fiktion, die von jeder Erfahrung widerlegt wird. Übrigens hat A l f r e d A d l e r diese Fiktion übernommen und ausgebaut, indem er den Menschen von Anfang an gleiche Seelen zubilligt, die auf die äußeren Faktoren reagieren, so daß die Neurose = die normale Reaktion der Seele auf abnorme äußere Umstände ist! Daß Adler und seine Anhänger



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die erbbiologischen Tatsachen ignorieren oder negieren, ist bei dieser Auffassung nur folgerichtig, nicht aber tatsachenrichtig, ja ein schon entscheidendes Argument gegen die Gültigkeit des Adlerschen Gedankenbaues. Mit der Erkenntnis, daß das psychische Trauma Fiktion ist, fällt der ganze Freudsche (Adlersche, Jungsche usw.) Fiktionalismus in sich zusammen. Die Annahmen der „Verdrängung", der „psychischen Instanzen", der dämonologischen Hierarchie des Es, Ich und Uber-Ich, des Unbewußten, Bewußten mit dazwischenliegenden Zensurstellen, die psychische Ökonomik und Topik, die Theoretik über die Verursachung und Heilung, über das Wesen der Neurosen erweisen sich als gänzlich haltlos gegenüber den biologischen Tatsachen, wie sie uns die naturwissenschaftliche Erforschung der Struktur und der Funktionen des Menschen Vor Augen führt. Mit einer „psychischen" Anamnese, mit der Aufrollung einer Art ontogenetischer Historie, noch dazu unter Abzielung auf das Entdecken eines sog. psychischen Traumas, ist für die Therapie grundsätzlich noch nichts gewonnen, mag diese Art historischer Ermittelungen auch bis in den Mutterleib und mag sie viele Monate oder Jahre lang fortgeführt werden. c) H e i l u n g ? Das Ausgraben von Erinnerungen, die Aufstellung einer historischen Übersicht fällt also noch nicht mit Heilung zusammen. Erforderlich ist vielmehr die Ordnung der Dinge, nicht bloß der erinnerten, zu einem einheitlichen Weltganzen. J e d e a u f k l ä r e n d e P s y c h o t h e r a p i e muß also zur Bild u n g e i n e r W e l t a n s c h a u u n g f ü h r e n , falls sie sich nicht mit suggestiven Redensarten bescheidet. So verbindet die Psychoanalyse die vorgefundenen Erinnerungen zu einer einheitlichen Linie, indem sie einen gewissen Sinn hineindeutet; diesen Sinn muß der Kranke anerkennen, sonst kann er nicht „geheilt" werden. Freilich ist diese psychoanalytische Verknüpfung von Erlebnissen noch lange nicht Weltanschauung. Freud selbst ist nach einer seiner letzten Arbeiten (Hemmung, Symptom und Angst, 1926) nicht „für die Fabrikation von Weltanschauungen", aber sein Ausfall gegen die Philosophen, „die die Lebensreise ohne einen solchen Baedeker, der über alles Auskunft gibt, nicht ausführbar finden", ist angesichts seiner „Metapsychologie", falls diese mehr sein soll als bloße Phraseologie, wohl kaum als Ausdruck meisterlicher Beschränkung zu verstehen. 10*



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Indes Freud kann es nicht hindern, daß seine psychoanalytische Theoretik, die ja doch Kennzeichen der Persönlichkeit ist, zur Grundlage einer Art von Weltanschauung wird, sowohl bei ihm selbst wie bei seinen Schülern und Patienten. Der die historischen Ermittelungen ordnende Gesichtspunkt ist in der Psychoanalyse eben der in der Libidotheorie gegebene. Den ihr anhaftenden grundsätzlichen Denkfehler habe ich oben aufgezeigt. Die einseitige, ja ausschließliche Betonung der Libido kann, falls überhaupt, nur zu einer Karikatur von Weltanschauung führen, und auch die Apotheose der Libido, die der Züricher Freudapostat C. G. Jung verkündet hat, zeigt allenthalben, daß hier wie bei Freud Wesentliches übersehen oder mißdeutet wird, daß der Rausch der llbidinösen Deuterei, eine Art gedankliche Dionysiade, die Welt, wie sie i s t , verhüllt hat. Auf der Grundlage der Libidotheorie kann sich auch bei so erlauchten Geistern wie Freud und Jung als Weltanschauung nur ein Mystizismus ergeben, in dessen düsterem Bereich die Tatsachen und die Wissenschaft keinen Platz mehr haben, sondern nur noch (bestenfalls logisch geordnete) Spekulationen ihr Wesen oder Unwesen treiben. In diesem Reiche der unbeschränkten (von der Tatsächlichkeit allzu weit entfernten) denkerischen Möglichkeiten überschlägt sich auch die Religion zur atheistischen oder pseudotheistischen Karikatur. Der Ausgang der Libidotheorie in Mystik mußte um so sicherer eintreten, als Freud noch rein „psychologisch" beschreibt. Er läßt im Körper eine Seele wohnen, in der sich allerhand Vorgänge, Verdrängungen, Kämpfe zwischen seelischen Instanzen und Kräften usw. abspielen, die mit dem Körper in Wechselwirkung steht (z. B. Konversionen, d. i. Umsetzung seelischer Kräfte ins Physische, analog den „psychogenen Wirkungen" usw.), die ein Leben für sich führt und in Ihren Verhaltensweisen n a c h d e m M u s t e r des physischen Lebens beschrieben werden kann — sie, die doch „unerforschllch" ist! Wie sich mit dieser Auffassung der Freudsche Atheismus, der die Religion für Illusion „erfiärt", verträgt, dieses (allerdings unlösbare) Problem hat Freud ebenso wenig aufgeworfen, geschweige denn zu lösen versucht, wie die Frage nach dem Wesen der Seele überhaupt. Diese Frage hat auch die Psychologie nicht beantwortet; ich habe in der „Entdeckung der Seele" (z. B. S. 101) nachgewiesen, daß die Psychologie, die doch den Anspruch erhebt, Psychisches zu beschreiben, tatsächlich nur Psychisches beschreibt, habe mir



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aber damit nur den wissenschaftlichen und literarischen Boykott der zünftigen Psychologie zugezogen. Die in den Leib fingierte Seele hat dämonischen, dämonistischen Charakter, ich habe daher die Entwicklungsperiode des menschlichen Denkens, der diese wesentliche Fiktion eigentümlich ist, die d ä m o n i s t i s c h e genannt und von der ihr folgenden r e a l l s c h e n abgegrenzt. Das Kennzeichen des dämonistischen Denkens ist der Zweifel, der Zwei-fel, die Zerlegung des Einen in ein Doppel. Der Neurotiker ist immer ein Zweifler; der Zweifel ist der Kernpunkt jeder Neurose (nicht bloß der Begriffs-, sondern auch der Gegenstands* und der Gefühls- einschl. Organneurosen). Die eigentliche Heilung ist die endgültige Auflösung des Zweifels, die Erkenntnis. Die Psychoanalyse aber trägt zur Behebung des Zweifels nicht nur nichts bei, sondern Vermehrt mit ihrem Libidinismus und Psychologismus, die beide höchst zweiflerisch und zweifelhaft sind, den Zweifel derer, die diese Fiktionen annehmen. Ganz zweiflerisch ist auch die A d l e r s c h e Fiktion von den „gleichen Seelen" oder die K r o n f e l d s c h e vom überindividuellen „psychischen Kontinuum" (gemäß der „intermentalen Kontinuität" F o u l i e s , B o o d i n s u. a.); das sind lediglich mystische Annahmen, Zeugnisse weltanschaulicher Ratlosigkeit, da ist keine realische Klarheit und Sicherheit. Auch die Jungsche Religiosität um die Libido ist Mystik, Zweifel, wie überhaupt die dämonistische Religiosität Zweifel ist, mag er auch suggestiv, d. h. vorübergehend „zugedeckt" sein, mag aueh die Angst vor dem Zweifel, das Kennzeichen des religiös unfreien Menschen, den Zweifel sozusagen verhüllen. Die p s y c h o a n a l y t i s c h e n L e h r e n a l l e r R i c h t u n g e n g e b e n k e i n e E r k e n n t n i s ; es werdein zwar gewisse naturwissenschaftliche Tatsachen mitgeteilt, und insofern mehren sich die K e n n t n i s s e der Hörer und Leser, aber alle diese und alle andern Tatsachen sind zu dämonistischen, ihrem Wesen nach zweiflerischen Theorien verarbeitet, und der Mensch, der diese Fiktionen annimmt, kommt nur immer tiefer in den Zweifel hinein, statt aus ihm erlöst zu werden. Somit ist es nur konsequent im Sinne der Freudschen (usw.) Dogmatik, Kritik jeder Art, auch die aufbauende,, förderliche, positive zu verbieten, jeden Zweifel zu untersagen, d. h. ihn als libidinösen „Widerstand" zu deklarieren, der aufgegeben werden müsse, falls die Analyse fortschreiten solle. „Es ist unrichtig", sagt W i t t e l s ausdrücklich, „wenn man in der Analyse versucht, einen Zweifler zu überzeugen.



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Es ist genug, wenn man ihn darüber aufklärt, daß er ein Zweifler ist, und daß man ihn nicht heilen könne, wenn man sich mit ihm in die Irrgärten seiner Zweifel verliert". Ich möchte nur wissen, wen die Psychoanalytiker behandeln; ich wenigstens habe noch keinen Neurotiker kennen gelernt, der nicht zweifelte, — wie das ja auch bei der Struktur der Neurose ganz selbstverständlich ist und niemals anders sein kann. Die Aufgabe einer wahren Therapie ist ja eben, den Kranken aus seinen Zweifeln herauszuführen, — die Psychoanalyse verbietet den Zweifel! Und wie schlimm ist es mit einer Theorie und ihrer Praxis bestellt, daß der „Meister" selber befürchten muß, sich in die Irrgänge der Zweifel seines Patienten zu verlieren. In dem Verbot der Kritik, des Zweifels erweist sich die Psychoanalyse als dogmatische Suggestivmethode, als eine Art „geistige H y p n o s e " 1 ) . In der Freudschen Psychoanalyse nistet eben selber der Zweifel! Die Erfahrung hat gelehrt, daß die Auffindung „des" vermeintlichen „Motivs" die erwartete Heilung des Symptoms nicht brachte, daß man nach weiteren „Motiven" suchen mußte und jedesmal von neuem enttäuscht wurde. Damit ist aber der Freudschen Theorie der Boden entzogen. Wenn es kein psychisches Trauma gibt, dessen Entdeckung die Heilung brachte, was bleibt dann von der „Verdrängung" übrig? Was soll denn dann „verdrängt" sein? Zum mindesten hätte die Auffassung fallen müssen, daß das Verdrängte peinliche (libidinöse) Erlebnis Ursache des Symptoms sei; dann hätte aber die „Verdrängung" für die Therapie jede Bedeutung verloren. Und mit der Verdrängung hätte die „Regression", die (vermeintliche) Rückkehr auf primitive „psychische Arbeltsweisen" fallen müssen; die „Regression" ist ja doch sozusagen ein Mitarbeiter der Verdrängung bei der Symptombildung. Dann fallen aber auch die verdrängenden Das Verbot der Kritik ist ein Kriterium aller dogmatischen Lehren, also solcher, die sich vor der sachlichen Nachprüfung zu scheuen haben; es ist ein Symptom der Schwäche, die in ihrer neurotischen Verkrampftheit als Stärke mißdeutet wird. Auch falls theoretisch die positive Kritik als zulässig, ja erwünscht erklärt wird, liegt in praxi die Entscheidung darüber, ob eine Kritik positiv (förderlich) oder negativ {hemmend) sei, beim Führer, und dieser wird, falls er Dogmatist ist, in der neurotischen Angst um seine Allwissenheit und Unfehlbarkeit immer nur die Zustimmung als „positive Kritik" gelten lassen: vivat doctrina, pereat mundusl Dies gilt für religiöse, wissenschaftliche, politische, soziale usw. Lehren. Eine gesunde Lehre braucht die Kritik nicht zu scheuen und scheut sie nicht, sie lernt aus ihr, sie fordert aber, daß Tatsachen und nicht „Meinungen" vorgebracht werden.



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„seelischen Mächte" dahin, die Freud in seiner „Metapsychologie" zu einer Hierarchie und Anarchie dämonischer Instanzen „geordnet" hat, wie denn seine ganze Theorie als eine moderne Dämonenlehre anzusprechen ist. Und was bliebe vom „Unbewußten" (im Freudschen Sinne!) übrig, wenn es keine „psychischen Traumen" mehr gibt, die ins Unbewußte verdrängt worden sind und dort, Libido sammelnd, tückisch lauern, wie sie nur wieder ins Bewußtsein vorstoßen könnten? — Freud hat alle diese Folgerungen nicht gezogen; wohl aber sind seine späteren und späten Schriften Zeugen seines Zweifels an seinen eignen Aufstellungen, die sich nur mühsam mit Hilfe autoritären Zwanges In dem dunstigen Reiche der Mystik, dem Reiche der unbegrenzten Fiktionen, aufrecht halten lassen. So wird uns das strikte Verbot der Kritik als Kennzeichen des Zweifels an der eignen Lehre, als Ausdruck der Angst vor dem Zusammenbruch des ganzen theoretischen Systems verständlich. Aber eine Methode, die nur für „Gläubige" gilt, ist suggestiv, und eine Theorie, die den Zweifel an sich selber beherbergt, die ihrem Wesen nach zweiflerisch ist, vermag auf die Dauer niemand zu überzeugen, auch nicht mit Hilfe des Verbotes, am Worte des Meisters zu zweifeln. Und eine solche Methode, eine solche Theorie, in denen der Zweifel lebt, Vermag niemals den Neurotiker, der stets ein Zweifler ist, aus seinen Zweifeln herauszuführen. Gegen diese Tatsache spricht nicht, daß auch in der Psychoanalyse Symptome nachlassen oder schwinden. Auch Coue „hellte". Stets geht einer Besserung ein erhöhtes Krankheitserleben voraus; „ist die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten". In der Psychoanalyse, die sich über viele Monate oder ein Jahr und mehr erstreckt, wird der Krankheitskomplex immer wieder aktuell, Immer wieder besprochen, und bei diesem hartnäckigen Angehen treten gewisse biologische Veränderungen des Krankheitskomplexes ein, die auch zu einem Nachlassen und Schwinden der bestehenden Symptome führen k ö n n e n , indem sich der erwähnte „Umbau", die „Verschiebung der Symptome" oder ihre suggestive Abbiendung vollzieht. In diesem Sinne ist es schon beinahe gleichgültig, was der Analytiker vorbringt, die Hauptsache ist, daß der Komplex bearbeitet wird. Man kann sich schließlich damit begnügen, zumal niemand vor mir auf diese Sachverhalte aufmerksam gemacht hat, aber man soll dann nicht sagen, man gäbe Erkenntnis, während man nur mit Fiktionen, mit Mystik, ja mit Irrlehren „operiert". Dies also Ist das Wesen der Psychoanalyse. Sie Ist eine



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lösende Methode, aber eine a u f l ö s e n d e 1 ) , n i c h t eine e r l ö s e n d e . Und die Auflösung geschieht mit Denkmitteln, die ihrer biologischen Beschaffenehit nach untauglich zur Gewinnung gesunder Resultate sind; die Denkmittel sind die des psychologischen Mystizismus, der in seinem Kreuz und Quer keiner erlebnismäßigen Kontrolle mehr zugänglich ist, dessen verzwickt gereihte Fiktionen in den Qualm und Dunst der unbeschränkten logischen Möglichkeiten ausgehen. Die F r e u d s c h e T h e o r e t i k , n a c h d e r ja die p s y c h o a n a l y t i s c h e P r a x i s s t a t t f i n d e t und die der Analysand annehmen muß, ist eine I r r l e h r e — und die Geschichte der Menschheit zeigt ja, daß manche Irrlehren jeweils zeitgemäß sind und sich in der Art einer Massensuggestion ausbreiten. Insofern die Freudsche Theoretik in'der Luft schwebt, hat sie, therapeutisch angewandt, lediglich den Charakter der Suggestion — bei der es eben nur darauf ankommt, daß der Suggestionierte kritiklos an „das Wort des Herrn" glaubt, mag auch dieses Wort bei verständiger Betrachtung sich als nichts weiter wie Schall und Rauch erweisen. Die Psychoanalyse geht von der Hypnose aus, und das Hypnotische liegt in ihrem Wesen; sie ist genial aufkonstruierte PseudoWissenschaft, gibt sich aber als echte Wissenschaft (aus), sie ist im wesentlichen spekulativer Formalismus, beansprucht aber Vollgültigkeit — wie jede Dogmatik. In diesem „Glaubenszwang" erweist sie sich als suggestiv und somit als unfähig, eine Heilung im eigentlichen Sinne herbeizuführen. Bestenfalls baut sich der „Komplex" in dem Sinne um, wie er der psychoanalytischen Theoretik mit der ausschweifenden Erweiterung mystischlibidinöser Fiktionen entspricht; mit der Annahme einer solchen Irrlehre kann aber niemals eine gesunde Entwicklung, eine Entwicklung des Kranken In Richtung Norm verbunden sein. Breuer und Freud haben das unvergängliche Verdienst, den entwicklungsgeschichtlichen Gedanken in die Neurosenlehre und -therapie eingeführt zu haben. Sie haben eine neue Wegrichtung entdeckt, und Freud hat, während Breuer sich zurückzog, versucht, den Weg bis zum Ziele zu bewältigen. Indes arbeitete er sich von vornherein mit den Fiktionen seines Libidinismus und seines psychologischen Dämonismus vorwärts — und mußte so fehlgehen. Den Weg zum gesunden Ziele konnte nur zurücklegen, wer die biologische Struktur Interessant ist, daß Freud das Wort Analyse mit Zersetzung verdeutscht (Drei Abhdlgn. zur Sexualtheorie, 3. Aufl. S. 27).



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und Funktion des Menschen als eines Reflexwesens erkannt, das Leib-Seele-Problem gelöst hatte und so, frei von Fiktionen, nach streng naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten vorging; die Psychobiologie hat das wahre Ziel erreicht. d) Die „ I n d i v i d u a l p s y c h o l o g i e " . Eine Seltenlinie der Freudschen Psychoanalyse ist die I n d i v i d u a l p s y c h o l o g i e Alfred Adlers. Sie weist angeblich nach, „daß die Ursache der meisten nervösen und sozialen Entgleisungen in dem Überwiegen des Persönlichkeitsgefühls über das Gemeinschaftsgefühl zu suchen ist" (F. K ü n k e l ) . Irgend eine Angabe, was das „ P e r s ö n l i c h k e i t s g e f ü h l " und was das „ G e m e i n s c h a f t s g e f ü h l " dem Wesen nach sei, findet sich nicht vor. Sehen wir genau zu, dann finden wir, daß mit dem zitierten Satze nur die Angst des Nervösen (die hypertrophische Angst) vor dem Übergange in die erweiterte „Gemeinschaft" beschrieben sein kann. Diese Angst aber als „Persönlichkeitsgefühl" zu bezeichnen, ist zum mindesten ungenau. Jeder Mensch, auch jeder Neurotiker befindet sich auf jeder Entwicklungsstufe innerhalb einer gewissen Lebenssphäre, zu der auch gewisse Menschen gehören ; während der Entwicklung erweitert sich „der Horizont", die Lebenssphäre, auch die Zahl der zu ihr gehörenden Menschen also die Gemeinschaft. Somit hat jeder Mensch stets ein gewisses „Gemeinschaftsgefühl", sofern man damit die Gefühle des Einzelnen für die übrigen Gemeinschaftsmitglieder sowie für Gemeinschaftsgüter (S. 104) zusammenfassend bezeichnet. Er hat aber auch stets ein gewisses „Persönlichkeitsgefühl", sofern man damit die Gefühle des Menschen für seine eigene Persönlichkeit und ihren genischen und trophischen Besitz zusammenfassend bezeichnet. Das Überwiegen des Persönlichkeits- über das Gemeinschaftsgefühl muß keineswegs immer krankhaft sein 1 ). Der zitierte Satz, der eine Grundl ) Neuerdings hat Künkel in seiner Charakterkunde die Termini „Ichhaftigkeit" und — als Gegensatz — „Sachlichkeit" eingeführt, die bei ihm mindestens nahe sinnverwandt mit den Worten „Persönlichkeitsgefühl" und „Gemeinschaftsgefühl" sind. Auch diese neuen Bezeichungen treffen aber nicht den Kern der Sache. Auch der Gesunde ist immer „ichhaft", insofern als sein Tun der Gemeinschaft, zu der er organisch gehört, also auch ihm „nützt". Und auch der Neurotiker ist •— in seiner Weise — „sachlich", und „denkt er (bei seinem Tun) an sich", dann immer auch an „die andern", die Welt überhaupt, deren Schicksal ja von ihm, dem Gotte, dem Erlöser, dem Gottmenschen abhängt, der zu Liebe er sich erhalten, um seine „vollkommene Vollkommenheit", um die Allmacht, um die absolute Reinheit (Schuldlosigkeit), um die absolute Schönheit kämpfen



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auffassung der sog. Individualpsychologie ist, kann also nach keiner Richtung befriedigen, und ein Lehrgebäude, das auf einer so unsicheren Grundlage ruht, kann nicht eben gewichtig und zuverlässig sein. Noch viel unzulänglicher ist das Dogma von den „ u r s p r ü n g l i c h g l e i c h e n S e e l e n " (s. S. 146, 149). Aus dieser Fiktion ergibt sich folgerichtig, aber natürlich ebenfalls fiktional, also nicht tatsachen-richtig die weitere These, daß es V e r e r b u n g n i c h t g i b t , also die erbbiologischen Forschungen und Ermittelungen barer Unsinn sind. Die Individualpsychologie betont mit einer Art Stolz, sie räume mit den alten Anschauungen von ererbten Anlagen, von Talent, Genie und Begabung auf (IV. Kong. 1927). Ihre Doktrinäre suchen also die fundamentale biologische Tatsache, daß das Kind von Vater und Mutter gezeugt ist, daß die Keimzelle die Verschmelzung der elterlichen Keime ist, die je das Gesamt des Vaters, der Mutter im Sinne der biologischen Symbolik darstellen, hinwegzutheoretisieren und so die biologischen Gemeinschaften Familie, Sippe, Stamm, Volk, Rasse dogmatisch zu zersetzen. Jeder gesunde Mensch erkennt schon hieran das Abwegige der Adlerschen Lehre, erkennt aber auch, daß diese Lehre die psychologische Seite eines irrigen Internationalismus, eines mißverstandenen Sozialismus, einer krankhaften Form der menschlichen Entwicklung ist. Die Infektlöse (suggestive) Gefahr besteht darin, daß alle Welt (bis auf die Psychobiologen) noch irgendwie an die im Leibe hausende dämonlstische Seele glaubt, die nun freilich — als göttlich usw. — in jedem Menschen wesensgleich gedacht werden muß, und daß somit die Folgerungen der Adlerschen Lehre plausibel erscheinen. Erst die Lösung des Lelb-SeeieProblems, die von der Psychobiologie gefunden ist und gelehrt wird, kann dieser Suggestion Einhalt tun — und so ist es klar, daß alle Kreise, die dieser Suggestion verfallen sind, meine Lehre aufs erbittertste bekämpfen. Eine höchst merkwürdige Verkennung der Tatsachen ist fernerhin die Behauptung Adlers wie übrigens auch Freuds, ihre Lehren seien „biologische", indem sie nämlich ihre Beschreibung des „seelischen" Geschehens n a c h d e m M u s t e r der Biologie (wobei also „die Seele" das unerforschllche Mystikum bleibt) mit der eigentlich-biologischen Beschreibung muß usw.: der absolute Herrscher und der absolute Knecht zugleich. „Alles gehört mir, ich aber bin die Welt, also gehört alles allen". Der Gesunde sagt: jedem das Seine (suum cuique). Weiteres in meinem Lehrbuche der Psychobiologie Bd. 3 und 4.



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des s o g e n a n n t e n Seelischen verwechseln, d. h. sie übertragen einfach die Methodik der biologischen Beschreibung auf „das Seelische", obwohl sie gar nicht wissen, was „das Seelische" ist, und wähnen nun, sie hätten „die Biologie des Seelischen" angegeben, sie beschrieben biologisch! Und auch diese Selbsttäuschung, dieser Irrtum macht Schule bei allen „Seelengläubigen", auch sie wähnen in ihrer unkritischen Harmlosigkeit, Freud und Adler hätten tatsächlich „das Leben der Seele" beschrieben, und urteilen in dem Trugschlüsse: es gibt im Leibe die Seele; gäbe es keine Seele im Leibe, so könnte man sie nicht beschreiben; Freud und Adler usw. beschreiben sie aber sogar biologisch, also gibt es die Seele im Leibe. Diesen Suggestionierten fällt es gar nicht auf, daß Freud und Adler „die Seele" ja bloß n a c h d e m M u s t e r der Biologie beschreiben, ohne im geringsten auch nur die Frage nach dem Wesen der Seele aufzuwerfen, geschweige gar sie zu lösen. Tatsächlich sind solche „Seelenbeschreiber" nichts weiter wie Märchenerzähler; sie erzählen gleichsam allerlei über ein Land, dessen Existenz im Sinne des Zweifels angenommen wird, nach dem Muster anderer Länderbeschreibung, ohne auch nur zu prüfen, ob das so beschriebene Land überhaupt existiert, und erwecken so nolens volens den Eindruck, als ob sie in diesem Lande gewesen wären. Sie behaupten die Gültigkeit ihrer Beschreibung! Welch ein seltsamer Widerstreit zwischen dem Anspruch der Individualpsychologie, sie setze an Stelle des physikalischen und chemischen ein biologisches Weltbild, und dem schon angeführten weiteren Anspruch, sie räume mit der Erbbiologie auf! Wie soll wohl ein biologisches Weltbild — „biologisch" richtig verstanden — ohne Einbeziehung der Erbbiologie möglich sein! In der Tat ist das „Weltbild" weder Freuds noch Adlers biologisch, und die Verwendung diese Wortes innerhalb dieser Lehren ist ein Mißverständnis, mit dem die Autoren sich und ihre Anhänger irreführen. Ein wahrhaft biologisches Weltbild gibt und kann nur geben die Psychobiologie; sie allein beschreibt die Entstehung des Bewußtseins, die sogenannten seelischen Vorgänge als biologisches Geschehen. Weiterhin folgt — wiederum logisch richtig, aber nicht tatsachen-richtig — aus der Fiktion der „gleichen Seelen" die fiktionale Behauptung, die u r s p r ü n g l i c h g l e i c h e n S e e l e n w ü r d e n d u r c h die E i n w i r k u n g e n d e r A u ß e n w e l t u n g l e i c h . Daß die Fiktion der „gleichen Seelen" unsinnig ist, zeigt schon die kurze Überlegung, daß es erfahrungs-



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gemäß niemals zwei Dinge gibt, die „dieselben" wären, und daß zwei Dinge höchstens „gleich" im Sinne von „ganz wenig unterschieden" sind; sind also die Seelen „ursprünglich gleich", so können sie einander nur sehr ähnlich sein, also doch unterschieden! Bei dieser Erkenntnis fällt schon die ganze Fiktion von der Einwirkung der Außenwelt auf die Seelen und die entsprechende Änderung der Seelen weg — ganz abgesehen davon, daß es gänzlich unverständlich bleibt, wie die Außenwelt die Seele Verändern könne, und ferner daß das Wesen der Außenwelt unerörtert und unerkannt bleibt. Also die Seele wird von der Außenwelt beeinflußt und die Seele reagiert auf diese Einflüsse, und ist die Außenwelt krank, dann ist eben die Neurose da, d. h. die normale Reaktion der Seele auf die kranke Außenwelt. Mithin ist der Neurotiker eigentlich gar nicht krank, sondern die ihn umgebende Außenwelt, auf die seine Seele reagiert, ist es, und so kann die Heilung der Neurose nur darin bestehen, daß man die A u ß e n w e l t n o r m a l i s i e r t , also für alle gleich macht. Da haben wir wieder das charakteristische Merkmal der marxistischen Denkweise. (Adler beruft sich auch ausdrücklich auf Marx und Engels.) Die These z. B., das Arbeiterkind, das nur über zehn Pfennige verfügt, kann sich keine Bücher kaufen wie der Millionärssohn, es würde sich aber Bücher kaufen, wenn es über zehn oder hundert Mark verfügte, philosophiert mit Hilfe des überaus dienstbereiten Irrealis (Unwirklichkeitsfall, „wenn es anders wäre, als es ist, dann w ä r e . . . " ) an den fundamentalen logischen und biologischen Tatsachen vorbei. Der Irrealis gibt nämlich bloß eine b e s c h r e i b u n g s m ä ß i g e Möglichkeit an; das Geschehen selber kann nur so verlaufen, wie es verläuft, es kann aber so beschrieben werden, wie es möglicherweise verlaufen wäre, wenn es anders verlaufen wäre, als wie es verlaufen ist. Gestern schien die Sonne, und ich bin spazieren gegangen; diese unerschütterlich feststehende Tatsache kann nun so beschrieben werden: wenn es gestern nicht schönes Wetter gewesen wäre, dann wäre ich (vermutlich! möglicherweise!) zu Hause geblieben. Wie sich also das Arbeiterkind verhalten würde, wenn es statt der zehn Pfennige hundert Mark hätte, läßt sich zwar beschreibend erörtern, aber diese Erörterung gibt nur Möglichkeiten an, beschreibungsmäßige Möglichkeiten. Wie sich das Kind tatsächlich verhalten wird, sobald es hundert Mark besitzt, muß abgewartet werden! Man kann aber mit Wahrscheinlichkeit sein Verhalten vorhersagen, nur muß man einigermaßen die Menschen kennen und die biologischen Gesichtspunkte beachten. Das Arbeiterkind



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ist und bleibt ein Arbeiterkind, es ist von Vater und Mutter gezeugt, ist, wie gesagt, Verschmelzung der beiderseitigen Keime, die ihrerseits je das Gesamt des Vaters, der Mutter im Sinne der biologischen Symbolik darstellen. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Es ist also vollkommener Unsinn zu behaupten, das Arbeiterkind würde sich gegenüber Büchern genau so benehmen wie das Millionärskind, es müsse nur eben hundert Mark haben. Überflüssig zu bemerken, daß beide, das Arbeiterkind und das Millionärskind, Menschen sind und daß ein g e s u n d e r (aufbauender, positiver) Sozialismus,1) (vgl. S. 163, Fußnote) beide Kinder als Volksgenossen gleichhochschätzt, aber die entwicklungsmäßigen Unterschiede nicht hinwegzudisputieren versucht, nämlich einsieht, daß es nur einem Dialektiker-Jongleur, einem Sophisten oder Dummkopf einfallen kann, biologische Tatsachen wegreden oder an ihnen vorbeireden zu wollen (natürlich unter schwerem Mißbrauch des Irrealis, der einzigen Redeform, mit der man sich selber und den braven Leuten so recht Sand in die Augen streuen kann). Was das Arbeiterkind mit den hundertMark machen würde, kann man mit Wahrscheinlichkeit aus seiner biologischen Struktur berechnen: ist das Kind für Lesen sehr begabt, sind die Lesereflexe häufig in hoher Funktion, dann wird es sowieso viel lesen, also auch die erforderlichen Bücher sich irgendwie beschaffen, wozu reichlich Gelegenheit ist, es wird sich mit den hundert Mark Bücher nicht zu kaufen b r a u c h e n oder vielleicht nur einige besonders begehrte Bücher, es wird für die hundert Mark noch andere Verwendung haben — vorausgesetzt, daß es nicht den Betrag nur für die Anschaffung von Büchern erhält (wovon ja hier nicht die Rede ist). Die Auffassung, man müsse dem Kind nur ebenso viel Geld geben wie dem Mililonärssohn, dann würden sich beide im gleichen Sinne verhalten, übersieht — redlich oder unredlich —, daß beide Kinder biologisch verschiedene Menschen sind, die sich also auch Geld, Büchern usw. gegenüber verschieden verhalten. Ist aber ein Arbeiterkind ein „Bücherwurm", dann wird es sich unter allen Umständen die Bücher beschaffen, und ist der Millionärssohn kein Bücherfreund, dann wird er sich auch für seine hundert oder tausend Mark kein Buch kaufen. „Freie Bahn dem Tüchtigen" heißt in meiner Ubersetzung: der Tüchtige macht sich die Bahn frei, tüchtig ist ein Mensch, *) „Sozial" ist svw. „gruppenmäßig" und ist vorwiegend ein ökonomischer Terminus; „Sozialismus" ist Bezeichnung für ein politisches System.



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der seinen Weg macht, — nicht aber: dem Tüchtigen muß die Bahn freigemacht werden. Woran soll sich denn dann seine Tüchtigkeit erweisen? Durch die Einwirkungen von außen auf die an sich gleichen Seelen, so lehrt Adler, bildet sich in der Seele des Menschen schon von ganz früher Kindheit an eine L e b e n s l i n i e , ein L e i t z i e l . Dadurch daß das Kind seine Schwäche dem Größeren, Älteren gegenüber erkennt, entsteht das Minderwertigkeitsgefühl. Diese wird überkompensiert durch das Streben nach Macht, nach Überlegenheit, nach Geltung. „Diese der Wirklichkeit so vollkommen Hohn sprechende Fiktion eines Zieles der Überlegenheit ist die Hauptvoraussetzung unseres bisherigen Lebens geworden. Sie lehrt uns die Unterschiede machen " (Adler, Praxis u. Theorie d. Indiv.-Psych., 4. Aufl., S. 5). Was meint Adler? Er deutet die einfache Entwicklungstatsache, also die Tatsache, daß das Kind heranwächst, psychologisch aus, er fingiert in den wachsenden Organismus eine durch die Umwelt Verursachte seelische Zielstrebigkeit 1 ) hinein, die wie ein Dämon das Kind Vorwärts treibt, „seelische Bewegungen", die von dem „fiktiven Ziel" der Überlegenheit, ja Allüberlegenheit richtungsmäßig bestimmt werden, — womit denn dieses Ziel, obwohl es doch „fiktiv", ein „teleologisches (finalistisches) Kunststück der Seele" ist, wiederum mit einer dämonischen Macht (nämlich der, die Richtung der seelischen Bewegungen zu bestimmen) ausgestattet wird. Mit welcher Berechtigung, wenden wir ein, wird denn aber die einfache Entwicklungstatsache derart dämonislert? Daß jedes Kind heranwächst, ist doch als eine einfache biologische Tatsache vollkommen zu Verstehen. Und das vermeintliche fiktive Ziel ist doch nur in der Beschreibung, die das Kind den Entwicklungsphasen in ihren Zusammenhängen gibt, vorhanden, nicht also etwa in Form eines „seelischen" Gebildes, das doch nur (schon als die Richtung der seelischen Bewegungen bestimmend) als eine Art „Finalismus" oder „Teleologie" ist Bezeichnung für den Glauben an eine in den Dingen oder auf sie wirkende Zwecklichkeit („Weltvernunft" usw.), so wie „Kausalität" Bezeichnung für den Glauben an eine in den Dingen oder auf sie wirkende Ursächlichkeit ist. Der Finalismus ist die ins Künftige übersetzte Kausalität. Beides — und ebenso der Konditionalismus (Bedingtheitslehre) — sind Deuteweisen des dämonistischen Denkens. Der Psychobiologe, der Realist kennt nur biologische, also zeiträumliche Geschehnisse, Erlebnisse, und auch die im engeren Sinne entwicklungsmäßigen Zusammenhänge sind lediglich zeiträumliche, die sich allesamt nach dem Schema Hunger — Angst — Schmerz — Trauer — Freude vollziehen.



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Dämon gedacht werden kann. Das Kind s a g t oder d e n k t (in Worten), ich will groß, größer als Vater und Mutter werden usw., aber damit b e s c h r e i b t es doch bloß zusammenfassend die entwicklungsmäßigen Erlebnisse hinsichtlich ihrer Hungerstadien; es sieht sich größer und größer werden, bemerkt die Zunahme an Fähigkeiten usw. und beschreibt diese Beobachtungen, aus Vergleichen mit noch Größeren, etwa mit den Worten: ich will groß werden, Vater und Mutter eines usw. Tages überwinden (s. S. 102f.), ihnen über den Kopf wachsen. Nichts ist natürlicher als dies — und da sollen wir glauben, daß sich da allerhand seelische Operationen abspielen und gar daß dies Ziel der Wirklichkeit „vollkommen Hohnspreche" ? Richtig ist, daß die Adlersche Deutung der Wirklichkeit vollkommen Hohn spricht. Gewiß erlebt sich das ganz junge Kind in der Stärke seiner Schwäche als eine Art Gott, als allmächtig (die Großen dienen ihm usw.), aber alsbald lernt es Dinge kennen, die sich seinem Zugriff, seinem Zauber entziehen (der Horizont erweitert sich), und damit geht es aus dem gottähnlichen Dasein indie Perlode des Kampfes über—nicht um die Erhaltungseiner Gottähnlichkeit, sondern um die Erreichung der entwicklungsmäßigen Ziele, insgesamt: um die Erreichung der heldischen Menschlichkeit, in die es im Pubertätsübergange eintritt. Dies Ist die Wirklichkeit — und die Wirklichkeit kann am Ende der Wirklichkeit nicht Hohn sprechen. Wie stehts mit dem Neurotiker? Der Hungerneurotiker, der Mensch mit überspanntem Streben beschreibt die Intensität seines Hungers derart, daß er sie mit der Größe des Zieles vergleicht, auf das sich der Hunger richtet; aber damit beschreibt er doch bloß die Intensität seines Hungers! Der Hunger ist nicht die Freude, nicht das Ziel. So lange das hypertrophische Hungerstadium dauert, wird er (zweifelnd) sagen: gemessen an der Intensität meines Verlangens muß mein Ziel ungeheuer sein. Dabei schwebt ihm aber gar kein „fiktives" Ziel vor, sondern z. B. die Erreichung einer Auszeichnung, und diese überschätzt er (doch immer zweiflerisch) während des Hungerstadiums. Sicher wird er die Intensität des Hungers als übermenschlich, ja göttlich ausdeuten, aber einmal immer zweifelnd (ob göttlich nicht teuflisch, ob Größe nicht Nichtigkeit sei, ob gut oder böse usw.) und dann: es handelt sich ja bloß um Beschreibung der Hungerintensität, nicht um die der Größe eines angeblichen „fiktiven Zieles". Dieses trifft auch für die übrigen Neurotiker zu. Eben diese Ausdeutungen der Neurotiker erweisen die Richtigkeit der



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Lehre, daß sie samt und sonders Infantilisten sind. Innerhalb Ihrer Hypertrophie erleben sie sich — hypertrophisch, aber das hat mit fiktiven Zielen gar nichts zu tun. Die hypertrophischen Stadien der Neurotiker und ihre Ausdeutungen sind nicht mit den Zielen, den Endstadien der neurotischen Erlebnisse zu verwechseln. Wer das tut — und Adler tut es —, verfällt in eine fiktionale Ausmalung der Neurose, beschreibt sie aber nicht, wie sie ist. Es ist nicht eben schwierig, innerhalb des fiktionalen Denkens, wie wir es auch in der Indiv.-Psychol. finden, viele schöne Worte zu machen. „Das Ziel dieser Lebensanschauung ist: verstärkter Wirklichkeitssinn, Verantwortlichkeit und Ersatz der latenten Gehässigkeit durch gegenseitiges Wohlwollen, die aber ganz nur zu gewinnen sind durch die bewußte Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls und durch den bewußten Abbruch des Strebens nach Macht". J a das klingt — trotz des undeutschen Satzbaues — recht gut, aber das ist nur Programm, „fiktives Ziel", das sind „gesprochene Kurse". Was versteht denn Adler unter „Wirklichkeit"? Doch nur die „seine" — und diese ist fiktiv, sie ist nicht die — wirkliche Wirklichkeit! Sie ist eine „Wirklichkeit" wie die „seelische" oder die „hinter den Dingen existierende Wirklichkeit" usw.; man kann über alles mögliche Erdachte reden und eine Art „poetische" Welt aufstellen und diese dann Wirklichkeit nennen. Auch die psychoanalytische „Realität" gehört hierher. Was versteht Adler unter „normal"? Den Abbau des (gesunden) Machtstrebens, des Wetteifers um heldische Ziele, die Nivellierung der Menschen — falls so ein Abbau des Gesunden möglich wäre — würde Adler normal nennen, ich unnormal! Der Leser mag entscheiden. Gemäß dieser Theoretik, deren '„überkompensatorischer" Auf- und Ausbau im umgekehrten Verhältnis zur Schmalheit und Brüchigkeit der Basis steht, und deren Fiktionalismus obendrein etwas Gewaltsames, Krampfiges und eine zersetzende Tendenz in sich hat, vollzieht sich nun auch die B e h a n d l u n g der N e u r o t i k e r . Zunächst ist das Irrige und Irreführende der „indiv.-psychologischen Analyse" wiederum darin zu sehen, daß vielfach Ausdrücke verwendet werden, die ebensowohl als Bezeichnungen für normales wie für abnormales Erleben gelten können. Man wird z. B . das Wort „Ermutigung" ohne weiteres im Sinne einer aufbauenden Tendenz dieser Behandlung auffassen, aber man muß bedenken, daß jemand auch zum Ausweichen vor den gesunden Aufgaben, zur Feigheit usw. „ermutigt" werden kann. Was „Mut"



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Ist, darüber findet sich in der Indiv.-Psychol. kein Wort; wir erfahren nur, daß „das Entscheidende in jedem Menschenleben der Mut ist". Nun wir sind anderer Meinung; Mut ist synonym mit Hunger, Verlangen usw., bezeichnet also das erste Stadium jedes Erlebnisses (S. 41); man kann weiter gehen und „Mut" etwa gleich „Gemüt" setzen, also Mut als Bezeichnung für Gefühle überhaupt gelten lassen (vgl. frohgemut, schwermütig usw.). Aber der Mut Ist doch nicht das Entscheidende, es wohnt Ihm weder eine entscheidende Kraft inne noch hat er sozusagen allein oder auch nur vorwiegend zu bestimmen, was geschieht. Man könnte ebensogut sagen, die Angst sei das Entscheidende usw. Selbst „das Entscheidende" ist wiederum verschwommen gebraucht: was ist damit gemeint: etwas, das den Gang der Dinge lenkt, das in den Dingen oder auf sie wirkt, — oder etwas, das selbst die Entscheidung ist? Im ersten Falle ist der Mut ein Dämon, im letzten Falle ist die Schwelle, das Schmerzstadium gemeint. Es fällt uns ein: „Mut zeiget auch der Mameluck, Gehorsam ist des Christen Schmuck". Der zitierte Satz vom Mute, der „den Schwerpunkt der ganzen Indivldualpsychologle" kennzeichnet, ist nichts weiter als eine populäre Phrase. Oder es heißt iKü nkel, Grundbegriffe der Indiv.-psychol., Berlin 1927, S. 25): „Und überdies kann man die Ehre eines Menschen nicht davon abhängig machen, ob er Versetzt wird oder nicht". Wir fragen: was versteht man bei Adlers unter „Ehre", wie definieren sie dieses Wort, das sie so unbedenklich gebrauchen? Wir andern sagen z. B., der Schüler hat die Prüfung „in Ehren" bestanden, er kann auch wohl „in Ehren" durchfallen, aber dieses Durchfallen ist Völlig Verschieden Von dem Durchfallen „in Unehre". Man k a n n also sehr wohl „die Ehre eines Menschen davon abhängig machen, ob er versetzt wird oder nicht", es kommt ganz auf den Fall an; über „Ehre" s. in meinem Lehrbuch. — Oder es heißt bei Künkel 1. c. S. 59: „Von dem Kinde Demut vor den Erwachsenen zu fordern, ist falsch". Was ist Demut? „Das ,Um Verzeihungbittenmüssen' (slc'.L.) ist eine höchst sinnlose Praktik." Sie wäre also Fordern der Demut. Falsch ist aber nur, vom Kinde Unterwürfigkeit, also etwa übertriebene Demut zu fordern; das gesunde Kind zeigt sich dagegen den Eltern gegenüber in einer Weise ehrerbietig, die man sehr wohl mit Demut bezeichnen kann, und falls es gefehlt hat, wird es genau so um Entschuldigung bitten oder bitten müssen, wie auch die Erwachsenen „sich entschuldigen", nämlich bekennen, daß sie einen Fehler eingesehen haben. Es ist eine ganz ver11



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renkte Auffassung, daß die Bitte des Kindes um Entschuldigung „mehr der gekränkten Eitelkeit und dem Überlegenheitsgefühl der Erwachsenen schmeichelt, als dem Kind eine gute Lehre ist"; das trifft für gewisse neurotische Fälle zu, aber doch nicht allgemein. Diese wenigen Beispiele — sie sind beliebig zu mehren — mögen hier genügen als Proben der Verschwommenheit im Wortgebrauch, der wir in der Indiv.-Psychol. begegnen. Ob es sich hierbei um eine ungenügende Kenntnis der deutschen Sprache oder um beabsichtigte oder unbeabsichtigte Nachlässigkeit handelt, mag dahin gestellt bleiben, der indiv.psychol. Jargon hat so jedenfalls etwas Unklares, Undifferenziertes, Vulgäres an sich und legt im Verein mit der skizzierten theoretischen Phraseologie Zeugnis für die weltanschauliche, denkerische Unsicherheit der ganzen Lehre ab — eine Unsicherheit, die sich auch nicht wegtrotzen läßt. Aber gerade diese Verschwommenheit sagt unkritischen Köpfen zu, da kann eben jeder „mitreden". Natürlich findet sich im Spreu auch viel Weizen, aber wie wenige Menschen sind sach- und fachkundig genug, um die Spreu vom Welzen zu sondern! Die i n d i v . - p s y c h o l . A n a l y s e ist eine Ermittelung der Entwicklungsgeschichte des Neurotlkers im historischen (formalistischen) Sinne unter dem Gesichtspunkte der angegebenen Theorie, also mit der Tendenz nachzuweisen, daß der Neurotiker einem fiktiven Leitziel nachjage, daß in den besprochenen Situationen das „Persönlichkeitsgefühl" stärker als das „Gemeinschaftsgefühl" gewesen sei und sei, daß das Symptom Ausdruck des „männlichen Protestes" (eine arg verunglückte Bezeichnung für eine obendrein schief gesehene Verhaltensweise des Nervösen) sei, daß er seine Symptome „mache", „arrangiere", um sich der Aufgabe zu entziehen (wie stehts da mit der „Einwirkung der Außenwelt"??) usw. Kurz es werden die neurotischen Symptome im Sinne der indiv.-psychol. Theoretik gedeutet. Hierzu wird die Traumdeutung ganz im psychoanalytischen Sinne betrieben. Die Psychobiologie hat stets betont, daß die Heilung des Nervösen mit der Normalisierung seiner Weltanschauung zusammenfällt ; dies eben bedeutet: Ausgleich der Entwicklungsdifferenz der Persönlichkeitsanteile, Nachentwicklung der infantilistischen Reflexsysteme. Das „Weltbild", das somit entsteht, muß aber das realische sein, sonst kann von Heilung im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden. Das „psychoanalytische Weltbild", sofern überhaupt von einem solchen die Rede



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sein kann, hat sich uns als eine Karikatur von Weltanschauung erwiesen, — und dies gilt nun auch für das indiv.-psychol. Weltbild. Dem Kranken wird unter Verwendung populär-philosophischer Belehrungen der skizzierten fiktionalen Denkweise zugeredet, das „überwiegende Persönlichkeitsgefühl" abzubauen. Hierbei werden die Uber-Unterschätzungen, die fiktionalen Deutungen der Nervösen nicht der realischen Weltanschauung gegenübergestellt, sondern die nervösen Symptome, die nervöse Persönlichkeit werden selber fiktional gedeutet und obendrein das normale Geschehen als abnorm mißverstanden: jeder Mensch strebe nach Allüberlegenheit, jedes Kind habe Minderwertigkeitsgefühl und strebe nach überlebensgroßen Zielen, Besitz sei nicht Gemeinschaft, also muß doch wohl auf Besitz verzichtet werden usf. Aus solchen Fiktionen folgt doch, daß auch jeder gesunde Mensch Neurotiker sei! Jeder gesunde Mensch strebt nämlich nach Größe, Macht, genischen und trophischen Besitz. J e mehr der Neurotiker der Suggestion erliegt, daß nicht nur sein angebliches „fiktives Ziel", das ihm sein durch die kranke Umwelt erzeugtes „Geltungsbedürfnis" (als Pendant des Minderwertigkeitsgefühls) vorgaukelt, sondern überhaupt jedes Geltungsstreben, jedes Streben nach Überlegenheit krank sei, wird er im Sinne des primitiven Menschen, der magmatischer „Kollektivmensch", „Gemeinschaftsmensch" ist, auf Persönlichkeit, auf Differenzierung 1 ) (suggestiv!) verzichten; das wäre ja dann Abbau des Persönlichkeitsgefühls. Ein junger Mensch hat den glühenden Wunsch (Hunger), ein großer, ganz großer Maler zu werden; er geht aber nicht Individualismus und Kollektivismus sind keine „reinen" Gegensätze, sondern neurotische Gesellschaftsformen verschiedener Entwicklungsstufe. Das junge Kind erlebt sich in magmatischer Verschmelzung mit seiner kleinen Umwelt, es ist zusammen mit seiner Welt „es selbst"; der Individualist ist der Säugling im Großformat, der großgewordene Säugling. Während des Heranwachsens des Kindes bilden sich — gemäß der Ausdifferenzierung der Hirnrinde — Strukturen, Umrisse, Konturen heraus, aus dem Chaos werden Individuen, die sich immer schärfer von einander abheben, charakterisieren; dabei ist das Kind lange Zeit hindurch Gleiches unter Gleichen, Menschen, Tiere, Pflanzen, Sachen sind „wesensgleich" (alle dämonistisch belebt usw.). Der Kollektivist ist dieses Kind im Großformat, dieses großgewordene Kind. Beide, Individualist und Kollektivist sind Infantilisten, Neurotiker. Der gesunde Erwachsene, der ausdifferenzierte Mensch ist Gemeinschaftsmensch im Sinne der wahren Volksgenossenschaft (wie immer das System gestaltet und bezeichnet sein mag). Der Mensch, d . h . j e d e r Mensch ist ein FRPOV JCOXITIXOV, auch der Individualist. Auch hierin sieht die „Individualpsychologie" unklar.

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ordentlich zum Unterricht und kann schließlich den Pinsel überhaupt nicht mehr anfassen. Wir sagen: er hat nervöse Angst vor der Arbeit, er mißversteht sie, er hat ihr Wesen noch nicht erkannt, wie es das spielende Kind noch nicht erkannt hat, er deutet seine Angst im Sinne der Über-Unterschätzung, er hält sich so für den Vom Himmel gefallenen Meister, der nichts mehr zu lernen braucht, bevor er überhaupt etwas gelernt hat, und der doch unfähig ist, etwas zu leisten usf. Wir lösen erkenntnistherapeutisch die hypertrophische Angst, indem wir ihm die real-normalen Sachverhalte vorführen, an denen er sich so lange orientiert, bis er in das normale Verhalten hineingewachsen ist, also wieder arbeitet und seinem hohen Ziele zustrebt. Die IndiV.-PsychoI. dagegen suggeriert dem Kranken, seine Neurose sei durch die Einflüsse der kranken Umwelt Verursacht, die Mutter hat nämlich schon die Strichelelen des Kindes über den grünen Klee gelobt und ihm weißgemacht, er sei ein Malgenie, und durch diese Art „Ermutigung" der Mutter sei als Reaktion der Seele das Geltungsbedürfnis, das „fiktive Lebensziel" erzeugt worden; das allgemein-menschliche Streben nach Überlegenheit spreche der Wirklichkeit vollkommen Hohn usw. Der beabsichtigte Erfolg solcher Suggestionen kann doch nur der Verzicht nicht nur auf das angebliche fiktive Lebensziel, sondern auf das Streben nach Größe, nach hervorragender Leistung überhaupt sein. Sobald der Kranke „erkennt", daß es große Aufgaben zu bewältigen normaliter überhaupt nicht gilt, wird er, falls und so lange er der Suggestion unterliegt, „Maschinenmensch", Gleicher unter Gleichen im Niveau des primitiven Gemeinschaftsmenschen sein. Gibt es Größe, Heldentum überhaupt nicht mehr, nun, so braucht der Kranke ja auch keine Angst mehr zu haben, daß er das Hochziel nicht erreicht, er braucht nicht einmal danach zu streben! So baut die Indiv.-Psychol. das Lebensziel ab. Die echte, hohe Leistung wird „psychologisch" entwertet, als nicht erstrebenswert, ja als sozial unerlaubt, als krankhaft hingestellt. Die Nivellierung von groß und klein — darauf kommt es an. Alle Menschen leisten vermöge der gleichen Seelen unter gleichen Umständen Gleiches, also mache man die Umstände gleich, dann sind alle Menschen und ihre Leistungen gleich, und die Neurosen, die doch nur eigentlich von der Umwelt erzeugtes Streben nach Größe sind, sind verschwunden! Welch ein Paradies! Nur daß es keinen gesunden Menschen ohne Hunger nach personaler Hoch- und Höchstleistung gibt, daß sich also die



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marxistische Theorie hier wie überall als Ideologie der Volksneurose erweist! Die Persönlichkeit, als Individualität (wonach sich wiederum irreführend die „Individualpsychologie" nennt!), die biologische Einheitlichkeit und Einmaligkeit und somit Unterschiedenheit des einzelnen Menschen im Sinne der biologischen Differenzierungsgrade wird nicht anerkannt. „Vor Gott sind alle Menschen gleich" — dieser Spruch wird übel mißverstanden: als „Ermutigung" zur allgemeinen Gleichmacherei, zur Vermeidung der hervorragenden Leistung. Diese öde und gänzlich abwegige Gleichmacherei hat folgerichtig schon für die jüngsten Kinder zu erfolgen — zur „Verhütung der Neurose" —, also möglichst frühzeitige Herausnahme der Kinder aus der Familie und gemeinsame Erziehung. Hätte nämlich — Irrealis! (S. 156) — die Mutter dem Jungen nicht einsuggeriert, er sei ein Malgenie, so wäre er nicht neurotisch geworden! Daß diese These aller Erfahrung widerspricht und die Eigenlebigkeit der Persönlichkeit völlig übersieht, ist offenkundig. Nach Adlerscher, lies: marxistischer Doktrin ist jeder ein Krümelchen im Brei der Masse gleich jedem andern Krümelchen, und es ist Krankheit oder Verbrechen („nervöse oder soziale Entgleisung"), aus der Menge hervorzuragen. Größe ist: Mut zur Kleinheit, Leistung ist: Verzicht auf Ubertreffenwollen, Gemeinschaftsgefühl ist: Nummer unter Nummern sein. Hunger nach echter Größe, nach echter Leistung, nach Heldentum, Entfaltung der Persönlichkeit im edeln Wettkampfe um das Höchstziel? Aber um Gottes und Marx' willen — das wäre ja eben „Uberwiegen des Persönlichkeitsgefühls" gegenüber dem „Gemeinschaftsgefühl" ! Wie aber paßt zu dieser Lehre der „Nivellierung nach unten", die übrigens ja auch das Ziel des marxistischen Klassenkampfes ist, die Ermahnung an die Kranken (und die Gesunden), das Leiden auf sich zu nehmen, da nur durch Leiden der „Klärungsprozeß" ( K ü n k e l ) Von statten gehe? Lehrt nicht auch die Psychobiologie, daß zu jedem Erlebnis ein Schmerz-, ein Schwellenstadium gehört? — Wir haben hier wieder (vgl. S. 160 f.) ein Beispiel für die Verschwommene Beschreibweise, die unklare Denkweise der Indiv.-psychol. Nirgends ist da gesagt, was „Leiden" sei, nirgends ist „das Leiden" in gesundes und krankes differenziert, wie überhaupt „gesund" und „krank" in der Indiv.-psychol. heillos vermengt, identifiziert oder verwechselt ist. Bei Künkel, der die Adlersche Lehre ins Religiöse ausgearbeitet hat, weiß man zudem nie, ob er medizinisch oder theologisch spricht, d. h. er spricht



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beides in einer merkwürdigen Verschmelzung und somit keines von beiden klar; daß hierbei „das Leiden" dämonistisch gefaßt wird, ist selbstverständlich. Ist Leiden = Krankheit, so heißt die These: du mußt die Krankheit auf dich nehmen, um gesund zu werden, — und dieser Satz ist entweder eineTrivialit ä t : es kann natürlich nur ein Kranker gesund werden — oder ein Mißverständnis: die Unterwerfung unter die Krankheit (das Leiden) ist keineswegs Genesung. Ist Leiden = Weg (gottgewolltes Mittel) zur „Klärung" (und diese = Genesung), so ist — abgesehen von Unklarheit des dämonistischen Denkens — einzuwenden, daß auch der Kranke sein Leiden auf sich nehmen und doch zum kranken Ziele kommen kann (s. S. 47), und es fehlt dann die Angabe des richtigen Leidens, des richtigen Weges — aber Künkel sagt ja selber: „Was richtig ist, können wir nicht feststellen" (Jugendcharakterkunde, Vorwort). Ist Leiden = das Kreuz auf sich nehmen und tragen, sich unterwerfen, so wird ein mißverstandenes Christentum, eine mißverstandene Biologie gepredigt: Unterwerfung ist nicht Erlösung, der Genesungsweg führt über das Kreuz, das Leiden hinaus, der echte Klärungsprozeß ist die Uberwindung des Leidens, der Sieg. Es kommt nicht b l o ß auf das Leiden an. Die Mission Jesu ist nicht bloß sein Leiden und Sterben, sondern seine ganze Lehre. Und ist das Leiden jedem Menschen von Gott verordnet, was soll dann noch die Empfehlung des Leidens als Heilmittel (Heilsmittel)? Sie ist dann nur eine theolcgisierende Phrase. Nimmt man aber an, daß Künkel speziell den Angstneurotiker meint, der nämlich vor der echten Schwelle, dem echten Leiden halt macht und zurückweicht oder ausbiegt (nicht alle Angstneurotiker tun das übrigens! vgl. S. 47, Fig. 3), so ist die Ermahnung, das Leiden auf sich zu nehmen, nur eine suggestive Phrase (der Kranke kann das ja eben nicht!), und obendrein wird ihm nicht einmal das richtige Leiden, die gesunde Schwelle angegeben. Im Gegenteil! Die gesunde (normale) Schwelle ist „der Baum der Erkenntnis" — und Von ihm zu essen, ihn zu überwinden, ist doch verboten! Wer wird als theologisierender Arzt den „Sündenfall" empfehlen?! Und weiter: mit der Nichtunterscheidung des gesunden und des kranken Leidens ist — in Verbindung mit theologisierenden Fiktionen — die Gleichheit alles Leidens, des Leidens aller Menschen und so die Gleichheit aller Menschen irrig-denkerisch gesetzt; die Differenzierung des Leidens, der leidenden Menschen ist (noch) nicht erkannt. So wird das echte Leiden (Ringen, Kämpfen um die gesunde Höchstleistung) herabgesetzt, deuterisch entwertet. Dem-



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gemäß beschreibt ein Studienrat den Erfolg einer zehnwöchigen Künkelschen Behandlung (nach Künkel selbst, siehe „Eine Angstneurose und ihre Behandlung") in folgenden Worten: „Es Ist überall das gleiche, bei Alten und Jungen, überall Leiden, Enttäuschung, Verzicht und die Notwendigkeit des Jasagens, des Aushaltens, des Tragens und vielleicht sogar (sie! L.) der Freudigkeit und des Vertrauens trotz aller blutenden Wunden". Also ängstlich-schmerzliche Resignation! Und dieser Erfolg liegt „praktisch ungefähr in der Höhe, die sich im Durchschnitt der günstig Verlaufenden Fälle erreichen läßt" (Künkel 1. c. S. 70). So sieht also der „Klärungsprozeß" der Künkelschen Lehre aus. Ist das Leben für alle der gleiche Kampf, dann gibt es keine starken und schwachen Kämpfer, keine Helden und Unhelden, keine Vor- und Nachkämpfer, keine Führer und Geführten, keine Herzöge (die Vorn-herziehen) und keine Mannen, Nach-kommen — dann gibt es nur die undifferenzierte Masse Mensch, das marxistischbolschewistische Magma. Die biologischen Unterschiede der einzelnen Menschen sind theoretisch nivelliert, jeder leistet „dasselbe", jeder ist zu jedem Amte, Berufe usw. fähig, jeder „liebt" jeden und jede, der Klassenkampf hat sein Ziel erreicht! Und das ist „die Erlösung" — auch nach indiv.-psychol. Doktrin (vgl.z.B.Künkel: „Besitzist nicht Gemeinschaft"usw.). So ist der „Klärungsprozeß" t a t s ä c h l i c h in der Indiv.psychol. als ein negatives, zersetzendes, nivellierendes Geschehen Verstanden, d. h. mißverstanden, die Sinnlosigkeit des Geltungsstrebens und der Angst vor dem Gefühl der Minderwertigkeit soll eingesehen, die sog. produktive Leistung soll in der Fläche, nicht in der Aufrechten, im Negativen, nicht im Positiven vollzogen und das Negative als das Positive „anerkannt" werden. Diese Art „Klärungsprozeß" führt nicht zum normalen, echten Erfolg, nicht zum Hochziel, zur mannhaften Höchstleistung, nicht zur (gesunden) Klarheit und Wahrheit, sondern zur „Zufriedenheit im Elend" (wie ich dieses kranke Ziel in meinem Roman „Führer der Menschheit ?" 1911 bezeichnet habe). Ich sehe in der Indiv.-psychol. keinerlei methodisches Kriterium dafür, daß die Empfehlung des Leidens auf denWeg in die Gesundheit führen müßte, ja auch nur könnte. So lehrt die Indiv.-Psychol. (lucus a non lucendo!) t a t s ä c h l i c h die Verneinung der Persönlichkeit (vgl. als Kennzeichen der ganzen Denkweise die indiv.-psychol. Charakterkunde Von K ü n k e l , die er „nonisch" nennt — von lat. non nicht!), das Aufgehen der Individualität Im Brei der Masse, den Verzicht auf persönliche Höher- und Höchstleistung.



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Sie preist t a t s ä c h l i c h — die Individualpsychologen werden es natürlich nicht zugeben und begreiflicherweise nicht zugeben können — den Verzicht auf Heldentum als — Heldentum, und ihre Ermutigungstherapie ist tatsächlich Ermutigung zur Unterwerfung. Man versteht, wie eng sich eine solche Lehre mit der mißverstandenen christlichen Lehre berührt, und man versteht, daß die Adlersche Irrlehre in unserm kranken Kulturkreise bei allen Theologen, die die christliche Lehre als eine Lehre der Selbstentmannung mißverstehen, Anklang und Anhang findet. Man versteht auch, daß diese Bazillenweisheit in unserm kranken Kulturkreise weitere Massen infizieren konnte. Das Kreuz auf sich nehmen, leiden, um zu leiden, nicht um zu siegen, in der Schwäche stark sein, in die magmatische Gemeinschaft eingehen, Verantwortlichkeit nur in dem Sinne haben, daß man eben „ein Gleicher" ist — was kann es Bequemeres geben! Und in dieser Lehre wird in noch zunehmendem Umfange unsere Jugend unterrichtet, nach ihr arbeiten mehr und mehr „Fürsorgestellen" aller Art Jeder, ob gebildet oder nicht, ob berufen oder nicht, ob gesund oder krank, — jeder kann „mitreden", er muß nur eben die Salbaderei des mißverstandenen Christentums, die Tiraden eines sozialen und pädagogischen Marxismus herbeten können. Des mühsam harten Ringens um die realische Erkenntnis — dessen bedarf's nicht für die Anhänger und Adepten dieser Lehre der Schwäche... Ich will aber nicht bestreiten, daß sich in der indiv.psychol. Analyse ähnlich wie in der Freudschen usw. Psychoanalyse und schließlich bei jeder Behandlung in manchen Fällen sozusagen als Nebenprodukt mehr oder minder weitreichende positive Entwicklungen vollziehen, nur zielen alle diese Methoden tatsächlich, d. h. ihrer Natur nach nicht auf den Ausgleich der Entwicklungsdifferenz ab, sondern lediglich auf Minderung und Behebung von Beschwerden, auf Heilung im Sinne des Latentwerdens oder der Verschiebung der Symptome (s. S. 129), und so ist die Psychoanalyse und die Individualpsychologie der antipodische Gegensatz zur Erkenntnistherapie, die den Kranken zur positiven Leistung, zur echtheldischen Tat und ihrem echten, ihrem gesunden Erfolge hinleitet. 3. Die Erkenntnistherapie. Als ich vor vielen Jahren die Freudschen Veröffentlichungen las, fingen auch mich seine Gedankengänge ein, und ich habe mich lange Zeit hindurch mit der Psychoanalyse



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theoretisch und praktisch beschäftigt. Freilich kam sehr bald in meinem naturwissenschaftlich und philosophisch gearteten Denken, insbesondere aus der praktischen Erfahrung heraus die Kritik zum Vorschein, und es ist mir, meiner ganzen Persönlichkeit nach, niemals möglich gewesen, die grundsätzliche Einstellung Freuds zu übernehmen und die einmal erkannten sachlichen und deutungsmäßigen Irrtümer und Abwegigkeiten der Autorität zuliebe beizubehalten und gar weiterhin in der Praxis anzuwenden. Schließlich führten mich anderweite jahrzehntelang betriebene Studien auf den verschiedenen Wissenschaftsgebieten zur Lösung des Leib-Seele-Problems und damit zum Abschlüsse meiner Weltanschauung und der damit verbundenen Krankheitslehre, also auch Therapie; und nunmehr wurde die schon immer vorhandene, aber noch nicht voll erkannte Differenz der Freudschen und meiner Weltanschauung in ganzer Klarheit offenkundig. Ich habe also „Psychoanalyse" grundsätzlich immer und dazu in mehr und mehr und schließlich in allen Einzelheiten (je mehr sich meine Lehre entfaltete) als angewandte Psychobiologie getrieben (vgl. meine Broschüre „Uber Psychoanalyse", Leipzig 1924, verfaßt 1922/23); auch meine „psychoanalytischen" Romane „Einer Mutter Liebe", „Welt und Winkel" und „Die Hetäre", ebenfalls bei Ernst Oldenburg, Leipzig, erschienen, 1914, 1916, 1920 verfaßt, sind doch eigentlich psychobiologische Bücher). Gewiß war die Beschäftigung mit der Psychoanalyse eine wichtige Epoche in meiner Entwicklung, ich habe außerordentlich viel hinzugelernt, auch aus dem, was ich ablehnen mußte, aus meiner Entwicklung ist, auch rein biologisch, diese Epoche nicht wegzudenken. Aber dies ist nicht so zu verstehen, als ob ich nur aus der Psychoanalyse geschöpft, sie sozusagen ä la Adler oder Stekel oder Jung umgeändert, modifiziert hätte und so ebenfalls ein abtrünniger Schüler Freuds wäre. Nein, ich bin selbständig vom Scheitel bis zur Sohle. Freud hat das wohl auch erkannt, indem er einige Manuskripte, die ich ihm einstens schickte, mir zurückgab mit dem Bemerken, daß sie seinem Verständnis große Schwierigkeiten bereitet hätten und er somit die Lektüre den Lesern seiner Zeitschrift nicht zumuten könne! Wie gesagt, ich habe sehr viel von Freud gelernt, aber ich habe noch viel mehr Von andern Autoren gelernt, und das meiste habe ich vom Menschen selbst gelernt, dessen Studium ich von Kindesbeinen an unablässig betrieben habe. Ich schätze Freud, wie ich oft betont habe, als Genie ein und erkenne an, daß er uns eine Reihe von Tat-



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Sachen gezeigt hat, die bis dahin wissenschaftlich noch nicht erfaßt waren, vor allem daß er den entwicklungsgeschichtlichen Gedanken in die völlig erstarrte Neurosenlehre hineingetragen hat. Aber die Psychobiologie ist mein Eigengewächs — wofür der beste Beweis der Vergleich der Freudschen und meiner Schriften ist. Alle Versuche einer gehässigen oder dummen Kritik, die Psychobiologie mit der Psychoanalyse zu vermanschen, lehne ich ebenso entschieden ab, wie sie der redliche Forscher Freud ablehnt. Wie die Erkenntnistherapie geartet ist und worauf sie abzielt, ist aus allen vorangehenden Ausführungen ersichtlich. Die Psychobiologie hat den b i o l o g i s c h e n Charakter alles Geschehens, auch des bisher sog. psychischen erkannt und — in der Eronenlehre — eine klare Vorstellung von den Vorgängen im Nervensystem einschließlich der Hirnrinde als des Organs des Bewußtseins, also auch von der Entstehung und der Entwicklung der Anschauung, somit vom Wesen der Dinge gegeben, sie hat die verschiedenen im Entwicklungsgange des Menschen aufeinander folgenden Denkweisen in ihren gesunden und kranken Formen gemäß der neu entdeckten biologischen Charakteristik präzisherausgestellt, sie hat die weltanschaulichen Rätsel, d a s Rätsel, das Problem als solches ohne Rest gelöst. Und diese L e h r e r u h t n u r auf T a t s a c h e n : es g i b t k e i n e T a t s a c h e , die i h r w i d e r s p r i c h t , — also ist sie richtig. Sie ist frei von irgend welchen Fiktionen, frei Von Mystik, Deutung und Deuterei, f r e i Vom D ä m o n i s m u s in seiner rohen und verfeinerten Form. Sie ist r e a l i s c h e W e l t a n s c h a u u n g (biologische Philosophie), und sie stellt den Gegensatz zur bisher giltigen dämonistischen Weltanschauung mit aller Klarheit und Entschiedenheit heraus. Die B e f r e i u n g v o m D ä m o n i s m u s ist die w a h r e E r l ö s u n g , der die Menschheit entgegengeht. Die Erkenntnistherapie ist die ärztliche Methode der Psychobiologie. Sie ist ein ärztlich-philosophischer Unterricht, der sich an die Symptome anschließt und über die allgemeinen und die speziellen psychobiologischen Tatsachen und ihre Zusammenhänge aufklärt; bei diesem Unterricht hat der Kranke tüchtig zu arbeiten, er hat sein volles Wachbewußtsein (soweit er es hat) mitzubringen und darf nicht „schlafen". Die zurückgebliebenen, also infantilistischen Denkzellen können sich erfahrungsgemäß nur höherentwickeln im Gange fleißiger Arbeit, nicht im faulen Hindämmern. Auch dem Schulkinde kann der Lehrstoff nicht einsuggeriert werden, es muß lernen; und es führt nicht zum normalen Ziele, dem Schulkinde irgend



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welche Theorien vorzuerzählen, ihm irgend etwas weiß zu machen, sondern einzig und allein die Mitteilung von Tatsachen führt zum normalen Ziele. So auch in der Neurosentherapie. Ich gebe also meinen Kranken einen hinreichenden Einblick in die Biologie (also auch Funktion) des Nervensystems einschließlich der Hirnrinde, in die Biologie des menschlichen Organismus, der als Einheit begriffen werden muß. Ich lehre die Biologie der Anschauung, zeige also Bau und Funktion der Reflexsysteme, auch derer, die über die Hirnrinde führen, mache mit der Entstehung des Bewußtseins, dem Wesen der Gefühle, Gegenstände und Begriffe bekannt und durchforsche gemeinsam mit dem Kranken die Welt der Erscheinungen, wobei sich die Differenz zwischen der kranken und der normalen Anschauung, also dem kranken und dem gesunden Erlebnis und der kranken und der gesunden Beschreibung mit zunehmender Klarheit herausstellt. So erweist sich an den konkreten Beispielen der Symptome, daß die kranken Persönlichkeitsanteile (Reflexsysteme) auf einer relativ niedrigen Entwicklungshöhe funktionieren, und je mehr der Kranke diese Differenz erkennt und je mehr er den Sinn (lies Unsinn) seines abnormen Erlebens und den Sinn (lies Unsinn) seiner Deutungen einsieht, desto näher kommt er der Genesung — genau so wie das Kind um so besser rechnen lernt, je mehr es sich nach den richtigen Rechenmethoden übt. (Unsinn ist nicht „Sinnlosigkeit", sondern nur „fehlgehender Sinn".) Der Kranke lernt so seine Symptome im Zusammenhange mit seiner Gesamtpersönlichkeit psychobiologisch verstehen, und je mehr er diese Erkenntnis gewinnt, desto mehr wächst er aus seinem Infantilismus, aus seinen Rätseln und Zweifeln, aus seiner Krankheit heraus, desto weiter geht — neben Atrophierung, Verödung, Auflösung — der Ausgleich der Entwicklungsdifferenz seiner kranken Reflexsysteme, desto mehr nähert sich die Entwicklung der Norm, desto mehr wird aus dem Konfliktmenschen eine klare, einheitliche, harmonische, zielsichere Persönlichkeit. Bei all diesen Besprechungen, mögen sie auch — je nach der Gestaltung der Persönlichkeit des Kranken — noch so weit ins Gebiet der Philosophie, die hier biologische Philosophie ist, reichen, bleibe ich streng auf dem Boden der naturwissenschaftlichen, der biologischen Tatsachen. Ich treibe keine Theoretik und verlange nicht, daß mir der Kranke etwas „glaubt" — es sei denn, daß zweimal zwei Vier ist, daß der Mensch ein Gehirn hat und daß für die Hirnfunktion die allgemein anerkannten biologischen Gesetze gelten. In der Er-



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kenntnistherapie gibt es keinen Zwang 1 ). Ich stehe allenthalben auf dem unerschütterlichen Fundament der unmittelbaren Anschauung, der erlebnis- wie beschreibungsmäßigen Erfahrung. Jedermann ist in der Lage, das Mitgeteilte nachzuprüfen, ja die Kritik des Kranken, das Aussprechen seiner Zweifel, seiner Einwendungen ist erwünscht, er mag fragen, was er will, an seinen Zustimmungen und Einwendungen offenbaren sich ihm ja wieder die Besonderheiten seines Denkens und die Ansatzpunkte für die weiteren Aufklärungen. Natürlich muß der F r a g e r eine A n t w o r t bekommen, nicht eine schleimige, verschwommene, ausweichende, nicht eine Verlegenheitsantwort, nicht eine autoritär-aufgeblasene, scheinüberlegene, bramarbasierende Antwort, nicht eine spitzfindige, dialektische, suggestiv-übertölpelnde Antwort, sondern die e i n z i g k l a r e , w a h r e , e h r l i c h e , t a t s a c h e n - r i c h t i g e A n t w o r t , die so zuverlässig und sicher ist wie die mathematische Rechnung, so wahr wie die Angabe, daß die Blattkrone der Bäume oben in der Luft steht und nicht unten in der Erde steckt, daß die Nase im Gesicht und nicht am Bauche sitzt. Die P s y c h o b i o l o g i e b e a n t w o r t e t die F r a g e s o , d a ß sie e r l e d i g t i s t , n i c h t m e h r g e s t e l l t w i r d , nicht mehr Frage ist. Sie „versichert" aber nicht, daß es so und so sei, sondern sie stimmt mit den Tatsachen derart überein, daß sie nur die Tatsachen angibt: dies ist ihre Antwort. Sie hat es nicht so leicht wie die Psychoanalyse und die „Individualpsychologie" oder andere mystisch-dämonistische Methoden oder sogar wie die gesamte deutende Wissenschaft: in diesen Gebieten entfernt sich die Beschreibung alsbald vom Beschriebenen soweit, daß nun alle möglichen Gedankengänge vom Charakter wild phantastischer Wucherungen und Verfilzungen bis zu strenger gerichteten und zu scharf logischen Spekulationen stattfinden können, also Deutereien und Deutungen, die allemal dämonistisch (motivisch, kausal, konditional, Man könnte einwenden, die psychobiologische Theorie von der Hirnrindenfunktion sei unbewiesen und müsse „geglaubt" werden. Freilich kann ich eine Denkzelle nicht aus ihrem biologischen Zusammenhange herauslösen und (nach allerhand Vorbereitungen wie Konservieren, Färben) ihre Funktion aufweisen, die sie doch nur im Zusammenhange mit dem Organismus hat und haben kann. Der Beweis für die Richtigkeit meiner Lehre liegt darin, daß sie zu allen Tatsachen stimmt, daß es keine Tatsache gibt, die ihr widerspricht, daß sie also den strengsten Anforderungen, die man überhaupt an eine Lehre stellen kann, gerecht wird. Im übrigen können nur Leute, die über „ B e w e i s " logisch unorientiert sind, solche Einwände bringen; über „Beweis" handle ich im § 78 der „Entdeckung der Seele" und eingehender noch im I. Bande meines „Lehrbuchs der Psychobiologie".



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teleologisch) sind und sich zu einer Art unkontrollierbarer Selbständigkeit erweitern, also in mystische Konsequenzen ausgehen, mag es sich auch um naturwissenschaftliche Theorien handeln (z. B. die Elektronentheorie). So bequem hat es die Psychobiologie nicht: sie kann sich „die Dinge nicht zurechtlegen, zurechtdenken", sie orientiert und kontrolliert sich im Gegenteil ständig aufs strengste an den Erlebnissen und muß innerhalb ihrer Anschauung jede e i n z e l n e noch so e n t l e g e n e T a t s a c h e des n a i v e n und des g e l e h r t e n Erl e b e n s jeder Art an ihrem b i o l o g i s c h e n Orte a u f w e i s e n — oder ihre F l a g g e s t r e i c h e n . Somit ist klar, daß die Erkenntnistherapie g ä n z l i c h u n s u g g e s t i v ist: dem Kranken wird die Wahrheit gesagt, und die P s y c h o b i o l o g i e kann gar n i c h t s anderes als die W a h r h e i t s a g e n , d e n n sie ist selber die W a h r h e i t . Der Kern jeder Neurose ist der Zweifel. Auch der Gesunde, soweit er nicht Psychobiologe ist, zweifelt, aber anders wie der Nervöse: dieser zweifelt infantilistisch, hypertrophisch, er ist unsicher in einer krankhaft-extremen Art (vgl. S. 57). Er zweifelt in dieser Weise pragmatisch, ethisch und ästhetisch. Die drei grundsätzlichen Beschreibweisen des Menschen sind die p r a g m a t i s c h e („rein tatsächliche"), die e t h i s c h e (als allgemein moralische, juristische und religiöse) und die ä s t h e t i s c h e ; die erstere ordnet nach richtig und falsch, die zweite nach gut und böse, die dritte nach schön und häßlich x). Besonders steht der ethische Zweifel beim Neurotiker in Blüte: was ist gut und was ist böse — und warum ist das gut und das böse — und warum muß ich so handeln, wenn es doch böse ist? — was ist Schuld und was Strafe — ist die Strafe nicht neue Schuld und ist die Schuld nicht die Strafe — und warum das alles? warum Schuld und warum Strafe? warum hat Gott oder sein naturwissenschaftlicher Ersatz (die „Natur", die „Kraft", das „Schicksal" usw.) dies alles so eingerichtet? bin ich als Träger elterlicher und vorelterlicher Schuld nicht schon schuldig geboren und muß nun unschuldig leiden — und ist dies nicht das schönste Leid? usw. usw. — in infinitum. Es ist klar, daß diese und alle F r a g e n , die ja nur A u f s p l i t t e r u n g e n des e i n z i g e n P r o b l e m s der M e n s c h h e i t , des L e i b - S e e l e - P r o b l e m s (des K a u s a l i t ä t s p r o b l e m s ) sind, nur von dem gelöst werden können, der das Wesen der Dinge, das Wesen ihrer Beschreibung, also der Pragmatik, der Ethik und der Ästhetik kennt — und das Ist nur der PsychoEin „Jenseits von richtig und falsch, gut und böse, schön und häßlich" gibt es nur in kranken Gehirnen.



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biologe, niemand sonst. D a s A u f g e b e n d e r dä m o n i s t i s c h e n W e l t a n s c h a u u n g i s t der e i n z i g e H e i l w e g . Es ist in der Erkenntnistherapie nicht nötig, möglichst viele Einzelheiten aus der Entwicklungsgeschichte des Kranken herauszuschälen; wir foltern ihn nicht mit dem Zwange zu Erinnerungen. Die Erkenntnistherapie verzichtet auf langwierige und bei herabgesetztem Bewußtsein stattfindende „Lebensbeichten", die doch allesamt Menschliches, AllgemeinMenschliches in individueller Form berichten — und nil humani mihi alienum. An den Einzelheiten, die sich von selbst, ohne irgend eine nach Zwang riechende Methode einstellen, indem der Kranke den Mund auftut, ja indem er ins Zimmer tritt, offenbart sich dem Psychobiologen die gesamte Persönlichkeit und läßt sich an eben solchen Einzelheiten aufs genaueste demonstrieren, so daß der Kranke sich und damit die andern, die ganze Welt kennen lernt. Die Erkenntnistherapie verzichtet auch auf die sog. Traumdeutungen, die den Hauptteil der Psychoanalyse ausmachen und gar nichts weiter sind als Schwulst geschlechtlicher Phantasien, Dokumente denkerischer Ausschweifungen. Die Psychobiologie hat das Wesen des Traumes wie das des Schlafes usw. erkannt und weiß, daß der Traum uns nichts weiter verraten kann, als was die Wacherlebnisse uns auch Verraten — und die Erörterung der Wacherlebnisse ist wichtiger und richtiger als das Eingehen auf vage Dünste des herabgesetzten Bewußtseins und ihre höchst unsicheren Beschreibungen — noch dazu in der Absicht, auf Biegen oder Brechen die versteckten Gelüste „vorzufinden", die selbst „der Traumgott" schamhaft verhüllt. Auf der Basis der psychobiologischen Erkenntnis lösen sich alle weltanschaulichen Probleme, lösen sich die „ l e t z t e n F r a g e n " . Die dämonistische R e l i g i o n wird die biologische (S. 23 Fußnote); die Existenz Gottes ist so gewiß („unmittelbar gewiß") wie die Existenz des Hirnzellkomplexes, dessen Funktionseigentümlichkeit die Vorstellung „Gott" ist; es gibt keinen unreligiösen Menschen, und alle „Atheisten" sind Zweifler, die die Aufgabe, die sie nicht lösen können, durchstreichen und wähnen, sie so gelöst zu haben. Die dämonistische E t h i k wird die biologische; der gesunde, der normale Mensch kann nur normal denken und handeln, er ist selber das Gesetz. Die dämonistische Ä s t h e t i k wird die biologische; das Kranke ist häßlich, das Gesunde ist schön. Die dämonistische P r a g m a t i k (Medizin, Chemie, Physik, Sprachkunde usw.) und ihre Beschreibung wird die biologische, realische. Im einzelnen verweise ich auf meine Schriften.



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Indes bei aller Wissenschaftlichkeit ist die Psychobiologie in ihren grundsätzlichen Erkenntnissen, wie sie die Erkenntnistherapie — in der dem Schüler angepaßten Sprache — lehrt, l e i c h t v e r s t ä n d l i c h . Meine T h e r a p i e s e t z t k e i n e n bes o n d e r e n B i l d u n g s g r a d des K r a n k e n voraus. Die Wahrheit ist immer einfach. Der Kranke braucht auch kein Gelehrter zu werden, es genügt für die Zwecke der Therapie, daß er die grundsätzlichen Erkenntnisse auf seinen besonderen Fall anwendet. Dazu freilich kann ihn keine Suggestion bewegen; er kann nur entwicklungsmäßig dahin gelangen. Im Laufe des Unterrichts holen die zurückgebliebenen Reflexsysteme das „Versäumte" nach, die Denkzellen und ihre Assoziationen und demgemäß die Ausdrucksweise, das gesamte Verhalten des Kranken verändern sich in Richtung Norm — und dieser G e n e s u n g s p r o z e ß vollzieht sich, ob der Kranke „will" oder nicht, unweigerlich, m i t b i o l o g i s c h e r N o t w e n d i g k e i t und ferner so, daß der Kranke, der ja jeweils nur ein, eben sein Bewußtsein hat, den stetigen Fortschritt selber kaum merkt (oft fällt die Besserung den Angehörigen usw. am ehesten auf) und erst an gröberen Unterschieden erkennt. Die Genesung geht also, falls der Kranke überhaupt hinreichenden Genesungshunger hat, also sich überhaupt der Erkenntnistherapie stellt, mit biologischer Selbsttätigkeit vor sich. Hierbei fallen allerlei Symptome weg, ohne daß sie überhaupt besprochen werden; die Entwicklung geht nicht bloß im Bezirk des erörterten Symptoms Vonstatten. Und so wie die Genesung mit biologischer Notwendigkeit erfolgt, so wie es undenkbar ist, daß jemand etwas lernt und gleichzeitig nichts lernt, so ist es auch biologisch unmöglich, daß die ausgereiften Systeme auf eine frühere Entwicklungsstufe wieder zurücksinken. Niemand kann, dreißig Jahre alt, wieder zwanzig werden. Gewiß erreicht der eine einen höheren Grad des Ausgleichs als der andere. Mancher bleibt in Tertia sitzen, ein anderer geht nach Untersekunda ab, die meisten machen ihr Abitur und einige sogar den Doktor. Viele sind berufen, wenige auserwählt, d. h. studieren die Psychobiologie über das rein Therapeutische hinaus. Eine Förderung seiner Gesundheit erreicht also jeder: eine so weit gehende, wie sie der biologischen Entwicklungsfähigkeit seiner kranken Reflexsysteme entspricht. Und wer — gemäß seiner biologischen Beschaffenheit — „nicht ganz hingelangt" ist, hat ebenso wenig das Recht, auf die Methode oder die Tatsachen oder den Arzt zu schimpfen, wie der Schüler, der sitzen bleibt, das Recht hat, dafür die



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Lehrmethode oder das Pensum oder den Lehrer zu beschuldigen. Ferner: ein Zwanzigjähriger kann natürlich nicht die Reife eines Dreißigjährigen erreichen, und die mehr oder minder stürmischen Erlebnisse in Beruf und Liebe, die seinen Jahren zukommen, können und sollen Ihm nicht erspart bleiben — er wird sie, genesen, nur eben gesund erleben. Der Vorgang des Ausgleichs der Entwicklungsdifferenz der kranken Reflexsysteme ist die Heilung im eigentlichen Sinne und kennzeichnet die E r k e n n t n i s t h e r a p i e als die a u f b a u e n d e M e t h o d e . Ihr Ziel ist die Schaffung der harmonischen Persönlichkeit, die allemal echt heldisch ist. Der echte Held, der echt heldische gesinnte Mensch ist der Gesunde, auf welchem Gebiete er sich auch — gemäß seiner Struktur — betätigen mag. Die Psychoblologie Ist nicht etwa bloß für AusgesprochenKranke bestimmt, sie Ist die Lehre für alle, dje mühselig und beladen sind, für alle Schwachmütigen, Ängstlichen, Suchenden, für alle Leidenden, mag man sie schon zu den Kranken oder noch zu den Gesunden rechnen, für alle, die nach weltanschaulicher Klarheit, nach echter Leistungsfähigkeit, nach letzter Wahrheit und Wahrhaftigkeit verlangen. Sie ist die E r l ö s u n g s l e h r e f ü r die G e s u n d e n und die K r a n k e n . Kein Wunder, daß sie von allen zerstörerischen Menschen und ihrer suggestiv irregeführten Gefolgschaft mit den ihnen adäquaten Mitteln der Angst, des Neides, Hasses, der Verleumdung, der Lüge, des Totschwelgens bekämpft wird; kein Wunder auch, daß viele Gutgesinnte die neue Lehre, die ihnen noch fremd erscheint, die sie noch nicht hinreichend kennen, aus Angst vor der Erkenntnis zunächst noch ablehnen. Die Erkenntnistherapie Ist grundsätzlich für jeden Neurotiker geeignet. Ob der Neurotiker im einzelnen sich stellt, d. h. eine erkenntnismäßige Entwicklung erlebt und wieweit er sie erlebt, ist Sache der biologischen Struktur der kranken Persönlichkeit. Nicht wenige haben vor der eigentlichen Genesungsarbeit, vor der Preisgabe ihrer Beschwerden eine noch größere Angst, als sie Hunger nach Genesung haben: sie bleiben innerhalb ihrer kranken Lebenssphäre und kommen ans kranke Ziel, sie gehen von Arzt zu Arzt, von Kurpfuscher zu Kurpfuscher, von Bad zu Bad, sie nehmen ihre Betäubungsmittel usw., aber den Weg zur eigentlichen Heilung finden sie nicht oder können ihn nicht gehen. Andere haben eine so große Angst vor der Genesung, daß sie sich „dem Arzte blindlings anvertrauen", sich sozusagen von ihm tragen lassen, etwa wie ein Tourist sich huckepack vom Bergführer auf den



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Gipfel tragen lassen könnte: diese Art Kranke befinden sich in der Suggestion des blinden Vertrauens, und es ist eine harte Aufgabe, diese Suggestion zu zerstören, die — wie alle Suggestion — mit der Erkenntnistherapie unverträglich ist; den Kranken muß klar werden, daß der Arzt die Arbeit nicht für sie leisten, daß er nicht für sie gesund werden kann, sondern daß sie selber — am Seil des Führers — den Berg erklettern, ihre Genesung selber erringen müssen. Die Erkenntnistherapie Ist keine Hexerei und Zauberei; sie ist aber der Weg zur Heilung: wer ihn, anhand des Führers, Lehrers, geht, hat, soweit er ihn geht, Genesung gewonnen, und wer ihn zu Ende geht, hat die ganze Gesundheit gewonnen. Aber „geschenkt" wird nichts, kann nichts werden: der Kranke muß sich die Gesundheit erwerben, genau so wie er die Reife, die ihm doch auch nicht geschenkt werden kann, erarbeiten muß — gemäß dem Gange seiner Entwicklung. Daß n e u r o t i s c h e E l t e r n und L e h r e r schlechte Erzieher sind, leuchtet ein. Mit der Befreiung von der Neurose Ist natürlich eine Änderung (Normalisierung) des erzieherischen Verhaltens gegeben. Für die häusliche und schulische E r z i e h u n g der K i n d e r hat also die Psychobiologie große Bedeutung. Ältere Kinder sind der Erkenntnistherapie, die sich dem kindlichen Fassungsvermögen technisch anzupassen hat, sehr wohl zugänglich. Greise mit allzu sehr anorganisiertem Gehirn können nichts mehr lernen, sich nicht mehr umstellen, doch kann die Prognose nur von Fall zu Fall entschieden werden; ich habe auch noch bei 60 jährigen gute Erfolge erzielt. Die D a u e r der Erkenntnistherapie ist viel geringer als die der Psychoanalyse. Diese nimmt bekanntlich viele Monate bis zu einem Jahre und mehr in Anspruch und führt zu den oben charakterisierten Erfolgen, die Erkenntnistherapie benötigt im Durchschnitt mehrere Wochen (ca. 8 bei dreimal wöchentlich zweistündigen Besprechungen) und führt zur Heilung im eigentlichen Sinne. Natürlich ist die Entwicklungsgeschwindigkeit der kranken Reflexsysteme in den einzelnen Fällen verschieden; wir sind öfter schon in kürzerer Zeit zum Ziele gekommen, in andern Fällen brauchen wir längere Zeit. Die Entwicklung ist eben eine biologische, und weder Arzt noch Patient kann sie (er wäre denn ein Gott) in ihrem Ablaufe beschleunigen oder hemmen. — Die Methode ist zur gleichzeitigen Behandlung mehrerer Kranker geeignet, nur muß der individuelle Teil des Unterrichts in Einzelbesprechungen erledigt werden. Somit ist die Erkenntnistherapie auch im Gebiete der sozialen Fürsorge ein aussichtsreicher Weg, ja 12



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der einzige, der das Idealziel der sozialen Therapie zu erreichen ermöglicht. Wie der Kranke, so die Behandlung (s. S. 130). So hat jeder Kranke „seinen" Arzt oder „seine" Ärzte — und so hat jeder Arzt „seine" Kranken. Die einzelnen therapeutischen Methoden sind also „notwendig", sind vorhanden, solange es Kranke gibt, die sie erleben. Ich sage also nichts „gegen" die einzelnen Methoden, sondern nur etwas „über" sie. Was die „Psychotherapie" angeht, so bin ich überzeugt, daß sich in absehbarer Zeit die mit der Psychoanalyse und der sog. „Individualpsychologie" verbundene Massensuggestion auflösen und die suggestionsfreie Erkenntnistherapie allgemeine Anerkennung und Anwendung finden wird. Ebenso bin ich überzeugt, daß die Psychobiologie dereinst schon in den Schulen gelehrt werden wird und daß das psychobiologische, das realische Denken die Weltanschauung der Zukunft ist. Skizzierung des Verfahrens. Es sind hier kaum mehr als Andeutungen zu geben. Ausführlichere Darstellungen wird der 4. Band des Lehrbuches bringen. Aber es ist zu bedenken, daß ein einigermaßen vollständiger Bericht über einen einzigen Fall Bände füllen würde; hat man indes das Grundsätzliche der Psychobiologie und der Erkenntnistherapie erfaßt, dann wird es bei hinreichendem Bemühen nicht allzu schwer, die Struktur der einzelnen Neurosenfälle zu durchschauen, wie überhaupt den Menschen in seinem individuellen Gesamt und seinen Individuellen Einzelheiten zu erkennen. Frau X., 35 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, kann nicht ohne Begleitung auf die Straße gehen, und auch in Begleitung hat sie Anwandlungen Von Ohnmacht, besonders beim Uberschreiten belebter Straßen, beim Eintritt in einen Laden, beim Einkauf auf dem Markte usw. Neben diesen Angstsymptomen bestehen noch zahlreiche andere, wir wollen aber hier nur das eine, die Straßenangst herausgreifen. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Kranke sich wie ein Kind verhält: auch das kleine Kind geht nicht allein auf die Straße, sondern begleitet von der Mutter usw., unter Schutz und Aufsicht. Das E r l e b e n des jungen Kindes ist noch nicht so weit entfaltet, daß es die Aufgabe, auf die Straße zu gehen, einzukaufen usw., selbständig lösen könnte. Die Straße wird vom Kinde zunächst als etwas Neues, somit Unheimliches erlebt, die Aufgabe ist zunächst die, aus dem Schutz des elterlichen Hauses



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hinauszugehen, die Schwelle zu überschreiten, die Straße kennen zu lernen, das neue Erleben zu erforschen und so zu bewältigen (wie jede Aufgabe). Das Kind hat zwar Verlangen (Hunger), auf die Straße zu gehen, in diese neue Sphäre überzutreten, diesen Fortschritt zu machen, aber an den Hunger schließt sich die A n g s t an, deren Ausdruck z. B. das Zögern an der Tür, das Anfassen der Mutter usw. ist, so daß es sich in ihrer Obhut befindet. Nunmehr setzt das S c h m e r z s t a d i u m (mit oder ohne aktuelles Schmerzgefühl, s. S. 85) ein: Abschied vom Hause, Überschreitung der Schwelle, Erforschen der Straße, deren Gesamt zunächst unklar, verschwommen ist und sich erst bei häufigem Auftreten zu größerer Klarheit auch der Einzelheiten differenziert; das Kind ringt sich also zunächst im Schutze der Mutter zu einer relativen Bekanntschaft mit der Straße durch. Nun folgt das T r a u e r s t a d i u m des jedesmaligen Erlebnisses „Straße": die Rückkehr ins Haus mit einer gewissen Müdigkeit von der Anstrengung, mit einem gewissen Uberdenken und Besprechen des Erlebnisses, wohl auch mit einer gewissen Reue usw. Der Abschluß ist das F r e u d e s t a d i u m : die Genugtuung, fast wie ein Großer auf der Straße gewesen zu sein, einen so gewaltigen Fortschritt gemacht zu haben, der freudige Bericht etwa an den Vater usw. Die nächste Aufgabe ist nun, allein auf die Straße zu gehen. Sie wird normaliter allmählich bewältigt, nachdem das Kind entwicklungsmäßig die Straße hinreichend kennen gelernt hat, daß es dem Verlangen (Hunger) folgend mit der „gebotenen" Vorsicht (Angst) die Leistung vollbringt und dann heimkehrt, froh des vollbrachten Werkes. Dennoch ist noch lange nicht alles „klar". Des Unheimlichen gibt's gar viel unterwegs, immer Neues, Fremdes, Unbekanntes tritt an das Kind heran und muß bewältigt, kennen gelernt werden. Seinen Erlebnissen entspricht die B e s c h r e i b u n g des Kindes, mag sie in gesprochenen, geschriebenen oder „gedachten" (begrifflichen) Worten bestehen. Der Mensch denkt von klein auf dämonistisch, alle Dinge sind Rätsel, und das Rätselhafte ist eben das Unheimliche, Dämonistische. Das Kennenlernen des Neuen ist immer eine Rätsellösung, aber sie bleibt nicht ohne Rest und führt immer nur zu neuen Rätseln; so ist das Leben eine schier endlose Reihe von Rätseln, Aufgaben, Problemen, Prüfungen. Wie ist das alles zu verstehen, warum ist das so und nicht anders, warum muß man immer Neues in Angriff nehmen, was, warum ist jedes einzelne Ding, das sich aus dem Fluße des Geschehens heraushebt, was, warum ist „ich" und „du", jeder Teil der Welt, die Eltern, 12*



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die andern Menschen, die Tiere, die Pflanzen, die Sachen? Mit diesen wenigen Hinweisen will ich nur andeuten, daß das. Kind sich und seine Welt als Rätsel, Problem erlebt, daß es^vo n k l e i n auf N a t u r f o r s c h e r ist, daß sein Ubergang aus der Majestät des Säuglings, dem „alle" dienen, der seine Welt völlig beherrscht, in die erweiterte Welt des Kleinkindes und daß dann die stetige Reihe der Übergänge in die immer ausgedehnteren Lebenssphären des der Pubertät zuwachsenden Kindes nach dem Schema aller Erlebnisse: Hunger — Angst — Schmerz — Trauer — Freude verlaufen, also derart, daß immer Neues bewältigt, jeder Fortschritt erkämpft wird, die Fragen, die Zweifel, die Deutungen kein Ende nehmen. Von einer gewissen Zeit an stellt sich die deutende Zerlegung in L e i b u n d Seele ein, wenn auch noch nicht so formuliert, wie die Formeln der Erwachsenen lauten, aber doch grundsätzlich gleichsinnig. Vom kleinen Kinde werden alle Dinge, Menschen, Tiere, Pflanzen, Sachen wesensgleich erlebt, das kleine Kind ist der magmatische Mensch wie das Mitglied des primitiven Volkes, Klassifikation im Sinne einer wesentlichen Differenzierung findet noch nicht statt, Menschen, Tiere, Pflanzen, Sachen leben und sterben, der Stein, der zerschlagen wird, stirbt, der Baum, der umgesägt wird, ächzt vor Schmerzen und stirbt, die Pflanze, die gepflückt wird, das Brot, das geschnitten wird, die Kartoffel, die geschält wird, usw. usw. — alles lebt und wird getötet — w a r u m ? Und was ist Leben und Tod, was Lebendes und Totes? Die Mutter „stirbt", indem sie das Zimmer, das Haus verläßt,, und sie ist wieder „da" (lebendig), wann sie wieder erscheint. Beim Einschlafen betet das Kind: „Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm'!" — dann ist es also nachts im Schlafe, im Traume im Himmel — und früh steht es wieder auf? Oder hat Gott es nicht erhört — und warum nicht? Was ist das alles, warum? Das junge Kind mag diese Worte noch nicht haben, aber es erlebt so, daß wir es nicht anders beschreiben können; und die Worte des Kindes haben natürlich kindhaften Sinn, sind kindhaft zu verstehen. Aus, diesen Frühstadien der Erlebnisse entwickelt sich die deutende Zerlegung der Individuen in Leib und Seele — ganz so wie sich aus dem Glauben an die allgemeine, sozusagen diffuse Belebtheit ( A n i m i s m u s ) eine Art Differenzierung als D ä m o n i s m u s entwickelt. (Seinem Wesen nach ist der Animismus natürlich auch Dämonismus, Seelen-, Geisterglaube; er geht in höheren Kulturen über in die Form des Psychologismus und — naturwissenschaftlich — des Kausalismus, des Glaubens-



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an die immanente oder transzendente Ursächlichkeit, mit den Abarten des Konditionalismus und Finalismus; S. 158 Fußn.). Alle Rätsel, alle Probleme, alle Zweifel der Menschen sind Spezialfälle des einen Rätsels, Problems, Zweifels: des LeibSeele-Problems, um dessen Lösung sich die Menschen von Anbeginn vergeblich bemüht haben, bis nunmehr die Psychobiologie dieses erste und letzte, dieses einzige Problem gelöst hat. So ist dem Kinde also auch die „Straße", das Leben auf der Straße usw. rätselhaft, unheimlich, und unerklärlich ist auch die Neugier, der Hunger nach Neuem, die Angst vor dem Neuen, die Tatsache, daß es sich klarer herausstellt, zerlegt, erkannt, bekannt wird usf. Das Unheimliche ist aber eben das dämonisch Erlebte und Gedeutete. Natürlich ist dem Kinde das Wort „Dämonismus" und sein Sinn noch unbekannt, aber sein Erleben und seine Beschreibung (die Gedanken, die es sich über die Dinge macht, und die gewiß reichhaltiger sind, als die hier oft geradezu blinden Erwachsenen annehmen) bewegen sich in einer Denkweise (gemäß der noch relativ gering entwickelten Hirnrinde), die eben als dämonistisch zu bezeichnen ist. Auch in allen späteren Entwicklungsstufen des Menschen bleibt im großen ganzen das dämonistische Denken erhalten, gewinnt aber vielfach feinere, Verdünntere Formen — gegenüber dem rohdämonistischen Denken des Kindes. Erst die Psychobiologie hat das dämonistische Denken zur realischen Erkenntnis, zur biologischen, zweifelfreien Weltanschauung übergeführt. Mit dem Heranwachsen erweitern sich Erlebnisse und Deutungen des Kindes. Der Gesunde übersteht auch die P u b e r t ä t s p e r i o d e mit ihren mannigfachen Prüfungen auf Reife in Beruf und Liebe „geradlinig", in einem harmonischen Gleichmaß der Abläufe, wenn auch mit interkurrenten stürmischen Aufwallungen, Krisen; er erweist sich als echter Held und bleibt auch in den Reifejahren der heldische Mensch. Verharrt dagegen, wie in unserm Beispiele, das Erlebnis der Straße auf der kindlichen Entwicklungshöhe, dann wird die Straße auch in späteren Lebensjahren immer noch ganz ähnlich erlebt, wie sie das Kind erlebte, oder doch setzt sich das Erlebnis „Straße" vorwiegend aus kindähnlichen (infantil istischen) Anteilen zusammen. Dabei ist zu bedenken, daß die kindlichen Denkzellen, deren Aktualitäten die Straße sind, ebenso alt geworden sind wie die übrigen Denkzellen und sich hierbei im Sinne der Hypertrophie verändert haben, daß sich also das Erlebnis „Straße" in dieser Weise von dem des Kindes unterscheidet.



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Auch die kindlichen Deutungen bleiben im Sinne der Hypertrophie erhalten, ausgesponnen zu mehr oder minder weitschweifigen Beschreibungen, die man dann „Motivierungen", hier der Angst nennt, während es sich tatsächlich um Beschreibungen der Angstsituation handelt. Natürlich ist die Entwicklung der Erlebnisse und ihrer Beschreibung auch von vielfältigen Bestätigungen anderer Menschen begleitet: die Mutter warnt vor der Straße, die Zeitungen berichten allerlei Wunder- und Räubergeschichten, man wird auf die Fahrzeuge (Fahren — Gefahr!) aufmerksam gemacht, man sieht den regen Verkehr, das Gewoge der Menschen usw., man wird für die Straße besonders angezogen und zieht sich dann selber „besser" an usw. Die Jahre der Pubertät bringen genische Anteile In das „Straßenbild", und diese helfen die Angst vor der Straße (angeblich) „begründen". So wird die Straße zum Prüfungsorte: ob man schon fähig ist, in Begleitung und dann allein sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, ob man sich richtig, anständig benimmt oder nicht — mit den Folgen des Sieges oder der Niederlage (Blamage usw.); die Straße spielt hier ganz die Rolle wie der heilige Bezirk der Primitiven, wo sich die Pubertätsproben mit ihren Martern vollzogen. So mehrt sich im Falle der Angsthypertrophie die Rätselhaftigkeit, das Unheimliche, Gefährliche der Straße, die Deutungen arbeiten sich auf kindlicher Entwicklungshöhe mehr und mehr aus, sie behalten ihren kindhaften Sinn (man muß nur die Sprache der Nervösen verstehen), sie verflechten sich in mannigfacher Weise mit erwachseneren und erwachsenen Wortreihen und ihren Bedeutungen — so ist beim Nervösen das alles konfliktmäßig, in sich uneins, unharmonisch, Ist die Erlebnisfront entwicklungsmäßig zerklüftet, gebrochen. Die Denkwelse ist allemal die dämonistische: das Rätselhafte impliziert ja eben das Dämonistische, das Unheimliche, Verhängnisvolle ist das Dämonische, es muß doch irgend etwas von der Straße her, auf der Straße wirken, das die Angst einflößt, das sie begründet erscheinen läßt — aber was? In den späteren Jahren der Kindheit schließen sich an primitivere Vorstellungen deutende Ausarbeitungen der menschlichen usw. Zauberkraft an, der Gottesbegriff mit allen seinen Rätseln und Zweifeln tritt auf, zahllose schon präzisere Fragen nach dem Wesen des Ich, der andern Menschen, der Dinge, der Welt stellen sich gemäß der höheren Entwicklung der Hirnrinde ein. Die Pubertät ist ein Entwicklungsschub größten Ausmaßes auch in diesen Zweifeln, die allesamt Vermannig-



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faltigungen des ei ne n Zweifels, der einen Frage sind: des LeibSeele-Problems, des Kausalitätsproblems. Und alle diese Zweifel sind beim Nervösen hypertrophiert, gewuchert und tragen in mannigfacher Verflechtung und Verfilzung mit erwachsenen Formulierungen den kindähnlichen Charakcer, wie im 4. Kap. im einzelnen angegeben. Unsere Kranke erlebt also den Gang auf die Straße wie das Kind, nur hypertrophisch-ängstlich. Sie erinnert sich sehr wohl, auch als Kind schon ängstlich gewesen zu sein, später hat sich aber das Straßenerlebnis ohne große Hemmungen vollzogen, bis dann die Krankheit „manifest" geworden ist, gemäß der funktionellen (leptotischen) Wucherung der kranken Zellsysteme (die lediglich ein biologisches Ereignis ist, nichts weiter, also nicht etwa „von außen", durch ein „Trauma" verursacht ist usw.). Mit Begleitung geht unsere Kranke wie das junge Kind aus, aber Anteile aus älteren Kinderjahren werden auch da aktuell, die Ängste treten auch da, also auch in Begleitung auf und finden ihren reflektorischen Ausdruck z. B. in Kontraktionen von Hirnblutgefäßen mit vorübergehender Ernährungsstörung der Denkzellen, also mit Trübungen des Bewußtseins oder mit aktueller Funktion vorwiegend der Gefühlszellen, so daß die Gegenstände und die Begriffe (auch die „Gedanken") verschwimmen oder schwinden. Die Deutungen können grundsätzlich nur lauten: die Straße ist eine große Gefahr, eine so große, wie groß die Angst ist, und die dem Kranken unlösbare und so wiederum unheimliche Frage ist nun: warum ist das so, worin besteht — von wem droht die Gefahr, die doch — der Größe der Angst nach — nur eine Lebens-(Todes-)Gefahr sein kann, warum habe ich die gewaltige Angst (Spannung, Herzklopfen, Schwindel usw.), was hat sie zu bedeuten usw.? Darauf allerlei Antworten, die, wie im Kap. 4 angeführt, im Sinne der Uber- und der Unterschätzung verlaufen und niemals befriedigen... Die Lösung wird angebahnt mit der Einsicht in den infantilistischen Charakter des Angsterlebnisses, mit der Aufklärung über die entwicklungsbiologischen Sachverhalte, die das Wesen der Angst, der Neurose überhaupt verständlich machen — und zwar im Sinne der realischen Erkenntnis. Wir können also die fiktionale Phraseologie der Suggestion, der Psychoanalyse, der Indivldualpsychologie x ) nicht ge*) Die Suggestion würde (kurz gesagt) etwa lauten: Nehmen Sie sich zusammen, Sie müssen sich beherrschen! oder: Sie werden künftig



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brauchen. Die Deutungen und Deutereien sind nichts welter wie Quellen neuer Zweifel, sie führen nicht zur endgültigen Lösung, zur Erlösung. Wir reden schlicht und einfach von den biologischen Tatsachen, wir verstehen die Neurose — wie alles Geschehen — als biologisches und können alles so verständlich machen. Je mehr die biologische Einsicht wächst, desto mehr läßt die Angst vor, auf der Straße nach .-„die Straße" wird mehr und mehr verstanden, erkannt, wie sie ist, die zurückgebliebenen Anteile des Erlebnisses wachsen in die normale Entwicklungsfront ein, die Aufgabe zeigt sich in ihrer normalen Größe und wird nunmehr bewältigt. Hierbei geht das dämonistische Denken mehr und mehr ins realische über. Mit der Lösung des Leib-Seele-Problems ist die L ö s u n g d e s Z w e i f e l s a l s s o l c h e n gegeben. Diese Lösung wird erreicht mittels der lehrmäßigen Darstellung des Baues und der Funktion des menschlichen Organismus als eines Reflexwesens, also auch des Baues und der Funktion der Hirnrinde als des Organs des Bewußtseins; hierbei beschränke ich mich auf die Grundlinien, spare aber nicht, sofern der Kranke eingehendere Mitteilungen verlangt. So wird dem Kranken die Entstehung des Bewußtseins und damit das Wesen der Dinge bekannt. Es sei wieder betont, daß wir uns hierzu nicht fiktlonaler Ausdeutungen bedienen, sondern allenthalben auf dem Boden der biologischen Tatsachen bleiben. Stets ist die Wißbegier der Kranken groß, und man muß jede Frage beantworten, die darauf abzielt, die Gültigkeit der Lehre zu prüfen; nur mache ich bei einem Übermaß von Fragen (es ist hier nicht die Fragesucht gemeint, s. S. 98) darauf aufmerksam, daß noch so viele Einzelheiten, die vorgebracht werden könnten, immer nur Teilprobleme, Spezialfälle des e i n e n Problems, des Leib-Seele-Problems sind und ganz von selbst sich lösen für den, der in die psychobiologische Lehre eine hinreichende Einsicht gewonnen hat.

keine Angst mehr haben, Sie werden ruhig auf die Straße gehen! Die Psychoanalyse assoziiert: Straße — Straßenmädchen — Verkehr — Geschlechtsverkehr, also hat die Kranke einen Dirnenwunsch gehabt, diesen aber als anstößig verdrängt, und aus der verdrängten Libido hat sich Angst entwickelt. Die Individualpsychologie deutet: die Kranke „arrangiert" (also dolos!) das Symptom, um ihre Überlegenheitstendenz (Überlegenheit über die Familienmitglieder usw., die sie begleiten müssen) zu befriedigen, um „ihr unabänderliches Minderwertigkeitsgefühl in ein Gefühl der Gottähnlichkeit zu verwandeln" (Adler, Theorie u. Praxis d. Ind.-Psych., S. 28) usw.



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Ist d e r Zweifel gelöst, sind es a l l e Zweifel, die doch nur Aufsplitterungen des einen Zweifels sind: des Zweifels am Objekt, am Wesen der Dinge. Ist das Problem als solches gelöst (also die Frage, was ist das Problem und wie ist die endgültige Lösung, beantwortet), sind es alle (weltanschaulichen) Probleme. Es leuchtet wohl ein, daß diese Methode ebenso einfach wie kurz ist. Das bisherige, nämlich dämonistische (motivische, kausale, konditionale, finale oder teleologische) Denken ist bekanntlich überaus kompliziert und komplizierend, die Dinge sind viel einfacher und auch viel einfacher zu beschreiben — man muß nur auf die ewige Deuterei verzichten, und das kann nur, wer die realische, psychobiologische Erkenntnis gewonnen, d. h. erarbeitet hat. Es fällt nicht leicht, auf den „Reichtum" des fiktionalen Denkens zu verzichten und die tatsächliche Einfachheit des Geschehens und seiner Beschreibung anzuerkennen; ist dieser Schritt getan, ist auch die Heilung erreicht. Damit verarmt nicht etwa die Welt, sie verliert nur ihre Rätselhaftigkeit. Was für das eine Symptom gilt, gilt für alle Symptome. Es ist also unnötig, jedes einzelne Symptom zu behandeln. Die erkenntnistherapeutische Aufklärung trifft die gesamte Persönlichkeit. Es werden also einzelne Symptome psychobiologisch aufgelöst, und dabei fallen die andern ganz von selbst in den Genesungsgang. Immerhin braucht das Nachwachsen der kranken Reflexsysteme mit ihren vielfältigen Verknüpfungen mit den (fast) normalen Persönlichkeitsanteilen einige Zeit, aber in den meisten Fällen geht der Entwicklungsprozeß recht rasch von statten, wie sich aus der Einfachheit der Methode eigentlich von selbst ergibt. Ich füge hinzu, daß der nervöse Leser nun nicht glauben darf, das hier kursorisch Mitgeteilte wäre der ganze Stoff und er müsse nach der (gar wohl flüchtigen Lektüre) gesund sein. Einfach ist die Methode, aber so einfach denn doch nicht. Und der ärztliche Leser wird sich sagen, daß ihn das Studium dieser einführenden Broschüre noch nicht zur Ausübung der Erkenntnistherapie qualifiziert. Der Therapeut muß hieb- und sattelfest sein, er darf seine Kranken nicht aus Unwissenheit im Stiche lassen, er darf sich nicht blamieren, und der Kranke hat nichts lieber, als den Doktor zu „besiegen" und so seinen (kranken) Standpunkt gerechtfertigt zu sehen. Blamieren aber kann sich nun der nicht, dem die Psychobiologie in Fleisch und Blut übergegangen ist, der



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reiche Erfahrungen auf allen Lebensgebieten hat und zu diesen seinen Erfahrungen auch die fremden in die realische Weltanschauung einarbeiten kann. So betone ich, daß der Leser, mag er mit meinen Ausführungen einverstanden sein oder nicht, das volle Verständnis erst bekommen kann, indem er die Psychobiologie studiert und im nachprüfenden Studium die Tatsächlichkeit der psychcbiologischen Tatsachen erkennen lernt.

Literaturverzeichnis. (Nur fachwissenschaftliche Veröffentlichungen des Verfassers) Ü b e r P s y c h o a n a l y s e . Leipzig 1924, Ernst Oldenburg Verlag. D i e E n t d e c k u n g d e r S e e l e . Allgemeine Psychobiologie. 1925, 2. Aufl. 1932, Brücke-Verlag, Kirchhain N.-L. K r a n k e n g e s c h i c h t e n in Romanform. 1. Einer Mutter Liebe. 2. Welt und Winkel. 3. Die Hetäre. Leipzig 1925, Ernst Oldenburg. Z a h n k r a n k h e i t e n u n d S i t o p h o b i e . Zahnärztl. Rdsch. 1925, H. 39. Ü b e r d i e p s y c h i s c h e K o m p o n e n t e d e r P a r a d e n t o s e . Dt.Monatsschr. f. Zahnheilkunde 1925, H. 19 (Vortrag gehalten auf der Tagung der Arbeitsgemeinschaft für Paradentosenforschung 4. 6. 1925). Ü b e r d a s r e a l i s c h e D e n k e n in d e r M e d i z i n . Fortschr. d. Med. 1925, H. 24. E r k e n n t n i s t h e r a p i e . Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1926, Bd. 100, H. 4/5. Z u r S y s t e m a t i k u n d z u r P s y c h o t h e r a p i e d e r N e u r o s e n . Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. 1926, Bd. 105, H. 3/5. Erkenntnistherapie, skizziert an einem Falle von Schmerzn e u r o s e . Psychol. u. Med. 1926, Band 2, H. 1. Psychobiologie, eine neue Wissenschaft. Psych.-Neurol. Woch. 1926, H. 27. Über raumzeitliche Desorientiertheit. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1927, Bd. 66. E n t g e g n u n g a u f d e n Dr. S a c h s s c h e n A r t i k e l „ Ü b e r d e n p s y c h o g e n e n F a k t o r bei P a r o d o n t o s e n " (Angriff auf die Psychobiologie). Vierteljahrsschr. f. Zahnheilkunde. 1927, H. 1. A u s d e r P s y c h o b i o l o g i e d e r G e f ü h l e . Psych.-Neurol. Woch. 1927, H. 39. Über Erkenntnistherapie. Psych.-Neurol. Woch. 1928, H. 14. P s y c h o b i o l o g i e d e r O r g a n n e u r o s e . Psych.-Neurol. Woch. 1930, H. 2. P s y c h o a n a l y s e und E r k e n n t n i s t h e r a p i e . Psych.-Neurol. Woch. 1930, H. 21. W i e s t e h t e s u m d i e , , P s y c h o l o g i e " ? Psych.-Neurol. Woch. 1931, H. 11. K r i t i s c h e B e m e r k u n g e n z u r R e f l e x o l o g i e . Psych.-Neurol. Woch. 1931, H. 26. Ü b e r Z w a n g s d e n k e n . Psych.-Neurol. Woch. 1931, H. Z u r P s y c h o b i o l o g i e d e s V e r b r e c h e r s . Arch. f. Kriminol. 1927, Bd. 81, H. 4. Psychobiologische Erziehung der Strafgefangenen. Arch. f. Kriminol. 1928, Bd. 84, H. 2/3. B i o l o g i s c h e P h i l o s o p h i e . Annal. d. Philos. 1926, Bd. 5, H. 9/10. Ü b e r U n s t e r b l i c h k e i t . Annal. d. Philos. 1927, Bd. 6, H. 4. Z u r b i o l o g i s c h e n B e t r a c h t u n g d e r P s y c h e . Pädagog. Stud. 1926, H. 4. P s y c h o b i o l o g i e u n d P ä d a g o g i k . Geisteskultur 1927, H. 3/4. P h o n a s t h e n i e , S p r e c h e n u n d S i n g e n , Monatsschr. d. Dt. Vereins für Stimmbildung (Lehrw. Prof. Engel), 1931, H. 5.

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Das Werk bringt also eine völlig n e u e A n s c h a u u n g . Sie ist zunächst — wie jede neue Anschauung — umstritten. Aber das Spiel der Affekte ergibt kein wissenschaftliches Urteil. Hans Lungwitz ist ein Gelehrter hohen Ranges, er verfügt über ein umfassendes Wissen, große praktische Erfahrung, vorbildlich logisches Denken, besonders auch über die Fähigkeit, die Dinge in ihren Zusammenhängen zu sehen. Demgemäß muß sein Werk g r ü n d l i c h s t und mit w i s s e n s c h a f t l i c h e r U n v o r e i n g e n o m m e n h e i t s t u d i e r t werden; wer es so studiert, wird die lückenlose Geschlossenheit, die Allgemeingültigkeit der Lungwitzschen Lehre erkennen.

Pressestimmen zur Lungwitzschen Lehre. (Die hervorgehobenen Stellen im Original nicht gesperrt.) „Es ist ganz unmöglich, den Inhalt dieses Buches in einem Referat richtig anzudeuten. Man kann die Worte noch so sorgfältig wählen, sie werden dem Leser nicht genau die Gedanken des Verfassers übermitteln. Ein erster Abschnitt zerlegt unsere Vorstellungen dessen, was wir Psyche und psychische Funktionen zu nennen gewöhnt sind, in g a n z neue B e g r i f f e . . . " (Prof. Dr. E. Bleuler, Klin. Woch.) „ . . . Dabei erweist sich Lungwitz als Mann von weiterem Blick. Der negativen Kritik fügt er Positives bei, er konstruiert e i n e n e u e W i s s e n s c h a f t , Psychobiologie genannt, und entwickelt eine e i n f a c h e und k l a r e L i n i e für die Reihenfolge aller psychischen Ausdrucksformen.. ." (Prof. Dr. E. Raimann, Wien. Med. Woch.) „Die Fülle und Neuartigkeit des Dargebotenen... Interessant für den Mediziner..." (Prof. Dr. Fischer, Arch.f.d.ges.Psychol.) „ . . . A l s k o n s e q u e n t d u r c h g e f ü h r t e , tief d u r c h d a c h t e Erkenntnislehre. . ." (Westdeutsche Ärzte-Ztg.) „Verfasser bringt g r u n d s ä t z l i c h n e u e G e d a n k e n . . . das Buch ist sehr i n t e r e s s a n t . . . ein s e h r g e i s t r e i c h e s S y s t e m . . . ich messe dem Dr. Lungwitzschen Buche infolge der N e u a r t i g k e i t seiner Gedankengänge und seinem t i e f e n G e h a l t eine große Bedeutung bei." (Dr. F. Müller, Biol. Heilk.) „ . . . d e r klar sachliche, unbeirrbar logische Gedankenzug, die konzentrierte, fast mathematische Formulierung der Sätze . . . die hier gegebene Lösung des Problems der Kausalität und damit des Problems von Schuld und Sühne, Verantwortlichkeit u s w . . , . Das Buch ist ein Dokument einer u m f a s s e n d e n Menschenk e n n t n i s . . . Wer sich die Mühe nimmt, sich ernsthaft in das Werk zu vertiefen, wird ebenso wie der Referent zu der Überzeugung kommen, daß wir es hier mit einer e i n z i g a r t i g e n L e i s t u n g zu tun haben, und wird den reichen Inhalt dieses Werkes mit großem Gewinn in sich aufnehmen." (Dr. Ambos, Arch. f. Kriminol.)

„Auch dieses Werk dürfte ein Hinweis für die einer Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaft sein und sollte deshalb von allen, die nach dieser urteilen wollen, eingehend studiert werden." (Neues Sächsisches

Notwendigkeit und Theologie Richtung hin Kirchenblatt.)

„Ich empfehle das Werk von Dr. Lungwitz den Kollegen aufs angelegentlichste. Es ist eine L e b e n s a r b e i t , die die Fülle der Erscheinungen wieder einmal von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus zusammenfaßt." (Prof. Schmieder, Pädagog. Stud.) „Mit einer u n e r h ö r t e n S a c h k e n n t n i s in Dingen des menschlich-lebendigen Fühlens, Sehnens und Denkens begründet der V e r f . . . (Bl. f. d. Schulpraxis.) „Verf. wendet sich gegen die moderne wissenschaftliche Psychologie, die bis in die Psychoanalyse hinein das Seelische ,hinter den physischen Phänomenen' immer wieder substantiell h y p o s t a s i e r t . . . In solchem psychobiolögischen Sinne beschreibt Lungwitz Anschauung, Bewußtsein, Denksphären, Denkweisen in steter Auseinandersetzung mit der modernen Psychologie und der ganzen Weite ihrer Sonderprobleme..." (Annalen der Philos.) „ N u r e i n e g a n z ü b e r r a g e n d e B e w u ß t h e i t vermochte die Vielheit der Erscheinungen mit so einheitlichem Verständnis zu durchdringen." (Es werde Licht.) „ . . . i n g e r a d e z u g e n i a l e r W e i s e . . . Die einfache Lektüre kennzeichnet Verf. als Schriftsteller von geradezu s c h ö p f e r i s c h e m S t i l ; er erhebt ihn zum Fachschriftsteller großen Formats. Ein vertieftes Studium seiner Schriften offenbart Lungwitz als s e l b ständigen Denker von stärkster Forschergabe." (Prof. W. Kautzsch, Nat. u. Ges.) , , . . . Der W e l t r u h m d e r K e y s e r l i n g u n d T a g o r e ist vielleicht f ü r ihn nicht u n e r r e i c h b a r . . . " (Dt. Allg. Zeitg.) ,,Eine E n t d e c k u n g v o n g r o ß e r w i s s e n s c h a f t l i c h e r u n d p r a k t i s c h e r T r a g w e i t e . . . Das bisherige Dunkel aller sog. psychischen Vorgänge restlos, aber tatsächlich r e s t l o s a u f geklärt..." (Deutsche Zeitg.) „Die Wichtigkeit einer solchen Erkenntnis kann in der Tat gar nicht überschätzt w e r d e n . . . " (B.-Z. am Mittag.) Dies nur ein kurzer Auszug aus der großen Zahl von

Anerkennungen.

Dr. Hans Lungwitz hat Abhandlungen in der angesehendsten Fachund Tagespresse veröffentlicht, z. B. in Ztschr. f . d. ges. Neurol. u. Psych., Monatsschr. f . Neurol. u. Psych., Psych.-Neurol. Woch., Psychol. u. Medizin, Annal. d. Philos., Arch. f . Kriminol. (Großsches Archiv), Pädagog. Stud., Geisteskultur usw. sowie in führenden Tageszeitungen. Buchdruckerei für fremde Sprachen Max Schmersow, Kirchhain N.-L.