Erich Maria Remarque aus heutiger Sicht: Herausgegeben:Cadeddu, Alice; Dampc-Jarosz, Renata; Junk, Claudia; Meus, Pawel; Schneider, Thomas F.;Mitarbeit:Cadeddu, Alice; Dampc-Jarosz, Renata; Junk, Claudia; Meus, Pawel; Schneider, Thomas F.; Saue 9783847113980, 9783847013983, 9783737013987, 3847113984

50 Jahre nach Erich Maria Remarques Tod werden von der aktuellen Remarque-Forschung auch bislang wenig beachtete Aspekte

237 77 6MB

German Pages 292 [293] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Erich Maria Remarque aus heutiger Sicht: Herausgegeben:Cadeddu, Alice; Dampc-Jarosz, Renata; Junk, Claudia; Meus, Pawel; Schneider, Thomas F.;Mitarbeit:Cadeddu, Alice; Dampc-Jarosz, Renata; Junk, Claudia; Meus, Pawel; Schneider, Thomas F.; Saue
 9783847113980, 9783847013983, 9783737013987, 3847113984

Citation preview

Erich Maria Remarque Jahrbuch / Yearbook XXXI/2021 Herausgegeben von Thomas F. Schneider im Auftrag des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums

Alice Cadeddu / Renata Dampc-Jarosz / Claudia Junk / Paweł Meus / Thomas F. Schneider (Hg.)

Erich Maria Remarque aus heutiger Sicht

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen des Universitätsverlages Osnabrück erscheinen bei V&R unipress. © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Andreas Noßmann: Erich Maria Remarque, 2020. © Andreas Noßmann. Redaktion: Alice Cadeddu, Claudia Junk, Thomas F. Schneider Satz: Thomas F. Schneider Druck und Bindung: CPI books GmbH, Birkstraße 10, D-25917 Leck Printed in the EU. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0940-9181 ISBN 978-3-8471-1398-0 ISBN 978-3-8470-1398-3 (E-Book) ISBN 978-3-7370-1398-7 (V&R eLibrary)

Inhalt Erich Maria Remarque aus heutiger Sicht Vorwort 7 Thomas F. Schneider Selbstbegrenzung und freie Meinungsäußerung Die Interviews mit Erich Maria Remarque und das Selbstverständnis eines globalen Schriftstellers

9

Nina Nowara-Matusik Die Traumbude von Erich Maria Remarque Versuch einer gattungsorientierten Annäherung

35

Paweł Meus Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane Versuch einer vergleichenden Analyse

47

Karsten Dahlmanns Dwinger vs. Remarque

65

Karol Sauerland Zweierlei Erfahrungen Erich Maria Remarque und Wolfgang Borchert

83

Krzysztof Kłosowicz Die militanten Pazifisten Zu den Kriegserzählungen Der Feind von Arnold Zweig und Der Feind von Erich Maria Remarque

93

Oleg E. Pokhalenkov / Elena I. Shevarshinova Peculiarities of Realization of the Concept of the Enemy in the Early Prose of Erich Maria Remarque

105

Renata Dampc-Jarosz »Leichen auf Urlaub« als Grenzfiguren Narrative des Flüchtlings in Erich Maria Remarques Roman Liebe Deinen Nächsten

119

Magdalena Popławska Das Motiv der Einsamkeit in ausgewählten Werken Erich Maria Remarques

133

Simon Hansen Volte gegen das Unrecht Das Spiel in Erich Maria Remarques Flüchtlings-Trilogie Liebe Deinen Nächsten, Arc de Triomphe und Die Nacht von Lissabon

149

Clemens Fuhrbach Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess und als Scheitern der bürgerlichen Gesellschaft an der Moderne im Roman Der schwarze Obelisk von Erich Maria Remarque

165

Maria Kłańska Erinnerung und Vergessen in Erich Maria Remarques Exilroman Die Nacht von Lissabon

183

Uwe Zagratzki Das Amerikabild in Remarques Spätwerk

195

Michał Skop Die Rezeption der Werke von Erich Maria Remarque in der schlesischen Presse seit 1945

209

Alice Cadeddu ›Diabolus ex machina‹ Askold Akishins Comicadaption Eine Chronik militärischer Operationen nach Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues

225

Agnieszka Dreinert-Jakosz Erich Maria Remarque und seine literarische Tätigkeit als Lerngegenstand im modernen Fremdsprachenunterricht

279

Kamil Iwaniak Die Muttersprache im Fremdsprachenunterricht Übersetzen als Mittel zur Förderung der Sprachkenntnisse am Beispiel einer Ausstellung zu Erich Maria Remarque

283

Beiträger:innen und Herausgeber:innen dieses Bandes

291

Erich Maria Remarque aus heutiger Sicht Vorwort

Die internationale Forschung zu Leben und Werk des deutschsprachigen Schriftstellers Erich Maria Remarque hat in den vergangenen Jahren einen grundlegenden Wandel erfahren, wenn nicht einen Paradigmenwechsel. Mit dem Abschluss der kommentierten Neuedition des Romanwerks des Autors im Verlag Kiepenheuer & Witsch im Frühjahr 2020, die im Herbst 2013 mit Im Westen nichts Neues ihren Anfang nahm, liegen nun endlich Ausgaben vor, die sowohl einen zuverlässigen Originaltext bieten als auch eine Kontextualisierung der einzelnen Texte in den jeweiligen biografischen und zeit- und werkgeschichtlichen Hintergrund vornehmen. Auf dieser Basis wurden und werden einzelne Texte und auch ganze Werkgruppen neu gelesen, bewertet und interpretiert. Neben dieser literaturwisenschaftlichen Grundlagenforschung treten zunehmend weiter greifende Aspekte in den Fokus der internationalen Beschäftigung, vor allem die internationale Rezeptionsgeschichte und die verschiedenen Formen der Adaption des Werkes Remarques in unterschiedlichen Medien wie Theater, Film, Musik, bildende Kunst oder Graphic Novel sowie seine Behandlung, Kommentierung und Aneignung in den sozialen Netzwerken. Sind es doch (neben den weltweit kontinuierlich veröffentlichten Neuausgaben, -übersetzungen und Erstausgaben in einzelnen Sprachen) diese Adaptionen und Aneignungen, die Remarque und sein Werk auf einer globalen Ebene diskutieren und an Gegenwartsfragen anschlussfähig zeigen. Eine erste Bestandsaufnahme dieses Phänomens, das Remarque in den Rang einer globalen Kulturikone rückt, leistete 2020 der Band Weltweit Worldwide Remarque,1 dessen Beiträge aus der Perspektive einzelner Kultur- und Sprachkreise

1 Alice Cadeddu, Claudia Junk, Thomas F. Schneider (Hg.). Weltweit Worldwide Remarque. Beiträge zur aktuellen internationalen Rezeption von Erich Maria Remarque. Göttingen: V&R unipress, 2020 (Erich Maria Remarque-Jahrbuch/Yearbook 30/2020).

7

Vorwort

die aktuelle Rezeption Remarques sowohl im klassischen Literaturbetrieb als auch in anderen Medien nachzeichneten und beschrieben. Hinzu traten ebenfalls 2020 mit dem Band Remarque Revisited2 erste Beiträge der internationalen Forschung, die Einzelwerke vor diesem neuen Hintegrund einer erneuten Lektüre und Bewertung unterzogen. Mittlerweile ist durch diese und weitere jüngste Forschungen einerseits deutlich geworden, dass die Remarque-Rezeption in Geschichte und Gegenwart in den unterschiedlichen Kulturkreisen zum Teil höchst unterschiedliche Wege und Formen genommen hat, die in der Summe nicht auf ein homogenes Autorbild hinauslaufen, sondern diverse, von den jeweiligen kulturellen Kontexten stark beeinflusste Autorbilder bieten, die mit ebenso diversen Wertungen und Kanonisierungen im jeweiligen kulturellen Gedächtnis einhergehen. Dem steht nun ein Selbstbild des Autors Remarque zur Seite, das spätestens ab 1929 von dem Willen und der Zielsetzung geprägt war, als globaler Autor aufzutreten und im Sinne humanistischer Werte und einer grundsätzlichen Ablehnung des Krieges literarische Texte zu verfassen, um mit ihnen ein globales Publikum zu erreichen und in seinem Denken zu beeinflussen. Remarque war demnach kein unpolitischer Autor, sondern ein Schriftsteller mit einer klaren – und auch klar in der internationalen Öffentlichkeit kommunizierten – Agenda, die Rückwirkungen auf die Gestalt, die Inhalte und den Veröffentlichungszeitpunkt seiner Werke hatte, die darauf ausgerichtet waren, ein möglichst breites internationales Publikum vorrangig emotional anzusprechen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes Remarque aus heutiger Sicht, die auf eine gleichnamige internationale Tagung im Oktober 2021 am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen) zurückgehen, betrachten und diskutieren das Werk Remarques unter diesem ›neuen‹ Aspekt. Wir hoffen, dass sie vielfältige Anregungen geben und dazu motivieren, Erich Maria Remarque und sein Werk auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod unter veränderten Perspektiven und Vorzeichen neu zu lesen und neu zu entdecken. Die Herausgeber:innen

2 Claudia Junk, Thomas F. Schneider (Hg.). Remarque Revisited. Beiträge zu Erich Maria Remarque und zur Kriegsliteratur. Göttingen: V&R unipress, 2020 (Krieg und Literatur/War and Literature Jahrbuch/Yearbook 26/2020).

8

Thomas F. Schneider

Selbstbegrenzung und freie Meinungsäußerung Die Interviews mit Erich Maria Remarque und das Selbstverständnis eines globalen Schriftstellers1

Ich gebe keine Interviews! (Erich Maria Remarque zugeschrieben in Remarque – sein Weg zum Ruhm. Regie: Hanno Brühl, D 2008)

Adenauer und die Ruhrbarone Im Februar 1958 gab Erich Maria Remarque in seinem New Yorker Apartment der in Rio de Janeiro erscheinenden Tageszeitung Diario de Noticias ein Interview. Remarques Gesprächspartner, der brasilianische Journalist Louis Wiznitzer (1925–1996), der als Korrespondent in New York und Paris für zahlreiche internationale Zeitungen tätig war und später politische Biografien und Bücher verfasste, hatte zuvor Aldous Huxley zu literarischen und politischen Themen befragt. Beide Interviews2 erschienen schließlich am 9. März 1958 gemeinsam unter dem Titel »Huxley e Remarque« im politischen Teil von Diario de Noticias.3 Neben Fragen des Selbstverständnisses des Autors äußerte sich Remarque vor allem zur weltpolitischen Lage und zu seinem Verhältnis zu Nachkriegsdeutschland. Im Westen nichts Neues sei ein »Schrei nach Pazifismus« gewesen, und diese Position habe sich nicht verändert: »[I]ch denke nur, dass die Chancen für den

1 Ohne die Mitarbeit, Recherche, Forschung und Kritik von Alice Cadeddu und Claudia Junk hätte dieser Text nicht geschrieben werden können. Ihnen bin ich zu großem Dank verpflichtet, und ihnen ist dieser Beitrag in Verbundenheit und Freundschaft gewidmet. 2 Über 140 Interviews Remarques sind online in Faksimile, Transkription und Übersetzung verfügbar unter https://www.remarque.de/emr-interviews/ (28.09.2021). 3 Louis Wiznitzer. »Huxley e Remarque«. Diario de Noticias (Rio de Janeiro), 09.03.1958.

9

Thomas F. Schneider

Frieden schwinden; so wie die Welt sich entwickelt, werden wir einen weiteren Krieg haben; was für eine Tragödie…«.4 Die größte Gefahr für den Weltfrieden gehe dabei von Deutschland (West) aus, denn die Deutschen haben sich nicht verändert. Nazis besetzen Schlüsselstellen und Positionen in der Verwaltung, in der Diplomatie. Die Menschen wollten ihre Schuld nicht anerkennen, sie stießen sich ab, verschlossen die Augen vor der Vergangenheit und kehren nun mit Adenauer und den Ruhrbaronen wieder zu den alten Parolen zurück.5

Remarque traue Bundeskanzler Adenauer nicht, denn er arbeite im Sinne der Großindustrie, und er, Remarque, wolle sich mitten im Kalten Krieg auch nicht positionieren oder vereinnahmen lassen: Ich gehöre zu keiner Seite. Ich glaube nicht, dass der Kapitalismus eine Notwendigkeit für die Menschheit ist, und ich glaube auch nicht an das kommunistische System. Ich ziehe es vor, im Westen zu leben, denn, wie mein Freund [Arthur] Koestler sagt, zwischen zwei Übeln ziehe ich das geringere vor; aber die Wahl ist keineswegs zwischen Gut und Böse.6

Diese Aussagen waren und sind nun von einer bemerkenswerten Direktheit und in dieser Form in der Remarque-Forschung bislang vollkommen unberücksichtigt geblieben. Es war zwar bisher bekannt, dass Remarque sich ab Kriegsende zunehmend unzufriedener mit dem speziell deutschen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit gezeigt hatte und dies sowohl in seinen Werken der 1950er Jahre als auch in den vermeintlich wenigen Interviews zum Ausdruck gebracht hatte. Aussagen zur weltpolitischen Lage fehlten jedoch anscheinend völlig. Dies allerdings war ausschließlich einer Fokussierung auf im deutschen Kontext getätigte Aussagen geschuldet, wo bereits im Titel der inhaltliche Rahmen gesteckt wird: »Gespräch mit Remarque bei einem Glase Rotwein« (Welt am

4 Original »apenas acho que as chances a paz diminuem; do jeito que a mundo vai, teremos utra Guerra; que tragédia…«. Sämtliche Übersetzungen stammen von Claudia Junk und Thomas F. Schneider. 5 Original: »Os alemães não mudaram. Nazistas ocupam lugares e posições-chave na administração, na diplomacia. O povo não quis reconhecer a culpa, repeliu, fechou os olhos ao passado e agora novamente com Adenauer e os barões de Ruhr voltam aos antigos slogans.« 6 Original: »Eu não sou de lado nenhum. Eu não acho que o capitalismo »eia uma necessidade para a humanidade nem creio no sistema comunista. Prefiro morar no ocidente, porque, como diz meu amigo Koestler, entre dois males, prefiro o menor; mas a escolha não é entre o bem e o mal, de forma alguma.«

10

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

Sonntag, 1956)7 oder »Remarque – Schmunzel-Poet mit Charme« (Berliner Montags-Echo, 1957).8 Remarques Aussagen in diesen Kontexten konnten getrost vernachlässigt werden. Die Diskrepanz dieser deutschen Äußerungen zu denen im Interview mit ­Louis Wiznitzer ist erheblich, wobei die expliziten Stellungnahmen Remarques dort nicht singulär sind und leicht um Aussagen in Interviews mit dem Algemeen Dagblad (Amsterdam, 1955)9 oder Epoca (Milano, 1955)10 ergänzt werden können: Die gegenwärtige Situation Deutschlands, das mit dem Problem des Krieges konfrontiert ist, ist folgende: Der Kommunismus kann dem Westen nichts antun, weil die Deutschen nicht arm sind, und deshalb ist Deutschland nicht von innen geschwächt. Außerdem ist es notwendig, eine Verteidigung gegen Russland zu haben, und deshalb umwirbt Europa Deutschland. Europa wird eines Tages kommen, wird nach Deutschland gehen und sagen, bitte, hier ist die Armee. Sie wird ihnen auf einem Teller angeboten. Heute kann Deutschland bluffen, es kann sagen, dass es die Armee nicht will, weil es weiß, dass alle ihm Kanonen geben wollen. Das Problem ist, was Deutschland mit den Waffen machen wird…11

Remarque, der in diesem Interview mit Epoca vom Autor Alberto Cavallari als »der pazifistische Schriftsteller ›Nummer eins‹« bezeichnet wird, entsprach in seinen Aussagen demnach genau den mit dieser Klassifizierung verbundenen Erwartungen, während in den nahezu zeitgleichen deutschen Interviews der Weinkenner und Charmeur im Vordergrund stand. Zudem ist zu vermuten, dass Remarque mit seinen Äußerungen für Diario de Noticias oder Epoca, wären sie in Deutschland erschienen, einen Sturm der Entrüstung entfacht hätte. Entsprechende Reaktionen hatte Remarque schon in den

7 Friedrich Luft. »Gespräch mit Remarque bei einem Glase Rotwein«. Welt am Sonntag (Hamburg), 23.09.1956. 8 Bodo Kochanowski. »Remarque-Schmunzel-Poet mit Charme«. Berliner Montags-Echo (Berlin), 14.10.1957. 9 »Kort gesprek med Erich Maria Remarque«. Algemeen Dagblad (Amsterdam), 16.04.1955. 10 Alberto Cavallari. »Anche gli scrittori pacifisti chiederanno di andare in trincea«. Epoca (Milano), 1955, Juni. 11 Original: »La situazione attuale della Germania, di fronte al problema della guerra, è questa: il comunismo non può fra nulla a Ovest perché i tedeschi non sono poveri, e quindi la Germania non è indebolita dall’interno. Inoltre è necessario avere una difesa contro la Russia e quindi l’Europa sta corteggiando la Germania. L’Europa, verrà un giorno, andrà dalla Germania e dirà: prego, ecco l’esercito. Le verrà offerto su un piatto. La Germania, oggi, può anche bluffare, può dire di non volere l’esercito; tanto sa che tutti vogliono darle i cannoni. Il problema è che cosa farà dei cannoni, la Germania…«. Cavallari, 1955.

11

Thomas F. Schneider

Berichten über seine Pressekonferenz vom Ende Januar 1955 geerntet, die er zu seiner Mitarbeit am Hitler-Film Der letzte Akt während seines Besuches in Wien gegeben und in der er sich vergleichbar kritisch zu Deutschland geäußert hatte.12 Der Spiegel zum Beispiel berichtete: Blasiert wie auch sonst räkelte sich Erich Maria Remarque an einem Tag der letzten Januar-Woche auf einem der zierlichen Stühle des Wiener Hotels Sacher und sprach über den neuen Hitlerfilm: »In einer Zeit, wo man nur ein Mitglied des Auswärtigen Amtes werden kann, wenn man einmal in der NSDAP gewesen war, ist der Film doppelt notwendig. Die Gefahr des Neonazismus ist kein dummes Gerede. Wir müssen zeigen, daß Hitler wie eine Ratte im Keller gestorben ist«.13

Anders der Bericht über dasselbe Ereignis im Leipziger Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 12. Februar 1955: Erich Maria Remarque, der Verfasser von Im Westen nichts Neues, hat auf einer Pressekonferenz in Wien auf die beunruhigende Tatsache hingewiesen, daß die Nazis in Westdeutschland wieder hohe Posten innehaben, und erklärt, es müsse etwas geschehen, um die Wiedergeburt des Nazismus zu verhindern. Erich Maria Remarque, der Deutschland nach der Machtergreifung durch Hitler verlassen hatte, hat dieser Erklärung die Mitteilung hinzugefügt, daß ihn seine ernste Besorgnis bezüglich der Rückkehr des Nazismus gedrängt habe, ein Szenarium für den antifaschistischen Film Der letzte Akt zu schreiben, der gegenwärtig in Wien gedreht wird.14

In der internationalen Berichterstattung über das selbe Ereignis wurde der Fokus ohne deutsch-deutsche Befindlichkeiten auf den antifaschistischen Gehalt des Projektes gelegt: Diejenigen, die damals vergessen und nichts gelernt hatten, haben sich seither wahrscheinlich nicht geändert. Wenn auch unser Film sie nicht überzeugen kann, so könnte er doch dazu beitragen, junge und naive Menschen davor zu bewahren,

12 Zum Film Der letzte Akt und zur Rezeption in Deutschland siehe Thomas F. Schneider. »Seid wachsam! Georg Wilhelm Pabsts Der letzte Akt (1955) als pazifistische Positionierung im Kontext des Kalten Krieges«. Christin Niemeyer, Ulrich Pfeil (Hg.). Der deutsche Film im Kalten Krieg. Bruxelles, Bern, Berlin et al.: P.I.E. Peter Lang, 2014 (Deutschland in den internationalen Beziehungen 5), 63–76. 13 »Story von Remarque«. Der Spiegel (Hamburg), 09.02.1955, 34–35. 14 »Erich Maria Remarque: Es muss etwas geschehen«. Börsenblatt für den deutschen Buchhandel (Leipzig), 12.02.1955, 130.

12

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

in die Neonazi-Bewegung hineingezogen zu werden, was leider kein leeres Wort ist. Das ist es, was wir wollen.15

Zuvor hatte er sie in den bundesdeutschen Kritiken zu seinen Romanen Der Funke Leben (1952) und Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954) ablesen können, in denen seine Legitimation, sich zu Deutschland, Nationalsozialismus und deutschen Verbrechen zu äußern, grundsätzlich und mehrheitlich in Frage gestellt worden war.16 Im Ergebnis galt Remarque in der bundesdeutschen Öffentlichkeit weiterhin als »Nestbeschmutzer« und »Vaterlandsverräter«, der die deutsche Geschichte nicht »ruhen« lassen wolle und dessen Rückkehr nach Deutschland unerwünscht sei. Und wie die Beispiele zum Film Der letzte Akt zeigen, wurde jede Äußerung auch auf die deutsch-deutsche Waage gelegt und in diesem Kontext bewertet. Zwei Autorbilder und zwei Sprachgebräuche stehen sich in diesen 1950er Jahren somit recht inkommensurabel gegenüber, die zugleich verschiedenen Rezeptionsräumen zugeordnet werden müssen. Es gab und gibt somit bis in die Selbstdarstellung hinein einen ›deutschen‹ und einen ›internationalen‹ Autor Erich Maria Remarque. Ein globaler Autor Angesichts des großen internationalen Erfolges von Im Westen nichts Neues beschlossen Remarque und sein gerade engagierter Agent Otto Klement im Frühjahr 1929, die internationale Vermarktung und Präsentation des Werkes in die Hände des Autors zurückzulegen.17 In langwierigen und vermutlich auch kompli-

15 Original: »Ceux qui, alors n’avaient rien oublie et rien appris, n’ont sans doute pas changé depuis. Si notre film ne peut pas non plus les convaincre, il pourrait quand même contribuer à empêcher les jeunes et les naïfs de se laisser entrainer dans le mouvement néo-naziste qui, hélas, n’est pas un vain mot. C’est ce que nous désirons.« Olga Obry. »Rencontre avec ErichMaria Remarque«. O.O. (Paris), März 1955. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 8A.11/013. 16 Siehe Thomas F. Schneider. »›Ein ekler Leichenwurm‹. Motive und Rezeption der Schriften Erich Maria Remarques zur nationalsozialistischen Vergangenheit«. In Text + Kritik (2001), 149: Erich Maria Remarque, 42–54. 17 Siehe hierzu ausführlich Alice Cadeddu. »Erich Maria Remarques Der Weg zurück – Eine weltweite Publikationsstrategie«. Thomas F. Schneider (Hg.). Remarque und die Medien. Literatur, Musik, Film, Graphic Novel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018, 45–66; sowie Thomas F. Schneider. »›The kinship of us all‹. Erich Maria Remarque und die USA vor 1933«. Anita Jachimowicz, Karsten Dahlmanns (Hg.). Geliebtes, verfluchtes Amerika. Zu Antiamerikanismus und Amerika-Verehrung im deutschen Sprachraum 1888–1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021 [im Druck].

13

Thomas F. Schneider

zierten Verhandlungen kauften sie die internationalen Rechte an Im Westen nichts Neues und allen folgenden und geplanten Werken vom Ullstein-Konzern zurück, insbesondere die Filmrechte und die Rechte für Vorab- und auszugsweise Drucke. Remarque und Klement verkauften im Sommer 1929 sowohl die Filmrechte von Im Westen nichts Neues an Carl Laemmles Universal Pictures, als auch die serial rights des Romans für die USA an Randolph Hearsts »King Features Syndicate«.18 Obwohl Ullstein die Übersetzungsrechte des Textes bereits vertrieben hatte, was zu Übersetzungen in mehr als 25 Sprachen innerhalb eines Jahres führte, erschien All Quiet on the Western Front ab Juli 1929 in Fortsetzungen in mehr als 100 Tageszeitungen in den USA, die an die King Features assoziiert waren. Damit erreichte der Text auch den letzten Winkel des Landes und weit mehr potentielle Leser, als es die Buchausgabe vom April des Jahres je vermocht hätte. Für den Folgeroman Der Weg zurück entwickelten und realisierten Remarque und Klement gemeinsam mit der United Press Association und deren United Feature Syndicate19 nun eine globale Vermarktungsstrategie, die in einem einheitlichen weltweiten Veröffentlichungsdatum für den Vorabdruck des Textes gipfelte: Ab dem 4. Dezember 1930 erschien Der Weg zurück in 23 Sprachen in mindestens 27 Tageszeitungen von Südamerika bis Ostasien.20 Das Erscheinen des ›neuen‹ Remarque-Romans war somit ein globales Ereignis mit einer vorgeschalteten, ebenfalls globalen Marketingstrategie, die in der deutschen, wenn nicht der globalen Literaturgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt gänzlich unbekannt war. Dieser Vorgang ist deswegen hier bemerkens- und erwähnenswert, weil er eine grundsätzliche Neuorientierung im Selbstverständnis des Autors Erich Maria Remarque markiert. Für Remarque ist der deutsche Buchmarkt nurmehr einer von vielen möglichen, das deutsche Publikum eine unter vielen, kulturell, politisch und historisch varianten Öffentlichkeiten, die alle gleich intensiv adressiert werden müssen. Die deutsche Rezeption steht nicht mehr im Mittelpunkt, sondern ist eingeordnet in eine Vielzahl von potentiell gleichwertigen Rezeptionsräumen. Dies hat unmittelbare Folgen für den Produktionsprozess der Texte und ihre Inhalte, die global verständlich sein müssen und nur bedingt nationale (hier deutsche) Kontexte darstellen können. Damit wird Remarque ab Sommer 1929 auch im Selbstverständnis zu einem globalen Autor, der zwar auf Deutsch schreibt und deutsche Themen behandelt, sie aber einem Weltpublikum vermitteln will. Dieser Autor wird damit auch weltweit verständliche Themen behandeln und nicht auf deutsche Spezialprobleme und Fragestellungen eingehen, die in anderen Kulturräumen, beispielsweise auf anderen Kontinenten, gar nicht realisiert werden können. Und dieser Autor wird

18 Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/King_Features_Syndicate (16.01.2021). 19 Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/United_Feature_Syndicate (16.01.2021). 20 Für eine Liste der beteiligten Periodika siehe Cadeddu, 2018, 66.

14

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

versuchen, sich ein entsprechendes, global verständliches Autorbild zu geben, dem die entsprechenden Attribute zugeordnet werden können. Deutlich wird dies bereits im September 1929 durch ein Interview, das Remarque noch in Berlin gegeben hatte und das über die Associated Press ausschließlich in den USA verbreitet wurde als Ergänzung zum Abdruck von Im Westen nichts Neues in den US-Provinzblättern. Hatte sich Remarque zuvor in den wenigen europäischen Interviews eher zurückhaltend und unpolitisch geäußert, ging er nun in die Offensive und präsentierte sich als Autor mit politischem Anspruch. »Author of War Story Wrote for Peace’s Sake«21 oder »Author of ›All Quiet on the Western Front‹ Says He Yearns For Peace«22 lauteten dementsprechend die Überschriften; mehr noch wurde der globale Aspekt der Aussagen Remarques in den Schlagzeilen betont, wobei der Interviewtext stets gleich blieb: »Remarque Says Book Gives World’s View«23 oder »World Yearning for Peace, Says Erich Remarque«.24 Beginnend mit Der Weg zurück (1930) verfolgte Remarque diese Linie konsequent: Er bestand zukünftig auf einem weitgehend einheitlichen (sofern politisch möglich) globalen Veröffentlichungszeitpunkt seiner Texte, versandte seine Typoskripte als Übersetzungsvorlagen Monate vor dem Erscheinungstermin zeitgleich und parallel an die Übersetzer in die wichtigsten Sprachen,25 und er stand der globalen Presse Rede und Antwort. 21 [Eric Keyser]. »Author of War Story Wrote for Peace’s Sake«. Citizen Sentinel (Ossining/NY), 10.09.1929, 1+3. 22 [Eric Keyser]. »Author of ›All Quiet on the Western Front‹ Says He Yearns For Peace«. Freeport Journal-Standard (Freeport/IL), 12.09.1929, 17. 23 [Eric Keyser]. »Remarque Says Book Gives World’s View«. Evening Sun (Baltimore/MD), 10.09.1929, 10. 24 [Eric Keyser]. »World Yearning for Peace, Says Erich Remarque«. Ames Daily Tribune (Ames/ IA), 10.09.1929, 3. 25 Wodurch sich gravierende, nicht nur logistische Probleme ergaben. So verlor Remarque schlicht den Überblick über die verschiedenen Fassungen seiner Texte und konnte nicht immer eine gleiche Textgestalt der internationalen Ausgaben gewährleisten wie z.B. beim Roman Drei Kameraden 1936. Vgl. Thomas F. Schneider. »›Weder Krieg noch Politik. Schicksale von Menschen, die arbeiten und leben.‹ Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques Drei Kameraden«. Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1366), 573–588; hier 584–585. In den 1950er Jahren ergaben sich zudem juristische Probleme, da das Copyright des US-Staatsbürgers Remarque, der auf Deutsch schrieb, nur gesichert war, wenn die deutsche Ausgabe zeitgleich mit der Übersetzung ins Englische veröffentlicht wurde. Siehe dazu Thomas F. Schneider. »Eine deutsche Geschichte. Zu Erich Maria Remarques Der Funke Leben«. Erich Maria Remarque. Der Funke Leben. Roman. In der Originalfassung mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (KiWi 1567), 586–616; hier 598–599.

15

Thomas F. Schneider

Ein Laternenpfahl in Leiden Die erheblichen Folgen dieses Vorgangs, und wie eng dadurch Privatleben und schriftstellerische Existenz Remarques verknüpft wurden, soll an einer Anekdote verdeutlicht werden: Am 11. Juli 1931 rammte Remarque mit seinem Lancia einen Laternenpfahl auf dem Rijnsburgerweg im niederländischen Leiden. Remarque befand sich inkognito mit seiner Partnerin Brigitte Neuner auf einem Ferienaufenthalt in Noordwijk aan Zee.26 Der Schaden am Laternenpfahl war erheblich, am Auto marginal, Remarque beglich den Schaden am öffentlichen Eigentum direkt und unmittelbar bei den herbeigeeilten Polizisten, die den weltberühmten Autor erkannten und die ›Nachricht‹ an die lokale Presse weitergaben,27 von der aus die Meldung um die Welt ging und inhaltlich zu einem schweren Autounfall mit Verletzungen mutierte. Mit der Anonymität und Urlaubsidylle war es damit für Remarque und seine Begleiterin, die in der Folge für die Öffentlichkeit zu seiner Ehefrau wurde, natürlich vorbei. Nicht nur niederländische Journalisten belagerten das noble »Kurhuis ter Duin«, um Stellungnahmen zu erhalten,28 und Remarque unterstützte schließlich mit einem kurzen Text29 die Abrüstungspetition der niederländischen Presse für die Genfer Abrüstungskonferenz 1932, die wiederum in vermutlich mehr als zwanzig niederländischen Tageszeitungen abgedruckt wurde30 und so sein Bild als pazifistischer Autor zumindest in den Niederlanden nachhaltig verfestigte. Ohne den Kontakt mit dem Leidener Laternenpfahl hätte er die Petition vermutlich nie zur Kenntnis genommen. Remarque war ein Objekt globaler Aufmerksamkeit, und jede seiner Äußerungen und Handlungen hatte potentiell globale Reichweite. In der Folge setzte Remarque dieses Potential bewusst und zielgerichtet ein.

26 Diese Anekdote verdanke ich der Recherche von Alice Cadeddu, siehe Alice Cadeddu. »›Nur jene Politik kann richtig sein, die man für den und nicht gegen den Menschen macht‹. Politische Stellungnahmen Erich Maria Remarques aus den Jahren 1929–1932«. Carl-Heinrich Bösling u.a. (Hg.). Menschenbeben. Ursachen, Formen und Folgen von Flucht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, 105–124. 27 »Erich Marie [sic] Remarque en de Leidsche politie«. Provinciale Geldersche en Nijmeegsche Courant (Nijmegen), 13.07.1931, 1. 28 »Op bezoek bij Erich Maria Remarque«. Het Vaderland (Den Haag), 14.07.1931, 1; »Bij Erich Maria Remarque«. Haarlem’s Dagblad (Haarlem), 15.07.1931, 6; »Erich Remarque te Noordwijk«. Nieuwsblad van hat Noorden (Groningen), 15.07.1931, 1; »Op bezoek bij Erich Maria Remarque«. Utrechtsch Nieuwsblad (Utrecht), 16.07.1931, 3; »Erich Maria Remarque in Noordwijk aan Zee«. Leeurwarder Nieuwsblad (Leeuwarden), 17.07.1931, 3; »Erich Remarque te Noordwijk«. Vlissingsche Courant (Vlissingen), 18.07.1931, 3; und weitere. 29 Abgedruckt bei Cadeddu, 2019, 116. 30 Zuerst in Haarlems Dagblad (Haarlem), 18.07.1931, 1.

16

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

Interviews als Teil des literarischen Werkes Das Genre des Interviews, also die Befragung einer Person öffentlichen Interesses durch Journalisten, wurde in den 1830er Jahren in den USA entwickelt.31 Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein unterschieden sich Interviews fundamental von der heute üblichen Form des Frage-Antwort-Spiels, das zumeist im Vorfeld abgesprochen und im Nachhinein redigiert und autorisiert wird (mit Ausnahme von Live-Interviews in den audiovisuellen Medien).32 Diese Form des Interviews als Dialog war eindeutig in der Minderzahl, es dominierten Interviews, die vorrangig an Portraits der interviewten Person erinnern, in die wörtliche Zitate integriert sind, wobei atmosphärische Beschreibungen der Person, seines Verhaltens, seiner Kleidung, seines Charakters und der Interviewsituation selbst einen substantiellen Raum einnehmen. Den Autor:innen der Interviews ging es also nicht nur um die Stellungnahmen der interviewten Person, sondern auch um eine Charakterisierung, die zusammen mit den externen Informationen zur Biografie und zum Werk einen Kontext für die Aussagen herstellen und die Lektüre und Bewertung der Aussagen für die Leserschaft stark beeinflussen, wenn nicht präformieren. Die Aussagen im Interview sind wechselseitig abhängig von den Interessen der Fragenden und der Befragten; eine Konstellation, die real zumeist im Vorfeld abgeklärt und vereinbart wird. Die Befragten wissen vorab, wem sie gegenübertreten und welches Periodikum und damit welche Zielgruppe der Öffentlichkeit adressiert werden soll. Hierauf werden die Befragten ihre Antworten und Themen ausrichten. Andererseits bringen die Befragenden ebensolche Vorkenntnisse, Zielset-

31 Julia Paschen. Das Interview. Geschichte und rechtliche Aspekte, Rechte und Pflichten des Interviewers und des Interviewten. München: Grin, 2013. https://www.grin.com/document/344582 (02.06.2021). 32 Grundsätzlich ist die Forschung zur Textsorte Interview bislang nicht existent. M.W. existiert weder eine klare Definition noch Abgrenzung zu vergleichbaren Textformen, demnach auch keine Typologie. In der Literaturwissenschaft werden Interviews weitgehend ignoriert oder kontextunabhängig als Steinbruch für Selbstaussagen von Autor:innen verwendet. So auch in der Remarque-Forschung. Ein erstes Verzeichnis habe ich publiziert als Thomas F. Schneider. »Interviews mit Remarque und Berichte von Pressekonferenzen. Eine kommentierte Bibliographie«. Erich Maria Remarque-Jahrbuch/Yearbook 10 (2000), 127–165. Eine inhaltliche Auswertung der Interviews zu Im Westen nichts Neues findet sich in Thomas F. Schneider. Erich Maria Remarques Roman »Im Westen nichts Neues«. Text, Edition, Entstehung, Distribution und Rezeption (1928–1930). Tübingen: Max Niemeyer, 2004, 265–276. Ob Interviews zum Werk eines Autors zu zählen sind, demnach in Werkausgaben integriert werden müssen, ist genauso ungeklärt wie die Zugehörigkeit von Interviews als Para- bzw. Peritexte zu einzelnen Werken. Siehe dazu jüngst Johnny Kondrup. »Text, Werk und Peritext. Überlegungen zur Terminologie und Ontologie«. Editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 34 (2020), 1–10, sowie die weiteren Beiträge zu Detailfragen in diesem Band.

17

Thomas F. Schneider

zungen und Rahmenbedingungen mit in den Interviewtermin, die wesentlichen Einfluss auf den Verlauf und die Inhalte haben. Aus der Wechselwirkung dieser gegenseitigen Abhängigkeiten, die hier nur skizziert werden können, resultieren das Gespräch und seine Inhalte, dessen Endprodukt in dieser zu Remarque Lebzeiten gängigen Interviewform nochmals durch die spätere Bearbeitung durch den Befragenden überformt wird. Dennoch haben alle Beteiligten, Fragende und Befragte, ein gemeinsames Interesse am Gelingen des Gesprächs im Kontext der jeweiligen Zielsetzungen – in diesem Sinne gescheiterte Interviews wären nicht publikationsfähig, wodurch sie sich von Podiumsdiskussionen und Talk-Shows radikal unterscheiden. Kontroversen und Animositäten zwischen den Beteiligten werden sich demnach nicht explizit im gedruckten Interview wiederfinden, sondern sind eher unterschwellig wahrnehmbar. Die Meinung des Befragenden wird möglicherweise in der Kontextualisierung sichtbar, die Meinung des Befragten ausschließlich in den wörtlichen Zitaten. Interviews sind also eine recht komplexe Ausdrucksform, die von zahlreichen Bedingungen stark beeinflusst wird und jeweils einer Kontextualisierung in mehrfacher Hinsicht (Personen, Zeit, Ort, Periodikum, Medium, politischer Kontext) bedarf. Da aber alle Beteiligten um diese Bedingungen wissen, bieten Interviews ein perfektes Mittel, Stellungnahmen für eine breite Öffentlichkeit zu lancieren. Im Fall von Erich Maria Remarque sind Interviews das nahezu einzige Mittel, solche Stellungnahmen außerhalb des Werks zu äußern. Remarques essayistische Aussagen zum Werk und seinen Intentionen in den klassischen Genres wie Essay, Manifest, Pamphlet oder Aufsatz lassen sich an zwei Händen abzählen.33 Nach einer überaus produktiven Phase journalistischen Arbeitens, die in der Publikation von mehreren Hundert Texten ihr Ergebnis fand, konzentrierte er sich ab 1928 fast ausschließlich auf Romane. Aussagen zum schriftstellerischen und politischen Selbstverständnis, zu literarischen und politischen Überzeugungen und Zielsetzungen finden sich daher fast ausschließlich in den Interviews. Aufgrund seiner eigenen, zudem überaus erfolgreichen journalistischen Tätigkeit, die ihn zweimal bis auf die Position des Chefredakteurs brachte, wusste Remarque

33 Zu nennen sind hier der Briefwechsel mit Ian Hamilton (1929), die Texte In the Presence of mine Enemies (1929), Haben meine Bücher eine Tendenz? (1931/32), New Pilgrims (1947), Be Vigilant! (1956), Das Auge ist ein starker Verführer (1957), Frontal durch Krieg und Frieden (1965) und Größere und kleiner Ironien meines Lebens (1966). Zusammen mit einigen Interviews und zu Lebzeiten ungedruckten Texten sind sie gesammelt verfügbar in Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929– 1966. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994. Dort nicht enthalten sind Remarques Stellungnahme zum Armistice-Day für McCall’s Magazine (New York), die u.a. erschien als »Why War Has Lead Us To Plead For Peace«. Evening Journal (Wilmington/DE), 11.11.1929, 10; sowie ein Aufsatz zu Thanksgiving 1947, u.a. als »Refugees Are Modern Pilgrims For This Year’s Thanksgiving«. The Pittsburgh Press (Pittsburgh/PA), 26.11.1947, 13.

18

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

um die Gegebenheiten, Restriktionen und Möglichkeiten im Umgang mit der journalistischen Öffentlichkeit und nutzte sie. Daher sollten diese Interviews zum »Werk« hinzugerechnet werden, zumindest aber können sie nicht unberücksichtigt bleiben. Chronologie Für den Zeitraum April 1929 (kurz nach Erscheinen der Buchausgabe von Im Westen nichts Neues) bis zum Juli 1970 (zwei Monate vor seinem Tod) sind aktuell knapp 170 Interviews Remarques bekannt, die mit Nachdrucken in über 250 Publikationen in mindestens 20 Staaten vorliegen.34 Allein diese Anzahl und die Verbreitung ist bereits beachtenswert, es dürfte jedoch wesentlich mehr Interviews und deren Drucke gegeben haben, da das Auffinden der Interviews unmittelbar von dem Ausmaß und Fortschritt der weltweiten Digitalisierung von Periodika und ihrer Verfügbarkeit online abhängig ist. Die Interviews erschienen vorwiegend in Tageszeitungen, – wobei keine klare Präferenz des Autors für bestimmte Periodika erkennbar ist35 – vielfach auch in Illustrierten und Magazinen für ein breites Publikum, deren Digitalisierung noch in den Anfängen steckt. Remarque sammelte seine Interviews nicht, nur wenige Exemplare finden sich unsystematisch in seinem Nachlass. Das Auffinden der Interviews ist somit von vielen Faktoren abhängig, die wenig beeinflussbar erscheinen, potentiell muss jedes Periodikum in den mehr als 65 Sprachen berücksichtigt werden, in denen Remarques Texte veröffentlicht wurden. Da Remarque stets bestrebt war, ein breites Publikum zu erreichen, und auch vor Zeitschriften wie Constanze,36 Successo37 oder A Cigarra38 keinesfalls zurückschreckte, abgesehen von Provinzzeitungen wie dem Citizen Sentinel (Ossining/

34 Schneider, 2000, verzeichnet lediglich und zum Teil in falscher Zählung 96 Interviews und deren zum Teil auch auszugsweisen Nachdrucke. 35 Allerdings eine klare Präferenz für die Distribution der Interviews über Agenturen wie die Associated Press (AP), die Remarque bereits für das Interview vom September 1929 einschaltete. Ebenso nutzte er das Mittel der Pressekonferenz, um Stellungnahmen global zu streuen. So auch bei seinen zwei Ankünften in New York im März und im September 1939, wo diese Pressekonferenzen noch am Pier stattfanden. Siehe »America’s Responsibility«. Anniston Star (Anniston/AL), 24.03.1939, 4; sowie »Queen Mary Brings 2,331 Here Safely«. New York Times (New York), 05.09.1939, 16. 36 Helmut Jahn. »Ein Leben ohne Frauen ist kein Leben«. Constanze (München), 1963, 24 (11.06.1963), 4–7+78–83. 37 Bonaventuro Caloro. »Paulette e Remarque mi hanno detto All’orecchio«. Successo (Roma), 1962, 2 (Februar), 28–33. 38 Stanley Franck. »Nada de novo?«. A Cigarra (Sao Paolo), 1946, Juni.

19

Thomas F. Schneider

NY)39 oder dem Dél Magyaroszag (Szeged),40 sind Ausschlusskriterien oder die Fokussierung auf ›wichtige‹ oder ›relevante‹ Periodika nicht zielführend. Die bislang bekannten Interviews repräsentieren also einen vorläufigen Zwischenstand, dementsprechendes Revisionspotential besitzen sämtliche Interpretationen und Analyseergebnisse. Dennoch lassen sich Schwerpunkte identifizieren: Gehäuft erfüllte Remarque Interviewbegehren rund um den Publikationszeitpunkt seiner Romane. Dies trifft zu für die zweite Jahreshälfte 1929, wo er zu Im Westen nichts Neues Stellung bezieht; für den Zeitraum Mitte 1930 bis Mitte 1931 in der Vorbereitung der Veröffentlichung von Der Weg zurück bis zum Erscheinen der Buchausgabe des Romans; für die erste Jahreshälfte 1946 vorrangig in den USA im Nachklang der Publikation von Arc de Triomphe und vor allem des Beginns der Nachkriegszeit; sowie schließlich für den Zeitraum Ende 1962 bis Ende 1963 rund um die globale Veröffentlichung von Die Nacht von Lissabon. Diese Zeiträume müssen als vom Autor bewusst und zielgerichtet eingesetzte Maßnahmen zur Promotion der Texte bzw. bestimmter Inhalte identifiziert werden, sie sind Teil von geplanten PR-Kampagnen. Außerhalb dieser Zeiträume sind die Anlässe und Inhalte der Interviews vielfältig und vielfach zufällig, wie das Leidener Beispiel zeigt, oder auch schlicht im Aufenthalt an einem bestimmten Ort wie Wien,41 Paris42 oder Budapest43 begründet. Kaum oder nur sehr wenige Interviews sind bislang für den Zeitraum des Exils ab 1933 bis 1945 bekannt sowie für die Jahre 1958 bis 1961, was aber auch der Recherchesituation geschuldet sein mag. Konstruktiver Patriotismus In den ersten Interviews seiner Schriftstellerkarriere, die 1929 in den Monaten nach dem Erscheinen der deutschen Buchausgabe von Im Westen nichts Neues am 29. Januar veröffentlicht wurden, äußerte sich Remarque zu den Entstehungsumständen und Zielsetzungen des Textes. Remarque präsentierte sich hier als weitgehend unerfahrener und unpolitischer Autor, der einen ihn selbst überraschenden Erfolg und internationale Aufmerksamkeit erzielt habe, obwohl er lediglich seine eigenen Kriegstraumata habe verarbeiten und allgemein menschliche Aspekte des

39 Citizen Sentinel, 1929. 40 György Vér. »Remarque páholyban«. Dél Magyaroszàg (Szeged), 24.05.1936. 41 »Remarque war in Wien«. Wiener Allgemeine Zeitung (Wien), 31.08.1933, 5. 42 Jackie Welcome. »Entre Genève et New York Erich Maria Remarque dit un bonjour tendre à Paris«. Combat (Paris), 30.09.1949, 2. 43 István Hertelendy. »Erich Maria Remarque Budapesten«. Magyaroszág (Budapest), 10.05.1936, 16.

20

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

Krieges habe schildern wollen. Der Text sei abends nach Büroschluss innerhalb weniger Wochen ohne Korrekturen entstanden und habe auf verschlungenen Wegen schließlich den Ullstein-Konzern erreicht, der ihn publizierte.44 Mit diesen Aussagen, die in deutschen und europäischen Interviews identisch waren, bestätigte Remarque weitgehend die Angaben des Marketings für den Text, obwohl sie den realen Ereignissen und Zielsetzungen sowohl Remarques als auch Ullsteins vehement widersprachen,45 die zielgerichtet auf eine Veränderung des gesamtgesellschaftlichen Diskurses über den Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik ausgerichtet waren und damit in den politischen Bereich hineinreichen sollten.46 Bis an sein Lebensende änderte Remarque mit sehr wenigen Ausnahmen nichts an diesen Inhalten, denn in nahezu jedem Interview wurde er auf diesen Themenkomplex angesprochen.47 Die Fehlinformationen waren bereits 1929 untrennbarer Teil des Autorbildes und des Textes Im Westen nichts Neues selbst geworden, und es hätte publizistischen Selbstmord bedeutet, sie grundlegend zu revidieren und richtigzustellen. Für das nächste Romanprojekt Der Weg zurück konnte Remarque nun diese Selbstbegrenzung und dieses Hindernis aufgeben. Im Kontext der oben beschriebenen Neuausrichtung vom Frühjahr/Sommer 1929 zu einem global denkenden und handelnden Schriftsteller wandelte sich der Autor in seinen Selbstaussagen vom unpolitischen Schriftsteller, der vom eigenen Erfolg überrascht und in gewis-

44 Vor allem in Axel Eggebrecht. »Gespräch mit Remarque. Zur Diskussion über ›Im Westen nichts Neues‹. Die Entstehungsgeschichte des Buches. Die inneren Motive. Faktoren des Erfolges. Weiteres Schaffen«. Die literarische Welt (Berlin), 14.06.1929, 1–2; Stefan Napierski. »Rozmowa z Remarque’iem«. Wiedamosci Literackie (Warszawa), 09.06.1929; [Wilhelm Scherp]. »›All Quiet on the Western Front.‹ Why it was written«. Observer (London), 13.10.1929. Alle Interviews wurden mehrfach international nachgedruckt. 45 Womit allgemein die Frage nach der Zuverlässigkeit der Interview-Aussagen Remarques gestellt werden muss. Nachweislich unrichtige Angaben finden sich vor allem in Aussagen zur Biografie. So sind mehrfach gegebene Informationen, er sei in den 1920er Jahren Testfahrer für einen deutschen Automobilhersteller gewesen oder sei mit einem »Zigeunerwagen« durch Deutschland gereist, durch keine anderen Dokumente belegt. Solange jedoch Angaben wie beispielsweise den Zeitraum der Entstehung von Im Westen nichts Neues betreffend – sechs Wochen abends nach Büroschluss – nicht widerlegt sind, müssen sie als zutreffend gewertet werden. Grundsätzlich war Remarque bemüht, zu einzelnen Themenkomplexen und einzelnen Werken nicht widersprüchliche und konsistente Narrative zu verbreiten. 46 Siehe dazu zusammenfassend Thomas F. Schneider. »›Endlich die Wahrheit über den Krieg!‹ Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues als Kulminationspunkt in der Diskussion um den Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik«. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 62 (2015), 1, 87–102. 47 Siehe Schneider, 2004, 276–277.

21

Thomas F. Schneider

ser Hinsicht auch traumatisiert schien (»Herr Remarque shuns literary honor«),48 zu einem explizit politischen Autor, der sein Werk in den Dienst der Völkerverständigung gesetzt sehen wollte. Dies kam bereits in dem oben erwähnten Interview vom September 1929 für den US-Markt zum Ausdruck. Am 10. Mai 1930, also sieben Monate vor dem geplanten Erscheinungstermin von Der Weg zurück, lancierte Remarque dann ein Interview, das wie später der Roman und zuvor schon das September-Interview über die United Press Association weltweit verbreitet wurde.49 Hier fokussierte Remarque auf die Bedeutung des Krieges für die Nachkriegsgesellschaften und auf die Rolle von Literatur für den Erhalt des Friedens: Ich glaube, dass literarische Werke und Romane besonders wertvoll sind, wenn es darum geht, der großartigen Idee des gegenseitigen Verständnisses der Völker zu dienen. Tatsächlich bin ich zutiefst davon überzeugt, dass die Zusammenarbeit zwischen Nationen und das, was ich als ›konstruktiven Patriotismus‹ bezeichnen werde, Ideen sind, denen mehr mit Hilfe der Romane und literarischen Schriften als durch Polemik oder politische Demonstrationen gedient werden kann.50

Indem er direkt auf den im Oktober 1929 verstorbenen deutschen Außenminister Gustav Stresemann verwies, der als Politiker des Ausgleichs zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern auch international bekannt war, hob er seine eigene Literatur aus der unpolitischen Ebene explizit in den Rang eines Mittels politischen Handelns. Und Romane eigneten sich laut Remarque besonders, da sie die Emotionen der Menschen ansprechen und weniger den Intellekt. Hier liege ein Potential, das die meisten Schriftsteller mit wenigen Ausnahmen nicht zu nutzen verständen. Ein populärer Roman ist ein bewundernswertes Mittel, um die große Masse der Menschen zu erreichen, all diejenigen, die schließlich das Gefühl haben, dass wahrer Patriotismus untrennbar mit der Sympathie für die ganze Menschheit und dem pazifistischen Wunsch verbunden ist, ein Verständnis zwischen den Völkern herzu48 Cyrus Brooks. »Herr Remarque shuns literary honors. German soldier who wrote a most vivid war book says he tried only to focus his personal experiences«. New York Times Magazine (New York), 22.09.1929, 7+20; und Wythe Williams. »Remarque to Flee Spotlight’s Glare«. New York Times (New York), 13.10.1929, 60. 49 Bislang sind zwei Drucke ermittelt: »Une suite à l’ouvrage d’Erich Maria Remarque ›A l’ouest rien de nouveau‹«. Le Matin (Paris), 11.05.1930, 1; und »Een onderhoud met E.M. Remarque«. Nieuwe Haarlemsche Courant (Haarlem), 12.05.1930, 1. 50 Original: »Je crois que les oeuvres littéraires, les romans sont particulièrement précieux lorsqu’il s’agit de server la grande idée de l’intercompréhension des peuples. En fait, je suis intimement persuadé que la cooperation entre nations, et ce que j’appellerai le ›patriotism constructif‹, sont des idées qu’on peut server davantage à l’aide du roman et des écrits littéraires que par des polémiques ou des manifestations politiques.«

22

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

stellen. Aus diesem Grund darf ein Buch, das diesen Idealen dienen soll, keine außergewöhnlichen, bestimmten Charaktere oder Helden darstellen, sondern sozusagen synthetisierte Helden, die an der menschlichen Natur im Allgemeinen teilnehmen.51

Mit anderen Worten: Remarque ordnete hier die pazifistische und humanistische Zielsetzung der ästhetischen Qualität eindeutig unter. Literatur steht für ihn im Dienste der Vermittlung und Propagierung der globalen Zielsetzung, die die Bewahrung des Friedens zwischen den Nationen anstrebt. Remarque verkündete im Mai 1930 ein schriftstellerisches und politisches Programm, das sich keiner parteipolitischen Linie anschließt, sondern sie geradezu ausschließt, und zugleich international verstanden werden kann. Zugleich ist es Lichtjahre entfernt vom literarisch unerfahrenen ehemaligen Soldaten, der seine vermeintlich eigenen Kriegserlebnisse verarbeitet.52 Es erteilt zudem nationalistischen und revanchistischen Tendenzen eine mehr als klare Absage und fokussiert auf eine unterschiedlose Gemeinschaft der Völker. Und schließlich verabschiedete sich Remarque von jeglichem Anspruch, seine Texte seien autobiografisch, wenn er explizit auf »synthetisierte«, also durchweg fiktionale »Helden« verweist. Formal ist dieses Interview ein in einen fiktiven Dialog aufgelöstes Manifest. Es dient der Vorankündigung eines zukünftigen Produktes und formuliert die Attribute und Klassifikationen, die mit dem Produkt und seinem Urheber verbunden werden sollen. In den folgenden Monaten rund um die Publikation von Der Weg zurück ab 4. Dezember 1930 wiederholte Remarque in zahlreichen internationalen Interviews diese Position, nun explizit bezogen auf den neuen Text und nicht in der Allgemeingültigkeit des Interviews vom Mai 1930.53 Auffallend ist dabei, dass sich 51 Original: »Un roman populaire, c’est un moyen admirable pour atteindre les grandes masses de people, tous ceux qui, en définitive, sentent bien que le véritable patriotism est inséparable de la sympathie pour l’humanité tout entire et du désir pacifique d’amener une entente entre les peoples. C’est pourquoi un livre destiné à servir cette somme d’idéal doit dépeindre non point des caractères ou des héros exceptionnels, particuliers, mais bien des héros pour ainsi dire synthétisés, qui participant de la nature humaine en general.« 52 So bei Eggebrecht, 1929: »Nicht die Bilder, die Visionen des Erlebten bedrückten mich, sondern der allgemeine Zustand der Leere, der Skepsis, der Unrast. Ich hatte früher nie daran gedacht, einmal über den Krieg zu schreiben. Ich war damals, im Frühjahr vorigen Jahres, mit ganz anderen Arbeiten beschäftigt. Ich war angestellt als Bilderredakteur einer Zeitschrift. Abends mühte ich mich mit mancherlei Dingen. Zum Beispiel machte ich verschiedene Anläufe, ein Stück zu schreiben, kam aber damit nie sehr weit. Ich litt unter ziemlich heftigen Anfallen von Verzweiflung. Bei dem Versuche, sie zu überwinden, suchte ich allmählich ganz bewußt und systematisch nach der Ursache meiner Depressionen. Durch diese absichtliche Analyse kam ich auf mein Kriegserleben zurück.« 53 Z.B. Frédérique Lefèvre. »Une heure avec… Erich Maria Remarque«. Les Nouvelles Littéraires (Paris), 25.10.1930; »El señor Remarque explica cómo concibió la obra«. La Prensa (Buenos

23

Thomas F. Schneider

Remarque auf internationale Periodika konzentrierte. Der Text vom Mai 1930 wurde nach jetzigem Kenntnisstand in Deutschland nicht gedruckt – vermutlich geschuldet der politisierten und andauernden Diskussion um Im Westen nichts Neues und um die bevorstehende Premiere der amerikanischen Verfilmung –, und bis Ende 1931 erschien neben einem Werkstattbericht, verfasst vom Schweizer Literaturpapst Eduard Korrodi in der Neuen Zürcher Zeitung,54 lediglich ein originär deutsches Interview in den Altonaer Nachrichten. Aber auch dort hob Remarque die Internationalität seines Anliegens hervor. Der neue Roman Der Weg zurück habe zwar keine (partei-)politische »Tendenz«, aber: Die Handlung spielt selbstverständlich vor einem deutschen Hintergrunde, doch glaube ich, daß der Leser jedes Landes, das vom Kriege beeinflußt worden ist – und welches Land wurde das nicht? – zu den Gestalten und Umständen, mit denen sich mein Buch befaßt, zahlreiche Analogien aus seinem eigenen Lande finden wird.55

Mit den knapp 20 Interviews des Jahres 1930/31 hatte Remarque sich selbst als internationaler Autor positioniert, der mit seinen Texten einen konkreten, weltweit relevanten Aspekt in den Fokus rücken wollte: Die Internationalität menschlicher Kriegs- und speziell Nachkriegserfahrungen, die Grundlage einer ebenso internationalen, Nationalismen überwindenden Völkerverständigung sein sollten, um zukünftig Kriege zu verhindern. Mit den Maßnahmen der Jahre 1930 und 1931 waren Remarque und die koordinierenden Instanzen im Hintergrund, der Agent Otto Klement und die Agentur United Press Association, insofern erfolgreich, als es ihnen gelang, dieses neue Autorbild weltweit zu etablieren, nicht zuletzt auch weil der Text Der Weg zurück, der einem Weltpublikum in einer konzertierten Aktion vermittelt wurde, diesen Anspruch bestätigte. Ein Anspruch, der sich in den Schlagworten: Internationalität, Pazifismus und Empathie zusammenfassen lässt. Zugleich konnte zukünftig auf dieses in der internationalen Öffentlichkeit etablierte Autorbild, das stets auch auf Im Westen nichts Neues rückprojiziert wurde, aufgebaut werden. Es musste zukünftig weder wiederholt, noch erläutert werden, da es untrennbar mit der Person des Schriftstellers Remarque verbunden war. Aires), 27.10.1930; Jacques Brissac. »Une conversation avec Remarque«. Paris-midi (Paris), 30.10.1930, 2; »La nueva novela del autor de ›Sin novedad en el frente‹. Una conversación con Erich Maria Remarque«. ABC (Madrid), 18.11.1930, 5; »Erich Maria Remarque over zichzelf«. De Standaard (Brussel), Dezember 1930; W. Duesberg. »Une conversation... téléphonique avec Remarque. Confidences d’écrivain«. Tribune de Genève (Genf), 17.12.1930; und weitere. 54 E[duard] K[orrodi]. »Begegnung mit Remarque«. Neue Zürcher Zeitung (Zürich), 03.03.1931, Abendausgabe, 6. 55 »Remarques neues Buch«. Altonaer Nachrichten (Hamburg-Altona), 22.10.1930.

24

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

Im deutschen Kontext war von dieser doch radikalen Veränderung wenig wahrgenommen worden, da sie überlagert wurde von den Kontroversen um Buch und Film Im Westen nichts Neues. Der Weg zurück wurde als zu vernachlässigender Folgeroman wahrgenommen, als Abklatsch des unpolitischen Erfolgsbuches. Nur so ist erklärlich, dass selbst Koryphäen der Friedens- und Demokratiebewegung wie Kurt Tucholsky 1931 oder Carl von Ossietzky noch 1932 Remarque fälschlicherweise öffentlich vorwarfen, er habe sich im Streit um seine Person und sein Werk politisch nicht positioniert.56 Und da diese Persönlichkeiten in vielfacher Hinsicht zurecht als Meinungsbildner betrachtet wurden und werden, sind ihre Positionen in deutschen publizistischen und wissenschaftlichen Kontexten nie auf ihre Richtigkeit hin befragt worden, sondern werden bis in die Gegenwart hinein weiter perpetuiert. Für die Remarque-Forschung sind die Folgen dieses neuen und ersten Blickes auf die Interviews fundamental. Remarque kann nun nicht mehr als unpolitischer Erfolgsschriftsteller und Ein-Buch-Autor klassifiziert werden, wenn hinter den Texten ein schriftstellerisches und politisches Programm steht, das der Gestalt der Texte vorgeschaltet ist. Fragen der literarischen Qualität erübrigen sich, wenn die Ästhetik der Texte bestimmt wird von dem Autorwillen, ein breites und vor allem internationales Publikum vorrangig emotional von einer Position zu überzeugen. Zu fragen und zu bewerten ist nunmehr, auf welche Art und Weise und mit welchen literarischen Mitteln der Autor Remarque versuchte, dieses Programm und diese Zielsetzung in seinen Texten zu realisieren, und ob er damit erfolgreich war – und zwar bezogen auf ein globales und nicht auf ein nationales und schon gar nicht auf ein deutsches Publikum. Schweigen im Exil Mit dem Erstarken der faschistischen Bewegungen in Europa und letztlich mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges musste dieses Programm in Remarques Augen als gescheitert angesehen werden. Zwar versuchte er noch, mit dem Roman Liebe Deinen Nächsten sein Weltpublikum über die Situation und Notlagen der europäischen Flüchtlinge zu informieren und es dafür zu interessieren, um diese Situation zu verbessern, scheiterte aber auch hier an der Dynamik der politischen 56 Carl von Ossietzky. »Der Fall Remarque«. Die Weltbühne (Berlin), 12.04.1932, 548–550; Ignaz Wrobel [Kurt Tucholsky]. »Der neue Remarque«. Die Weltbühne (Berlin), 19.05.1931, 731–732. 57 Siehe Thomas F. Schneider. »Strandgut. Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques Liebe Deinen Nächsten«. Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1575), 528–552.

25

Thomas F. Schneider

Ereignisse.57 Als Liebe Deinen Nächsten schließlich im Herbst 1939 in Fortsetzungen als Flotsam in Collier’s Magazine in den USA erschien – begleitet von einem umfangreichen Interview58 –, waren die im Text geschilderten Ereignisse und Bedingungen bereits historisch geworden. Gleiches musste die Crew der Verfilmung So Ends Our Night (Regie John Cromwell) von 1940 erfahren, die noch versuchten, die in der Vorkriegszeit angesiedelte Filmhandlung als beispielgebend auch für die Kriegszeit umzudeuten.59 Buch und Film floppten, da sie für Kritik und Publikum aus der Zeit gefallen schienen. Remarque zog daraus eine radikale Konsequenz: Er verstummte. In seinem Tagebuch finden sich mehrfach Begründungen für dieses Schweigen. Remarque war während des Zweiten Weltkrieges der Überzeugung, dass er als Schriftsteller keinen Beitrag zum Kampf gegen die Barbarei leisten könne, sondern sich »bereithalten« müsse für die unmittelbare Nachkriegszeit, um gemäß seines 1930 formulierten Programms in der Öffentlichkeit tätig werden zu können. Im Nachkrieg sei es Aufgabe des Schriftstellers über die Ursachen und Ereignisse des Krieges zu informieren, um eine Wiederholung zu vermeiden und eine friedliche Nachkriegsordnung zu etablieren. Das Ende dieses Krieges wird einen gewaltigen Aufschwung der Literatur bringen. Politische Literatur. Stärker noch als die russische nach der Revolution. Man wird die Kräfte, das Gefühl, den Sturm aufwärts fassen wollen. Politische Dramen. […] Jetzt schon outlinen. Bereit sein dafür. Wer sich noch nicht aufgegeben hat, ausgeschrieben hat, kann noch dabei sein. Selbst als Refugee. Der Außenseiter war. Wenn er nur genug gefühlt u. wenig genug geredet hat.60

In diese Konzeption inbegriffen sind dann Überlegungen zur Rolle Deutschlands in dieser Nachkriegsordnung und speziell die Frage, wie Deutschland und die deutsche Bevölkerung zur Demokratie »erzogen« werden können, um als Kriegsverursacher im Rahmen einer langen militaristischen Tradition zukünftig ausgeschaltet werden zu können. »Geh weiter, Soldat. Trotzdem«, lautet dazu im Tagebuch die mehrfach wiederholte Selbstaufforderung, die psychischen Probleme dieser Selbstbegrenzung zu verarbeiten.61 58 Kyle Crichton. »My Heart is in the Homeland«. Collier’s Magazine (Springfield/OH), 01.07.1939, 24–25. 59 Siehe Jan-Christopher Horak. »Ewig auf der Flucht. Die Romanverfilmung So Ends Our Night«. Thomas F. Schneider (Hg.). Das Auge ist ein starker Verführer. Erich Maria Remarque und der Film. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 1998, 201–214. 60 Tagebuch Remarques, Eintrag Beverly Hills, 09.06.1942. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B. 61 Tagebuch Remarques, Eintrag Beverly Hills, 19.08.1942. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

26

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

Konsequent arbeitete Remarque während des Krieges im Hinblick auf diese zukünftige eigene Rolle an gleich drei Romanen: Arc de Triomphe, Der Funke Leben und Zeit zu leben und Zeit zu sterben.62 Und für den amerikanischen Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS) formulierte er im September 1944 eine Denkschrift mit dem Titel Practical Educational Work in Germany after the War, in der er diese Überzeugungen zusammenfasste und um konkrete Handlungsanweisungen für eine »Re-education« der Deutschen ergänzte.63 An den zum Teil heftigen und öffentlich ausgetragenen Kontroversen anderer Emigrant:innen im Hinblick auf diese Problematik und auf die eigene Rolle im besiegten Deutschland beteiligte er sich dagegen – ebenso konsequent – nicht.64 Lediglich ein Interview Remarques ist aus dem Zeitraum September 1939 bis Mai 1945 bislang bekannt, das im Umfeld der Arbeiten an der Denkschrift entstand und am 7. Dezember 1943 in der in Rio de Janeiro erscheinenden Tageszeitung A Noite auf Seite 1 angekündigt und auf Seite 7 veröffentlicht wurde.65 Das Interview, das ohne Verfasserangabe gedruckt wurde, ist ein rein politisches Interview, literarische Fragen werden nur am äußersten Rande thematisiert; ein klarer Hinweis auf den Stellenwert und die Relevanz, die der Interviewer Remarque zuschreibt. Und so geht es unter der Überschrift »Wer wird das zukünftige Staatsoberhaupt von Deutschland sein?« zunächst um die Rolle des ehemaligen Reichskanzlers Hermann Brüning im Nachkriegsdeutschland. Remarque wirft ihm »totales« Versagen als Staatsmann vor, er komme daher für eine Führungsposition nicht in Betracht, und geht dann über auf das allgemeine Versagen der europäischen Politik, die mit dem Eintritt in einen Krieg gegen NS-Deutschland viel zu lange gewartet habe und damit mitverantwortlich sei: Der jetzige Krieg hätte an dem Tag beginnen sollen, an dem Adolf Hitler die militärische Besetzung des Saarlandes befahl und sich damit schamlos und ostentativ über den Versailler Vertrag hinwegsetzte. Hätte er an diesem Tag begonnen, wäre er wenige Monate später mit der vollständigen Ausrottung des Nationalsozialismus zu Ende gegangen, da sich innerhalb Deutschlands noch politische Organisationen

62 Siehe Thomas F. Schneider. »›Wer wirklich verloren ist, spricht nicht mehr‹. Zu Erich Maria Remarques Arc de Triomphe«. Erich Maria Remarque. Arc de Triomphe. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1576), 669–692. 63 Abgedruckt in Schneider, 1994, 66–83. 64 Siehe Helga Schreckenberger. »Prevent World War III. Emil Ludwigs publizistische Aktivitäten im Exil«. Thomas F. Schneider (Hg.). Emil Ludwig. Hannover: Wehrhahn, 2016 (NonFiktion 2016, 1–2), 185–208; sowie älter die Beiträge in Thomas Koebner, Gert Sautermeister, Sigrid Schneider (Hg.). Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939–1949. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1987. 65 »Quem sera’o future dirigente Alemanha«. A Noite (Rio de Janeiro), 07.10.1943, 7.

27

Thomas F. Schneider

fanden, die in Opposition zum Nationalsozialismus standen und sich leicht neu formieren konnten, um die germanische Beute zu übernehmen.66

Aber in der Nachkriegszeit müsse alles getan werden, um eine vergleichbare Situation und vergleichbares Versagen zu verhindern, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Denn jetzt ist die Rede von einer neuen internationalen Organisation, die den Frieden und die Sicherheit der Welt bewahren soll. Aber diese internationale Organisation, – die im Prinzip eine schöne Idee ist, – wird nur dann wirksam und operativ sein, wenn die Nationen, die sie bilden, davon überzeugt sind, dass sie angesichts der gemeinsamen Gefahr in vollkommener Einheit handeln müssen. Andernfalls werden wir statt eines echten und effizienten Völkerbundes eine Wiederholung des letzteren haben, eine Wiederholung der Misserfolge von Genf.67

Die Führung Deutschlands müsse zukünftig in die Hände des organisierten deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus gelegt werden, eine Kontinuität des Führungspersonals der Vorkriegszeit sei zu vermeiden. Die Emigranten, also auch Remarque selbst, hätten den Kontakt zu Deutschland und den Deutschen verloren und seien daher ebenfalls nicht geeignet. Remarque positionierte sich damit eindeutig politisch, auch im Hinblick auf die eigene Rolle, der Fokus seiner Überlegungen lag auf der Vor- und der Nachkriegszeit, auf Ursachen und Folgen, und nicht auf dem Hier und Jetzt. Insofern spiegeln sich in diesem bemerkenswerten Interview die im Tagebuch formulierten Überzeugungen, Selbstbeschreibungen und Selbstbegrenzungen. Der Rest war Schweigen bis Kriegsende.68 66 Original: »A presente guerra devia ter começado no dia em que Adolf Hitler ordenou a ocupação militar do Sarre, desrespeitando o tratado de Versalhes acintosa e ostensivamente. Se tivesse começado nessa data, teria terminado alguns meses depois, com o extermínio completo do nazismo, encontrando dentro da Alemanha ainda organizações politicas em oposição ao nazismo, capazes de serem facilmente rearticuladas, para assumir o espólio germânico.« 67 Original: »Agora, – acrescenta Erich Maria Remarque, – fala-se de uma nova organização internacional, para preservar a pez e a segurança do mundo. Mas essa organização international, – que é, em princípio uma bela idéia, – só será efetiva e operante se as nações que a constituirem se convencerem de que devem agir em perfeita união diante do perigo comum. Do contrário, em vez de uma verdadeira e eficiente Liga das Nações, teremos uma repitição da última, uma repetição das falências de Genebra.« 68 Mit Ausnahme einer kurzen Stellungnahme zur Ausstellung und Bedeutung seiner Kunstsammlung in den Knoedler Galleries, New York, im Herbst 1943: »Collector«. New Yorker (New York), 06.11.1943, 19–20. 69 »1918«. New Yorker (New York), 12.05.1945, 17–18.

28

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

How to Check the Germans In der ersten Ausgabe des New Yorker nach dem Kriegsende in Europa erschien am 12. Mai 1945 in der Rubrik »Talk of the Town« ein kurzer Bericht über ein Gespräch mit Remarque.69 Der Autor berichtete dort über seine persönlichen Erfahrungen zum Kriegsende des Ersten Weltkrieges im November 1918, wobei er auf die Kontinuitäten des Militarismus hinwies und die Geschwindigkeit betonte, mit der die Niederlage in einen Sieg umgemünzt worden sei. »Die ganze verdammte Sache fing wieder von vorn an, vor meinen Augen in meiner Heimatstadt, während der Waffenstillstand noch eine Neuigkeit war,« sagte Remarque, offensichtlich noch immer entsetzt. »Sechs Wochen später war ich in Berlin im Hotel Eden. In der Lobby dort saßen einige meiner alten Offiziere, und auf ihren Uniformjacken waren wieder die Epauletten, die man ihnen abgerissen hatte. Schon sehr bald schrieben selbst die kleinen Ex-Leutnants – zur Erinnerung: Reserveoffiziere – ihren alten Rang in der Wehrmacht auf ihre Visitenkarten.«70

Für die zeitgenössischen Leser:innen muss die Parallelisierung zum Kriegsende 1945 mehr als offensichtlich gewesen sein. Mit der Erinnerung an 1918 verwies er auf die Möglichkeiten und Gefahren der aktuellen Situation, verbunden mit dem zwar nicht ausgesprochenen, aber implizierten Appell, eine solche Wiederholung zu verhindern. Im Rahmen des bereits etablierten Autorbildes, als verfolgter und exilierter Antifaschist sowie dem expliziten Hinweis, Remarque bemühe sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft, war jene Legitimation gegeben, die den Autor zum glaubwürdigen Experten für Deutschlandfragen machte. In den folgenden Monaten setzte Remarque seinen während des Exils gefassten Entschluss, mit Kriegsende »bereit« zu sein, in die Tat um. Nach knapp sechs Jahren des Schweigens trat der Autor zurück in die Öffentlichkeit: Von September bis Oktober 1945 erschien der Roman Arc de Triomphe in Collier’s Magazine, die Buchausgabe folgte im Dezember, und bis Jahresende 1946 begleitete Remarque die Veröffentlichung mit mindestens 15 Interviews in Zeitungen und Zeitschriften der USA und Südamerikas, die teilweise in Europa nachgedruckt wurden.71 70 Original: »›The whole damn business was starting all over again, right there in my home town, while the armistice was still news,‹ Remarque said, plainly still appalled. ›Six weeks later I was in Berlin, at the Eden Hotel. There in the lobby were some of my old officers, and there on their tunics were the epaulettes that had been ripped off. Pretty soon even the little ex-lieutenants – reserve officers, mind you – were putting their old rank in the Wehrmacht on their calling cards.‹« 71 Z.B. Robert Van Gelder. »Erich Maria Remarque Lays Down Some Rules For the Novelist«. New York Times Book Review (New York), 27.01.1946, 3; Mary Braggiotti. »The Problem: His

29

Thomas F. Schneider

Besondere Bedeutung kommt im Hinblick auf die Streuung dabei dem Interview mit Trudi McCullough zu (»Bring Their War Guilt Home to the Germans«), das erneut über die Associated Press verbreitet wurde und zuerst am 3. Februar in einer Provinzzeitung in Kentucky erschien.72 Es folgten bis März weitere Drucke in mindestens 19 Zeitungen landesweit;73 somit verfolgte Remarque hier zielgerichtet erneut eine Strategie, die bereits im September 1929 erfolgreich gewesen war. Seine Aussagen folgten einer gemeinsamen Linie: Im Nachkriegsdeutschland müsse eine Kontinuität der deutschen militaristischen Tradition unbedingt von den Alliierten verhindert werden, die deutsche und die internationale Öffentlichkeit müsse über die Ursachen, die Handlungen und die Verbrechen des Nationalsozialismus umfassend aufgeklärt werden, Literatur müsse in diese Aufklärungsarbeit eingebunden werden, er, Remarque selbst, werde an diesen Maßnahmen teilnehmen, sowohl mit dem gerade erschienenen Roman Arc de Triomphe als auch mit weiteren, in Arbeit befindlichen Texten, unter anderem einem Roman über ein deutsches Konzentrationslager. Die übergeordnete Zielsetzung sei, eine Wiederholung der gerade vergangenen Ereignisse zukünftig zu verhindern. Die Welt kann kein Risiko mehr eingehen, sagt er, und hofft, dass die alliierten Diplomaten das erkennen. »Der Schlüssel liegt in der Aufklärung, aber wir können nicht erwarten, dass wir auf die Schnelle positive Ergebnisse erzielen. Man kann nicht erwarten, dass man über Nacht 12 Jahre gnadenloser, heimtückischer, immerwährender Propaganda auslöscht, die auf Millionen gerichtet ist.«74

Next Book«. New York Post (New York), 07.02.1946; Charles Norman. »Dear Joe«. PM Daily (New York), 17.02.1946, 6; Henry Hammond. »How to Check the Germans«. Philadelphia Inquirer (Philadelphia), 31.03.1946, 6; Alice Dixon Bond. »Erich Maria Remarque Devotee of Beautiful«. Boston Herold (Boston), 21.04.1946; Franck, 1946; Maurice Feldman. »Reeducaçao dos Alemaes«. Correia da Manha (Rio de Janeiro), 19.10.1946; und weitere. 72 Trudi McCullough. »German Author Says Bring War Guilt Home To Nazis Or They Will Plan Another War«. Messenger-Inquirer (Owensboro/KY), 03.02.1946, 18. 73 U.a.: Trudi McCollough. »Erich Maria Remarque says... ›Bring Their War Guilt Home to the Germans‹«. Denver Post (Denver/CO), 10.02.1946, 1+3; [Trudi McCollough]. »›Watch Nazis,‹ Remarque warns«. Sunday Tribune (Minneapolis/MN), 10.02.1946, 8; Trudi McCollough. »Remarque Report Says Nazi War Guilt Must Be Impressed On German People«. The Tennessean (Nashville/TN), 10.02.1946, 8; Trudi McCollough. »›All Quiet‹ Author Warns to Speak Out to Show Hitler Started Conflict«. Fort Worth Star-Telegram (Fort Worth/TX), 11.02.1946, 8; Trudi McCollough. »Author Advises That Germans Be Convinced of Their War Guilt«. Sioux City Journal (Sioux City/IA), 24.02.1946, 21. 74 Hammond, 1946. Original: »The world can take no more chances, he says, and hopes Allied diplomats realize it. While the key is education, we cannot expect favorable results in a hurry. You cannot expect to wipe out overnight 12 years of merciless, insidious, perpetuallypounding propaganda directed at millions.«

30

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

Und mit einer Erweiterung über den deutschen Bezug hinaus: »[D]as deutsche Volk und jedes Volk, das eine Philosophie des Hasses pflegt, muss lernen, dass es immer in der Unterzahl sein wird!«75 Remarque positionierte sich derart als politischer Schriftsteller, der seine Arbeit in den Dienst einer zentralen globalen Aufgabe stellt, womit er direkt an die Grundzüge des 1930 propagierten eigenen Autorbildes anknüpfte. In diesem Sinne sollten seine Texte gelesen und wollte er sie verstanden wissen. Aus einer globalen Perspektive wurde der Roman Arc de Triomphe ein vergleichbarer Erfolg wie Im Westen nichts Neues. In den USA (erst 1946 erschien der Text auf Deutsch in einem kleinen Schweizer Verlag) erreichte der Roman eine Millionenauflage, wurde noch 1945 Hauptvorschlagsband des wichtigsten Buchclubs Book-of-the-Month-Club, bis 1948 folgten Übersetzungen in 23 Sprachen. Ebenfalls 1945 wurde Arc de Triomphe in das Sortiment der US-Army aufgenommen;76 so betrat der exilierte Schriftsteller Erich Maria Remarque in Buchform und in den Taschen der amerikanischen Besatzungssoldaten nach mehr als 12 Jahren Abwesenheit wieder deutschen Boden. …wenn man es so nennen will Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr von dieser erneuten Positionierung Remarques als politischer Autor nahezu nichts. Eine über die Nachrichtenagentur ONA verbreitete Meldung zu Remarques Position war nur den Hessischen Nachrichten (Kassel) am 19. November 1947 eine kleine Meldung wert, in der Remarque wie folgt zitiert wurde: Ich bin der Ansicht, daß man nicht alle Deutschen als Nazis ansehen darf. Die Deutschen müßten von sich aus zu einem Gefühl der Mitverantwortlichkeit für die in den von ihnen besetzten Gebieten verübten Grausamkeiten und für den Mord an sechs Millionen Juden kommen.77

Im Nachkriegsdeutschland erschien Remarque, so denn diese Meldung überhaupt wahrgenommen worden war, als Gegner der Entnazifizierung und der Kollek75 Original: »[T]he German people and any people who foster a philosophy of hate must learn that they always will be outnumbered!« 76 Erich Maria Remarque. Arch of Triumph. Translated by Walter Sorell and Denver Lindley. New York: Editions for the Armed Services, 1945. 77 »Remarque über Umerziehung in Deutschland«. Hessische Nachrichten (Kassel), 19.11.1947. Zuvor war in Wien ein weiteres über die ONA verbreitetes Interview gedruckt worden, nicht jedoch in Deutschland: »Der Mensch ist gut – trotz allem«. Wiener Kurier (Wien), 26.10.1946, 6.

31

Thomas F. Schneider

tivschuldthese, konträr zu seinen international breit vermittelten ursprünglichen Intentionen. Umso heftiger mussten daher die deutschen Reaktionen ausfallen, als spätestens mit den ersten Rezensionen des Romans Der Funke Leben deutlich wurde, dass Remarque mit seinen Werken genau auf die Kernpunkte deutscher Verbrechen sowie kollektiver und individueller deutscher Verantwortlichkeit zielte. Diese Reaktionen sind bereits eingangs skizziert worden. Sie führten zu der dargelegten Selbstbegrenzung Remarques in deutschen Kommunikationsräumen, die sich bis in die Mikrostruktur seiner Aussagen nachverfolgen lässt. Im Fernsehinterview mit Friedrich Luft, das unter Live-Bedingungen im Januar 1963 in Berlin aufgezeichnet und am 3. Februar in der ARD gesendet wurde,78 saß der vertriebene und exilierte Autor, dessen Werke am 10. Mai 1933 verbrannt worden waren, einem bundesdeutschen Starjournalisten gegenüber, der im »Dritten Reich« seine Karriere und Position aufgebaut hatte.79 Natürlich ging es in dem Gespräch auch um die Situation und die Folgen des Exils. Und Remarque bezeichnete sich und seine Autorengeneration als diejenigen, die Anfang der 1930er Jahre »Deutschland haben verlassen müssen«.80 Ein Euphemismus par excellence, denn Remarque und die anderen Ausgebürgerten waren mit Verhaftung oder dem Tode bedroht worden, hatten in verzweifelter Lage Selbstmord verübt (und Remarque hatte diese Schicksale in seinem Tagebuch akribisch aufgezeichnet)81 und waren nun in einen Rechtfertigungszwang versetzt worden, warum sie Deutschland verlassen hatten. Das »müssen« in Remarques Aussage war anscheinend das Maximum, was er sich in dieser Interview-Situation und aufgrund seiner Erfahrungen mit deutschen Reaktionen auf seine Überzeugungen einem deutschen Millionenpublikum zuzumuten wagte. Sich als politisch denkender und handelnder Autor zu offenbaren, erschien ihm in dieser Lage jetzt und auch zukünftig unmöglich. 78 Online verfügbar unter https://www.youtube.com/watch?v=aOzROBGLkpE (02.06.2021). Eine Transkription findet sich in Schneider, 1994, 118–133. 79 Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Luft und die dort angegebene Literatur. 80 Schneider, 1994, 125. Vollständig lautet die Aussage: »Denn es ist ganz sicher, daß wenn wir nicht dieses Schicksal gehabt hätten, wenn man es so nennen will, daß wir also Deutschland nicht haben verlassen müssen und uns draußen hätten herumtreiben müssen, bis wir endlich mal wieder nach Europa zurückkehren konnten, daß man wahrscheinlich doch anders geschrieben und auch über andere Dinge geschrieben hätte.« In dem Zusatz »wenn man es so nennen will« ist Remarques Aversion gegen seine eigene Formulierung spürbar. Lufts Reaktion auf dieses Zitat war ein gönnerhaftes »Ohne Zweifel.« Damit sind auch die anfangs genannten unterschwelligen Konflikte in der Mikrostruktur der deutschen Interviews benannt, die in internationalen Interviews völlig fehlen. 81 Speziell die von Stefan Zweig (Einträge 23.+28.02.1942), Lion Feuchtwanger (Eintrag 23.12.1940) und Walter Hasenclever (Eintrag 23.12.1940). Tagebuch Remarques. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

32

Die Interviews mit Erich Maria Remarque

Anders in den internationalen Interviews, die er zunehmend auch mit Journalisten aus sozialistischen Staaten, vor allem aus der Tschechoslowakei82 und Jugoslawien,83 führte und die vielfach in der Presse der Staaten des Warschauer Paktes nachgedruckt wurden. Hier wurde er ganz selbstverständlich zu politischen Gegenwartsthemen befragt, und ebenso bereitwillig gab er Auskunft: Zur deutschfranzösischen Freundschaft,84 zu ehemaligen Nationalsozialisten in deutschen Führungspositionen,85 zur deutschen Wiederbewaffnung,86 zu Wahlerfolgen rechtsradikaler Splitterparteien in der Bundesrepublik87 und immer wieder zum Kalten Krieg und der Gefahr eines dann Dritten Weltkrieges.88 Für internationale Journalist:innen war Remarque unangefochten eine politische Instanz. Verhängte Bilder Ein Detail mag abschließend den Unterschied zwischen den beiden Autorbildern verdeutlichen: Remarque besaß eine umfangreiche und bedeutende Kunstsammlung, die offen in seinem New Yorker Apartment oder in seinem Haus in Porto Ronco betrachtet und bewundert werden konnte. Er liebte es, über die Sammlung und die Bedeutung von Kunst zu sprechen, in der sich für ihn die Bedeutung von Zivilisation zum Ausdruck brachte und kristallisierte. Interviewer wurden häufig von Fotografen begleitet oder machten die Aufnahmen selbst. Auf diesen Fotos ist zu erkennen, dass für deutsche Interviewgäste die Kunstwerke abgehängt oder umgedreht und damit nicht identifizierbar wurden.89 Zu groß muss für Remarque

82 Z.B. František Goldscheider. »Za Remarquem v Portu Roncu. Úryvky z rozhovoru«. Literárni Noviny (Praha), 20.10.1962, 9; Jiři Samo. »Remarqueovo cisté Víno«. Kvéty (Praha) 20 (1970), 2 (17.01.1970), 16–19; und weitere. 83 Z.B. Mustafa Zirić. »Susret Podalpama«. Vjesnik (Zagreb), 29.11.1955; Ferid Softić. »Tako ja mislim o Nijemcima«. Osloboðenje (Sarajevo) 21 (1963), 5596–5598 (31.12.1963/01./ 02.01.1964), 5; und weitere. 84 Dominique Auclères. »Que pensent les écrivains allemands de l’amitié avec la France? Erich Maria Remarque«. Le Figaro (Paris), 08.12.1962. 85 Heinz Liepman. »Remarque und die Deutschen«. Zürcher Woche (Zürich), 30.11.1962, 7. 86 Wiznitzer, 1958. 87 Massimo Di Frato. »Remarque non crede nei nostalgici nazisti«. Il Messagero (Roma), Dezember 1968 [?]. 88 Cavallari, 1955; Gerald Messadie. »A l’Ouest quoi de nouveau? Erich Maria Remarque est à Paris«. Candide (Paris), 18./25.04.1963, 13; i.p. »Una categoria dell’ esistenza. Colloquio con Erich Maria Remarque«. Gazzetino di Venezia (Venezia), 10.10.1967, 4; und weitere. 89 Z.B. in Hans Habe. »Umstellt. Umlagert. Umdroht. Ein unkonventionelles Interview zu dritt«. Epoca (München), 6 (August), 62–67, Abb. 66; Konstantin Prinz von Bayern. »Erich Maria Remarque«. Das Schönste (München), 1956, 11 (November), 49–51; hier Abb. 50 unten links: An der Wand im Hintergrund hing grundsätzlich ein großformatiges Ölgemälde.

33

Thomas F. Schneider

die Sorge gewesen sein, als reicher Autor in Deutschland erkannt zu werden, der während des Exils zu Ruhm und Reichtum gekommen war, während die Deutschen unverschuldet ›litten‹.90 Ganz anders für internationale Gäste; hier geht es in den Gesprächen zentral um die Kunstwerke im Besitz des Autors, und sie werden ausführlich in den einleitenden Passagen dieser Interview-Portraits von den Autor:innen gewürdigt.91 Remarque stellt die Kunstwerke für die internationale Presse aus, er posiert vor ihnen und erläutert sie im Gespräch. Remarque wird so zum »Bewunderer des Schönen«, zum Ästheten, der zudem substantielle humanistische Inhalte glaubhaft zu vermitteln vermag und damit ein Weltpublikum erreicht. Es wird Zeit, die Begrenzungen der (deutschen) Literaturwissenschaft zu verlassen, die selbstgewählte deutsche Brille abzusetzen und die Limitierungen der fachwissenschaftlichen Grenzen zu überschreiten, indem die Interviews Remarques als substantieller Teil der Werkinhalte und -zielsetzungen wahrgenommen und gewürdigt werden. Zu entdecken ist ein Autor, der sich selbst bewusst und zielgerichtet als globaler Schriftsteller für ein breites Publikum über nationale Grenzen hinweg definierte – und der diesen Anspruch tatsächlich auch eingelöst hat.

90 Diesen Aspekt der Verdrehung der Opfer-Täter-Zuschreibung im deutschen Kontext betont Remarque mehrfach sowohl im Tagebuch als auch in Interviews. Siehe z.B. Goldscheider, 20.10.1962. 91 Speziell Dixon Bond, 1946; Di Frati, 1968; Jiři Samo. »Loupez u Remarquea«. Kvéty (Praha) 20 (1970), 3 (24.01.1970), 14–16.

34

Nina Nowara-Matusik

Die Traumbude von Erich Maria Remarque Versuch einer gattungsorientierten Annäherung

Bekanntlich führt im Untertitel Remarques Erstling Die Traumbude die Bezeichnung Ein Künstlerroman, was einen bestimmten Erwartungshorizont bezüglich der Gattungszugehörigkeit des Textes aufkommen und das Werk in einen literarischen Traditionszusammenhang stellen lässt, der im 18. Jahrhundert seinen Anfang nimmt, in der Romantik seine Blüte erreicht und sich bis in die späte Postmoderne hinein verfolgen lässt. Stellvertretend können hier in Bezug auf den deutschen Sprachraum solche poetisch wie wirkmächtig unterschiedlichen Werke wie Wilhelm Heinses Ardinghello (1787), Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen (1798) oder Patrick Süskinds Das Parfüm (1985) angeführt werden, welche, trotz der angedeuteten Differenzen, einen gemeinsamen stofflichen Schwerpunkt haben: die Figur des Künstlers. Gemäß einer nur thematisch ausgerichteten Definition des Künstlerromans, die sich damit begnügt, ihn als einen Roman über einen oder mehrere Künstler aufzufassen, und somit den Protagonisten als die wichtigste Konstituente der Gattung zu betrachten, lässt sich Remarques Werk tatsächlich als ein Künstlerroman bezeichnen, stehen ja in dessen Mittelpunkt insgesamt vier Künstlerfiguren: ein dichtender Maler, ein angehender Komponist, eine erfolgreiche Operndiva und eine bescheidene, im häuslichen Metier musizierende Bürgertochter. Die Romanfiguren sollen dabei nicht völlig frei erfunden sein: Wie der Widmung zu entnehmen ist und auch in der einschlägigen Forschung behauptet wird, sei das Werk stark autobiographisch geprägt und als eine Art Hommage an Remarques Jugendfreund Friedrich Hörstemeier, einen Osnabrücker Maler, Lyriker und Musiker, zu lesen.1 Würde man sich diesem Interpretationsansatz anschließen, so könnte 1 Vgl. hier stellvertretend vor allem Thomas F. Schneider. »Ein Denkmal. Erich Maria Remarques erster Roman Die Traumbude«. Erich Maria Remarque. Die Traumbude. Ein Künstlerroman von Erich Maria Remarque. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2020, 308.

35

Nina Nowara-Matusik

man ohne Weiteres Die Traumbude als einen autobiographischen Künstlerroman etikettieren; dieser Befund kann aber m.E. nicht als zufriedenstellend betrachtet werden, da ja gerade der Gattungsbegriff selbst andere Interpretationsmöglichkeiten zulässt, die nicht unbedingt biographisch-produktionsästhetisch ausgerichtet werden müssen. Ein gattungsorientiertes Herangehen an ein literarisches Werk impliziert aber nicht nur die Frage nach dem thematischen bzw. motivischen Gehalt des zu behandelnden Textes, sondern sie ist auch – so zumindest die traditionelle Gattungsforschung – an den Formen und Strukturen interessiert, die gattungsrelevant sind. Und gemäß einem solchen, d.h. konventionell begriffenen,2 also genuin literaturwissenschaftlich ausgerichteten Gattungsbegriff, werden unter einer Gattung solche Texte subsumiert, »die gemeinsame formale, strukturale oder inhaltliche Merkmale aufweisen«.3 Auch wenn sich jedoch in Bezug auf den Künstlerroman ein allgemeiner Konsens über dessen Inhalt feststellen lässt, besteht in dieser Hinsicht keine Einigkeit darüber, welche konkreten strukturalen oder formalen Eigenschaften ihn auszeichnen sollten oder müssten. Übereinstimmung scheint aber in Hinblick auf die Verwandtschaft des Künstlerromans mit anderen Großformen des Erzählens zu bestehen: In den gattungstheoretischen Diskussionen um den Künstlerroman wird nämlich immer wieder auf die Begriffe des Bildungsromans und Entwicklungsromans rekurriert, wobei eher Überschneidungen und Affinitäten im Mittelpunkt stehen, als dass eine differentia specifica herausgearbeitet wird. Konkret heißt es meist, dass sich der Künstlerroman das Handlungsschema von dem Entwicklungsroman ausleihe.4 Nicht selten wird bei solchen Versuchen, den Begriff des Künstlerromans zu ›umzingeln‹, die Selbstständigkeit der Gattung selbst angezweifelt, vor allem dann, wenn er als eine Untergattung des Bildungsromans oder seine Variation aufgefasst wird.5 Auf jene gegenseitige Bedingtheit der beiden Romanformen geht u.a. Jürgen Jacobs ein; im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert er nämlich den Bildungsroman als eine erzählerische Darstellung des Wegs einer zentralen Figur durch Irrtümer und Krisen zur Selbstfindung und tätigen Integration in die Gesellschaft. Der auf einen Ausgleich mit der Welt zulaufende Schluss ist oft nur mit ironischen Vorbehalten oder Brüchen geschildert; er ist jedoch als Ziel oder zumindest als Postulat notwendiger

2 In der neueren Gattungsforschung wird der Begriff Gattung nicht nur als eine genuin literarische Erscheinung diskutiert, sondern auch als ein Resultat sozialer Zuschreibungen, ein kulturelles Konstrukt. S. mehr dazu Rüdiger Zymner (ed.). Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: Metzler, 2010, 3. 3 Jochen Vogt. Einladung zur Literaturwissenschaft. Stuttgart: UTB, 2002, 238. 4 Vgl. etwa Gero von Wilpert. Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Kröner, 1989, 488–491. 5 Vgl. etwa Zdzisław Żygulski. »Bildungsroman«. Grzegorz Gazda, Słowinia Tynecka-Makowska (ed.). Słownik rodzajów i gatunków literackich. Kraków: Universitas, 2006, 87–90.

36

Remarques Die Traumbude

Bestandteil einer ›Bildungsgeschichte‹ (in der Regel eines geistig-künstlerisch tätigen Menschen). Durch die Orientierung auf diesen Zielpunkt bekommt der epische Vorgang eine teleologische Struktur, in der die einzelnen Phasen der Entwicklung funktionalen Wert für den Gesamtprozess haben.6

Auch wenn hier nicht explizit die Bezeichnung Künstlerroman verwendet wird, kann geschlussfolgert werden, der Künstlerroman sei die Bildungsgeschichte eines Künstlers, wobei unentschieden bleibt, ob die Figur des Künstlers durch einen Nicht-Künstler ausgetauscht werden kann. Weniger erhellend ist der ebenfalls traditionelle Rückgriff auf den Begriff des Entwicklungsromans, da er nicht selten als eine wesensverwandte Form (oder gar ein Synonym) des Bildungs- und Künstlerromans betrachtet wird, wobei hier ähnlich wie bei Bildungsroman meist auf die Überschneidungen und weniger auf die Differenzen verwiesen wird.7 Im einfachsten Sinne des Wortes ist der Entwicklungsroman eine um den Werdegang einer Figur zentrierte Geschichte, wobei ihm laut Hubert Orłowski ein »stereotypes Handlungsmuster« zugrunde liege: Die Entwicklung setze nämlich in der Kindheit oder Jugend der Hauptfigur an, um schlussendlich eine gereifte, sich dem Lebensende neigende Persönlichkeit darzustellen. Der Unterschied zum Bildungsroman lasse sich dabei auf den Einfluss innerer oder äußerer Faktoren zurückführen: Im Bildungsroman unterliege nämlich die Hauptfigur der Einwirkung äußerer Kräfte und anderer Menschen, während im Entwicklungsroman der Werdegang aus dem inneren Heranwachsen resultiere.8 Aufgrund der Affinität des Künstlerromans zu dem Entwicklungsroman liegt hier also die Schlussfolgerung nahe, dass der Künstlerroman die Entwicklungsgeschichte eines Künstlers nachzeichne9 oder aber eine künstlerisch talentierte Figur in den Mittelpunkt stelle, die sich zum Künstler erst entwickeln wird oder will. Remarques Roman aktiviert aber mit seinem Titel nicht nur die Tradition des Künstlerromans als solche, sondern auch eine ganz konkrete Entwicklungsstufe in dessen Geschichte: Mit der Metapher der Traumbude wird nämlich eine gedankliche Verbindung zu dem romantischen Künstlerroman hergestellt, die im Laufe der Lektüre nur noch vertieft wird. Die Traumbude – das Atelier des Malers Fritz Schramm samt seinem Traumfenster – evoziert nämlich eine stimmungsvolle, ja

6 Jürgen Jacobs. »Bildungsroman«. Klaus Weimar (ed.). Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 2007, 230. 7 So sei laut Ivo Braak der Entwicklungsroman ein Oberbegriff für den Bildungsroman, der wiederum eine Art Dachbegriff für den Künstler- und Erziehungsroman sei. Ivo Braak. Poetik in Stichworten. Stuttgart: Borntraeger, 2001, 254. 8 Żygulski, »Bildungsroman«, 88. 9 Vgl. Wilpert, Sachwörterbuch, 488–491.

37

Nina Nowara-Matusik

beinahe märchenhaft anmutende Welt, die sich wohl am besten mit den Adjektiven romantisch, sentimental und gefühlvoll beschreiben lässt. Diesen Eindruck verstärken noch die vielen Verweise auf Eichendorff sowie wiederkehrende, urromantische Leitmotive (wie das der unstillbaren Sehnsucht oder der blauen Ferne) und Topoi (wie etwa der den Hymnen an die Nacht nachempfundene Wunsch, seiner Geliebten nachzusterben). Nicht zu übersehen ist dabei allerdings, dass neben dem genuin romantischen Künstlerroman ebenfalls der klassische Bildungsroman – Goethes Wilhelm Meister – als ein Bezugstext anvisiert wird, was sich vor allem in der Gleichsetzung Elisabeths, einer der weiblichen Hauptfiguren, mit Mignon zeigt. Die genannten Referenzen fordern so eine verstärkte Berücksichtigung der um 1800 entstandenen Künstler- und Bildungsromane heraus. Auch wenn sich der Roman der klassisch-romantischen Zeit einer eindeutigen Schubladisierung und Etikettierung entzieht – Progressivität und Universalität im Schlegelschen Sinne stehen ja im krassen Widerspruch zu jedwedem Versuch einer poetologischen Normalisierung –, so lassen sich hier doch bestimmte Tendenzen und wiederkehrende Darstellungsmodelle ausmachen, die bestimmte generelle Schlussfolgerungen zulassen. Monika Schmitz-Emans äußert sich dazu folgendermaßen: Prägend für viele Romane um 1800 ist das Modell des Bildungsromans. Im Prozeß der Auseinandersetzung mit der Welt erfolgt dessen Grundmuster zufolge zugleich die Selbstbildung des Protagonisten, also die Entfaltung angeborener Fähigkeiten sowie der Erwerb von Erfahrungen und Einsichten. Vorausgesetzt ist dreierlei: daß der Einzelne darauf angelegt sei, sich zu entwickeln, daß diese Entwicklung sich in der Auseinandersetzung mit der Welt vollziehe und daß ein Ausgleich zwischen dem Einzelnen und der Welt zumindest prinzipiell möglich sei, sich der Einzelne also einen ihm gemäßen Platz in dieser Welt erringen könne.10

Im Falle der genuin romantischen Romane lässt sich dagegen eine entgegengesetzte Tendenz beobachten: Sie zielen nämlich nicht auf eine harmonische Rückbindung der Hauptfigur an eine wie auch immer aufgefasste Welt hin, sondern betonen vielmehr die zwischen ihnen immer stärker werdende Divergenz. Die Romantiker »interpretieren den Bildungsroman als Künstlerroman« und hätten »nicht den Ausgleich mit der bestehenden Welt im Visier, sondern die Behauptung der künstlerischen Sonderstellung gegenüber Gesellschaft und Wirklichkeit.«11 Damit lässt sich der wohl eindeutigste Unterschied zwischen dem romantischen

10 Monika Schmitz-Emans. »Der Roman und seine Konzeption in der deutschen Romantik«. Revue internationale de philosophies 2 (2009), 112. 11 Detlef Klemer, Andreas B. Kilcher. Romantik. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart: Springer Deutschland, 2015, 120.

38

Remarques Die Traumbude

Künstlerroman und dem klassischen Bildungsroman ausmachen: Die romantische Variante des Künstlerromans verhindert nämlich eine gelungene Integration des Künstlers in die ihn umgebende (Um-)Welt; überhaupt scheinen die Begriffe Künstlertum und Welt immer weiter auseinanderzugehen. Sabrine Krone fasst diese Differenz so auf: Im romantischen Künstlerroman habe der Künstler äußerlich mit seiner schwierigen Stellung innerhalb der Gesellschaft zu kämpfen, die vor dem Hintergrund bürgerlicher Lebensvorstellungen die Kunst als unnütz oder als für die Sicherung der Existenz ungeeignet einstuft. Hier muß die Kunst als Beruf gegen eine kunstfeindliche Umwelt verteidigt werden. Deshalb ist nicht die Bildung des Bildungsromans, der eine Integration des Helden an einen erst noch zu definierenden Ort innerhalb der Gesellschaft zum Ziel hat, Gegenstand des Künstlerromans, sondern die Selbstbehauptung des sich seiner Stellung außerhalb der Gesellschaft bewußten Künstlers.12

Symptomatisch ist es, dass sich ein ähnlicher Gedanke bei dem Komparatisten Peter Zima wiederfindet, der den Grundkonflikt von Künstler und Welt zu einem Wesensmerkmal nicht nur des deutschen, speziell des romantischen, sondern des europäischen Künstlerromans überhaupt erhebt: Darin wird nämlich erzählt, »wie ein junger Mensch […] seine künstlerische Begabung entdeckt und beschließt, dem Unverständnis seiner Umwelt zum Trotz, Schriftsteller, Künstler zu werden und dadurch eine Wertsetzung vorzunehmen.«13 Das dem Bildungs- wie Künstlerroman gemeinsame Schema der Entwicklung nimmt meist im Falle der romantischen Künstlerromane die Form eines konkret realisierbaren Motivs an: Die Entwicklung wird erzähltechnisch nämlich als eine Reise (in die Fremde oder auch ins Innere) vorgeführt, wobei die Fremde von dem Protagonisten erfahren werden muss, damit die Rückkehr in die Heimat (zu sich selbst) möglich wird.14 Dabei wird als Reiseziel oder Reisestation vor allem Italien imaginiert. Eichendorffs Ahnung und Gegenwart mag hierfür Pate stehen. Als ein weiteres und in der einschlägigen Forschung immer wieder angeführtes Erkennungsmerkmal der romantischen Künstlerromane gelten darüber hinaus Gespräche über die Kunst; laut Sabrine Krone sollen die Diskussionen über die Kunst und ihre Theorie sogar ausschlaggebend für die Künstlerromane um 1800 sein.15 Nach Ewa Matkowska sei dagegen diese strukturelle Beschaffenheit

12 Sabrine Krone. Popularisierung der Ästhetik um 1800 – Das Gespräch im Künstlerroman. Berlin: Frank u. Timme, 2016, 13. 13 Peter Zima. Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie. Tübingen, Basel: A. Franke, 2008, XIII. 14 Vgl. Detlef Kremer. Prosa der Romantik. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, 1996, 124–125. 15 Krone, Popularisierung, 14.

39

Nina Nowara-Matusik

des Künstlerromans ein allgemeines und wichtiges Charakteristikum der Gattung überhaupt; der Künstlerroman reflektiere nämlich die »jeweils wichtigsten Kunstfragen seiner Zeit.«16 Unabhängig davon, ob das Kunstgespräch tatsächlich als ein invariantes Strukturelement des Künstlerromans aufgefasst werden soll, macht es als solches auf die über die bloße Handlungsebene des Romans hinausgehende Frage der metapoetischen Beschaffenheit des jeweiligen Textes aufmerksam, die sich bereits in Heinses Ardinghello abgezeichnet hat.17 Mit jener Beschaffenheit ist hier vor allem die Selbstreferenzialität des Künstlerromans gemeint, welche sich nicht nur in den Kunstgesprächen, kommentierenden Einmischungen eines fiktiven Herausgebers oder scheinbar unzusammenhängenden Digressionen offenbaren kann, sondern nicht selten die Form spiegelbildlicher bzw. spiegelähnlicher Strukturen, Dopplungen und Vervielfältigungen annimmt. Erich Meuthen stellt hierzu eindeutig fest: »Das autoreflexive Strukturprinzip ist dem Genre immanent.«18 Aus den bereits gemachten Überlegungen dürfte bereits ersichtlich geworden sein, dass sich die gattungstheoretische Diskussion um den Künstlerroman an folgenden Koordinaten entzünden kann: der Bildung bzw. der Entwicklung, der Relation zwischen Künstler und Welt sowie der Autoreferenzialität. Man geht folglich nicht umhin, diesen Kategorienapparat auf den Roman Die Traumbude zu applizieren; dies wird nämlich ermöglichen, dessen Gültigkeit zu überprüfen, und, darauf aufbauend, einen gattungsorientierten Interpretationsvorschlag zu entwickeln. Wie bereits angedeutet, setzt sich das Figurenensemble der Traumbude vorwiegend aus künstlerisch tätigen Menschen zusammen, von denen zwei als Hauptfiguren einzustufen sind: Es handelt sich um den 38jährigen Maler und Dichter Fritz Schramm und seinen jüngeren Freund, den 23jährigen Musikstudenten und angehenden Kapellmeister Ernst Winter. Die Figuren der Künstlerinnen spielen eine dem männlichen Künstlerpaar sichtbar untergeordnete Rolle.19

16 Ewa Matkowska. »Künstlerroman – historia i perspektywy gatunku«. Orbis Linguarum 42 (2015), 218. 17 So bereits im Vorwort, in dem sich ein fiktiver Herausgeber zu Wort meldet, der sich direkt an die Hauptfigur des Romans, den Maler Ardinghello wendet, um ihn angeblich seinem Schicksal zu überlassen. Vgl. Wilhelm Heinse. Ardinghello, und die glückseeligen Inseln. Erster Band. Leipzig: Insel Verlag, 1902, 3. 18 Erich Meuthen. Eins und doppelt oder vom Anderssein des Selbst. Struktur und Tradition des deutschen Künstlerromans. Tübingen: May Niemeyer, 2001, 116. 19 Würde man den Roman aus einer genderorientierten Perspektive interpretieren, so wäre hier vor allem von einem durchaus stereotyp geprägten und konservativen Geschlechterbegriff auszugehen, wie er sich nicht nur bei Remarque, sondern auch bei vielen anderen Autoren dieser Zeit finden lässt, etwa in der Erzählung Pont und Anna (1928) von Arnold Zweig.

40

Remarques Die Traumbude

In die Erzählhandlung wird der Maler Fritz von Anfang an als eine gereifte und stabile Persönlichkeit eingeführt, welcher, mit Lebensweisheit ausgestattet, von seinen jüngeren Freunden als Meister und Lehrer betrachtet wird, wobei er sich ebenfalls einer festen Position in der Gesellschaft erfreuen kann: Er ist bekannt, wird geschätzt und kann sich dank seiner Kunst behaupten. In seinem Falle lässt sich daher kaum von einer Bildung oder Persönlichkeitsentwicklung sprechen, geschweige denn von einer Außenseiterposition oder einem Konflikt mit der Welt. Er steht vielmehr idealtypisch für eine Figur, die im Entwicklungsroman die Funktion eines Kontrapartners (so die Formulierung von H. Orłowski) der Hauptfigur übernimmt: Am Beispiel des Kontrapartners wird nämlich das von ihm bereits erreichte Ideal veranschaulicht, nach dem die Hauptfigur erst zu streben habe.20 Ernst ist als eine dem Maler in diesem Sinne konträre Figur angelegt: »Er ist jung, wild und brausend ungestüm – zuzeiten auch träumerisch und bitter, […]. Ich [d.i. der Maler Fritz] habe mit dem Leben abgeschlossen und versuche, meinen Kreis zu erkennen und harmonisch auszuweiten. Die Folgen sind Reife und Erfahrung.«21

Am Anfang der Handlung wird Ernst als ein talentierter Musikstudent dargestellt, der sich zum Kapellmeister erst ausbilden will. Zu diesem Zweck verlässt er seine Heimatstadt, geht in die Fremde, wo er nun seine ungestüme Natur in der Beziehung zu der Opernsängerin Lanna ausleben kann, um anschließend in die Heimat, zu seiner wahren Liebe und so zu sich selbst zurückzukommen. Die Laufbahn von Ernst ist aber nicht von Hindernissen, verwickelten Begebenheiten oder der Durchübung diverser Existenzmöglichkeiten geprägt: Sie läuft vielmehr konsequent auf ein vorbestimmtes Ziel hinaus, d.h. das der Selbsterkenntnis. Auch wenn sich also in diesem Sinne von einer gewissen Entwicklung sprechen ließe – der Roman wiederholt gleichsam das vorgeprägte Handlungsmuster der romantischen Künstlerromane, deren Helden die Fremde erfahren müssen, sich von ihr entfremden lassen, um anschließend in der Heimat anzukommen – so wird hier die Kunst oder das ästhetische Bildungsgut, das sich der Held aneignen müsste, eigentlich als solches nicht vorgeführt. Im Vordergrund steht vielmehr die GeS. hierzu: Nina Nowara-Matusik. »Der Künstlerdiskurs in der Erzählung Pont und Anna von Arnold Zweig – Versuch einer feministischen Re-Lektüre«. Krzysztof Kłosowicz (ed.). Arnold Zweig zum fünfzigsten Todestag. Berlin: Peter Lang, 2019, 101–112. 20 Hubert Orłowski. »Stereotyp fabularny niemieckiej ›powieści rozwojowej‹ (Entwicklungsroman) okresu mieszczańskiego realizmu«. Jan Trzynadlowski (ed.). Poetyka i historia. Konferencja teoretycznoliteracka w Połczynie. Wrocław, Warszawa, Kraków: Zakład Narodowy im. Ossolińskich – Wydawnictwo, 1996, 50. 21 Erich Maria Remarque. Die Traumbude. Ein Künstlerroman. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2020, 27.

41

Nina Nowara-Matusik

schichte seiner Liaison mit der verführerischen Sängerin Lanna, die ihn geschickt in ihren Bann zu ziehen weiß, und von der er sich erst dann befreien kann, als er mitten im Lebensgenuss plötzlich von dem Tod seines Freundes Fritz erfährt. Die Ernüchterung und der Zusammenbruch nach dem Verlust des Freundes markieren zwar eine wichtige Wende in seinem Leben, nicht aber in seiner Entwicklung als Künstler. Dass jene existenziellen Erfahrungen ebenfalls sein Künstlertum bedingen sollen, wird lediglich angedeutet: »Sie liebte das Jungenhafte, Trotzige in ihm und das Dunkle – den werdenden Künstler«,22 stellt wie beiläufig die Sängerin fest. Der Werdegang von Ernst kann also nicht als eine strikt ästhetische Bildungsgeschichte begriffen werden; von einem Ausgleich mit der äußeren Welt kann ja hier schließlich ebenfalls nicht die Rede sein, weniger noch von einer (Re-)Integration in die Gesellschaft, weil ja der Komponist von Anfang an ein Teil jener Gesellschaft ist und letzten Endes auch bleibt. Es scheint also, dass es hier dem Autor weniger daran gelegen ist, einen Künstlerroman zu konstruieren, der sich ebenfalls als ein Bildungs- und Entwicklungsroman behaupten könnte, als vielmehr deren Wesensverwandtschaft nur noch skizzenhaft anzudeuten. Symptomatisch ist dabei allerdings, dass die bevorstehende Entwicklung von Ernst gleich zu Beginn des Romans antizipiert wird und so als vorprogrammiert erscheint. Als Illustrationsmedium solch eines Handlungsverlaufs wird nämlich ein unvollendetes Gemälde vorgeführt, an dem sein Freund, der Maler Fritz, gegenwärtig arbeitet: Erlösung sollte es heißen und einen zusammengebrochenen Mann darstellen, dem ein Mädchen sanft über das Haar streift. Für den Mann hatte er das Modell gefunden. Nun wartete er noch auf die Eingebung zu der Mädchengestalt. Es sollte etwas Lichtes, Gutes werden; aber es wollte sich noch nichts Bestimmtes ergeben. Licht mußte sie in den Händen tragen, Güte und Frohheit.23

Wie man aus einer Rückblende erfährt, stand dem Maler für den zusammengebrochenen Mann Ernst Modell, während nun das Mädchen die Züge von Elisabeth bekommen soll, seiner späteren und einzig wahren Liebe, zu der Ernst nach der Episode mit Lanna letzten Endes zurückfindet. Wichtiger als der Prozess der Entwicklung scheint also vielmehr dessen Finale zu sein, das auf dem noch unfertigen Bild vorgeführt wird; allen voran jedoch die Tatsache, dass die auf dem Gemälde veranschaulichte Konstellation nicht nur paradigmatisch den Entwicklungsweg von Ernst beschwört, sondern auch eine symbolische Selbstbespiegelung des Malers Fritz und seiner großen Liebe darstellt. Damit setzt im Roman auf strukturaler wie rhetorischer Ebene eine andeutungsreiche (Be-)Spiegelungsstrategie ein,

22 Ebd., 134. 23 Ebd., 14–15.

42

Remarques Die Traumbude

die konsequent bis zum Ende durchgeführt wird: Die wiederkehrenden (Sprach-) Bilder verweisen immer wieder auf jene in dem Bild Erlösung vorgeführte Grundstruktur oder lassen sich auf sie zurückführen. Der Roman entfaltet so ein sich selbst immer wieder kommentierendes, höchst autoreferentielles Potenzial, in der die Bilder selbst sowie (spiegel-)bildliche Strukturen die Reflexion über den gerade bebilderten Künstlerroman wohl am stärksten und überzeugendsten prägen.24 Jene Vorherrschaft oder sogar Übermacht der Bilder als Medium der poetologischen Selbstreferenz versinnbildlicht dabei die Traumbude selbst – die wie ein Gemälde per se anmutende Wohnung des Malers: Ein braunes Dachzimmer. An den Wänden Bilder, viele Bilder. An der einen Seite ein braunes Holzregal mit Büchern, deren bunte Einbände in der Sonne leuchteten. Auf dem Regal dunkler Stoff und darauf glitzernde Muscheln, farbige Steine und goldgelbe Bernsteinstücke. Dazwischen ein brauner Tänzer aus gebeiztem Holz. An der linken Seite lag ein Totenkopf, der einen Kranz roter Rosen trug. Eine Schale mit tiefroten Rosen unter einer Totenmaske Beethovens, die auf purpurnem Tuche an der Wand hing. An der schrägen Wand einige Radierungen und ein Bild mit einem schwarzen Flor.25

Dass »viele Bilder« zur Ausstattung eines Malers gehören, ist beinahe banal; auffallend in dem angeführten Zitat sind jedoch nicht die Gegenstände, sondern die vielen, fast in jedem Satzteil hingestreuten Epitheta, die eine durch und durch farbige und schimmernde Welt entstehen lassen, welche einer impressionistischen Zeichnung nahekommt. Die Bedeutung einer solchen Kunst des Eindrucks, die sich damit begnügt, ein schimmerndes, aber zugleich nur noch andeutendes Bild der Wirklichkeit abzugeben, unterstreicht selbstverständlich auch das wohl wichtigste Element der Traumbude: das Konterfei der verstorbenen Geliebten des Malers. »Das süße Bild«26 macht dabei immer wieder den Eindruck, »als ob die schönen Augen leuchteten und der rote Mund lächelte.«27 Diese Phrase durchzieht leitmotivisch den ganzen Roman, wobei sie am Ende leicht variiert wird, als das Porträt des verstorbenen Malers das Bild von Lou ersetzt. Mit deutlichen Anleihen bei dem Impressionismus entwickelt so der Roman zusätzlich noch eine

24 Kaum eine Rolle spielen in dem Roman dagegen die zu erwartenden Kunstgespräche; die dialogischen Sequenzen umkreisen meist allgemeinmenschliche und lebensphilosophische Probleme, wobei die Kunst als solche nur im Grunde in dem einleitenden Gespräch zwischen Elisabeth und Fritz zur Sprache gebracht wird: In der Diskussion mit einem revolutionären Dichter schlagen sich die beiden eindeutig auf die Seite einer romantischen Kunstauffassung. 25 Remarque, Die Traumbude, 24. 26 Ebd., 65. 27 Ebd., 68, 96, 97, 177 u.a.

43

Nina Nowara-Matusik

Poetik der sich vervielfältigenden Andeutung, die sich selbst immer wieder ins Spiel bringt und mit der Wirkungsabsicht des Textes korrespondiert, den Effekt einer gattungsspezifischen ›Konturlosigkeit‹ herbeizuführen. Es ist ebenfalls kein Wunder, dass ein Maler die ihn umgebende Welt als ein ästhetisches Faszinosum wahrnimmt; dass sich aber die Schilderung seiner ersten Begegnung mit Elisabeth wie die Ekphrase eines nicht existierenden Bildes lesen lässt, ist vielsprechend: In dem tiefblauen Raum wob die Dämmerung. Am Flügel brannten zwei dicke Kerzen. Ihr Schein ließ die weißen Tasten blendend erschimmern, brachte einen sanften Goldton in den Raum und umträumte den blonden Scheitel und das zarte Profil eines jungen Mädchens, das am Flügel saß, mit märchenhaftem Glanze. Die Hände ruhten lässig auf den Tasten. Ein weicher, fast schwermütiger Zug umschattete den fein geschnittenen Mund, und viel Sehnsucht lag in den meerblauen Augen.28

Das in der Phantasie des Malers porträtierte Mädchen am Flügel wird dann tatsächlich in dem bereits erwähnten Bild Erlösung abgebildet, dass der Maler wie folgt auslegt: Es soll den Augenblick darstellen, wo der Mensch vom Ich zum Du kommt, wo der Egoismus zusammenbricht, wo er auf sich verzichtet und seine Arbeit der Allgemeinheit gibt. Der Jugend. Oder der Menschheit. Und wie er für sein Glückverzichtenmüssen dennoch einen gewissen Trost und den großen Ausgleich bekommt, soll das lichtvolle Mädchen darstellen. Die Tragödie des Schaffenden –29

Das Gemälde ist demzufolge nicht nur eine Präfiguration von Ernsts Schicksal, sondern auch die Veranschaulichung einer teleologischen Entwicklung, die der schaffende Mensch als solcher zu absolvieren habe. Frappant ist allerdings, dass es die einzige Textstelle markiert, in der von einer »Tragödie des Schaffenden« die Rede ist, was in einem eklatanten Widerspruch zu der eher optimistisch anmutenden Allgemeinaussage des Romans steht: Wie bereits angedeutet, mündet das Werk in die Selbsterkenntnis von Ernst, die sich im Zeichen des Zurückfindens zu Elisabeth vollzieht und die im obigen Zitat als ein Weg »vom Ich zum Du« beschrieben wird. Auf diesen Umstand wird noch einzugehen sein. Gemäß der Logik einer sich selbst repetierenden Verweisstruktur kommt die von dem Maler vorgenommene Selbstdeutung seines Gemäldes an zwei weiteren Romanstellen in einer leicht abgewandelten Form wieder zum Vorschein: in ei-

28 Ebd., 9. 29 Ebd., 19.

44

Remarques Die Traumbude

nem Traumbild des Malers und einem Bühnenwerk von Ernst (signifikanterweise sind es zugleich solche Textstellen, die sich durch einen hohen Grad an Anschaulichkeit und Bilderreichtum auszeichnen). Im inneren Monolog des Malers, in dem sich der wahrscheinlich träumende oder halluzinierende Künstler an seine Geliebte Lou wendet, wird die auf dem Gemälde Erlösung festgehaltene Figurenkonstellation beinahe wortwörtlich wiederholt: Ich sehe dich an – Neige die Stirn und kniee. Und sage: ›Bin so müde – Liebste – komm – segne mich, damit ich schlafen kann –‹ Und du beugst dich nieder, Heilige, und küßt mir Stirn und Augen. Erfüllung – Langsam sinkt die Nacht und bedeckt unsere Heimat.30

Die tote Lou wird hier ähnlich wie Elisabeth als ein friedensstiftendes Wesen imaginiert, wobei sie sogar eine Präfiguration von Elisabeth und der auf dem Bild Erlösung dargestellten Frau zu sein scheint: Die Bilder der Frauen und Männer überlappen sich so und verweisen auf sich selbst, um zum letzten Mal in Ernsts Bühnenwerk repetiert zu werden, das der Künstler nach dem Tod von Fritz und dem anschließenden Zusammenbruch komponiert. In dem Finale des auffällig autobiographischen Kunstwerkes wird nämlich das folgende Vorstellungsbild evoziert: Ein Mann liegt am Boden. Hebt sich halb – lauschend. Ein blauer Schleier öffnet sich einer Wundergestalt. Silberner werden Dämmer und Musik – tönender, rauschender. Silberglanz und Erlösung liegen auf der Stirne des Mannes, der sich aufgerichtet hat. Er kniet. Die Gestalt neigt sich zu ihm. Das Große, es zieht tiefer zum Frieden. Alles ist Silber und Erlösung. Menschheit.31

Die sich dem Manne neigende Gestalt verschmilzt dann wie selbstverständlich mit Elisabeth in Eins, die dem sich peinigenden und leidenden Ernst »in stiller Größe«32 und mit »Madonnenantlitz«33 seine Irrtümer verzeiht und ihre Liebe bekennt. Die weibliche »Wundergestalt« steht für das Prinzip der Einigkeit, das die Widersprüche der zerrissenen und leidenden Existenz harmonisiert und auflöst.

30 Ebd., 100. 31 Ebd., 196. 32 Ebd., 198. 33 Ebd., 199.

45

Nina Nowara-Matusik

Die bildliche Grundstruktur des Romans wird folglich so potenziert, dass man von einer dem Prinzip der Myse en Abyme verwandten Autodarstellung sprechen könnte. Der harmonische Ausgleich des Künstlers mit sich selbst – seine Erlösung  – wird somit zum Hauptthema des Romans, während seine Irrwege oder das faustische Ringen mit seiner Unnatur eine eher zweitrangige Rolle spielen. Der Endeffekt der Auseinandersetzung des Künstlers mit sich selbst ist in diesem Sinne von größerer Bedeutung als sein Werden. Und kennzeichnenderweise ist es gerade eben jenes Moment, das eine »Tragödie des Schaffenden« markiert. Zusammengeführt in einem Bild werden also folglich zwei Aspekte: die Erlösung des Künstlers als Mensch, die sich im Zeichen der altruistischen Selbstaufgabe – der höchsten Form der Menschlichkeit – vollzieht, und seine sich parallel dazu abspielende Tragödie. Der Hinweis auf die Tragik des Künstlers, die genau mit dem Moment seiner Menschwerdung zusammenfällt, wiederholt sich dabei – das soll hier betont werden – an keiner anderen Stelle des Romans: Die spiegelähnlichen Variationen des Bildes Erlösung umkreisen immer wieder das Menschliche und nicht das Problem des Künstlertums. Es liegt hier somit die Schlussfolgerung nahe, dass es eben jene altruistische Selbstüberwindung ist, die die »Tragödie des Schaffenden« herbeiführe: Die Auflösung des Ich im Du lässt zwar einen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes entstehen, bewirkt aber zugleich den Verlust der Individualität  – als ein selbstloses Wesen wird nun der Künstler zu einer tragischen Figur, oder, anders ausgedrückt, sein Aufgehen im MenschlichVollkommenen lässt ihn als Künstler im Grunde verschwinden. Aus dieser Einsicht in die paradox-tragische Verstrickung des Künstlers in das Menschliche und der Überzeugung von der allmählichen Auflösung seines Selbst in einer abstrakten Allgemeinheit ergibt sich so die deutliche Präferenz für die rhetorische Figur der Repetitio und eine Poetik der sich selbst immer wieder bespiegelnden Dichtung. Die Traumbude ist in diesem Sinne ein Künstlerroman, der sich nur durch eine demonstrative Selbstwiederholung seiner eigenen Existenz vergewissern und so behaupten kann: Die variationslose Variation einer Gattung, ein unaufhörlicher Nachklang, schlussendlich ein Versuch, das endgültige Verschwinden des Künstlers in der konturlosen Selbst-Losigkeit zu verhindern.

46

PaweŁ Meus

Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane Versuch einer vergleichenden Analyse

Der Erste Weltkrieg übt zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen enormen Einfluss auf die ganze Welt aus und hinterlässt seine beträchtlichen Spuren auch in der Literatur, denn dieses Ereignis liefert den Autoren viele als Stoff dienende Bilder, die den massenhaften und technisierten Charakter dieses Krieges zum Gegenstand machen. Volker Venohr beschreibt das Wesen dieses ersten modernen Waffenkonflikts, der als eine bisher unbekannte Erscheinung in der Geschichte nicht nur in militärischer und politischer, sondern auch in sozialer und axiologischer Hinsicht gilt, folgendermaßen: »Menschen wurden zur Verschiebe- und Verbrauchsmasse, ausgedrückt als Verlustziffern und Sollstärken in Statistiken und Planungen der Generale eines industrialisierten Krieges.«1 Bernd Hüppauf betont in diesem Kontext, dass literarische Werke zugleich die kollektive Erinnerung prägen, weil sie »den Krieg zur fundamentalen Krise der Zivilisation und auch zum Gründungsmythos einer Epoche«2 werden lassen. Es entstehen Texte, die verschiedenste Stellungnahmen abgeben und den Krieg aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Obwohl die nüchterne und kritische Stimme, die die dargestellte Wirklichkeit mimetisch-dokumentarisch auffasst, immer Oberhand gewinnt, verlieren rein patriotische sowie auf Feindbildern und Revisionismus basierende Ansichten im Laufe der Nachkriegsjahre kaum an Bedeutung.3 Diese Vielfalt der Kriegsdarstellungen und -bewertungen ist der Tatsache geschuldet,

1 Volker Venohr. »Die Schlacht vor Verdun 1916: Eine Bestandsaufnahme«. Krzysztof Kłosowicz (Hg.). Arnold Zweig zum fünfzigsten Todestag. Berlin: Peter Lang, 2019, 126. 2 Bernd Hüppauf. »Kriegsliteratur«. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.). Enzyklopädie. Erster Weltkrieg. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2009, 177. 3 Vgl. ebd., 177–181.

47

Paweł Meus

dass das Bild des Krieges aus der Perspektive einzelner Zeugen stets unvollständig bleibt und sich auf den ausgewählten bzw. erfassten Teil bezieht.4 Unabhängig von der Erzählsicht soll die den Ersten Weltkrieg betreffende Literatur als kollektive Erinnerung gelten, die zur Entwicklung der »einer inneren Notwendigkeit und eigenen Logik folgenden und Bilder vom Krieg als Teil der Moderne entwerfenden«5 Mythologie beiträgt. Für sie fungiert die Geschichte als Material, das die Schöpfung einer imaginierten, aber zugleich dem Anspruch der Nachkriegszeit untergeordneten Welt ermöglicht.6 Kriegsliteratur zeichnet sich in ihrer Form durch Authentizität subjektiver Erlebnisse, Ästhetik des Konkreten und Einfachen sowie kunstlose Beschreibung aus. Ihr ist ein logischer Ablauf der dargestellten Szenen eigen, der in der Kohärenz, Kausalität und Plausibilität zum Ausdruck kommen soll. Die Geschehnisse, an denen sogenannte ›kleine‹ Menschen teilnehmen, werden oftmals als Briefe, Tagebücher oder Kriegsberichte aus der Perspektive eines einfachen Soldaten oder Offiziers des niedrigeren Dienstgrades geschildert.7 Die Werke, die den Ersten Weltkrieg zum literarischen Thema machen, lassen sich in drei von Bernd Hüppauf vorgeschlagene literarische Todesbilder und damit auch Kriegsauffassungen unterteilen. Die zwei ersten Bilder gehören zur Antikriegsliteratur und schildern den Tod entweder als kollektive Erfahrung der einfachen Soldaten auf dem Schlachtfeld, die einen Ausgangspunkt für eine Vision einer neuen, humanen, friedlichen und gerechten Welt schafft, oder als Ausdruck der Absurdität des Krieges, in dem sich das Leben ausschließlich auf das Überleben beschränkt und es keine Hoffnung gibt. Das dritte Bild verkörpert die Idee der kriegsbejahenden Literatur, die Heroismus und die Mythisierung des Todes hervorhebt.8 Anfangs erfreuen sich Kriegsbücher in Deutschland keines großen Interesses, was sich am wahrscheinlichsten aus der Tatsache ergibt, dass die Menschen die Kriegskatastrophe aus dem Gedächtnis verdrängen wollen. Erst in der zweiten Hälfte der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre tritt der Krieg als literarisches Thema stärker in Erscheinung, was sowohl die fortschreitende Verarbeitung der Kriegserlebnisse als auch die innenpolitische Beruhigung und der wirtschaftli-

4 Vgl. Jerzy Święch. »Wojna a ›projekt nowoczesności‹«. Mieczysław Dąbrowski, Andrzej Makowiecki (Hg.). Modernistyczne źródła dwudziestowieczności. Warszawa: nakł. Wydziału Polonistyki Uniwersytetu Warszawskiego, 2003, 10. 5 Bernd Hüppauf, »Kriegsliteratur«, 177. 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. ebd., 179–180, 187–188. 8 Vgl. Bernd Hüppauf. »›Der Tod ist verschlungen in den Sieg‹. Todesbilder aus dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit«. Bernd Hüppauf (Hg.). Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft. Königstein/Ts.: Forum Academicum, 1984, 80–89.

48

Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane

che Aufschwung der Weimarer Republik ermöglichen.9 Die Kriegsliteratur hat zunächst einen politisch-beurteilenden Charakter und wird oft von ehemaligen Soldaten nach Kriegsende und der Aufhebung der Zensur als militärische Erklärungsschriften verfasst. Sie konzentriert sich auf die retrospektive Feststellung von Fakten. Ab Mitte der 1920er Jahre erscheinen aber überwiegend fiktionale Kriegsromane, die den Krieg bewältigen und gegenwarts- oder zukunftsorientiert deuten. Parallel dazu erscheinen Kriegstagebücher einfacher Soldaten, die nicht als ›schöne‹ Literatur rezipiert werden, sondern vor allem die authentischen Erlebnisse der Autoren übermitteln.10 Unter den bekanntesten deutschsprachigen Kriegsautoren sind zu nennen: Karl Kraus, Ernst Jünger, Arnold Zweig, Edlef Köppen, Ludwig Renn und wahrscheinlich der durch seine weltweite Berühmtheit wichtigste Vertreter der Kriegsliteratur – Erich Maria Remarque.11 Dies kann der Erfolg seines bekanntesten Werkes Im Westen nichts Neues belegen, dessen Auflage von 600.000 Exemplaren in 12 Wochen bis heute eine der unschlagbaren Leistungen in der Literatur bleibt.12 Der zwar wortkarge, aber zugleich inhaltlich sehr viel vermittelnde und ernüchternde Roman Remarques gilt als universeller Ausdruck der Wirklichkeit, die vor allem junge Menschen – die sogenannte »verlorene Generation« – während des Ersten Weltkrieges geprägt hat.13 Diese Jungen, die das Erwachsenenleben mit dem Fronteinsatz haben beginnen müssen, bemühen sich oftmals jahrelang nach dem Kriegsende, das Trauma der Schützengräben zu bewältigen. Im Westen nichts Neues bringt die verborgene psychische Last der Kriegserfahrungen mithil-

9 Vgl. Hubert Rüter. Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Ein Bestseller der Kriegsliteratur im Kontext. Entstehung-Struktur-Rezeption-Didaktik. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1980, 13–15. 10 Vgl. Hans-Harald Müller. »Bewältigungsdiskurse. Kulturelle Determinanten der literarischen Verarbeitung des Kriegserlebnisses in der Weimarer Republik«. Bruno Thoß, HansErich Volkmann (Hg.). Erster Weltkrieg. Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Paderborn: Schöningh, 2002, 776–777. 11 Vgl. Gerd Krumeich. Die 101 wichtigsten Fragen. Der Erste Weltkrieg. München: C. H. Beck, 2014, 112. Unter deutschen Kriegsautoren sind zu erwähnen: Fritz von Unruh, Paul Ernst, Johannes R. Becher, Richard Dehmel, Martin Beradt, Heinrich Lilienfein, Hans Carossa, Ernst Friedrich, Bruno Vogel, Rudolf G. Binding, Felix Moeschlin, Franz Schauwecker, Hans Otto Henel, Georg von der Vring, Siegfried Kracauer, Joachim Ringelnatz, Georg Grabenhorst, Ernst Glaeser, Richard Hoffmann und Emil Schulz. Bücher über den Ersten Weltkrieg schreiben Roland Dorgelès in Frankreich sowie E. E. Cummings und Ernest Hemingway in den USA. 12 Vgl. Wilhelm von Sternburg. »Als wäre alles das letzte Mal«. Erich Maria Remarque. Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2000, 22. 13 Vgl. Wolfgang Brylla. »Verloren im Schützengraben. Zur Raumsemantik der dargestellten Kriegsräume in Erich Maria Remarques ›Im Westen nichts Neues‹«. Marcin Gołaszewski (Hg.). Acta Universitatis Lodziensis. Folia Germanica. Łódź, 2014, 153.

49

Paweł Meus

fe seiner starken Antikriegsbotschaft zum Ausdruck und fungiert als Stimme der »verlorenen Generation«.14 Das Buch löst zur Zeit seiner Erstausgabe ein starkes Echo in der Öffentlichkeit aus. Nikos Späth bemerkt in Bezug auf die deutsche und amerikanische Presse: »Von hasserfüllter Ablehnung bis hin zu euphorischer Vereinnahmung reichte das Meinungsspektrum.«15 Besonders seitens der Staatsinstitutionen sind Stellungnahmen zu Remarque und seinem Werk überwiegend negativ, aber unter Bürgern weckt das Buch lebhaftes Interesse.16 Auch ein heute vergessener Autor, Alfred Hein, der wie Erich Maria Remarque zur »verlorenen Generation« gehört und seine Kriegserfahrungen in Form eines Buches zu verarbeiten beabsichtigt, soll sich nach Überlieferung seiner damaligen Sekretärin, Annke-Margarethe Knauer,17 in einem an sie gerichteten Brief zum Roman von Remarque folgendermaßen geäußert haben: »Ich habe heute in Insterburg in Remarques Im Westen nichts Neues geblättert. Der Roman ist ganz anders in der Anklage und im Inhalt als meiner, ich glaube, daß in meinem recht viel mehr drinsteht.«18 Diese Worte spornen dazu an, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Werken beider Autoren zu hinterfragen. Das Vorhaben scheint umso interessanter zu sein, wenn man die Entstehungszeiten beider Romane genauer betrachtet. Erich Maria Remarque hat an Im Westen nichts Neues aller Wahrscheinlichkeit nach um die Jahreswende 1927/1928 gearbeitet und hofft zunächst, dass sein Roman im Fischer Verlag veröffentlicht wird, was jedoch nicht geschieht.19 Seine Geschichte von Paul Bäumer und seinen Kameraden wird vom 10. November 1928 bis zum 9. Dezember 1928 in der Vossischen Zeitung vorabgedruckt und am 29. Januar 1929 vom Berliner Propyäen-Verlag herausgegeben. In demselben Jahre fol-

14 Vgl. Alfred Antkowiak. Erich Maria Remarque: Leben und Werke. Berlin: Volk und Wissen, 1978, 32, 36–37. 15 Nikos Späth. »Das Thema hatte es in sich«. Die Reaktion der deutschen und amerikanischen Presse auf Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«. Göttingen: Vandenhoeck & Ru­ precht, 2020, 12. 16 Vgl. von Sternburg, 148–149. 17 Annke-Margarethe Knauer (15.02.1901–14.01.1987) war Heins Lebensgefährtin und Mitarbeiterin. Sie arbeitete für Hein zuerst ab dem 02.01.1925 als Sekretärin im Rahmen der Tätigkeit bei der Reichszentrale für Heimatdienst, dann unterstützte sie ihn als freien Schriftsteller in Berlin. Nach seinem Tod sammelte sie als Nachlassverwalterin Heins Werke und mit dem Autor verbundene Dokumente und gründete das Alfred-Hein-Archiv. Alle Materialien überreichte sie vor ihrem Tod dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, wo sie sich bis heute befinden. 18 Nach Annke-Margarethe Knauer. Alfred Hein. Ein Lebensbild aus der Sicht von Annke-Margarethe Knauer. Berlin: 1983 (Maschinenschrift im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Kasten 1925), 48. 19 Vgl. Rüter, 37.

50

Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane

gen 32 Übersetzungen, und 1930 entsteht die Verfilmung des Erfolgsbuches.20 Alfred Hein schreibt sein Urteil über Remarques Werk am 27. Mai 1929, nachdem er sich während einer Dienstreise in Insterburg (damals in Ostpreußen, heute Tschernjachowsk in der russischen Oblast Kaliningrad) mit ihm hat vertraut machen können. Zu dieser Zeit ist es weit und breit bekannt, und Hein finalisiert die Niederschrift seines Romans, den er letztendlich am 6. Juni 1929 abschließt.21 Interessanter ist aber der Zeitpunkt, zu dem Hein die Arbeit an seinem wichtigsten Werk anfängt. Dem Manuskript des Romans, der anfangs als Erzählung Verdun und später als Kriegsnovelle vorgesehen war,22 aber letztendlich als ein umfassender Roman unter dem Titel Eine Kompagnie Soldaten, mit dem Untertitel In der Hölle von Verdun, im Wilhelm-Köhler-Verlag in Minden am 16.  Oktober 1929 erscheint23 und 1930 von F. H. Lyon ins Englische übersetzt wird,24 kann man entnehmen, dass Hein sein Kriegsbuch am 9. Dezember 1928 niederzuschreiben beginnt. Mag dies ein Zufall sein, dass der letzte Teil von Im Westen nichts Neues als Zeitungsausgabe ausgerechnet an diesem Tag erscheint? Die Frage beantwortet Hein selbst im Vorwort zu Eine Kompagnie Soldaten, wo er schreibt: Als ich vor zwei Jahren das Buch vorzubereiten und im vergangenen Jahre niederzuschreiben begann, gab es noch keine Hausse in Kriegsbüchern. Ich glaubte, ich würde mit ihm gegen den Strom der literarischen Moden schwimmen. Es ist über die Nacht anders gekommen. Ich will diesem Modestrom dankbar sein, wenn er auch meinem Kriegsbuch zur weiten Verbreitung verhilft, obwohl Mode und Front­ erlebnis verdammt schlecht in Einklang zu bringen sind.25

Diese Worte können trotz konvergenter Daten davon zeugen, dass sich Hein beim Verfassen seines Romans von Remarques Werk nicht inspirieren lässt und ihn lediglich anhand eigener Fronterlebnisse gestaltet. Abgesehen von der Wahrhaftigkeit der zitierten Erklärung soll man Heins Werk mit Remarques Antikriegsbuch vergleichen. Im Einzelnen werden folgende Aspekte erörtert: Aus welcher Sicht wird die Geschichte erzählt und welche Rolle spielt sie bei der Darstellung

20 Vgl. Erich Maria Remarque, Biographie in Daten, www.remarque.uni-osnabrueck.de (04.09.2021). 21 Vgl. Alfred Hein. Eine Kompagnie Soldaten. In der Hölle von Verdun. Königsberg: 1929 (Manuskript im Deutschen Literaturarchiv Marbach, Nachlass VI). 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. Knauer, Alfred Hein, 48. 24 Alfred Hein. In the hell of Verdun. London: Cassel and Company, 1930. 25 Alfred Hein. Eine Kompagnie Soldaten. In der Hölle von Verdun. Minden i. W.: Wilhelm Köhler, 1931, 8. Aus der Ausgabe des Buches, die von Annke-Margarethe Knauer 1978 nach Kürzung und Überarbeitung in Zusammenarbeit mit Alois M. Kosler neu herausgegeben wird, kann man ersehen, dass Alfred Hein das Vorwort im Sommer 1929 verfasste.

51

Paweł Meus

der Wirklichkeit? Welche zeitlichen und räumlichen Elemente werden genannt? Wie werden Figuren kreiert und miteinander konfrontiert? Bevor man auf diese Fragen näher eingeht, wäre es an dieser Stelle angebracht, in einigen Worten an Alfred Hein und seine Tätigkeit zu erinnern. Alfred Hein kommt am 7. Oktober 1894 in Beuthen O/S (heute Bytom) zur Welt. Sein Vater Benno ist Lehrer, welcher zugleich seiner Leidenschaft nachgeht und sich als oberschlesischer Heimatforscher und -schriftsteller bewährt.26 In Heins Familienhaus herrscht eine die künstlerische Begeisterung des jungen Alfred fördernde Atmosphäre,27 die ihn zu seinen ersten literarischen Versuchen (1906) anspornt.28 Nach dem Gymnasiumabschluss meldet er sich freiwillig zum Militärdienst. 1916 verfasst Hein das in der Liller Kriegszeitung veröffentlichte Gedicht Eine Kompanie Soldaten, das er unter dem Einfluss seiner Erlebnisse als Meldeläufer im Ersten Weltkrieg schreibt.29 Das Gedicht bringt ihm 1920 den ersten Preis für das beste »Marschlied der neuen Wehrmacht«.30 Nach dem Krieg zieht Hein nach Königsberg (heute Kaliningrad), wo er als Redakteur und Theaterkritiker tätig ist. In Ostpreußen schließt er mit Helene Laue die Ehe, aus der die beiden Töchter Marianne und Irene hervorgehen.31 Ab dem 1. Dezember 1923 bekleidet er das Amt des Leiters der Reichszentrale für Heimatdienst in Ostpreußen. In dieser Zeit lernt er Annke-Margarethe Knauer, seine Arbeits- und Lebenskameradin, kennen. 1929 wird er zum Leiter der Landesabteilung Mitteldeutschland der Reichszentrale für Heimatdienst in Halle (Saale) berufen. In den 1930er Jahren betätigt sich Hein vor allem als freier Schriftsteller in Berlin.32 Seine schriftstellerische Arbeit wird endgültig 1944 durch die Einberufung zur Wehrmacht unterbrochen. Er ist bis zum Einmarsch der Roten Armee in Schlesien eingesetzt.33 Am 8. Mai 1945 gerät er in sowjetische Gefangenschaft, aus der er mit einer Blutvergiftung abtransportiert wird. Alfred Hein stirbt am 30.  Dezember

26 Vgl. Annke-Margarethe Knauer. »Immer verwurzelt in seinem Volk. Vor 85 Jahren wurde der Dichter Alfred Hein geboren – Er wirkte lange in Königsberg«. Das Ostpreußenblatt 30 (1979), 42, 9. 27 Vgl. Alfred Hein. Zuhausmusik. Geschichten, Betrachtungen, Briefe und Gedichte. Ein Kranz der Erinnerung an den Dichter und seine oberschlesische Heimat. Augsburg: Oberschlesischer Heimatverlag, 1968, 32. 28 Vgl. Stefan Pioskowik. »Mit musikalischer Sensibilität durchs Leben«. Oberschlesische Stimme 27 (2015), 2 (315), 3–4. 29 Vgl. ebd. 30 Knauer, Alfred Hein, 178. 31 Vgl. ebd., 177. 32 Vgl. ebd., 177–180. 33 Vgl. Annke-Margarethe Knauer. »Erinnerungen an Alfred Hein (1894–1945)«. Alfons Perlick (Hg.). Mitteilungen des Beuthener Geschichts- und Musemsvereins. Dortmund: Druck- und Verlagshaus Everhard Sommer, 1979, 199–203.

52

Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane

1945 im Heimkehrerkrankenhaus in Halle (Saale) und wird dort auch begraben.34 Der Kern seines literarischen Erbes besteht aus Gedichten, Erzählungen und Romanen. Zu den wichtigsten Werken gehören: Frauenburger Reise (1921), Delta des Lebens (1926), Oberschlesien (1926), Eine Kompagnie Soldaten, gleichnamiger Roman (1929), Annke - Kriegsschicksale eines ostpreußischen Mädchens (1915–1918) (1931), Die Erstürmung des Toten Manns am 20. Mai 1916 (1932), Greift an, Grenadiere! (1939), Beates Vater (1940), Verliebte Ferienreise (1941), Du selber bist Musik (1942). Ihre Thematik kreist um Krieg, Heimat, Natur, Musik und Gott. Erzählweise Remarque schreibt Im Westen nichts Neues als eine allgemeine Aussage seiner Generation über die kollektive Erfahrung. Auf simple Art und Weise schildert er das Schrecken des Frontdienstes und die Strapazen des Soldatenlebens, die vor allem für junge Menschen besonders unerträglich sind. Deren Vertreter, Paul Bäumer, der vor Kurzem die Schule abgeschlossen hat, macht er zur Hauptfigur, die die Kriegswirklichkeit als Ich-Erzähler beschreibt. Remarque verbindet in Bäumers nüchternem Bericht seine eigenen Erlebnisse (Rekrutenzeit, Heimaturlaub, Schanzdienst, Verwundung und Aufenthalt im Lazarett) mit vielen unter Mitsoldaten gesammelten Geschichten (Grabenkampf, Gasangriffe an der Front, Stellungskrieg und direkte Feindberührung), die trotz fiktionaler Umarbeitung ein durchaus authentisches Zeugnis vom Ersten Weltkrieg ablegen.35 Dank der gekonnten Erzählweise gelingt es Remarque, Paul Bäumer als Opfer und Mahner glaubwürdig zu machen, der die Ansichten des Autors über den Krieg und dessen Auswirkung überzeugend vermittelt. Bäumers persönliche Botschaft gilt als universelle Klage der vom Krieg zerstörten Generation, die im Schützengraben alle Hoffnung verloren hat. Alfred Heins Opus magnum, der Roman Eine Kompagnie Soldaten, unterscheidet sich von Im Westen nichts Neues. Es schildert die literarisch bearbeiteten Geschehnisse, die der Autor selbst während seines Einsatzes an der Westfront erlebt hat. Heins Vorhaben ist es, unterschiedliche Perspektiven zum Krieg in diesem Buch zu zeigen. Trotz vieler autobiographischer Merkmale und seiner eigenen Verkörperung als Freiwilliger in der Figur des jungen Läufers Lutz Lindolf (Herkunft, Empfindlichkeit, unerfüllte Liebe, Dienst direkt an der Front) macht Hein absichtlich die im Titel angesprochene Kompanie zum eigentlichen Helden des Werkes und lässt alle im Buch vorkommenden Figuren ihre unterschiedlichen

34 Vgl. Pioskowik, 3–4. 35 Vgl. Rüter, 44.

53

Paweł Meus

Gedanken zum Ausdruck bringen. Er will dadurch die Kameradschaft als höchsten im Kriege entstandenen Wert preisen.36 Der Autor verzichtet bewusst auf den Ich-Erzähler und wählt eine auktoriale Erzählweise, um ein möglichst ganzheitliches Spektrum des Ersten Weltkrieges in seinem Roman zu zeigen. Dank dieses Vorgehens beschreibt er nicht nur Lindolfs Geschichte, der als Vertreter der jüngsten Generation im Schützengraben fungiert, sondern auch Schicksale reiferer Männer, die aus unterschiedlichsten Kreisen kommen und oft gegenseitige Ansichten bzw. Haltungen im zivilen Leben vertreten. Zeit- und Ortsangaben Sowohl zeitliche als auch örtliche Begebenheiten werden in Im Westen nichts Neues nicht präziser bestimmt, was in erster Linie aus dem Anliegen des Autors resultiert, dem Werk einen allgemeinen Charakter verleihen zu wollen.37 Desweiteren kann Remarque seine persönlichen Kriegserfahrungen in den fiktionalen Plot einflechten, der auf Erzählungen anderer Soldaten beruht.38 Aus diesem Grund vermeidet er genauere Zeitrahmen und Ortsbezeichnungen, die sich auf seinen Kriegseinsatz beziehen könnten. Bei genauerer Lektüre ist jedoch die erzählte Zeit zu erkennen. Sie dauert vom Sommer 1917 bis Oktober 1918, was Hubert Rüter in seiner eingehenden Analyse bestätigt.39 In Bezug auf den Raum stellt er fest, dass »Remarque das Kriegsgeschehen in einer Art Niemandsland lokalisiert«.40 Nichtdestotrotz lässt sich auch eine geringe Gruppe der in der realen Welt existierenden Orte auffindbar machen, wie Langemarck, Bixschoote, Köln als Ziel des Lazarettzuges, Lazarett Thourhout oder ein Kino in Valenciennes. Die sparsamen Zeit- und Ortsangaben sind auch als Irrelevanz der Zeit und allgemeine Gleichgültigkeit während des Fronteinsatzes zu interpretieren. Alfred Hein bedient sich in Eine Kompagnie Soldaten genauer Angaben, die den zeitlichen und räumlichen Rahmen des Werkes ausmachen. Die Handlung lässt sich anhand gelegentlicher Zeitangaben recht genau bestimmen. Sie beginnt im Frühjahr 1916, als junge Freiwillige ihren Vorbereitungsdienst beenden und zur Westfront abkommandiert werden. Es wird auch angemerkt, dass sie am Oster­ abend in ihre Einheit eingereiht und bereits am zweiten Osterfeiertag zum Sturm eingesetzt werden. Hein flicht in die Beschreibung der Kämpfe drei Tagesdaten ein, die es festzustellen ermöglichen, dass die meisten im Roman beschriebenen

36 Vgl. Hein, Eine Kompagnie Soldaten, 7–8 (Vorwort). 37 Vgl. Rüter, 65. 38 Vgl. ebd., 44. 39 Vgl. ebd., 71. 40 Ebd.

54

Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane

Ereignisse im Mai 1916 stattfinden. Diese sind der 1. Mai 1916, als die Soldaten einen ruhigeren Abend an der Front erleben, der 9. Mai 1916, als einer der Kompaniesoldaten gefallen ist, und der 14. Mai 1916, als der Kompanieführer reklamiert wird. Ausgehend von dem letzten Datum sind vier Ruhetage, vom 13. bis zum 16. Mai 1916, vor dem letzten Kampfeinsatz zu bestimmen. Am Ende des Buches wird darauf hingewiesen, dass der reklamierte Kompanieführer im August 1916 freiwillig an die Front zurückkommt. Der Plot endet aber erst zu Beginn des Winters 1916, als der junge Kompanieläufer aus dem Lazarett zurückkehrt und überlebende Mitglieder der Kompanie auf einen weiteren Kampf an der Front warten.41 Der Hauptraum des Romans ist die Westfront während der Schlacht vor Verdun, die das Terrain zwischen Fort Marre und zwei Höhen an der Maas, Toter Mann und 304, ausmacht. Dort spielen sich die meisten Szenen ab, vor allem diejenigen, die die zerstörerische Kraft des Krieges zeigen. Anknüpfend an den Frontverlauf kommen folgende geografische Namen vor: Fort Vaux und Fort Douaumont, die Ortschaften Béthincourt und Cumières (durch Artillerie dem Erdboden gleich gemachte Dörfer in der Nähe der Front, die als Orientierungspunkte dienen), Dannevoux (eine Ortschaft, wo die Kompanie stationiert ist), Montmédy (eine Kleinstadt, wo sich ein Lazarett befindet), Sedan (wo es einen wichtigen Bahnknotenpunkt gibt), Dun an der Maas (franz. Dun-sur-Meuse, wo das Grollen der Front schon vernehmbar ist und der Zug während des Aufenthalts beschossen wird), Mouzon (wo die Soldaten erneut ausgerüstet werden) und Brieulles (wo sie während des Marsches zur Front übernachten müssen) sowie der Ardennerwald, der Wald von Montmédy und Forges-Bach. Hein bemerkt, dass der Zug mit Soldaten durch viele deutsche Regionen und Städte, u.a. Thüringen, Franken mit Marburg, Limburg an der Lahn und über den Rhein sowie am französischen Metz vorbeifährt. Als Gegensatz zum Frontraum werden Wernigerode und Wien dargestellt, wo der Krieg kaum zu spüren ist. Einen gewissen Zwischenraum bilden Berlin, in dem erste negative Folgen des Krieges auffallen und uniformierte Männer im Straßenbild in der Mehrheit sind, und die Kaserne in Döberitz, wo die Freiwilligen auf den Einsatz vorbereitet werden.42 Figurenkonstellation Im Zentrum von Im Westen nichts Neues steht Paul Bäumer, dessen Erlebnisse und Beobachtungen den Plot des Romans ausmachen. Als Ich-Erzähler schildert er Personen, denen er während des Krieges begegnet, und bestimmt zugleich, ob

41 Vgl. Hein, Eine Kompagnie Soldaten, 10–13, 17, 28, 32, 72, 160, 181, 326–327. 42 Vgl. ebd., 12–13, 18–24, 27, 29–30, 102, 184, 188, 195, 203, 234, 318.

55

Paweł Meus

er sie freundschaftlich, gleichgültig oder misstrauisch wahrnimmt. Anhand seiner Urteile entstehen Verhältnisse unter einzelnen Figuren, die mehr oder weniger mit Paul Bäumer verbundene Gruppen bilden. Bäumer selbst ist ein neunzehnjähriger junger Mann, der sich unter dem Einfluss seines Lehrers mit seiner ganzen Klasse zum Dienst meldet. Er fungiert als Vertreter der »verlorenen Generation«,43 denn er wurde durch den Krieg zerstört und ist, wie er selbst behauptet, »abgeschlossen vom Tätigen, vom Sterben, vom Fortschritt«.44 In dieser Figur versteckt Remarque sich selbst, weil Bäumer sowie Remarque aus einer kleinbürgerlichen Familie stammen. Die beiden haben auch eine ältere Schwester, die krebskranke Mutter und den Vater, der als Handwerker arbeitet. Die beiden haben ebenso Interesse an Literatur und Kunst.45 Bäumers Schicksal teilen auch seine drei Klassenkameraden, von denen er wie folgt schreibt: […] der kleine Albert Kropp, der von uns am klarsten denkt und deshalb erst Gefreiter ist; – Müller V, der noch Schulbücher mit sich herumschleppt und vom Not­ examen träumt; im Trommelfeuer büffelt er physikalische Lehrsätze; – Leer, der einen Vollbart trägt und große Vorliebe für Mädchen aus den Offizierspuffs hat; er schwört darauf, dass sie durch Armeebefehl verpflichtet wären, seidene Hemden zu tragen und bei Gästen vom Hauptmann aufwärts vorher zu baden; – und als Vierter ich, Paul Bäumer. Alle vier neunzehn Jahre alt, alle vier aus derselben Klasse in den Krieg gegangen.46

Diese Jungen, die der »verlorenen Generation« zugehören, sind der erste Teil der wichtigsten Gruppe im Roman – die Gruppe der Kameraden, deren anderer Teil folgende Männer mit einiger Lebenserfahrung bilden: Tjaden, ein magerer Schlosser, so alt wie wir, der größte Fresser der Kompanie. Er setzt sich schlank zum Essen hin und steht dick wie eine schwangere Wanze wieder auf; – Haie Westhus, gleich alt, Torfstecher, der bequem ein Kommißbrot in eine Hand nehmen und fragen kann: Ratet mal, was ich in der Faust habe; – Detering, ein Bauer, der nur an seinen Hof und an seine Frau denkt; – und endlich Stanislaus Katczinsky, das Haupt unserer Gruppe, zäh, schlau, gerissen, vierzig Jahre alt, mit einem Gesicht aus Erde, mit blauen Augen, hängenden Schultern und einer wunderbaren Witterung für dicke Luft, gutes Essen und schöne Druckposten.47

43 Vgl. Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012 (kiwi494), 12, 17, 66–67, 180. 44 Ebd., 67. 45 Vgl. ebd., 114, 116, 121, 137. 46 Ebd., 12. 47 Ebd.

56

Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane

Diese acht Soldaten unterstützen einander während des Aufenthalts an der Front, und ihre Verbindung ist wegen des erlebten Schreckens des Krieges stärker als die familiäre. Sie sind Kameraden, d.h. sie werden durch die extrem schwere Erfahrung des Schützengrabens zu einer einzigartigen Gemeinschaft, die Bäumer zufolge das einzige und letzte Gute im Krieg ist. Sie bringt Soldaten Freude und kleine Momente der Vergessenheit. In dieser Gemeinschaft finden sie Verständnis und Unterstützung, weil deren Mitglieder dasselbe Schicksal erfahren müssen.48 Ihr Gegenpol sind heuchlerische Vorgesetzte, die durch den Unteroffizier Himmelstoß verkörpert werden. Er richtet sich nur nach der falsch verstandenen Disziplin und Ordnung, wobei er alle ihm untergeordneten Soldaten missachtet. In der Kaserne, wo er sie auf den Kampf im Felde vorbereiten soll, kümmert er sich um keine menschlichen Fragen, d.h. für ihn erscheinen die Jungen als Mittel, durch das man den Krieg für das Vaterland gewinnen kann. Er nutzt immer seine Obrigkeit aus und ist lange Zeit nicht imstande, zuzugeben, dass alle Soldaten an der Front angesichts der Gefahr und des Todes gleich sind. Trotz seiner patriotischen Leitsprüche bewährt er sich an der Front nicht, denn er bekommt Angst während eines Angriffes und simuliert einen Verwundeten. Erst nach Kämpfen im Schützengraben besinnt er sich und behandelt andere tatsächlich wie Kameraden.49 Himmelstoß erscheint zunächst als Vertreter des preußischen Staates, dem Überlegenheit und Verachtung eigen sind. Er wünscht sich nur den deutschen Sieg. Von der deutschen Führerschaft, die ihre Quelle in den Erfolgen der letzten Kriege hat, träumen auch Bäumers Vater und der Klassenlehrer Kantorek. Sie gehören zur älteren Generation, die selbst nicht kämpft, aber wegen ihrer starken patriotischen Gefühle den stolzen Kampf und die Aufopferung für das Vaterland von der jüngeren Generation erwartet.50 Zu erwähnen sind auch die Frauenfiguren, die im Hintergrund stehen und hauptsächlich anonym sind. Sowohl Krankenschwestern, die den Soldaten im Hospital helfen oder sie am Bahnhof bedienen, als auch französische Frauen, mit denen Paul Bäumer und seine Kameraden die Nacht verbringen, gelten als zweitrangige Figuren, denen Remarque kein besonderes Augenmerk schenkt. Weder ihre Namen noch Gedanken werden zur Schau gestellt.51 Die einzige Frau, deren Gefühle hervorgehoben werden, ist Bäumers Mutter. Unter Personen, die in der Heimat bleiben und keinen direkten Kontakt mit dem Krieg haben, versucht nur sie, ihren Sohn zu verstehen. Sie interessiert sich für keinen Verlauf der Kämpfe, was der Fall bei anderen ist, sondern für das Schicksal ihres Kindes, das sich

48 Vgl. ebd., 184–185. 49 Vgl. ebd., 62–63, 96, 99–100. 50 Vgl. ebd., 17, 117–118. 51 Vgl. ebd., 106–108, 111.

57

Paweł Meus

in einer besonders schweren Lage befindet. Sie verkörpert die außergewöhnliche Sorge und einzigartige Gefühlsbindung aller Mütter.52 Alfred Hein macht die 12. Kompanie des Reserve-Infanterieregiments 313, die verschiedene Männer vereint, zum Helden seines Romans. Sie kommen aus ganz Deutschland, sind in unterschiedlichem Alter, üben verschiedene Berufe aus und haben sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen. An ihrer Spitze steht seit 18 Monaten Leutnant Werner Wynfrith, der von allen Soldaten der Kompanie für seinen humanen Sinn geschätzt wird. Er ist schon seit der Marneschlacht an der Front und weiß sehr gut, das Leben seiner Kameraden zu schützen. Er kommt aus Wernigerode und ist im Privatleben Direktor einer Chemiefabrik, wo er vor der Einberufung an der Entwicklung von Giftgas gearbeitet hat. Um die Arbeit an seiner Entwicklung abzuschließen, wird er von seiner Fabrik angefordert. Erst nach einer erfolgreichen Versuchsreihe vergegenwärtigt er sich, dass dieses Gas zwar zum deutschen Sieg und zur baldigen Beendigung des Krieges beitragen kann, aber zugleich ihn zum Verursacher des Todes vieler Kameraden macht. Letztendlich verhindert er, seine Erfindung zum Einsatz zu bringen, und lässt sich wieder zu seiner Kompanie abkommandieren. Obwohl Wynfrith eine Familie hat, liebt er seine Mitarbeiterin, die ihn versteht und in der Arbeit unterstützt.53 Lutz Lindolf ist ein junger Kompaniemelder aus Schlesien, der sich im Laufe der Zeit von einem noch infantilen Jungen in einen reifen Mann verwandelt. Er erfährt die wahre Kameradschaft, die die Soldaten verbrüdert und zur gegenseitigen Unterstützung bringt. Trotz einiger schwieriger Momente, wie beispielsweise beim einsamen Meldegang an einem Ruhetag der Kompanie oder bei der aufgegebenen Fahnenflucht während eines Lazarettbesuches, bleibt der junge Soldat sehr tapfer und opferbereit. An der Front kann er sogar für ein Vorbild für viele andere gehalten werden. Im Inneren bleibt er sehr empfindsam, was sich in Gesprächen mit den Kameraden zeigt. Davon zeugen auch seine Briefe an seine Geliebte, die jedoch seine Liebe oberflächlich behandelt und nicht versteht, ebenso wie seine dichterische Neigung.54 Ein anderer Melder der Kompanie ist der Gefreite Bernöckel, der bereits 17 Monate seit Langemarck im Einsatz ist und vor dem Kriegsausbruch in Berlin studiert hat. Während eines Angriffes gerät er völlig aus der Fassung und läuft zu den Franzosen über. Danach kommt er aber schnell wieder zur Vernunft und

52 Vgl. ebd., 113–116. 53 Vgl. Hein, 32, 48, 51, 113, 120–121, 135–137, 165, 170, 183–184, 232, 266, 319, 323, 325–326. Diese Konstellation entnimmt Hein seiner eigenen Lage im Moment, wenn er das Buch verfasst. In der Figur Lutz Lindolfs stellt der Autor sich selbst als Freiwilliger dar. 54 Vgl. ebd., 10, 14, 18–19, 30, 35, 38, 45–47, 49, 51, 62, 66, 73, 128–129, 135–136, 165, 191, 208–210, 299.

58

Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane

leistet dem Feind in der Gefangenschaft Widerstand. Nach einiger Zeit gelingt es ihm, zurückzukommen und sich der Kompanie anzuschließen.55 Während der Abwesenheit von Bernöckel sind folgende Soldaten als Melder tätig: Franz Rinkel (ein frommer Bauer vom Niederrhein, der große Angst vor dem Kriegslärm hat und von der Fahnenflucht abgehalten werden muss),56 Hugo Hirschfeld (ein Expressionist jüdischer Abstammung, der den von ihm verschuldeten versehentlichen Tod eines Kameraden bei der Gewehrreinigung mit gewissenhaftem Dienst und dem eigenen Tod zu sühnen glaubt)57 und Melchthal (ein schwäbischer Meister im Schnelllaufen, der schon mit der Kompanie in Serbien beim Übergang über die Drina war und nach dem Genesungsurlaub wegen eines Streifschusses zurückkommt, um den gerade am 9. Mai 1916 gefallenen Hirschfeld zu ersetzen).58 Eine merkwürdige Gruppe innerhalb der 12. Kompanie ist der Skatklub, den vier Soldaten bilden. Der erste von ihnen ist Pechtler, ein Arbeiter, der zum vierten Mal an der Front ist. Im Dienst hat er keine Angst und bleibt immer ein mutiger und echter Kamerad. Er wird durch einen Schuss ins Rückgrat zum Krüppel;59 der nächste ist Töz, ein dicker Mann aus Franken, der im Zug zur Front noch überlegt, ob er nicht rausspringen kann. Er verkörpert den lustigen Soldatengeist,60 der dritte ist Wittke, der wie sein kurz zuvor gefallener Bruder bald nach der Ankunft an der Front ums Leben kommt.61 Ihn ersetzt gleich Pogoslawski, ein oberschlesischer Bergmann, dessen Herkunft anhand der charakteristischen Mundart festgestellt werden kann.62 Zur Kompanie gehören auch Unteroffizier Liebetanz63 und Wynfriths Bursche, Franz Krause aus Berlin, der sogar beim heftigsten Angriff essen kann.64 Im Weiteren schließt sich der Kompanie Fähnrich Tycho von Tislar, ein blauäugiger blonder Mann aus Holstein, an, der seine echte patriotische Überzeugung an der Front beweisen will.65 Neben den Kompaniemitgliedern vertreten den Geist der Kameradschaft auch Soldaten der anderen Kompanien. Einer von ihnen ist Leutnant Meerfeld, der Führer der Maschinengewehr-Kompanie, der zwar ein Luftikus im Zivilleben ist, aber sich an der Front als guter Mensch be-

55 Vgl. ebd., 30, 60–63, 90–91, 175, 317. 56 Vgl. ebd., 61–65, 68, 70, 98–100, 124–127, 140. 57 Vgl. ebd., 34, 55–56, 74–75, 88, 139, 157–158. 58 Vgl. ebd., 160, 169. 59 Vgl. ebd., 18–19, 41, 58, 63, 70, 328. 60 Vgl. ebd., 19, 59, 71. 61 Vgl. ebd., 19, 44–45. 62 Vgl. ebd., 58–59. 63 Vgl. ebd., 33, 56. 64 Vgl. ebd., 70–71, 139. 65 Vgl. ebd., 219–220.

59

Paweł Meus

währt.66 Er wird durch Artilleriefeuer getötet. An seine Stelle kommt dann ebenfalls ein vernünftiger Mann, Hjalmar van Heusen, der Hofschauspieler von Beruf ist und Krieg für ein Theater hält.67 Zu erwähnen ist auch Szimkat, ein Ostpreuße, der ein gutes Herz für alle hat und sich sogar bei deutschen Soldaten für Essen für französische Kinder einsetzt.68 Den Gegenpol zur kameradschaftlichen Kompanie bilden Soldaten, die die edlen Ideen der Kameradschaft und des Patriotismus falsch verstehen und in Eigennutz umwandeln. Einer von ihnen ist der Offizierstellvertreter Luchs, der um jeden Preis das Eiserne Kreuz bekommen will.69 Ein verblendender Ehrgeiz ist auch Oscar Beekmann eigen. Dieser Leutnant achtet nicht auf das Leben der ihm unterstehenden Soldaten und ist in den Mitteln nicht wählerisch, um seine Karriere in Schwung zu bringen. Er schämt sich nicht, seiner Verlobten heuchlerisch seine ehrlichen Absichten zu versichern, an die Front aus dem Urlaub zurückzukehren. In der Tat freute er sich, dank der Heirat zum Mitglied einer vermögenden Familie zu werden und eine sichere Stelle im Verpflegungsamt zu bekommen.70 In Bezug auf Beekmann soll man den Direktor seines Gymnasiums erwähnen, der seine beiden Söhne an der Front verloren hat und trotz des großen Schmerzes auf sie sehr stolz ist. Er glaubt blind an die offizielle Propaganda und den Sinn des Todes von vielen Soldaten.71 Besonders verwerflich wirkt das Vorgehen eines Abgeordneten namens Blödhorn. Er übernimmt für kurze Zeit die Führung einer Abteilung, um dann im Reichstag eine Kriegsanleiherede als Frontsoldat halten zu können. Während des Aufenthaltes an der Front erweist er sich als Feigling und Untauglicher, der nur Verachtung unter den Soldaten weckt.72 Im schlechten Licht werden auch die Stabs- und Kasernenoffiziere dargestellt, die vor allem partikulären Interessen folgen und die Lage der einfachen Soldaten kaum beachten. Sie vermeiden es um jeden Preis, vorne zu kämpfen, und verstecken sich meistens in sicheren Unterständen, wo man von der Versetzung in die Heimat träumt. Patriotische Floskeln dienen ihnen als Rechtfertigung für alle Entscheidungen und sollen kämpfende Soldaten zum blinden Gehorsam zwingen. Als Beispiel solcher Haltung gilt der Führer des Bataillons Major Graf Böchlarn. Ihm ist es wichtiger, sein Bataillon und dadurch sich selbst vor dem Kaiser in vollem Glanz zu präsentieren, als die Hinweise der Kompanieführer zur Verbesserung der Lage an der Front zu berücksichtigen. Auch die Oberleutnants Zecklien und Mucha aus der Kaserne in Döberitz, die die zur Front fahrenden 66 Vgl. ebd., 49–50. 67 Vgl. ebd., 58, 97. 68 Vgl. ebd., 180. 69 Vgl. ebd., 53, 57, 167–168. 70 Vgl. ebd., 52–53, 80–81. 71 Vgl. ebd., 77–79. 72 Vgl. ebd., 105–106, 138–140, 316.

60

Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane

Soldaten verhöhnen, wollen nur ihre Überlegenheit unterstreichen. Obwohl sich der Schreibstubengefreite Käse viel Mühe gibt, jegliche Verordnungen einzuhalten und solide Ausrüstung zur Verfügung zu stellen, scheint sein Mangel an Verständnis für die an der Front herrschenden Bedingungen von seinem Egoismus zu zeugen. Das Schicksal der Soldaten interessiert zunächst auch den Stabsarzt Schmetter nicht, der sich erst während des Einsatzes in vorderster Linie deren tragische Lage vergegenwärtigt.73 Hein nennt neben der Mehrzahl negativer Figuren im Stab und in der Kaserne auch einzelne gute Beispiele wie Hauptmann Koesel, der Soldaten wie ein gütiger Vater sowohl während des Exerzierens in der Kaserne als auch an der Front immer wohlwollend behandelt, oder Major Schmidt aus Lüneburg, der verantwortungsbewusst den Artillerieangriff leitet.74 Mit besonderer Abneigung und durch und durch negativ wird Unterarzt Matzka geschildert, der sich um die Gunst der Geliebten von Lutz Lindolf bemüht. Er lacht den jungen und gutgläubigen Freiwilligen aus, der seine Geliebte vor der Frontfahrt besucht und ihr später vertrauensvolle Briefe schickt. Diese liefern dann nur Matzka einen erneuten Grund zur weiteren Verhöhnung. Obwohl er überhaupt nicht kämpft, geschweige denn vorne an der Front eingesetzt ist, benimmt er sich wie ein großer Held, indem er stolz die Uniform eines Stabsarztes trägt und sich auf die von ihm nicht verstandene Kameradschaft beruft. Dies tut er lediglich aus Eitelkeit, um junge Frauen zu beindrucken.75 Eine bemerkenswerte Gruppe der Figuren machen Frauen aus, die als Vertreterinnen unterschiedlicher Haltungen erscheinen. Eine von ihnen ist Vera Wynfrith, die Ehefrau des Kommandeurs der 12. Kompanie. Sie verkörpert Konvention und Eleganz der vergangenen Vorkriegszeit, die jedoch in der durch den Krieg gebrochenen Wirklichkeit ihren Wert unabwendbar verlieren. Da Vera auf das vornehme Leben nicht verzichtet, ist sie nicht imstande, ihren Mann bei der Arbeit zu unterstützen und im Alltag zu verstehen. Dieses Verständnis und die Unterstützung bekommt er von seiner Mitarbeiterin, Agathe Schmidt, die ihn nicht nur bei der Arbeit aufopfernd und ausdauernd begleitet, sondern vor allem seinem Leben Sinn verleiht. Sie kann sich in ihn einfühlen und weiß wie keine andere, seine Leistungen zu fördern. Agathe liebt Werner, der dieses Gefühl erwidert und zusammen mit seiner treuen Helferin an die gemeinsame Zukunft denkt. Obwohl Agate eine sehr nüchterne Person ist, würde sie für seinen Geliebten selbst an der Front kämpfen.76 In Bezug auf Leutnant Wynfrith ist noch eine Frau von

73 Vgl. ebd., 12, 52,57, 81, 92, 96–97, 137, 223, 227. 74 Vgl. ebd., 36, 243–244, 246, 264. 75 Vgl. ebd., 16, 83. 76 Vgl. ebd., 111, 174, 119–122, 185–187, 326–327. Es ist zu bemerken, dass die Prototypen für diese Frauen Heins Ehefrau Helene und seine Mitarbeiterin und spätere Lebensgefährtin Annke-Margarethe Knauer waren.

61

Paweł Meus

Bedeutung. Diese ist Madeleine, eine französische Bäuerin, bei der der Kompanieführer Quartier findet. Sie steht im Buch für die verführerische und anreizende Sexualität, die keinen Wert auf die Nationalität und Weltanschauung legt. Während der Mann dieser Frau auf französischer Seite im Krieg kämpft, lockt sie den Leutnant mit ihrer Anmut, um mit ihm leidenschaftliche Nächte zu verbringen. Sie fühlt keine Feindseligkeit dem Deutschen gegenüber, sondern folgt den inneren Trieben, sich einem hübschen Mann zu nähern.77 Zwei andere Frauenfiguren sind mit Lutz Lindolf verbunden. Die erste von ihnen ist seine Geliebte, Adelheid, die eine kleine Dame spielt und den Ernst des Krieges nicht erkennt. Sowohl den Abschied von Lutz als auch den Dienst im Lazarett an der Ostfront hält sie für ein spannendes Abenteuer, das jedes Mädchen erleben sollte. Sie verkörpert Ichbezogenheit und ein bequemes Unbewusstsein, denn sie zieht das Amüsement und die Tändelei dem Verständnis für das Schicksal ihres Verehrers vor.78 Die zweite ist Carola von Theden, eine Krankenschwester in der Nervenstation des Lazaretts in Montmédy. Sie verließ ihr sicheres Zuhause, wo sie als Tochter eines Generals wohlhabend lebte, um Soldaten zu helfen. Mit ihrer Güte hilft sie unter anderem Lindolf, als er zu fliehen beabsichtigt. Sie tröstet ihn mit stärkenden Worten und gibt sich ihm einmalig hin, damit dieser Kraft zum Kampf gewinnen kann.79 Schlussfolgerungen Die kurze Charakteristik der ausgewählten Elemente der Romane von Erich Maria Remarque und Alfred Hein lässt feststellen, dass beide Werke trotz einiger Berührungspunkte deutliche Unterschiede aufweisen. Zu Gemeinsamkeiten gehören vor allem: junger Soldat als Hauptfigur, die Westfront als Hauptraum der Handlung, Kritik an patriotischen Worten, die nur leere Floskeln sind und oftmals missbraucht werden, und fehlendes Verständnis vieler kurzsichtiger Vorgesetzter für einfache Soldaten sowie vor allem Kameradschaft, die von beiden Autoren sehr hoch geschätzt wird.80 Diese besondere Gemeinschaft vereint sowohl bei Remarque als auch bei Hein unterschiedlichste Männer, Schüler und Studenten, die noch an hehre Ideale glauben, Arbeiter, die dem schweren Alltag Stirn bieten

77 Vgl. ebd., 110–113. 78 Vgl. ebd., 13–16, 128–129. 79 Vgl. ebd., 210–215, 224, 258–259. 80 Die Kameradschaft bei beiden Autoren bildet eine wichtige Kategorie der Frontwirklichkeit, die auf dem sozialen Zusammenleben der Soldaten und ihrer Erinnerung anhand der gemeinsamen, durchaus extremen Kriegserfahrung beruht. Vgl. Thomas Kühne. »Kameradschaft«. Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hg.), 602–603.

62

Erich Maria Remarques und Alfred Heins Kriegsromane

müssen, Bauern,81 die nur an ihre ruhigen Dörfer denken, und Familienväter, die als gute Vorgesetzte bzw. Gruppenführer für unerfahrene Soldaten sorgen. Das Charakteristische an Im Westen nichts Neues ist die Aussage des Buches, die als eine nüchterne Klage der sogenannten »verlorenen Generation« gilt. Remarque konzentriert sich auf das Drama der jungen Menschen, die ihre Pläne im erwachsenen Leben nicht realisieren können, sondern direkt aus der Schule zur Front des zerstörerischen Krieges geschickt werden. Aus der Perspektive Paul Bäumers wird der düstere Alltag des Schützengrabens gezeigt, die vor allem Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit in den Soldaten weckt. Remarque gestaltet seinen Roman als eine eindeutige pazifistische Botschaft, die Mahnung für kommende Generationen sein soll. Im Westen nichts Neues gehört daher zweifelsohne zur Antikriegsliteratur, die die aussichtslose Absurdität des Krieges sichtbar macht. Alfred Hein gelingt es hingegen, die Kriegswirklichkeit in seinem bedeutendsten Werk Eine Kompagnie Soldaten möglichst holistisch wiederzugeben. Neben der Kameradschaft, die der wichtigste zu übermittelnde Wert für den Autor ist, werden im Roman unterschiedlichste Haltungen der Soldaten, die Front schlechthin sowie Gedanken und Probleme der damaligen Menschen sowohl im Kriegseinsatz als auch in der Heimat gezeigt. Sie vermitteln dem heutigen Leser einen Eindruck von verwirrten Zeiten und bewegen ihn zum Nachdenken bei der Beurteilung vieler Entscheidungen der damaligen Gesellschaft. Angesichts positiver Merkmale vieler Figuren, die sich während des Fronteinsatzes entwickeln, kann man Eine Kompagnie Soldaten der Antikriegsliteratur zuweisen, die zwar die grauenhafte Kriegswelt kritisiert, aber sie zugleich als einen Ausgangspunkt für eine Vision einer neuen, humanen, friedlichen und gerechten Zukunft sieht.

81 Franz Rinkel aus Eine Kompagnie Solodaten ähnelt sehr Detering aus Im Westen nichts Neues, weil beide Bauern den Krieg und dessen Ursache nicht begreifen können und Fahnenflucht begehen. Detering desertiert, weil er sich Sorgen um seine Frau und seinen Hof macht. Rinkel will fliehen, denn er kann den Lärm und das Grauen des Schützengrabens nicht ertragen. Die große Ähnlichkeit bei der Konstruktion beider Figuren lässt annehmen, dass sich Hein trotz eigener Invention, dank der er Rinkel sehr detailliert gestaltet, an dieser Stelle von Remarque hat inspirieren lassen.

63

64

Karsten Dahlmanns

Dwinger vs. Remarque

Der vorliegende Aufsatz unternimmt einen textnahen Vergleich zwischen Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues und Edwin Erich Dwingers Die Armee hinter Stacheldraht, nachdem der weniger bekannte Autor in aller Kürze vorgestellt worden ist. Zu Dwinger Edwin Erich Dwinger (1898–1981) war ein Bestseller-Autor der zwanziger bis vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, der bis hinein in die Bundesrepublik Deutschland publizierte. Sein Erfolg begann in der späten Weimarer Republik, als er im Eugen Diederichs Verlag den Band Die Armee hinter Stacheldraht. Das sibirische Tagebuch (1929) publizierte und die weiteren Bände Zwischen Weiß und Rot. Die russische Tragödie (1930) sowie Wir rufen Deutschland (1932) folgen ließ. Dwinger sollte »sich […] als erfolgreichster Autor des Unternehmens erweisen«.1 Der Publikumserfolg der Dwinger-Bände war maßgeblich daran beteiligt, dass das Verlagshaus seine Verkäufe 1929 bis 1933 – gegen den Branchentrend – steigern konnte.2

1 Florian Triebel. »Krisenmanagement in der ›Bücherkrise‹. Der Eugen Diederichs Verlag 1930–1933«. Historische Zeitschrift. Beihefte 42 (2006): Geschichtswissenschaft und Buchhandel in der Krisenspirale? Eine Inspektion des Feldes in historischer, internationaler und wirtschaftlicher Perspektive, 33–49, hier 44. 2 Vgl. ebd, 46–47. Vgl. ferner Florian Triebel. Kultur und Kalkül. Der Eugen Diederichs Verlag 1930–1949. Dissertation an der Universität Konstanz (2001), http://kops.uni-konstanz.de/ handle/123456789/11628 (01.06.2021), 61. In den Folgejahren sollte Dwinger für den Eugen Diederichs Verlag noch wichtiger werden, wie Triebel, ebd., 145, bemerkt: Dwingers »Anteil am Gesamtumsatz des Unternehmens von unter 20% in den Jahren 1933 und 1934 stieg 1935 auf 36% und erhöhte sich 1936 auf über 40%.«

65

Karsten Dahlmanns

Heute ist Dwinger außerhalb literatur- oder geschichtswissenschaftlicher Kreise weitgehend unbekannt. Dies dürfte vor allem an Dwingers Karriere unter den Nationalsozialisten liegen.3 Der bereits 1933 zum Reichskultursenator ernannte4 und 1935 mit dem Dietrich-Eckart-Preis ausgezeichnete Dwinger trat 1937 in die NSDAP ein und erhielt 1938 den Rang eines SS-Obersturmführers.5 Der Schriftsteller verdiente ungewöhnlich gut6 – womit freilich eine Tendenz fortgesetzt wurde, die den ihm bei Eintritt in den Eugen Diederichs Verlag gewährten, sehr günstigen und im September 1933 weiter verbesserten Bedingungen zu verdanken war.7 Dwinger verfasste während der nationalsozialistischen Herrschaft »politisch nützliche«8 Texte, darunter die berüchtigte Schrift Der Tod in Polen.9 Nach dem Zweiten Weltkrieg gab Dwinger an, vom Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, per Telefon zu deren Abfassung beauftragt worden zu sein.10 Während des Zweiten Weltkriegs war Dwinger als privilegierter Kriegsberichterstatter im Westen und Osten unterwegs; der Schriftsteller erfreu-

3 Der richtige und wichtige Hinweis auf Dwingers Aufstieg unter der Nationalsozialisten verdeckt in der Forschung zuweilen den Umstand, dass der Schriftsteller bereits in der Weimarer Republik Auflagenerfolge feierte; so etwa bei Karl-Heinz J. Schoeps. »Zur Kontinuität der völkisch-nationalkonservativen Literatur vor, während und nach 1945: Der Fall Gerhard Schumann«. Monatshefte 91 (1999), 1, 45–63, bes. 47. 4 Die Angabe folgt Karl Schlögel. »Die russische Obsession. Edwin Erich Dwinger«. Gregor Thum (ed.). Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, 66–87, bes. 67. Gerd Simon. »Chronologie Dwinger, Edwin Erich«. https://homepages.uni-tuebingen.de//gerd.simon/ChrDwinger.pdf (2009) (31.05.2021), 6, verzeichnet keine solche Ernennung im Jahre 1933; bei Simon findet sich die Information, Dwinger sei 1933 Mitglied der Akademie für Deutsche Dichtung gewesen; ein Hinweis auf Dwingers Mitgliedschaft im Reichskultursenat folgt für das Jahr 1935. 5 Vgl. ebd., 9, 11. 6 Vgl. Georg Wurzer. »Die literarische Verarbeitung des Kriegserlebnisses Edwin Erich Dwingers«. Quaestio Rossica (2014), 1, 94–111, bes. 97. 7 Vgl. Triebel, Kultur und Kalkül, 52, 117–118, 120. 8 Wojciech Kunicki, Krzysztof Polechoński. Ernst Jünger w publicystyce i literaturze polskiej lat 1930-1998. Studium recepcyjne – Bibliografia. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 1999, 124 (übersetzt vom Verfasser dieses Aufsatzes). 9 Vgl. Hubert Orłowski. Literatura w III Rzeszy. Poznań: Wydawnictwo Poznańskie, 1979, 128–129; ferner Dietrich Beyrau. »Mortal Embrace. Germans and (Soviet) Russians in the First Half of the Twentieth century«. Michael David-Fox, Peter Holquist, Alexander M. Martin (eds.). Fascination and Enmity. Russia and Germany as Entangled Histories 1914–1945. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2012, 228–240, bes. 238; Eugeniusz Cezary Król. Polska i Polacy w propagandzie narodowego socjalizmu w Niemczech 1919–1945. Warszawa: Oficyna Wydawnicza RYTM, 2006, 291–292. 10 Vgl. Jay W. Baird. Hitler’s War Poets: Literature and Politics in the Third Reich. Cambridge: Cambridge University Press, 2008, 151.

66

Dwinger vs. Remarque

te sich der Protektion Heinrich Himmlers. Das Verhältnis kühlte jedoch ab, als Dwinger die Besatzungspolitik in der Sowjetunion zu kritisieren begann. Der Schriftsteller erhielt Hausarrest.11 In der Bundesrepublik Deutschland konnte Dwinger nicht mehr an die früheren Verkaufszahlen anknüpfen, wiewohl er weiterhin und mit einigem Erfolg publizierte.12 Der vorliegende Aufsatz konzentriert sich, was die Dwingersche Seite des Vergleichs angeht, auf die beiden ersten seiner im Eugen Diederichs Verlag publizierten Bücher, die zwischen Autobiographie, Reportage und fiktionalem Erzähltext angesiedelten Bände Die Armee hinter Stacheldraht und Zwischen Weiß und Rot. Die Glaubwürdigkeit des in beiden Büchern Geschilderten muss, soweit es um dessen autobiographischen Aspekt geht, als fraglich gelten. Während viele Kommentatoren Dwingers Aufzeichnungen für einigermaßen authentisch halten, sie daher z.B. als »Tagebuch«,13 »Bericht«14 oder »Romanreportagen«15 bezeichnen, wie überhaupt die Forschungsliteratur in der Regel für ausgemacht hält, dass eine weltanschauliche Nähe zwischen den positiv gezeichneten Figuren in Dwingers Erzähltexten und Dwinger selbst bestehe,16 führt Georg Wurzer verschiedene Argumente an, die zeigen sollen, dass die beiden Bücher in bedeutend geringerem Maße Erlebnisse ihres Verfassers spiegeln, als weithin angenommen.17 So sei 11 Vgl. ebd., 153–158; Schlögel, Die russische Obsession, 80; Steffen Dietzsch. »Dwinger und der russische Bürgerkrieg 1919/20: Zwischen Weiß und Rot«. Karsten Dahlmanns, Matthias Freise, Grzegorz Kowal (eds.). Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg. Studien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 283–292, bes. 284–285. 12 Vgl. Krzysztof Polechoński. »Casus: Dwinger. Kilka uwag o polskiej recepcji niemieckiego pisarza w kategoriach politycznych«. Orbis Linguarum 23 (2003), 265–271, bes. 265; ferner Schlögel, »Die russische Obsession«, 66–69, 85; Katarzyna Śliwińska. »›Wie eine feurige Sage‹: Narrationen vom Untergang des ›deutschen Ostens‹ in einigen Romanen der 1950er Jahre«. Studia Germanica Posnaniensia 34 (2013), 101–128, bes. 104. 13 So Eva Horn. »All Quiet on the Eastern Front: German Literature and the Eastern Front of the First World War«. Gerhard P. Gross (ed.). The Forgotten Front: The Eastern Theater of World War I, 1914–1915. Lexington: University Press of Kentucky, 2018, 158–172, hier 163: »There are conventional war memoirs such as Walter Bloem’s Sturmsignal (Storm Signal) or the nightmarish wartime journal of Edwin Erich Dwinger about his Russian war captivity, Armee hinter Stacheldraht (Army behind Barbed Wire).« 14 Vgl. Triebel, »Krisenmanagement«, 44. 15 Vgl. Günter Scholdt. »Feindliche Nähe und Angst vor dem Gulag? Der ›Historikerstreit‹ im Spiegel von Schriftsteller-Äußerungen zwischen 1917 und 1945«. https://www.scholdt.de/app/ download/20072517/Nolte-FS.pdf (via https://www.scholdt.de/textproben/literarhistorisches/; 27.09.2021), 21. 16 Diese Annahme treffen alle Dwinger-Kommentatoren. Besonders ausgeprägt tritt sie bei Baird, Hitler’s War Poets, 117–164, hervor. 17 Skeptisch zeigt sich auch Hans-Henning Schröder. »›Tiefste Barbarei‹, ›höchste Civilisati-

67

Karsten Dahlmanns

Dwinger keineswegs der Sohn einer russischen Mutter, wie Karl Schlögel und viele andere Kommentatoren meinen,18 seien seine Russischkenntnisse, wie von Zeitzeugen belegt, viel schwächer gewesen, als in seinen Erzähltexten angedeutet.19 Dwinger habe seine Kriegsgefangenschaft nicht in dem Lager verbracht, welches in seinen Büchern beschrieben wird. Während des Russischen Bürgerkrieges habe sich Dwinger im Deutschen Reich aufgehalten und als Invalide Sozialleistungen der Weimarer Republik bezogen.20 Die Armee hinter Stacheldraht und Zwischen Weiß und Rot spielen hauptsächlich in Sibirien; sie bilden die ersten beiden Teile der Sibirischen Trilogie oder auch Deutschen Passion Dwingers. Der zuerst erschienene Band zeichnet die Schicksale deutscher, österreichischer, ungarischer und türkischer Kriegsgefangener während des Ersten Weltkriegs nach; das später publizierte Buch schildert, was die wichtigsten überlebenden Figuren des vorigen Bandes während des russischen Bürgerkriegs erleben, ergänzt um weiteres Personal vornehmlich russischer Herkunft. Der Erzähler beider Bände ist als identisch anzusehen. Dwinger zeigt eine Vorliebe für das inhaltliche Verschränken seiner Publikationen durch die Wiederaufnahme von Motiven oder das Wiederauftreten von Figuren. Noch in dem 1936 publizierten, reichlich 150 Seiten starken Bändchen Und Gott schweigt..? Bericht und Aufruf, einem weiteren zwischen Reportage und Fiktion angesiedelten Text, erinnert sich die Hauptfigur, ein deutscher Kommunist, der nach dem Machtantritt Hitlers in die UdSSR auswandert und bald desillusioniert zurückkehrt, an ihr Erleben des russischen Bürgerkriegs und sucht

on‹: Stereotypen im deutschen Russlandbild«. Osteuropa 60 (2010), 10, 83–100, hier 90, der von Dwingers »kolportagehaften Schilderungen der Revolution und des Bürgerkrieges« in Russland spricht. Tom Jürgens. »Unser täglich Sibirien gib uns heute. Imaginäre Geographie als deutsche Popkultur«. Osteuropa, 57 (2007), 5, 201–214, bes. 211, sieht – was einen interessanten Gedanken bildet – Dwingers Romane in einer Traditionslinie mit jenen Ferdinand Ossendowskis und Heinz G. Konsaliks, sogar Reportagen über Sibrien von Journalisten bundesdeutscher TV-Sender; er betont das Stereotype der Darstellung auch bei Dwinger, spricht ihm aber die einschlägige Kompetenz nicht ab. 18 Vgl. Karl Schlögel. »Moskau und Berlin im 20. Jahrhundert: Zwei Stadtschicksale«. Osteuropa 53 (2003), 9/10, 1417–1433, bes. 1432. 19 Simon, »Chronik Dwinger», 11, führt an, dass dessen SS-Personalbogen im Jahr 1938 die Kenntnis der Sprachen Englisch und Französisch, nicht aber jene des Russischen aufgeführt habe. 20 Vgl. Wurzer, »Die literarische Verarbeitung«, 103–105; vgl. ferner Georg Wurzer. »Obraz Rossii v romanach nemeckogo pisatelja Ėdvina Ėricha Dvingera«. N.I. Sazonova, L.M. Pletneva et al. (eds.). V istoričeskie čtenija Tomskogo gosudarstvennogo pedagogičeskogo universiteta. Materialy Vserossijskoj naučnoj konferencii s meždunarodnym učastiem 13–14 noja­ brja 2014 g. Tomsk: Izdatel’stvo Tomskogo gosudarstvennogo pedagogičeskogo universiteta, 2014, 234–241, bes. 237.

68

Dwinger vs. Remarque

den Ort ihrer Kriegsgefangenschaft im Russischen Reich auf.21 Auch Dwingers Freikorps-Roman Die letzten Reiter aus dem Jahr 1935, der während des lettischen Bürger- und Unabhängigkeitskrieges spielt, weist eine Überschneidung mit früheren Erzähltexten auf. In ihm spielt die Figur des Fürsten Awaloff eine recht bedeutende Rolle, die bereits in Zwischen Weiß und Rot aufgetreten ist, allerdings nur sehr am Rande.22 Im Westen nichts Neues und Die Armee hinter Stacheldraht im Vergleich – mit einigen Ausblicken auf Zwischen Weiß und Rot Im Folgenden sollen Remarques Im Westen nichts Neues und Dwingers Die Armee hinter Stacheldraht auf Übereinstimmungen – und im Zusammenhang jeder festgestellten Übereinstimmung auch auf Unterschiede – hin geprüft werden, ergänzt durch einige Stichproben in Dwingers Zwischen Weiß und Rot. Eine solche Unternehmung darf nur ein geringes Maß an Originalität beanspruchen, da bereits in der Zwischenkriegszeit Remarque und Dwinger einander entgegengesetzt und verglichen worden sind.23 Sie mag dennoch gewinnbringend sein, und zwar dann, wenn sie sich auf die Texte selbst konzentriert, die Empirie für sich selbst sprechen lässt. Der Übersichtlichkeit halber werden die ausgemachten Übereinstimmungen (und Unterschiede) mit den Ziffern 1 bis 9 versehen. 1 Beide Schriftsteller heben hervor, dass die jüngeren Soldaten durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg entwurzelt worden seien.24 Remarques Erzähler Paul Bäumer stellt fest:

21 Vgl. Edwin Erich Dwinger. Und Gott schweigt..? Bericht und Aufruf. Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1936, 84, 90–91, 121. 22 Vgl. Edwin Erich Dwinger. Zwischen Weiß und Rot. Die russische Tragödie. Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1930, 220, 277, 345–346. Zur Gestalt Fürst Awaloffs (Pavel R. BermontAvalov, 1877–1974) bei Dwinger vgl. Karsten Dahlmanns. »Georgeanische Totenmesse. Edwin Erich Dwingers Die letzten Reiter und Stefan George«. Studia Niemcoznawcze 55 (2015), 467–480, bes. 468. 23 Was solche Vergleiche im Polen der Zwischenkriegszeit angeht, vgl. Polechoński, »Casus: Dwinger«, 266. 24 Gewinnbringend, da aus angelsächsischer Perspektive kontrastiv über den Topos der verlorenen Generation im Zusammenhang mit der deutschen Bildungstradition Alan F. Bance. »›Im Westen nichts Neues‹: A Bestseller in Context«. Modern Language Review 72 (1977), 2, 357–373, bes. 366–368.

69

Karsten Dahlmanns

Seit wir hier sind, ist unser früheres Leben abgeschnitten, ohne daß wir etwas dazu getan haben. Wir versuchen manchmal, […] eine Erklärung dafür zu gewinnen, doch es gelingt uns nicht recht. Gerade für uns Zwanzigjährige ist alles besonders unklar […]. Die älteren Leute sind alle fest mit dem Früheren verbunden, sie haben Grund, sie haben Frauen, Kinder, Berufe und Interessen, die schon so stark sind, daß der Krieg sie nicht zerreißen kann. Wir Zwanzigjährigen aber haben nur unsere Eltern und manche ein Mädchen. […] [E]twas Schwärmertum, einige Liebhabereien und die Schule; weiter reichte unser Leben noch nicht. Und davon ist nichts geblieben. […] Wir waren noch nicht eingewurzelt. Der Krieg hat uns weggeschwemmt. Für die andern, die Älteren, ist er eine Unterbrechung, sie können über ihn hinausdenken.25

Auch bei Dwinger taucht der Topos der verlorenen Generation auf. In Die Armee hinter Stacheldraht klingen derart ausgerichtete Reflexionen, wie folgt: »Sei still… Mich brauchst du nicht trösten. Ich bin stark genug. Aber du… du verlierst mehr als ich. Ich gehe auf meinen Hof zurück, wie vorher. Werde vielleicht etwas mehr arbeiten müssen, um leben zu können, das wird alles sein… Gut, fertig. Aber du… ihr, die ihr vom Leben noch nichts hattet, die ihr alles opfertet, Jugend, Gesundheit…« Er bricht ab. »Ihr müßt die Zeche zahlen!« schließt er rauh.26

Die beiden Passagen ähneln einander; wenn sie sich unterscheiden, so vor allem darin, dass Dwingers weitgehend namenloser27 Erzähler, der bei seiner Gefangennahme im Jahre 1915 siebzehn Jahre zählt,28 von einer älteren Figur belehrt wird, während Remarques bei Kriegseintritt achtzehnjähriger Erzähler Paul Bäumer die Erkenntnis selbst gewinnt. Auf Seite 304 des 306 Seiten zählenden Bandes Die Armee hinter Stacheldraht hämmert Dwingers Erzähler die Botschaft von der verlorenen Generation mit einer Reihe von Fragen in seine Leserschaft hinein: Ich wälze mich umher. Ich schlage an meine Schläfen. »Und ich soll leben können wie einst?« schreie ich in die Erde. Nach alldem? Schlafen und wachen? Essen und trinken? Nach alldem? 25 Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Berlin: Propyläen-Verlag, 1929, 25–26. 26 Edwin Erich Dwinger. Die Armee hinter Stacheldraht. Das sibirische Tagebuch. Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1929, 281. 27 Ebd., 298, d.h. kurz vor Ende des Textes wird der Vorname des Erzählers eingeführt; er lautet »Edwin«, entspricht Dwingers eigenem Vornamen. 28 Vgl. ebd., 5.

70

Dwinger vs. Remarque

Vielleicht heiraten? Kinder zeugen…?29

2 In beiden Werken berichtet ein Ich-Erzähler von den Schicksalen einer kleinen Gruppe von typenhaft gezeichneten Charakteren. Unter ihnen gibt es sowohl bei Dwinger, als auch bei Remarque eine lebenskluge Figur väterlich-fürsorglichen Zuschnitts, die mit einem auf die erste Silbe verkürzten slawischen Nachnamen gerufen wird: Stanislaus Katczinsky, kurz Kat; den Dragoner Podbielski, genannt Pod. Kat hat »einen sechsten Sinn«;30 er weiß stets, wo alles Nötige aufzutreiben ist, um der kleinen Gruppe um den Erzähler das Soldatenleben zu erleichtern. »Er findet alles; – wenn es kalt ist, kleine Öfen und Holz, Heu und Stroh, Tische, Stühle, – vor allem aber Fressen.«31 Wo Kat, »zwei Brote unter dem Arm und in der Hand einen blutigen Sandsack mit Pferdefleisch«, auftaucht, weiß er zudem um »die Art, Pferdefleisch weichzubraten.«32 Darüber hinaus hat Kat, der unerfahreneren Soldaten die Bedingungen an der Front erklärt,33 einen Riecher für die Gefahren: »Es gibt Kattun, sage ich euch, ich spüre es in den Knochen.«34 Der Erzähler bemerkt über sich selbst und Kat beim Verzehr einer ›requirierten‹ Gans: »Wir sind Brüder und schieben uns gegenseitig die besten Stücke zu.«35 Der Rest der Gans wird den eine dreitägige Arreststrafe verbüßenden Kropp und Tjaden gebracht; auf dem Rückweg zum Quartier reflektiert der Erzähler: »neben mir, gebeugt und eckig, geht Kat, mein Kamerad.«36 Pod, »ein ungeschlachter Hüne mit Bernhardineraugen, wagenbreiten Schultern, tellergroßen Arbeitshänden und einem Bart, der [...] über seine Brust wallt«,37 überlässt dem Erzähler seine Decke, als beide in einem Moskauer Lazarett liegen. Den Protest des Erzählers, eines Offiziersanwärters, beantwortet der gemeine Soldat Pod mit einem entschiedenen: »Maul halten, Junker!«38 Ähnliches spielt sich ab, als Pod dem Erzähler regelmäßig Zuckerwürfel zu überlassen beginnt. »›Nein, Pod, das geht nicht!‹ rufe ich hinüber. Pod grinst nur. ›Krieg kein

29 Ebd., 304. Die Sperrung im Original wird als Kursive wiedergegeben. 30 Remarque, Im Westen, 41. 31 Ebd., 45. 32 Ebd., 43–44. 33 Vgl. ebd., 56. 34 Ebd., 57. 35 Ebd., 100. 36 Ebd., 101. 37 Dwinger, Die Armee, 22. 38 Ebd., 23.

71

Karsten Dahlmanns

Kind!‹ sagt er gemütlich.«39 Pod hilft dem verwundeten Erzähler bei dessen ersten Gehversuchen und später beim Ankleiden.40 Schikanierende Pfleger werden von Pod mit der Androhung von Schlägen gefügsam gemacht, ein sadistischer Wachtposten in Moskau zur Raison gebracht.41 Während des Transfers nach Sibirien besorgt Pod »Fleischpyroschnis«, und zwar »doppelt soviel […], als er nach Recht bekäme. Das ist üblich bei ihm, weiß der Teufel, wie er es fertig bringt! Können die Bauernfrauen diesem bettelnden Bären nicht widerstehen oder stiehlt er?«42 In den verschiedenen sibirischen Kriegsgefangenenlagern dient Pod der Gruppe um den Erzähler, indem er günstig geformte Holzscheite als Kopfkissen-Ersatz besorgt,43 ein eiskaltes Quartier heizen möchte, indem er (vergeblich) versucht, Holz zu stehlen,44 eine Hündin, derer sich die Gruppe um den Erzähler angenommen hat, vor der Auslieferung an die russischen Wachsoldaten schützt.45 Augenmerk verdient, wie irreführend zuweilen die Figur Pod in der Forschung dargestellt wird. So konstatiert Eckhardt Momber: »Pod ist der treudeutsche Hund«; der Dragoner sei »in erster Linie nur rohe, körperliche Kraft«.46 Natürlich wird Pod von Dwinger als kräftig geschildert, und auch »Bernhardineraugen« sind vorhanden. Doch unterschlägt Momber die pfiffigen und eigensinnigen Züge der Figur. Im Band Zwischen Weiß und Rot erinnert sich der Erzähler: »Damals lebte Pod noch, mein guter Pod, mein brauner Bär. Er war unser Ataman, führte uns an – Vogt, Lehrer, Inspektor, alles in einem.«47 Anführer (Ataman), Vogt, Lehrer und Inspektor. Jede der genannten Rollen reicht über »rohe, körperliche Kraft« hinaus, wiewohl zuzugestehen wäre, dass in dieser Rückschau des Erzählers Pod bestimmender wirkt, als es im Band Die Armee hinter Stacheldraht der Fall ist. 3 Beide Autoren thematisieren Schlaffheit als Folge des eintönigen Kriegsalltags. Es werden jedoch verschiedene Ursachen genannt. Paul Bäumer und seine Kameraden schützen sich durch die Wandlung »zu oberflächlichen Witzbolden und Schlafmützen«48 vor dem Grauen. Dwingers Erzähler ist Kriegsgefangener; seine

39 Ebd., 25. 40 Vgl. ebd., 56, 66. 41 Vgl. ebd., 30–31, 68–69. 42 Ebd., 90. 43 Vgl. ebd., 95. 44 Vgl. ebd., 171–172. 45 Vgl. ebd., 190–191. Die Hündin ist dem Erzähler zugelaufen; vgl. ebd., 172. 46 Eckhardt Momber. ’s ist Krieg! ’s ist Krieg! Versuch zur Literatur über den Krieg 1914–1933. Berlin: Das Arsenal, 1981, 132. 47 Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, 42. 48 Remarque, Im Westen, 141.

72

Dwinger vs. Remarque

Ermattung rührt von erzwungenem Nichtstun, Mangelernährung und Krankheiten her: Wir bekommen neue Bücher, Zeitschriften, Instrumente. […] Ja, wir bekommen Schritt für Schritt, was wir brauchen, aber manches und das meiste nützt uns nichts mehr. Wenn wir es vor drei Jahren bekommen hätten… Jetzt sind wir zu ausgehöhlt, um noch das geringste zu vermögen. Jetzt sind unsere Seelen schon zu verödet, als daß sie noch irgendwelchen Samenkörnern Nahrung geben könnten…49

4 Beide Erzähltexte thematisieren das Sexuelle diesseits der Schwelle zu Liebesbeziehungen. Remarque belässt es bei Schilderungen von Gesprächen und Andeutungen des Erzählers, die einmal »Mädchen aus einem Offizierspuff«, ein andermal »Mannschaftsbordells« berühren.50 In der Gruppe um Bäumer wird die Vorstellung von Frieden recht handlungsorientiert mit der Aussicht auf Beischlaf verbunden: »Meine Fresse nochmal,« sagt Haie, und sein Gesicht taut auf, »dann würde ich mir so einen strammen Feger schnappen, so einen richtigen Küchendragoner, weißt du, mit ordentlich was dran zum Festhalten, und sofort nichts wie rin in die Betten! Stell dir mal vor, richtige Federbetten mit Sprungmatratzen, Kinners, acht Tage lang würde ich keine Hose wieder anziehen.«51

Remarque setzt aber auch zwei Kontrapunkte, nämlich die Episode um den Soldaten Lewandowski, der von seiner Gemahlin im Lazarett besucht wird, und die zärtliche Bekanntschaft Paul Bäumers mit einer jungen Französin.52 Ob bei letzterer Bekanntschaft tiefere Zuneigung angenommen werden dürfe, scheint jedoch fraglich. Der Erzähler sucht innerweltliche Erlösung: »ich schließe die Augen und möchte alles damit auslöschen, Krieg und Grauen und Gemeinheit, um jung und glücklich zu erwachen […]. Und um so tiefer presse ich mich in die Arme, die mich umfassen, vielleicht geschieht ein Wunder.«53 Die junge Französin litt der schlechten Versorgungslage wegen Hunger und erhielt, wie auch ihre beiden Gefährtinnen, von der Gruppe um Bäumer Verpflegung. Auf dem Rückweg bemerkt

49 Dwinger, Die Armee, 290. 50 Remarque, Im Westen, 152, 234, 287. 51 Ebd., 82. 52 Vgl. ebd., 150–153, 261–264. 53 Ebd., 152–153.

73

Karsten Dahlmanns

einer der Kameraden Bäumers über den Handelscharakter der Begegnung: »Das war ein Kommißbrot wert!«54 Dwingers Die Armee hinter Stacheldraht geht über Andeutungen weit hinaus, wo das Sexuelle berührt wird. Der Verlag Albert Langen, der trotz Hans Grimms Vermittlung Dwingers Manuskript abgelehnt hatte, bemängelte denn auch »diese widerwärtigen sexuellen Partien«.55 Zu den inkriminierten Passagen dürfte der folgende Bericht über die Deportation der Gruppe um den Erzähler nach Sibirien gezählt haben: Pod seufzt im Schlaf. »Anna…« sagt er mit seiner tiefen Stimme. »Anna…«

Ich stecke meine Finger in die Ohren. Solche Transporte dauern monatelang! denke ich mutlos. […] Hält man das aus? Die trübe Lampe baumelt. Die Räder rattern. Der Posten schnarcht. Bei den Ungarn kriecht […] jemand heraus. Es ist der Zigeuner, ein wilder, schwarzer Steppenreiter. Das Licht fällt auf ihn, er sieht mich deutlich, es stört ihn nicht. Er öffnet seine Hose, macht rhythmische Bewegungen – hat er Schmerzen? Nach einer Weile beginnt er zu schnaufen, wird sein Gesicht ganz starr, öffnet sein Mund sich lechzend. Ich höre plötzlich ein gezogenes Stöhnen und sehe ihn erlöst nach rückwärts sinken. Muß ich mir auch die Augen noch verstopfen, Gott?56

Nun mag derartige Unverblümtheit in einem Roman eines ›Rechten‹ überraschend wirken.57 Die Offenheit erstreckt sich, freilich weniger explizit, auf die Ausbreitung homosexueller Beziehungen in den Kriegsgefangenenlagern: »›Und Blank?‹ frage ich rasch. ›Der ist auch fertig. Für einen halben Rubel tut er mit dir, was du willst…‹«58 Bei der Betrachtung solcher Passagen sollte jedoch Berücksichtigung finden, dass Dwinger keinerlei Triebbefreiung das Wort redet, wie sie etwa sein Zeitgenosse Wilhelm Reich (1897–1957) empfohlen haben würde.59 Dwinger bestimmt die Figuren seiner Erzähltexte nicht zuletzt durch deren Verhältnis zum Sexus. Seine Darstellung lässt keinen Zweifel daran, dass Figuren, die ihren Trieben stattgeben, moralisch minderwertig seien:

54 Ebd., 153. 55 Triebel, Kultur und Kalkül, 51. 56 Dwinger, Die Armee, 81. 57 Natürlich ist der Begriff »rechts« unklar. Der gegenwärtige Gebrauch entspricht in etwa Stefan Breuer. Die radikale Rechte in Deutschland 1871–1945. Stuttgart: Reclam, 2010, 7–25. 58 Dwinger, Die Armee, 260; vgl. ebd., 98, 151, 165–166, 213. 59 Vgl. Wilhelm Reich. Die sexuelle Revolution. Frankfurt a.M.: Fischer, 1971, 157–270 (»Der Kampf um das ›neue Leben‹ in der Sowjetunion«); dazu Dwinger, Und Gott schweigt..?, 97, 118.

74

Dwinger vs. Remarque

»Brünn ist […] erledigt. Er onaniert sich langsam zu Tode. Wie ein Pavian… Als er es kürzlich in meinem Beisein tat, habe ich ihn geschlagen, bis er liegen blieb.« »Das hättest Du nicht tun sollen, Pod!« »Nicht tun sollen? Alle werden von ihm angesteckt! Sind wir in einem Affenkäfig?«60

Immerhin vertraut der Erzähler darauf, dass ein Ausweg möglich sei und somit nicht bloß die Figuren um den Erzähler, sondern auch die Heimat – Deutschland – vor dem Schlimmsten bewahrt werden könne: Einzelne erzählen bereits von geträumten Lustmorden, andere wieder von den scheußlichsten Abnormitäten. Wenn uns das erste Weib, das wir nach dieser Zeit besitzen, nicht klug und liebend heilt und kühlt, werden wir anormal fürs ganze Leben bleiben – wird mit uns eine Welle von Perversität die alte Heimat überschwemmen…61

5 Beide Werke enthalten Passagen, die von vielen Zeitgenossen bei Erscheinen als pazifistisch verstanden worden sind.62 Das Elend der Lazarette wird drastisch geschildert. Sowohl Remarque als auch Dwinger heben dabei Darm-Verletzungen hervor: »Ich sehe Darmwunden, die ständig voll Kot sind.«63 – »Zwei liegen […] mit Mastdarmschüssen, die nie heilen können, weil die Ärzte nicht über die Mittel verfügen, ihre dauernde Verunreinigung zu verhindern.«64 Paul Bäumer lässt der Beobachtung des Lazarett-Elends eine Verdammung der europäischen Zivilisation folgen: »Es muß alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, daß diese Ströme von Blut vergossen wurden.«65 Auch Dwingers Erzähler drückt nach der Schilderung der Verwundungen im Lazarett Bedenken aus, allerdings ohne ein vergleichbares Verdammungsurteil über die eigene Zivilisation zu sprechen:

60 Dwinger, Die Armee, 259; vgl. Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, 129. 61 Dwinger, Die Armee, 302. 62 Vgl. ebd., 48–49, 55, 106–107, 218; Remarque, Im Westen, 202–206, 260–261. Wie Triebel, Kultur und Kalkül, 68, ausführt, veröffentlichte der Eugen Diederichs Verlag Passagen aus einigen solcherart ausgerichteten Rezensionen in einem Prospekt über Dwingers Buch. 63 Remarque, Im Westen, 259. 64 Dwinger, Die Armee, 55. 65 Remarque, Im Westen, 260.

75

Karsten Dahlmanns

»Schnarrenberg«, frage ich plötzlich, »würden Sie noch einmal schießen können?« Er fährt betroffen auf. Ich sehe deutlich, daß er mit sich kämpft, daß auch in ihm etwas Neues ringt, aus ihm hervor will – daß es aber zu jung, zu schwach ist. »Natürlich«, knurrt er böse. »Was denn sonst?«66

Als weiteres Element, das in beiden Werken vorkommt, wäre die Schilderung des Erbeutens, Weitergebens oder schlichten An-sich-Nehmens von Ausrüstungsgegenständen Sterbender oder Toter zu nennen; – bei Remarque in Gestalt von Kemmerichs ihres geschmeidigen Leders wegen begehrten Schnürstiefeln,67 bei Dwinger weit wahlloser als alles, was beim Überleben hilft: Ein großer Teil der Typhustoten liegt halbnackt herum, manche nur an den Füßen mit Fußlappen umwickelt. Lediglich die Ruhrtoten liegen in allen Kleidern – weil sie völlig von Schleim durchtränkt und daher nicht zu brauchen sind. Wir Lebenden kriechen nachts unter Berge abgenommener Uniformen, um uns zu wärmen. Und wickeln uns von allen Seiten fest hinein, um uns vor den Ratten zu schützen. Aber seitdem soviel Tote in der Baracke liegenbleiben, haben wir Lebenden Ruhe vor ihnen. Es sterben täglich zweihundertfünfzig…68

6 Beide Autoren versehen, wenn auch unterschiedlich häufig, ihre Schilderung des (fiktionalisierten oder fiktiven) Kriegs- oder Bürgerkriegsgeschehens mit besonders makabren Episoden. Bei Remarque wäre hier u.a. der Feuerüberfall auf einem Friedhof in der Nähe der Front anzuführen: »Der Friedhof ist ein Trümmerfeld. Särge und Leichen liegen verstreut. Sie sind noch einmal getötet worden; aber jeder von ihnen, der zerfetzt wurde, hat einen von uns gerettet.«69 Dwingers Die Armee hinter Stacheldraht bietet eine ganze Reihe von Scheußlich- und Grausamkeiten auf, für die das oben gegebene Zitat, in dem von Typhustoten die Rede ist, als Nachweis genügen möge. Wird der erste im Eugen Diederichs Verlag erschienene Erzähltext Dwingers mit dessen späteren Büchern verglichen, drängt sich der Eindruck auf, dass der Schriftsteller mehr und mehr auf die Wirkung besonders makabrer ›Höhepunkte‹ setzt, die er in »der Technik der Nahaufnahme, die es nicht erlaubt, den Blick

66 Dwinger, Die Armee, 55. 67 Remarque, Im Westen, 21–22, 26–27. 68 Dwinger, Die Armee, 119. Vgl. ebd., 124; Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, 244. 69 Remarque, Im Westen, 74. Bance, »›Im Westen nichts Neues‹«, 363, zählt weitere derartige ›Höhepunkte‹ auf.

76

Dwinger vs. Remarque

abzuwenden«,70 schildert. So berichtet Zwischen Weiß und Rot von einem ›weißen‹ Panzerzug mit Vorrichtungen, die den Abfluss des Blutes sicherstellen, wenn Dutzende von Gefangenen zu Tode gepeitscht werden: »Die Geleise um Tschita […] haben daher auch rechts und links alle einen breiten schwarzen Streifen – von diesen Wagen her, lauter vertrocknetes Blut…«71 7 Beide Schriftsteller heben die materielle Überlegenheit der Entente nach Kriegseintritt der USA hervor. Bei Remarque heißt es: Jeder hier weiß, daß wir den Krieg verlieren. […] Es gibt so viele Flieger hier, und sie sind so sicher, daß sie auf einzelne Leute Jagd machen wie auf Hasen. Auf ein deutsches Flugzeug kommen mindestens fünf englische und amerikanische. Auf einen hungrigen, müden deutschen Soldaten im Graben kommen fünf kräftige, frische andere im gegnerischen. Auf ein deutsches Kommißbrot kommen fünfzig Büchsen Fleischkonserven drüben.72

Dwingers Erzähler beschreibt in seinem Gefangenenlager den Effekt des amerikanischen Eintritts in den Ersten Weltkrieg wie folgt, wobei mit »großen Amerikanern« Züge mit (damals) ungewöhnlich geräumigen Güterwagen auf zwei Drehgestellen, die jeweils zwei Achsen tragen, gemeint sein dürften: Eben lief wieder ein Zug durch den Bahnhof. Nein, kein Sibirienexpreß, […] sondern ein Truppenzug oder einer jener großen Amerikaner, die seit kurzem fast ununterbrochen aus dem Osten, von Wladiwostok über Mandschuria nach Westen rasen. Ihre Waggons sind dreimal so groß als die russischen, gehen in beschleunigter Fahrt an die Front, sind voller Geschütze, Munition, Waffen, Gas… […]

70 Schlögel, »Die russische Obsession«, 72. 71 Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, 428; ein weiteres Beispiel ebd., 236–238. Bei dem erwähnten Tschita (Čita) handelt es sich um eine größere Stadt ostsüdöstlich des Baikalsees. Rainer Godel. »Anti-Bourgeois Novels with Bourgeois Readers: ›Justifying‹ Violence in German Volunteer Corps Novels«. German Studies Review, 34 (2011), 2, 325–344, bes. 330–332, legt am Beispiel von Freikorps-Romanen, darunter Dwingers Die letzten Reiter dar, dass die Schilderung von Greueln auf der Gegenseite dazu diene, die Gewalt der eigenen Gruppe zu legitimieren. Das ist einsichtig, will aber nur dann zu dem Umstand passen, dass Dwinger in diesem Zitat einen Panzerzug der ›weißen‹ Bürgerkriegsfraktion vorstellt, wenn angenommen wird, die genannten Grausamkeiten seien bereits die Antwort auf andere, außerhalb dieser Szene geschilderte Folterungen und Morde der ›Roten‹ im russischen Bürgerkrieg. 72 Remarque, Im Westen, 278, 280.

77

Karsten Dahlmanns

Macht Schluß, müßte man der Heimat sagen! Amerika ist nicht zu schlagen, ihr unterschätzt es! Seht diese Transporte an, Tag und Nacht, Tag und Nacht! Dagegen könnt ihr nicht mehr an, es ist umsonst, es ist sinnlos!73

Sowohl Remarque, als auch Dwinger kontrastieren die drückende Überlegenheit der Entente mit dem uneinsichtigen Hurra-Patriotismus einiger Deutscher. Paul Bäumer erlebt während seines Heimaturlaubs, wie »ein Direktor« in völliger Unkenntnis der Realien an der Westfront fordert: »›Nun macht mal ein bißchen vorwärts da draußen mit eurem ewigen Stellungskrieg. Schmeißt die Kerle raus, dann gibt es auch Frieden.‹«74 Dwingers Erzähler weist auf die Folgen des Kriegseintritts der USA hin und bekommt zu hören: »›Seit wann gehören Sie zu den Flaumachern?‹ fährt Leutnant Merkel sofort auf. […] ›Nein ich begreife Sie nicht! Wenn unsere Jüngsten schon derart kopfhängerisch sind –‹«75 Baird hebt als löblich hervor, dass Dwinger die mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten erdrückend gewordene materielle Überlegenheit der Entente betont und daher keiner Dolchstoß-Legende das Wort geredet habe.76 8 Remarques Roman unterstreicht die Machtverliebt- oder Borniertheit verschiedener Amtsträger, so des Schulmeisters, des Unteroffiziers, des Lazarettarztes.77 Derartige Figuren wirken bei Remarque wie Typen, zuweilen gar wie Karikaturen; entsprechend verzichtet der Verfasser von Im Westen nichts Neues darauf, den Direktor in der im vorigen Abschnitt diskutierten Heimaturlaub-Episode mit einem Namen zu versehen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Blickrichtung Paul Bäumers. Sofern der Erzähler nicht von seinen Kameraden oder neu eingetroffenen Rekruten berichtet, reicht sie, was die Hierarchie angeht, stets von unten nach oben. Diese KleineLeute-Perspektive dürfte insofern zum Publikumserfolg des Romans beigetragen haben, als sie verschiedene Spielarten von Ressentiment – genauer: dem Eindruck dauernder, von Ohnmachts- und Neidgefühlen erfüllter Machtlosigkeit als Bedingung der Entstehung von Ressentiment78 – unter der Leserschaft bedient. Mangelnder Erfolg im Leben, Talent-Defizite, unzureichender Arbeitswille lassen sich nun

73 Dwinger, Die Armee, 218. 74 Remarque, Im Westen, 168–169. 75 Dwinger, Die Armee, 223–224. 76 Vgl. Baird, Hitler’s War Poets, 124. 77 Vgl. Remarque, Im Westen, 16–18, 28–31, 177–181, 240–241. 78 Vgl. Max Scheler. Über Ressentiment und moralisches Werturteil. Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann, 1912 (Sonderdruck aus der Zeitschrift für Pathopsychologie, Bd. I), 1–10.

78

Dwinger vs. Remarque

als Folge des Ersten Weltkrieges ansehen. Im Westen nichts Neues entlastet von Verantwortung; das ist sein Erfolgsgeheimnis.79 Der (in Abschnitt 1 angerissene) Topos von der Verlorenen Generation sollte in diesem Lichte betrachtet werden. Auch Dwingers Buch über die Kriegsgefangenschaft taugt zu solcher Entlastung. Davon abgesehen, zeichnen sich bei Dwinger die meisten Vorgesetzten oder Funktionsträger, soweit es sich um Deutsche oder Österreicher handelt, durch vorbildliches Pflichtbewusstsein aus, etwa der dem Erzähler Halt und Orientierung schenkende Jurist Dr. Berger.80 Korruption, Unterschlagung, Inkompetenz und Nachlässigkeit im Dienst sind vor allem bei den Russen (und den anderen Völkerschaften des Russischen Reiches) anzutreffen,81 wobei Dwinger stets auch einige pflichtbewusste und umsichtige Autochthone zeichnet. Zu ihnen zählt ein freundlicher Kosakenkapitän, der sich um Erleichterungen für die Kriegsgefangenen bemüht, den deutschen Stabsarzt Dr. Bockhorn vor den Peitschenhieben des Lagerkommandanten schützt und auf eine Bitte des Erzählers hin ›vergisst‹, die Posten vor einer Baracke, die die Kriegsgefangenen als Lazarett nutzen wollen, aufziehen zu lassen.82 Was Fragen der Blickrichtung und des Ressentiments bei Dwinger angeht, sei vermerkt, dass die im Band Die Armee hinter Stacheldraht beschriebene Weigerung eines (kriegsgefangenen) österreichischen Leutnants, einen (gleichfalls kriegsgefangenen) Hauptmann militärisch zu grüßen,83 ein wenig von der Freude des Kleinen Mannes spiegelt, die bei Remarque in Form der Prügel für den Unteroffizier Himmelstoß und der Weigerung aufscheint, sich von Himmelstoß duzen zu lassen.84 Ein Ressentiment antibürgerlichen Zuschnitts tritt deutlicher in Dwingers Freikorps-Roman Die letzten Reiter als in den gegenwärtig diskutierten Erzähltexten aus seiner Feder hervor; sei es als Zeichnung bedauernswert-lächerlicher Figuren als Vertreter des Bürgertums,85 sei es darin, dass die Angehörigen des Freikorps sich weder willens, noch imstande sehen, einen bürgerlichen Beruf auszuüben, eher als Moorbauern Pionierarbeit leisten wollen, selbst wenn dies Armut bedeutet.86

79 Das gegenwärtige Argument folgt Hans-Harald Müller. »Zum Roman des Ersten Weltkriegs«. Dahlmanns, Freise, Kowal (eds.), Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg, 31–46, bes. 44. 80 Vgl. Dwinger, Die Armee, 243, 250, 270, 278–280; Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, 328, 338, 349-351, 394–395, 409–410, 414, 444, 468. 81 Vgl. Dwinger, Die Armee, 108–110, 149; Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, 28–29, 71, 99– 100. 82 Vgl. Dwinger, Die Armee, 98, 100, 114, 122. 83 Vgl. ebd., 279. 84 Vgl. Remarque, Im Westen, 52–53, 93. 85 Vgl. Edwin Erich Dwinger. Die letzten Reiter. Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1935, 215. 86 Vgl. ebd., 444–445.

79

Karsten Dahlmanns

9 Dwinger stellt Figuren, die den kleineren Völkern Ost- und Ostmitteleuropas angehören, oft sehr unvorteilhaft dar. In den beiden gegenwärtig diskutierten Erzähltexten Dwingers betrifft dies vor allem die Tschechen in Gestalt der Tschechischen Legionen im Russischen Bürgerkrieg – was zu einem Verbot von Zwischen Weiß und Rot in der Tschechoslowakei führte –,87 in seinem Freikorps-Roman Die letzten Reiter Letten und Litauer.88 Dieser Umstand dürfte der deutsch-russischen Perspektive der Dwingerschen Erzähltexte geschuldet sein,89 ferner deren ideologischen Voraussetzungen und imperialen Implikationen. In diesem Zusammenhang sei erlaubt, als pikante Koinzidenz anzuführen, dass Dwingers ›rechter‹ Blick auf einige der kleineren Nationen zwischen Berlin, Wien und Sankt Petersburg demjenigen zweier Ideologen auf der ›Linken‹ ähnelt. Auch für Karl Marx und Friedrich Engels wollten einige der weniger zahlreichen Völker nicht recht in das Gefüge eines perfektionierten Europas passen: Diese […] Völkerabfälle werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Kontrerevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist.90

Bei Remarque findet sich schon des gänzlich anderen Schauplatzes, der Westfront, nichts dergleichen. Doch fällt bei genauerer Betrachtung eine Ähnlichkeit zu Dwinger auf. Sie besteht darin, dass auch von Remarque eine Art Völkerpsychologie akzeptiert zu werden scheint. Wie bei Dwinger es eben ein, wie zitiert, »Zigeuner« ist, der (bereits) während des Eisenbahn-Transfers nach Sibirien masturbiert, sind es bei Remarque russische Kriegsgefangene, die sich selbst befriedigen.91 Ebenso ist es bei Remarque eben ein polnischer Mann, der – Lazarett hin oder her – mit seiner angereisten Gemahlin die Ehe vollzieht.

87 Vgl. Triebel, Kultur und Kalkül, 52–53. 88 Vgl. in Betreff der Tschechen Dwinger, Zwischen Weiß und Rot, 23–25, 65–66, 91–92, 116, 147–149, 201, 232–233, 250, 309, 375–376, 392. Verständnis für die Tschechen zeigt Dwinger ebd., 342–343, 438–439. Zu anderen Nationen vgl. ebd., 345-346; Dwinger, Die letzten Reiter, 427–429. 89 Dies lässt sich konstatieren, ohne eine Aussage über die Herkunft und die Russischkenntnisse Dwingers, sowie die Frage der Authentizität des in Die Armee hinter Stacheldraht Geschilderten zu treffen. 90 Friedrich Engels. »Der magyarische Kampf«. Karl Marx, Friedrich Engels. Werke. Bd. 6. Berlin (Ost): Dietz, 1961, 165–176, hier 172. 91 Vgl. Remarque, Im Westen, 193.

80

Dwinger vs. Remarque

Schlussbetrachtung Die aufgezählten Übereinstimmungen und Unterschiede zwischen Remarques Im Westen nichts Neues und Dwingers Die Armee hinter Stacheldraht, ergänzt durch einige Hinweise auf dessen Band Zwischen Weiß und Rot und vereinzelte Ausblicke auf spätere Bücher aus seiner Feder, verdeutlichen, wie lohnend Close Reading sein kann. Die gegenwärtig diskutierten Erzähltexte beider Autoren bedienen ein vergleichbares Ressentiment, obwohl ihre Schöpfer weltanschauliche Antipoden waren. Beide Bestseller entlasten ihre Leser von Verantwortung für einen Mangel an Gelingen nach dem Krieg; das ist ihr gemeinsames Erfolgsrezept. Auch eine Art Völkerpsychologie ist bei beiden Schriftstellern zu finden – bei Dwinger liegt sie offen zutage, bei Remarque muss ihr etwas nachgespürt werden. Beide würzen ihre Texte durch besonders schauerliche ›Höhepunkte‹, wobei sich Remarque, wie ebenfalls im Reich des Sexuellen, als der im Vergleich zu Dwinger weit zurückhaltendere Autor erweist. Die moralische Bewertung Dwingers als Schriftsteller, als NSDAP-Mitglied und SS-Mann, als Günstling und vermutlich Mietling im Dritten Reich, bleibe den Leserinnen und Lesern dieses Aufsatzes überlassen.

81

82

Karol Sauerland

Zweierlei Erfahrungen Erich Maria Remarque und Wolfgang Borchert

In seinem berühmten Essay Der Erzähler schrieb Walter Benjamin: die Erfahrung ist im Kurse gefallen. Und es sieht aus, als fiele sie weiter ins Bodenlose. Jeder Blick in die Zeitung erweist, dass sie einen neuen Tiefstand erreicht hat, dass nicht nur das Bild der äußern, sondern auch das Bild der sittlichen Welt über Nacht Veränderungen erlitten hat, die man niemals für möglich hielt. Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? Nicht reicher – ärmer an mittelbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre später in der Flut der Kriegsbücher ergossen hatte, war alles andere als Erfahrung gewesen, die von Mund zu Mund geht. Und das war nicht merkwürdig. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.1

Diese Sätze formulierte Benjamin 1936 in der Einleitung zu seiner Charakteristik der Erzählweise des russischen, 1895 verstorbenen Autors Nikolaj Lesskow. Es wäre zu fragen, welche Art von Erfahrungen haben die »Kriegsbücher« vermittelt. Benjamin erklärt schließlich nur, dass man nicht mehr auf die alten Erfahrungen habe zurückgreifen können. Gingen sie nicht doch »von Mund zu Mund«? Remarques Romane Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück zeugen

1 Walter Benjamin, Schriften. Bd. 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, 229–230.

83

Karol Sauerland

ja von einem Gegenteil, denn nicht er hatte das Beschriebene erlebt, wie er nach Erscheinen des Buchs vorgab, sondern Landser verschiedenster Couleur, deren Erzählungen er so wortgetreu wie nur möglich aufschrieb. Benjamin hat jedoch höchstwahrscheinlich nicht die Kriegsteilnehmer im Auge, sondern diejenigen, die nicht direkt das Frontgeschehen erlebt hatten. Sie werden von den Fronterlebnissen, den Furchtbarkeiten im Kriegsgeschehen nichts haben hören wollen. Wer möchte schon solches erzählt bekommen, es sei denn im Picaro-Ton. Der Dreißigjährige Krieg ist uns nicht zufällig durch Grimmelshausens Schelmenroman Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch bzw. Simplicius Simplicissimus gegenwärtig. Und zu den meistgelesenen Büchern über den Ersten Weltkrieg gehört ebenfalls nicht zufällig Der brave Soldat Schwejk. Hašeks Buch ist bar aller Schrecken. Im Unterschied zum Simplicissimus läßt sich sein Protagonist auf Abenteuer und Bereicherungen nicht ein, sondern ist Verweigerungskünstler in Person, wie es Christian Schröder hundert Jahre nach dem Waffenstillstandabkommen zwischen der Donaumonarchie und Italien im Tagesspiegel am 3. November 2018 formulierte.2 Auch in der Kriegserzählung Im Westen nichts Neues entbehrt es nicht an pikaresken Zügen. Die Protagonisten tun alles, um den Gefahren zu entgehen und ein »gutes Leben« zu führen. Sie lachen, wenn es ihnen gelingt, allen Widerständen zum Trotz Bequemlichkeiten zu erkämpfen. Für die Lesenden wirken sie in jenen Momenten wie Schelme trotz des Ernstes der Situation. Das Haupt der Protagonistengruppe, Stanislaus Katczinsky, charakterisiert Remarque als schlau, gerissen, vierzig Jahre alt, mit einem Gesicht aus Erde, mit blauen Augen, hängenden Schultern und einer wunderbaren Witterung für dicke Luft, gutes Essen und schöne Druckposten.3

Immer wieder wird von den ›Kunststücken‹ Katczinskys, auch Kat genannt, berichtet. Als beispielsweise ein Artillerist erklärt, es gäbe hier »nichts zu holen«, macht Kat sich auf den Weg. Es ist eine allen unbekannte Gegend, die noch dazu unter Beschuss liegt. Nach einer gewissen Zeit erscheint er mit einem Brotlaib und Pferdefleisch in einem blutigen Sack. Zugleich holt er »eine Bratpfanne unter seinem Rock hervor«, zieht »eine Handvoll Salz und sogar eine Scheibe Fett aus der Tasche«. Er hat, so der Erzähler, »an alles gedacht«.4 Es klingt mehr wie ein Bubenstreich denn wie ein Fronterlebnis. Aber Benjamin hatte in seinem Lesskow-Essay die Nachkriegszeit im Auge. Hierzu gehört seine Feststellung, »daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen«. In Wirklichkeit kamen sie nicht verstummt aus dem Weltkrieg, sondern 2 Christian Schröder. »Hundert Jahre Erster Weltkrieg. Das Draufloslabern war seine Rettung«. Der Tagesspiegel (Berlin), 03.11.2018. 3 Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Berlin: Propyläen, 1929, 9. 4 Ebd., 44.

84

Remarque und Borchert

konnten das, was sie durchgemacht hatten, den in der Heimat Verbliebenen – die waren natürlich in der Überzahl – nicht vermitteln. Remarque thematisiert dies in seinem Roman Der Weg zurück in verschiedener Form. Am direktesten tut er es im zweiten Kapitel des ersten Teils. Die Ich-Figur ist nach Hause gekommen, hat endlich gut gegessen, da sagt der Vater: »Nun erzähl mal, was du alles erlebt hast, Ernst«. Die Antwort lautete, nachdem er kurz in sich gegangen ist: »Erlebt habe ich eigentlich gar nichts. Es war doch andauernd Krieg, was soll man da schon erleben.«5 Besser wäre es, meint er, wenn Vater, Mutter und die Schwestern etwas erzählten. Er erfährt nun, dass Regierungsrat Pleister gestorben ist. Seine Frage, ob er durch Splitter oder Gewehrschuss ums Leben gekommen sei, erweist sich natürlich als fehl am Platze. In einer solchen Funktion war ein Wirken an der Front undenkbar. Eine Lungenentzündung war die Todesursache. Zu welch anderen Lebenseinstellungen man an der Front gelangt war, versucht Remarque durch Szenen zu illustrieren, die vielfach pikaresk wirken. Kaum ist Willy, ein Frontkamerad der Ich-Figur, zu Hause angelangt, schon sucht er nach Beute. Wir sehen ihn, wie er voller Freude mit einem geschlachteten Hahn erscheint, den er sofort zubereiten möchte. Seine Mutter schaut empört auf ihn. Es ist der stolze geliebte Hahn des Nachbarn, eines Milchmannes. Sie spricht von Stehlen. Er kann ihre Reaktion nicht verstehen, schließlich sei es sein zehnter Hahn, den er erobert habe. Als er das Wort »gestohlen« hört, bricht er in Gelächter aus: Das wäre ja noch schöner. Requiriert ist der! Besorgt! Gefunden! – – – Gestohlen! Wenn man Geld wegnimmt, da kann man von Stehlen reden, aber doch nicht, wenn man etwas an Fressen schnappt. Da hätten wir viel gestohlen, Ernst, was?6

Ganz pikaresk wirkt die Szene, als Ernst zu einem feierlichen Essen in einem großbürgerlichen Haus von Onkel Karl, einem »Renomierverwandten«, einem Oberzahlmeister im Krieg, eingeladen ist. Er kommt neben ein Mädchen mit einer »Schwanenboa um den Hals« zu sitzen, das er schön findet, aber bei der er nicht weiß, wie man mit ihr ins Gespräch kommen könnte. Endlich wird das Essen gereicht. Echte »Schweinekotlette, in richtigem Fett gebraten« gibt es. Er stürzt sich auf sie, ohne Messer und Gabel zu benutzen. Er hat, wie im Feld üblich, das Fleisch in die Hände genommen. Dabei erinnert er sich an Essensglücksmomente an der Front, bis er merkt, dass alle auf ihn schauen und einige zu lachen beginnen. Er schämt sich, aber so langsam gerät er in Wut auf die Welt, die in ihrem »Kleinkram dahinlebt, als wären die ungeheuren Jahre niemals gewesen, in denen es doch nur eins gab: Tod oder Leben und nichts sonst«.7 5 Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. Berlin: Propyläen, 1931, 78. 6 Ebd., 88–89. 7 Ebd., 129.

85

Karol Sauerland

Man fragt sich, wie würde ein Weg zurück nach dem Zweiten Weltkrieg aus deutscher Sicht aussehen? Eine freundschaftliche Begegnung mit amerikanischen Soldaten nach der Ausrufung des Waffenstillstands, wie sie Remarque schildert, wäre nicht möglich gewesen. Schließlich hat es keinen Waffenstillstand gegeben, sondern bedingungslose Kapitulation. Das Regiment der Protagonisten des Romans Der Weg zurück befindet sich am 11. November 1918 auf französischem Boden. Die Kameraden können von dort aus nach Hause fahren, wenngleich mit Hindernissen, vor allem in überfüllten Zügen. Ihnen droht keine Gefangenschaft. Selbst ihre Gewehre können sie behalten. Mancher nimmt auch eine Granate mit. Und zu Hause angelangt, finden sich viele zu Soldatenräten zusammen, für die Remarque nur Spott übrig zu haben scheint. Der Zweite Weltkrieg endete für die Wehrmachtsangehörigen zumeist mit Gefangenschaft. Und wenn sie zurückkehren konnten, trafen sie keine relativ heile Heimat an, wie das 1918 der Fall war. Der Luftkrieg mit seinen Flächenbombardierungen war zu jener Zeit noch unbekannt. Und es gab auch keine Flüchtlingsströme aus Ost- und Südeuropa. Und so entstand nach 1945 eine andere Erzählform, die der Trümmerliteratur. Die Heimkehrer standen jetzt vor Ruinen, sie mussten sich nicht im Geiste wie die Remarqueschen Kriegsteilnehmer die Zerstörungen an der Front in Erinnerung rufen und klagen, dass man in der Heimat keine Vorstellungen davon habe, sondern sahen ein ähnliches Bild vor sich wie an der Front. Und sie meinten, vor den Trümmern ihrer Existenz zu stehen. Dass es in Kürze zu einer Wohlstandsgesellschaft kommen sollte, konnten sie sich nicht vorstellen, auch nicht, dass ein Jahr 1929 ausbleiben sollte. Die Heimkehrer fanden nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Familien nicht mehr so vor, wie sie sie verlassen hatten. Ihre Nächsten waren entweder ausgebombt oder hatten vor den sowjetischen Truppen fliehen müssen. Manche nahmen sich das Leben, wie die Eltern des Protagonisten Beckmann in Borcherts Draußen vor der Tür. Das Geschehen an der Front ist nicht mehr die besondere Erfahrung, sondern der Zusammenbruch des Dritten Reichs, der im allgemeinen als ein Zusammenbruch Deutschlands empfunden wurde. Alles Vorhergehende erscheint jetzt als paradiesisch. Borchert brachte es in seiner kurzen Erzählung Die Küchenuhr auf den Punkt. Der Protagonist, ein Zwanzigjähriger, der im Gesicht alt aussieht, aber in seinen Bewegungen jung wirkt, setzt sich mit einer Küchenuhr auf eine Bank, auf der auch andere sitzen. Die an und für sich schäbige Uhr, die er aus den Trümmern hervorgeholt hat, ist das einzige Andenken an sein Elternhaus. Sie zeigt halb drei Uhr an, jene Zeit, zu der er tagtäglich in der Nacht von der Arbeit nach Hause gekommen war und zu der seine Mutter ihm das verspätete Abendbrot vorgesetzt hatte. Der Mann und die Frau, die sich neben ihm auf der Bank ausruhen, meinen, dass es eine Uhr ist, die während der Bombardierung stehengeblieben ist. Der Protagonist verneint es nicht, aber ihm ist einzig die Uhrzeit wichtig, die ihn an die Nähe zur Mutter erinnert, die einem Bombenangriff zum Opfer gefallen ist. 86

Remarque und Borchert

In der Literatur über den Ersten Weltkrieg spielen Erinnerungen an Augenblicke vor der Trennung von der Familie kaum eine Rolle. Es geht darum, sich nach der Rückkehr von der Front wieder im Alltagsleben zurechtzufinden. Die Familie in der Heimat ist nicht durch Kriegsereignisse, sprich Bombardierungen oder Flucht, dezimiert worden. Die von Remarque dargestellte heimgekehrte Jugend ist von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugt. Sie stört vor allem, dass, wenn vom Krieg die Rede ist, er nach wie vor heroisiert wird. Als der Schuldirektor in seiner Begrüßungsrede in dieses Fahrwasser gerät, halten es die wieder auf die Schulbänke zurückgekehrten Frontsoldaten nicht aus und unterbrechen ihn mit Worten wie »Scheiße«. Er lebe noch im Jahr 1914, als alle mit »fliegenden Fahnen, mit Begeisterung und Marschmusik« in den Krieg zogen, erklärt Ludwig Breyer, einer der kriegserfahrenen Schüler, vor dem anwesenden Lehrerkollektiv. Als sie 1914 begeistert ausgezogen waren, setzt er fort, hätten sie »das Wort Vaterland auf den Lippen« gehabt, doch 1918 seien sie still heimgekehrt, »aber den Begriff Vaterland im Herzen«.8 Und dabei möge es bleiben. Auch Borcherts Protagonisten sind von der Sinnlosigkeit des Krieges überzeugt. Von »Vaterland im Herzen« ist jedoch nicht mehr die Rede, eher von Schuld, allerdings nur bezogen auf die deutschen Opfer. Sowohl Remarque als auch Borchert sprechen von der »verlorenen Generation«. Ersterer lässt sie in vielen Figuren als ein Kollektiv, das durch den Geist der Kameradschaft, des gemeinsam Erlebten sich herausgebildet hat, an uns vorbeiziehen. Solche Gemeinsamkeiten konnten im Zweiten Weltkrieg kaum entstehen. Borchert spricht zwar von seiner Generation, die »ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied, ohne Jugend«, »ohne Grenze, ohne Hemmung und Behütung« sei,9 doch im literarischen Werk bleiben seine Protagonisten Vereinzelte. Sie verbleiben wortwörtlich »draußen vor der Tür«. Im Vorspann zu dem Drama heißt es von einem Mann, der nach Deutschland kommt, er sei einer von denen. Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür. Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße. Das ist ihr Deutschland.10

»Beckmann, einer von denen« heißt es im Personenverzeichnis. Wir sollen mit einem Wort in ihm jemanden sehen, der für alle Heimkehrer steht. Er sucht nicht wie Erich Birkholz in Der Weg zurück seine Kameraden auf, um zu erfahren, wie

8 Ebd., 139. 9 Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk. Reinbek: Rowohlt, 1991, 59. 10 Ebd., 102.

87

Karol Sauerland

es ihnen jetzt geht, ob sie sich zurechtgefunden haben, was nur vereinzelt der Fall ist. Im zerrütteten Deutschland der Weimarer Republik hatten die Zurückgekehrten nur wenig Chancen, sich zu etablieren. Im Ersten Weltkrieg fühlte Arnold Zweig sich erlöst, als er 1917 an die Ostfront versetzt wurde. Endlich hatte er Verdun hinter sich. Im Zweiten Weltkrieg galt dagegen eine Versetzung an die Westfront als ersehntes Ziel. Endlich konnte man sich quasi erholen. Erst die Landung der Westalliierten im Juni 1944 machte dem ein Ende. Remarques Protagonisten erleben den Stellungskrieg auf französischem Boden. Gefangennahme bzw. Gefangen-genommen-worden-sein sind kein Thema. Für Borcherts Beckmann dagegen, der bei Smolensk seine elf Soldaten »in den Tod schickte«, ging, wie er dem Oberst erklärte, bei Stalingrad »die Tour […] schief, und sie haben uns gegriffen. Drei Jahre haben wir gekriegt, alle hunderttausend Mann«.11 Er ist einer in der großen Masse, einer ganzen Armee, nämlich der sechsten unter General Paulus, der im Fernen Osten das Frieren lernt. Und er gehört zu den wenigen, die als Überlebende zurückgekehrt waren. 1946 kommt er in das zerstörte Hamburg, in die Trümmerstadt. Smolensk, Gorodok, Stalingrad lasten auf ihm. An einen Neuanfang ist da nicht zu denken. Er erzählt seinen mehr als makabren, sich stets wiederholenden Traum dem Oberst, der nicht nur bereit ist, ihn sich anzuhören, sondern ihn auch innerlich miterlebt: Da steht ein Mann und spielt Xylophon. Er spielt einen rasenden Rhythmus. Und dabei schwitzt er, der Mann, denn er ist außergewöhnlich fett. Und er spielt auf einem Riesenxylophon. Und weil es so groß ist, muß er bei jedem Schlag vor dem Xylophon hin und her sausen. Und dabei schwitzt er, denn er ist tatsächlich sehr fett. Aber er schwitzt gar keinen Schweiß, das ist das Sonderbare. Er schwitzt Blut, dampfendes, dunkles Blut. Und das Blut läuft in zwei breiten roten Streifen an seiner Hose runter, daß er von weitem aussieht wie ein General. Wie ein General! Ein fetter, blutiger General. Es muß ein alter schlachtenerprobter General sein, denn er hat beide Arme verloren. Ja, er spielt mit langen dünnen Prothesen, die wie Handgranatenstiele aussehen, hölzern und mit einem Metallring. Es muß ein ganz fremdartiger Musiker sein, der General, denn die Hölzer seines riesigen Xylophons sind gar nicht aus Holz. Nein, glauben Sie mir, Herr Oberst, glauben Sie mir, sie sind aus Knochen. Glauben Sie mir das, Herr Oberst, aus Knochen! Oberst (leise): Ja, ich glaube. Aus Knochen. Beckmann (immer noch tranceähnlich, spukhaft): Ja, nicht aus Holz, aus Knochen. Wunderbare weiße Knochen. Schädeldecken hat er da, Schulterblätter, Beckenknochen. Und für die höheren Töne Armknochen und Beinknochen. Dann kommen die Rippen – viele tausend Rippen. Und zum Schluß, ganz am Ende des Xylophons, 11 Ebd., 120.

88

Remarque und Borchert

wo die ganz hohen Töne liegen, da sind Fingerknöchel, Zehen, Zähne. Ja, als Letztes kommen die Zähne. Das ist das Xylophon, auf dem der fette Mann mit den Generalsstreifen spielt. Ist das nicht ein komischer Musiker, dieser General? Oberst (unsicher): Ja, sehr komisch. Sehr, sehr komisch! Beckmann: Ja, und nun geht es erst los. Nun fängt der Traum erst an. Also, der General steht vor dem Riesenxylophon aus Menschenknochen und trommelt mit seinen Prothesen einen Marsch. Preußens Gloria oder den Badenweiler. Aber meistens spielt er den Einzug der Gladiatoren und die Alten Kameraden. Meistens spielt er die. Die kennen Sie doch, Herr Oberst, die Alten Kameraden? (summt) Oberst: Ja, ja. Natürlich. (summt ebenfalls) Beckmann: Und dann kommen sie. Dann ziehen sie ein, die Gladiatoren, die alten Kameraden. Dann stehen sie auf aus den Massengräbern, und ihr blutiges Gestöhn stinkt bis an den weißen Mond. Und davon sind die Nächte so. So bitter wie Katzengescheiß. So rot, so rot wie Himbeerlimonade auf einem weißen Hemd. Dann sind die Nächte so, daß wir nicht atmen können. Daß wir ersticken, wenn wir keinen Mund zum Küssen und keinen Schnaps zu trinken haben. Bis an den Mond, den weißen Mond, stinkt dann das blutige Gestöhn, Herr Oberst, wenn die Toten kommen, die limonadenfleckigen Toten.12

Der Traum will kein Ende nehmen. Die Toten kommen in Scharen aus den Steppen und Straßen […], aus Ruinen und Mooren, schwarzgefroren, grün, verwest. Aus der Steppe stehen sie auf, einäugig, zahnlos, einarmig, beinlos, mit zerfetzten Gedärmen, ohne Schädeldecken, ohne Hände, durchlöchert, stinkend, blind. Eine furchtbare Flut kommen sie angeschwemmt, unübersehbar an Zahl, unübersehbar an Qual! Das furchtbare unübersehbare Meer der Toten tritt über die Ufer seiner Gräber und wälzt sich breit, breiig, bresthaft und blutig über die Welt.13

Und diese Toten wollen ihn, Beckmann, für ihr Schicksal verantwortlich machen! Er weist sie nicht ab, sondern will sie an den Oberst verweisen. An ihn will er seine Verantwortung zurückgeben. Er versucht, ihn daran zu erinnern, daß er bei Gorodok bei 42 Grad Kälte ihm gesagt habe, hiermit übergebe ich »Ihnen die Verantwortung für die zwanzig Mann«.14 Das könne er doch nicht so leichthin gesagt haben. Selber habe er sicherlich für 2.000 oder mehr Tote die Verantwortung, da würden elf mehr oder weniger keine Rolle spielen. Der Oberst ist erst perplex, findet dann aber, dass Beckmann ein Schelm mit »abgründigem Humor« sei, er würde sich für die Bühne eignen.15 12 Ebd., 123–124. 13 Ebd., 124. 14 Ebd., 125. 15 Ebd., 127.

89

Karol Sauerland

Die Toten wollen für sich Gerechtigkeit. Beckmann meint, der einzige zu sein, der Verantwortung auf sich nimmt. Nicht nur seine elf Toten richten sich an ihn, sondern alle an der Ostfront Umgekommenen. Er erträgt die Schuld nicht, möchte sie mithin von sich weisen, sie an seinen Vorgesetzten »zurückgeben«, sicherlich in der Hoffnung, dass dieser sie wiederum an seinen Vorgesetzten weiterreicht. Aber der Oberst reagiert nicht, lässt es sich wohl sein und kommt wahrscheinlich durch die Marschmusik, insbesondere den »Einmarsch der Gladiatoren«, der im Zirkus Clown-Auftritte einläutete, auf die Idee, er habe es mit einem verkappten Schelm zu tun, dessen Äußeres – vor allem die Gasbrille – an einen Clown erinnere. Und auch der Mann, der durch die Blutstreifen an den Hosen, wie ein General wirkt, dessen Riesenxylophon sich aus den Gerippen der Toten zusammensetzt, hat etwas Clownartiges an sich. Beckmann nennt ihn einen komischen Musiker. Er ist natürlich mehr als komisch. Kurz nach dem Krieg hätte man von grotesk oder auch absurd gesprochen. Benjamin hatte seine, hier eingangs zitierten Beobachtungen über den Niedergang der Erfahrungen ursprünglich für einen anderen Zusammenhang formuliert. Es ging ihm um ein Lob auf die zivilisatorische Entwicklung, die durch ihre »unerhörte Entfaltung der Technik« einen Ausgangspunkt zu etwas vollkommen Neuem geschaffen habe. Benjamin hat hier die damals bereits wenig bekannten Romane von Paul Scheerbart vor Augen. Dieser habe »sich für die Frage interessiert, was unsere Teleskope, unsere Flugzeuge und Luftraketen aus den ehemaligen Menschen für gänzlich neue sehens- und liebenswerte Geschöpfe machen«. Das Entscheidende an ihnen sei der »Gegensatz zum Organischen«, »Menschenähnlichkeit — diesen Grundsatz des Humanismus — lehnen sie ab«. Benjamin nennt es ein neues begrüßenswertes Barbarentum: Ja gestehen wir es ein: Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht nur an privaten, sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt. Und damit eine Art von neuem Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen positiven Begriff des Barbarentums einzuführen. Denn wohin bringt die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus dem Wenigen heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken. Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten. Sie wollten nämlich einen Zeichentisch haben, sie sind Konstrukteure gewesen.16

Es gilt daher, sich ganz bewusst zu der Armut an Erfahrungen zu bekennen und etwas aus ihr zu machen:

16 Benjamin, 7–8.

90

Remarque und Borchert

Erfahrungsarmut: das muß man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen können, dass etwas Anständiges dabei herauskommt.17

Benjamin formulierte diese Überlegungen 1933 u.a. unter dem Eindruck der Kunstvorstellungen Brechts, dessen episches Theater den neuen technischen Formen, dem Kino sowie dem Rundfunk entspräche – es stünde »auf der Höhe der Technik« –, aber auch der Visionen der Architekten Le Corbusier und Erich Mendelsohn sowie des Architektenhistorikers Sigfried Giedion. Drei Jahre später, 1936, gibt sich Benjamin dem Charme der altbackenen Erzählweise Lesskows hin. Hierbei reflektiert er die Voraussetzungen für Erzählen überhaupt. Seine Beobachtungen über die Kriegsheimkehrer passen in diesen Zusammenhang viel besser als in den Essay Erfahrung und Armut. Die Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg fühlten sich nicht schuldig, dass sie in den Krieg gezogen waren. Beim Zweiten Weltkrieg gab es keine Unschuldigen mehr. Spätestens nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 erfuhren alle das Ausmaß der Verbrechen, an denen sie direkt oder indirekt mitgewirkt hatten. Schon Borchert spricht in Draußen vor der Tür den Judenmord an. Er lässt Beckmanns Eltern angesichts ihres militanten Antisemitismus Selbstmord verüben. Beckmann selber kommt über den Schock, den er, aus Sibirien heimgekehrt, in Hamburg erlebt, nicht hinweg. Der Unwille der deutschen Bevölkerung, sich zur Schuld zu bekennen, treibt ihn zur Verzweiflung: Und dann kommt ein Straßenfeger, ein deutscher Straßenfeger, in Uniform und mit roten Streifen, von der Firma Abfall und Verwesung, und findet den gemordeten Mörder Beckmann. Verhungert, erfroren, liegengeblieben. Im zwanzigsten Jahrhundert. Im fünften Jahrzehnt. Auf der Straße. In Deutschland. Und die Menschen gehen an dem Tod vorbei, achtlos, resigniert, blasiert, angeekelt, und gleichgültig, gleichgültig, so gleichgültig! Und der Tote fühlt tief in seinen Traum hinein, daß sein Tod gleich war wie sein Leben: sinnlos, unbedeutend, grau. Und du – du sagst, ich soll leben! Wozu? Für wen? Für was? Hab ich kein Recht auf meinen Tod? Hab ich kein Recht auf meinen Selbstmord? Soll ich mich weiter morden lassen und weiter morden? Wohin soll ich denn? Wovon soll ich leben? Mit wem? Für was? Wohin sollen wir denn auf dieser Welt! Verraten sind wir. Furchtbar verraten. Wo bist du, Anderer? Du bist doch sonst immer da!18

17 Ebd., 10–11. 18 Ebd., 164–165.

91

Karol Sauerland

Der Andere, der »Ja-Sager« erscheint nicht. Es gibt keinen Trost mehr. Beckmann bekommt von nirgendwo eine Antwort. Damit endet Borcherts Stück. Remarque läßt dagegen in seinem Roman Der Weg zurück hoffen, dass die Kriegslust nicht siegen wird, wenngleich im Schlusskapitel die drei verbliebenen Kameraden eine Gruppe junger Burschen treffen, die bereits Freude am Waffenspiel zeigen. Sie werden von einem unbarmherzigen Führer unterrichtet, wie man zu kämpfen hat. Dies könnte als eine Anspielung an den Aufstieg der NSDAP gelesen werden. Aber der Protagonist Erich ist ganz mit sich selbst beschäftigt, er meint, nicht nur zu sich selbst, sondern auch als Lehrer den rechten Beruf für sich und seine Umwelt gefunden zu haben. Dieser Schluss lässt an die Tradition der Entwicklungsromane denken, insbesondere an die zweite Fassung des Grünen Heinrich, in der der Protagonist sich in das bürgerliche Leben einreiht, »die Kanzlei eines kleinen Oberamtes« übernimmt: Hier konnte ich bei bescheidener und doch mannigfacher Wirksamkeit in der Stille leben und befand mich in einer Mittelschicht zwischen dem Gemeindewesen und der Staatsverwaltung, so daß ich den Einblick nach unten und oben gewann und lernte, wohin die Dinge gingen und woher sie kamen.19

Ernst Birkholz hatte sich entschlossen, wieder die Stelle eines »Schulmeisters« im Dorf anzutreten, die er anfänglich für langweilig hielt. Er freue sich darauf: Ich will meinen Jungens da beibringen, was wirklich Vaterland ist. Ihre Heimat nämlich, und nicht eine politische Partei. Ihre Heimat aber sind Bäume, Äcker, Erde und keine großmäuligen Schlagworte.20

Wenn man sich die Nachkriegsschicksale der Kameraden Ernsts ansieht, ist dies ein begrüßenswerter Entschluss, wenngleich es naiv klingt, zu glauben, dass Kriege durch ein besseres Verständnis der Begriffe Vaterland und Heimat vermeidbar wären. In der ersten, im Neuen Wiener Tagblatt abgedruckten Version hatte sich Remarque noch zu einem hoffnungslosen Ende entschlossen.21 Es entsprach der Idee der »verlorenen Generation«. Wahrscheinlich hörte er dann auf Stimmen, dass es ja auch geglückte Versuche gegeben hätte, sich nach dem erfahrenen Schrecken wieder zurechtzufinden. Seine pazifistische Einstellung duldete offensichtlich keinen Blick in eine kriegerische Zukunft. Sie dürfe nicht sein!

19 Gottfried Keller. Sämtliche Werke in acht Bänden. Bd. 4. Berlin: Aufbau, 1961, 839–840. 20 Remarque, Weg zurück, 365. 21 Siehe https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/dwz.htm (06.10.2021).

92

Krzysztof Kłosowicz

Die militanten Pazifisten Zu den Kriegserzählungen Der Feind von Arnold Zweig und Der Feind von Erich Maria Remarque

Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Kriegserlebnis zu den häufigsten Motiven der deutschsprachigen Literatur zwischen 1918 und 1933 gehört. Die enorme Popularität der Kriegsromane bestätigen ihre Auflagezahlen.1 Die Bedeutung der Kriegsprosa für die kulturelle und politische Entwicklung der Weimarer Republik wurde gleichermaßen von Historikern, Politikern und Literaturwissenschaftlern hervorgehoben. Für viele Forscher gilt das Erscheinen von Remarques Im Westen nichts Neues (1929) als eine Zäsur in der Behandlung dieser epochenspezifischen, literarischen Gattung. Hans-Harald Müller bezeichnet das Werk als »revolutionäre poetische Matrix« und kommentiert: Erst nachdem diese neue poetische Matrix von den Zeitgenossen als – bewundertes oder bekämpftes – Vorbild anerkannt war, wurden eine Reihe früher entstandener Kriegsromane a posteriori als »Vorläufer« Remarques eingestuft […]. Nach Remarques Im Westen nichts Neues erschienene Kriegsromane wurden als »Nachläufer« Remarques klassifiziert.2

Zu den wichtigsten »Vorläufern« zählen Arnold Zweig und sein Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927), den Lion Feuchtwanger als »ersten deutschen Kriegsroman von großem Format«3 und Kurt Tucholsky als »Meilenstein auf dem Wege zum Frieden«4 beurteilte. 1 Im Zeitraum von 1928 bis 1933 erschienen auf dem deutschen Buchmarkt rund zweihundert Romane, die den Ersten Weltkrieg thematisieren. 2 Hans-Harald Müller. Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler, 1986, 36. 3 Lion Feuchtwanger. Berliner Tageblatt, 09.11.1927. Zit. nach: Annie Voigtländer (Hg.). Welt und Wirkung eines Romans. Zu Arnold Zweigs »Der Streit um den Sergeanten Grischa«. Berlin, Weimar: Aufbau, 1967, 19. 4 Kurt Tucholsky. Die Weltbühne, 13.12.1927. Zit. nach: Ebd., 51.

93

Krzysztof Kłosowicz

Obwohl die beiden genannten Romane in den Kanon der deutschsprachigen Literatur eingegangen waren, entwickelte sich zwischen deren Autoren keine Bindung. Im Verzeichnis des im Archiv der Berliner Akademie der Künste aufbewahrten Briefnachlasses Zweigs, der sich auf ca. 30.000 Positionen beläuft, kann man vergeblich nach dem Namen Remarques suchen. Nichtsdestotrotz lassen sich in Bezug auf die literarische Auffassung der Kriegserfahrung mehrere Parallelen zwischen den Schriftstellern nachweisen. Auf dieser Grundlage wird in dem vorliegenden Beitrag ein Versuch unternommen, ausgehend von den biografischen Schnittstellen, die Kriegserzählungen Der Feind (1914) von Arnold Zweig und Der Feind (1930) von Erich Maria Remarque in den Mittelpunkt einer vergleichenden Analyse zu stellen. Als Remarque am 22. Juni 1898 zur Welt kam, war Zweig mehr als 10 Jahre 5 alt. Die beiden stammten aus kleinbürgerlichen Verhältnissen – Remarque war Sohn eines Osnabrücker Buchdruckers, Zweig eines Sattelmeisters aus Glogau an der Oder. Ihre Auseinandersetzung mit der Kunst begann schon in der Schulzeit. Remarques »Leib- und Magenfach« war die Literaturgeschichte.6 Der Schüler der Johannisschule sang auch häufig und gern im Kirchenchor. Zweigs erste Begegnungen mit der Literatur und die Entdeckung seiner Liebe zur Musik fallen in die Kattowitzer Schuljahre. Die beiden mussten einen langen und mühsamen Weg zurücklegen und zahlreiche innere Identitätskrisen überwinden, bis sich der erwünschte schriftstellerische Erfolg einstellte. Davon zeugen sowohl private Tagebuchnotizen7 bzw. Briefe8 als auch die ersten Gedichte und kurze Prosatexte. Remarque und Zweig gehörten zu den Vertretern der sog. »lost generation«,9 die

5 Arnold Zweig ist am 10. November 1887 geboren. 6 S. Wilhelm von Sternburg. »Als wäre alles das letzte Mal«. Erich Maria Remarque. Eine Biografie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998, 63. 7 Remarques Tagebuchaufzeichnungen beginnen im August 1918, als er im Duisburger Lazarett nach einer Verwundung genest und werden – mit längeren Unterbrechungen – bis Januar 1955 fortgesetzt. In den sehr persönlichen Notizen hält der Schriftsteller sein Leben akribisch fest, beobachtet und analysiert es. 8 Arnold Zweig war lebenslang ein leidenschaftlicher Briefschreiber. In der Korrespondenz aus seinen Studienjahren, u.a. an Helene Weyl bzw. Agnes Hesse, spiegelt sich seine damalige, innere Zerrissenheit wider. Er beklagt sich vor allem über wachsende Isoliertheit, Fremdheit zum Elternhaus und Trennung von den Freunden. 9 Der Begriff bezieht sich auf die während und nach dem Ersten Weltkrieg Heranwachsenden. Die Bezeichnung wurde von Gertrude Stein geprägt. Das Drama der von den Schlachtfeldern in eine sinnentleerte Welt zurückgekehrten, jungen Menschen wird vor allem in der amerikanischen Literatur von Ernest Hemingway und Francis Scott Fitzgerald aufgegriffen. Bei Remarque wird es zum zentralen Thema der Romane Der Weg zurück (1930) und Drei Kameraden (1936). Auch Zweigsche Protagonisten leiden unter Kriegstraumata, wie z.B. der Architekt Laurenz Pont in der Erzählung Pont und Anna (1928).

94

Arnold Zweig und Erich Maria Remarque

sich unmittelbar am Kriegsgeschehen beteiligen mussten.10 Nach der Rückkehr von der Front dauerte es für die beiden etwa zehn Jahre, bis sie ihre großen Romanwerke veröffentlichten, welche ihren künstlerischen Durchbruch bewirkten und ihre Schriftstellerexistenz begründeten.11 Allerdings schon 1933 wurden ihre Bücher als »schädliches und unerwünschtes Schrifttum« abgestempelt und die Autoren zum Verlassen ihres Heimatlandes gezwungen und ausgebürgert.12 Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Zweig in die DDR nach Ost-Berlin zurück.13 Für Remarque blieb das schweizerische Porto Ronco sein endgültiges Domizil.14

10 Erich Maria Remarque wurde am 21. November 1916 Soldat. Sein Dienst begann in der Osnabrücker Kaserne und wurde im Ausbildungslager Celle fortgesetzt. Am 12. Juni 1917 wurde er an die Westfront verlegt. Persönlich erlebte er wenig davon, was er in seinem berühmtesten Roman schilderte. Er machte weder Grabenkämpfe noch Sturmangriffe mit, sondern war an und hinter der Front als Schipper eingesetzt. Sechs Wochen nach seiner Ankunft im flandrischen Hem-Lenglet wurde er an der Ypern-Front durch Granatsplitter verwundet und ins Krankenhaus nach Duisburg eingeliefert. Damit war sein Fronteinsatz zu Ende. Arnold Zweig, der noch vor dem Krieg an starker Kurzsichtigkeit litt, wurde zunächst zurückgestellt. Er wurde erst am 23. April 1915 eingezogen und als Armierungssoldat eingeteilt. Am Ende seiner Ausbildungszeit in Küstrin verlangte er, nach Flandern an die Front geschickt zu werden. Zusammen mit seiner Kompanie leistete er in Belgien und später auch in Südungarn und Serbien schwere Arbeit beim Straßenbau und Munitionstransport. Im Frühjahr 1916 wurde er vor Verdun nach Frankreich versetzt. Dank Unterstützung hilfsbereiter Freunde verlegte man ihn im Juni 1917 an die Ostfront, wo er als Redaktionsmitglied der Presseabteilung bis zum Kriegsende arbeitete. 11 Remarque begann schon 1917 im Lazarett, seine Kriegserlebnisse in einen Roman umzusetzen, für den er noch an der Front befindliche Kameraden um Mithilfe bat. Die Fertigstellung des Werkes wie auch eine anderweitige Umsetzung der Kriegserfahrung blieb allerdings in den darauf folgenden Jahren aus. Arnold Zweig verwirklichte bereits 1921 mit dem dramatischen Stück Das Spiel vom Sergeanten Grischa sein Vorhaben, das wahre Gesicht des Kriegs zu entlarven. Damals vermochte er allerdings keinen Verleger für das Werk zu finden. Erst die epische Fassung derselben Fabel aus dem Jahre 1927 erreichte das breite Publikum. 12 Die beiden Schriftsteller galten eine Zeit lang als staatenlos. Um in die USA reisen zu dürfen, beschaffte sich Remarque einen panamaischen Pass, bis ihm 1947 die amerikanische Staatsangehörigkeit zuerkannt wurde. Zweig wollte weder das Dritte Reich um die Erneuerung seines Passes bitten, noch die palästinensische Staatsangehörigkeit annehmen – er behauptete, er »habe zur jüdischen Nationalität auch wenig Beziehung« (S. Brief an Sigmund Freud vom 15.02.1936. Ernst Ludwig Freud (Hg.). Sigmund Freud – Arnold Zweig: Briefwechsel. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1968, 130). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er DDR-Bürger. 13 Diese Entscheidung mag bei manchem Erstaunen hervorrufen. Das Leben in der Deutschen Demokratischen Republik vollzog sich doch in einer antizionistischen und dem jüdischen Staat feindlichen Atmosphäre. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg für diesen unter der Last vergangener Jahrzehnte gedrückten Mann, der sich nach einem Platz sehnte, wo die für einen Schriftsteller unerlässlichen, finanziellen Lebensgrundlagen vorhanden sind, wenige Alternativen gab. 14 Remarque trug sich zu keinem Zeitpunkt mit der Absicht, nach Deutschland zurückzukeh-

95

Krzysztof Kłosowicz

Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Schriftstellern bezieht sich auf ihre Einstellung gegenüber dem politischen Engagement. Noch als angehender Schriftsteller kümmerte sich Arnold Zweig nicht im Mindesten um das Politische.15 Seine Position vor 1914 wird von Jost Hermand folgendermaßen charakterisiert: Statt sich wie die meisten seiner aus wohlhabenden und gesellschaftlich kultivierten Familien stammenden Kommilitonen an das politische und sozial Vorgegebene zu halten, verstand dieser kleinbürgerlich-jüdische Außenseiter unter universitärer Bildung weniger einen äußeren Schliff als etwas Tief-Innerliches, was aus der eigenen Existenz gespeist wird.16

Erst nachdem er die »Hölle vor Verdun« hautnah erlebt hatte, wurde er zum »militanten Zionisten und Pazifisten«,17 der nicht nur durch sein literarisches Schaffen, sondern vor allem in zahlreichen publizistischen Schriften sowie durch die aktive Mitwirkung an Presseorganen (gemeint sind unter anderem Jüdische Rundschau und Orient) seine weltanschauliche Orientierung immer wieder manifestierte und »das Wort als Waffe gegen den Ungeist [sein]er Zeit einsetzt[e]«.18 Hingegen Remarque, um die Worte des Biografen Wilhelm von Sternburg anzuführen, […] schwieg außerhalb des Werkes lange, blieb den endlosen Streitereien im Lager der deutschen Exilanten fern, unterschrieb nur höchst selten politische Resolutio-

ren, geschweige denn sich in Berlin niederzulassen, worauf er in einem Interview aus dem Jahre 1962 zu sprechen kommt: »Ich habe die entscheidenden Jahre meines Lebens in Berlin verbracht. Berlin ist für mich eine einzigartige Stadt. Es ist die Stadt, in der noch immer Krieg herrscht. […] Für mich ist die Mauer eine große Tragik und entsetzliche Dummheit. Wenn ein Land Stacheldraht um seine Grenzen ziehen muß, damit ihm seine Menschen nicht weglaufen, dann hat es sich damit sein eigenes Urteil gesprochen.« Thomas Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998, 116. 15 In einem Brief an Willi Handl vom 20. Juli 1917 stellt Arnold Zweig fest: »Das Politische ekelt mich an«. Zit. nach: Georg Wenzel (Hg.). Arnold Zweig 1887–1967. Werk und Leben in Bildern und Dokumenten. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1978, 78. Rückblickend erklärte er in einem Brief an Johanna Rudolph, er sei als Sohn einer Gesellschaft aufgewachsen, »die kein politisches Bewußtsein hatte. Die gegebenen Verhältnisse hielten wir für unveränderlich«. Zit. nach Aufbau (1950), 11, 1053. 16 Jost Hermand. Arnold Zweig. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1990, 14. 17 Die Bezeichnung stammt von Manuel Wiznitzer. Arnold Zweig. Das Leben eines deutschjüdischen Schriftstellers. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1987, 32. 18 Wilhelm von Sternburg. Um Deutschland geht es uns. Berlin, Weimar: Aufbau, 1998, 11.

96

Arnold Zweig und Erich Maria Remarque

nen, entzog sich den zahllosen Veranstaltungen, in denen leidenschaftlich und nicht immer sehr niveauvoll über Krieg und Frieden, Demokratie, Kommunismus und Volksfront, Spanienkrieg und Faschismus, Moskauer Prozesse und die Nachkriegsordnung debattiert wurde.19

Er legte Wert darauf, dass seine offiziellen Aussagen möglichst stimmenthaltend wirken.20 Zu den wenigen publizistischen Texten mit weltanschaulichem Charakter gehört der Beitrag Haben meine Bücher eine Tendenz? (1931/1932) bzw. der Essay Praktische Erziehungsarbeit in Deutschland nach dem Krieg (1944). In dem Gespräch mit Heinz Liepman im Jahre 1962 gestand er: Im Jahre 1931 musste ich Deutschland verlassen, weil mein Leben bedroht war. Ich war weder Jude, noch war ich politisch links eingestellt. Ich war dasselbe, was ich noch heute bin: ein militanter Pazifist.21

Nach Thomas Schneider habe Remarque »seine ganze private und zutiefst zivile Kriegsgegnerschaft zeitlebens mit Nachdruck und unerbittlicher Härte vertreten«.22 Arnold Zweig äußerte sich allerdings missfällig über das erfolgreichste Werk seines Schriftstellerkollegen. Harry Graf Kessler23 berichtet in seinem Tagebuch unter dem Eintrag vom 30. August 1929 von einem Abendessen, das in einem größeren Kreis stattfand und an dem auch Arnold Zweig teilnahm: Zweig destillierte unter Rosen Gift gegen Remarque. Als ob jemand Remarque angriffe, obwohl alle ihn lobten, meinte er: »Nein, nein, das Buch ist gut (›gut‹ mit herablassender Färbung); Renn und Remarque sind zwei ›gute‹ Dilettanten-Romane. Remarque hätte aus seinem Buch sogar einen großen Roman machen können; aber das ist das Dilettantische daran, daß er den Punkt, von dem aus er ihn hätte komponieren sollen, nicht gesehen hat, obwohl er ihn gefunden hatte. Er ist aber blind darüber hinweggegangen. Da, wo er den Bauernjungen schildert, der es nicht mehr

19 Sternburg, »Als wäre alles …«, 23. 20 Die von ihm angenommene Stellung eines neutralen Berichterstatters kommt bereits im Vorwort zu Im Westen nichts Neues zum Ausdruck, und zwar: »Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.« Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1987, 5. 21 Schneider, Ein militanter Pazifist, 112. 22 Ebd., 15. 23 Harry Graf Kessler (1868–1937) war ein in Frankreich und England aufgewachsener, deutscher Kunstsammler, Mäzen, Schriftsteller, Publizist, Pazifist und Diplomat. Seine sich vom Kaiserreich bis zur Zeit des Nationalsozialismus über 57 Jahre erstreckenden Tagebücher (1880–1937) sind bedeutende Zeitzeugnisse.

97

Krzysztof Kłosowicz

aushält, als er die blühenden Bäume sieht, und deshalb fortläuft. Damit hätte ich den Roman angefangen und das Ganze um diesen Bauernjungen herumgruppiert, dann wäre es ein großes Buch geworden.«24

Zweigs Missvergnügen ergab sich wohl aus der Tatsache, dass sein Grischa-Roman nicht die Auflagen von Im Westen nichts Neues erreicht hatte. Dem Tagebuch Kesslers ist zugleich die Entgegnung Remarques zu entnehmen: Arnold Zweig habe ihm vorgeworfen, daß er schludere; aber bei Arnold Zweig stelle sich die Kunst zwischen sein Buch und die Leser, und ihm, Remarque, komme es darauf an, ganz nah an seine Leser heranzukommen, das genüge ihm, wenn sein Stil literarisch auch nicht so gepflegt sei wie der Zweigs.25

Die angeführte Polemik veranschaulicht, dass zwischen den beiden »militanten Pazifisten« von keiner Zuneigung die Rede sein konnte. Dessen ungeachtet dürfen sie aufgrund ihrer übereinstimmenden Kriegsauffassung als Gleichgesinnte bezeichnet werden. Im weiteren Teil des Beitrags werden zwei zuvor erwähnte, gleichnamige Erzählungen von Zweig und Remarque in chronologischer Abfolge analysiert. Diese literarische Form ist typisch für das Frühwerk Zweigs.26 Bereits vor 1914 verfasste er mehrere Erzählungen, in denen er sich auf die ausschnittsweise Darstellung der spätbürgerlichen Wirklichkeit beschränkte und private Episoden aus seinem Erlebniskreis schilderte. Nachdem der Krieg ausgebrochen war, allerdings noch vor seiner Mobilisierung, skizzierte Zweig ein paar anekdotische Geschichten. Als Grundlage dafür verwendete er Pressemeldungen über die ›Heldentaten‹ der deutschen Soldaten und Grausamkeiten, die angeblich an ihnen verübt wurden. Dabei entpuppte sich Zweig als ein im preußischen Geist erzogener Militarist, der den Zeitungsberichten vorbehaltlos glaubte und das reale Kriegsgeschehen ignorierte. Er tendierte dazu, die Fähigkeit zum rücksichtslosen Töten von Menschen überwiegend dem Feind zuzuschreiben, während jede zivile und humane Haltung ein Attribut der Deutschen war.27 Allerdings – wie bereits angedeutet – stellte sich

24 Harry Graf Kessler. Die Tagebücher 1918–1937. Göttingen: LIWI Verlag, 2020, 457. 25 Ebd., 456–457. 26 Der Dichter selbst bezeichnet all seine Geschichten in der Werkausgabe als »Novellen«. Mit der klassischen Novellistik von Boccaccio, Goethe bzw. Kleist haben seine Schilderungen dennoch wenig gemein. Größtenteils sind es psychologische Studien, in denen Zweig als epischer Berichterstatter einen Platz einnehmen konnte. 27 Die sich aus den manipulierten Mitteilungen ergebende, falsche Vorstellung Zweigs über den Ablauf der Kämpfe schlug sich am deutlichsten in der Erzählung Die Bestie (1914) nieder, die in den ersten Kriegswochen spielt und die Geschichte von drei deutschen Husaren schildert,

98

Arnold Zweig und Erich Maria Remarque

bei ihm schon bald Ernüchterung ein, nachdem er das wahre Gesicht einer Materialschlacht persönlich kennengelernt hatte.28 Die Erzählung Der Feind (1914) bestätigt am wenigsten die These, dass Zweigs Kriegsnovellen die »Grenzen der Menschlichkeit« überschritten haben. Der Schriftsteller berührt darin die moralischen Dilemmata eines Frontsoldaten. Der Protagonist der Erzählung ist Sergeant Paul Paschke, Sohn eines Tischlers aus der schlesischen Kleinstadt Guhrau (Góra), dessen Lebenslauf mehrere autobiografische Züge des Autors trägt. Paschke wird zur Garnison Glogau an der Oder einberufen und an die Ostfront abkommandiert. Wegen Verletzung wird er in ein Feldlazarett eingeliefert, in dem auch russische Kriegsgefangene untergebracht sind. Der Anblick eines sterbenden Russen, der – wie sich herausstellt – ebenfalls ein Tischler ist, veranlasst Paschke zu einer Reflexion über das Feindsein: Gesetzt, jenen Schuß durch die linke Lunge hätte er abbekommen, so läge jetzt er in ganz demselben inneren Zustand wie der andere, der Feind. Wie der Körper in der Uniform, dann in Wollwäsche, endlich im Hemde steckt und dahinter erst die Haut beginnt, genauso lag gewickelt in den Feind etwas anderes, ein Nicht-Feind, ein Leib, Handwerker, Bauer oder Vagabund – ein Mann, ein Mensch …29

Die Nähe zum potenziellen Feind versetzt den Protagonisten in einen Traum, in dem Episoden aus seiner frühen Kindheit heraufbeschworen werden.30 Er erinnert sich an die christlichen Werte der Gerechtigkeit und Toleranz, die ihm einst von seiner Mutter und einem Pastor beigebracht worden sind. Im Ergebnis vermag Paschke, an dem im Sterben liegenden Russen das Menschliche zu erkennen, was darin resultiert, dass er von moralischen Zweifeln geplagt wird:

die beim Einmarsch in Belgien in einem Bauernhaus unterkommen, sich durchaus zivilisiert verhalten und für das Quartier Bezahlung anbieten. Im Gegenzug werden sie jedoch von ihrem belgischen Wirt hinterlistig betrunken gemacht und viehisch ermordet. 28 Zweig gab offiziell zu, »Mitschuldige[r] der Zeit und des Grauens« gewesen zu sein: »Auch wir waren gutäugige, vertrauende und ganz kindliche Kinder – und was ist aus uns geworden? […] Wir haben nicht genug getan. Wir haben uns nicht entgegengestemmt. Wir haben das Übel nicht gewittert, wir sind der Lüge erlegen, wir haben dem Übel nicht widerstrebt«. Arnold Zweig. Das ostjüdische Antlitz. Berlin: Welt-Verlag, 1920, 166. 29 Arnold Zweig. »Der Feind«. Arnold Zweig. Novellen. Erster Band. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1987, 324. 30 Diese Passage deutet auf einen frühen Einfluss von Sigmund Freud auf den Schriftsteller hin. Die besondere Modernität von Zweigs Werk rührt zu einem großen Teil davon her, dass er darin die Theorien des Denkers miteinbezogen hat.

99

Krzysztof Kłosowicz

Wie durfte man ihn dann erschießen, mit Stolz, in allen Ehren, als Pflicht und Diensterfüllung? Offenbar konnte der Feind ein Mensch sein genau wie er, ein Soldat genau wie er selbst – und zugleich eine Art Schießscheibe?31

Ein wenig später, nachdem Paschke seinen Dienst wieder aufgenommen hat, erreicht er auf einer nächtlichen Patrouille die russischen Stellungen und sieht einer Gruppe von feindlichen Soldaten zu, die der Bedrohung unbewusst Karten spielen, Zigaretten rauchen und lachen. Als einer der Russen bei dem Angriff umzingelt wird, verwirft Paschke die Absicht, ihn zu töten: »Mußte man nicht wie ein Christenmensch handeln? Sollte nicht einer den Schritt auf ihn machen und sich seiner erbarmen?«32 Beim Anblick seiner hilflosen, mitleidigen Gebärden fordert Paschke den Feind auf, sich zu ergeben, und will ihn verschonen. Der Russe missversteht aber seine Intentionen und erschießt ihn. Paschkes Tod wird somit zum Symbol für die Sinnlosigkeit, sich gegen das eigene Gewissen am Kampf zu beteiligen. In der Auffassung von Robert Cohen, der die umgearbeiteten Versionen der Erzählung untersuchte,33 sei »nirgendwo auf tausenden Seiten von Zweigs halbem Dutzend pazifistischer Kriegsromane eine solche Erkenntnis überzeugender oder klarer formuliert worden.«34 In der Ausgabe aus dem Jahre 1933 wird der namenlose Russe, der Paschke erschießt, zu einer voll entwickelten Figur. Er heißt Schimon Frug, ist ein litauischer Jude, Jeschiwa-Student und Buchhandelsangestellter sowie Sozialist und Mitglied eines Arbeiterbundes. Er durchschaut die kapitalistischen Interessen des Krieges und empfindet selbst im Moment der größten Gefahr Solidarität mit dem Feind. Vom interpretatorischen Standpunkt aus kann auch die DDR-Ausgabe der Erzählung aus dem Jahre 1952 interessant sein. Zweig schuf dafür ein anderes Ende. Sowohl Paschke als auch Schimon Frug überleben den Krieg. Sie tauschen Briefe aus und kommen schließlich zu der Einsicht, dass sie durch einen »irregeleiteten Pflichtbegriff […] damals in so gutwillige Soldaten verwandelt«35 worden seien. Dabei ist der für das späte Werk Zweigs kennzeichnende, belehrende Ton unübersehbar. Die Kriegserzählungen von Erich Maria Remarque sind infolge eines kommerziellen Auftrags zum Jahreswechsel 1929/30 entstanden und wurden 1993 im

31 Zweig, »Der Feind«, 327. 32 Ebd., 332. 33 Mehr zu den überarbeiteten Versionen der Kriegserzählungen Zweigs in Robert Cohen. »Arnold Zweig’s War Novellas of 1914 and their Versions«. Bernd Hüppauf (Hg.). War, Violence and the Modern Condition. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1997, 277–289. 34 Cohen, 286. 35 Arnold Zweig. »Der Feind«. Arnold Zweig. Der Elfenbeinfächer. Ausgewählte Novellen. Erster Band. Berlin: Aufbau, 1953, 142.

100

Arnold Zweig und Erich Maria Remarque

Sammelband mit dem Titel Der Feind bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht.36 Wilhelm von Sternburg behauptet, »künstlerisch sind einige von ihnen vom Rang der ›short stories‹ der von Remarque so geschätzten amerikanischen Kollegen Hemingway und Fitzgerald«.37 Alle sechs Geschichten handeln vom Krieg und seinen Folgen. Der Schriftsteller entlarvt darin die Sinnlosigkeit der Kämpfe und deren Opfer. Die Erzählung Der Feind (1930) ähnelt nicht nur mit ihrem Titel der ein Dutzend Jahre früher entstandenen Novelle Zweigs. Im Lichte des zuvor Gesagten ist es allerdings wenig wahrscheinlich, dass Remarque den Text Zweigs gekannt hat. Vielmehr stützte er sich hierbei auf eine von zahlreichen Frontanekdoten, die von zurückgekehrten Soldaten hie und da erzählt worden waren. Der Feind Remarques schildert ein Kriegserlebnis des an der Westfront eingesetzten Leutnants Ludwig Breyer, das dem Protagonisten »am lebhaftesten in Erinnerung« bleibt. Überraschenderweise stellt sich heraus, dass der Erzähler nicht über die brutalen Kämpfe vor Verdun berichtet, sondern – wie im Falle der Geschichte vom Tischler Paschke – über das Wesen eines Feindes reflektiert. Den Anlass dazu bietet Breyers Aufenthalt im Lazarett – hier eine weitere Ähnlichkeit mit der Erzählung Zweigs. Diesmal ist es der Anblick französischer Gefangener, der den Protagonisten zum Nachdenken anregt: Hier sah ich zum ersten Mal Gefangene, und zwar viele, sitzend, liegend, rauchend – Franzosen ohne Waffen. […] Mich hatte schockiert, daß sie Menschen waren wie wir selbst. Aber die Tatsache war […], daß ich einfach noch nie darüber nachgedacht hatte. Franzosen? Das waren Feinde, die getötet werden mußten, weil sie Deutschland zerstören wollten.38

Breyer kommt zur Überzeugung, dass es »die Magie der Waffen«39 sei, welche einen Menschen zu einem Feind werden lässt: Und diese harmlosen Kameraden, diese Fabrikarbeiter, Hilfsarbeiter, Geschäftsleute, Schuljungen, die da so still und resigniert herumsaßen, würden, wenn sie nur

36 Remarque schloss im September 1929 einen Vertrag mit der United Press of America über die amerikanische Abdrucklizenz von Der Weg zurück und verpflichtete sich gemäß dieser Vereinbarung zu »einer Serie von drei Artikeln aus [s]einer Feder, durchschnittlich je 1500– 2000 Worte lang, die zum Gegenstand französische Schlachtfelder hatten«. S. RemarqueCollection, New York University Sigle 6F.II/048. Mehr zur Entstehungsgeschichte der Texte in Thomas Schneider. »Versteckt und vergessen. Erich Maria Remarques Nachkriegserzählungen über den Ersten Weltkrieg«. Erich Maria Remarque: Der Feind. Erzählungen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1993, 63–74. 37 Sternburg, »Als wäre alles …«, 223. 38 Remarque, Der Feind, 11. 39 Ebd.

101

Krzysztof Kłosowicz

Waffen hätten, augenblicklich wieder zu Feinden werden. Ursprünglich waren sie keine Feinde; erst als sie Waffen bekamen. […] Es gab so viele Waffen in der Welt, daß sie am Ende die Oberhand über die Menschen gewannen und sie in Feinde verwandelten.40

Auf seine Überlegungen folgt die Schilderung eines recht kameradschaftlichen Beisammenseins von deutschen und französischen Frontsoldaten, die sich in den Feuerpausen ohne Wissen der Stabsoffiziere mitten des Niemandslands treffen, um in aller Ruhe Zigaretten zu genießen: Als wir uns das erste Mal ins Gesicht sahen, lächelten wir uns nur verlegen an. Der andere Kamerad war ein junger Kerl wie ich, vielleicht zwanzig Jahre alt. Man konnte seinem Gesicht ansehen, wie gut er diesen Spaß fand. »Bonjour, camerade«, sagte er; aber ich war so verblüfft, daß ich »Bonjour, bonjour« sagte, es zwei-, dreimal wiederholte und nickte und mich hastig umdrehte.41

Die zitierte Passage ähnelt der Fabel einer anderen Kriegserzählung Zweigs und zwar Der Kaffee (1914), in der von einem französischen Parlamentär berichtet wird, der während einer Gefechtspause in den deutschen Schützengraben kommt, um für sich und seine Kameraden ein warmes Getränk zu erbitten. Auch in diesem Falle wird das direkte Treffen mit dem Feind zunächst zu einem etwas unheimlichen Erlebnis: Wir feuerten und erhielten Feuer, immer abwechselnd. […] Am Morgen dieses vierten Tages kochten wir an drei kleinen Feuern zugleich einen Kaffee; der ganze Graben roch wie ein langes Beet von Kaffeeblumen, wenn’s das gäbe […]. Ich stehe auf […] und sehe einen französischen Offizier mit weißem Lappen und sieben oder acht Mann nicht mehr sehr weit. […] Der Oberleutnant salutiert und beginnt: »Mon, camerade…«, hier versagte ihm schon die Stimme, und ich hatte Herzklopfen vor Schreck, wie ich den Mann so stehen sah, gerade und mager, ein bißchen schwarz und gelblich und um die Augen braune Ringe.42

Der Verbrüderungsversuch ist allerdings in beiden Fällen nur von kurzer ­Dauer. Der kaffeeholende, französische Oberleutnant wird schon bei dem nächsten Angriff tot, »mit zwei Kopfschüssen, Hirn und Backe«,43 aufgefunden. Auch das kameradschaftliche Treiben bei Remarque endet mit einer Fortsetzung der ge-

40 Ebd., 11–12. 41 Ebd., 15. 42 Arnold Zweig. »Der Kaffee«. Zweig, Novellen, 313–314. 43 Ebd., 315.

102

Arnold Zweig und Erich Maria Remarque

genseitigen Feindseligkeiten, als eines Tages ein junger, energischer Major an der Front auftaucht. Die deutschen Soldaten sind außerstande, ihren Kameraden »da drüben« ein Warnsignal zu geben. Der nichts ahnende, zum gewöhnlichen Treffen eilende Franzose wird vom eifrigen Offizier erschossen, was dem »ungeschriebenen Friedensvertrag« ein Garaus macht und die blutigen Kämpfe aufs Neue in Gang setzt. Sowohl bei Arnold Zweig als auch bei Erich Maria Remarque schlägt der Einbruch des Menschlichen in das Feindbild fehl. Es ist ein vom Krieg angekurbelter Mechanismus des Todes, der in den Erzählungen die Oberhand über die Begierde nach einem »Hauch von Freiheit«44 gewinnt. Nur die einfachen Soldaten, die tagtäglich im Schützengraben ihr Dasein fristen müssen und in Stellungskämpfen als Kanonenfutter dienen, vermögen es, in dem Feind auch einen Menschen zu erkennen, während die führenden Offizierseliten dem Kriegsmythos blind folgen. Die beiden Schriftsteller zeigen die europaweite Zerstörung einer Generation, die von ihren Vätern betrogen wurde. Das sinnlose Sterben ist nach ihrer Auffassung nicht an nationale Grenzen gebunden. Die Protagonisten Paul Paschke und Ludwig Breyer können zwar über die allgemein verbreitete Vorstellung vom Feind hinwegsehen und den Gegner nicht einzig und allein als eine »Schießscheibe« betrachten. Ihre Haltung wird jedoch durch die Kriegswirklichkeit falsifiziert. Paschke muss dafür mit dem Leben bezahlen. Breyer wird zur psychischen Qual verurteilt – die Erinnerung an den »dünnen Schrei im Regen«45 des erschossenen Franzosen lässt ihn lebenslang nicht los. Der militante Pazifismus der beiden Autoren drückt sich auch in ihren weltanschaulichen Positionen aus. Im Aufsatz Haben meine Bücher eine Tendenz? reflektiert Remarque über das Wesen des Kriegs: Krieg ist zu allen Zeiten ein brutales Werkzeug der Ruhmgier und der Machtlust gewesen, immer im Widerspruch mit den Grundprinzipien der Gerechtigkeit, die allen moralisch gesunden Menschen innewohnen. Nicht einmal eine ernsthafte Beleidigung der Gerechtigkeit selbst kann dem Krieg Rechtmäßigkeit verleihen.46

Hingegen behauptet Zweig – hier ein Kommentar des Biografen Eberhard Hilscher, dass der Krieg nicht wie eine Naturkatastrophe über die Welt hereinbricht, unaufhaltsam, rätselhaft, als apokalyptisches Strafgericht – er wird vielmehr gründlich vorbe-

44 Remarque, Der Feind, 13. 45 Ebd., 17. 46 Schneider, Ein militanter Pazifist, 62.

103

Krzysztof Kłosowicz

reitet, von seinen Profiteuren unmerklich eingefädelt. Teuflisches Menschenwerk ist hier am Spiele, keine überirdische Naturkraft.47

Der Dichter selbst soll bereits früh erkannt haben, dass das »bloße Nichtwollen des Krieges« unzureichend ist: »Wer etwas nur nicht will, läuft Gefahr, eines Tages überhaupt nichts mehr zu wollen, das heißt: sich in ein Schicksal zu ergeben«.48 Sich darauf stützend, setzte er sich zum Ziel, »in den Volksmassen einen positiven Willen zu erwecken und eine zielgerichtete Aktivität zu entfalten«.49 Als abschließender Kommentar wird noch ein Zitat von Remarque angeführt, in dem er den Krieg mit einer Epidemie vergleicht und welches im Lichte der Ereignisse anno 2020, genau zum fünfzigsten Todestag des Schriftstellers, eine besondere Aussage erhält: Niemand kann wünschen, daß eine so furchtbare Zeit noch einmal kommt. Der größte technische und militärische Fortschritt könnte einen solchen Wunsch nicht rechtfertigen. Kein Vernünftiger kann eine Epidemie herbeiwünschen, wie etwa die Pest, damit Ärzte an ihr ihre Geschicklichkeit zeigen.50

47 Eberhard Hilscher. Arnold Zweig. Brückenbauer vom Gestern ins Morgen. Haale (Saale): VEB Verlag Sprache und Literatur, 1962, 56. 48 Ebd., 57. 49 Ebd. 50 Schneider, Ein militanter Pazifist, 65.

104

Oleg E. Pokhalenkov / Elena I. Shevarshinova

Peculiarities of Realization of the Concept of the Enemy in the Early Prose of Erich Maria Remarque

In der vorliegenden Arbeit analysieren die Autor:innen die Verwirklichung des Begriffs »Feind« in Erich Maria Remarques früher Prosa unter Berücksichtigung der Bedeutung der Hauptbegriffe »militärischer Gegner« und »ideologischer Feind«. Sie kombinieren literarische und sprachliche (kognitive) Ansätze zur Analyse der Geschichten von Erich Maria Remarque. Folglich achten sie einerseits auf den Konflikt, die Motive, das Chronotop, den Personentyp und andererseits auf die Szenariorahmen, die Bewegung der Motive. Es wird der Schluss gezogen, dass drei erste Geschichten (Der Feind, Schweigen um Verdun und Karl Broeger in Fleury, 1930) die Umwandlung der Hauptbedeutung des Begriffs ›militärischer Gegner‹ in die Bedeutung ›ideologischer Feind‹ darstellen. In den anderen drei Geschichten hat das Motiv des Opfers des Krieges die Kernposition im Konzept (Josefs Frau, Die Geschichte von Annettes Liebe, Das seltsame Schicksal des Johann Bartok, 1931). Diese Besonderheit von Erich Maria Remarques Prosa zeigt sich in der Realisierung, wenn das Konzept auf verschiedenen literarischen und sprachlichen Ebenen des Textes lebendig ist. So sind Remarques Geschichten eng mit der Hauptidee der Kriegsprosa von Remarque im Allgemeinen verbunden – mit dem sogenannten abstrakten Humanismus, dass ein »Feind« eigentlich keine Gefahr trägt, sondern nur auf dem Kampffeld. Erich Maria Remarque’s six short stories remained unknown to a wide readership and research audience until the early 1990s. They were conceived and written by Remarque between 1929 and 1930, during the years of his greatest popularity, between his most famous novels – Im Westen nichts Neues (1928) and Der Weg zurück (1931). Remarque received an order for them from American publishers when signing a contract to publish his first two novels in the United States, and they were most likely a response to the increased interest for his name abroad, especially after the film had been released (1930). 105

Oleg Pokhalenkov / Elena I. Shevarshinova

All the stories, although they have a common anti-militaristic and humanistic orientation, are divided into two groups: stories which were written in 1930 (Der Feind, Schweigen um Verdun and Karl Broeger in Fleury) and those which were written in 1931 (Josefs Frau, Die Geschichte von Annettes Liebe and Das seltsame Schicksal des Johann Bartok). The stories of 1930 are united by Remarque’s famous image of the enemy whereas the image of the victim of the war united the stories of 1931. Thus, Der Feind, Schweigen um Verdun and Karl Broeger in Fleury are more connected with Im Westen nichts Neues, where the motif of meeting an enemy was one of the plot-forming, but the stories of 1931 have more to do with Der Weg zurück, where the motif of a war-victim was complicated. Despite the undoubted popularity of Remarque’s works, literary critics turn to the analysis of his six stories mainly considering the author’s most famous novels Im Westen nichts Neues and Der Weg zurück. If we look through the official journal of the published works devoted to Remarque’s works entirely we see only scientific articles, which are absolutely or partially connected with Remarque’s novels.1 Among Remarque’s researchers, who mentioned these stories we may call Brian Murdoch,2 Karl Leydecker,3 Harold Bloom4 and others. Michael Matveev in his Phd thesis The principles of formation of E.M. Remarque’s early works’ poetics also touches upon the problem of their interpretation. But his remarks are mostly connected with their relationship to Remarque’s novels: »The stories are united by the theme of the First world war and its consequences. To a certain extent, they should be considered a transition from the novel Im Westen nichts Neues and to the novel Der Weg zurück.«5

We should also say, that then all six stories were published and were provided with the introduction by the Head of Erich Maria Remarque Peace Center in his hometown Osnabrueck, Thomas F. Schneider. Schneider mostly focused on the questions of their origin and also emphasized that the stories may be considered as a bridge between Remarque’s first novels.6 1 Thomas F. Schneider (ed.). Remarque-Forschung 1930 – 2010. Göttingen 2010, 110–111. 2 Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque: Sparks of Life. London 2006; Brian Murdoch (ed.). German Literature and the First World War: The Anti-War Tradition. London 2016. 3 Karl Leydecker. German Novelists of the Weimar Republic: Intersections of Literature and Politics. London 2006. 4 Harald Bloom. Bloom’s Modern Critical Interpretations: All Quiet on the Western Front. New York 2009. 5 Michael Matveev. The principles of formation of E.M. Remarque’s early works’ poetics. Ivanovo 2016, 131–132. 6 Thomas F. Schneider. »Nachwort. Versteckt und vergessen«. Erich Maria Remarque. Der Feind. Erzählungen. Köln 1993, 63–76.

106

The Concept of the Enemy in the Early Prose

In the modern scientific world, there are several definitions of the notion concept. From the point of view of etymology, the word concept goes back to the Latin concipio, which means to collect, to absorb. In English-speaking countries, this term functions as the concept of mental/conceptual representation – a certain mental representation. In Russian, we can find the same Latin notion – concept. Perhaps that is why there is a tendency to use the word notion as a synonym for concept. Nevertheless, modern science is focused on delineating the areas of application of each of them. Academician Yu. S. Stepanov does not deny that the concept is a phenomenon of the same order as the concept, but emphasizes the figurative component of the latter one. Personally we believe that special attention should be paid to the opinion of the famous Russian scientist Vladimir Kolesov, who is sure: a concept can exist as an image in a literary text, a concept in science-philosophy, and a symbol in language. As an image, it is primarily considered in a work of art. It represents the author’s philosophical, worldview, and value interpretation of any phenomenon contained in a given concept, since when analyzing the concept, we take into account not only the collective ideas about its reality, but also the proposals (hypotheses) created about this reality by the most prominent members of society.7

Based on this view, we can allow the use of concept in literary studies in the analysis of a literary text, considering in it the literary, ideological and poetic content. After all, concept can also be considered as »experienced information«, »quantum of experienced knowledge«.8 In our study, we rely on the definition given by Dmitriy Likhachev, who uses the notion of concept to denote: a generalized mental unit that reflects and interprets the phenomena of reality depending on the education, personal experience, professional and social experience of a native speaker and, being a kind of generalization of different meanings of a word in the individual minds of native speakers, allows communicating to overcome the individual differences between them in understanding words. The concept, according to Likhachev, does not arise from the meanings of words, but is the result of the collision of the learned meaning with the personal life experience of the speaker. In this way, the concept performs a substitute function in language communication.9

7 Zinaida Popova. Cognitive linguistics. Moscow 2017, 119–120 (106–125). 8 Ibid., 313, 309. 9 Dmitriy Likhachev. »The Concept Sphere of the Russian language«. Izvestiya RAS-SLYA. 1993,1, 3–9.

107

Oleg Pokhalenkov / Elena I. Shevarshinova

It is obvious that the use of the term concept implies the use of the methodology of conceptual analysis. The conceptual analysis itself in linguistics and linguo-cultural studies implies the study of language units (words, phrases, texts) that represent this concept. It is worth noting that this stage is also assumed in literary studies, because the analysis of a poetic image is impossible without the verbal material that makes it up. In our work, we use the following elements of cognitive (conceptual) analysis: 1) consideration of the individual author’s notion of the concept (as well as related scenarios-frames that structure the poetic world of novels), and for this purpose – the study of the frequency of the concept encountered, contextual increments of meanings, author’s synonymous and antonymic associative relationships; 2) interpretation of the associative and figurative components of the concept through the context. It is known that the poetic space of a prose work can be structured by scenarioframes. The notion of »frame« was firstly introduced by Marwin Minsky in his work Frames in the sphere of knowledge.10 Later this question, from a linguistic point of view, was worked out by Charles Fillmore.11 Currently, it is possible to analyze the poetic space of a prose work, particularly in the texts of war prose, by highlighting the frame structure of the concept. In Europe Robert Petsch was the first who introduced the pole structure in motif-analysis.12 However, in Russian literary studies, the scientists of the Nizhny Novgorod school have long thoroughly studied the literary concept and its pole structure. The representative of the Nizhny Novgorod Linguistic School, Valeriy Zusman, believes: If we take the point of view that literature is a communicative artistic system, then relying on the concept opens up new possibilities of understanding [...]. Being included in the associative network of culture, the literary symbol loses its internal orientation, becoming a concept.13

In this paper, we rely on the basic meaning of the scenario-frame as a sequence of several episodes in time, primarily stereotypical episodes with a sign of movement and development. In fact, these are the frames that unfold in time and space as a sequence of separate episodes, phases, elements, such as a visit to the cinema, a

10 For a definition of the term and its origin see Marwin Minskiy. Frames in the sphere of know­ ledge. Moscow 1979, 112–113. 11 Charles Fillmor. Frames and semantics of understanding. Moscow 1988, 52–93. 12 Robert Petsch. »Motiv, Formel und Stoff in Deutsche Literaturwissenschaft Aufsätze zur Begründung der Methode«. Reihe Germarischen Studien 222 (1940). 129–150. 13 Valeriy Zusman. »Concept in the system of humanitarian knowledge«. Literature issues 2 (2004), 3–29 (11).

108

The Concept of the Enemy in the Early Prose

trip to another city, restaurant, clinic, fight, tour.14 We should notice that analyzing a text from a narratological point of view we use the term motif, appealing to the cognitive analysis allows us to use the terminology of this branch of philology, to use the terms frame, concept, etc. This approach is possible because in a prose work, frames exist in a form of a complex of fable (narrative) motifs. As it’s already been mentioned, the value component (figurative) has a nonverbal nature and therefore can only be interpreted. The peculiarity of the poetic world of Remarque is that it is created not only by verbal, but also by various nonverbal literary means, primarily through the semantisation of the literary space. Yuri Lotman in the article Poetic space in Gogol’s prose emphasized that poetic space is a model of the world of this author, expressed in the language of spatial representations, and in the book The structure of the poetic text noted that the most common social, religious, political, moral models of the world are endowed with spatial characteristics based on the opposition up–down, right–left, near (own)– far (alien).15 Later we see that on the opposition own–alien the poetic space of the works of Remarque is built. It should be noted that poetic space can not only express non-spatial meanings (as Lotman wrote about), but also can give spatial semantics to initially nonspatial phenomena and things. So, for example, Yuri Lotman in the article Poetic space in Gogol’s prose begins with a description of the space old-world landowners through its components (the singing door, a bed, a desk and a wardrobe that can stand alone as they are, and not some other way) and inherent features (closure, object filling, static, friendliness to man), and then comes to the following definition of the resulting old-world landowners: from the point of view of ›Oldies‹ that everyday space; from the point of view of the narrator – a poetic and warm little world.16 The theory of Michael Bakhtin, who introduced the theory of chronotopes into scientific use, is also known. He defines chronotope as »the essential interrelation of temporal and spatial relations artistically mastered in literature«. He sees the connection between time and space in the following: In the poetic chronotope, there is a fusion of spatial and temporal features in a meaningful and concrete whole. Time here is condensed, condensed, becomes artistically visible; space is intensified, drawn into the movement of time, plot, and history. The signs of time are revealed in space, and space is comprehended and

14 Zinaida Popova. Cognitive linguistics. Moscow 2017, 119–120 (119). 15 For a detailed account, see Yuri Lotman. In the school of the poetic word: Pushkin, Lermontov, Gogol, Moscow 1988, 252–253. 16 Ibid., 252, 248.

109

Oleg Pokhalenkov / Elena I. Shevarshinova

measured by time. The literary chronotope is characterized by this intersection of the series and the merging of the signs.17

The connection between the motif and the hero also should be noted, which affects the special functioning of the motif, which directly depends upon the specifics of the image of the hero. The consideration of the hero and the motif in the relationship indicates, according to Olga Freudenberg, the morphology of the image itself, the morphology of the plot motifs, its components: »In essence, when speaking about the character, we had to speak about the motifs that were stabilized in it; the whole morphology of the character is the morphology of plot motifs.«18 In its definition, Olga Freudenberg also raises the problem of the interpretation of the motif, referring the motifs associated with the image of the hero to the plot. Using traditional methods, we will only indicate the repeatability of the motif in the above-mentioned works, which will only confirm the belonging of a particular motif to the class of motifs, but won’t show its function in the work-plot or plotforming. Considering the motif level in the form of a kind of fields (or grid), we can trace the dependence of the motif on the result of its implementation in the text. And further comparison within the selected texts will allow you to point out the individual features of the implementation (plot-forming) for each specific author. The main purpose is to consider the realization of the concept enemy (the main meanings »military opponent« and »ideological enemy«) in the stories by Erich Maris Remarque (mainly (Der Feind, Schweigen um Verdun and Karl Broeger in Fleury). In this study, we pay much attention to the associative and figurative layers of the named concept, taking into consideration the poetic space of the texts. The purpose of the research is to use a comparative typological method (in relation to the poetics of the text), and to address the field structure – the principles of research (a combination of linguistics and literary studies). This approach, in our opinion, corresponds to the current trend of comparative literature studiesthe tendency to interdisciplinary studies. Among the stories of the 1930s, Der Feind stands out for its special context. From the first words: Als ich meinen Schulkameraden Leutnant Ludwig Breyer fragte, welches Kriegserlebnis ihm am lebhaftesten in Erinnerung wäre, erwartete ich, von Verdun, von der

17 For a definition of the term and its origin see Michael Bakhtin. Literary and critical articles. Moscow 1986. 18 For a detailed account, see Olga Freudenberg. Poetics of plot and genre. Moscow 1997, 222–224.

110

The Concept of the Enemy in the Early Prose

Somme oder von Flandern zu hören; denn er war in den schlimmsten Monaten an allen drei Fronten gewesen. Aber statt dessen erzählte er mir Folgendes.19

In the given extract we find out an allusion to already familiar characters from the novel Im Westen nichts Neues. It should be mentioned that Remarque himself took part the battles in Flanders, which makes the text autobiographical. As well as in the novel Im Westen nichts Neues, the narrative has the same subjective character. The associative layer of the concept enemy is made up of words, phrases, fragments of the text, united by a common idea of embodying the image of the enemy and hostile poetic space, since here we are faced with the opposition of two polar concepts: the enemy due to the circumstances (meaning 1 »military opponent«) and the meaning that for Remarque’s heroes includes everything that brings death (hostile poetic space), and those who are responsible for the outbreak of wars and their supporters (meaning 2 »ideological enemy« an abstract enemy that represents a threat). The events of the story are presented within the frame of the fighting. Although the space of war (hostile poetic space) remained far away, on the front line, and Breyer’s detachment was sent to rest in a small French village in the province of Сhampagne, it invades the souls of soldiers in moments of calm, when they begin to realize the hopelessness and catastrophism of their life situation and possible pointless death: Du weisst ja, dass es kein Märchen ist, wenn ich sage, dass das Gefühl dieses zur Neige gehenden Augustnachtmittags mir süss und stark in die Glieder fuhr. Als Soldat hat man ein ganz anderes Verhältnis zur Natur als die meisten Menschen. All die tausend Verbote, die Hemmungen und Zwänge fallen vor den harten, dem schrecklichen Dasein am Rande des Todes ab; und in den Minuten und Stunden der Unterbrechung, in den Tagen der Ruhe, steigert sich manchmal der Gedanke an das Leben, die blosse Tatsache, noch dazusein, durchgekommen zu sein, zu schierer Freude, sehen zu können, zu atmen und sich frei zu bewegen […] in ein paar Stunden, in ein paar Tagen vorbei sein, wieder gegen die verdorrten Landschaften des Todes eingetauscht werden musste. Und dieses Gefühl, das so merkwürdig zusammengesetzt war aus Glück, Schmerz, Melancholie, Trauer, Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit, war die übliche Erfahrung eines Soldaten in Ruhe. (15)

Further, according to the author’s plan, together with the main character Ludwig Breyer, we come across military opponents – French prisoners:

19 Erich Maria Remarque. Der Feind. Erzählungen. Köln 2007, 9. Further references to this edition will be given in the text.

111

Oleg Pokhalenkov / Elena I. Shevarshinova

Hier sah ich zum ersten Mal Gefangene, und zwar viele, sitzend, liegend, rauchend  – Franzosen ohne Waffen. Ein plötzlicher Schok traf mich; gleich darauf musste ich über mich selbst lachen. Mich hatte schokiert, dass sie Menschen waren wie wir selbst. Aber die Tatsache war – weiss Gott, merkwürdig genug –, dass ich einfach noch nie darüber nachgedacht hatte. Franzosen? Das waren Feinde, die getötet werden mussten, weil sie Deutschland zerstören wollten. Aber an jenem Augustabend wurde mir jenes unheilvolle Geheimnis klar, die Magie der Waffen. Waffen verwanden die Menschen. Und diese harmlosen Kameraden, diese Fabrikarbeiter, Hilfsarbeiter, Geschäftsleute, Schuljungen, die da so still und resigniert herumsassen, würden, wenn sie nur Waffen hätten, augenblicklich wieder zu Feinden werden. (15)

As we can see from the text, the analyzed concept appears in the episode with the French prisoners (as in the novel Im Westen nichts Neues), in which, as it seems to us, the attitude to the enemy is shown in full, because the opponents have the opportunity to see each other face to face. Among the lexemes used by the author addressing the enemy, the following stand out: der Feind – 2, der Franzose – 4, die Gefangenen – 1, die Menschen – 1, der Bruder – 1, der Kamerad – 2, der Kerl – 1. The lexeme der Feind appears twice. Moreover, its contextual use is not quite clear. The author clearly contrasts its meaning with the meaning it acquires in conjunction with the lexeme: Und diese harmlosen Kameraden, diese Fabrikarbeiter, Hilfsarbeiter, Geschäftsleate, Schuljungen, die da so still und resigniert herumsassen, würden, wenn sie nur Waffen hätten, augenblicklich wieder zu Feinden warden. (15)

As we see from the example, Remarque also contrasts the neutral pronoun sie and the noun der Feind, by means of this »game« on their semantic meanings, Remarque seeks to neutralize the negative connotation of the lexeme der Feind. As it follows from the mentioned above, harmless men (harmlosen Kameraden) became military opponents (die Feinde), only after getting a weapon (die Waffen). This distinction, introduced by the author for French enemies, allows us to say that from the core of the concept, the meaning of »military opponent« moves to the periphery (the French become enemies due to circumstances). Undoubtedly, the very meaning of enemy here loses its negative connotation and passes into the category of victims of war. Then, when the Germans were in the trenches, they had a symbolic fraternization with the French enemies. The main conflict of the story is not new – the enemies, the Germans and the French, do not want to kill each other, do not see the point in this, which means, they do not see the enemy in each other. Having taken a liking to the French, the Germans thereby went against the order and their command. According to the plot, a young major arrives at the front and rushes to battle and gives the order to shoot without the usual fraternal warning of the beginning of the attack: 112

The Concept of the Enemy in the Early Prose

Eines Tages tauchte ein Major an der Front auf und hielt uns persönlich einen Vortrag. Er war sehr eifrig und energisch und sagte uns, dass er vorhabe, bis zum Abend an der Front zu bleiben. Unglücklicherweise bezog er seinen Posten nah an unserem Ausstiegspunkt und verlangte nach einem Gewehr. Er war ein sehr junger Major, gierig nach Taten. (15)

The hostile poetic world bringing death (»the ideological enemy«) is personified in the image of the major. The frames of struggle and murder associated with the image confirm it, as well as the lexical units addressed to this character. Ludwig Breyer recalls the moment of his appearance, there should have been another meeting of ›friends‹ on the no man’s territory, and the Germans do not have time to warn the French about the future attack – there is no killing of the enemy – there is just another pointless victim of the war: Von da an wurden die Feindseligkeiten ordnungsgemäß fortgesetzt; Zigaretten gingen nicht mehr hin und her; und die Verlustzahlen nahmen zu. Viele Dinge sind mir seither passiert. Ich sah viele Männer sterben; ich selbst habe mehr als einen getötet; ich wurde hart und fühllos. Die Jahre gingen vorüber. Aber die ganze lange Zeit habe ich nicht gewagt, an diesen dünnen Schrei im Regen zu denken. (16)

The chronotope of war (hostile poetic space) is also expressed in the text: die ganze Front war in Bewegung, die Geschütze setzten ein, wir eröffneten das Feuer and so on. A clear human feeling of pity and even guilt arises in the last line of the story (Ich sah viele Männer sterben; ich selbst habe mehr als einen getötet; ich wurde hart und fühllos. Die Jahre gingen vorüber. Aber die ganze lange Zeit habe ich nicht gewagt, an diesen dünnen Schrei im Regen zu denken). The author retrospectively recalls an innocent victim – a murdered Frenchman. Surprisingly, the remark does not clearly state the fact of the Frenchman’s death. This plotline is introduced by him to show that his characters are aware of the value of a human life. However, it should be noted that the meaning of the concept illustrated by the image of a major arriving at the front line in search of feats (Er war ein sehr junger Major, gierig nach Taten), is intended to show that at the front such fervent fanatics and careerists are worse than some enemies and it is them who carry a real danger. A similar plotline is introduced at the lexical level. For example, the lexical unit gierig nach Taten clearly illustrates this and introduces a negative feature. Thus, we are again faced with the expansion of the associative layer of the concept. It includes the war itself and those who are its real fanatics (supporters). This story also defines the mood that prevails in Erich Maria Remarque’s depiction of war, and most importantly, of ordinary soldiers. A person in positional battles quickly lost his identity, equating to cannon fodder. The individual struggle, the fate and thoughts of these soldiers did not interest anyone, because, as Remarque wrote, everything remains unchanged on the Western front. The inno113

Oleg Pokhalenkov / Elena I. Shevarshinova

vation of Remarque consists in the fact that he ceases to consider all these soldiers in general, and begins to see in everyone killed, whether a German or French, a person, and only then an enemy. Without a doubt, his innovation was in the fact that he was able to see a man in a military opponent. Schweigen um Verdun and Karl Broeger in Fleury also belong to the stories of 1930. They are united by a common chronotope. The hostile poetic space is already invading the peaceful life of people who carry the memory of the past tragedy in their soul. There is no action in the first narrative. The author reflects on fate, life and death, the value of life and the fact that most of his countrymen died for nothing. Initially, from the name, we refer to this area as a hostile poetic space, because there were fierce battles near Verdun during the First World War. Remarque emphasizes that, despite the apparent calm, the war has not left these places: Niemand kann genau sagen, wann es beginnt: aber plötzlich verändern sich die glatten, sanft gerundeten Linien am Horizont; das Rot und Braun, die leuchtenden, glühenden Farben der Blätter des Waldes nehmen unversehens eine eigenartige Tönung an, die Felder verblassen und verwelken zu Ockertönen […]. Es ist auch nicht die geheimnisvolle, zwiespältige Stimmung dieses Bodens, wo die weichen blauen Linien am Horizont nicht einfach Hügel und Waldland sind, sondern versteckte Forts; […]. Es ist das Schweigen. Das entsetzliche Schweigen um Verdun. Das Schweigen nach der Schlacht. (17)

The concept of enemy in these stories is not personified, but has an abstract, nonverbal character. By means of a special negative semantic meaning of the poetic space Remarque creates a special associative layer of the concept, including the description of nature. According to the tradition, in peacetime, nature should correspond to the mental comfort of people, but here we see the opposite: Ein Schweigen ohne gleichen auf der ganzen Welt; denn bisher hat in allen Kämpfen am Ende die Natur die Oberhand gewonnen; das Leben wuchs wieder aus der Vernichtung, Städte wurden wieder aufgebaut, Wälder gediehen wieder, und innerhalb weniger Monate wogte wieder junges Getreide auf den Feldern. Aber in diesem letzten, schrecklichsten der Kriege hat zum ersten Mal die Vernichtung den Sieg errungen. Hier standen Dörfer, die nie wieder aufgebaut wurden; Dörfer, von denen jetzt kein Stein mehr auf dem anderen steht. Der Boden darunter ist noch so voll von tödlicher Bedrohung, lebendiger Explosivkraft, voll von Granaten, Minen und Giftgas, daß jeder Hackenschlag, jeder Spatenstich gefährlich ist. (18)

The area near Verdun is a materialized symbol of death (the pointless death of Remarque’s comrades). Its specificity can be considered to exist in two time planes: the consequences of the past are felt in the present. The conceptual field of the 114

The Concept of the Enemy in the Early Prose

past is embodied in the author’s enumeration of the attributes of the past war: das Gewehr, der Blindgänger, die Bomben, die Patrone, der Granattrichter. The present in its turn comes through the description of the nowadays state of the former battlefields: Die Schlachtfelder sind zu Spekulationsobjekten geworden. Ein Unternehmer hat von der Regierung eine Genehmigung bekommen, alles wertvolle Metall zu sammeln. Dafür stellt er die Sucher an; für sie sind diese Felder der Erinnerung, der Stille und Trauer Eisen-, Stahl- und Kupferminen. […] obwohl die Regierung tausend Genehmigungen erteilt hat, hat man doch das Gefühl, das es nicht recht ist, was sie da tun. (17)

Comparing these two poetic spaces, we come to an understanding of the author’s concept of narration. Remarque on purpose puts the phrase Schweigen um Verdun in the title. Silence in this case contains a significant segment of the concept enemy–death, death. It is nonverbally included in the hostile poetic space and is designed to protect the peace and graves of the dead: Ein Schlag mit der Hacke auf den Boden genügt. Ein scharfer Spatenstich reicht aus, und der Boden birst mit einem dumpfen Krach, Splitter fliegen, und der Tod greift mit rascher Hand aus der Erde nach den Suchern. […] Der Tod, der zuerst die Soldaten hingemäht hat, wacht jetzt über den Gräbern der Ermordeten, und die Erde bewahrt sie, als sollten sie nicht in großartigen Mausoleen liegen, sondern bleiben, wo sie gefallen sind. (21)

The semantic continuation of this narrative is the story Karl Broeger in Fleury, where we as well deal with the semantisation of the author’s poetic space. The story is narrated by the protagonist, who speaks on his own behalf and on behalf of his front-line comrade (Karl Broeger himself). Karl Broeger is a character whose name Remarque mentions already in the novel Der Weg zurück. Karl is a successful banker, a businessman who survived the war, and managed, at first glance, to adapt to the realities of peaceful life. Once in Fleury, he changes, »goes on the attack«, being at the mercy of the earth, the battlefields. Together with the narrator, they find themselves in Fleury in the »village of horror«, the ruins of which they have stormed six times. The motif of the comeback, touched upon in the story, shows that a person who has externally adapted to the space of the ›world‹, inwardly will never be the same. This is important, because in later works (especially in the novel Drei Kameraden), the writer clearly demonstrates that the ›ghost of war‹ always haunts former soldiers. The invasion of the chronotope of war (hostile poetic space) into the peaceful life of heroes occurs gradually and is built on the reception of gradation. At the very beginning of the story, we are dealing with people who talk about abstract 115

Oleg Pokhalenkov / Elena I. Shevarshinova

topics and do not perceive the space around them as hostile. But suddenly the heroes are offered a tour of the former military Fort. From this episode the hostile poetic world of the past returns and is embodied in the attributes of the past war: Karl nickt zustimmend: Ja, so war das. Aber wie wir so vor den rostigen Stahlhelmen, den verdrehten Gewehrläufen und Blindgängern stehen und der Führer hier auch wieder anfängt zu schwafeln und neben uns noch einer mit derselben Geschichte auf englisch loslegt, winkt Karl; ihm reicht’s; wir drängeln uns nach draußen. Vor den Helmen, Brustpanzern, Granatsplittern da unten ist er ganz still geworden. (21)

The poetic space of war, precisely the memory of it, captures the souls of former soldiers. Gradually they become part of it: Dann geht er voran, weg von der strategischen Schlachtaufstellung, weg von dem undeutlichen Geschnatter der Touristengruppen, weg von Hummer, Butterbrot, Damenbildern und Bankgeschäften, weg von den zehn Friedensjahren […] Die Spur führt über die von Granaten zerlöcherten Felder durch Reste von Stacheldrahtverhauen hinaus. […] Karl hat gefunden, was er sucht. Er schweigt einen Moment, ehe er sagt: – »Hier« – und bleibt stehen – und geht weiter: »Hier etwa muß es gewesen sein – hier waren wir damals – alles tobte, ein paar Schüsse und dann – »Angriff« – Er wiederholt: Und dann – »Angriff«. […] das ist ein ganz anderer, zehn Jahre Jüngerer, dies ist Unteroffizier Broeger, den die Erde wieder gepackt hat, der wilde Aschengeruch der Schlachtfelder und die Erinnerung, die wie ein Wirbelwind auf ihn einstürmt. (23)

As in the story Schweigen um Verdun, Remarque intentionally puts the name of the locality Fleury in the title. It contains a segment of the ›tragic death‹ of the concept enemy, forming its associative layer: »Karl lehnt sich an das Denkmal, das die Stelle markiert, wo einst Fleury stand, das Dorf des Schreckens, dessen Ruinen sechsmal in einer Nacht erstürmt und verloren wurden.« (23) This fragment is interesting as an allusion to the key meaning of the concept enemy – »military opponent«. This author’s decision is dictated by the further climactic scene of the story – the ›meeting‹ with the dead military opponents – the Americans: Die Straße erstreckt sich weiß vor uns und steigt langsam an. Hinter den Wolken kommt der Mond rot und traurig heraus. Allmählich wird er kleiner und heller, bis er silbern auf den amerikanischen Friedhof vor Romagne scheint. Vierzehntausend Kreuze schimmern in dem fahlen Licht. Vierzehntausend Kreuze in Reihen hintereinander – die Augen brennen einem, so verblüffend gerade sind sie, vertikal, diagonal. (p.24)

116

The Concept of the Enemy in the Early Prose

The following words of Karl Broeger indicate the place of the military opponent in the concept of enemy. This is an enemy due to the circumstances. Outside of a combat situation, it is not an enemy. From the core of the concept, the »military opponent« moves to the periphery: Getötet bei dem Angriff auf Montfaucon, getötet ein paar Wochen vor dem Frieden. Nur ein Friedhof für so viele. Überall, an Hunderten von Orten, liegen die anderen. (24) The awareness of the tragedy is embodied in the words of the hero, uttered looking at the obelisks that mark the victory of the French army: Ehrenmale, viele Ehrenmale gleiten durch das Licht der Scheinwerfer. Meist ist auf ihnen von Gloire und Victoire die Rede. Karl schüttelt den Kopf: – »Das erzählt nicht die ganze Geschichte, nein, überhaupt nicht. Aber sie haben schon recht, daß sie Denkmäler aufrichten, denn mehr als dort und in der ganzen Umgebung ist nirgends gelitten worden. Nur eines haben sie ausgelassen: Nie wieder. – Das fehlt. Du ?« (24)

In the stories of 1931, the motif of victims of the war prevails and has core position in the concept. The points that have a clear social character are getting urgent, and the picture of the returning of front-line soldiers to peaceful life with all its difficulties and sorrows is offered. It is noteworthy that all the stories of 1931 are united by female images. The stories Josef ’s Frau and Die Geschichte von Annettes Liebe are connected by the fact that the central characters in them are women – Anna, the wife of Josef Thiedemann, and Annette Stoll, respectively. The wedding episode in Die Geschichte von Annettes Liebe echoes the episode in which Ernst Birkholz, the protagonist of the novel Der Weg zurück, attends a banquet where he is particularly acutely aware of the misunderstanding that has arisen between him and society. Continuing the theme of war-torn destinies, the story Das seltsame Schicksal des Johann Bartok is a life story of Johann, a tinsmith and plumber. Remarque reveals in this story the reason for one of the greatest fears of the front-line soldier, because of which most of them did not want to return home – no one knew what they would return to, but everyone knew perfectly well that as before it no longer would be. Remarque, perhaps on purpose, brings the aggregated female image to the central plain of the narrative. At last, returning home, former soldiers first are back to their family – their wives, girlfriends or mothers. In all three stories, the front-line soldier, if he does not die on the front line (Die Geschichte von Annettes Liebe) and he returns home alive, he is still unable to adapt to a peaceful life. For example, the hero of the story Das seltsame Schicksal des Johann Bartok, returning home safe, finds that his wife has already received a funeral certificate for him and is happy with another man, i.e. his private, personal 117

Oleg Pokhalenkov / Elena I. Shevarshinova

life has been destroyed by the war. We see the same in the story Josefs Frau. The main hero stays alive, but he suffers from amnesia. The wife decides to go to the place where the battles took place. Only there he restores his mental peace. Nevertheless, all the stories have important common features in the realization of the main meanings of the concept of »enemy«, because they all are based on the famous Remarque’s abstract humanism and pacifism. For the stories of 1930 (Der Feind, Schweigen um Verdun and Karl Broeger in Fleury) it may be summarized in the following way: The transformation of the military opponent into the ideological enemy. In the stories of 1931 (Josefs Frau, Die Geschichte von Annettes Liebe and Das seltsame Schicksal des Johann Bartok) we can find core position of the motif of the victim in the pole structure of the concept.

118

Renata Dampc-Jarosz

»Leichen auf Urlaub«1 als Grenzfiguren Narrative des Flüchtlings in Erich Maria Remarques Roman Liebe Deinen Nächsten

Mit der Migrationskrise von 2015 kehrten die Probleme von Migranten und Flüchtlingen verstärkt in den öffentlichen Diskurs zurück. Die Versuche in den Medien und in der Forschung, den Status derjenigen, die gezwungen wurden, ihre Heimat oder ihren Lebensraum zu verlassen, zu analysieren und neu zu definieren,2 haben nicht nur die gegenwärtige Situation der Migranten beleuchtet, sondern auch eine Rekonstruktion der Migrationsbewegungen der vergangenen Jahrzehnte gefördert. Das Hauptaugenmerk lag auf dem Einwanderer und weniger oder gar nicht auf der Situation, die ihn zum Verlassen seines Landes veranlasst hat. Das Problem der Einwanderung wurde immer globaler und überschritt unwiederbringlich die durch nationale und zwischenstaatliche Konflikte gesetzten Grenzen.3 Die Veränderlichkeit der Bedingungen, die zur Auswanderung führen, zog zudem die Entstehung neuer Arten von Auswanderern nach sich. Es ist anzumerken, dass historisch gesehen der heutige Einwanderer auf eine besser organisierte Unterstützung zählen kann, sozial-psychologisch ist er allerdings immer noch mit denselben Problemen konfrontiert, die seine Vorgänger geplagt haben. Julia Schulze Wessel definiert diese ihre Heimat verlassenden Personen, die dann zu Migranten werden, als »Grenzfiguren«.4 Ihr charakteristisches Merkmal ist das

1 Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017, 23. Im Folgenden im Fließtext mit Seitenzahlen in Klammern nachgewiesen. 2 Als Ausdruck dieser Bemühungen um eine neue umfassende Definition von Migranten und Flüchtlingen gilt der Begriff ›Geflüchtete‹. Vgl. Agnes Bresselau von Bressensdorf. »Einleitung«. Agnes Bresselau von Bressensdorf (Hg.). Über Grenzen. Migration und Flucht in globaler Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 2019, 22. 3 Vgl. Ursula Münch. »Flüchtlings- und Migrationsforschung in der Politikwissenschaft«. Bresselau von Bressensdorf (Hg.), 60–62. 4 Vgl. Julia Schulze Wessel. Grenzfiguren. Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld: transcript, 2017.

119

Renata Dampc-Jarosz

Gefühl der Deprivation, die alle Bereiche des Lebens und öffentlichen Wirkens umfasst. Dieser Verlust erstreckt sich sowohl auf den Bereich des Sozialen, Rechtlichen als auch des Politischen. In ihrem sozialen Umfeld bleiben die Figuren aus dem gesellschaftlichen Leben ganz ausgeschlossen, rechtlich gesehen entbehren sie aller gesetzlichen Bestimmungen und können nicht immer darauf hoffen, sie irgendwann zu gewinnen. Politisch betrachtet bleiben sie in Opposition zum Staat und dessen Bürgern, die als deren Widerpart erscheinen; so gehören sie in keinerlei Hinsicht der Gesellschaft an. Die von Julia Schulze Wessel vorgeschlagene Triade von Merkmalen eines Flüchtlings kennzeichnet jedoch eine gewisse Unveränderbarkeit, die ungeachtet politischer und historischer Umstände zum Signum jedes Migrantenschicksals wird.5 Heutzutage steht aber das Verhältnis zwischen sog. Geflüchteten und Einheimischen im Zentrum des Interesses und es oszilliert um das Prinzip einer möglichen Gemeinschaft. Darüber hinaus betont man im modernen Diskurs über Migration und Integration die Rolle des Bürgers, der in der jeweiligen demokratischen Gesellschaft nicht nur als Verkörperung einer bestimmten Position, von Rechten und Pflichten sowie der aus ihnen resultierenden Identität ergibt, sondern als eine aktive Figur erscheint, die sich an politischen Ereignissen beteiligen und sie dadurch beeinflussen kann. Diese Aktivität des Bürgers befähigt ihn dazu, mit Zuwanderern in Kontakt zu treten und sie dann in die Gesellschaft einzubinden. Diese besondere Aufgabe, die einem demokratisch gesinnten Bürger zukommt, entledigt die Migranten einerseits der ihnen zugeschriebenen Rolle von leidenden Opfern, andererseits mildert sie den repressiven Charakter der staatlichen Maßnahmen in Kontakten mit Migranten ab. In beiden Kontaktformen kommt es allerdings darauf an, den Beziehungen zwischen Bürgern und Migranten den Wesenszug von Gegenseitigkeit, Einflussnahme und Wandelfähigkeit zu verleihen. All diese Merkmale bilden den Begriff der sog. »transgressiven Solidarität«, die die Aktivität beider Seiten voraussetzt und dadurch das für die Migranten charakteristische Gefühl der Isolation aufhebt. So verstandene Migranten stellen die Zwänge, die beide Seiten fesseln, in Frage; Begrenztheit bedeutet nicht mehr Zwang, sondern Dynamik, Transfer und Durchdringung.6 Das Konzept der Grenzfiguren kann als Interpretationsmodell für literarische Texte dienen, auch wenn ihr zeitlicher Rahmen in keiner Weise mit der heutigen Zeit übereinstimmt. Dennoch kann die Berücksichtigung der fiktiven Migrantenund Flüchtlingsfiguren im Kontext ihrer sozialen, rechtlichen und politischen Ausgrenzung und der Frage nach (un)möglichen Überschreitungen von den ihnen zugewiesenen Räumen neue Perspektiven für interdisziplinäre Forschung

5 Vgl. Julia Schulze Wessel. »Political Theory on Refugees. On Figures of Contested Boundaries«. Bresselau von Bressensdorf (Hg.), 105–109. 6 Mehr zum Begriff der »transgressiven Solidarität« vgl. ebd., 110–112.

120

Narrative des Flüchtlings in Liebe Deinen Nächsten

und Praxis eröffnen. Dies ist das Ziel der vorliegenden Analyse des Romans Liebe Deinen Nächsten von Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten als Roman über die Migrantenschicksale Seit Erich Maria Remarque im Jahre 1931 den deutschen Boden verlassen hat,7 lebte er abwechselnd in verschiedenen Ländern Europas und in den USA. Das Schicksal eines Flüchtlings ist ihm zwar zuteil geworden, aber als »ein privilegierter Emigrant«8 – so Thomas F. Schneider – konnte er die Ruhe seiner Villa »Casa Monte Tabor« in Porto Ronco genießen und von den Tantiemen gut leben. Aber als sein Pass abgelaufen ist, hat er die Schattenexistenz eines »Passlosen«9 an eigener Haut erleben müssen. Sein schriftstellerischer Ruf und die finanzielle Stabilität gewährten ihm aber bald die Möglichkeit, einen Pass der Republik Panama zu erwerben,10 in den USA legitimierte er sich ab November 1939 mit der vom Schweizer Generalkonsulat ausgestellten »Carte d’identité« und ab März 1940 wies ihn der neue Pass als mexikanischen, ab 1947 als amerikanischen Staatsbürger aus.11 Nicht nur die Erfahrung der eigenen Emigration und Staatenlosigkeit machte Remarque für das Migranten-Problem besonders empfindsam. Seine Villa wurde nämlich zum Zufluchtsort für viele aus dem Dritten Reich geflohene Schriftsteller, Literaten oder ganz zufällige Menschen, denen er vor allem finanziell geholfen hat. Zahlreiche Begegnungen mit seinen Landsleuten veranlassten den Schriftsteller zur literarischen Bearbeitung des damals hoffnungslosen Flüchtlingsschicksals. Der Roman Liebe Deinen Nächsten (1941)12 verdankt seine Entstehung einer solchen Begegnung mit dem jungen deutschen Journalisten Ludwig Korn, über dessen Aufenthalt in »Casa Monte Tabor« der Schriftsteller in seinem Tagebuch folgenderweise berichtet:

7 Ab 1932 konnte Remarque wegen Strafbefehl gegen ihn die deutsche Grenze nicht passieren, 1938 wurde er ausgebürgert. Vgl. Thomas F. Schneider. »Strandgut. Zur Entstehung und Publikation Erich Maria Remarques Liebe Deinen Nächsten«. Remarque, Liebe Deinen Nächsten, 528, 536. 8 Ebd., 531. 9 Ebd., 533. 10 Vgl. »Anhang«. Remarque, Liebe Deinen Nächsten, 501–504. 11 Vgl. ebd., 504. 12 Der Roman wurde zunächst in Collier’s Magazine vorabgedruckt. Die Buchfassung erfolgte 1941. Der Roman trug ursprünglich den Titel Strandgut, in englischer Übersetzung Flotsam. Zur Entstehungsgeschichte und Rezeption. Vgl. Schneider, »Strandgut«, 528–550. Zu den ersten Rezensionen vgl. The New York Times. Book Review, 20.04.1941; Herald Tribune, 20.04.1941; The New Yorker, 26.04.1941; Hans Jahn. »Liebe Deinen Nächsten«. Das andere Deutschland (Buenos Aires), 48, März 1942, 8–9.

121

Renata Dampc-Jarosz

Zwanzigjähriger Emigrant. Seit vier Jahren von Grenze zu Grenze geworfen. Ausgestattet für Schwarzfahrt Paris, damit er dort falschen Paß kaufen kann. Entsetzliches Leben. War aber hoffnungsvoll. Hat ein paar hundert Franken. Soviel, wie nie früher.13

Kaleidoskopisch fügen sich diese authentischen Schicksale von Flüchtenden und Verfolgten zu einem Gesamtporträt zusammen, das Remarque selbst wie folgt charakterisiert: »Die Technik des Buches: wie Im Westen nichts Neues. Sehr farbig, Szene folgt auf Szene, spannend und voll ungewöhnlicher Begebnisse.«14 Dennoch weist Thomas F. Schneider im Hinblick auf Remarques Bestseller hin, dass sich im Fall dieses neuen Romans Remarques Erzählweise eindeutig verändert und dem Konzept eines Zeitromans folgt. Der auktoriale Erzähler, der ein ganzes Figurenarsenal über zwei parallele, sich zeitweise überkreuzende Erzählstränge verfolgte, [stellt die Ereignisse] nicht retrospektiv [dar …], sondern direkt auf die aktuelle Situation bezogen. Liebe Deinen Nächsten sollte ein Gegenwartsroman im besten Sinne werden, nahe an einer politischen Reportage über die aktuelle Lage der Emigranten in Europa.15

Zwei Faktoren sind es also, die diesen Roman für den gegenwärtigen MigrantenDiskurs interessant machen können: Erstens fokussiert sich der Erzähler auf die Figuren, ohne auf den politischen Kontext detailliert einzugehen,16 zweitens – so damals wie auch heute – resultierte die Notwendigkeit des Erzählens aus der Tragik der Flüchtlinge und Verfolgten. Auf der Anzahl der Figuren scheint die Stärke des Romans zu beruhen, denn sie hebt einerseits das Individuelle eines Migrantenschicksals hervor, andererseits betont sie dessen kollektiven Charakter. Die um den Protagonisten Ludwig Kern, den aus Dresden stammenden Medizinstudenten, oszillierende Figurenkonstellation macht zwar ihn zur zentralen Figur, aber durch die Parallelität anderer Schicksale verwandelt er sich abwechselnd von einem dominierenden Handlungsträger zum zweitrangigen. Dieses Wechselspiel betrifft übrigens nicht nur Ludwig, der narrative Fokus liegt längere Zeit auf ei-

13 Zit. nach Schneider, »Strandgut«, 533. 14 »Anhang«, Remarque, Liebe Deinen Nächsten, 510. 15 Schneider, »Strandgut«, 535. 16 Remarque kommentiert seine Entscheidung, auf den politischen Kontext zugunsten der Figurendarstellung zu verzichten wie folgt: »In diesem Buche habe ich, wie in allen meinen Arbeiten, nicht das geringste Interesse, politisch irgendwie Stellung zu nehmen; das überlasse ich den Politikern. Endgültige Beurteilung aller Politik sind ihre Wirkungen in der Zukunft. Aber politische (notwendige) Probleme können oft menschlich verhängnisvoll werden. Und es sind nur menschliche Gesichtspunkte, die diesem Buch zugrunde liegen.« »Anhang«, Remarque, Liebe Deinen Nächsten, 505.

122

Narrative des Flüchtlings in Liebe Deinen Nächsten

ner in den Plot eingeführten Figur, um dann auf eine neue verlegt zu werden. Ludwig Kern und Josef Steiner gelten jeweils als zwei die Gemeinschaft von Verfolgten verbindende Elemente: Sie gehen Beziehungen mit anderen Flüchtlingen ein und dienen ihnen mehr als einmal als Helfer; in den beiden Figuren schlägt sich die geographische wie auch ontologische Dimension der Emigration nieder. Die Lebenswege dieser zwei Protagonisten überschneiden sich im Wiener Arrest, wohin die aus verschiedenen Ländern stammenden Emigranten gebracht werden. Es verbindet sie alle das Fehlen von gültigen Pässen bzw. Aufenthaltsgenehmigungen. Seit diesem Treffen wird Kern, den anderen Flüchtlingen ähnlich, mehrmals verhaftet und über die Grenzen hin- und hergeschoben: Nach der Entlassung aus dem Wiener Gefängnis wird er an die tschechische Grenze gebracht, in Prag lernt er eine deutsche Emigrantin jüdischer Abstammung – Ruth Holland – kennen. Das Liebesgefühl, dass beide jungen Menschen verbindet, lässt Kern trotz Verbot wieder nach Wien zurückkehren, wo Ruth das Studium fortsetzen kann. Dank Steiners Vermittlung gelingt es ihm, im Prater eine Beschäftigung zu finden. Der Schein der Stabilität erweist sich wiederum als trügerisch, denn infolge einer Prügelei an der Wiener Universität wird Kern bewusstlos geschlagen, verhaftet und nach zwei Wochen Gefängnis wieder abgeschoben. Nach der illegalen Rückkehr findet er in der österreichischen Hauptstadt seine Geliebte nicht mehr, denn sie entschied sich, aus dem immer mehr nationalsozialistisch und emigrantenfeindlich werdenden österreichischen Staat zu fliehen. Auch in der Schweiz findet das Paar keine sichere Unterkunft und Hoffnung auf ein neues, stabiles Leben, denn das von Emigranten überlaufene Land will keine neuen Bürger aufnehmen, die seinen Wohlstand und seine Ruhe beeinträchtigen würden. So bildet Paris die nächste Station der Wanderung durch das gegen das Emigrantenschicksal erstarrte Europa. Als Ruth unterwegs erkrankt, muss sie hospitalisiert werden. Die Verhaftung und Abschiebung Kerns trennt die Geliebten für eine Weile erneut, trotzdem finden sie sich in Genf wieder und entscheiden sich für die Flucht nach Frankreich. Den Glauben an die scheinbare Normalität täuscht ihnen dort Kerns illegale Anstellung beim Aufbau der Weltausstellung und ein Platz im Emigrantenhotel vor. Mit der Verhaftung der ausländischen Bauarbeiter wird das Schicksalskarussell wieder in Bewegung gesetzt. Haft, Abschiebung, Geldmangel und Hoffnungslosigkeit der Situation steigern das Gefühl der Ratlosigkeit und Ausweglosigkeit, aus der sie die Erwerbung von mexikanischen Pässen befreit. Die Perspektive, Europa bald verlassen zu dürfen, stimmt die Protagonisten positiv und lässt sie hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.

123

Renata Dampc-Jarosz

Remarques Protagonisten als Grenzfiguren Wenn man versucht, zeitgenössische Theorien über Migration und Migranten auf die Protagonisten des Romans und ihr Verhalten in einer fremden, abweisenden Welt anzuwenden, stellt sich heraus, dass sie in erster Linie einen Zustand der sozialen Deprivation erleben. Alle Flüchtlinge sind von ihrer bisherigen Lebensweise abgeschnitten, keiner von ihnen findet in der neuen Welt auch nur einen Ersatz für sein altes Dasein. Wenn man sich nur entlang der Figurenkonstellation um Kern bewegt, kann man seine Entwurzelung sehr gut beobachten. Plötzlich muss er sich von seinem geordneten, einigermaßen wohlhabenden bürgerlichen Leben verabschieden, das durch die florierende Parfüm-, Seifen- und Kölnischwasserfabrik seines Vaters gesichert war, der von einem unehrlichen Konkurrenten als Feind des nationalsozialistischen Systems denunziert wurde. Die Eltern verlieren ihre Firma, die sie umsonst abgeben müssen, und für alle Familienmitglieder, denen die Pässe abgenommen werden, beginnt eine Odyssee ins Ungewisse. Der Verlust der Wurzeln bedeutet jedoch nicht nur, dass man gezwungen ist, die Heimat in ihrer materiellen Form zu verlassen, sondern auch, dass man der Familie im Allgemeinen beraubt wird. Für drei Personen ist es nämlich viel schwieriger, in den mit Emigranten überfüllten Hotels eine Unterkunft zu finden, sie trennen sich also, und jeder versucht, seinen eigenen Weg in der neuen Realität zu finden. Die Mutter fährt zu ihrer Familie nach Ungarn, der Vater findet bei einer anderen Frau in Prag Unterschlupf, und der zwanzigjährige Sohn macht sich auf eigene Faust auf den Weg und überquert tags und nachts die Grenzen zahlreicher europäischer Länder. Die tragische Situation der Protagonisten zeigt sich nicht nur in der Trennung, sondern auch in der konsequenten emotionalen Entfremdung und der Schaffung neuer Existenzformen, in denen weder die bisherigen Familienmitglieder noch die Rituale des Alltags wiederzufinden sind. Im neuen Leben gibt es nämlich keinen Platz mehr für irgendetwas aus der alten Welt, und das Bewusstsein dieses Zustandes ist von Rationalität geprägt, die keine Illusionen darüber zulässt, dass es sich um einen notwendigen und unumkehrbaren Prozess handelt. Diese absolute Wahrheit kommt zum Vorschein, als Kern seinen Vater in Prag trifft, der nach einer schweren Krankheit, aber auch aufgrund eines Gefühls des Verrats gegenüber seiner Ehefrau und seinem Sohn sehr verändert aussieht. Da er während seiner Krankheit nicht in der Lage war, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und sich zu versorgen, ging er eine Beziehung mit einer anderen Frau ein, bei der er auch bleibt. Der Anblick des Vaters und die Konfrontation mit der neuen Realität lösen beim Sohn zunächst negative Gefühle aus, die schließlich durch Vernunft und Akzeptanz der neuen Situation überwunden werden. Der auktoriale Erzähler beschreibt diesen inneren Zustand des Protagonisten wie folgt: Sein Herz schlug einen Augenblick wie ein Hammer gegen die Rippen. Er wollte aufspringen, seinen Vater nehmen, mit ihm fortrennen, er dachte in einem Wirbel

124

Narrative des Flüchtlings in Liebe Deinen Nächsten

an seine Mutter, an Dresden, an die stillen Sonntagsvormittage, zusammen – dann sah er den vom Schicksal zerschlagenen Mann vor sich, der ihn mit entsetzlicher Demut anblickte, und er dachte: Kaputt! Fertig! Und der Krampf löste sich, und er war nichts mehr als grenzenloses Mitleid. (139)

Das gerade angeführte Beispiel des Auseinanderbrechens von Kerns Familie bildet im Roman keine Ausnahme, auch in vielen anderen Fällen wird eine Entscheidung für eine bewusste Trennung getroffen, die allerdings in einem tragischen Ausgang gipfelt. So wird Kern im Prager Hotel »Bristol« Zeuge der Entbindung einer gewissen Katharina Hirschfeld, die sich entschloss, Deutschland zu verlassen, um ihrem Kind eine bessere Zukunft zu ermöglichen und es vor antisemitischer Verfolgung zu schützen; der Vater des Kindes wurde, nachdem er – wiederum aufgrund einer Denunziation – sein Geschäft verloren hatte, inhaftiert. Auch diese Familie wird nie wieder zusammengeführt werden, da die Mutter bei der Geburt stirbt und das Kind wahrscheinlich von jemand anderem aufgezogen wird. Es gibt viele Fälle von solchen zerrütteten Familien in dem Roman. Der Erzähler schildert sie zwar, er kommt ihnen aber nicht auf den Grund, als ob er – Kern ähnlich – das Wort »Fertig!« wiederholen wollte. Der widerstandslose Verlust der Verwurzelung manifestiert sich jedes Mal im Verzicht auf das Materielle. Das Vermögen der Auswanderer beschränkt sich oft auf eine einzige Tasche, ein Bündel oder ein paar Gegenstände. Der Koffer von Katharina Hirschfeld enthält nur Kleidung für das neugeborene Kind und – ironischerweise – eine für drei Jahre ausgestellte Aufenthaltsgenehmigung. Nach einigen Monaten Flucht und Wanderung gibt Ruth ihrem Freund Ludwig recht, dass man »von früher nichts mitnehmen soll. Und man soll auch nicht zurückschauen, das macht müde und kaputt«. (255–256) Das alte Leben, das ausnahmslos verabschiedet wird, kann jedoch nicht durch ein neues ersetzt werden, selbst wenn es Symptome gibt, die eine Rückkehr zur Normalität ankündigen und das Alte mit dem Neuen verbinden lassen. Als eine solche ›Brücke‹ könnte der Dresdner Professor Kerns, ein Experte für Krebsbehandlung, gelten. Als er seinen ehemaligen Studenten zufällig in einem Essraum für Flüchtlinge trifft, will er aber nicht mit ihm über sein Studium reden oder auf die Vergangenheit zurückgreifen, sondern versucht, ihm einige Haushaltsgeräte zum Kauf anzubieten. Kern geht ebenfalls nicht auf sein abgebrochenes Medizinstudium ein, sondern beschränkt sich darauf, dem Professor zu erklären, welche Waren sich besser verkaufen und das Existenzminimum sichern. Eine eindeutige und unwiderrufliche Abtrennung von der alten Welt könnte aber den Versuch bedeuten, in der neuen Welt Fuß zu fassen. Aufgrund der Dynamik der Ereignisse und der ständigen Bewegung kann dieses neue Leben allerdings in keiner Weise Erfüllung finden. Deshalb bewegen sich die Protagonisten in geschlossenen, heterotopisch geprägten Räumen, die zu Enklaven für Einwanderer werden. Auch wenn es sich um öffentliche Gebäude handelt, die für alle zugänglich sind, so sind sie doch für die Dauer des Aufenthalts der Protagonisten eingeschränkt und nur für sie bestimmt. 125

Renata Dampc-Jarosz

Ein solcher Ort ist das Kino, in das Kern die neu kennengelernte Ruth einlädt und wo sie für eine Weile die Normalität genießen können, obwohl die Wahl des Films – Marokko17 – bereits die Ankunft von etwas Neuem, Fremdem ankündigt, das sie bald zu einem nomadischen Leben zwingen wird. Die heterotopischen Räume sind somit eine Art Zufluchtsort vor dem Leben eines Flüchtlings, eine Stärkung vor einer neuen Reise ins Ungewisse. Ludwig und Ruth können sich für ein paar Tage in der Wohnung der Familie Neumann, die Ruth in Zürich Unterschlupf gewährt hat, einschließen, sich ihre Kleider anziehen, aus ihren Gläsern trinken und über das Wochenende den Hauch der Normalität genießen. Zu solchen isolierten Räumen gehört auch der Rummelplatz im Prater, in dem Steiner als »Assistent des Vergnügungsetablissements Potzloch« (174) und später Kern als sein Helfer bei Hellsehertricks für einige Monate angestellt sind. Es ist für beide Männer ein Rückzugsort, dessen Durchquerung bedeutet, sich anderen Regeln zu unterwerfen als denen, die draußen herrschen. Ein ähnliches Gebiet ist auch die Baustelle der Weltausstellung in Paris, wo Kräfte und Energie auf die Schaffung von etwas Neuem konzentriert werden. Ein anderes Beispiel für den heterotopischen Ort ist die Berghütte in der Schweiz, in welcher Ruth und Ludwig nachts eingesperrt bleiben, als das Mädchen, vom Fieber gepackt, Ruhe braucht und dort Zuflucht findet. Aus Sicherheitsgründen schließt der Bauer seine Hütte jeden Abend ab und öffnet sie erst am Morgen. Die Schließung, die einer Inhaftierung gleichkommt, kann als treffende Metapher für das Schicksal des Einwanderers angesehen werden, die ihn als einen wurzellosen, zur Trennung verurteilten und nicht zur Integration fähigen Menschen charakterisiert. Trotz ihrer heterotopischen Begrenzung weisen diese Räume jedoch Elemente auf, die sie für die Welt öffnen. Dabei handelt es sich in der Regel um Gegenstände, wie das Hähnchen im beschlagnahmten Koffer eines Häftlings, das Kölnisch Wasser als Krönung eines Kinobesuchs, das Abendkleid von Frau Neumann, das sich Ruth von ihrer Gastgeberin leiht, oder die Geige des Künstlers, der die Emigranten im Flüchtlingsbüro unterhält und sie dadurch mit seinem Spiel in eine andere Welt entführt. Im Rummelplatz im Prater wimmelt es ebenfalls von Gegenständen, vor allem in der Schießbude, die, wenn sie gewonnen werden, Glück und Freude bedeuten können. All diese materiellen Formen sollen die Menschen in ihr neues Leben locken und ihnen ein Gefühl von Stabilität und Normalität vermitteln. Überraschenderweise spielen sich diese scheinbaren Formen ›migrantischer Lebenssysteme‹ jedoch in der Konvention des Spiels ab: Kino, Jahrmarkt, Geigenspiel, Tanz oder unzählige Kartenspielrunden – sie alle sind improvisiert, theatral und beruhen, gemäß Schillers Spielprinzip, auf einer Distanz zur Welt, die

17 Der Film Marokko wurde 1930 von Josef von Sternberg in den USA gedreht. Die Hauptrolle im Film spielte Marlene Dietrich.

126

Narrative des Flüchtlings in Liebe Deinen Nächsten

den Menschen von allen Zwängen befreit und seine Sinne, seinen Geist und die Umwelt in den Zustand einer Harmonie zu bringen vermag.18 Dies kann zu einem anderen Blick auf die Welt, zu einer distanzierten Betrachtung der eigenen Person und der Umgebung und schließlich zu einer Art Therapie führen, die Trost und scheinbare Zufriedenheit gewährt. Die Suche nach ›normalen‹ Lebensformen ist allerdings sowieso zum Scheitern verurteilt, denn die Flüchtlinge haben nicht nur auf sozialer Ebene keine Chancen auf Erfolg; als Grenzfiguren werden sie ebenfalls rechtlichen und politischen Benachteiligungen ausgesetzt. Die Frage nach dem rechtlichen Status von Flüchtenden läuft darauf hinaus, dass sie sich unrechtmäßig in einem fremden Land aufhalten, indem sie keine Pässe und Aufenthaltsgenehmigung besitzen, und dadurch außerhalb des Gesetzes stehen. Dieser unrechtliche Zustand wird von Steiner, der in den Besitz eines falschen Passes gelangt ist, im inneren Monolog versprachlicht: Johann Huber! Arbeiter! Du bist tot und verfaulst irgendwo unter der Erde von Graz, – aber dein Paß lebt und ist gültig für die Behörden. Ich, Josef Steiner, lebe, aber ich bin ohne Paß tot für die Behörden. Er lachte. Tauschen wir, Johann Huber! Gib mir dein papiernes Leben und nimm meinen papierlosen Tod! Wenn die Lebenden uns nicht helfen, müssen die Toten es tun! (118–119)

Diese Ansicht, Emigranten seien tot, formulieren auf verschiedene Art und Weise alle Protagonisten des Romans. Entweder sind sie in ihren Augen keine Menschen mehr oder sie werden schon als toter Mensch – »Leichen auf Urlaub« (23) – betrachtet. Die Vorstellung der Flüchtlinge von ihrem Nichtwesen unterscheidet sich kaum von der der Behörden. Sowohl auf Polizeistellen, bei Grenzkontrollen als auch vor Beamten aller Art wird ihnen jedes Mal ihre Nichtigkeit und gar keine rechtliche Legitimität vorgeworfen. Der Gendarm, der Kern von Wien zur Grenze eskortiert, beklagt sich über die Degradierung seines Berufsstandes, die er vor allem den Emigranten zuschiebt, die er für ihre rechtliche Unbestimmtheit und alle daraus resultierenden Schwierigkeiten verantwortlich macht. »Ihr seid doch nichts, im polizeilichen Sinne! Ich habe den vierfachen Raubmörder Müller II zu eskortieren gehabt, Revolver schußbereit – und dann vor zwei Jahren den Frauenschlächter Bergmann und später den Aufschlitzer Brust, – garnicht zu reden von dem Leichenschänder Teddy Blümel! Ja, das waren noch Zeiten! Aber heute, ihr, – mit euch krepiert man ja vor Langeweile!« (231)

18 Vgl. Friedrich Schiller. Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Briefe an den Augustenberger, Ankündigung der ›Horen‹ und letzte, verbesserte Fassung. München: Fink, 1967, Brief 11–15.

127

Renata Dampc-Jarosz

Die Emigranten werden nicht nur in den Ländern, in die sie fliehen, als Objekte behandelt, ihre Heimatländer verweigern ihnen den Pass, und der Völkerbund debattiert seit Jahren nur über ihr Schicksal, ohne rechtliche Schritte einzuleiten. Die Emigranten bleiben – ironischerweise – »für die übrige Welt nur noch als Subjekte für die Polizei«, (324) die die einzige Institution ist, die mit ihnen noch zu tun haben will/muss. Das Fehlen eines Reisepasses wird zu einer Straftat, die oft härter exekutiert wird als andere Vergehen. Verfolgungsbriefe werden nach Migranten geschickt, obwohl sie, wie der Schweizer Bauer, der der kranken Ruth Unterschlupf gewährt, bemerkt, »nicht irgendwo mal etwas gestohlen oder jemanden betrogen haben«. (306) Dieses Paradoxon wird während Kerns Aufenthalt im Gefängnis noch deutlicher durch einen der Häftlinge, der als einziger einen Pass hat und das Gefängnis verlassen kann, obwohl er ein Krimineller ist. Am Beispiel dieser Figur macht sich Remarques Anwendung romantischer Ironie bemerkbar, die – Schillers Spielprinzip ähnlich – die herrschende Ordnung umzukehren versucht und den Anschein erweckt, als wolle er den Ernst der Lage bagatellisieren. In Wirklichkeit wird das System eines scheinbar demokratischen Staates entlarvt und dessen Trugcharakter bestätigt. Diese traurige Wahrheit bringt der Blonde, ein Student, der mit Kern nach der Prügelei vor der Universität, verhaftet wird, krass auf den Punkt: »Mein Lieber«, sagte der Student ruhig. »Sie scheinen noch nicht zu wissen, daß wir im Zeitalter des Bluffs leben. Die Demokratie ist durch die Demagogie abgelöst worden. Eine natürliche Folge. Prost!« (216)

Daher bleibt den Protagonisten nichts anderes übrig, als in doppelter Hinsicht zu fliehen: aus ihrem eigenen Land und aus dem Gastland in den Raum zwischen den Grenzen, der ihre Heimat wird.19 Auf dieses Phänomen des Grenzgebiets und der Emigrantenexistenz verweist Moritz Rosenthal, der im Roman zum Symbol des Ewigen Juden erhoben wird. Als Kern ihm zum ersten Mal an der tschechischösterreichischen Grenze begegnet, findet er ihn dort hockend vor, als ob er diese staatenlose, also durchaus freie Atmosphäre eines Grenzgebiets einfangen wollte. Es ist in seinen Augen schließlich ein Ort, wo man den eigenen Namen und Glauben ohne Angst nennen kann, wo man alle Wege kennt und für eine Weile selbst die Regeln bestimmt. Die Enklave des Grenzterritoriums ist übrigens eine Metapher, die über die dritte Komponente des Grenzfigurencharakters nachdenken lässt. In einem politischen System zu sein, bedeutet, die Möglichkeit von Verbindungen zu sehen, mit einer Gruppe zu existieren oder mit ihr zusammenarbeiten zu wollen. Die Emigranten im Roman haben aber absolut keine Rechte, sie können nicht auf dem Territorium des gewählten Landes bleiben, sie werden

19 »Die Grenzen sind ja unsere Heimat«. Remarque, Liebe Deinen Nächsten, 232.

128

Narrative des Flüchtlings in Liebe Deinen Nächsten

überall verfolgt, die bestehenden Hilfssysteme sind – je nach Land – halbherzig: In der Tschechischen Republik können sie mit ein paar kostenlosen Hotelübernachtungen und einer warmen Mahlzeit rechnen, aber nur für die Dauer ihres legalen Aufenthalts; Wien bietet ausgewählte Möglichkeiten, Fuß zu fassen, aber ohne gültige Papiere können sie dort nicht allzu lange bleiben; die Schweiz als Transitland ist Auswanderern gegenüber zurückhaltend; und in Frankreich erhalten Ludwig und Ruth eine klare Botschaft: Kern kam aus dem Büro für Flüchtlingshilfe. Er hatte nichts anderes erwartet, als das, was er gehört hatte. An eine Aufenthaltsgenehmigung war nicht zu denken. An Unterstützungen auch im äußersten Fall. Arbeit mit und ohne Aufenthaltserlaubnis war selbstverständlich verboten. (373)

Die Emigranten können also in kein System aufgenommen werden, selbst jüdische Kreise schließen die andersgläubigen Flüchtlinge aus, wie Kern, der der evangelischen Kirche angehört. Die einzige Form der Kommunikation zwischen Migranten- und Nicht-Migranten-Lebensformen ist Geld, das oft heimlich gegeben wird, auch von Vertretern der Behörden; als eine Art Hilfe können ebenfalls verschiedene Gelegenheitsarbeiten angeboten werden. So muss angemerkt werden, dass sich die Welten der Emigranten und der Bürger selten berühren, sie bilden getrennte Einheiten, die an Gegenpolen existieren. Der Versuch, beide Welten zueinander zu bringen, hängt von der Einstellung der Teilnehmer ab, die manchmal einander freundlich begegnen, indem sie bedürftige Flüchtlinge unterstützen, meistens sind sie aber zurückhaltend, abweisend oder sogar feindlich eingestellt, indem sie denunzieren (Ammers) und verfolgen (Wiener Gendarmen). Im Moment des Versagens von allen sozialisierten Lebensformen greift Remarque wiederum auf das Spielerische zurück. Die Vorliebe der Protagonisten zum Kartenspiel, das ihnen Geld verschafft, gewinnt hier doppelt an Bedeutung, denn es entsteht dabei ein Raum, in dem die Grenzen zwischen Migrant und Bürger aufgehoben werden. Es ist charakteristisch, dass die Migranten mit Bürgern der jeweiligen Länder praktisch keine Kontakte eingehen, dass man in keinem Fall von der Anknüpfung von Freundschaftsbanden sprechen kann. Dennoch bleibt das Bürgerliche als begehrter Maßstab und Sehnsuchtsobjekt, auch wenn Steiner – in seiner Art – dieses Bedürfnis der Migranten ironischerweise pointiert: »Schon wieder. Etwas ungewohnt, was? Du bist unter Künstlern: da herrschen die bürgerlichen Sitten der Welt. Es gibt sogar nachmittags eine Jause. Kaffee mit Kuchen.« (181)

Der Bürger und seine Lebensweise müssen allerdings der Sphäre der Alltagsträume vorbehalten bleiben, die Migranten sollen sich nun mit dem Schicksal der Flüchtenden und Ungewollten abfinden. Sucht man aber wiederum nach poli129

Renata Dampc-Jarosz

tisch-sozial bedingten Systemen innerhalb der Migrantenkreise, so stellt sich heraus, dass die Gemeinschaft der Auswanderer gleichermaßen polarisiert ist: Auf der einen Seite gibt es viele Solidaritätsakte (Steiners Hilfe für die Kinder des tragisch verstorbenen Seligmann, Kerns Angebot des Tauschens eines Sweaters gegen Hölderlins Gedichte, den ein frierender Leidensgenosse mehr braucht als die Hauptfigur). Unter den Flüchtlingen gibt es auch solche, die den anderen selbstlos helfen, ohne Profite daraus zu ziehen (Binder); auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die bestrebt sind, naive und unerfahrene Flüchtlinge zu betrügen oder zu bestehlen (Bindings). Auch hier, auf der Ebene der Schaffung von Systemen und Verbindungen im öffentlichen Raum, lassen sich zahlreiche Beispiele anführen. Sie alle zeigen, dass Emigrant:innen und Bürger:innen sowie Emigrant:innen und Emigrant:innen in Opposition zueinander leben, dass das moderne Phänomen der transgressiven Solidarität hier nicht gilt. Die Emigranten existieren außerhalb der Systeme, eher als Individuen, und wenn sie zu einer Gruppe von Leidensgenossen gehören, ist das nur vorübergehend, denn sie alle warten auf einen Pass und die Ausreise in ein sicheres Land, das sie aufnehmen will. Fazit Ein Blick auf die Protagonisten des Romans Liebe Deinen Nächsten aus der Perspektive der Theorie von Grenzfiguren verdeutlicht somit ihre grenzenlose Hilflosigkeit und die Ausweglosigkeit der damaligen Migrantensituation, die die heutigen Flüchtlinge eher nicht im gleichen Maße erleben müssen, denn sie sind in demokratischen Ländern auf reale, finanzielle Hilfe angewiesen und müssen nicht ewig auf der Flucht sein. Im Fall von Remarques Figuren kann keinesfalls von einer Durchdringung von Kulturen, von Annäherung zwischen Migranten und Bürgern die Rede sein. Beide sind aneinander nicht interessiert: Emigranten wollen die unfreundlichen Länder verlassen, die Gastgeber dagegen sie für immer loswerden. Die Konzentration der Handlung auf die Flucht verursacht deren Dynamisierung, aber sie führt dazu, dass das Wesentliche – die Welt der Werte – verloren geht. Kern konstatiert diesen tragischen Wandel seiner Zeiten wiederum voller Ironie, indem er seinen Glauben »an den heiligen Egoismus, an die Unbarmherzigkeit, an die Lüge, an die Trägheit des Herzens« (325) bekundet, als ob er mit deren Wirkung die baldige Ankunft der begehrten Normalität auslösen möchte. Trotz dieses Eingeständnisses lässt er sich nicht unterkriegen, er schafft sich sein eigenes System in einer Welt ohne Werte, das auf der Liebe zu einem anderen Menschen, auf Offenheit und dem Mut zu Entscheidungen beruht. Diese individuelle Haltung erscheint als Modell eines Emigranten der damaligen Zeit, den Remarque als zukünftigen Bürger der neuen Welt hoffnungsvoll definiert: 130

Narrative des Flüchtlings in Liebe Deinen Nächsten

»Und du bist ein Soldat, vergiß das nicht. Ein Vorposten. Eine Patrouille. Ein Pionier des Weltbürgertums. Zehn Zollgrenzen kannst du mit einem Flugzeug an einem Tage überfliegen; jede hat die andere nötig, – und alle panzern sich mit Eisen und Pulver bis an den Hals gegeneinander. Das bleibt nicht. Du bist einer der ersten Europäer, – vergiß das nicht. Sei stolz darauf.« (241)

131

132

Magdalena Popławska

Das Motiv der Einsamkeit in ausgewählten Werken Erich Maria Remarques

Einsamkeit als vieldimensionaler Bestandteil des menschlichen Lebens Jeder Mensch stößt in seinem Leben auf die Einsamkeit, deshalb tritt sie in vielen Facetten in Erscheinung. Als Begriff lässt sich Einsamkeit nicht eindeutig definieren: Sie kann unter zahlreichen Aspekten gesichtet werden und wird aus philosophischer, anthropologischer, psychologischer sowie soziologischer Perspektive analysiert. Unterschieden wird eine Vielfalt von Varianten der Einsamkeitserfahrungen, daher kommen unter anderem Vereinsamung, Alleinsein, Isolation, Solipsismus, Isoliertheit, Verlassenheit, Ausgrenzung oder Nostalgie zum Vorschein.1 Die Erfahrung der Einsamkeit unterlag einer Wandlung in jeder Epoche, deshalb haben sich mit ihrer Gestalt Philosophen, Denker oder sogar Künstler auseinandergesetzt. So variierte die Form der Einsamkeit, die einst zu einem Refugium wurde, um später mit der Unausweichlichkeit des Schicksals und Verfluchung in Verbindung gebracht zu werden.2 Ihre Vieldimensionalität kommt auch in ihren Eigenschaften zum Ausdruck: Sie ist entweder gewünscht oder erzwungen, darüber hinaus ist sie nicht nur dem Individuum eigen, sondern wird in der Gemeinschaft wahrgenommen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Dauer der Einsamkeit, die als lang- und kurzfristige Erscheinung vorkommt.3 Wenngleich Einsamkeit von diversen Faktoren determiniert wird, fällt es schwer, alle in vollem Umfang zu nennen, zumal sie vom einzelnen Menschen selbst als auch von sozialen und politischen Umwälzungen abhängen. Als Haupt-

1 Zofia Dołęga. »Samotność jako stan psychiczny – samotność jako cecha psychologiczna«. Piotr Domeracki, Włodzimierz Tyburski (Hg.). Zrozumieć samotność. Studium dyscyplinarne. Toruń: Wydawnictwo Uniwersytetu Mikołaja Kopernika, 2006, 255. 2 Marie-France Hirigoyen. Solotanz – Anleitung zum Alleinsein: Glück und Unglück einer neuen Lebensform. München: C.H. Beck, 2008, 11. 3 Ebd., 17.

133

Magdalena Popławska

grund dient jedoch die psychische Veranlagung der betroffenen Person oder ihre Umgebung.4 Die fehlende Fähigkeit, Kontakte zu Menschen zu knüpfen oder diese aufrechtzuerhalten, der Verlust einer nahe stehenden Person sowie der Werteverfall treiben den Menschen in die Einsamkeit.5 Im Zusammenhang mit den sie determinierenden Faktoren dürfen ihre Folgen nicht außer Acht gelassen werden: Die Auswirkungen der Einsamkeit6 können positiv oder negativ empfunden werden, oft wird diese Erfahrung von der betroffenen Person vom Bewusstsein verdrängt, zumal sie schmerzhaft ist.7 Als eine Grenzsituation geht dieses Gefühl mit Resignation, Lebenssinnverlust oder Desorientierung einher.8 Außerdem evoziert Einsamkeit Verlassensein, Unverstandenwerden, Leiden, soziale Isolation, Verdrossenheit oder Melancholie.9 Das Stigma der Einsamkeit ist mit fehlender Akzeptanz seitens der Gesellschaft verbunden.10 Das Individuum wird demnach von der Wirklichkeit abgekapselt, isoliert, gegen die Umgebung gleichgültig und depressiv.11 Das Phänomen der Einsamkeit weist Ambivalenz auf und wird daher nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Literatur als Thema aufgegrif-

4 Elżbieta Dubas. »Samotność – uniwersalny ›temat‹ życia ludzkiego i wychowania«. Domeracki/Tyburski (Hg.), Zrozumieć samotność, 332–333. 5 Janusz Gajda. »Trzy aspekty samotności jako determinanta stylu życia i uczestnictwa w kulturze«. Domeracki/Tyburski (Hg.), Zrozumieć samotność, 180–187; Joanna Król. »Kultura masowa jako katalizator poczucia samotności«. Domeracki/Tyburski (Hg.), Zrozumieć samotność, 189–191. 6 Viele Wissenschaftler und Philosophen unterscheiden Alleinsein von Einsamkeit oder Vereinsamung. Hannah Arendt vertritt die Auffassung, dass »diese[r] existentiell[e] Zustand, in dem [sie] mit [sich] selbst umgeh[t], Alleinsein im Unterschied zur Einsamkeit, in der man auch allein ist, aber nicht nur der Gesellschaft anderer Menschen entbehrt, sondern auch der möglichen eigenen. Nur in der Einsamkeit fühlt man, dass man die Gesellschaft der Menschen entbehrt, und nur wenn der Mensch sich dessen akut bewusst ist, existiert er wirklich als einzelner, und vielleicht wird er nur im Traum oder im Wahnsinn des unerträglichen und unaussprechlichen Grausens dieses Zustands völlig gewahr.« Hannah Arendt. Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. München, Zürich: Piper, 2014, 80. 7 Brunon Hołyst. »Suicydogenne aspekty samotności«. Domeracki/Tyburski (Hg.), Zrozumieć samotność, 284. 8 Marcin Jaranowski. »Samotność post-metafizyczna«. Domeracki/Tyburski (Hg.), Zrozumieć samotność, 102. Jan Wadowski. »Samotność jako szansa – droga do doskonalenia i spełnienia«. Domeracki/Tyburski (Hg.), Zrozumieć samotność, 241. 9 Piotr Domeracki. »Meandry filozofii samotności«. Domeracki/Tyburski (Hg.), Zrozumieć samotność, 22. 10 Anna Latawiec. »Destrukcyjny czy twórczy charakter samotności (ujęcie systemowe)«. Domeracki/Tyburski (Hg.), Zrozumieć samotność, 85. 11 Domeracki, »Meandry filozofii«, 22; Latawiec, »Destrukcyjny czy twórczy charakter«, 87, Gajda, »Trzy aspekty samotności«, 180–181.

134

Das Motiv der Einsamkeit

fen, zumal es den emotionalen und körperlichen Zustand der Menschen widerspiegelt und einerseits verherrlicht und andererseits gefürchtet wurde.12 Einsamkeitsbilder bei Erich Maria Remarque Im Werk Erich Maria Remarques wimmelt es von einsamen Menschen, die nicht selten zu der so genannten »verlorenen Generation« gehören. Das Phänomen scheint umso interessanter zu sein, als sich der Schriftsteller auch in seinem eigenen Leben einsam fühlte, was dazu Ansporn gibt, ausgewählte Romane unter besonderer Berücksichtigung des Motivs der Einsamkeit zu analysieren.13 Dabei wird der Frage nachgegangen, wie die Protagonisten ihre Vereinsamung empfinden und ob sie sich dieses Zustands überhaupt bewusst sind. Besonderes Augenmerk wird in diesem Zusammenhang auf die Verbalisierungsart dieser Erfahrung gerichtet. Zur Analyse werden die Romane Im Westen nichts Neues, Die Nacht von Lissabon, Drei Kameraden und Der Himmel kennt keine Günstlinge herangezogen, deren Handlung sich über den Zeitraum vom Ersten Weltkrieg bis in die späten 1940er Jahre erstreckt. Sie greifen als Thema das Schicksal der Menschen auf, die sich in ihrem Leben mit dem Kriegsgeschehen und seinen Folgen auseinandersetzen mussten. Obwohl sie verschiedenen Generationen entstammen und manchmal andere Gesellschaftsschichten vertreten, weist ihr Leben eine Gemeinsamkeit auf – sie fühlen sich einsam. Zu den Vertretern der Einsamkeit gehören junge Soldaten an der Front, Emigranten oder Patienten eines Sanatoriums. Bei Remarque stößt man auch auf alte Junggesellen, alte Jungfern, verwitwete sowie geschiedene Menschen. Sie interagieren zwar mit Menschen, werden aber ständig von der Einsamkeit begleitet, was auf verschiedene Faktoren zurückzuführen ist. Es gilt dabei zu betonen, dass für die Zwecke dieses Artikels Begriffe wie Einsamkeit, Vereinsamung, Isolierung oder Alleinsein wechselweise verwendet werden. Einsamkeit der Emigranten im Roman Die Nacht von Lissabon Kriegszeiten waren schon immer eine große Gefahr für unschuldige Menschen, die sich oft den Ansichten des NS-Regimes widersetzten. Das gleiche Schicksal ereilte die Protagonisten des Romans Die Nacht von Lissabon, die ins Exil gehen mussten, um die nationalsozialistische Hetze gegen Hitlergegner zu vermeiden.

12 Georges Minois. Historia samotności i samotników. Warszawa: Wydawnictwo Aletheia, 2018, 299 + 325. 13 https://www.deutschlandfunk.de/50-todestag-von-erich-maria-remarque-biograf-der-verlorenen.871.de.html?dram:article_id=484532 (30.08.2021).

135

Magdalena Popławska

Ein bedeutsamer Faktor, der zur Einsamkeit des Protagonisten Josef Schwarz beiträgt, ist seine politische Haltung, zumal er kein eifriger Befürworter Hitlers war und deswegen zum Aufenthalt in einem Konzentrationslager verurteilt wurde. Die Flucht ins Exil leitet die Vereinsamung in die Wege, die den Mann von nun an fast ständig begleiten wird. Das erzwungene Leben im Exil determiniert die voranschreitende Isolierung, zumal es als eine krisenhafte Situation gilt. In Anlehnung an Zofia Dołęga kann »jede stressige Lebenserfahrung […] eine Krisenreaktion auslösen, [vor allem sind hier] Ereignisse von extremer Intensität, wie […] Katastrophe, […] Gewalterfahrungen […], Waffengebrauch, Krieg […] [gemeint].«14 Die Trennung von der Frau sowie die Flucht vor den Nazis drängen dem Mann eine bestimmte Lebensweise auf und entsprechen somit den Anforderungen einer Krisensituation. Die sich ändernden politischen Verhältnisse berauben ihn zusätzlich der menschlichen Würde und intensivieren die negativen Empfindungen, die er erkennt und ausdrücklich artikuliert: »Ich war vollkommen einsam, aber dieses Mal war die Einsamkeit ohne jede Qual: sie hatte fast etwas Mystisches.«15 Aus seinem Verhalten kristallisiert sich das Bild eines Menschen heraus, der sich gewissermaßen mit seinem Schicksal abgefunden hat. In Bezug auf den Anschein, sich der Verzweiflung hinzugeben, erscheint die Idee der Rückkehr zu seiner Frau in Deutschland umso erstaunlicher. Obwohl seine Einsamkeit eine ausschließlich negative Dimension anzunehmen schien, veranlasst sie ihn zu einem äußerst riskanten Schritt: Die Heimkehr, wenn auch mit falschem Pass und unter falschem Namen als Josef Schwarz, befreit ihn von dem deprimierenden Joch der Einsamkeit. Ausschlaggebend für das Verhalten des Protagonisten ist der Wunsch, seine Frau wiederzutreffen, obwohl dies untrennbar mit dem Risiko einer Verhaftung verbunden ist: Ich erkannte plötzlich – und ich erkannte es erst in diesem Augenblick – dass es eine ruhige, klare Verzweiflung gewesen war, die mich zurückgetrieben hatte. Alle meine Reserven waren aufgebraucht, und der nackte Wille zu überleben nicht stark genug gewesen, dem Frost der Einsamkeit länger standhalten zu können. Ich war nicht fähig gewesen, mir ein neues Leben aufzubauen.16

Daraus wird deutlich, dass seine Einsamkeit nicht ausreichend in seinem Unterbewusstsein verankert ist, um ihn von gefährlichen Maßnahmen abzuhalten. Das Streben nach Liebe überwindet vorübergehend die Angst und beeinflusst

14 Zofia Dołęga. »Poczucie samotności jako moderator przebiegu kryzysów sytuacyjnych, rozwojowych i egzystencjalnych«. Psychologia rozwojowa 25 (2020), 3, 90. 15 Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005, 29. 16 Ebd., 75.

136

Das Motiv der Einsamkeit

die Verhaltensweise des Paares, das vorhat, Deutschland zu verlassen. Mit dieser Entscheidung geraten beide Ehegatten in Gefahr, von Helens Bruder, einem Nationalsozialisten, verfolgt zu werden. Auf der anderen Seite sind sie bemüht, das Alleinsein zu bewältigen. Ein Garant für eine bessere Zukunft soll Amerika sein, aber die Notwendigkeit, im Verborgenen zu bleiben, zwingt die Ehepartner wieder dazu, sich mit der Vereinsamung auseinanderzusetzen, und entblößt dabei den voranschreitenden Prozess der Enthumanisierung während des Zweiten Weltkriegs, der die geltenden Grundrechte der Menschen verletzt und dessen Bestialität ein normales Leben verhindert, zumal Menschen um Überleben kämpfen müssen.17 Einsamkeit taucht daher als eine Begleiterscheinung der Krise auf, in der sie sich befinden und die mit Angst und Unruhe einhergeht. Die Generation der Emigranten passt nicht mehr zu der sie umgebenden Realität und wird daher nicht nur ausgeschlossen, sondern auch als politischer Gegner abgestempelt. Besonders hervorzuheben ist die Dissonanz zwischen gesellschaftlichen Gruppen, deren politische Ansichten von den erwünschten abweichen. Die drastischen Ereignisse, die ihren Fortgang nehmen, evozieren – Zofia Dołęga zufolge – die Vereinsamung der Emigranten.18 Als ich noch ein Mensch war, der das Recht hatte, seine Füße irgendwohin zu stellen, habe ich oft gezweifelt, wenn ich las, wie die Schriftsteller Angst und Schreck beschrieben – dass dem Opfer das Herz stillstehe, dass er wie erstarrt dastände, dass es ihm eisig den Rücken herunter und durch die Adern liefe, dass ihm der Schweiß am ganzen Körper ausbreche […].19

Die Überzeugung, ohne Pass kein wertvoller Mensch zu sein, brandmarkt demnach den Alltag der Partner, die angesichts der stets lauernden Gefahr, erwischt zu werden, alles tun, um nicht aufzufallen.20 An dieser Stelle gilt die Aufmerksamkeit dem Gefühl, der Umgebung nicht anzugehören, was die Einsamkeit als Resultat der Stigmatisierung einstufen lässt:21 Die existentiell angespannte Krisenlage der Emigranten, die von der Suche nach einem sicheren Versteck geprägt ist, verstärkt nicht nur den Ausschluss der Menschen aus der Gesellschaft, sondern auch ihre Entfremdung. Der Aufenthalt in verwahrlosten Häusern oder in Hotels wird mit dem Gefühl der Einsamkeit konnotiert, zumal der häufige, erzwungene Ortswech-

17 https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ (15.09.2021). 18 Dołęga, »Samotność jako stan psychiczny«, 254. 19 Remarque, Die Nacht, 43. 20 https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ (15.09.2021). 21 Bożena Krupa. »Samotność – znak czasu«. Zbiegniew Gaś (Hg.). Człowiek na rozdrożu. Zrozumieć, aby pomóc. Lublin: Innovatio Press Wydawnictwo Wyższej Szkoły Ekonomii i Innowacji w Lublinie, 2013, 98.

137

Magdalena Popławska

sel keine Sicherheit gewährleistet, die noch durch die Internierung beider Gatten im Lager ins Wanken gebracht wurde. Das Schicksal des Paares erweist sich als tragisch: Seine Liebe muss eine weitere Prüfung bestehen. Trotz der Bewältigung der langjährigen Trennung der Ehepartner scheinen die Widrigkeiten angesichts der Krebserkrankung Helens unüberwindbar zu sein. Die fortschreitende Erkrankung sowie der drohende Tod der Frau des Protagonisten treiben ihn immer tiefer in den Abgrund der Einsamkeit: Jetzt war es wieder so, aber sie entglitt mir, ich fühlte das, in einen Bezirk, der keine Namen mehr kannte, nur Dunkelheit und vielleicht unbekannte Gesetze der Dunkelheit – sie wollte es nicht und sie kam zurück, aber sie gehörte nicht mehr so zu mir, wie ich es glauben wollte, sie hatte vielleicht nie so zu mir gehört; wer gehört schon zu wem, und was ist das; Zusammengehören, dieses bürgerliche Wort hoffnungsloser Illusion? Aber immer wieder, wenn sie zurückkehrte, wie sie es nannte, für eine Stunde, für einen Blick, für eine Nacht, kam ich mir vor wie ein Buchhalter, der nicht rechnen soll, sondern ohne Frage hinnehmen, was eine Schweifende, Unglückliche, Geliebte, Verdammte ihm ist! […] Einsamkeit sucht Gefährten und fragt nicht, wer es ist. Wer das nicht weiß, war nie einsam, sondern nur allein.22

Die Einsamkeit nimmt die Form von etwas Unvermeidlichem an, wird zum untrennbaren Begleiter in seinem Leben. Diese Erfahrung ist durchaus negativ und wirkt sich auf den Protagonisten destruktiv aus, weil sie ihn weder zum Handeln treibt, noch ihm Kraft gibt. Schwarz werden alle Illusionen genommen, als er seine Frau tot auffindet. Geplagt von Gewissensbissen und unfähig, ihren Selbstmord zu verstehen, ist er nicht in der Lage, der Vereinsamung zu entfliehen. Seine Reaktion auf die Einsamkeit offenbart sein Leiden nach dem Verlust der Geliebten. Er verliert den Sinn des Lebens und trifft die Entscheidung, sich bei der Fremdenlegion zu melden. Um das Bild dieses Gefühls zu vervollständigen, lässt sich bemerken, dass diese Erfahrung nicht als Asyl, sondern als Last angesehen wird, zumal lediglich negative Merkmale auftauchen und dieses Phänomen sich für den Protagonisten als beklemmend erweist, was laut Anna Latawiec beim Verlust einer nahe stehenden Person vorliegt.23

22 Remarque, Die Nacht, 269. 23 Latawiec, »Destrukcyjny czy twórczy charakter«, 87.

138

Das Motiv der Einsamkeit

Einsame Patienten des Sanatoriums anhand des Romans Der Himmel kennt keine Günstlinge Ein anderes Beispiel der einsamen Menschen liefert der Roman Der Himmel kennt keine Günstlinge, dessen Handlung sich nach dem Zweiten Weltkrieg – Ende der 1940er Jahre – abspielt. In diesem Fall skizziert der Schriftsteller ein besonders eindrucksvolles Bild von Bewohnern des Sanatoriums »Bella Vista« in der Schweiz, die jeden Tag dem Tod und somit dem Alleinsein ausgesetzt sind. Obwohl die Kurgäste unterschiedlichen Alters sind, neigen sie zur Einsamkeit. Sie schließen zwar Freundschaften, wie Boris Wolkow und Lillian Dunkerque, treffen sich regelmäßig, sind jedoch von der Angst vor dem Tod gelähmt.24 Als markante Merkmale erscheinen hier die negative Zukunftsbetrachtung und die fehlende Zufriedenheit mit dem Leben.25 Die Existenz aller Patienten lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: das Warten auf das Ende. Das Bedürfnis, mit einer Person zu kommunizieren, löst die Erfahrung der Vereinsamung aus, die durch zahlreiche Einschränkungen im Kurheim intensiviert wird; die Notwendigkeit häufiger Untersuchungen beeinflusst erheblich den schon begrenzten Kontakt mit anderen. Darüber hinaus nimmt jeder Patient seinen emotionalen Zustand anders wahr: Die Angst vor dem Alleinsein determiniert den Alltag von Herrn Richter, der sich besonders verlassen fühlt, zumal er ein alter, schon über 20 Jahre im Sanatorium weilender Patient ist. Seine Erwartungen spiegeln sich nicht in der Realität wider, weil er es nicht geschafft hat, sich daran zu gewöhnen, dass niemand ihm Gesellschaft leistet. Als ein extrem einsamer Mensch, der allein in seinem Zimmer sitzt und versucht, jede Gelegenheit zum Gespräch mit Menschen zu nutzen, empfindet er die Vereinsamung besonders schmerzlich: Die starken Augen in dem Totenschädel flackerten. Sie hungerten nach Gesellschaft, dachte Lillian – nicht nach Schachproblemen. Sie hungerten nach jemand, der da sein konnte, wenn die Tür sich plötzlich öffnete und niemand hereinkam als der lautlose Wind, unter dem das Blut aus der Kehle stürzte und die Lungen füllte, bis man in ihm erstickte.26

Daraus lässt sich ein Bild der Einsamkeit herauskristallisieren, die als die menschliche Kondition beeinträchtigende Last empfunden wird. Die Grundlage für die Einsamkeit bildet die Perspektivlosigkeit, die in Verbindung mit dem Gesundheitszustand der Patienten steht. Die fehlende Unterstützung seitens anderer

24 Dołęga, »Samotność jako stan psychiczny«, 254. 25 Ebd., 262–263. 26 Erich Maria Remarque. Der Himmel kennt keine Günstlinge. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018, 96–97.

139

Magdalena Popławska

Menschen und das Sanatorium als ein unbekannter Ort, der bei den Patienten keine positiven Assoziationen hervorruft, verstärken das Gefühl der inneren Leere und evozieren Entmutigung. An dieser Stelle ist die Theorie von Albert Bandura von besonderer Bedeutung: Der Lernprozess der Patienten beruht auf der gegenseitigen Beobachtung, ihre Lebenseinstellung wird daher als Konstante betrachtet, was zur Nachahmung der etablierten Verhaltensweisen führt und somit die Einsamkeit der Menschen prägt.27 Auf der anderen Seite soll in Anlehnung an Martin Seligman die erlernte Hilfslosigkeit der meisten Patienten betont werden. Angesichts der negativen Einstellung und der fehlenden Kontrolle über das eigene Leben erwarten die Sanatoriumspatienten lediglich negative Eindrücke und versuchen, an ihrer Lage keine Änderung vorzunehmen, zumal sie nicht beeinflussbar erscheint.28 Besondere Aufmerksamkeit gebührt in diesem Zusammenhang Lillian Dunkerque, einer jungen, an Tuberkulose leidenden Protagonistin, die sich ihres schlechten Gesundheitszustands bewusst ist. Wegen einer lebensgefährdenden Erkrankung verfällt sie allmählich der Niedergeschlagenheit und verliert den Lebenssinn, was sie in die Einsamkeit treibt, obwohl sie einen Freund – Boris Wolkow – hat. Sie vollzieht einen Wandel in ihrem Leben, als sie plötzlich beschließt, das Sanatorium mit dem Rennfahrer Clerfayt zu verlassen: »Vergangenheit und Zukunft hingen in einer zitternden Balance, und das erste, was sie fühlte, war nicht Alleinsein, sondern eine gespannte, hohe Einsamkeit.«29 Ihrer Einsamkeit liegen somit mehrere Ursachen zugrunde: Einerseits verbannt sie die mit ihrer Krankheit verbundene, schwere Vergangenheit, andererseits kann sie keine emotionale Geborgenheit erfahren, weil sie sich der bevorstehenden Zukunft sicher ist. Hier ist darauf hinzuweisen, dass der Versuch, den sie unternimmt, um das Alleinsein zu bewältigen, nur eine scheinbare Lösung darstellt: Die Befreiung von den geltenden Einschränkungen des Sanatoriums ermöglicht ihr zwar, mit dem bisherigen Leben zu brechen und sich in Clerfayt zu verlieben, treibt sie aber wiederum in die Einsamkeit, die durch Gedanken an den Tod hervorgerufen wird.30 Die Reise nach Frankreich, die Bemühungen, die Zeit mit verschiedenen Aktivitäten zu vertreiben, oder Gespräche mit neuen Bekannten stellen ein breites Spektrum der Möglichkeiten dar, sich von der gewohnten Routine, mit der sie im Sanatorium zurechtkommen musste, abzugrenzen. Symptomatisch erscheint die

27 Maciej Bożek. Osobowościowe struktury uspołecznienia a zaburzenia regulacji zachowań społecznych nieletnich. [Diss.]. Katowice, 2017, 64–68. 28 Dołęga, »Samotność jako stan psychiczny«, 268; Grażyna Fabiszewska. »Kwestionariusz bezradności wyuczonej jako narzędzie oceny postawy życiowej kobiet«. Studia psychologica, 2001, 2, 175–176. 29 Remarque, Der Himmel, 121. 30 https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ (16.09.2021).

140

Das Motiv der Einsamkeit

Innenwelt der Protagonistin, die ihre Ängste nicht zu Tage treten lässt. Verloren in der sie umgebenden Wirklichkeit versucht sie, jeglichen Gedanken an die Einsamkeit zu verdrängen, und gibt sich Illusionen hin. Der fehlende Einfluss auf ihre Gesundheit setzt sie der Einsamkeit aus31 und überschattet ihre Absichten, zumal die Folgen der Gesundheitsverschlechterung im Widerspruch zu ihren Erwartungen stehen und sie dazu bewegen, sich von dem Rennfahrer zu distanzieren, obwohl er seinen Plan, Lillian zu heiraten, verwirklichen will. Ein besonderes Gewicht kommt an dieser Stelle ihren psychischen Veranlagungen zu: Das Bewusstsein des bevorstehenden Todes offenbart die Unausweichlichkeit ihrer Lebenslage und konfrontiert sie mit der Einsamkeit. Die Hoffnungslosigkeit erlaubt ihr nicht, auf die vertraute Rettungsweise zurückzugreifen; die Protagonistin artikuliert diese Tatsache unmissverständlich: Aber ich weiß nicht, ob man dann nicht ohnehin so hoffnungslos allein ist, selbst wenn Scharen von Getreuen um das Bett herumstehen, dass man es gar nicht bemerkt. Camilla Albei, die im Sanatorium starb, hatte den Wunsch, dass wenigstens einer ihrer Liebhaber dabeisein sollte, und um sicher zu sein, hatte sie deshalb mit großer Mühe die Beziehungen gleich zu dreien aufrechterhalten und dafür gesorgt, dass alle innerhalb eines Tages an ihrem Bett erscheinen konnten.32

In der Einstellung Lilians manifestieren sich Resignation und Apathie. Nicht ohne Bedeutung ist dabei der Unfall Clerfayts, der Lillian vergegenwärtigt, dass ihre Handlungs- und Kontaktmöglichkeiten begrenzt sind. Man gewinnt den Eindruck, dass ihr Umgang mit Einsamkeit für ihre psychische Verfassung als deprimierend empfunden wird. Sie ist nicht in der Lage, dieser Erfahrung zu entgehen, obgleich sie einen Wandel in ihrem Leben zu vollziehen versuchte. Das Bedürfnis, ins Sanatorium zurückzukehren, legt nicht nur ihre Angst vor dem Tod und Einsamkeit offen, sondern veranschaulicht auch ihre fehlende Anpassung an die Gesellschaft, die sich ihrer ausweglosen Lage nicht gewahr wird. Ihre emotionale Erschöpfung und die damit verbundene Einsamkeit werden erst auf dem Sterbebett nivelliert: »Sie starb schnell und überraschend und allein.«33 In diesem Zusammenhang muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Protagonistin, die ständig nach emotionaler und körperlicher Nähe strebte, ihre Einsamkeit nicht auflösen konnte und damit das Schicksal der meisten Patienten des Sanatoriums teilte, was Marie-France Hirigoyen zufolge die Überzeugung bestätigt, dass »dem Tod […] niemand entrinnen [kann]. […]. Man [wird] allein geboren und [stirbt] allein.«34 31 Dołęga, »Samotność jako stan psychiczny«, 269. 32 Remarque, Der Himmel, 369. 33 Ebd., 234. 34 Hirigoyen, Solotanz, 19.

141

Magdalena Popławska

Einsamkeit der verlorenen Generation in den Romanen Im Westen nichts Neues und Drei Kameraden Einen Einblick in die Geschichte der »verlorenen Generation« gewähren die Romane Im Westen nichts Neues und Drei Kameraden, die sich mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen. Die Protagonisten werden ihrer Freiheit und Jugend beraubt. Als junge Menschen, die Klassenkameraden sind, müssen sie an der Front kämpfen und alle ihre Pläne aufgeben. Der jungen Generation wird eine bestimmte Lebensweise aufgedrängt, die sich von ihren Vorstellungen stark unterscheidet und nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch ihre Existenz bedroht. In den Strudel der Kämpfe an der Front hineingeworfen und mit der Brutalität des Krieges konfrontiert, kämpfen sie nicht nur ums Überleben, sondern sind auch der Einsamkeit ausgesetzt.35 Die Gräuel des Krieges, die sie am eigenen Leibe erfahren, prägen ihre Existenz und bleiben für immer in ihren Erinnerungen. Die Einsamkeit hinterlässt ihre Spuren ungeachtet der Kontaktmöglichkeiten an der Front. Die facettenreiche Erfahrung bedrückt die Soldaten und wird zu ihrem Verhängnis. Berücksichtigt man die Lage der Protagonisten, so wird die Ursache ihrer Einsamkeit ersichtlich: Sie werden dem militärischen Drill unterworfen und durch den feindlichen Artilleriebeschuss verletzt oder getötet, was sie besonders heftig mit dem Gefühl der omnipräsenten Einsamkeit konfrontiert. Diese Erfahrung konstituiert sich jedoch nicht auf der physischen Ebene des Lebens. Betroffen ist vor allem die emotionale Sphäre der menschlichen Existenz. Beachtung verdient an dieser Stelle Paul Bäumer – der Protagonist des Romans Im Westen nichts Neues, der nicht nur aktiv an diesen Ereignissen teilnimmt, sondern auch Augenzeuge ist, während seine Kameraden ums Leben kommen. Infolge des Verfalls seiner Werte fühlt er sich einsam, worüber er bewusst reflektiert. Der Protagonist ist bemüht, dank der besonderen Unterstützung seines älteren und erfahrenen Kameraden Katczinsky seine innere Einsamkeit zu bewältigen. Die Befindlichkeit des jungen Mannes unterliegt jedoch dem Einfluss dieser Erfahrung, wobei als eine Lösung in Anbetracht der fehlenden Möglichkeit, einen anderen Zufluchtsort zu finden, zwischenmenschliche Kontakte angesehen werden. Ein besonderes Gewicht kommt der Fähigkeit des Protagonisten zu, seinen emotionalen Zustand zu definieren: »Ich setze mich hoch, ich fühle mich sonderbar allein. Es ist gut, dass Kat da ist. Er sieht gedankenvoll zur Front und sagt: ›Ganz schönes Feuerwerk, wenn’s nicht so gefährlich wäre.‹«36 Was seine psychische Disposition anbelangt, darf nicht übersehen werden, dass das deprimierende Gefühl der Einsamkeit negative Züge aufweist und sich besonders während der Angriffe der Gegner verstärkt. Diese Besonderheit lässt schlussfolgern, dass die Einsam-

35 https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ (24.09.2021). 36 Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, 64.

142

Das Motiv der Einsamkeit

keit sich als Konsequenz der Angst vor Lebensverlust ergibt, infolgedessen fühlt sich Paul Bäumer seiner Handlungsfähigkeit beraubt. Außerdem vergegenwärtigt er sich die Aussichtslosigkeit eigener Lebenslage. Verblüffend erscheint dabei die Tatsache, dass dieses Gefühl keine innere Rebellion provoziert, sondern ein Hinweis auf die allmähliche Akzeptanz des unausweichlichen Schicksals ist: Ich bin so allein und so ohne Erwartung, dass ich ihnen entgegensehen kann ohne Furcht. Das Leben, das mich durch diese Jahre trug, ist noch in meinen Händen und Augen. Ob ich es überwunden habe, weiß ich nicht. Aber solange es da ist, wird es sich seinen Weg suchen, mag dieses, das in mir »Ich« sagt, wollen oder nicht.37

Die Unangepasstheit an die ihn umgebende Realität raubt ihm seine Illusionen und lässt auch andere Anzeichen seiner Einsamkeit aufkommen: Angst vor dem Tod, Hoffnungslosigkeit und fehlende Geborgenheit. Seine Einsamkeit konstituiert sich, weil zwischen den Vorstellungen des jungen Mannes und der Wirklichkeit an der Front eine Dichotomie zustande kommt: Seine Generation ist durch das Stigma der Einsamkeit gekennzeichnet, obwohl sie nicht auf den Krieg vorbereitet war. Dies beeinträchtigt seine Bestrebungen oder Absichten, weil er sie nicht erfüllen kann: Am liebsten bin ich allein, da stört mich keiner. Denn alle kommen stets auf dasselbe zurück, wie schlecht es geht und wie gut es geht, der eine findet es so, der andere so, – immer sind sie rasch bei den Dingen, die ihr Dasein darstellen. Ich habe früher sicher genauso gelebt, aber ich finde jetzt keinen Anschluss mehr daran.38

In Anlehnung an Erik Erikson kann bemerkt werden, dass es zwischen den bestehenden Verhältnissen und der Entwicklungsstufe des jungen Soldaten zu einer Spannung kommt. Die Entfaltung der Weltanschauung und somit die sich konstituierende Identität des Mannes unterliegen den äußeren, sozialen Einflüssen, infolgedessen vollzieht sich eine innere Störung, die wiederum die Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft hervorruft und die Entwicklungsphase negativ prägt.39 Die Situation an der Front, der omnipräsente Tod und das Gefühl, in seinem Leben nichts erreicht zu haben, sind nicht die einzigen Auslöser der Einsamkeit: Das fehlende Verständnis der Gesellschaft, die den Krieg als außerordentliche Pflicht für das Wohl der Nation wahrnimmt, dekonstruiert das Zugehörigkeitsgefühl des

37 Ebd., 293. 38 Ebd., 172. 39 https://psychoterapia-mozaika.pl/teoria-rozwoju-psychospolecznego-wedlug-eriksona/; http://www.szpital.swidnica.pl/wp-content/uploads/2018/10/2001-EHE-Kryzysy-irozw%C3%B3j-osobowo%C5%9Bci.pdf (16.09.2021).

143

Magdalena Popławska

Protagonisten und entblößt die seelische Verlassenheit Bäumers, der die Teilnahme am Krieg als einen Moralzwang betrachtet. Daraus lässt sich ableiten, dass seine Einsamkeit nicht nur das Ergebnis der Kriegsgeschehen und des Todes ist, sondern sich auch darauf bezieht, von der Umgebung nicht verstanden zu werden. Angesichts der mangelnden Perspektiven, sich von der Einsamkeit zu befreien, gibt der Protagonist alle Wünsche auf. Auf Erwartungen und Träume haben auch die Protagonisten des Romans Drei Kameraden verzichtet. Als ehemalige Soldaten, Robby Lohkamp, Gottfried Lenz und Otto Köster, die Autoreparaturen in ihrer eigenen Werkstatt durchführen, fühlen sie sich jeglicher Lebensperspektive beraubt, zumal die Kriegsanstrengungen ihre Spuren in der psychischen Verfassung der jungen Männer hinterlassen haben.40 Der Einfluss der Kriegsereignisse bestimmt ihren Alltag, und die ständige Konfrontation mit den schmerzhaften Kriegserinnerungen bewegt sie dazu, ihre Kümmernisse im Alkohol zu ertränken: Ich fühlte mich plötzlich allein und leer. Ein feiner Regen sprühte hernieder. Ich blieb vor einem Schaufenster stehen. Ich hatte zuviel getrunken, das merkte ich jetzt. Nicht, dass ich schwankte – aber ich merkte es doch deutlich […] Hier allein, auf der kalten, autobusdröhnenden Straße sah das alles ganz anders aus als im Halbdunkel der Bar.41

Eine besondere Gewichtung kommt dem Kriegstrauma zu, das die Protagonisten permanent begleitet und ihren seelischen Zustand negativ prägt. Die gestörte Entwicklung der Persönlichkeit sowie die negative Betrachtung des eigenen Lebens bedingen die Einsamkeit Robbys, der nicht selten die Einsamkeitsmechanismen als destruktiv wahrnimmt. Die grausamen Erlebnisse, die in Verbindung mit seiner Generationszugehörigkeit stehen, sowie die von ihm gesammelten Lebenserfahrungen üben einen großen Einfluss auf seine psychische Verfassung aus und evozieren Gefühle der Einsamkeit.42 Bezeichnenderweise unternimmt der Protagonist zahlreiche Versuche, um diese Erfahrung zu bewältigen. Als ein seine Empfindung determinierender Faktor wird sein Bedürfnis angesehen, eine erfüllte Liebesbeziehung anzubahnen: Der Mangel an emotionaler Nähe und tiefen Beziehungen erscheint ihm unerträglich, deswegen wird auf die Partnerschaft ein besonderer Wert gelegt. Das Streben nach Liebe und emotionaler Wärme liefert ein Indiz für die Lösung, Einsamkeit zu verbannen:

40 https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ (20.09.2021). 41 Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Köln: Kiepnehueer & Witsch, 2014, 35. 42 https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ (20.09.2021).

144

Das Motiv der Einsamkeit

Sie haben’s gut, Sie sind allein, sagte Hasse. Alles ganz schön – wer allein war, konnte nicht verlassen werden. Aber manchmal, abends, dann zerbrach das künstliche Gebäude, das Leben verwandelte sich in eine schluchzende, jagende Melodie, einen Strudel von wilder Sehnsucht, von Begehren, Schwermut und Hoffnung, herauszukommen aus diesem sinnlosen Betäuben, heraus aus dem sinnlosen Geleier dieser ewigen Drehorgel, ganz gleich, wohin es ging. Ach, dieses armselige Bedürfnis nach einem bisschen Wärme – konnten es denn nicht zwei Hände sein und ein geneigtes Gesicht? Oder war das auch nur Täuschung und Verzicht und Flucht? Gab es denn etwas anderes als Alleinsein? Ich schloss das Fenster. Nein, es gab nichts anderes. Für alles andere hatte man zuwenig Boden unter den Füßen.43

An dieser Stelle lässt sich an die These von Marie-France Hirigoyen anknüpfen, die Liebesabenteuer und Freundschaften für eine Möglichkeit der Einsamen hält, ihr Alleinsein aufzulösen.44 Einsamkeit stellt ein subjektives Gefühl dar, mit dem oft Verzweiflung und Verlorenheit einhergehen, infolgedessen stürzt sich Robby von einer Beziehung in die nächste; seine bisherigen Beziehungen erwiesen sich als flüchtig, sie bieten jedoch die Chance, »die Einsamkeit des Lebens zu vergessen, […] die Sinnlosigkeit des Daseins zu bestehen?«45 Der Protagonist, der über seinen seelischen Zustand oft reflektiert, vollzieht einen Wandel in seinem Leben, indem er mit der schwerkranken Pat Hollmann, der Tochter eines Offiziers, eine Beziehung eingeht. Die Einsamkeit beider Figuren wird zum Bindemittel, das sie zusammenhält. Ihre Bemühungen, eine relative Normalität ohne Einsamkeit zu erreichen, werden jedoch vereitelt. Der Gesundheitszustand von Pat verschlechtert sich, infolgedessen landet sie im Sanatorium und stirbt bald. Der Protagonist, der seine Einsamkeit zu beheben schien, wird nach dem Tod der Geliebten erneut mit dieser Erfahrung konfrontiert. Somit wird dieses Phänomen zu seinem Verhängnis. Von Belang sind die Innen- und Außenwelt der Figur, zumal beide seine Einsamkeit hervorrufen.46 Um das Bild der Einsamkeit bei Remarque abzurunden, kann man auch auf einsame Prostituierte, alte Jungfern oder sogar einsame Ehegatten stoßen. Einsamkeit der Betroffenen rekurriert nicht ausschließlich auf die Isolierung von anderen Menschen: Sie entsteht vor allem auf der emotionalen Ebene. Die unabdingbare Voraussetzung dafür ist das fehlende Verständnis seitens der nahe stehenden Per-

43 Remarque, Drei Kameraden, 71. 44 Hirigoyen, Solotanz, 19. 45 Remarque, Drei Kameraden, 223. 46 Agnieszka Gawron. »Samotność jako problem literaturoznawczy«. Domeracki/Tyburski (Hg.), Zrozumieć samotność, 31.

145

Magdalena Popławska

son. Der Mechanismus der Einsamkeit wird auch durch unterschiedliche Lebensauffassungen und Erwartungen angetrieben, zumal diese Faktoren die Distanz zwischen den Partnern vergrößern, was in der Ehe von Herrn Hasse eintritt. Sein Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Beziehungen verstärkt das Gefühl der Einsamkeit und verhindert die meisten Möglichkeiten deren Linderung. Dabei wird sie von ihm vorwiegend als Last betrachtet, die zu seinem Scheitern führt: Nach dem Fremdgehen seiner Frau erträgt er seine Einsamkeit nicht mehr und begeht Selbstmord, was die Tatsache bekräftigt, dass »Alleinsein – richtig Alleinsein, ohne jede Illusion – […] kurz vor Wahnsinn und Selbstmord [kommt].«47 Auch andere Protagonisten versuchen diese Erfahrung zu verdrängen, indem sie der Alkoholsucht verfallen, wie ehemalige Soldaten, oder sich ihrer Arbeit widmen wie die alte Jungfer Elfriede Müller. Die getroffenen Maßnahmen sind aber nicht immer erfolgreich. Symptomatisch ist die Dimension der Einsamkeit, die vor allem destruktive Züge aufweist und mit Depression, Niedergeschlagenheit oder Schwermut in Verbindung steht. Fazit Remarques Werk führt mehrere Beispiele für das Phänomen der Einsamkeit an. Einsame Menschen entstammen verschiedenen Gesellschaftsschichten, sind unterschiedlichen Alters und haben andere Erwartungen vom Leben. Die meist vertretene Form dieser Erfahrung bezieht sich auf die psychische Sphäre des Lebens der Protagonisten, die sich in Anlehnung an Janusz Gajda aus den mangelnden zwischenmenschlichen Beziehungen ergibt.48 In den ausgewählten Werken überschneiden sich auch andere Ursachen, die Einsamkeit auslösen. Sie scheint das Ergebnis der Kriegserfahrungen zu sein oder hängt mit den verlorenen Perspektiven der Soldaten zusammen. Angesichts dieser Ergebnisse liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der Mensch zum Leben in der Gemeinschaft prädestiniert ist und diese Erfahrung auf die Störung der Persönlichkeitsentwicklung jener Menschen zurückzuführen ist, die ihre Hoffnungen aufgeben müssen. Als ein wichtiger Aspekt, der die Einsamkeit determiniert, erscheint der Prozess der Nachahmung und der erlernten Hilfslosigkeit, der den Figuren eine bestimmte, negativ durchtränkte Lage aufdrängt, auf die sie keinen Einfluss haben. Aus den gelieferten Beispielen wird außerdem deutlich, dass ihre Einsamkeit sich ausschließlich destruktiv auf die Protagonisten auswirkt. Daher kann, Zofia Dołęga zufolge, ein Zusammenhang von Krisensituation und der Einsamkeit erkannt werden,49 was bei Erich Ma-

47 Remarque, Drei Kameraden, 109. 48 Gajda, »Trzy aspekty samotności«, 181. 49 Dołęga, »Samotność jako stan psychiczny«, 254.

146

Das Motiv der Einsamkeit

ria Remarque wiederum die Wahrnehmung des Todes mitbestimmt: Der Mensch fühlt sich angesichts der Ungeheuerlichkeit des Todes einsam. Auf der anderen Seite wird er von der Umgebung ausgeschlossen und damit von der Wirklichkeit abgekapselt. Verblüffend ist dabei die passive Haltung der Protagonisten: Sie fügen sich ihrem Schicksal und leiten oft keine Maßnahmen ein, um Änderungen an ihrer Lage vorzunehmen. Remarques Figuren weisen daher ein gemeinsames Merkmal auf: Ihre Einsamkeit führt zu ihrem Scheitern und alle Möglichkeiten, sich von dieser Erfahrung zu befreien, erweisen sich als misslungen.

147

148

Simon Hansen

Volte gegen das Unrecht Das Spiel in Erich Maria Remarques Flüchtlings-Trilogie Liebe Deinen Nächsten, Arc de Triomphe und Die Nacht von Lissabon

Als die beiden Weltkriegsromane Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück am 10. Mai 1933 von den Nationalsozialisten verbrannt werden, schweigt ihr Autor zu den Vorgängen. Erich Maria Remarque hat Deutschland bereits 1932 in die Schweiz verlassen und wird sein Leben lang nicht dauerhaft in sein Geburtsland zurückkehren. Durch sein Exil ist Remarque, dem 1938 die Staatsbürgerschaft aberkannt wird,1 von Anfang an kein deutscher, sondern ein internationaler Autor, seine Romane häufig erst in der englischen Übersetzung verfügbar. Die deutsche Leserschaft und auch Schriftsteller2 wie z. B. Thomas Mann oder Bertolt Brecht taten sich zeitlebens schwer mit dem – so der Vorwurf – unpolitischen,3 gefälligen

1 Auch in der wieder demokratisch legitimierten Bundesrepublik wurde bei Remarque und anderen Exilanten die Aufhebung der Staatsbürgerschaft nicht wieder rückgängig gemacht: »Die Ausbürgerung der Emigranten ist nicht, wie man erwartet hätte, mit dem Ende des Dritten Reiches allgemein annulliert worden. Man hat ihnen nur gestattet, einzeln Anträge auf eine Wiedereinbürgerung zu stellen. Das mag gut gemeint gewesen sein; aber da sie keine Anträge auf Ausbürgerung gestellt hatten, ist es eher demütigend und fast beleidigend, das zu verlangen.« Erich Maria Remarque. »Größere und kleinere Ironien meines Lebens. Interview mit sich selbst (1966)«. Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966. Köln 1994, 138–143, hier 139. 2 Vgl. Wilhelm von Sternburg. »Als wäre alles das letzte Mal«. Erich Maria Remarque. Eine Biographie. Köln 1998, 187–188. Ganz ohne Neid sei dieses Urteil jedoch auch nicht gewesen, weil Remarque im Gegensatz zu vielen anderen Exilschriftstellern großen finanziellen Erfolg mit seinen Romanen und deren Hollywoodverfilmungen hatte. 3 Helga Schreckenberger zeichnet ein differenzierteres Bild, indem sie darlegt, dass sich Remarque zwar nie für eine politische Partei engagiert hat, seine humanistischen Betätigungen jedoch stets einer pazifistischen Weltanschauung folgten: Remarque unterstützte den European Film Fund, der geflüchteten Intellektuellen und Künstlern finanziell half oder mittels Visa und Finanzierung die Einreise in die USA ermöglichte. Remarque arbeitete zudem für das Office for Strategic Services: Dieses amerikanische Amt stellte während der Endphase

149

Simon Hansen

und unbegabten Schriftsteller. Auch die deutsche Literaturwissenschaft hat sich im Verhältnis zum großen internationalen Erfolg seiner Romane lange Zeit nicht sonderlich für Remarque interessiert.4 Erst ab den 1990er Jahren erfuhr das Werk laut Thomas F. Schneider eine Neubewertung: Die in ihrer Anzahl zwar überschaubaren Analysen zu literarischen Verfahren5 zeigen, dass unter der vermeintlich ›glatten‹ Oberfläche des Erzählstils komplexe Verweis- u. Motivstrukturen vorhanden sind, die die weltweite Einschätzung R.s als einer der bedeutendsten Autoren der dt. Literatur des 20. Jh. auch ästhetisch zu rechtfertigen vermögen.6

Auf eine komplexe Motivstruktur im Werk Remarques ist die Literaturwissenschaft bisher jedoch noch nicht näher eingegangen, nämlich auf die des Spiels. Der Kulturhistoriker Johan Huizinga definiert das Spiel als eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Raum und Zeit nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des ›Andersseins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹.7

Im Folgenden soll ausgehend von Remarques Roman Liebe Deinen Nächsten (1941) exemplarisch gezeigt werden, welche Funktion das Spiel in Remarques Romanen8 erfüllt. Bei den Spielsituationen, denen sich die Protagonisten Kern

4 5

6

7 8

des Zweiten Weltkrieges Überlegungen an, wie es mit Deutschland nach dem Krieg weitergehen sollte. Remarque propagierte dabei stets eine aufklärerische und erzieherische Richtung: Neben der juristischen Verurteilung sollte es seiner Ansicht nach um eine lückenlose und konsequente Aufdeckung der Verbrechen gehen. Mit Blick auf die Zukunft sollten vor allem die Kunst und die Literatur für eine re-education eingesetzt werden. Vgl. Helga Schreckenberger. »Erich Maria Remarque im amerikanischen Exil«. Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque. Leben, Werk und weltweite Wirkung. Osnabrück 1998, 251–267. Eine Ausnahme bildet hier freilich Im Westen nichts Neues (1929), zu dem als prototypischem deutschen Antikriegsroman zahlreiche Forschungsarbeiten vorliegen. Vgl. exemplarisch Marianna Paranova. »...das Symbol der Ewigkeit ist der Kreis.« Eine Untersuchung der Motive in den Romanen von Erich Maria Remarque. Berlin 2003; Heinrich Placke. Die Chiffren des Utopischen. Zum literarischen Gehalt der politischen 50er-Jahre-Romane Erich Maria Remarques. Göttingen 2004. Thomas F. Schneider. »Erich Maria Remarque«. Wilhelm Kühlmann (Hg.). Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Band 9. 2. Aufl. Berlin, New York 2010, 551–554, hier 554. Johan Huizinga. Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 20. Aufl. Reinbek 2019, 37. Das Spielmotiv lässt sich auch in weiteren Romanen Remarques nachweisen: In Der Weg zurück beispielsweise spielen die Kriegsheimkehrer Skat, um den schwer erträglichen Alltag

150

Das Spiel in Remarques Flüchtlings-Trilogie

und Steiner konsequent aussetzen, handelt es sich dabei keineswegs um freiwillige oder vergnügliche Beschäftigungen. Da die Spielsituationen stets in einem engen Zusammenhang zu ihrem Leben als Staatenlose stehen, werden im erbarmungslosen Existenzkampf die Spielregeln konsequent gebrochen. Liebe Deinen Nächsten (1941)9 ist der erste von drei Romanen im Werk Remarques, der das Schicksal deutscher Flüchtlinge nach der Machteroberung der Nationalsozialisten thematisiert: Die erzählte Zeit umfasst die Jahre 1936 bis 1937. Arc de Triomphe (erzählte Zeit November 1938 bis September 1939) und Die Nacht von Lissabon (erzählte Zeit 1939 bis 1942) setzen die Handlung zwar nicht fort, schließen aber zeithistorisch und thematisch an Liebe Deinen Nächsten an. Die Protagonisten aller drei Romane sind als Staatenlose ohne Pässe der Willkür der Polizei und der Justiz ausgeliefert. Sie führen, wie es in Die Nacht von Lissabon an einer Stelle heißt, ein Kugel-Dasein: »Eines, das nirgendwo bleiben kann; das sich nie ansiedeln darf; immer im Rollen bleiben muß. Das Dasein des Emigranten«.10 Anschließend soll daher gezeigt werden, wie in den beiden im Anschluss erschienenen Romanen der Flüchtlings-Trilogie11 das in Liebe Deinen Nächsten etablierte Spielmotiv weitergeführt und zunehmend vom Merkmal der freiwilligen und mit Freude verbundenen Handlung entkoppelt wird.

zu überstehen: »Jupp und Valentin hocken etwas verlassen in einer leeren großen Korporalschaftsbude. Tjaden ist überhaupt noch nicht zurückgekommen. Er ist immer noch im Puff. Die beiden andern begrüßen uns erfreut, denn nun können sie einen Skat ansetzen. [...] Willy lehnt sich genußreich an die Spindwand und zeigt uns einen haushohen Grand. Aber Valentin grinst gefährlich; er hat einen noch mächtigeren Null aus der Hand in der Flosse.« Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. Berlin 1982, 52–53). In Der Funke Leben etablieren vor allem die KZ-Wärter perverse Spielsituationen, um die Insassen bis zum Tod zu quälen: »›Und es war ein Fluchtversuch?‹ fragte Weber. ›Zu Befehl.‹ Beide wußten, daß es kein Fluchtversuch gewesen war. Es war nur der Name für ein beliebtes Spiel der SS. Man nahm die Mütze eines Sträflings, warf sie hinter sich und befahl ihm, sie wiederzuholen. Passierte er einen dabei, so erschoß man ihn von hinten wegen Fluchtversuchs. Der Schütze bekam dafür gewöhnlich einige Tage Urlaub.« Erich Maria Remarque. Der Funke Leben. Köln 2000, 338. 9 Liebe Deinen Nächsten wird zunächst 1939 in englischer Übersetzung unter dem Titel Flotsam veröffentlicht. Die umfassend überarbeitete Buchausgabe erscheint ebenso wie die in Schweden verlegte deutsche Erstausgabe erst 1941. In der Bundesrepublik erscheint der Roman dann im Jahr 1953. 10 Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. 3. Aufl. Köln 2020, 87. Im Folgenden im Fließtext mit der Sigle ›NvL‹ abgekürzt. 11 Remarque hat die drei Romane in keinen direkten Zusammenhang gestellt. Die Chronologie innerhalb der Erzählzeit, die wiederkehrenden Figurennamen (vgl. Anm. 16) und nicht zuletzt die Modifikation des Spielmotivs sind jedoch gewichtige Argumente dafür, die Romane in Beziehung zueinander zu stellen.

151

Simon Hansen

Das Spiel gewinnen: Liebe Deinen Nächsten Im Zentrum der Handlung von Liebe Deinen Nächsten stehen Ludwig Kern und Josef Steiner, die beide aus Deutschland fliehen mussten: Kern wurde als Minderjähriger zusammen mit seinem jüdischen Vater ausgebürgert. Als Staatenloser wird er in der Folge gejagt »ohne irgendeinen anderen Grund, als daß er geboren worden ist«.12 Der Veteran13 Steiner, der wegen seiner politischen Überzeugungen in ein Konzentrationslager gesperrt wurde, konnte fliehen, musste aber seine Frau in Deutschland zurücklassen. Kern und Steiner lernen sich in österreichischer Haft kennen, wobei sich Steiner für Kern als Mentor erweist, der ihm beibringt, wie man sich als Flüchtling durchschlägt.14 Nach ihrer Freilassung versuchen beide auf unterschiedlichen Wegen, ein Land zu finden, in dem sie zumindest zeitweilig geduldet sind. Nach Gefängnisaufenthalten und zahlreichen Abschiebungen treffen sich Kern und Steiner durch Zufall in Paris wieder. Als Steiner dort einen Brief seiner todkranken Frau erhält, entschließt er sich, in einem hoffnungslosen Unterfangen zu ihr nach Deutschland zurückzukehren, wo er in die Hände der Gestapo fällt. Bevor die Nazis ihn wieder der Folter aussetzen können, stürzt Steiner sich zusammen mit dem ihm bereits aus seiner Vergangenheit bekannten Schergen Steinbrenner15 in den Tod. In einem letzten Akt der Kameradschaft16 hat Steiner für Kern Geld hinterlassen, das ihm und seiner Freundin Ruth17 die Flucht nach Mexiko ermöglicht.18 12 Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten. Köln 2017, 325. Im Folgenden im Fließtext mit der Sigle ›LDN‹ abgekürzt. 13 Wie die Protagonisten in Remarques ersten drei Romanen war Steiner Soldat im Ersten Weltkrieg. Auf dem Weg zurück nach Deutschland holen ihn die Erinnerungen ein: »[D]ie schweren Jahre des Krieges standen wieder auf, als der Zug über die Rheinbrücke donnerte; das Wasser, schillernd und mit dumpfem Rauschen dahintreibend, warf hundert Namen hoch, verschollene, tote, fast schon vergessene Namen, Namen von Regimentern und Kameraden, von Städten und Lagern, Namen aus der Nacht der Jahre, es war ein Anprall, und Steiner stand plötzlich im Sturm seiner Vergangenheit und wollte sich wehren und konnte es nicht.« LDN, 461–462. 14 Dieses Mentorverhältnis zwischen Jüngerem und Älterem gibt es übrigens bereits in Im Westen nichts Neues und auch später in Drei Kameraden. 15 In Der Funke Leben taucht erneut ein KZ-Wärter mit gleichem Namen auf. 16 Eine gleiche kameradschaftliche Aufopferungsbereitschaft lässt sich auch in Drei Kameraden feststellen: Hier verkauft Köster seinen Rennwagen, um seinem Freund Robby den Aufenthalt bei seiner Geliebten Pat im Sanatorium zu ermöglichen. In Die Nacht von Lissabon überlässt Schwarz dem namenlosen Ich-Erzähler Fahrkarten und Geld für die Weiterfahrt in die USA. Er verlangt im Gegenzug, dass der Ich-Erzähler ihm zuhört, um so Schwarz’ Lebensgeschichte vor dem Vergessen zu bewahren. Vgl. NvL, 320–321. 17 Ihr Name ist für Remarques Gesamtwerk bedeutsam: In Liebe Deinen Nächsten heißen die Protagonisten Ludwig Kern und Ruth Holland. In Der Funke Leben taucht die Figur Ruth Holland wieder auf, jedoch heißt ihr ebenfalls inhaftierter Gefährte hier Berger und nicht Kern.

152

Das Spiel in Remarques Flüchtlings-Trilogie

Literaturwissenschaftliche Publikationen, die näher auf Liebe Deinen Nächsten eingehen, verfolgen einen eher biografischen,19 moralisch-politischen,20 zeitdokumentarischen21 oder literaturkritischen Ansatz.22 Eine stärker auf literarische Verfahren ausgerichtete Herangehensweise nutzt Fabienne Amgwerd, die Formen und Funktion des Komischen systematisiert. Sie stellt fest, dass es in Liebe Deinen Nächsten zu Momenten des Zynismus, der getrübten und ungetrübten Komik, der Ironie und  Metakomik kommt.23 Die komischen Effekte resultierten ihrer Analyse nach häufig aus der grotesken Lebenssituation der Flüchtlinge, die durch Widerspruch

Berger wiederum ist wie der Protagonist Ravic in Arc de Triomphe ein sehr begabter Chirurg. Ganz zum Ende des Romans stellt sich heraus, dass Ravic eigentlich Ludwig Fresenburg heißt, er also den gleichen Vornamen trägt wie Kern in Liebe Deinen Nächsten. Eine Figur mit dem Namen Ludwig Fresenburg gibt es dann erneut in Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954). Eine Kontinuität liegt insgesamt jedoch nicht vor, da auch die Frau des Ich-Erzählers in Die Nacht von Lissabon den Vornamen Ruth trägt. Sie kann sich mit ihrem Mann nach Amerika absetzen, wo sie sich jedoch von ihm trennt und einen Amerikaner heiratet. Naheliegender ist es, die Verwendung der Namen mit einem grundsätzlichen Thema in Remarques Literatur zu verbinden: ›Das Papier siegt‹, (vgl. NvL, 140) heißt es in Die Nacht von Lissabon: Der Pass und nicht der Mensch selbst also bestimmt darüber, wer man ist. Alle aufgeführten Figuren handeln mit Identitäten, legen ihre eigene ab und nehmen eine fremde an, um für eine unbestimmte Zeit (bis die Gültigkeit des Passes erlischt) jemand anderes zu sein. 18 Erzähltechnisch wechseln Perspektive und Fokalisierung vor allem zwischen Kern und Steiner, ohne jedoch fest an diese gebunden zu sein: So gibt die heterodiegetische Erzählinstanz beispielsweise auch die Traumbilder des Juden Moritz Rosenthal im Sterbeprozess wieder, sodass insgesamt von einer dominanten Nullfokalisierung zu sprechen wäre. Wie für Remarque typisch verläuft die Geschehensvermittlung jedoch wie in einem Filmskript vor allem über unvermittelte Dialoge. Insgesamt handelt es sich also um eine recht konventionelle Erzählweise, die auf ästhetische Experimente verzichtet. Mit Bezug auf das Gesamtwerk ist jedoch die deutlichere Präsenz der heterodiegetischen Erzählerstimme eher ungewöhnlich, da sonst auf die autodiegetische oder die feste interne Fokalisierung zurückgegriffen wird. Vgl. exemplarisch die vorher erschienenen Romane Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück oder Drei Kameraden. 19 Vgl. Xu Fangfang. »Das gemeinsame Schicksal der kleinen Leute im Zweiten Weltkrieg in Liebe Deinen Nächsten von Erich Maria Remarque«. Literaturstraße. Chinesisch-deutsche Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 11 (2017), 279–303. 20 Vgl. Helga Schreckenberger. »›Durchkommen ist alles‹. Physischer und psychischer Existenzkampf in Erich Maria Remarques Exil-Romanen«. Text + Kritik. Sonderheft: Erich Maria Remarque, 149 (2001), 30–41. 21 Vgl. Thomas A. Kamla. Confrontation with Exile. Studies in the German Novel. Frankfurt am Main, 1975. 22 Vgl. Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. New York, London 2006, 99–127. 23 Fabienne Amgwerd. »Form und Funktion des Komischen bei Erich Maria Remarque. Eine Analyse seiner drei frühen Exil-Romane Drei Kameraden, Liebe Deinen Nächsten und Arc de Triomphe«. Erich-Maria-Remarque-Jahrbuch 15 (2015), 7–35.

153

Simon Hansen

und Willkür bestimmt sei. Amgwerd fragt anschließend nach der Leserwirkung des Komischen, geht aber nicht näher darauf ein, dass die groteske Komik auf der Handlungsebene des Romans häufig mit Spielsituationen und Spielanalogien verbunden ist. Dieser Zusammenhang soll deshalb im Folgenden näher untersucht werden. Bereits im Wiener Gefängnis lehrt Steiner seinen Schüler Kern verschiedene Kartenspiele: »Skat für Emigranten; Jass für die Schweiz; Tarock für Österreich; und Poker für alle anderen Fälle.« (LDN, 33). Durch den Entschluss, alle diese Kartenspiele zu lernen, akzeptiert der noch junge und als Flüchtling noch unerfahrene Kern das Leben als Staatenloser, zu dem Aufenthalte in Haftanstalten in unterschiedlichen Ländern dazugehören. Als sichtbares Abzeichen für dieses Leben bekommt Kerner von Steiner ein Kartendeck, das er selbst ebenfalls von einem erfahreneren Wegbegleiter bekommen hat:24 »Er trug es seitdem stets als eine Art von Amulett mit sich. […] Er war ein guter Schüler Steiners geworden.« (LDN, 211–212) Als beide aus dem Gefängnis entlassen werden, erteilt Steiner Kern einen Rat, der sowohl für das Spiel als auch für das Leben als Flüchtling gilt: »Und vergiß das Kartenspielen nicht. Es lenkt ab, ohne daß man denken muß. Ein hohes Ziel für Leute ohne Bleibe. Du bist nicht schlecht im Jass und Tarock. Im Poker mußt du noch mehr riskieren. Mehr bluffen.« (LDN, 48) In Prag befolgt Kern diesen Hinweis sogleich: Indem er vorgibt, auf nachgeschickte Papiere warten zu müssen, kann er bei der Behörde eine verlängerte Aufenthaltsgenehmigung herausschlagen: »Er log glatt und schnell. Er hätte ebensogern die Wahrheit gesagt, aber er wußte, daß er lügen mußte.« (LDN, 52) Kern wendet also den Bluff, ein im Rahmen des Pokers durchaus legitimes und sogar notwendiges Manöver, erfolgreich im ›gewöhnlichem‹ Leben außerhalb der Spielsituation an. Kurz darauf fordert Kern sein Glück erneut heraus, indem er eine Münze darüber entscheiden lässt, ob er weiter hausieren oder sich mit dem guten Tagessatz zufriedengeben soll: »Fragen wir also das Schicksal der Emigranten, den Zufall. Kopf ist Zufriedenheit, Schrift Weiterhandeln.« (LDN, 98) Das Glück – das Ergebnis ist Schrift  – lässt Kern dieses Mal allerdings im Stich: Weil er keine Arbeitserlaubnis besitzt, droht seine Kundschaft mit einer Anzeige und nimmt ihm seine gesamte Ware ohne Bezahlung ab. Auch der weitaus erfahrenere Trickser Steiner nutzt nach seinem Gefängnisaufenthalt das Pokerspiel, um Geld zu gewinnen. Anders als Kern25 verstößt Steiner dabei gegen die unbedingt bindenden Regeln innerhalb der Spielsituation. Er nutzt die Volte, also einen Kunstgriff beim Kartenmischen, um die anderen unerfahreneren Falschspieler zu besiegen: 24 »Nach fünf Tagen wurde der Falschspieler entlassen. Man hatte nichts gegen ihn finden können. Steiner und er schieden als Freunde. […] Zum Abschied schenkte er ihm das Spiel Karten, und Steiner begann mit dem Unterricht Kerns.« (LDN, 33) 25 Auch Kern spielt während seines Gefängnisaufenthaltes in Wien Poker, um Geld zu verdienen: »Kern und der Blonde spielten zuerst Jass; später Poker. Kern gewann im Poker sieben Schillinge.« (LDN, 212)

154

Das Spiel in Remarques Flüchtlings-Trilogie

Er hatte genau achtgegeben und mischte die Könige unter das Spiel, so daß er von unten her sie dem Dicken austeilen konnte. Es klappte. Der Schwarze ging zum Schein beim Reizen mit, der Dicke verlangte eine Karte. Steiner gab ihm den letzten König. Der Dicke schlürfte und wechselte mit den anderen einen Blick. Diesen Moment benutze Steiner für den Trick mit den Assen. Er warf drei seiner Karten weg und gab sich die beiden letzten Asse, die jetzt oben lagen. Der Dicke fing an zu bieten. Steiner legte seine Karten hin und ging zögernd mit. Der Schwarze verdoppelte. Bei hundertzehn Schilling schied er aus. Der Dicke trieb das Spiel auf hundertfünfzig. Steiner hielt es. Er war nicht ganz sicher. Daß der Dicke vier Könige hatte, wußte er. Nur die letzte Karte kannte er nicht. Wenn es der Joker war, war Steiner verloren. [...] Bei hundertachtzig hörte der Dicke auf. Er legte vier Könige auf den Tisch. Steiner atmete auf und drehte seine vier Asse um. (LDN. 94–95)

Da sich bei diesem Poker in Wirklichkeit jedoch niemand an die Regeln hält,26 handelt es sich nur noch vorgeblich um eine mit Freude verbundene Spielsituation: »Wir brauchen uns wohl nichts vorzumachen«, sagte Steiner. »Krieg ist Krieg. Man muß auch mal verlieren können.« (LDN, 96) Das Spiel dient dem erfahrenen Falschspieler Steiner hier lediglich als nicht ganz risikoarme Möglichkeit, den weniger geschickten oder weniger wissenden Gegnern Geld abzuknöpfen. Im weiteren Verlauf wendet er dann auch wie Kern den Bluff als taktisches Manöver außerhalb einer klar gesetzten Spielsituation an: Als er erfährt, dass Kern zuvor in der Schweiz von dem Nazi Ammers an die Polizei verraten wurde, gibt er sich auf seinem Weg durch das Land als hoher NSDAP-Parteifunktionär aus, um seinen Freund zu rächen: »Steiner hatte richtig kalkuliert. Ammers dachte garnicht daran, ihm zu mißtrauen. Der Gehorsam und die Angst vor der Gestapo saßen ihm viel zu sehr in den Knochen.« (LDN, 392). Steiner nutzt den Bluff, um von Ammers eine Spende über 60 Franken für, wie er sagt, Parteipropaganda in der Schweiz zu bekommen, die er in Frankreich dann an Kern übergibt. Auch wenn es Steiner gelingt, die Ehre seines Freundes wiederherzustellen, dient das Verstellungsmanöver in dieser Szene vor allem einem Selbstzweck. Dass aber der Bluff für die Flüchtlinge im Existenzkampf grundsätzlich notwendig geworden ist, zeigt sich exemplarisch an der Figur des Rechtsanwalts Dr. Goldbach, der auf dem Wiener Prater telepathische Vorstellungen geben muss: Obwohl der »gefürchtete Tiger im Dschungel der Paragraphen« (LDN, 281) gesamte Gesetzbücher auswendig kennt, kann er sich die wenigen Codes für die einstudierte Nummer nicht merken, weil von ihrem Beherrschen seine illegale Anstellung in der Varieténummer und somit sein Überleben abhängt.

26 »Als er selbst mischte, fühlte er die Kartenränder ab. Dann mischte er noch einmal, hob für sich an der Stelle ab, wo er etwas spürte, bestellte einen Sliwowitz, blickte unter den oberen Pack und sah, daß es die Könige waren, die etwas beschnitten waren.« (LDN, 92)

155

Simon Hansen

Insgesamt versuchen sich Kern und Steiner über das Spiel (Poker) und Manöver des (Falsch-)Spiels (den Bluff und die Volte) gegen ihre ausweglose Situation und das Unrecht zu wehren. Die Etablierung von Spielsituationen und die Übertragung ihrer Prinzipien auf die Lebensrealität als Flüchtling beziehen sich hierbei auf die Handlungsmöglichkeiten der Figuren. Über diese Dimensionen des Spielmotivs hinaus weist das Leben als Staatenloser, das durch Haft und Verfolgung durch Zollbeamte gekennzeichnet ist, weitere grundsätzliche Spielanalogien auf. Nach seinem zweiten Gefängnisaufenthalt in Wien sagt Kern zu Steiner, dass er nun in die Schweiz wolle. Steiner stellt dazu fest: »Die Schweiz ist kein Kinderspiel. Fremdes Land, – da muß man gut beieinander sein.« (LDN, 235) Die Chancen, der Polizei zu entkommen, lassen sich dabei anscheinend berechnen, wie der strategisch agierende Flüchtling Binder dem unerfahreneren Kern weißmachen will: »Woher kommen Sie?« fragte Binder. »Aus Wien.« »Da müssen Sie einiges umlernen. Passen Sie auf! Sie können natürlich bei der Polizei eine kurze Aufenthaltserlaubnis bekommen. Nur für ein paar Tage selbstverständlich, dann müssen Sie raus. Die Chance, ohne Papiere eine zu bekommen, ist augenblicklich keine zwei Prozent; die  Chance, sofort ausgewiesen zu werden, etwa achtundneunzig. Wollen Sie das riskieren?« »Auf keinen Fall.« »Richtig! […] Wenn Sie danach erwischt werden, gibt es Gefängnis.« »Das weiß ich«, sagte Kern. »Wie überall.« »Gut. Sie schieben das hinaus, wenn Sie illegal bleiben. Natürlich nur, bis Sie zum erstenmal erwischt werden. Das ist Geschicklichkeits- und Glückssache.« (LDN, 246)

Ein erfolgreicher Flüchtling muss wie ein geübter (Falsch-)Spieler agieren, indem er auf Geschicklichkeit, Glück und die statistische Auswertung seiner Chancen setzt. Als auch Steiner Wien verlassen muss, wird er zwischen den Grenzen Österreichs und der Schweiz hin- und hergeschoben: Gegen zehn Uhr abends meldete er sich am Zollamt. Er erklärte, gerade aus der Schweiz herübergeschoben worden zu sein. »Schön«, sagte ein alter Zollbeamter mit einem Kaiser-Franz-Josefs-Bart. »Das kennen wir. Morgen früh schicken wir Sie zurück. […]« (LDN, 353–354)

Während Steiner notgedrungen zu einem Spielstein in einem grotesken und, wie es in Die Nacht von Lissabon heißt, ›Schachspiel mit Menschen‹27 wird, fängt er aus Langeweile an, mit den Grenzbeamten Tarock zu spielen: 27 »Die Polizei faßte mich und steckte mich wegen wiederholter unerlaubter Einreise für vier Wochen ein. Dann begann das alte Spiel: ich wurde bei Basel über die Grenze geschoben, von den Schweizern zurückgeschickt, von den Franzosen an der anderen Stelle wieder hinübergebracht, eingesperrt – Sie kennen ja dieses Schachspiel mit Menschen.« (NvL, 18)

156

Das Spiel in Remarques Flüchtlings-Trilogie

Der österreichische Zoll spielte mit dem Mute der Verzweiflung gegen ihn. Sie kämpften, aber sie waren fair. Um ein Uhr nachts nannten sie sich bei ihren Vornamen. Um drei Uhr duzten sie sich. Und um vier Uhr waren sie völlig familiär; […] Um fünf Uhr kam der Zöllner vom Dienst herein. »Kinder, es ist die höchste Zeit, Josef über die Grenze zu bringen.« (LDN, 355)

Die gleiche Situation wiederholt sich dann auf der Schweizer Grenzseite, jedoch wird hier landestypisch Jass gespielt: »Die Schweizer waren wunderbare Spieler. Sie hatten eine eiserne Ruhe und enormes Glück.« (LDN, 357) In der gleichen Nacht muss Steiner die Schweiz dann aber wieder Richtung Österreich verlassen, wo der Zoll ihn bereits für die Revanche erwartet. Auch wenn Steiner zynisch das Beste aus der Situation macht und sogar Geld gewinnen kann, zeigt die Kriegsmetaphorik28 in dieser Szene doch an, dass es für Steiner weniger Kartenspiel als vielmehr existentielle Auseinandersetzung ist: »Es wurde kurz, aber kräftig gegessen;  – dann begann der Kampf. Alle zwei Stunden wurde einer der Zöllner ausgewechselt gegen den, der dann vom Dienst zurückkam.«  (LDN, 359) Das Kartenspiel wird wie ein Krieg beschrieben, bei dem die Zollbeamten wie Soldaten zwischen den Frontgräben wechseln: »Steiner schlachtete den Zoll ab. Er weidete ihn aus, besonders zwischen drei und fünf Uhr, Franz Josef holte in seiner Verzweiflung Verstärkung heran.« (LDN, 359) Insgesamt weist das unsichere Leben des Flüchtlings zwischen den Ländergrenzen somit Parallelen zu einem zynischen Fangspiel29 auf, in dem der gejagte Flüchtling eine bessere Taktik als seine Fänger haben muss:30 »Gottlob ist der

28 Dass es sich bei diesem Spiel nicht um ein harmloses Vergnügen handelt, verdeutlicht auch die von den Flüchtlingen genutzte Metaphorik, die das Leben mit einem Kriegszustand gleichsetzt: »Letztes Glück für dich, kleiner Kosmopolit, soll vorläufig eine gute Mahlzeit sein. Die alte Soldatenweisheit. Und du bist ein Soldat, vergiß das nicht. Ein Vorposten. Eine Patrouille. Ein Pionier des Weltbürgertums.« (LDN, 241) 29 Die aus den Fugen geratene Weltordnung fasst der in Aphorismen sprechende, gern Schnaps trinkende und so fast ein wenig als die Figuration Remarques erscheinende Marill (!) zusammen: »›Wie ist einem Arzt eigentlich zumute‹, fragte er, ›wenn er sieht, daß täglich neue Bombenflugzeuge und Kanonen gebaut werden, aber keine Hospitäler? Die einen sind doch nur dazu da, um die andern zu füllen.‹ Der Arzt schaute auf. ›Beschissen‹, sagte er, ›beschissen! Schöne Aufgabe: man flickt sie mit der größten Kunst zusammen, damit sie mit der größten Barbarei wieder in Stücke gerissen werden. Warum nicht gleich die Kinder totschlagen! Ist doch viel einfacher.‹ ›Mein Lieber‹, erwiderte der Reichstagsabgeordnete Marill, ›Kinder töten ist Mord. Erwachsene töten ist eine Angelegenheit nationaler Ehre.‹« (LDN, 128) Diese zynische Dialektik ist auch für Brechts Flüchtlingsgespräche charakteristisch. Vgl.: Bertolt Brecht. Flüchtlingsgespräche. Frankfurt am Main 1961. 30 In Die Nacht von Lissabon gibt sich Schwarz vor seinem Jugendfreund Doktor Martens am Telefon als Old Shatterhand aus, um mit ihm ohne Namensnennung in Kontakt zu treten: »Ich mußte an Martens und meine Jugend denken, wenn wir Indianer spielten. Damals war

157

Simon Hansen

Gejagte meistens nach einiger Zeit klüger als der Jäger. Weißt du, warum? [...] Weil für ihn mehr auf dem Spiele steht.« (LDN, 48) Die Rollen zwischen Fänger und Gejagtem sind dabei nicht immer eindeutig vergeben, weil es auch auf Seiten der Polizei und der Behörden Unterstützer der Flüchtlinge gibt und unter den Flüchtlingen Verräter. In Analogie zum Fangspiel fungiert beispielsweise der Wiener Prater, auf dem Steiner und Kern zwischenzeitlich Arbeit finden, wie Kirchen und Museen, Cafés und Hotels in den Flüchtlingsromanen Remarques31 als ein sicherer Ort (›Aus‹, ›Frei‹, ›Klippo‹), an dem der Staatenlose zumindest zeitweise vor der Polizei geschützt ist. Beim Prater handelt es sich allerdings nur vordergründig um einen Ort des ›Andersseins‹,32 da auch hier bereits die brutale und zunehmende Militarisierung des gewöhnlichen Lebens Einzug gehalten hat. Im Flohzirkus ist nach Aussage des Dompteurs: »[…] Alles Dressur. Und Geduld. […] Ich habe das Aas [gemeint ist der Floh mit dem Namen Alexander II., Anm. S.H.] vor der Vorstellung eine halbe Stunde an der Kanone ziehen lassen. An dem schweren Mörser. Davon ist er müde geworden. Und müde macht willig.« »An der Kanone?« fragte Ruth. »Haben denn selbst die Flöhe schon Kanonen?« »Sogar schwere Feldartillerie. […] Es ist halt einmal das Populärste, meine Dame. Und populär bringt Geld!« »Sie schießen aber nicht aufeinander«, sagte Kern. »Sie rotten sich nicht aus – darin sind sie unvernünftiger als wir.« (LDN, 192)

Als Ruth und Kern aus der Geisterbahn zurückkommen, fragt Steiner sie: »›Wart ihr im kleinen Konzentrationslager?‹ ›Was meinst du?‹ ›Die Geisterbahn.‹ ›Ja.‹ Steiner lachte. ›Bunker, Verliese, Ketten, Blut und Tränen – die Geisterbahn ist plötzlich modern geworden‹« (LDN, 154) Beim Riesenrad bekommen Kern und Ruth schließlich zum Andenken Postkarten:  »›[…]Wir wissen nur beide nicht, wem wir sie schicken sollten.‹ ›Nein‹, sagte Kern. ›Ich weiß niemand. Und die, die ich wüßte, haben keine Adresse.‹« (LDN, 194)

es ein Licht im Fenster gewesen: das Zeichen für Lederstrumpf oder Winnetou, der unten wartete. Wiederholte es sich? Gab es das, daß sich etwas wiederholte?« (NvL, 71) 31 Schwarz sagt in Die Nacht von Lissabon zum Ich-Erzähler: »[I]ch kannte, wie immer, hauptsächlich die Kirchen und Museen – nicht weil ich Gott oder die Kunst so liebte, sondern einfach, weil man in Kirchen und Museen nicht nach seinen Papieren gefragt wurde. Vor dem Gekreuzigten und den Meistern der Kunst war man noch Mensch – nicht ein Individuum mit zweifelhaften Ausweisen.« (NvL, 13) In Arc de Triomphe gibt es das Hôtel International: »Das ist hier ein Hotel, wo Refugiés wohnen.« Erich Maria Remarque. Arc de Triomphe. Köln 2020, 17). Im Folgenden im Fließtext mit der Sigle ›AdT‹ abgekürzt. In Drei Kameraden gibt es die Bar International, in der sich die gesellschaftlichen Schichten mischen und jeder Mensch willkommen ist. 32 Vgl. Huizinga, 37.

158

Das Spiel in Remarques Flüchtlings-Trilogie

Für den Staatenlosen liegen die diktierten Regeln nicht offen. Vielmehr muss er wie beim Jass, Skat oder Tarock scheinbar besondere Länderregeln beachten. Dass die Regeln für alle Beteiligten aber letztlich nicht zu durchschauen sind, bringt Kern nach seiner Verhaftung in der Schweiz vor seinem Richter zynisch auf den Punkt: »Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet, als Sie illegal über die Grenze kamen?« […] »Weil ich dann sofort wieder ausgewiesen worden wäre«, erwiderte Kern müde. »Ja, natürlich, das wären Sie.« »Und drüben auf der anderen Seite hätte ich mich wieder sofort beim nächsten Polizeiposten melden müssen, wenn ich nicht das Gesetz hätte verletzen wollen. Von dort wäre ich dann in der nächsten Nacht zurück in die Schweiz gebracht worden. Und von der Schweiz wieder nach drüben. Und von drüben wieder zurück. So wäre ich langsam zwischen den Grenzposten verhungert.« (LDN, 322–323)

Durch Erfahrung, die richtige Strategie, Glück und Kameradschaft33 kann der Staatenlose dieses für ihn existentielle Fangspiel jedoch gewinnen: Kern und Ruth können Europa verlassen, Steiner hingegen scheitert aus freien Stücken, indem er zu seiner todkranken Frau nach Deutschland zurückkehrt. Bevor er sie im Krankenhaus besuchen darf, geht er, um die Zeit totzuschlagen, in eine Kneipe und fordert den Kellner zum Billard heraus:  Wenn ich diese Partie gewinne, wird alles gut, dachte Steiner. Sie lebt, ich sehe sie, sie wird vielleicht wieder gesund – Er spielte konzentriert und gewann die Partie. ›Jetzt gebe ich Ihnen zwanzig Punkte vor‹, sagte er. Diese zwanzig Punkte waren Leben, Gesundheit und Flucht zusammen, und die weißen Bälle und ihr Klicken war wie das Schnappen der Schlüssel des Schicksals. Das Spiel war hart. (LDN, 468)

Das Spiel hat in dieser Szene jede übergeordnete Zweckgebundenheit verloren und dient dem Flüchtling Steiner nur noch dazu, seine Verzweiflung zu kanalisieren.

33 Der verständnisvolle, aber handlungsunfähige Richter fragt Kern: »›Glauben Sie noch an irgend etwas?‹ ›Oh ja; ich glaube an den heiligen Egoismus! An die Unbarmherzigkeit! An die Lüge! An die Trägheit des Herzens!‹ ›Das habe ich gefürchtet. Wie sollten Sie auch anders –‹ ›Es ist noch nicht alles‹, erwiderte Kern ruhig. ›Ich glaube auch an Güte, an Kameradschaft, an Liebe und an Hilfsbereitschaft! Ich habe sie kennengelernt. Mehr vielleicht als mancher, dem es gutgeht.‹« (LDN, 325)

159

Simon Hansen

Das Spiel verlieren: Arc de Triomphe und Die Nacht von Lissabon In den folgenden Romanen der Flüchtlings-Trilogie weist das Spiel insgesamt keine Merkmale der Freude, der Spannung oder der Freiwilligkeit34 mehr auf: In Arc de Triomphe dient das Spiel dem Protagonisten Ravic nur noch als Zeitvertreib, weil er als Illegaler nicht am öffentlichen Leben teilnehmen kann. Er spielt im Hotel International, einem der letzten sicheren Orte in Paris,35 mit dem Russen Morosow Schach, was seine Geliebte Joan in Anbetracht der ernsten Lage nicht verstehen kann: »›Schach! Das ist doch … Jemand, der Schach spielen kann, wenn  …‹ ›Ich hätte es auch nicht geglaubt, aber es ging. Gut sogar. Ich konnte eine Partie gewinnen.‹« (AdT, 353) Anders als beim ›Schachspiel mit Menschen‹, an dem sich Steiner und Kern in Liebe Deinen Nächsten unfreiwillig beteiligen mussten, sind es in dieser freiwillig etablierten Spielsituation (und nur in dieser) die Flüchtlinge, die über die Züge der Spielsteine entscheiden können. Als Ravic durch Zufall auf den Nazi Haake trifft, der ihn vor Jahren in einem Deutschen Konzentrationslager gefoltert hat, nutzt er wie zuvor Steiner den Bluff als Mittel zur Täuschung: Ravic gibt sich vor Haake als Nazi aus, um ihn anschließend zu erschlagen. Im Gegensatz zu Steiners freiwillig initiierter Verstellung steht am Ende von Ravics Bluff somit nicht der harmlose finanzielle Gewinn oder die Wiederherstellung der Ehre, sondern der Mord. Weil Paris für die Flüchtlinge um Ravic nur noch »eine kleine Insel ungewissen Daseins« (AdT, 84) ist, ergeben sich für den »Mensch ohne Zukunft« (AdT, 252) kaum noch Situationen, über Bluff und Volte gegen die unverschuldete Lebenssituation aufzubegehren: »Was soll man machen? Wir lügen, sowenig wir können. Wir müssen – aber wir tun es nicht aus Spaß.« (AdT, 320–321) Zum Ende des Romans formuliert Ravic dementsprechend seine resignierte Einsicht: »Es war eine Gleichgültigkeit, die zu Gleichmut wurde. So wie der Entschluß, nicht zu fliehen. Nicht mehr zu fliehen. Es gehörte zusammen.« (AdT, 589) 34 Vgl. Huizinga, 37. 35 In Liebe Deinen Nächsten verspricht Paris den Flüchtlingen Ruth und Kern noch Hoffnung auf Sicherheit:  »Sie lebten in Paris, das war ihnen genug. Sie hofften auf den nächsten Tag und fühlten sich geborgen. In dieser Stadt, die alle Emigranten des Jahrhunderts aufgenommen hatte, wehte der Geist der Duldung; man konnte in ihr verhungern, aber man wurde nur so viel verfolgt, wie unbedingt notwendig war – und das erschien ihnen schon viel.« (LDN, 409–410). In Die Nacht von Lissabon ist die Stadt für Flüchtlinge kein sicherer Ort mehr: »Jedes Schiff, das in diesen Monaten des Jahres 1942 Europa verließ, war eine Arche. Der Berg Ararat war Amerika, und die Flut stieg täglich. Sie hatte Deutschland und Österreich seit langem überschwemmt und stand tief in Polen und Prag; Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen, Oslo und Paris waren bereits in ihr untergegangen, die Städte Italiens stanken nach ihr, und auch Spanien war nicht mehr sicher. Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und Existenz.« (NvL, 7–8)

160

Das Spiel in Remarques Flüchtlings-Trilogie

In Die Nacht von Lissabon bleibt der Versuch des namenlosen Ich-Erzählers erfolglos, sein Geld im Kasino zu vermehren, um sich davon Schiffstickets zu kaufen: Es war ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen, das Schicksal zu bestechen. […] Ich hatte versucht, wenigstens das Geld zu bekommen, in der einzigen Art, die hier noch möglich war – durch Spielen. Es war sinnlos gewesen, denn selbst wenn ich gewonnen hätte, hätte immer noch ein Wunder geschehen müssen, um auf das Schiff zu kommen. Doch auf der Flucht und in Verzweiflung und Gefahr lernt man, an Wunder zu glauben; sonst würde man nicht überleben. Ich hatte von den zweiundsechzig Dollar, die wir noch besessen hatten, sechsundfünfzig verloren. (NvL, 8–9)

Das Glücksspiel bietet also auch hier keine Möglichkeit mehr, Geld für das eigene Überleben zu sichern. Im Verlauf des Romans kann der Protagonist Schwarz den Bluff noch erfolgreich für seine Flucht aus dem Internierungslager einsetzen: »Ich tat das Unmögliche«, sagte Schwarz. »Es schien, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Ich packte meine paar Sachen ein und ging eines Morgens aus dem Lager auf die Landstraße. Ich versuchte nicht das Übliche: nachts zu entweichen. Ich ging im vollen Licht des klaren Morgens auf das große Eingangstor zu, erklärte der Wache, ich sei entlassen, griff in die Tasche, gab den beiden Wächtern etwas Geld und sagte ihnen, dafür eins auf mein Wohl zu trinken. Es schien so ausgeschlossen, daß jemand so frech sein könne, ohne Erlaubnis öffentlich das Lager zu verlassen […] .« (NvL, 210)

Anders als in Liebe Deinen Nächsten dient der Bluff hier nicht als Mittel, um finanziellen oder moralischen Gewinn zu erzielen, sondern ist für Schwarz’ Überleben notwendig geworden. Er nutzt ihn im Anschluss erneut, um den Nazi-Peiniger Georg zu täuschen: »Ich mußte auf irgendeine Weise aus dem Hause heraus; ich tat deshalb, als Georg vor mir saß, als wäre ich völlig gebrochen. Ich wäre bereit, alles zu sagen, erklärte ich, wenn er mich schone.« (NvL, 297) Durch ein Ablenkungsmanöver gelingt es Schwarz, den ›Lächler‹ Georg auf martialische Art zu töten: »Ich warf mich gegen ihn. Die Klinge, die im Kork steckte, war nicht groß; aber ich traf ihn an der Halsseite und riß sie daran entlang über die Luftröhre.« (NvL, 304) Anschließend gibt sich Schwarz als Georg aus, um zusammen mit seiner Geliebten Helen zu fliehen. Da Helen sich jedoch kurz vor der gemeinsamen Flucht das Leben nimmt, resigniert Schwarz wie schon Ravic und Steiner ohne Hoffnung auf weitere Volten gegen das Unrecht im Existenzkampf als Flüchtling.

161

Simon Hansen

Die Protagonisten als taktische Spieler In Anbetracht ihrer buchstäblich tragischen Ausweglosigkeit wollen die Protagonisten in Remarques Flüchtlingstrilogie unbedingt aus ihren unfreiwillig zugewiesenen Rollen ausbrechen, indem sie ihr Leben opfern oder aufs Spiel setzen: Steiner begeht Selbstmord, indem er sich mit Steinbrenner aus dem Fenster stürzt. Schwarz beschließt zum Ende, sich freiwillig für die Fremdenlegion zu melden: Bei der Fremdenlegion fragt man nicht nach Pässen. Sie wissen, daß man dort Emigranten nimmt. Und so lange es noch Leute wie den Lächler gibt, wäre es ein Verbrechen, ein Leben mit Selbstmord zu verschwenden, das man gegen Barbaren seinesgleichen einsetzen kann. (NvL, 322)

Ravic äußert sich ähnlich, indem er festhält, »dass irgendetwas in der Welt verloren war für immer, wenn er nicht handelte. […] Er wußte, Haake war ein kleiner Beamter des Schreckens, und er bedeutet nicht viel; – aber er wußte plötzlich auch, daß es unendlich wichtig war, ihn zu töten.« (AdT, 528) Im Nachwort zu Arc de Triomphe geht Tilman Westphalen bei seiner Deutung dieses Rachemotivs von einer klaren Intention Remarques aus:  Auch aus diesem Bewusstsein der persönlichen Bedrohung heraus hat sich der unpolitische Individualist und durch und durch überzeugte Zivilist Remarque zum ›militanten Pazifisten‹ gewandelt, der den Widerstand des Individuums gegen seine Peiniger fordert und das alttestamentarische Rachebedürfnis zum Recht und zur Pflicht der Notwehr des Einzelnen gegen die Barbarei fortentwickelt. Hieraus erwächst letztlich die Verpflichtung zum gemeinsamen Kampf für eine bessere Zukunft, wie in den Exilromanen angedeutet und in Der Funke Leben explizit ausgeführt ist.37

Vor dem Hintergrund des herausgearbeiteten Spielmotivs kann der aufopfernde Selbstmord in Remarques Flüchtlingstrilogie aber auch innerliterarisch als ein taktischer Zug wahrgenommen werden: Die Figuren spielen die Strategiespiele Schach38 und Poker, bei denen die Züge des Gegners vorhergesehen werden müs-

37 Tilman Westphalen. »Das Tor des Hades. Nachwort«. Erich Maria Remarque. Arc de Triomphe. Köln 2000, 503. 38 In Liebe Deinen Nächsten ist es der Russe Tschernikoff, der wie Morosow und Ravic zum Zeitvertreib Schach spielt. Er kann der Situation immerhin etwas Positives abgewinnen: »›Gut. Ich bin oft um die Zeit hier. Spiele Schach mit dem süddeutschen Meister. Drüben der Mann mit den Locken. Hätte nie gedacht, das Glück mit einer solchen Autorität in normalen Zeiten zu haben.‹« (LDN, 75)

162

Das Spiel in Remarques Flüchtlings-Trilogie

sen, und die Trumpfspiele Tarock, Jass und Skat. Weil Steiner, Ravic und Schwarz wissen, dass sie bloß Figuren in einem zynischen Spiel mit Menschen sind, setzen sie in Analogie zum Bauernopfer im Schach oder zum gezogenen Trumpf beim Skat ihr Leben ein, um die Handlungsmöglichkeiten des Gegners zu beeinflussen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass bereits das Leben als Flüchtling als ungewolltes, unfreiwilliges Fangspiel verstanden werden muss: Die politischen Verhältnisse zwingen die Figuren in allen drei Flüchtlingsromanen ja gerade in die ihnen zugeschriebene Rolle des Gejagten, sodass sich ihr uneigentliches Verhalten in den Bluff-Situationen demnach als Spiel-im-Spiel ohne Drehbuch bezeichnen ließe.39 Das Spiel dient in Remarques Werk niemals der bloßen Unterhaltung, sondern ist stets mit der todernsten Lebenssituation der Protagonisten verbunden.

39 In Remarques Die letzte Station (UA 1956) wird es zum entscheidenden dramaturgischen Auslöser gemacht: In diesem Drama kommt der KZ-Flüchtling Ross im Zimmer der deutschen Frau Anna unter. Um seinen Verfolger Schmidt zu täuschen, muss Ross die Nazi-Uniform von Annas Mann anziehen und zusammen mit Anna aus dem Stegreif eine Geschichte erfinden, die seine Anwesenheit bei Anna für Schmidt plausibel macht. Diese typischen Merkmale der Komödie (Kostümtausch, Spiel-im-Spiel, Verwechslung) dienen dabei jedoch in keiner Weise der Erheiterung. Vielmehr werden sie in ihr emotionales Gegenteil gekehrt, da vom Gelingen des aufgezwungenen Rollenspiels wie schon in den Flüchtlingsromanen das Überleben der Figuren abhängt.

163

164

Clemens Fuhrbach

Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess und als Scheitern der bürgerlichen Gesellschaft an der Moderne im Roman Der schwarze Obelisk von Erich Maria Remarque

Einleitung Es ist das Jahr 1923.1 Am 3. Januar liegt der Dollarkurs bei 7.525 Mark. Eine Woche später erfährt das Deutsche Reich von den Plänen der Ruhrbesetzung durch Belgien und Frankreich. Die Nationalsozialistische Partei hält am Ende des Monats ihren ersten Parteitag in München ab. Sie erlebt seit dem Vorjahr einen enormen Mitgliederzuwachs. Im Juli »fordert [Adolf Hitler] die Wiederherstellung der ›deutschen Ehre und Freiheit‹ sowie die Außerkraftsetzung des  Versailler Vertrags«.2 Der passive Widerstand gegen Reparationsforderungen führt zur Steigerung der Inflationsdynamik. Im September liegt der Preis für einen Laib Brot in Berlin bei über 10 Millionen Mark. Ein Kilogramm Rindfleisch kostet 76 Millionen Mark. Im Oktober wird ein Ermächtigungsgesetz verabschiedet. Am 11. November steigt der Dollarkurs auf 635 Milliarden Mark. Die Reichsbank kommt inzwischen nicht mehr mit dem Drucken der Banknoten nach und muss über 100 Firmen aus der Privatwirtschaft hinzuziehen.3 In dieser Zeit der politischen Veränderungen und der wirtschaftlichen Unsicherheit spielt der 1956 erschienene Roman Der schwarze Obelisk von Erich Maria Remarque.4 Gleichzeitig ist der Ro-

1 Vgl. Dorlis Blume, Manfred Wichmann. »Chronik 1923«. Deutsches Historisches Museum (Hrsg.). Lebendiges Museum Online (LeMO). Berlin, 02.05.2015, https://www.dhm.de/lemo/ jahreschronik/1923 (06.09.2021). 2 Ebd. 3 Vgl. Ursula Büttner. Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Bonn: Klett-Cotta, 2010, 170. 4 Vgl. Erich Maria Remarque. Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018 (1956). Im Folgenden im Fließtext mit Seitenzahl.

165

Clemens Fuhrbach

man auf einer zweiten Zeitebene eine kritische Perspektive auf die westdeutsche Gegenwart der 1950er-Jahre.5 Im Anschluss an Thomas Manns Doktor Faustus hat Heinrich Placke den Roman daher als »Zweischichtenerzählung«6 bezeichnet und seine Ebene der Rezeption am Ende des 20. Jahrhunderts davon unterschieden. Diese Darstellung erfolgt wiederum aus kritischer Distanz unserer Gegenwart, also aus der Perspektive der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts. Die Hauptfigur im Roman heißt Ludwig Bodmer. Er ist 25 Jahre alt und hat einen Sinn für Poesie und Dichtung. Seiner Mutter hatte er versprochen, als Lehrer zu arbeiten. Sie starb kurz vor Kriegsende. Er folgte der Idee in »lebenslänglicher Anstellung als Beamter« (41) ein sicheres Auskommen zu haben dennoch, aber brach die Tätigkeit schließlich wieder ab, denn er hatte »genug davon […], Kindern Sachen einzutrichtern, an die ich selbst längst nicht mehr glaubte, und lebendig begraben zu sein zwischen Erinnerungen, die ich vergessen wollte.« (41) Inzwischen ist er »nicht nur Reklamechef, Zeichner und Buchhalter« (10), sondern »einziger Büroangestellter« (10) in der »Grabdenkmalsfirma Heinrich Kroll & Söhne«. (9) Die Firma ist im Besitz seines ehemaligen Kameraden Georg Kroll. Der stellt in den Wirren der Zeit nüchtern fest: »Der Krieg ist viereinhalb Jahre vorbei […] [.] Damals sind wir durch maßloses Unglück zu Menschen geworden. Heute hat uns die schamlose Jagd nach Besitz aufs neue zu Räubern gemacht.« (14) Diese neuen Zeiten müssen Georgs Bruder Heinrich, der als »echter, aufrechter Deutscher […] niemandem jemals Dank schuldet!« (543) – durch Bodmer erklärt werden: Die Grundsätze, mit denen Sie aufgewachsen sind, sind edel, aber sie führen heute zum Bankrott. […] Das Wichtige ist nicht, zu verkaufen, sondern einzukaufen und so rasch wie möglich bezahlt zu werden. Wir leben im Zeitalter der Sachwerte. Geld ist eine Illusion. (24)

Deshalb hält die Firma auch lange am schwarzen »Obelisken Otto« (26) fest, obwohl das »Wahrzeichen […] eine Monstrosität an Geschmacklosigkeit« (26) ist.

5 Vgl. Bernhard Nienaber. Vom anachronistischen Helden zum larmoyanten Untertan. Eine Untersuchung zur Entwicklung der Humanismuskonzeption in Erich Maria Remarques Romanen der Adenauer-Restauration. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1997, 167ff. 6 Heinrich Placke. »Probleme und Chancen bei der Rezeption des Romans Der schwarze Obelisk (1956) am Ende dieses Jahrhunderts«. Thomas Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque. Leben, Werk und weltweite Wirkung. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 1998, 325–330. Vgl. auch Heinrich Placke. Die Chiffren des Utopischen. Zum literarischen Gehalt der politischen 50er-Jahre-Romane Erich Maria Remarques. Osnabrück: V&R unipress, 2004.

166

Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess

Am Ende wird der Stein als »zentrales Symbol des Buches«7 für die »Grabstätte eines Bordellmädchens verkauft«. (543) Damit zeigt sich die ganze Ambivalenz der Erzählung, die durch ihre fortlaufende Ironie und einen gewissen Zynismus auch auf semantischer Ebene eine Zweischichtenerzählung ist.8 Inmitten der Geschichte einer verspäteten Jugend – auch der Untertitel ist als euphemistische Kritik an der Einberufung zum Kriegsdienst mit 18 Jahren formuliert9 – sind die Akteure darum bemüht, sich mit allen Mitteln Essensmarken für einen Mittagstisch zu sichern,10 andere Geschäftsleute zu bestechen11 oder sich einfach so den vermeintlichen Freuden des Lebens zu widmen.12 Es wird gemeinsam gegessen, getrunken, geraucht und getanzt. Das ist die karnevaleske Anlage, auf die der Text selbst kritisch verweist.13 Gemeinsam mit dem Unternehmer Riesenfeld beobachtet Ludwig die Nachbarin Lisa am Fenster. Sie ist gerade im Begriff, sich anzuziehen. Dem Voyeurismus verfallen bemerkt er selbstkritisch, dass Riesenfeld und er »im Augenblick die Rolle der alten Böcke spielen, die sie beobachten«. (78) Immerhin eine Person ist hier scheinbar noch um Dinge wie Moral, Ordnung und Sauberkeit bemüht. Das zeigt sich auch darin, dass Ludwig die Spuren des nachts chronisch an den Obelisken urinierenden Feldwebel Knopf mit einem Eimer Wasser beseitigt.14 Obwohl sich Ludwig im Gespräch selbst als »oberflächlicher Mensch«15 bezeichnet, analysiert er seine Erfahrungen und ordnet seine Beobachtungen in der Welt der Erzählung. Das zeigt sich auch beim Orgelspiel in der Irrenanstalt. Es ist ein Relikt aus seinem alten Leben, er hatte es zur »Vorbereitung zum Schulmeister gelernt«. (46) Nun ermöglichen seine Fähigkeiten ihm einen Nebenverdienst. In der Anstalt trifft er nicht nur auf Kranke und Verrückte, sondern auch auf einen Pastor als Vertreter des Glaubens und einen Doktor als Vertreter der Wissenschaft. Existenzielle Fragen können ihm beide nicht zufriedenstellend beantworten. (132) Durch die schizophrene Isabelle kommen vielmehr noch neue hinzu.16 Sie heißt eigentlich Geneviève Terhoven und 7 Hanjo Kesting. »Remarque, Erich Maria: Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend«. Heinz Ludwig Arnold (Hg.). Kindler Literatur Lexikon; https://doi.org/10.1007/9783-476-05728-0 (19.09.2021). Vgl. dazu auch Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. New York: Camden House, 2006, 70. 8 Dies wird im Text explizit benannt, vgl. z.B. Remarque, Obelisk, 451. 9 Vgl. ebd., 289f. – Dazu auch die Bezeichnung des alten Schuldirektors als »Jugendmörder« (321). 10 Vgl. ebd., 31f. 11 Vgl. ebd., 69ff. 12 Stellvertretend dafür steht z.B. die »Rote Mühle« (79ff.). 13 Vgl. ebd., 527 und 537. 14 Vgl. z.B. ebd., 91, 114 auch 266. 15 Ebd., 37; vgl. auch »Lebt der Mensch von innen nach außen oder von außen nach innen?« (29) 16 Isabelle fragt Ludwig beispielsweise: »Was machen Spiegel, wenn sie alleine sind?« (117)

167

Clemens Fuhrbach

manchmal auch Jennie.17 Sie lebt in einer anderen Wirklichkeit und nennt Ludwig bei verschiedenen Namen. Das ist für ihn befremdlich, aber es fasziniert ihn auch. (53) Er empfindet etwas für sie, aber ihre außerordentliche Liebesbeziehung scheitert.18 Auch seine beiden anderen Beziehungen zu Erna und Gerda bleiben erfolglos.19 Als Isabelle geheilt die Anstalt verlässt und Geneviève Terhoven sich nicht an ihn erinnert,20 zieht er schließlich nach Berlin, um bei einer Zeitung zu arbeiten.21 Autobiographische Parallelen und Ziele der Darstellung Neben historischen Bezugnahmen im Text sind autobiographische Parallelen in der Romanhandlung offensichtlich.22 Nach dem Notexamen 1916 beginnt Remarque seine Lehrerausbildung in Osnabrück.23 Er fängt damit an, sich künstlerisch zu betätigen und wird im November des Jahres zum Kriegsdienst eingezogen. Beim Einsatz an der Westfront 1917 wird er schwer verwundet. Nach Kriegsende beendet er seine Ausbildung und arbeitet als Lehrer im Umland von Osnabrück. Bereits im November 1920 scheidet er aus dem Schuldienst aus. Er ist von nun an als Grabsteinverkäufer, Werbetexter und als Redakteur beschäftigt. Seine schriftstellerischen Tätigkeiten bleiben zunächst erfolglos. Erst die Veröffentlichung seines Romans Im Westen nichts Neues wird dies ändern.24 In den 1930er Jahren machen »[d]ie Folgen des plötzlichen Ruhms, politische An-

17 Vgl. zur Konstellation und zum Kennenlernen grundlegend 51–63. Dort auch explizit der Anspruch auf Eingliederung der kranken Person: »[…] obschon der Oberarzt erklärt hat, es sei gut, wenn Isabelle Gesellschaft habe.« (63) 18 Vgl., ebd., 486f., 491 und 495. 19 Vgl., ebd., 314 und 323–330. 20 Vgl. ebd., 486f. und 495. 21 Vgl. ebd., 510f. 22 Der Verlagstext zur deutschen Erstausgabe des Romans Der schwarze Obelisk »reduzierte in der Werbung die politische Bedeutung des Romans und seinen Gegenwartsbezug zugunsten einer Betonung des vermeintlich autobiographischen Gehalts« (ebd., 567). Vgl. zu diesem Aspekt: Bernhard Stegemann. »Autobiographisches aus der Seminar- und Lehrerzeit von Erich Maria Remarque im Roman Der Weg zurück«. Schneider (Hg.), Erich Maria Remarque, 57–68. 23 Vgl. Wilhelm von Sternburg. »Remarque, Erich Maria«. Neue Deutsche Biographie 21 (2003), 414–415; https://www.deutsche-biographie.de/pnd118599631.html#ndbcontent (06.09.2021). Die Neue Deutsche Biographie ist in einigen Details ungenau. Vgl. dazu das Nachwort von Thomas F. Schneider. »›Ein ganz normaler Durchschnittsadoleszent‹. Zu Erich Maria Remarques Der schwarze Obelisk«. Remarque, Obelisk, 573–589. 24 Vgl. ebd.

168

Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess

griffe sowie Auseinandersetzungen mit der Steuerbehörde«25 eine Verlegung des Wohnortes in die Schweiz nötig. Während der Zeit des Nationalsozialismus lebt Remarque von 1939–48 im Exil in New York und Hollywood. Er bleibt politisch aktiv und äußert sich weiterhin kritisch, besonders nach der Hinrichtung seiner Schwester Elfriede Scholz durch die Nationalsozialisten 1943. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans Der schwarze Obelisk ist Remarque bereits amerikanischer Staatsbürger und so erfolgreich, dass er sich »in der Öffentlichkeit als dandyhafter Erfolgsautor«26 zeigen kann. Dieses Auftreten führte zuweilen dazu, dass »[s]eine Kritiker […] die bedeutende politische und humanistische Dimension seines Werks übersahen«.27 In der neueren Forschung werden die politische und die ästhetische Ebene durchaus benannt. Eine komplexe Anlage der literarischen Texte, die hinter ihrer einfachen Form liegt, wird erkannt: Remarque spart sich dabei sprachliche, stilistische und formale Experimente und konzentriert sich auf das Wesentliche: die Darstellung der Zeit und die Vermittlung von politischen Inhalten. So werden in Remarques Roman die politische Aussage und das Philosophieren über das Leben verknüpft zu einem Appell an die Humanität des Einzelnen. Mit viel Ironie und Sarkasmus kritisiert Remarque die Unbelehrbarkeit der Deutschen, sowohl in den zwanziger, als auch in den 1950er Jahren. Die plötzliche Umwertung aller Werte in den Zwanzigern ähnelte der Lebensgier der Menschen in den 1950ern und ist auch heute noch aktuell, so dass Remarque mit  Der schwarze Obelisk  ein literarisches Denkmal gegen das Vergessen gesetzt hat.28

Ich möchte die autobiographische Dimension an dieser Stelle ausblenden, aber mit Thomas Schneider betonen, dass die »Biographie […] in die Schriften hinein[wirkt], jedoch ist den Schriften nichts über die Biographie ihres Autors zu entnehmen.«29 Insbesondere mit Blick auf den Aspekt der Entfremdung30 und in

25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd. Thomas Schneider hat bei einer Tagung im Herbst 2021 darauf hingewiesen, dass die Rezeption der Autorfigur ›Rermarque‹ im deutschen und im globalen Diskurs unterschieden werden muss. Darauf kann ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen, obwohl der Punkt für eine zeitgemäße Wahrnehmung wesentlich ist. Vgl. den Beitrag von Schneider in diesem Band. 28 Maren Koch. »Der schwarze Obelisk. Kontext und Analyse«. Erich Maria Remarque-Friedenszentrum. »Werkverzeichnis«; https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/dso.htm (11.09.2021). 29 Thomas Schneider. »Am besten nichts Neues? Zum Stand der Remarque-Forschung«. Schneider (Hg.), Erich Maria Remarque, 27–40, hier 29. 30 Vgl. ebd., 31.

169

Clemens Fuhrbach

Bezug auf die Praxis der verschiedenen Selbstbezeichnungen Remarques31 wäre eine vergleichende Lesart interessant. Im Rahmen dieser Darstellung kann das allerdings nicht geleistet werden. Stattdessen werde ich mich im Folgenden auf die analytische Ebene konzentrieren und eine immanente Lesart konstruieren. An den sprachlichen Interaktionen der Figuren im Romankontext zeigt sich das Scheitern einer bürgerlichen Subjektivität im Aufbruch in die Moderne. Um diese Beobachtung darzustellen, stelle ich das Handeln der Figuren als aktiven Prozess einer kommunikativen Vergesellschaftung dar. Dazu kläre ich zunächst die begriffliche Grundlage. Im Anschluss daran zeige ich an ausgewählten Beispielen, wie sich die soziologischen Bedingungen der Gesellschaft im sprachlichen Handeln als kommunikative Struktur im Text beschreiben lassen. Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess Der Begriff ›Gesellschaft‹ wird im Alltag nicht einheitlich gebraucht.32 In seiner historischen Entwicklung verweist er auf die »von Adam Ferguson geprägte[] Vorstellung einer civil society, einer Gesamtheit aller Bürger«33 und auf »JeanJacques Rousseaus Verwendung von société als dem quasi-vertraglichen Zusammenschluss aller Bürgerinnen und Bürger«.34 Sehr allgemein gesprochen könnte man also sagen, dass wir mit Gesellschaft das Zusammenleben der Menschen unter bestimmten Bedingungen zusammenfassen. Entscheidend ist nun, dass »sich Menschen in modernen Gesellschaften […] als autonome, selbstbestimmte Individuen«35 begreifen und ihr »Streben nach Unabhängigkeit, Individualität und Selbstverwirklichung«36 zum »Kern des Selbstbildes«37 machen. Dieses ist abhängig von der Bezugnahme zur »Allgegenwart von Gesellschaft«.38 Mit anderen Worten ist die Gesellschaft ein Raum, in dem sich die Menschen bewegen und in dem sie sich selbst und anderen begegnen. Durch eine bestimmte politische Konfiguration – zum Beispiel eine Verfassung – unterscheidet sich die Gesellschaft

31 Vgl. ebd., 32. Vgl. Alexandra Ivanova. »›Ob als Freund oder Patient oder vermutlich beides‹. Eine Studie über die Beziehung Erich Maria Remarques und Karen Horneys«. Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues und die Folgen. Göttingen: V&R unipress 2014, 7–32. 32 Vgl. Thomas Schwietring. Was ist Gesellschaft? Einführung in soziologische Grundbegriffe. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Tübingen: UVK, 2020, 20. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd., 21. 37 Ebd. 38 Ebd.

170

Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess

von der Gemeinschaft.39 Als sozialer Ort ist die Gesellschaft wiederum von der Vergesellschaftung insofern zu trennen, da sich durch letzteren Begriff die Dynamik der menschlichen Interaktion beschreiben lässt.40 Dementsprechend sollte man nach Georg Simmel für eine »Gesellschaft in ihrem fortwährend sich realisierenden Leben«41 immer von einem Prozess der »sich auswirkende[n] Wechselbeziehungen«42 sprechen. Der Unterschied liegt nach Schwietring in der Frage, »ob Gesellschaft als Tatsache besteht oder ob sie geschieht.«43 Das wesentliche Instrument, um Gesellschaft als Prozess zu beschreiben, ist eine gemeinsame Sprache. Durch sie werden Grenzen definiert. Dadurch wird eine soziale Ordnung konstituiert. Dementsprechend wird jede Form der Vergesellschaftung von einer kommunikativen Handlung begleitet. Davon ausgehend trifft das moderne Subjekt auf die bestehende Gesellschaft mit dem Anspruch auf Partizipation, Interaktion und Inklusion. Die Anwendung der soziologischen Begrifflichkeit auf Remarques literarische Darstellung geht auf Hubert Orłowski zurück. Er hat die »Rekonstruktion von Figurenkonstellationen«44 im Anschluss an Georg Simmel durch die »Leitfigur ›Grenze der Zwei‹«45 untersucht und festgestellt: In allen Romanen, in denen Remarque seine Helden die anthropologische »Grenze der Zwei« erleben und erfahren läßt, befinden sie sich auf permanenter Flucht vor der Trivialität, vor dem Seriellen, dem Sich-Wiederholenden, dem Versatzstückhaften. Gelingt ihnen diese Flucht, so werden sie vom Fatum eingeholt.46

Im Roman Der schwarze Obelisk lässt sich das Handeln der Figuren als Verhandeln der individuellen Möglichkeiten und der kollektiven Grenzen beschreiben. Die Ereignisse wiederholen sich und das Schicksal ist ein permanenter Begleiter. Das gesellschaftliche Leben ist von »Krieg, Politik und Inflation« (50) bestimmt. Nach dem Krieg ist die öffentliche Ordnung zwar nicht aufgehoben, aber durch die wirtschaftliche Situation gerät das Zusammenleben zum täglichen Existenz-

39 Vgl., ebd., 25f. 40 Vgl. ebd. 41 Georg Simmel. »Das Gebiet der Soziologie (1917)«. Georg Simmel. Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Eingeleitet und herausgegeben von Heinz Jürgen Dahme und Ottheim Rammstedt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, 38. Zitiert nach Schwietring, 25. 42 Ebd. 43 Schwietring, 25. Hervorhebung im Original. 44 Hubert Orłowski. »›Die Grenze der Zwei‹ oder auf der Flucht vor der Trivialität. Zu den Romanen von Erich Maria Remarque«. Schneider (Hg.), Erich Maria Remarque, 13–26, hier 13. 45 Ebd., 14. 46 Ebd., 26.

171

Clemens Fuhrbach

kampf der Individuen. In der Vereinzelung sprechen zwar alle miteinander, aber jede Person verfolgt die eigenen Interessen. Das Misstrauen ist groß, und die Geltung getroffener Vereinbarungen ist meist nur von kurzer Dauer. Das zeigt sich exemplarisch in der Szene, als die Witwe Niebuhr versucht, ihre Bestellung für das Mausoleum ihres verstorbenen Mannes zu leugnen. Sie beruft sich darauf, dass nichts schriftlich dokumentiert sei. Gleichzeitig fordert sie ihre Anzahlung zurück und hat dafür selbst keinen Beleg. (307ff.) Die Situation wird auf der Ebene der Erzählung ironisch kommentiert: »Der Blitz hat eingeschlagen, die Trauer ist vorbei, Frau Niebuhr hat sich verlobt. Niebuhr ist ihr mit einem Schlage gleichgültig geworden. Das Individuum heißt Ralph Lehmann und nennt sich Industrieberater.« (307) Dieser »elegante[ ] Vorname« (307) passt nicht zum »stark abgetragen[en]« (309) Anzug. Man einigt sich in der Sache schließlich auf einen Kompromissvorschlag Georgs. Er macht aus der Gelegenheit ein neues Geschäft und leistet eine Rückerstattung der längst im Wert gefallenen Anzahlung. Dafür fordert er eine »Lieferung in Naturalien«. (308) Im Anschluss stellt Ludwig fest: »Die Inflation ist für einmal auf unserer Seite.« (310) Man muss auf Veränderungen in der Welt variabel reagieren können. Die kurze Halbwertszeit geschäftlicher und sozialer Bindungen ist es auch, die Ludwig Bodmer im Gespräch mit Riesenfeld misstrauisch werden lässt. Am Ende des gemeinsamen Kneipenabends werden sich die Geschäftsleute duzen, aber am nächsten Morgen »ist das natürlich alles wieder vergessen«. (87) Deshalb beschließt Bodmer seinen »ehrlichen Vornamen Ludwig für diese Saufbruderschaft einer Nacht [nicht] herzugeben. Rolf ist für Alex gut genug.« (90) Er nutzt die Erfahrung aus der Irrenanstalt und wechselt seinen Vornamen. Aber als ob Riesenfeld das Versteckspiel ahnt, zieht er ihn mit dem Namen auf und fragt: »Was für ein blöder Name! Hast du den immer?« (90) Wenige Augenblicke später und zurück in der Werkstatt erklärt Riesenfeld dann – am Fenster auf Lisa wartend – dass der Mensch »von Träumen lebt«, (92) und er stellt für den abweisend reagierenden Bodmer fest: »Sie sind nicht zu jung. Sie sind nur ein Kriegsprodukt – emotionell unreif und bereits zu erfahren zum Morden.« (92) Zu diesem Zeitpunkt, bemerkt Ludwig distanziert, sind sie also »schon wieder beim Sie angelangt«. (92) Immerhin endet die Szene geschäftlich betrachtet mit dem erfolgreichen Vertragsschluss und dieses Mal auch schriftlich mit einer Unterschrift am frühen Morgen. In beiden Szenen zeigen sich die verschiedenen Ebenen der soziologischen Textbetrachtung. Neben der Figurenhandlung durch direkte Rede tritt die Beobachtung der Sprache auf der Ebene der Narration in den Vordergrund. Während Bodmer in der Situation mit Riesenfeld um Souveränität bemüht ist, aber es letztlich nicht schafft, dem Unternehmer auf Augenhöhe zu begegnen, beobachtet er das argumentative Geschick seines Freundes Georg mit dessen Kundschaft. In beiden Fällen entzieht sich die Figur der fiktionalen Wirklichkeit durch einen Wechsel auf die innere Ebene der sprachlichen Narration. Entscheidend ist nun, dass diese Konstruktion einer fiktiven Wirklichkeit in ihrer reflexiven Tiefe und 172

Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess

damit in ihrer emanzipatorischen Anlage limitiert ist.47 Letztlich entzieht sich Bodmer zwar durch die Erzählung seiner sozialen Realität und der Sprache seiner Gesellschaft. Er bleibt aber nicht davon unabhängig, sondern er ordnet sich unter, indem er sich zu einer Randfigur stilisiert.48 Deshalb zeigt sich für Orłowski in der Figur insgesamt eine »erfolglos-erfolgreiche Flucht vor der Trivialität«.49 Diesen Punkt greift auch Bernhard Nienaber auf. Er hat die »Humanismuskonzeption in […] Remarques Romanen der Adenauer-Restauration«50 untersucht und dabei eine Entwicklung Vom anachronistischen Helden zum larmoyanten Untertan beobachtet.51 Die Suche nach der Grenzerfahrung und die Abkehr von der bestehenden Ordnung gehören für ihn zwar zur »Didaktik des Werkes«.52 In seiner Lesart ist die Figur Bodmers aber als »Trivialklischee eines besonderen Menschen gestaltet«,53 der »nur das bloße Abziehbild der Verhältnisse verkörpert, die er zu kritisieren vorgibt«.54 Einerseits ist die erzählende Instanz als klassisches Bildungssubjekt angelegt, andererseits »erscheint [mit Bodmer] stets nur ein integrierter Mensch, genormt und standardisiert von der Ordnung, in der er glaubt, ein Außenseiter zu sein«.55 Mit anderen Worten bedeutet das, dass er »der herrschenden Norm [entspricht]«.56 Damit wiederum verweist Remarque – so Nienaber – auf eine Krise der »bürgerlich-literarischen Öffentlichkeit«57 in der Gegenwart der 1950er Jahre: »Das exemplarische Individuum stellt sich […] als das Versatzstück jener Ordnung heraus, an der es doch so heftig leidet und gegen die es zu protestieren vorgibt.«58 Der Erzähler Bodmer macht Grenzerfahrungen, aber er scheitert an den Grenzüberschreitungen. Er scheitert auch daran, seine Beobachtungen in eine eigene Sprache umzusetzen oder eine neue Sprache für eine selbstbestimmte Position als Subjekt der Moderne zu finden und zu artikulieren. Seine reflexive Auseinandersetzung mit der bestehenden Ordnung führt nicht zur Katalyse einer individuellen Emanzipation, sondern zu einer eskapistischen Suche nach Formen

47 Thomas Schneider hat mich darauf hingewiesen, dass man die Anlage der Figur im Zusammenhang mit dem Vorwort und dem letzten Kapitel deuten muss. Dieser Hinweis ist berechtigt und wichtig, allerdings führt er über diesen Beitrag hinaus. Ich betrachte meine Darstellung daher als Einstieg in das Thema. 48 Vgl. Murdoch, 75. 49 Orłowski, 26. 50 Vgl. Nienaber. 51 Vgl. ebd. 52 Ebd. 53 Ebd., 169. 54 Ebd. 55 Ebd., 179. 56 Ebd., 170. 57 Ebd., 165. 58 Ebd., 174.

173

Clemens Fuhrbach

der Integration. Diese bleibt gebunden an bestehende sprachliche Prozesse einer kommunikativen Vergesellschaftung, in der bürgerliche Normen weiterhin wirksam sind. Nun stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten die Figur Ludwig Bodmer hätte, sich der konkreten Sozialisation in seiner Gesellschaft zu entziehen. Schließlich liegt die Paradoxie der modernen Gesellschaft gerade in der subjektiven Suche nach Unabhängigkeit und Individualität bei gleichzeitiger Abhängigkeit von sozialer Resonanz. Nach Andreas Reckwitz muss dieser Zusammenhang als heterogene Beziehungserfahrung zur Welt und den Menschen im Zustand der Hybridität kompensiert werden. Er fasst die Überwindung der bürgerlichen Ordnung in einem mehrdimensionalen Bezugssystem: Wenn man die Perspektive auf die Kultur der Moderne und auf ihr Subjekt […] auf ein Schlagwort bringen will, dann ist es das einer Diagnose der Hybridität […]. Alle Elemente der subjektorientierten Kulturanalyse laufen auf die Offenlegung hybrider Konstellationen unter modernen Bedingungen hinaus, das heißt von Konstellationen, in denen statt der Herrschaft einer einheitlichen Struktur unterschiedliche Sinnelemente verschiedener Herkunft in potentiell konflikthafter und uneinheitlicher Weise aneinander gekoppelt, miteinander kombiniert oder aufeinander verwiesen sind: die Differenzen zwischen bürgerlicher, organisierter und postmoderner Subjektkultur innerhalb der Moderne; die Grenzüberschreitungen der Subjektivierungsweisen, jenseits der Sinngrenzen zwischen Arbeit, Intimität/ Geschlecht, Medien und Konsum; der Einfluss der ästhetischen Moderne in der gesellschaftlichen Moderne; der Synkretismus der Codes in den Subjektkulturen; schließlich der intertextuelle Verweisungszusammenhang zwischen Sinnelementen verschiedener Zeiten.59

Der entscheidende Punkt ist an dieser Stelle, dass Reckwitz die subjektive Erfahrung der Welt nicht mehr durch eine monokausale Verortung des Selbst in einem singulären oder binären gesellschaftlichen Raum begreift. Stattdessen öffnet er die Perspektive für eine dynamische Konstruktion der Subjektivität in einem fortlaufenden Prozess der Differenzerfahrungen. In dieser liquiden Ordnung dienen Grenzkonstruktionen nurmehr dem Erkennen der nächstmöglichen Grenzüberschreitung. Die Erfahrung von Gesellschaft wird dadurch zum chronischen Erleben von Subjektivität durch Alterität. Auch die radikale Singularisierung der Person bleibt aber grundsätzlich sozial gebunden. Wer nach Freiheit strebt, muss sich als Einzelner oder Einzelne in einer Gemeinschaft wiederfinden und sich der

59 Andreas Reckwitz. Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Überarbeitete Neuauflage. Berlin: Suhrkamp, 2020 (2006), 33. Hervorhebung im Original.

174

Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess

dort geltenden Ordnung zumindest temporär unterwerfen, um individuelle Anerkennung zu erfahren. Erst davon ausgehend kann eine grenzüberschreitende Haltung die komplexe Subjektposition in der Welt neu begründen. Mit anderen Worten bedarf eine hybride Vielfalt lokale Zustände der Normativität. Ein diskursives Miteinander der inklusiven Subjekte wird wiederum umso schwerer, desto größer die sozialen und politischen Verwerfungen der Zeit sind. Der radikale Fluchtreflex einer modernen Suche nach Subjektivität läuft deshalb Gefahr, in einer selbstverlorenen Orientierungslosigkeit und am Ende des Tages in einer singulären Erfahrung von Einsamkeit zu münden. Das Problem zeigt sich exemplarisch in der Szene, als Bodmer Musik auf der Orgel spielt und Isabelle ihm zuhört. Er wiederum beobachtet das Geschehen aus seiner Perspektive und beschreibt das eigene Erleben als sprachliche Entfremdung mit einer romantisierenden Hoffnung auf eine Harmonie der gemeinsamen Ordnung: Isabelle kam manchmal mit mir und hörte zu. […] [I]ch wußte nicht, was sie dachte, und es war sonderbar und etwas sentimental, aber dahinter stand plötzlich die Frage nach dem Warum […]. Ich fühlte das alles und ich fühlte auch etwas von der unfaßbaren Einsamkeit der Kreatur, wenn wir in der leeren Kirche […] waren, nur wir beide, als wären wir die einzigen Menschen, zusammengehalten vom halben Licht, den Akkorden und dem Regen, und trotzdem für immer getrennt, ohne jede Brücke, ohne Verständnis, ohne Worte, nur mit dem merkwürdigen Glühen der kleinen Wachfeuer an den Grenzen des Lebens in uns, die wir sahen und mißverstanden, sie in ihrer, ich in meiner Weise, wie taubstumme Blinde, ohne taub und stumm und blind zu sein, und deshalb viel ärmer und beziehungsloser. Was war es, das sie in ihr machte, daß sie zu mir kam? Ich wußte es nicht und würde es nie wissen, […] aber ich verstand auch nicht, warum diese sonderbare Beziehung mich trotzdem so verwirrte, ich wußte doch, was mit ihr war und daß sie mich nicht meinte, und trotzdem machte es mich sehnsüchtig nach etwas, das ich nicht kannte, und bestürzte mich und machte mich manchmal glücklich und unglücklich ohne Grund und ohne Sinn. (63)

Obwohl sich Bodmer grundlegend für die Krankheit ›Schizophrenie‹ öffnet und Isabelle einen gewissen Raum gewährt, greift die Szene ein konservatives Rollenverständnis auf. Bodmer befindet sich in der aktiven Position des männlichen Senders. Die weibliche Figur Isabelle sitzt als passive Empfängerin der Musik im Raum und hört ihm zu. An dieser Stelle verbleibt die Erzählung auf der Ebene der inneren Fokalisierung der männlichen Figur. Eine weibliche Stimme kommt nicht zu Wort. Die Abwesenheit der eigenen Persönlichkeit problematisiert Isabelle kurz zuvor explizit. (55) Erst stellt sie die Realität radikal infrage, dann stellt sie die These auf, dass nur das existiert, was man sieht: »Ich? Ich bin doch gar nicht da!« (55) Die Aussage Isabelles erinnert stark an die zentrale Forderung der Sichtbarkeit in Diskursen der Emanzipation und des Feminismus. 175

Clemens Fuhrbach

In der Figurenbeziehung spiegeln sich zwei fragmentierte Persönlichkeiten. Durch das Betreten der Anstalt wird die Figur Ludwig Bodmer mit den Konsequenzen einer subjektiven Entfremdung und mit einer Realität jenseits der für ihn geltenden Sprache konfrontiert. (130f.) Er sucht den Ausweg aus dem Konflikt durch die Erklärung einer Wahrheit ohne Vernunft. (61) In der Begegnung mit Isabelle glaubt er sie zu finden. Er selbst ist auf der Suche nach einer klaren Struktur und findet Zuflucht in der Musik, denn das ist für ihn der letzte Ort mit klaren »Prinzipien«. (57) Wenn die Musik und Isabelle wegfallen, droht die radikale Entfremdung von sich selbst und von der Außenwelt. Die »Einsamkeit der Kreatur« (63) betrifft auch Bodmer selbst. Er projiziert sein eigenes Problem der weltverlorenen Orientierungslosigkeit auf die weibliche Figur. Die ›kranke Frau‹60 wird anerkannt ohne Stimme, damit sich Bodmer als männliches Objekt in seiner Welt konstruieren kann.61 Damit überwindet er seinen persönlichen Konflikt, der aus seiner alltäglichen Erfahrung in der Gesellschaft resultiert, nicht. Das wird besonders deutlich, als Isabelle ihm zu einem späteren Zeitpunkt – nun in seiner Rolle als Rudolf (115) – die Frage stellt: »Was machen Spiegel, wenn sie allein sind?« (117) In der Passage verweist die Kranke ihren freiwilligen Krankenpfleger auf eine mögliche Realität jenseits der gesellschaftlichen Sozialisierung durch feste Rollenerwartungen und gelöst von »physikalischen Gesetzen«. (119) Daraus resultiert für Bodmer ein existentieller Konflikt. Sie verunsichert ihn mit ihrer Überlegung, denn »Spiegel scheinen auf einmal wirklich ein Geheimnis zu haben«. (119) Er kann das Rätsel für sich und für Isabelle nicht auflösen. Die identitäre Dispersion kompensiert Bodmer durch die triviale Feststellung: »Keiner weiß, was er ist und wo und wohin er geht – aber wir sind zusammen, das ist alles, was wir wissen können.« (121) Jenseits der Ordnung und gelöst von der normativen Geltung bleibt für ihn einzig die soziale Beziehung zwischen zwei Personen als erste oder letzte Grenze, um eine gemeinsame Welt zu konstruieren. Dieses ›Wir‹ ist zwar eine realistische Beschreibung der Situation zwischen ihm und Isabelle, es verbleibt aber in seiner lokalen Figurenperspektive und ist damit eine sprachliche Repräsentation ohne soziale Entsprechung.62 Dass Ludwig diese Aussage nur in seiner Rolle als Rudolf in der Irrenanstalt, also einem vordefinierten und gesellschaftlich tolerierten Raum der alternativen Wirklichkeit treffen kann, verstärkt die Tragik in der Situation. Ludwig und Isabelle sind in der An60 Er zweifelt die Krankheit Isabelles, wohl auch aus einem eigenen Interesse, an und öffnet sich damit zugleich für die Beschreibung des Krankheitsbildes. Vgl. Remarque, Obelisk, 131 und 133. 61 Dass die Erzählperspektive als Sichtweise eine traditionell männliche ist, hat Wolfgang Weig herausgestellt. Vgl. Wolfgang Weig. »Die Frage nach der seelischen Gesundheit und die Vermeidung des Krieges. Anmerkungen zu Erich Maria Remarque«. Schneider (Hg.), Erich Maria Remarque, 325–330. 62 Zur Konstruktion des ›Wir‹ vgl. Ivanova, 24.

176

Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess

stalt, in der Kranke geheilt werden sollen, zwei radikal verschiedene Personen, die miteinander sprechen, ohne sich zu begegnen.63 Im Gegenüber findet ihre dialogische Suche nach einer kommunikativen Bindung keine resonante Entsprechung. Diesem Eingeständnis der soziogrammatischen Unvereinbarkeit beider Subjektpositionen verweigert sich die Figur Ludwig Bodmers. Er selbst ist insofern von einem schizophrenen Denken und einer zersplitterten Wahrnehmung betroffen.64 Die Wechsel zwischen Rollen und Räumen kann er nicht in einem einheitlichen Selbstbild kompensieren. Seine Vorstellung der eigenen Figur bleibt ohne soziale Bindung und ohne Repräsentation in der fiktionalen Welt. In der Irrenanstalt und im Alltag scheitert er gleichermaßen daran, eine authentische Beziehung zu den unterschiedlichen Frauen, denen er begegnet, zu verwirklichen. Er schafft es nicht, sich von dem Anspruch zu lösen, einer männlichen Rollenerwartung zu entsprechen und ein hybrides Selbstbild zu entwickeln, das einem freien und emanzipierten Subjekt der Moderne dann entspräche, wenn es die eigene Position gelöst von der normativen Struktur durch souveräne Partizipation am Prozess der kommunikativen Vergesellschaftung eigenständig artikulieren könnte. Stattdessen verweilt er im Denkmuster der bürgerlichen Paarbeziehung und sucht quasi krampfhaft eine dazu passende Frau. Drei Beispiele für Formen der souveränen Subjektivität Sein Scheitern zeigt sich auch sprachlich. Die ungleiche Beziehung zu Lisa bezeichnet Bodmer theatralisch als »Komödie«. (11) Er beobachtet die nackte Frau des Pferdeschlachters Watzek durch »einen kleinen Handspiegel«. (11) Als sie ihn bemerkt, stellt er sich der Situation nicht. Stattdessen weicht er aus. In der Folge unterstellt er ihr, dass sich die »faule Kröte, die erst mittags aus dem Bett klettert, ihrer Wirkung so unverschämt sicher ist. Sie kommt gar nicht auf den Gedanken, daß jeder sofort mit ihr schlafen möchte.« (12) Er stilisiert die Frau zum Objekt

63 Vgl. dazu Remarque, Obelisk, 60: »oft sprechen zwei Leute über etwas ganz Verschiedenes miteinander und verstehen sich großartig, weil sie nicht auf das hören, was der andere sagt.« 64 Vgl. ebd, 266. Die Oberflächlichkeit in der Darstellung des Krankheitsbildes der Schizophrenie hat Wolfgang Weig problematisiert. Vgl. Weig, »Die Frage nach der seelischen Gesundheit«; und Wolfgang Weig. »Erich Maria Remarques Roman Der schwarze Obelisk aus psychiatrischer Sicht«. Erich Maria Remarque Jahrbuch 2 (1992), 55–65. – Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild ›Schizophrenie‹ wäre gewinnbringend, kann aber hier nicht geleistet werden. Diese Darstellung schließt an ein traditionelles Verständnis an, wie es z.B. Heinz Häfner – nicht unkritisch – zusammengefasst hat. Heinz Häfner. Das Rätsel Schizophrenie. Eine Krankheit wird entschlüsselt. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. München: C.H. Beck, 2017 (2000), 29. Vgl. Heinz Häfner. Schizophrenie. Erkennen, Verstehen, Behandeln. 2., aktualisierte Auflage. München: C.H. Beck, 2018.

177

Clemens Fuhrbach

sexueller Männerphantasien und unterstellt ihr gleichzeitig eine gewisse Naivität. In ihrem weltvergessenen Handeln ist sie völlig bei sich und »freut ganz einfach darüber, daß sie lebt und daß alle Männer verrückt nach ihr sein müssen«. (12) Nun ist es nach Georgs Aussage so, dass die Heirat mit Watzek aus einer Notsituation im Krieg resultiert, als »sie sehr hungrig war und er viel Fleisch besorgen konnte«. (508) Inzwischen sucht die Frau ihre persönlichen Freiheiten, während ihr Ehemann arbeitet oder wenn sie ihrer erfundenen »Anstellung als Garderobiere in der Roten Mühle« nachgeht. Die halbe Wahrheit der Geschichte erkennt Bodmer nicht, was Lisa kommentiert mit »Kinder, bist du doof«, (111) und sie ergänzt: »Wie mein Alter!« (111) Das ist ein lautstarker und ehrlicher Moment, der von Ludwig unbemerkt bleibt. Sie nimmt ihn in der Situation entweder als verschwiegenen Gesprächspartner ernst oder sieht in ihm keine Gefahr für ihre soziale Position. Beide Möglichkeiten und das Handeln der Figur insgesamt sprechen dafür, dass sie sich souverän in ihrer Sprache und in der gesellschaftlichen Rollenerwartung als bürgerliche Frau bewegt. Das zeigt sich auch in ihrer Reaktion auf die Rosen, die der Unternehmer Riesenfeld ihr zukommen lässt. Ihr neuer Verehrer schickt die Blumen, die sie daraufhin an Bodmer mit dem Kommentar übergibt, dass sie keine »Kuh« (110) sei. Ihr schenke man »Schmuck« oder »Kleider, wenn man intimer ist«. (110) Die Blumen machten ihren Ehemann »eifersüchtig«. (110) Das bedroht die innerfamiliäre Ordnung. Da Bodmer wie jemand aussehe, der Frauen Blumen schicke, solle er »das Gemüse« einem »Milchkalb« (110) geben. Damit provoziert Lisa und bedient eigenmächtig ein Klischee der Weiblichkeit aus einer dominanten Position einer selbstbewusst sprechenden Frau. Das tut sie auch, als sie ihrem Gegenüber anbietet, sie könne ihn »mal munter machen«. (110) Auch diese Anspielung versteht Ludwig nicht – oder er will sie nicht verstehen. Tatsächlich schickt Ludwig die Blumen wenig später erfolglos an Erna. (113) Sein Handeln ist eine direkte Reaktion auf ihre letzte gemeinsame Begegnung in der Roten Mühle. Diese war von einer harschen Ernüchterung gekennzeichnet. Inmitten von Geschäftsleuten, »Tingeltangelweibern« (88) und bei Champagner kommt es zum Streit. Sie nennt ihn ein »verbummelte[s] Subjekt« (88) und wirft ihm vor: »Lerne erst einmal genug Geld zu verdienen, damit du eine Dame standesgemäß ausführen kannst! Du mit deinen Ausflügen ins Grüne!« (89) Er legt den Finger daraufhin in die Wunde seiner Zeit, denn »der kleine Sparer« (88) ist der Inflation zum Opfer gefallen. Damit ist nicht nur das »Rückgrat des Staates« (89) geschwächt, sondern auch das der bürgerlichen Familie. An dieser Stelle macht Bodmer einen Punkt, indem er auf das zentrale Dilemma verweist. Er ist weder ein wohlhabender Aktionär wie sein Freund Willy65 noch ein erfolgreicher

65 Zum Vergleich der Figuren Ludwig und Willy vgl. ebd., 33, 152, 326 und 534.

178

Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess

Unternehmer wie Riesenfeld oder Georg. Was ihm droht, sind Armut, Existenzkampf und Statuslosigkeit. Er ist abhängig von persönlichen Beziehungen zu seinem Freund Georg und später von Riesenfeld, der ihn nach Berlin vermittelt. (510) In seiner Reaktion auf Ernas Zurückweisung zeigt sich die Hilflosigkeit, mit dieser Situation angemessen umzugehen. Kurze Zeit nach dem Streit redet er sich ein: »Ich bin fertig mit Erna. Ich habe mir alle ihre unangenehmen Eigenschaften aufgezählt.« (135) Die ganze Wahrheit wäre wohl, dass sie fertig mit ihm zu sein scheint. Er versucht die Kränkung in einem bildungsbürgerlichen Reflex zu kompensieren und besorgt sich ein antiquarisches Buch: »›Der Mann von Welt‹, ein Brevier für Manieren in allen Lebenslagen«. (152) Damit sucht er Hilfe in der Restituierung einer ideellen Männlichkeit vergangener Tage, denn der »Krieg hat uns ziemlich verwildert, und flegelige Manieren kann man sich heute nur noch leisten, wenn eine dicke Brieftasche sie zudeckt. Die aber habe ich nicht.« (152) Just in dem Moment, da Ludwig den Laden verlässt, rauscht sein Freund Willy in einem neuen Sportwagen an ihm vorbei und bemerkt ihn nicht. In einer Gesellschaft, in der das Geld nichts mehr wert ist, verlieren besitzlose Männer ihre Bedeutung im sozialen Gefüge. Auf der anderen Seite können Frauen nur als Prostituierte wirtschaftliche Freiheit erlangen. Alternativ müssen sie ihre Position als Ehefrau oder Liebhaberin neben einem erfolgreichen Mann suchen, finden und akzeptieren. Der Existenzkampf drängt die Subjekte in opportunistisch motivierte Paarbeziehungen, an die Ränder der Gesellschaft oder in die sozioökonomische Bedeutungslosigkeit. Nicht nur die feministische Perspektive der emanzipierten Frau bleibt deshalb im Text unsichtbar, sondern auch die, einer alternativen Männlichkeit. Deshalb sollte man, bei aller Kritik an der Selbstkonstruktion der Figur Ludwig Bodmers, die strukturellen Kräfte nicht ausblenden, die auf ihn wirksam sind und die in Remarques Roman offen zutage treten. Die misslungene Suche nach sozialer Anerkennung ist auch kennzeichnend für das Verhältnis zwischen Ludwig und Gerda. Er lernt die Tänzerin in der Roten Mühle kennen. (85) Es ist so vorgesehen, dass sie nur für eine begrenzte Zeit in der Stadt ist. (156) Kurzerhand beschließt er, ihre Aufmerksamkeit als Ablenkung von Erna zu nutzen.66 Doch das Handeln wird durch Gerda initiiert. Sie nimmt ihn zu dem Ausflug mit, den Erna ihm verwehrt hat: »Ich starre sie an und traue meinen Ohren nicht. Ins Grüne spazieren – genau das war es, was Erna, die Schlange, mir in vergifteten Worten vorgeworfen hat.« (159)67 An dieser Stelle spiegelt sich seine Kränkung auch sprachlich. In Gedanken richtet er sich als Gerdas Geliebter ein und vergleicht sie mit Erna. Dabei fällt ihm verwundert auf, dass Gerda die Rote Mühle als »ekelhafte Stinkbude« bezeichnet und damit ihre »Arbeitsstätte« meint, nicht aber »Ernas Paradies«. (160) Während er »Das einfache Leben! Die irdische

66 Vgl. dazu ebd., 147 und 186. 67 Das Motiv der Schlange verbindet die Figuren Bodmer und Isabelle. Vgl. ebd., 57.

179

Clemens Fuhrbach

Liebe!« (160) heraufbeschwört, relativiert sich das Verhältnis nach kurzer Zeit wieder.68 Bei einem nächsten Treffen besuchen sie gemeinsam Eduards Lokal. Die Situation verkommt zur absoluten Demütigung seiner männlichen Subjektposition. (191) Nachdem Gerda die Szene durch »eine verflucht realistische Art, die Dinge zu betrachten,« (194) einordnet, stellt Ludwig am Rande des Geschehens zynisch fest: »Ich bin ein moderner Mensch und habe einen starken Hang zur Selbstzerstörung.« (195) Kurze Zeit nach ihrer ersten Begegnung führen Eduard und Gerda eine Art Beziehung, und die »Schlange nennt ihn bereits beim Vornamen«. (278) Als Ludwig den Verrat bei Gerda sucht, verweist sein Freund Georg ihn allerdings darauf, dass weder sein Konkurrent noch das Objekt seiner Begierde schuld seien, sondern einzig und allein er selbst. (276) Als Gerda und er abseits der neuen Liebschaft dennoch noch einmal zueinander finden, ist es wiederum Gerda, die Ludwigs soziale Position von Eduards Rolle unterscheidet: Er ist »ein Freier […]. Ein Mann mit Geld. Du hast keins. Aber ich brauche welches. Verstanden?« (330) Sie konfrontiert Bodmer direkt mit ihrer sozialen Erwartungshaltung und mit seiner Naivität: »Weißt du, das habe ich gern an dir«, erklärt Gerda. »Daß du ein so vorurteilsvolles Schaf bist!« (328) Nicht von Bodmer, sondern von Eduard erhofft sie sich einen Pelzmantel. Spätestens wenn Renée de la Tours einen von Willy bekommt – denn »Männer sind so«. (325) Damit bewegt sich Gerda zwar souverän in ihrer Rolle als unabhängige Frau, aber eine emanzipatorische Haltung im Sinne einer Subjektivität der Moderne offenbart sich auch bei ihr nicht. Vielmehr gleicht ihre Perspektive in gewisser Weise Ludwigs Denken und dem bürgerlichen Muster, das den nahezu mittellosen Mann im Bett der Tänzerin zur männlichen Mätresse am äußersten Rande der Gesellschaft werden lässt.69 Schluss In dieser Darstellung wurde zunächst erläutert, inwiefern es sich bei Remarques Der schwarze Obelisk um eine mehrschichtige Erzählung handelt. Einerseits spielt der Roman zur Zeit der Weimarer Republik, andererseits ist der Text eine kritische Perspektive auf die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik. Die mehrdimensionale Anlage zeigt sich auch in der Einschreibung autobiographischer Elemente des empirischen Autors in den Roman und in der sprachlichen Ambivalenz, die den Text zur zynischen Zeitkritik macht. Damit ist Remarques Darstellung zwar

68 Vgl. ebd., 186: »Der Mensch lebt nun einmal viel mehr vom relativen als vom absoluten Wert.« Die Formulierung verweist an dieser Stelle auf die soziologische Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Erfahrung des individuellen Subjekts. 69 Hier stehen die Bezeichnung als »Schaf« und das Verlangen nach einem »Pelzmantel« durchaus in Bezug.

180

Kommunikative Vergesellschaftung als sprachlicher Prozess

keine historische Quelle, aber sie ist dennoch ein authentisches Zeitdokument, in dem sich das Scheitern der bürgerlichen Gesellschaft im Aufbruch in die Moderne spiegelt. Dieses Scheitern ist in der Figur Ludwig Bodmers exemplarisch dargestellt und umfasst zwei Ebenen. Erstens schafft es der mittellose Bodmer nicht, sich als männliches Subjekt in der fiktionalen Welt zu realisieren. Das betrifft besonders die bürgerliche, aber auch die Möglichkeit einer neuen, modernen Subjektivität. Im Gespräch mit Lisa agiert er nicht auf Augenhöhe. Die Erwartungen, die er selbst an sich und die Frauen wie Gerda oder Erna an ihn stellen, kann er nicht so erfüllen, dass er eine bürgerliche Beziehung mit einer der Frauen verwirklichen könnte. Vielmehr ist er in der Konkurrenz zu Männern wie Riesenfeld, Georg, Willy oder Eduard chancenlos unterlegen. Seine Beziehung zu Isabelle ist der einsame Versuch, dauerhaft eine Frau zu finden, die ihn akzeptiert und die sich ihm in ihrer Hilflosigkeit unterstellt. Das Dilemma in seiner Situation zeigt sich an der Stelle darin, dass er dafür als Rolf oder Rudolf in andere Rollen eintreten muss und dadurch in Konkurrenz zu sich selbst tritt. Obwohl er sich diesem Konflikt stellt, kann er sich in der Konstellation nicht behaupten. Eine langfristige Bindung kommt nicht zustande. Stattdessen ist Geneviève Terhoven am Ende geheilt und bestätigt die Einsamkeit der Figur Ludwig Bodmer außerhalb der Anstalt. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich beide wieder in »zwei (übrigens auch gesellschaftlich) getrennte[n] Welten, in denen sie fortan gesund, also ›normal‹ leben werden.«70 Zweitens zeigt sich das Scheitern auch im sozialen Prozess der kommunikativen Vergesellschaftung. Obwohl sich die Figur Ludwig Bodmers in der Begegnung mit Isabelle und in der Konfrontation mit dem Krankheitsbild ›Schizophrenie‹ für eine alternative Wirklichkeit und eine komplexe Vorstellung einer anderen Realität grundsätzlich öffnet, verharrt die Figur in bestehenden Denkmustern und sucht die Grenzüberschreitung nicht. Das gilt auch für die Frauen, denen Bodmer im Alltag begegnet. Sie bewegen sich souverän in ihrer bürgerlichen Rolle als Frau, aber überschreiten die sozionormativen Grenzen nur so weit, dass es die eigene Position nicht gefährdet. Bodmer erkennt zwar das sozioökonomische Problem in seiner eigenen Situation und spricht das Problem seiner Zeit an, aber seine Aussagen dazu bleiben ohne gesellschaftlichen Respons. Auf der Ebene der Figur und in der reflexiven Anlage der Narration führen Beobachtungen nicht zur Katalyse einer emanzipatorischen Selbstkonstruktion als hybrides Subjekt der Moderne. Stattdessen gibt Bodmer »unfreiwillige Einblicke in seine autoritär strukturierte Persönlichkeit«.71 Die Kritik Nienabers und Orłowskis ist insofern durchaus berechtigt. Gleichzeitig ist der Text »ein das Leben zutiefst bejahender Roman«.72

70 Orłowski, 23. 71 Nienaber, 186. 72 Schneider, »›Ein ganz normaler Durchschnittsadoleszent‹«, 586.

181

Besonders in der Begegnung mit den unterschiedlichen Frauenfiguren zeigt sich, dass sich die Figur in einem autoritativen Korsett der kollektiven Erwartungen bewegt. Im Handeln ist Bodmer nicht unabhängig und in der Suche nach seiner sozialen Rolle und einer gesellschaftlichen Stellung bleibt er sozionormativ an die Chancen gebunden, die sich ihm in seiner fiktionalen Welt bieten. Sein Scheitern ist auch das seiner Gesellschaft. Deshalb ist der Verkauf des Obelisken durch Ludwig am Ende des Romans nicht nur ein letzter wirtschaftlicher Abschluss und eine persönliche Traumabewältigung. Damit verbunden ist ein restaurativer Akt, der die moralischen Verwerfungen in der Gesellschaft beenden und eine bürgerliche Ordnung in der Zukunft wiederherstellen soll. Ein Aufbruch in die Moderne ist das nicht.

182

Maria KŁaŃska

Erinnerung und Vergessen in Erich Maria Remarques Exilroman Die Nacht von Lissabon

Die Nacht von Lissabon ist freilich nur thematisch ein Exilroman, ist also einem der Lebensthemen des Autors gewidmet, denn das Werk ist circa zwei Dezennien nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahre 1960–1961, entstanden. Es wurde zum ersten Mal in der Zeitschrift Die Welt am Sonntag vorabgedruckt und erschien mit vielen Veränderungen Ende 1962 in Buchform bei Kiepenheuer & Witsch.1 Man kann diesen Roman auf vielerlei Weise untersuchen, als Ausdruck der Humanität des Autors, als Exilroman, als Liebes- und Abenteuerroman, schließlich als einen Roman über Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen. Somit fügt er sich ausgezeichnet in den Diskurs über kommunikatives und kulturelles Gedächtnis der letzten Jahrzehnte ein.2 Angeregt durch Thomas F. Schneiders Nachwort »Käfig aus goldenen Tränen«3 in der KiWi-Ausgabe aus dem Jahre 2020 möchte ich versuchen, Die Nacht von Lissabon im Lichte des interdisziplinären Gedächtnis-Diskurses zu betrachten. Die Erzählkonstruktion des Romans hat die Form einer Rahmengeschichte in der Ich-Form mit zwei Erzählern, Josef Baumann vel Schwarz in der Binnengeschichte und dem namenlosen Rahmenerzähler, der wie Schwarz ein Flüchtling ist und auf der »Via Dolorosa« der vor dem Naziregime Flüchtenden mit seiner Frau Ruth über Frankreich, Spanien bis nach Portugal

1 Vgl. Thomas F. Schneider. »Editorische Notiz«. Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. 3. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2020 (KiWi 1577), 359. 2 Ich beziehe mich vor allem auf folgende Werke: Aleida Assmann. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 3. Aufl. München: C.H. Beck, 2006; Jan Assmann. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck, 2005; sowie Astrid Erll. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, 2005. 3 Vgl. Thomas Schneider. »›Käfig aus goldenen Tränen‹. Zu Erich Maria Remarques Die Nacht von Lissabon«. Remarque, Die Nacht von Lissabon, 361–380.

183

Maria Kłańska

gekommen ist. Ihre Aufenthaltserlaubnis für Portugal läuft bald ab, und sie versuchen ähnlich den Scharen anderer Verzweifelter, auf das letzte Schiff zu gelangen, das 1942 nach Amerika auslaufen soll. Obwohl sie weder Schiffskarten noch Pässe mit einem amerikanischen Visum haben, hofft der Erzähler auf ein Wunder. Wir erfahren nichts über sein Leben, er ist nur ein Zuhörer, der lediglich Zwischenrufe während der Erzählung von Schwarz macht, und gleichzeitig die Erzählinstanz im Roman ist. Der Fokus der Erzählung ist also auf die Binnengeschichte gerichtet. Josef Schwarz, der nach dem Selbstmord seiner todkranken Frau jegliches Interesse an sicherer Zuflucht verliert, bietet diesem anonymen Passanten zwei gültige Schiffskarten an und dann sogar zwei gefälschte, aber glaubwürdig wirkende Pässe mit einem amerikanischen Visum für den geringen Preis, ihm in jener Nacht, während er seine Lebensgeschichte erzählt, zuzuhören und sich diese Geschichte zu merken, damit sie in dessen Erinnerung lebendig bleibt. Somit bittet Josef den Erzähler um das, was die Assmanns als kommunikatives Gedächtnis4 bezeichnen, um individuelles Festhalten des Gehörten im Gedächtnis. Er selbst will ein neues Leben in der Fremdenlegion anfangen und vergessen können. Der namenlose Ich-Erzähler ist hier derjenige, der im Auftrag des Autors den Inhalt der Erinnerungen Josefs auf einer höheren Stufe dem kulturellen Gedächtnis an die Nazizeit und das Exil einverleiben soll. Die Rahmenhandlung ist spärlich, die beiden Männer wechseln während dieser letzten Nacht in Lissabon mehrmals die noch geöffneten Lokale, Josef erzählt, und sein Partner isst sich zuerst auf dessen Kosten satt, hört zu, manchmal wenig aufmerksam, weil ihn vor allem die wundervolle Aussicht auf Reise und Rettung vom Hören ablenkt, und wirft ab und zu eine Zwischenfrage ein bzw. bestätigt, dass er ähnliche Exilerfahrungen wie sein Gesprächspartner gemacht hat. Somit verbindet die beiden Gesprächspartner stellenweise das kollektive kommunikative Gedächtnis der Flüchtlinge vor dem Naziregime. Viele Motive dieses Werkes kommen schon in früheren Exilromanen Remarques vor, so z.B. der Aufenthalt im einem deutschen KZ, die Flucht in die Schweiz bzw. nach Frankreich, die gefährliche Rückkehr nach Hause wegen der Sehnsucht nach der geliebten Frau und z. T. auch der Heimat, die Flucht durch Europa, der Tod der Partnerin, die Rache an einem nazistischen Verfolger bzw. in diesem Falle seine Ermordung aus Notwehr, die Rettung weniger Figuren auf ein Schiff, das Europa verlässt. Nirgendwo sonst in den Exilromanen ist aber meines Wissens der Fokus so sehr auf die Problematik des Erinnerns und des Vergessens gerichtet. Man könnte hier mit Astrid Erll von einem rhetorischen reflexiven Mo-

4 Vgl. J. Assmann, Das Kulturgedächtnis, 56. Das kommunikative Gedächtnis ist für ihn ein Erinnerungsregister von 80–100 Jahren, das die meistens mündlich überlieferten Erinnerungen einer Familie oder einer Generation umfasst. In Remarques Roman ist es etwa die Gemeinschaft der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich.

184

Erinnerung und Vergessen in Die Nacht von Lissabon

dus sprechen, der dann vorliegt, »wenn das literarische Werk eine erinnerungskulturelle Selbstbeobachtung ermöglicht.«5 Das ist wohl mit der Nachkriegsperspektive des Rahmenerzählers verbunden, der bereits eine Distanz von ca. 20 Jahren zum Erzählten hat, bereits gerettet ist und in der Friedenszeit zwar nicht nach Deutschland zurückkehrt, aber es ruhig besuchen kann. Es ist ebenfalls mit der Perspektive des Autors verbunden, der sich nicht entschieden hat, nach dem Kriege nach Deutschland zurückzukehren, und stattdessen seinen 1947 erlangten amerikanischen Pass benutzte und in der italienischen Schweiz lebte. Wie er in seinem Interview mit Heinz Liepmann feststellte, befürchtete er nämlich, dass die Deutschen den Krieg und die Gräueltaten der Nazis zu leicht vergessen würden, und wollte sie zum Erinnern auffordern, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.6 Das macht nach der Unterscheidung von Astrid Erll zwischen den rhetorischen Modi des kollektiven Gedächtnisses den Roman zu einem Text, in dem der erfahrungsgemäße, also alltäglich im mündlichen Gespräch zwischen Josef und dem Erzähler etablierte Modus und der reflexive Modus des Binnenromandiskurses über Erinnerung und Vergessen überwiegen. Zum Teil haben wir es aber auch mit einem antagonistischen bzw. konträren Erinnerungsmodus zu tun.7 Konträr sind diese Erinnerungen Josefs nämlich als die eines Repräsentanten der Flüchtlinge sowohl zu denen der Anhänger und Mitläufer des Naziregimes in Deutschland als auch teilweise zum nationalen Gedächtnis Frankreichs und anderer westeuropäischer Länder. Das letztere kommt dadurch vor, dass ein besonderes Augenmerk auf die Internierung der Flüchtlinge und ihre harte, in der Gedankenlosigkeit der Internierenden fast grausame Behandlung in den Lagern (obwohl zum Teil durch die Lage der Exilländer selbst begründet) gelegt wird sowie auf die Schikanen, die sie hinnehmen mussten, wenn sie dazu gezwungen waren, eines der Exilländer auf der Weiterflucht zu verlassen oder als Transitland zu passieren.Die Problematik des Erinnerns und Vergessens zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufforderungen und Erklärungen Josefs an den Rahmenerzähler, sie ist aber auch in der Binnengeschichte sichtbar. Thomas F. Schneider macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die beiden Gesprächspartner unzuverlässige Erzähler sind.8 Der Zuhörer wird zuweilen ungeduldig, ist vor allem an seinen Schiffskarten interessiert, und Schwarz ist anzumerken, dass der Prozess des Vergessens bereits eingesetzt hat und er manches nicht mehr

5 Erll, Kollektives Gedächtnis, 168. 6 Vgl. Heinz Liepmann. »Remarque und die Deutschen. Ein Gespräch mit Erich Maria Remarque«. Remarque, Die Nacht von Lissabon, 347–360, hierzu bes. 351–352. 7 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, 168. 8 Vgl. Schneider, »Käfig aus goldenen Tränen«, 373–378. Zum unzuverlässigen Erzählen, das »eine Sonderform der Ich-Erzählung ist« als einem literarischen Verfahren, das »dominant dem reflexiven Modus zuzuordnen ist«, vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, 186–187.

185

Maria Kłańska

lebendig, sondern wie erstarrt vor sich sieht. Die Bemerkung Schneiders, dass Schwarz ungleichmäßig erzählt, da er seiner Rückkehr nach Deutschland und der Wiederbegegnung mit seiner Frau drei Viertel seiner Schilderungen widmet, während wir sowohl über seine Vergangenheit vor der Flucht aus dem Dritten Reich nach Frankreich und über sein Leben vor 1933 als auch über den Aufenthalt in Lissabon sehr wenig erfahren, stimmt freilich, aber ich finde es glaubwürdig, dass der Protagonist seine Lebensgeschichte nicht lückenlos erzählen will, sondern das, was ihn besonders interessiert, hervorhebt. Am Anfang der Begegnung bekennt Schwarz gar nicht, dass es ihm so sehr auf das Bewahren der Erinnerungen ankommt, sondern behauptet nur, dass er diese letzte Nacht in Lissabon nicht allein verbringen möchte. Angesichts dessen, dass seine verstorbene Frau noch in seinem Emigrantenzimmer liegt und das Begräbnis erst bevorsteht, ist dieser Wunsch sehr verständlich. Das Thema Erinnerung beginnt eine Rolle in der Binnengeschichte zu spielen, als Schwarz über seinen Aufenthalt in Deutschland 1938 erzählt. Voller Ängste, weil er illegal gekommen war und jederzeit von der Gestapo erwischt werden konnte, denkt er zuerst an seine Heimat als an ein fremdes, feindliches Land, ein Land, in dem sich Vieles verändert hat, seitdem er es fluchtartig verlassen hatte. Als er aber seine nähere Heimat, die Gegend von Osnabrück, wiedersieht, die mit ihren blühenden Gärten ganz idyllisch wirkt, und die Menschen hört, die genauso wie die Franzosen Angst vor dem kommenden Krieg haben, und keine Uniformen sieht, die ihn an die neue Ordnung ermahnen würden, erinnert er sich sentimental an seine Jugend, die er dort verlebt hat, und vergisst zeitweise das KZ und die Folterungen, denen er dort vor der Flucht ausgesetzt war.9 Schwarz behauptet seiner Frau gegenüber, dass er kommen musste, um sie wiederzusehen, aber seinem Gesprächspartner verrät er, dass er das Emigrantendasein nicht mehr aushalten konnte und es wenigstens kurz unterbrechen musste. Er wusste auch nicht, ob seine Frau sich von ihm nicht scheiden ließ, wozu er ihr selbst geraten hatte, um sie nicht zu gefährden, und nicht wieder geheiratet hat. Er sagt selbst, dass sie früher eine gute Gewohnheitsehe geführt haben. Seine Frau ist zuerst über seine Ankunft bestürzt, fühlt sich dann aber wieder von ihm angezogen und verkehrt sexuell mit ihm. Josef stellt wiederum fest, dass sie sich sehr verändert hat oder dass er sie früher nicht wirklich gekannt hat, denn sie ist romantisch, auf neue Erfahrungen aus und schätzt die Veränderung im Leben. Das gibt dem alten Emigranten neuen Lebensmut, zumal er im letzten Augenblick erfährt, dass sie ihn auf dem Weg ins Exil begleiten will. Solange sich Josef aber in der Heimatstadt aufhält, streiten in ihm die Erinnerung an die Geborgenheit und das Glück, die er dort erlebt hat, und die

9 Vgl. Remarque, Die Nacht von Lissabon, 42–43.

186

Erinnerung und Vergessen in Die Nacht von Lissabon

Erinnerung an das KZ und die Verhaftungen der Exilzeit, denn »Polizisten vergaßen nicht. Und Denunzianten wurden nicht durch Mondlicht und Lindenduft zu Heiligen«.10 Als Schwarz seine alte Wohnung sieht, denkt er daran, dass er sich im Exil zuerst oft an sie erinnerte und sie dann, sicher als pars pro toto, für sein früheres Leben zu vergessen versuchte.11 Im Gespräch mit Helen in seiner alten Wohnung unterhalten sie sich u. a. über seinen falschen Namen, und sie fragt ihn, ob er mit dem Namenswechsel ein neues Dasein angefangen und ob er nichts vom alten Leben in dieses neue mitgenommen habe, d. h. ob er alles vergessen habe, um weiterleben zu können. Er meint aber mit dem neuen Leben nicht das Exil, sondern seine Begegnung mit Helen und seine Überraschung über ihren Charakter und über ihre Liebe. Er antwortet, dass das, woran er sich erinnere, nur ein Echo sei, und definiert, dass das Echo eine Erinnerung sei, »die nicht mehr schmerzt und beschämt«.12 Allerdings beginnt er schon jetzt, auf den anderen Mann oder die Männer, mit denen Helen während seiner Abwesenheit liiert gewesen sein konnte, eifersüchtig zu sein. Nicht vergessen zu können in dieser Hinsicht wird ihn sein weiteres Leben lang, sogar über Helens Tod hinaus, verfolgen. Mitten in der Erzählung in Lissabon bemerkt Schwarz – im Einklang mit der modernen Gedächtnisforschung – dass das Gedächtnis trügt. Schmerzhafte Momente wie sein Aufenthalt im deutschen KZ werden verdrängt, denn: »[...] unser Gedächtnis fälscht, um uns überleben zu lassen. Es versucht, das Unerträgliche zu mildern durch die Patina des Vergessens. Sie kennen das?« »Ja, ich kenne es«, erwiderte ich [der Rahmenerzähler]. »Aber es ist kein Vergessen; es ist nur eine Art Halbschlaf. Ein Stoß genügt, und alles ist wieder hellwach.«13

Josef reflektiert dies im Kontext der Situation, dass in der Wohnung Helens ihr Bruder Georg, ein Nazi, der ihn ins KZ gebracht hatte, erscheint, und der im Kleiderschrank versteckte Protagonist sich wieder an seine Angst in jener Zeit erinnert. Er meint, seine Erinnerung wurde vielleicht dadurch getrübt, dass er aus dem Lager relativ schnell entlassen wurde und dass er selbst nicht auf die grausamste Weise behandelt worden war, es sollte wohl ein »Umerziehungslager« sein. Angesichts der Gefahr wird seine Erinnerung wieder wach und er versteht nicht, wieso das Vergessen bzw. Verdrängen so stark gewesen war, dass er die relative Geborgenheit der Exilländer (»gesegnete[r] Länder«) verlassen konnte, wo man für die Tatsache, dass man existierte, nur mit Gefängnis und Ausweisung, nicht

10 Ebd., 75. 11 Vgl. ebd., 77. 12 Ebd., 90. 13 Ebd., 105.

187

Maria Kłańska

mit Folter und Tod bestraft werden konnte.14 Sicher wurden traumatische Erlebnisse aus seiner Erinnerung unbewusst verdrängt, aber wie es sich in kritischen Momenten erweist, doch nicht wirklich vergessen. Der Ich-Erzähler hört Josef zu und reflektiert, dass er für diesen »nur eine Wand war, von der manchmal das Echo kam.«15 Erst gegen Ende der Nacht formuliert Schwarz sein Anliegen, dass er es erzähle, weil er selbst vergessen, ein neues Leben anfangen wolle und doch wolle, dass seine Geschichte im Gedächtnis seines zufälligen Gesprächspartners bleibe. Dieser vermutet zuerst, dass Josef das Bedürfnis hat, seine Lebensgeschichte und vor allem Liebegeschichte noch einmal aufleben zu lassen, »bevor er es im lautlos rieselnden Sand der Erinnerung begraben mußte«.16 Diese Metapher der Erinnerung als eines lautlos rieselnden Sandes, der das Geschehene begräbt, weist bereits auf die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses hin, das auch das Vergessen beinhaltet. Ein weiteres Motiv, das für die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses steht, ist der Wunsch Josefs, er möge sich diese schöne Nacht von Lissabon, voller Lichter der Stadt, die objektiv gesehen die schrecklichste seines Lebens ist, weil seine Frau sich einen Tag zuvor umgebracht hat, als die schönste seines Lebens in Erinnerung behalten. Solch eine Verschiebung ist wohl psychologisch kaum möglich, doch der Protagonist begründet es damit, dass man das Glück gegenwärtig nie als vollkommen erlebt, erst in der Rückerinnerung, wenn der Sachverhalt sich nicht mehr ändern kann, wird es vollkommen. Es ist allerdings zweifelhaft, ob deshalb das erinnerte Unglück zum Glück werden kann, allenfalls schmerzt es nicht mehr so. Er nennt die Erinnerung »das Bild ohne Schmerz«,17 womit man einverstanden sein kann. Josef erinnert sich an das kurze Idyll im Tessin auf dem Weg mit Helen nach Paris und dann an die relativ ruhige Zeit, die sie dort bis September 1939 verbrachten, als sie mit legalen Pässen mit Touristenvisen lebten und, wie er im Nachhinein feststellt, glücklich waren, bis sie nach dem Ausbruch des Krieges als feindliche Deutsche interniert wurden, Josef in Le Vernet und Helen im Frauenlager Rieucros. Er meint, dass Momente des Glücks in der Erinnerung schrumpfen, wahrscheinlich weil man nicht viel darüber berichten kann, sondern es summa summarum als eine glückliche Lebenssträhne sieht. »›Glück‹, sagte Schwarz, ›Wie das zusammenläuft in Erinnerung! Wie ein billiger Stoff in der Wäsche. Nur das Unglück kann zählen.‹«18 Auf Helens Frage, was sie denn nun, im April 1939, in Paris seien, antwortete er:

14 Vgl. ebd., 106. 15 Ebd., 110. 16 Ebd., 110. 17 Ebd., 146. 18 Ebd., 163.

188

Erinnerung und Vergessen in Die Nacht von Lissabon

»Wir sind wie Schiffsbrüchige, die ihre Erinnerungen verloren haben. Sie haben nichts zu bedauern – denn Erinnerung ist immer auch Bedauern, daß man das Gute, was man gehabt hat, an die Zeit verlieren mußte, und das Schlechte nicht besser gemacht hat.«19

Aber dass sie damals glücklich gewesen waren, stellt Josef erst nach dem Tode seiner Frau im Bericht an den Erzähler fest. Trotz dieser Verkürzung in der Erinnerung meint Schwarz, dass sie damals außerhalb der Zeit, quasi in der Ewigkeit lebten. Da der Ich-Erzähler, der angesichts seiner Gegenwartssorgen nichts über das Glück hören will, ablehnend wirkt, reagiert sein Gesprächspartner mit einem längeren Monolog über die Glückserinnerung und die geliebten Toten: »Es soll nicht sterben!« sagte Schwarz plötzlich heftig. »Es soll stehenbleiben wie eine Skulptur aus Marmor! Nicht wie eine Sandburg, von der jeden Tag etwas wegweht! Was geschieht denn mit den Toten, die wir lieben? Was geschieht damit, Herr? Werden sie nicht immer noch einmal getötet? Wo anders sind sie denn, als noch in unserer Erinnerung? Und werden wir da nicht alle zu Mördern, ohne es zu wollen? Soll ich das Gesicht dem Hobel der Zeit überlassen, das Gesicht, das ich allein kenne? […] Deshalb muß ich es ja sogar vor mir selbst retten, vor dem fressenden Egoismus des Weiterlebenwollens, der es vergessen und zerstören will!«20

Der Gedanke, dass die verstorbenen geliebten Menschen solange leben, wie sie in unserer Erinnerung präsent sind, ist eine Binsenwahrheit. Schwarz schwankt aber zwischen dem Bestreben, das Bild der Toten ohne Veränderung, wie eine Marmorstatue, im Gedächtnis zu bewahren, und dem Bewusstsein, dass seine Erinnerung es verändern und verblassen lassen wird, damit er weiterleben kann. Dazu dient das Bild des Efeus, der zuerst seine Erinnerung umranken wird, und des Humus, zu dem sie dann zersetzt wird, worunter metaphorisch das schrittweise Vergessen zu verstehen ist. Um diese Erinnerung festzuhalten, versucht er, seinen Gesprächspartner dazu zu bewegen, die Erzählung seiner Lebensgeschichte unverändert im Gedächtnis zu bewahren. Aber das ist nicht realistisch, denn einerseits schildert er diese vier Jahre doch nicht objektiv, da schon unsere Wahrnehmungen selektiv und somit subjektiv sind und sein Gedächtnis inzwischen bereits einiges verändert hat. Und zweitens kann er doch nicht damit rechnen, dass der fremde Mann alles pietätvoll im Gedächtnis behält. Thomas F. Schneider stellt zu Recht fest, dass es tatsächlich so ist, denn der Erzähler hat Schwarz nicht einmal die ganze Zeit aufmerksam zugehört, und als er ihn nach dem Kriege in Deutschland in Osnabrück wiederzufinden versucht,

19 Ebd., 164. 20 Ebd., 166.

189

Maria Kłańska

erweist sich, dass er seinen wirklichen Namen vergessen hat.21 Aber bereits an jener Stelle im Roman entgegnete der Erzähler Schwarz, dass die Erinnerung kein elfenbeinerner Schrein in einem staubdichten Museum sei, sondern ein Tier, das fresse und verdaue. Damit der Betroffene nicht durch sie zerstört werde, müsse sie sich selbst auffressen.22 Der Roman ist voller solcher Metaphern in Bezug auf Erinnerung und Vergessen. Als kurz darauf Schwarz über die letzte sorglose Periode der Liebenden in Paris berichtet, wiederholt er noch einmal das Bild des nach der Wäsche eingelaufenen Stoffes: »Was bleibt?« sagte Schwarz, »schon jetzt läuft es zusammen wie ein Hemd, aus dem die Stärke gewaschen worden ist. Die Perspektive der Zeit ist nicht mehr da; was eine Landschaft war, ist nun ein flaches Bild – es ist fließende Erinnerung, aus der sich lose Bilder heben […].«23

Es bleibe nur im Kopf des Erinnernden, aber selbst dort sei es gefährdet wie ein Kleid in einem Schrank voller Motten. Daher soll sein Zuhörer es getreu in seinem Gedächtnis bewahren, weil es für ihn nicht schmerzlich sei, weil es ihn nicht berühre. Dies ist zwar eine falsche Rechnung, aber der Vorwand für den Autor, diese Story zu erzählen. Im zweiten Teil des Romans wird die Internierung und Trennung der beiden Liebenden geschildert, der Aufenthalt Josefs in Le Vernet, seine Flucht von dort und der schließlich erfolgreiche Versuch, Helen angesichts der deutschen Okkupation und der somit bestehenden Lebensgefahr aus ihrem Internierungslager zu befreien. Dies gelingt ihm zwar, aber Helen war schon beim Verlassen Deutschlands todkrank, was er bisher nicht wusste, und anderseits hört er und errät, dass sie, um im Lager zu überleben, mit anderen Männern sexuell verkehren musste, was wieder seine Eifersucht anstachelt. Helen versucht dem entgegenzuwirken, indem sie ihm mehrmals versichert, dass er nicht vergessen solle, wie sehr sie ihn liebe.24 Schwarz beteuert zwar, dass die Hauptsache für ihn war, dass sie lebte, aber trotzdem konnte er ihre mutmaßliche Untreue nicht vergessen. »Vielleicht konnten wir dann alles vergessen‹. ›Man kann es nicht, sagte Schwarz. ›Nicht mit aller Liebe, allem Mitleid, aller Güte, aller Zärtlichkeit.‹«25 Dieser Gedanke verfolgt ihn noch nach ihrem Tode, als er den Erzähler mehrmals fragt, ob er ein ewiger

21 Vgl. Schneider, »Käfig aus goldenen Tränen«, 377. 22 Remarque, Die Nacht von Lissabon, 166. 23 Ebd., 181. 24 Vgl. ebd. 25 Ebd., 233.

190

Erinnerung und Vergessen in Die Nacht von Lissabon

Hahnrei gewesen sei, und ihm die ungelesenen Briefe Helens überreicht, weil er keinen Mut hat, darin zu lesen. Der Erzähler will sie zuerst in ihren Sarg legen und wirft sie dann ins Meer. Für ihn ist die Frage der Treue oder Untreue Helens belanglos und Schwarz sucht er zu beruhigen, dass doch ihre große Liebe zu ihm die Hauptsache war. Mit dem Wegwerfen der ungelesenen Briefe hat der Erzähler die Möglichkeit verworfen, die Erzählung interdiskursiv zu gestalten26 und Helen selbst durch ihren Briefwechsel zu Wort kommen zu lassen. Bei diesem Teil der Erzählung über die Internierung und illegale Flucht durch Frankreich wird mehrmals mit Erbitterung festgestellt, dass die Franzosen die gefährdeten Flüchtlinge als Feinde internierten und viel schlechter behandelten, als sie es mit den Nazis taten, die sie austauschen konnten. Sie brauchten diese Gefangenen nicht, und doch ließen sie sie Hunger und Kälte leiden, anstatt sie frei zu lassen.27 Das meinte ich mit dem antagonistischen, oder zumindest konträren Modus der Rhetorik in Bezug auf das Gastland Frankreich nach 1939/40. Nach der Befreiung Helens versuchten die beiden in Richtung Spanien und Portugal zu gelangen, um nach Übersee zu entkommen. Dabei erleben sie noch kurze idyllische Perioden, wie ihr surrealer Aufenthalt in einem leeren Schlösschen bei Cognac, wo sie in Maskenballkostümen auftreten und Helen ihn beschwört: »Erinnere dich immer so an mich wie jetzt«,28 womit sie wohl ihren künftigen krankheitsbedingten Verfall meint. In Marseille wird Josef vor dem amerikanischen Konsulat von der Polizei erwischt. Er wird von Georg, der seiner habhaft wurde, und dann von einem zynischen, pathologisch lächelnden Nazi verhört und gefoltert. Schließlich gelingt es ihm durch eine List, zu entkommen und sich Georgs Wagen anzueignen, aber um dies zu bewerkstelligen, muss er seinen Verfolger und gleichzeitig Helens Bruder töten. Das ist ein etwas variiertes Motiv Remarques, die Ermordung eines Nazis durch einen Flüchtling, hier allerdings nicht aus Rache, sondern aus Notwehr. Das Motiv der Rache bleibt aber offen, denn am Ende seiner Erzählung behauptet Josef mehrmals, er werde sich zwar töten, aber nur symbolisch, die Erinnerung ausmerzen, aber keinen Selbstmord begehen, sondern in die Fremdenlegion eintreten und nach Deutschland zurückgehen, denn solange der Lächler, d. h. sein zweiter Verfolger, lebe, dürfe man sich nicht töten. Damit wird eine aktive antifaschistische Haltung angedeutet. Auch die französisch-spanische Grenze können sie leicht passieren, weil Schwarz Georgs Pass besitzt und sich somit als ein Nazi ausgeben kann, daher

26 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, 148. Gemeint ist hier die Bachtin’sche Polyvalenz, Darstellung des Geschehens durch verschiedene Stimmen, aus verschiedenen Perspektiven. 27 Vgl. Remarque, Die Nacht von Lissabon, z.B. 193, 201, 240. 28 Vgl. ebd., 255.

191

Maria Kłańska

bekommt Helen ohne Weiteres ein Visum und sie werden mit Ehrenbezeugungen durchgelassen. Auf die Bitte Helens nehmen sie einen 12jährigen Jungen mit, dessen Familie von den Nazis umgebracht wurde, offensichtlich einen Juden. Das seien sie, nach Meinung der Frau, dem Schicksal schuldig, für das dem Nazi Georg genommene Leben ein anderes Leben zu retten, worin sich der Remarquesche Vitalismus äußert. Durch einen Glücksfall bekommen sie Dank der Hilfe eines jungen Amerikaners sogar die amerikanischen Visa, aber es ist zu spät, Helen hat sich in ihrem Zimmer umgebracht. Damit und mit der Bitte, zusammen mit ihm auf sein Zimmer zu gehen, wo ihre Leiche liegt, und an Helens Begräbnis teilzunehmen, endet die Handlung der Binnengeschichte. Vielleicht ist auch diese Szene, in der die Erzählung von Schwarz über seine lebende Geliebte mit dem Bild der erstarrten, toten Frau konfrontiert wird, ein Hinweis, wie die Erinnerung die Vergangenheit zu einem unbeweglichen Bild erstarren lässt.29 Der Erzähler wirkt zuerst erschrocken, da Schwarz ihm zum Schluss deutlich macht, dass er ihm mit den Schiffskarten und Visen das Leben geschenkt hat, damit dieser seine Geschichte und das Bild Helens treu in Erinnerung behält. »Nur wir halten es noch«, flüsterte Schwarz. »Sie und ich. Niemand sonst. […] Vergessen Sie es nicht! Jemand muss es halten! Es soll nicht fort sein! Wir sind nur noch zwei. Bei mir ist es nicht sicher. Es soll nicht sterben. Es soll weiterleben. Bei Ihnen ist es sicher.« Mich überlief bei aller Skepsis ein sonderbares Gefühl. Was wollte der Mann? Wollte er mir mit seinem Paß auch seine Vergangenheit übergeben? Wollte er sich vielleicht doch das Leben nehmen?30

Die vorletzte Frage ist auch nicht grundlos, denn es ist in den menschlichen Erinnerungen nicht auszuschließen, dass man sich selbst unbewusst fremde Erlebnisse aneignet. Für den Erzähler stimmt es insofern, dass er die museale Leidenschaft für Antiquitäten und Kunst von Josef übernimmt, ebenso wie dieser zuvor von dem Mann, der ihm den Pass übergeben hatte.31 Josef beruhigt ihn hinsichtlich der Angst, ob er sich nicht umbringen wolle, dass er, solange der Lächler, einer seiner Verfolger, lebe, andere Pläne habe: »Aber mein Gedächtnis wird die Erinnerung zu zerstören suchen. Es wird sie zerkauen, zerkleinern, fälschen, bis sie zum Überleben geeignet und nicht mehr gefährlich ist! Schon in einigen Wochen könnte ich das nicht mehr erzählen, was ich

29 Ebd., 322. 30 Ebd., 321. 31 Vgl. ebd., 326.

192

Erinnerung und Vergessen in Die Nacht von Lissabon

Ihnen heute erzählt habe. Deshalb wollte ich, daß Sie mir zuhören! In Ihnen bleibt es unverfälscht, weil es für Sie nicht gefährlich ist. Und irgendwo soll es doch bleiben. […] In irgendjemand, so wie es war, wenigstens noch eine kleine Zeit.«32

Der Protagonist hat recht, dass auf sein Gedächtnis kein Verlass ist. Das Schmerzliche und mit der Zeit überhaupt die Erinnerung an seine Frau wird verblassen, damit er weiterleben kann, die Trauerzeit kann nicht ewig dauern. Aber das bedeutet freilich nicht, dass der Fremde, auch wenn er weiß, was er Josef verdanken wird, die Geschichte eines fremden Mannes getreu im Gedächtnis behält. Diese Geschichte ist ihm zwar insofern wichtig, dass er dank ihrer Anhörung sein eigenes und seiner Frau Ruth Leben retten kann, aber da er es nicht selbst erlebt hat, wird er es sich wohl kaum besser als Josef selbst merken. Zwar sagt Josef resigniert, dass es wenigstens für eine »kleine Zeit« sein soll, aber sein Anliegen ist doch das Bewahren für immer. Thomas F. Schneider erwähnt, dass Remarque zuerst vorhatte, den Rahmenerzähler zu einem Schriftsteller zu machen.33 Das hätte mehr Logik, denn sein Versprechen würde bedeuten, dass er Josefs und Helens Geschichte getreu aufschreiben und sie so festhalten und dem kulturellen Gedächtnis einverleiben wird. Aber vielleicht wollte der Autor die Ähnlichkeit seiner Person mit dem IchErzähler vermeiden. Auf jeden Fall macht Thomas F. Schneider zu recht auf das Motiv der im Bernstein erstarrten Mücke aufmerksam, die der Rahmenerzähler unter Helens Briefen gefunden hat, zumal im Roman öfter von der Erstarrung in der Erinnerung die Rede ist. Diese Mücke ist eine Metapher für die Auffassung der Erinnerung in diesem Werk. Aber, wie Schneider richtig anmerkt, ist es auch eine Metapher für Remarques Werk und für die Literatur schlechthin, die die Vergangenheit zwar erstarren lässt, aber sie so im Erinnerungsort des literarischen Werks festhält.34 Die ansprechende Metapher der im Bernstein erstarrten Mücke scheint jedoch mit den heutigen Erkenntnissen über Erinnern und Vergessen als einem dynamischen Prozess nicht übereinzustimmen. Es wird heute sowieso viel mehr Wert auf die Rezipienten der Literatur gelegt, deren jeweiliger Lektüreakt zu einem aktiven Faktor der Erinnerung wird.35 Remarque hat diesen Roman circa 15 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg konzipiert und einen Stoff aus dem Leben der deutschen Flüchtlinge vor den Nazis

32 Ebd., 321. 33 Vgl. Schneider, »Käfig aus goldenen Tränen«, 378. 34 Vgl. ebd., 379. 35 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, 150–155. Nach Paul Ricœur. Zeit und Erzählung. München: Fink, 1988–1991, spricht die Autorin von der »leserseitige[n], kollektiven Refiguration«, die zur »möglichen Neuperspektivierung und Veränderung« (vgl. 152) der Erinnerungskulturen im Austauschprozess führen kann.

193

Maria Kłańska

zum Teil wohl deshalb aufgegriffen, weil er, wie er dem Journalisten Friedrich Luft bekannte,36 vor allem über das schrieb, was er gut kannte; und das war das Deutschland der Vorkriegszeit und das Exil, zum Teil aber wohl auch, um seine Leser an die Zeit des Dritten Reiches und den zeitweiligen Sieg der Barbarei zu erinnern. Als Dichter der Humanität wollte er ähnlich wie mit seinem KZ-Roman Der Funke Leben die Rezipienten ermahnen, die Wiederholung einer unmenschlichen Zeit nicht zuzulassen und somit eine als kommunikativ, erfahrungshaft dargestellte Erinnerung im kulturellen Gedächtnis befestigen. Dabei ist es nicht besonders die Schoah, die Remarque in diesem und anderen Exilromanen interessiert. Es ist vor allem das Exil, die Geschichte der massenhaften Flucht aus dem Dritten Reich durch Europa, und zweitens das ihm weniger bekannte Nazideutschland selbst. In Die Nacht von Lissabon wird nur zweimal explizit auf jüdisches Leid hingewiesen, einmal angesichts der jüdischen Familie im Lager Rieucros, die in ihrer hilflosen Passivität trotz der akuten Nazigefahr nicht fliehen will, und aktiver in der Gestalt des Jungen, dessen Familie umgebracht wurde und der zu seinem Onkel in Portugal im Auto mitgenommen wird. Was den Autor interessiert, ist das Leben und die »Via Dolorosa« der Flüchtlinge als einer internationalen Gemeinschaft, die vor dem Bösen flieht. Das kommunikative Gedächtnis, das hier und in seinen anderen Exilromanen durch die Figuren aktiviert wird, ist eines der exilierten Antifaschisten, der aktiven oder häufiger passiven Gegner des Hitlerstaates, die zwar vielleicht ihr Leben retten können, wenn sie Glück haben, aber lebenslang traumatisiert bleiben werden. Damit ihr Leidensweg nicht vergessen wird, bemüht sich der Autor, das Funktionsgedächtnis seiner fiktiven Figuren im kulturellen Speichergedächtnis der Nachwelt unterzubringen.37 Seine Bücher werden dabei im Akt der Lektüre zum Zirkulationsmedium, das Erinnerungen abruft.38 Dabei lasse ich freilich den Neben- oder, je nach den Bedürfnissen der Leser, sogar Hauptdiskurs der Liebes- und Eifersuchtsgeschichte Josefs und Helens aus, damit der Fokus auf der Problematik des Gedächtnisses bleibt.

36 Vgl. Interview mit Friedrich Luft. »Das Profil. Gespräch mit Erich Maria Remarque«. Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Essays 1929–1966. Hg. u. mit einem Vorwort von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998, 118–133. 37 Zum Funktionsgedächtnis, das Aleida Assmann als »das bewohnte Gedächtnis« bezeichnet, und dem Speichergedächtnis, das sie »Gedächtnis zweiter Ordnung, Gedächtnis der Gedächtnisse« nennt, vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 130–137, und Erll, Kollektives Gedächtnis, 31–32. 38 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis, 139.

194

Uwe Zagratzki

Das Amerikabild in Remarques Spätwerk

Die Exiljahre in den USA Bereits eine kurze Beschäftigung mit Remarques Biographie lässt auf seine umfangreichen Reiseaktivitäten seit den 1930er Jahren schließen. Ursächlich dafür waren einerseits der nach dem Welterfolg mit Im Westen nichts Neues (1928) zunehmende internationale Bekanntheitsgrad, anderseits die zahlreichen Geliebten, mit denen er sich an teils exklusiven Orten vergnügte, aber vor allem seine politisch erzwungene Emigration zuerst in die Schweiz und anschließend in die USA. Dort verbrachte er in der Mitte seines Lebens mehr als ein Jahrzehnt, was die Frage nach einer Beschäftigung mit dem US-amerikanischen Kulturraum, der ihm Schutz bot, aufwirft und wie sie sich gegebenenfalls in seinen Romanen äußert. Stellvertretend stehen hier die beiden posthum veröffentlichen Spätwerke Schatten im Paradies (1971), Das gelobte Land (1998) und das unveröffentlichte Schauspiel Die Heimkehr des Enoch J. Jones (1956). Remarques amerikanisches Exil beginnt im Spätsommer 1939 und endet 1951 mit seiner Rückkehr in die Schweiz, aus der er in die politische Emigration nach Übersee aufgebrochen war, nachdem er dort im Tessin seit Frühjahr 1932 gelebt hatte. Obwohl er seinen Lebensmittelpunkt nach Ponto Ronco zurückverlegt, wird er bis in die sechziger Jahre regelmäßig für kürzere oder längere Phasen in die USA, besonders nach New York, zurückkehren. Auch die 1947 erworbene USamerikanische Staatsbürgerschaft behält er in Ermangelung einer deutschen bis zu seinem Tod 1970.1 Sein US-Exil beginnt Remarque – an wechselnden Wohnorten – im September 1939 in Kalifornien. Von dort zieht er nach New York um, wo er sich im Oktober 1942 niederlässt und bis Juni 1951 vorrangig im Hotel Ambassador aufhält,

1 Remarque war am 4. Juli 1938 aus dem Deutschen Reich ausgebürgert worden.

195

Uwe Zagratzki

bevor er ein Apartment in der 57. Straße bezieht. Mehr oder weniger flüchtige Kontakte mit amerikanischen Kulturschaffenden sind vor allem für Remarques Zeit in Los Angeles/Hollywood belegt.2 Auch im multikulturellen New York sind Beziehungen zu einer der vielfältigen amerikanischen Kulturgemeinschaften, die über geschäftliche Kontakte zu Verlegern oder Übersetzern hinausgehen, nicht verbürgt. Entsprechende Tagebucheinträge fehlen,3 sodass vermutet werden darf, dass der Emigrant Remarque, dem das Asylland zur gelegentlich unverstandenen neuen Heimat wurde,4 weder an der West- noch an der Ostküste bemüht gewesen ist, sein Verhältnis zu den USA aktiv zu vertiefen oder gar seine kulturelle Assimilation zu vollziehen. Stattdessen wahrt er in seinen Tagebucheinträgen einerseits eine kritisch-beobachtende Distanz zur amerikanischen Wirtschafts- und Außenpolitik besonders in den Zeiten des Kalten Kriegs unter dem Präsidenten Harry Truman.5 Andererseits lässt sich daraus auf Remarques wachsende Politisierung im amerikanischen Exil schließen.6 Dieselbe Distanz entwickelt er – nach Aus-

2 Sie beziehen sich vor allem auf Partybekanntschaften mit Hollywoodschauspielern. Intensivere Kontakte pflegte Remarque u.a. mit dem amerikanischen Autor Scott Fitzgerald. Siehe Wilhelm von Sternburg. »Als wäre alles das letzte Mal«. Erich Maria Remarque – Eine Biographie. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998; 2009. 3 Eine bemerkenswerte Ausnahme bleibt die enthusiastische Schilderung eines afro-amerikanischen Gospelgottesdienstes in New York (10.02.1941, in Thomas F. Schneider, Tilman Westphalen (Hg). Erich Maria Remarque – Das unbekannte Werk. Band 5: Briefe und Tagebücher. Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1998, 346. 4 Besonders die strikten Ausgangssperren für »feindliche Ausländer« in Kalifornien ab März 1942 seit dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 und die verzerrende, von skrupelloser Profitgier getriebene Kriegsberichterstattung in den amerikanischen Medien befremdeten Remarque in großem Maße. Siehe Tagebucheinträge zum »curfew« vom 24.03. und 07.05.1942 und zu den Medien vom 15.02.1943 in Schneider/Westphalen (Hg.), Das unbekannte Werk, 363, 365, 3770–378. Siehe auch Kaspar Hohler. »Erich Maria Remarques Exilzeit im Spiegel seiner Tagebücher«. Erich Maria Remarque Jahrbuch /Yearbook 12 (2002), 25–60; 38–41; Helga Schreckenberger. »Erich Maria Remarque im amerikanischen Exil«. Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque – Leben, Werk und weltweite Wirkung. Bramsche: Rasch, 1999 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 12), 251–266; 264– 265. Allgemein zu Remarque und dem Stellenwert seines Werks in den USA siehe Uwe Zagratzki, »Teil des kulturellen Gedächtnisses. Remarque in Nordamerika«. Alice Cadeddu, Claudia Junk, Thomas F. Schneider (Hg.). Weltweit Worldwide Remarque. Beiträge zur aktuellen internationalen Rezeption von Erich Maria Remarque. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020 (Jahrbuch /Yearbook 30), 21–34. 5 Sehr explizit in Tagebuchbucheinträgen am 19.03.1944 (US-Innen- und Außenpolitik), 23.10.1944 (Kapitalismuskritik), 29.07.1947 (Wirtschaftspolitik), 01.01.1949 (beißende Kritik an Präsident Truman), 30.06.1950 (US-Kriegstreiberei in Korea), 06.12.1950 (Kritik an Kalte-Kriegsrhetorik der Westalliierten) in Schneider/Westphalen, Das unbekannte Werk, 386, 388, 396, 404, 425, 450. 6 Vgl. Schreckenberger, 254; 260; 265; Hohler, 39, aber auch 46 und 51; Hans Wagner, »Re-

196

Das Amerikabild in Remarques Spätwerk

wertung seiner Tagebücher – in den ersten Kriegsjahren zu den Ereignissen in Europa7 sowie zur deutschsprachigen Schriftstellerdiaspora in Hollywood und generell zur dort ansässigen Filmindustrie. Es ist die in den Hollywoodfilmen mehrfach reproduzierte kommerzialisierte Scheinwelt, die einen nicht unerheblichen Anteil an seiner ›Flucht‹ nach New York hat.8 Dort verstärkt er allerdings seine Kontakte zur Emigrantenszene. Die Distanz zum amerikanischen politischen System verringert er nachhaltig nur ein einziges Mal, als er auf Aufforderung höchster Regierungsstellen hin für das »Office of Strategic Services«, einem Vorläufer des CIA, 1944 die Denkschrift Practical Educational Work in Germany after the War verfasst.9 Während sich die über Jahrzehnte vollziehende Integration Remarques in das nordamerikanische »kulturelle Gedächtnis«10 in den Tagebüchern zwischen 1935 und 1955 nicht eindeutig abbildet, da ein kognitiver Abstand zum Aufnahmeland bestehen bleibt, gelingt die sprachliche Assimilierung mittels des in den Tagebüchern gewählten deutsch-englischen Sprachgemischs, welches in den frühen 1950ern seine größte Ausprägung erfährt.11 Remarques »Liebescompulsion« zu den USA erreicht somit in den Tagebüchern zumindest einen affektiven Höhepunkt qua Sprache.12 Soweit die weitgehend uninspirierte Begegnung mit dem amerikanischen Alltag in den Jahren des Exils.

marque in Amerika – zwischen Erfolg und Exilbewußtsein«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 9 (1999), 18–38; 31–35. 7 Vgl. Hohler, 34. 8 Eintrag 15.02.1943 in Schneider/Westphalen (Hg.), Erich Maria Remarque – Das unbekannte Werk, 377–378. Siehe Wagner, 33; Schreckenberger, 265; Hohler, 39. 9 Siehe Heinrich Placke. »Remarques Denkschrift ›Practical Educational Work in Germany after the War‹ (1944) im Kontext zeitgenössischer Konzeptionen für das nahende Nachkriegsdeutschland (Denkschrift und Tagebuch als kontrastierende Gebrauchstextsorten)«. Erich Maria Remarque Jahrbuch /Yearbook 12 (2002), 61–96. Kontakte mit Regierungsstellen gehen bis in den Spätsommer 1942 zurück (siehe Tagebuch 19.09.1942 in Schneider/Westphalen, Das unbekannte Werk, 371; auch Eintrag vom 06.07.1944, ebd., 387. 10 Siehe Zagratzki. 11 Hier exemplarisch der zweisprachige Eintrag vom 15.10.1950 in Schneider/Westphalen, Das unbekannte Werk, 446. Remarque nimmt an anderer Stelle zu seinem eigenwilligen Duktus Stellung: »Scheußliche Gewohnheit, Englisch u. Deutsch zu mischen. Tatsache: finde für den englischen Ausdruck kein deutsches Wort. Hatte das im Skript gestern: konnte für ›wistful‹ das deutsche Wort nicht finden. Mußte es ersetzen.« (13.01.1954 in Schneider/Westphalen, Das unbekannte Werk, 490. 12 Siehe Eintrag vom 21.08.1950. Ebd., 438.

197

Uwe Zagratzki

Das Konstrukt der USA vor 1933 und nach 1945 Die dynamische, ernsthafte Beschäftigung mit »Amerika« nicht als Land, sondern als politisch-ideologisches Konstrukt – und somit der Beginn von Remarques amerikanischer »kultureller Sozialisation«13 – hatte hingegen aus der geographischen Entfernung viele Jahre vor Antritt des Exils eingesetzt. Thomas Schneider schreibt über den jungen, sich der Moderne verpflichtet fühlenden Autor der Jahre 1922–1928: Remarque lässt keinen Zweifel daran, dass die in Deutschland zu beobachtenden Veränderungen der Moderne ihren Ursprung in den USA haben und dass dort die prognostizierte, letztlich unabwendbare Veränderung weiter fortgeschritten ist. So dienen Remarque die USA in vielfältiger Hinsicht als Bezugspunkt, an dem Tendenzen für den deutschen und europäischen Kontext abzulesen sind und Entwicklungsforderungen abgeleitet werden müssen.14

Auch für den pazifistischen Schriftsteller halten die Vereinigten Staaten die Ideale einer neuen Weltordnung bereit. In einem ausführlichen Interview mit dem New York Times Magazine im September 1929 führt Remarque auf die Frage, für welche Werte das Vereinigte Königreich und die USA in der Nachkriegswelt stünden, dezidiert aus: Britain and America are formost among the progressive nations of the world. Their faces are set toward progress, social, industrial and commercial. But the war proved that military disputes involve inevitably the destructions of all these cultural values for which the progressive mind is striving. Therefore the tendency of all progressive countries must be away from the old complex of ideas, in which war appeared natural and necessary, toward a new world-conception from which war is excluded. For this reason, quite apart from specific anti-war movements in Britain and America, the two great English-speaking peoples are a power making for peace.15

13 Zagratzki, 24. 14 Thomas F. Schneider. »›The kinship of us all‹. Erich Maria Remarque und die USA vor 1933« Anita Jachimowicz, Karsten Dahlmanns (Hg.). Geliebtes, verfluchtes Amerika. Zu Antiamerikanismus und Amerika-Verehrung im deutschen Sprachraum 1888-1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021 [im Druck]. 15 Cyrus Brooks. »Herr Remarque Shuns Literary Honors«. New York Times Magazine, 22.09.1929, 7 + 20. Remarques idealistische Vorstellungen von einem amerikanischen Zeitalter und vor allem der friedensstiftenden Verantwortung der USA überdauern die Jahre. Siehe seine Statements in der New York Times, 24.03.1939, 23, The Anniston Star, 24.03.1939, 4, und Brooklyn Daily Eagle, 23.03. 1939, 2, anläßlich seiner Ankunft in New York.

198

Das Amerikabild in Remarques Spätwerk

Die Auseinandersetzung mit den USA erstreckt sich ebenso auf die Literatur: Die amerikanische Literatur fand ich am interessantesten. Ihre Bücher sind keine Werke von Berufsschriftstellern mit einer akademischen Ausbildung, sondern die Werke von Männern, die verschiedene Berufe ausgeübt haben, durch alle Schichten der Gesellschaft gegangen sind.16

Neben den grundsätzlichen kultur- und literaturhistorischen Reflexionen hat die Beschäftigung mit den USA außerdem einen direkten Einfluss auf Remarques literarisches Schaffen, wie zum Beispiel auf die Wahl amerikanischer Figuren oder dort, wo die in den USA angewandten Marketingstrategien Remarque als Vorbild für seine eigenen Werbekampagnen dienten.17 Zudem war der Autor durch diverse Romanveröffentlichungen, Vorabdrucke und Kurzprosa und nicht zuletzt durch den Filmerfolg von All Quiet on the Western Front vor seinen Exiljahren in den USA dort bereits ein etablierter Schriftsteller.18 Kurzum, eine derartige Verankerung im amerikanischen öffentlichen Bewusstsein und besonders nach seinem langjährigen Exil hätte eine retrospektive Nachkriegsprosa, autobiographisch oder fiktional, mit einem vertiefenden Blick auf die Kultur der USA durchaus erwarten lassen können, zumal Remarque eine tiefe Sympathie für die Vereinigten Staaten hegte: »I have a heart for people and writers in America. In Europe we are aged. The United States is young.«19 Über erste Notizen zu einer entsprechenden Arbeit wird am 18. Juli 1950 berichtet.20 Bis 1952 entwickelt sich aus diesen Anfängen das Projekt Das Buch N mit dem Ziel, das Ende der zehnjährigen Beziehung mit der russischen Gräfin, Mannequin und Schauspielerin Natalia Pawlowna Paley-Wilson therapeutisch zu bewältigen.21 1962 wieder aufgenommen und 1967 in einer ersten Fassung mit

16 Janine Delpech. »Remarque est à Paris«. Les nouvelles littéraires (Paris), 05.11.1938, 1–2. Auch James W. Bryson. »Author of All Quiet on First Visit to US«. St. Louis Post-Dispatch, 24.03.1939, 28; und Brooklyn Daily Eagle, 2. 17 Zum Auftreten amerikanischer Figuren in der Kurzprosa in Sport und Bild wie auch in den zwei vor der Emigration entstandenen Romanen Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück sowie die Techniken globaler Vermarktung siehe Schneider, The kinship. 18 Wagner, 18–38; Zagratzki, 22. 19 Brooklyn Daily Eagle, 2. 20 Schneider/Westphalen, Das unbekannte Werk, 662. 21 Thomas F. Schneider. »Erläuterungen«. Schneider/Westphalen (Hg.), Das unbekannte Werk. Band 2: Das gelobte Land, 435–442; 436–437. Auch »Editorische Bemerkungen«. Ebd., 425– 432. Siehe besonders die Notizen zu einem Exposé am 29.10.1952. Schneider/Westphalen, Das unbekannte Werk. Band 5, 480. Und vom 24.05.1953 mit einer Emphase auf der Suche des Protagonisten nach innerer Einkehr: »Abschließen u. anfangen. Erinnerung u. Beginnen. Titel evtl. undercurrent.« Schneider/Westphalen, Das Unbekannte Werk. Band 5, 485.

199

Uwe Zagratzki

dem Titel New York Intermezzo abgeschlossen, entschied sich Remarque ab 1968, das Manuskript als Das gelobte Land komplett umzuschreiben.22 Sein Tod am 25. September 1970 brach die Vollendung im Kapitel XXI ab. Die 1971 bei Droemer Knaur erschienene Fassung unter dem vom Lektorat erfundenen Titel Schatten im Paradies gilt als »literarische Katastrophe«,23 denn nicht nur Remarques Schreibstil wurde massiv verändert, sondern Eingriffe in den Text betrafen inhaltliche Änderungen und Streichungen in einem Umfang von 15 %.24 Die Originalversion von 1967 wird erstmalig 2018 publiziert,25 das vom Autor betitelte Fragment Das gelobte Land (ab 1968) auf der Grundlage der Fassung New York Intermezzo erscheint 1998.26 Brian Murdoch spitzt die Entwicklungsgeschichte der diversen Manuskripte zu, wenn er schreibt: »We have, therefore, two closely linked, but different texts, one incomplete, and neither published by Remarque.«27 Trotz der Manipulationen am Original von 1967, ist sich die Kritik einig, dass »Schatten im Paradies is considered […] to be part of the oeuvre and will continue to be read as such.«28 Welches Bild der USA wird nun im späten Romanwerk gezeichnet? Tatsächlich wird sie erstmalig zum Schauplatz in einem fiktionalen Text von Remarque. Der Sachverhalt gilt sowohl für Schatten im Paradies als auch für den Fragment gebliebenen Roman Das gelobte Land. Es herrscht in der Forschung zudem Einigkeit darüber, dass die USA die Kulisse für eine heterogene Emigrantenszene und die heftig diskutierte Frage nach einer Rückkehr ins Nachkriegseuropa bilden, ohne

22 Siehe Schneider, »Erläuterungen«, 438–440. 23 Thomas F. Schneider. »›Nicht der Mörder, der Ermordete war schuldig‹. Zu Erich Maria Remarques nachgelassenem Roman«. Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies. In der Originalfassung mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018, 687–711; 697. 24 Schneider, Nicht der Mörder, 699. Hier auch Tilman Westphalen. »Nachwort ›Alles war falsch. Ich muß noch einmal anfangen… Und wir sind schon so müde«. Erich Maria Remarque. Schatten im Paradies. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995, 495–512. 25 Thomas F. Schneider. »Editorische Notiz«. Remarque, Schatten im Paradies, 2018, 684–686. 26 Schneider weist darauf hin, dass der Text von 1998 »in mehrfacher Hinsicht als Fragment zu verstehen ist«, da die vorgefundenen Textteile unterschiedliche Bearbeitungsstände aufweisen und die Herausgeber versuchten, diese »zu einem Text zusammenzufassen«. Schneider/ Westphalen, Das unbekannte Werk, Band 2, 426; »Erläuterungen«, ebd., 435–442. Eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen Manuskripte von Schatten im Paradies findet sich bei Marc Wilhelm Küster. »Die Manuskriptlage zu Remarques Schatten im Paradies«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 5 (1995), 88–108. Küster kommt zu dem Ergebnis: »Die vorhandene Edition [Droemer-Knaur, U.Z.] ist ein Betrug sowohl am Leser, dem ein Entwurf zugemutet wird, als auch am Autor, dessen Ansehen dadurch beschädigt wird«, 104. 27 Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. New York: Camden House, 2006, 129–156; 143. 28 Murdoch, 143. Auch Schneider, Nicht der Mörder, 707–708.

200

Das Amerikabild in Remarques Spätwerk

selbst als kulturspezifischer Raum hervorzutreten. Remarque bezog hierzu eindeutig Stellung: I don’t agree with the theory, that no writer can write anything good outside his country. But I don’t know any piece of good writing that is not about the writer’s country or his country-town. Take Hemingway. He has written books about the European scene, but his leading characters have been Americans.29

Das Dilemma des Exilschriftstellers skizziert der Autor im folgenden: »I feel an author only writes really well about his own country […]. I could write about Germans in America, but who would be interested […]. I would be incapable of writing about the American scene.«30 Helga Schreckenberger verweist pointiert auf die literarische Behandlung der Kulturberührungen zwischen europäischen Exilanten und amerikanischem Exil: »Exil wird bewusst als Problembereich mit einbezogen […]. Schwierigkeiten, die sich aus Sprachproblemen und kulturellen Unterschieden ergeben, kommt nur sekundäre Bedeutung zu.«31 Die dermaßen vollzogene Gewichtung zugunsten eines Exilromans findet in der narrativen Anlage von Schatten im Paradies ihre Entsprechung: Der Erzählrahmen ermöglicht einem unzuverlässigen, nach Kriegsende nach Deutschland zurückgekehrten Ich-Erzähler retrospektiv im Präteritum sein Emigrantenschicksal in den USA 1944/45 und andeutungsweise an anderen Orten während seiner Flucht darzustellen.32 Hier der Romananfang: Ich wohnte damals im fünfzehnten Stock eines Hauses in der 57. Straße in New York […]. Ich lebte in dieser Zeit in einem sonderbaren Zustand in Amerika, – so, als ob ich gleichzeitig zehn und fünfunddreißig Jahre alt sei. Ich war vor einigen

29 Mary Braggiotti, »The Problem: His Next Book«. New York Post, 07.02.1946. Murdoch urteilt: »Schatten im Paradies has its action in America [… it] is in spite of that still primarily concerned with the European world of the refugees […]. Schatten im Paradies is again a German novel, and not by virtue of language alone.« Murdoch, 130. Ähnlich Schulenberg, obschon sie die Thematisierung des Exillands unterstreicht. Siehe Katharina Schulenberg. »Perspektive Amerika? Vergangenheitsbewältigung vs. Zukunftspläne in den posthum veröffentlichten Romanen Das gelobte Land und Schatten im Paradies«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/ Yearbook 16 (2006), 34–89; 73. 30 »Novelist Breaks with Past«. Melbourne Age, 16.03.1946. 31 Helga Schreckenberger. »Durchkommen ist alles. Physischer und psychischer Existenzkampf in Erich Maria Remarques Exil-Romanen«. Text und Kritik 149 (2001), 30–41; 38. 32 Murdoch betont die Erzählperspektive »[…] told from the point of view of a narrator who has in fact already returned to Germany«. Murdoch, 153. Auch Schneider: »Die USA sind für den Protagonisten nur eine Etappe auf seiner Flucht, und dementsprechend lautete Remarques Titel für diesen Roman: New York Intermezzo«. Schneider, Nicht der Mörder, 692; 701–703.

201

Uwe Zagratzki

Monaten mit einem Frachtdampfer aus Lissabon angekommen und konnte nur wenig Englisch. […] mein Paß lautete auf einen anderen Namen als meinen. Die Immigrationsbehörden waren misstrauisch geworden und hatten mich in Ellis Island festgesetzt […]. Ich hatte den Paß in Frankfurt geerbt; der Mann, der ihn mir am Tage, als er starb, geschenkt hatte, nannte sich nach ihm Ross. Ich hieß also ebenfalls Robert Ross. (Schatten im Paradies, 5–7).

Nach ca. 660 Seiten erfährt der Leser – das Geständnis des fehlbaren Erzählers inklusive –: »Als ich zurückkam, fand ich ein zerstörtes Land vor […]. Ich weiß nicht mehr, was ich in diesem Jahr alles getan hatte. Es gehört auch nicht zu diesem Buch«. (Schatten im Paradies, 665–666). Romaneröffnung wie Romanende als Pole einer Rahmenerzählung sowie der Umstand, dass der Erzähler bereits am Anfang weiß, welches Ende die Ereignisse nehmen, bedingen zwangsläufig die Positionierung der USA als einen Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft (Schatten, 654), ein »Intermezzo« (Schatten, 528) oder »fremdes Paradies« (Schatten, 651). Das Wissen um die Flüchtigkeit der Etappe erschafft die Außenperspektive des exilierten Beobachters sozialen Lebens. Walter Benjamin hat in Anlehnung an Baudelaire und Proust dem Flaneur in seinem Passagenwerk ein Denkmal gesetzt: In der Masse aufgehend begibt er sich im urbanen Raum beobachtend auf die Suche nach dem Sinn des Lebens.33 Robert Ross überträgt die Suche nach einem Sinn auf die Ebene der politisch Verfolgten und Gestrandeten und durchläuft nebenbei im Zuge seines Flanierens verschiedene Stufen der kulturellen Wahrnehmung (z.B. Schatten, 30–32; 84–89; 98–99; 334–335; 440–443; 628; 633).34 Dabei erscheint für die Emigranten und die sie umgebende amerikanische Gesellschaft, von der sie als »enemy aliens« (Schatten, 136; 409) ausgeschlossen sind (»Vakuum«, 297; »magische Insel im Sturm«, 409), das Leben in New York wie auf einer »Bühne« (18) eingetaucht in ein künstliches Licht. Assimilation gelingt nur in seltenen Fällen und wird ironisch begleitet.35 Ross’ erste Schritte in New York (»es war eine wohltuende Anonymität [… in einer] anonyme[n] Stadt«, 17) beschreibt er folgendermaßen:

33 Im Jahr 1927 begonnen war das Projekt zum Zeitpunkt von Benjamins Tod 1940 unvollendet. Es wurde erstmalig 1982 unter dem genannten Titel herausgegeben. Walter Benjamin. Gesammelte Werke. Herausgegeben von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Band V. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982. 34 Dazu gehört eine erhellende Passage über die rigide Sexualmoral der puritanischen Fundamentalisten. Schatten, 613–614. 35 »Wo ist das Gelobte Land?« Schatten, 626–627. Siehe auch Westphalen, Alles war falsch, 509; und Murdoch, 143.

202

Das Amerikabild in Remarques Spätwerk

Das viele Licht machte mich fast schwindlig und in einer schwebenden Weise betrunken […]. Mir schien, als könnte man nie sehr traurig sein in soviel Licht […]. Es war eine wunderbare Verschwendung, – die wunderbarste, die es gab: die gegen die Nacht der Zellen und die Starrheit des Todes. (14–15).

Während einerseits das Licht den »größten Eindruck« auf den Ich-Erzähler macht (16) und eine quasi-religiöse Dimension erlangt,36 deutet sich andererseits bereits in den Eröffnungspassagen die Kehrseite einer künstlich illuminierten Welt an,37 die im Verlauf des Romans in der Glitzer- und Scheinwelt Hollywoods ihren stärksten negativen Ausdruck finden wird (460–537). Das Artifizielle wiederholt sich in der Beschreibung der ›neuen‹ Medien, speziell des Fernsehens: Die Reflexe von draußen spiegelten sich in Doppelreflexen in den großen, gewölbten stillen Augen der Fernsehkameras. Es war, als säßen wir in der schweigenden Welt der Robotertechnik der Zukunft, in der das, was draußen schwitzend, leidend, aggressiv und ängstlich sich drehte, der gefühllosen perfekten Lösung bereits gewichen war. Sogar unsere Stimmen waren entstofflicht und schienen nicht zu unseren Körpern mehr zu gehören. (67)38

Sogar die Kunst ist »künstlich«, im Kunsthandel zur Ware verkommen (»Der neue Millionär wird ein Bildersammler«, 313). Im Gegensatz dazu steht die betrachtende Vertiefung, die Versenkung in die Kunst, die der Erzähler der europäischen Tradition zueignet (»Ich hatte hier, in diesen Räumen [des New Yorker Metropolitan Museums, U.Z.], plötzlich das grenzenlose, reine Gefühl des Lebens gehabt«, 228).39 Mittels des beobachtenden und erzählenden Flaneurs sucht Remarque an die Bedeutung hinter den Objekten zu gelangen, an die metaphorischen »Schatten« im Romantitel. Die USA scheint folglich ein Konstrukt der Moderne und zugleich das Medium ihrer Dekonstruktion:

36 »Ich ließ mich durch die anonyme Stadt treiben, deren heller Rauch zum Himmel stieg. Eine Feuersäule bei Nacht und eine Wolkensäule bei Tag, – war das nicht, wie Gott dem ersten Volk der Emigranten in der Wüste den Weg wies?« (Schatten, 17). 37 »Ich konnte nicht genug bekommen! Ich starrte in die funkelnden Kinos und die Neonreklamen über den Dächern, in die Spielsäle mit den grell beleuchteten Automaten, in die Läden, die auch nachts noch offen waren und voll von elektrischem Licht, in die Restaurants mit ihren Kronleuchtern…ich hatte zu lange bei Kerzen…gelebt, um nicht aus der Gewohnheit des Schauens [meine Hervorhebung, U.Z.] herausgeworfen zu werden in ein leichtes Delirium.« (Schatten, 15). 38 Schneider verweist auf den Umstand, dass aufgrund der unzuverlässigen Erinnerung des Erzählers das Fernsehen bereits 1944/45 als Massenmedium etabliert wird (Schneider, Nicht der Mörder, 703). 39 Siehe auch ebd., 705–706.

203

Uwe Zagratzki

Ich hielt mich auf der Straße der billigen Zivilisation und der Luxusgeschäfte, als gäben sie mir Sicherheit und sogar Trost, als schritte ich diese Avenue nutzloser Bedürfnisse ab, und zu beiden Seiten, hinter den Steinmauern, fließe bereits das klebrige schwarze Chaos dahin, unterirdisch noch, aber bereit, auch hier aus den Kanälen hervorzubrechen und alles zu überschwemmen. (Schatten, 442)

Kulturell weitgehend unspezifisch und nur punktuell als Ort realer kultureller Praxen präsentiert, wirken Remarques »USA«, speziell New York, in dem vorliegenden Roman nur streckenweise als Symbiose europäischer und amerikanischer Traditionen, wie Schneider es für das Frühwerk konstatierte und für Schatten im Paradies vermutete.40 Deutlicher ist sie als Chiffre für die Janusköpfigkeit – für das Konstruktive wie auch das Destruktive – der Moderne konturiert. Eine Impression des – dieses Mal unbeweglichen – Erzählers mag das verdeutlichen: Ich […] stand dann am Fenster und schaute auf die glanzvolle, fremde Stadt, die nichts von Erinnerungen und Tradition an sich hatte. Nichts von Erinnerungen. Sie war neu und voll ungestümer Zukunft […]. Ich horchte auf das ununterbrochene Raunen des Verkehrs und betrachtete die lange Reihe der Verkehrsampeln an der Zweiten Avenue, wie sie automatisch von Grün nach Rot wechselten und wieder zurück auf Grün. Die Regelmäßigkeit hatte etwas Beruhigendes und gleichzeitig Unmenschliches an sich, als wäre die Stadt bereits von Robots regiert, etwas, das nichts Erschreckendes an sich zu haben schien. (Schatten, 375–376)41

In diesem Sinn lässt sich unter neuen Vorzeichen eine – wenn auch gebrochene – Kontinuität zum Frühwerk festhalten. Das gilt ebenso für Das gelobte Land. Zwar ist darauf verwiesen worden, dass die Neufassung des Romanentwurfs New York Intermezzo auf eine vollständige Neubewertung der Schwerpunkte hinauslaufen sollte,42 doch hinsichtlich des hier gewählten Untersuchungsgegenstandes ergeben sich keine grundsätzlichen Änderungen, sieht man einmal von der fehlenden Hollywoodepisode und einem neuen Romananfang ab. Beide Veränderungen zusammen mit einem verschobenen Fokus des Flaneurs, der zwar durchgehend ein Beobachter amerikanischer Gebräuche bleibt (Das gelobte Land, 90, 108, 112) – dabei allerdings seltener in den Straßen New Yorks unterwegs ist

40 Schneider, The kinship. Auch Hans Wagener. »Erich Maria Remarque: Shadows in Paradise«. John M. Spalek, Robert F. Bell (Hg.). Exile: The Writer’s Experience. Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 1982, 247–257; 250. 41 Zur existentialistischen Angst gesteigert, Schatten, 333. Dagegen beispielhaft modernistisch, Schatten, 253. 42 Vgl. Schneider, Erläuterungen, 436–442.

204

Das Amerikabild in Remarques Spätwerk

(Das gelobte Land, 38)43 –, doch intensiver zur Reflexion über seine und der Emigranten Nachkriegszukunft neigt, ändern im Prinzip nichts an Remarques Charakterisierung der »USA« als Metapher der Moderne (Das gelobte Land, 86, 87): Ich […] starrte durch das Fenster. Vor mir lag New York, die Stadt ohne Vergangenheit, die Stadt, nicht gewachsen, sondern von Menschen rasch gebaut, die Stadt aus Stein, Zement und Beton. Man konnte bis Wall Street sehen. Man erblickte keine Menschen; nur die automatischen Verkehrszeichen und die Reihen der Automobile. Es war eine futuristische Stadt. (Land, 301)

Das lässt sich ebenso für das Verhältnis zwischen Emigranten und Einheimischen (Land, 88, 151, 165, 166, 282, 283, 362), das Gefühl, ein »Intermezzo« zu durchleben (307) oder die Differenzen im Kunstverständnis konstatieren. (271) Anders als in Schatten im Paradies erzählt der Ich-Erzähler im neu geschriebenen Anfang des Fragments von bürokratischen Hürden für die Emigranten bei der Einreise über Ellis Island im Sommer 1944 und markiert folglich die kritischere Grundhaltung gegenüber dem Exilland. Resultierend aus der Distanz des exilierten Erzählers erfüllt Remarque in beiden Entwürfen die selbst gestellte Aufgabe nur in einem begrenzten Umfang: »Der Bezwinger, Schreiber, Beschreiber von N.Y.C. werden. So wie Balzac von Paris.«44 Das Drama Die Heimkehr des Enoch J. Jones – Eine bitterböse Satire Im September 1952 beginnt Remarque mit den Arbeiten an dem Schauspiel Die Heimkehr des Enoch J. Jones.45 Am 24. Mai 1953 und Mitte Oktober 1955 vermeldet er die Fortsetzung der Arbeit.46 Vermutlich wird das Theaterstück 1956 abgeschlossen und bleibt danach unveröffentlicht. Mit mehr als 30 Jahren Verspätung kommt es am 15. Oktober 1988 in der »probebühne Osnabrück« zur Uraufführung. Wie schon in dem fast zeitgleich verfassten Romanentwurf Schatten im Paradies liegt der Schauplatz in den USA, nun jedoch in einer kleinen Stadt im mittleren Westen und im Kontrast zu ihm entstammt das Personal ausschließlich einem amerikanischen Milieu. Satirisch überhöht wird die Heimkehr des tot geglaubten jungen GI Enoch J. Jones aus dem Koreakrieg (1950–1953) geschildert, dessen

43 »Ich ging sehr langsam durch die brausende Stadt; ich sah sie und sah sie nicht […] ein illegitimer Wanderer zwischen zwei Welten«, Land, 38. 44 Tagebuch 29.10.1952, Schneider/Westphalen, Das unbekannte Werk, Band 5, 480. 45 Ebd., 664. 46 Ebd., 485; 665; www.remarque.de/Biografie.

205

Uwe Zagratzki

Ehefrau sich während seiner Abwesenheit wiederverheiratet hatte. Aus dieser Ausgangssituation gewinnt das Stück seine kritische Dynamik. Die Stimmung, in der es geschrieben sein mochte, deutet sich bereits in einem Tagebucheintrag vom 30.06.1950 an, in dem Remarque auf Distanz zu beiden kriegstreibenden Großmächten geht, aber unverblümt die amerikanische Regierung diskreditiert: [US General und Oberbefehlshaber] McArthur in Korea gewesen. Amerika bereits da durch Reden, Reisen etc. provoziert, dass es den Krieg gewinnen muß. Rede Trumans, natürlich, anderer etc. Anstatt zu schweigen u. zu handeln, – wie die anderen es tun. Die große Versuchung: historisch zu werden.47

Gnadenlos seziert der Autor die ›Säulenheiligen‹ des amerikanischen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems: bigotten Puritanismus,48 schmierigen Patriotismus, aggressiven Militarismus in Verbindung mit einem übergriffigen Patriarchat, den allgegenwärtigen Antikommunismus mit seiner Anfälligkeit für den Faschismus49 und die kapitalistische Durchdringung aller menschlichen Praxen. In seiner radikalen Opposition zur »Kalten Kriegsrhetorik« der Nachkriegsära und damit auch zur auf einer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit der USA fußenden Truman-Doktrin (1947) scheut sich Remarque weder vor einer Empathie mit dem Feind50 noch vor einer ideologischen Gleichsetzung von Kommunismus und kapitalistischer Demokratie, denen er gleichermaßen die Charakteristika doktrinärer Religionen zuschreibt. Jones, der Heimkehrer, stellt fest: »Ich war 5 Jahre in einer [nordkoreanischen, U.Z.] Gefangenschaft. Ich will nicht in eine zweite ohne Stacheldraht kommen.«51 Einzig Liese, die tschechische Emigrantin, erhält – neben Jones und partiell auch Otto, Jones’ Schwager – eine positive Charakterisierung. Ihr pragmatischer

47 Schneider, Westphalen, Das unbekannte Werk, Band 5, 425. 48 »Das Interesse für sich selbst und damit für das Vaterland und Gott.« Erich Maria Remarque. Die Heimkehr des Enoch J. Jones. Typoskript. Estate of Remarque, Remarque-Collection, Fales Library of NewYork University, R-C 1.231/001, 10. 49 So ein US-Offizier: »Faschismus hatte viel Gutes.« Heimkehr, 59; auch 5. 50 In einem Gespräch zwischen Jones und seinem ehemaligen Kameraden Bill erinnern sich beide an einen nordkoreanischen Lautsprechereinsatz an der Front: »Amerikaner, was tut ihr in Asien? Geht nach Hause. Was würdet ihr sagen, wenn wir New York angriffen und eure Städte bomben und niederbrennen würden? Ihr nennt das Befreien! [...] Geht zurück und fragt eure Regierung, warum ihr sterben und töten müsst tausende von Meilen weg in einem Land, das euch nichts angeht, das euch nichts getan hat, nur weil eine Regierung nicht will, dass wir eine Regierung haben, die wir wollen.« Heimkehr, 51–52. 51 Heimkehr, 73.

206

Das Amerikabild in Remarques Spätwerk

Humanismus hebt sich wohltuend von der Oberflächlichkeit der amerikanischen Figuren ab, wenn sie sich als »ein Weltbürger wider Willen« bezeichnet.52 Gelegentlich blitzt in ihren Worten Remarques eigener militanter Pazifismus auf. An einen amerikanischen Militär gewandt sagt sie: »Sie haben recht: es gibt einen Feind, auf den man schiessen soll! Den Anstifter! Den Hetzer! Den Fälscher!... Den ewigen Demagogen!«53 Es ist an diesen Stellen, dass das Schauspiel zu einer radikalen Antikriegsparabel mutiert: »Kriege [sollten] nur von aktiven Offizieren vom Major aufwärts in grossen Arenen mit Knüppeln und Steinen ausgefochten werden…Die Soldaten sollten zuschauen und wetten können.«54 Wiederkehrende Schwarz-Weiß-Vereinfachungen zeugen von einer gewissen politischen Naivität, erzielen aber im didaktisierenden Format des Schauspiels durch die direkte Ansprache an das Publikum eine gewollt höhere Wirkung als in der im Privaten gelesenen Prosaliteratur. Fazit Es bleibt ein scheinbar unauflösbarer Widerspruch zwischen der Repräsentation der Vereinigten Staaten im Spiegel der literarischen Behandlung im Spätwerk und dem uneingeschränkten positiven Urteil des »amerikanisierten« ehemaligen Exilanten. Als beispielhaft für die eklatante Diskrepanz mag das folgende Interview gelten: Ich habe durch meinen langen Aufenthalt in Amerika viel gelernt, und ich werde nicht müde, ihren demokratischen Sinn zu loben. Aber nicht nur das; es trifft vor allem bei uns Europäern das ehrliche Gefühl des Vertrauens […], das um sie herum ein Klima der Sicherheit, ein Gefühl der Leichtigkeit, einen Eindruck von moralischer Sauberkeit schafft, der die besten menschlichen Gefühle erregt und fördert. Selten habe ich in der amerikanischen Haltung ein Zeichen von Arroganz gesehen.55

Nimmt man hier zur Kenntnis, dass Remarques Interviews, wie Thomas Schneider feststellt, »Teil des literarischen Werkes« waren, und in denen ein hinter den literarischen Texten stehendes »schriftstellerisches und politisches Programm« zum Vorschein kommt, was darauf abzielt, ein »internationales Publikum vorrangig emotional von seiner Position zu überzeugen«, dann nivelliert sich der

52 Die Heimkehr..., 67. 53 Die Heimkehr..., 62. 54 Die Heimkehr..., 72. 55 Bonaventura Caloro. »Paulette e Remarque mi hanno detto all’orecchio«. Successo (Roma), 4 (1962), 2, 28–33.

207

Uwe Zagratzki

vermeintliche Widerspruch.56 Das ungetrübte Urteil über die USA, das der Privatmann – wie gesehen – nicht nur in diesem Interview abgibt, wäre gleichsam das Ziel, das der engagierte Schriftsteller mittels einer fiktionalen ›Abrechnung‹ zu erreichen trachtet. Anders als in den Romanen des Spätwerks, wo die USA als eine Metapher der Moderne gestaltet werden, hält der Autor im Schauspiel, die Stilmittel der Satire nutzend, dem – leider nur fiktiven – Publikum den Spiegel über den Zustand der westlichen Großmacht vor, um die Distanz zwischen den beschworenen Idealen der so genannten »westlichen Welt«, die erst Voraussetzung für Remarques Überleben im Exil waren, und ihrer Degeneration zu Zeiten des Kalten Kriegs auszumessen. Im Kern leben somit Remarques grundsätzliche Überzeugungen aus der Vorkriegszeit von der demokratischen und friedensstiftenden Vorbildfunktion der USA unter den Bedingungen des Kalten Kriegs fort.

56 Thomas F. Schneider. »Selbstbegrenzung und freie Meinungsäußerung. Die Interviews mit Erich Maria Remarque und das Selbstverständnis eines globalen Schriftstellers« Alice Cadeddu, Renata Dampc-Jarosz, Claudia Junk, Paweł Meus, Thomas F. Schneider (Hg.). Remarque aus heutiger Sicht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021 (Erich Maria Remarque-Jahrbuch/Yearbook 31), 9–34; hier 25.

208

Michał Skop

Die Rezeption der Werke von Erich Maria Remarque in der schlesischen Presse nach 1945

Ziel dieses Artikels ist es, einen wissenschaftlichen Blick auf die Rezeption der schriftstellerischen Tätigkeit Erich Maria Remarques in der schlesischen Presse nach dem Zweiten Weltkrieg zu werfen. Es ist aber nicht beabsichtigt, die in den Tageszeitungen, Blättern, Wochenschriften, Monatsheften und anderen sozialkulturellen oder populärwissenschaftlichen Periodika publizierten Notizen, Skizzen, Feuilletons, Rezensionen und Besprechungen kritisch zu bewerten, sondern lediglich diese in chronologischer Reihenfolge zu verzeichnen und den Leser auf einige ausgewählte Pressetexte aufmerksam zu machen. Daher soll dieser Beitrag als eine chronologische Skizze verstanden werden, die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Das mit dem Namen Schlesien belegte Territorium hatte im Laufe der Jahrhunderte zugleich mehrere Erweiterungen und Schrumpfungen erfahren. Aus diesem Grunde stütze ich mich bei meinen Ausführungen einerseits auf seine naturräumliche Gliederung, andererseits auf seine historischen Bezeichnungen. Somit umfasst die schlesische Region – geografisch betrachtet – das Einzugsgebiet der oberen und mittleren Oder mit ihren Nebenflüssen, – historisch – nach 1922 alle Verwaltungseinheiten wie Deutsches Reich, Provinz Niederschlesien, Provinz Oberschlesien, Wojewodschaft Schlesien in Polen (bestehend aus vorher preußischem Ostoberschlesien und dem östlichen Teil des Teschener Schlesiens) sowie Land Schlesien in der Tschechoslowakei (das um den östlichen Teil des Teschener Gebietes verkleinerte, dafür aber um das Hultschiner Ländchen erweiterte Österreichisch-Schlesien).1

1 Vgl. Hugo Weczerka. »Geschichtliche Einführung«. Hugo Weczerka (Hg.). Handbuch der historischen Stätten. Schlesien. Stuttgart: Alfred Kröner, 1977 (Kröners Taschenausgabe 316), 16–93.

209

Michał Skop

Die ersten Rezensionen oder Buchbesprechungen in der regionalen schlesischen Presse über das literarische Werk von Erich Maria Remarque reichen in die 1930er Jahre zurück und beziehen sich auf die Übersetzung des Romans Im Westen nichts Neues von Stefan Napierski (mit Genehmigung des Autors). Das Buch, publiziert 1930 in der Reihe Dzieła XX wieku [Werke des 20. Jahrhunderts] der Warschauer Verlagsanstalt Rój, erlebte noch in demselben Jahr seine zweite Auflage. Remarque war sowohl nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg einer der bekanntesten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Seine Werke, die sich inhaltlich in die breite Strömung der Literatur der Weimarer Republik fügen, prangerten einerseits die Verbrechen des vergangenen Krieges an, warnten andererseits vor einem neuen Krieg. Seine Popularität in Polen wird durch die Tatsache untermauert, dass Remarques pazifistische Werke in einer relativ kurzen Zeit nach ihrem Erscheinen ins Polnische übertragen wurden. Es waren Romane – laut Marek Zybura – mit einem »epischen Panorama des deutschen Schicksals«:2 ̶ ̶ ̶

in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: Im Westen nichts Neues (1929, poln. Übers. 1930, Na zachodzie bez zmian), Der Weg zurück (1931, poln. Übers. 1931, Droga powrotna), Drei Kameraden (1938, poln. Übers. 1959, Trzej towarzysze), Der schwarze Obelisk (1956, poln. Übers. 1958, Czarny obelisk); in der Zeit des Exils: Liebe Deinen Nächsten (1941, poln. Übers. 1959, Kochaj bliźniego), Arc de Triomphe (1946, poln. Übers. 1947, Łuk triumfalny), Die Nacht von Lissabon (1962, poln. Übers. 1964, Noc w Lizbonie), Schatten im Paradies (1971, poln. Übers. 1974, Cienie w raju), bis zum Zweiten Weltkrieg: Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954, poln. Übers. 1956, Czas życia i czas śmierci).3

Obwohl unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Literatur und Kultur vor allem in Schlesien zensiert wurde, erschienen erste Artikel über deutsche Schriftsteller sowie einige Übersetzungen von deutschsprachiger Prosa und Lyrik. Der in Oberschlesien geborene Wilhelm Szewczyk (1916–1990), Schriftsteller, Publizist und Chefredakteur oberschlesischer kultureller Periodika, gehörte neben dem Journalisten Edmund Osmańczyk (1913–1989) zu den ersten Kritikern, die eine vorsichtige Neubewertung der in Polen bis dahin vorherrschenden Anschauungen über die Deutschen und insbesondere die deutsche Kultur wagten. In den ersten Jahren der Nachkriegszeit, in denen ein deutschfeindliches

2 Marek Zybura. »Remarque«. Marek Zybura (Hg.). Pisarze niemieckojęzyczni XX wieku. Leksykon encyklopedyczny PWN [Deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Enzyklopädisches Lexikon PWN]. Warszawa, Wrocław: Wydawnictwo Naukowe PWN, 1996, 259. 3 Vgl. ebd., 259–260.

210

Die Rezeption von Remarque in der schlesischen Presse nach 1945

Bild in allen polnischen Medien vermittelt wurde und – wie es Szewczyk in seinen Erinnerungen formuliert – »das Wort der Deutsche entgegen jeglicher Vernunft mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben wurde«,4 war es schwierig, über deutsch(sprachig)e Literatur zu schreiben. Der Durchbruch zu einer von Belastungen durch Geschichte, Politik und Ideologie weitgehend freien Bewertung der deutschsprachigen Literatur in Polen nach dem Krieg gelang erst durch Übersetzungen von Dramen- und Romanfragmenten, Erzählungen und Novellen deutschsprachiger Autoren, zum Beispiel Arnold Zweig, Hans Fallada, Erich Maria Remarque, Anna Seghers, Thomas Mann, Friedrich Wolf.5 So nimmt die polnische Presse auch gleich nach dem Krieg, als die deutschpolnischen Beziehungen vor allem im schlesischen Raum tabuisiert und zensiert wurden, dennoch alle Tendenzen in der zeitgenössischen deutsch(sprachig)en Literatur wahr. In regionalen schlesischen Tageszeitungen und Wochenschriften, später in sozialkulturellen Monatsheften und populärwissenschaftlichen Periodika erschienen erste kurze anonyme Notizen über den Autor von Im Westen nichts Neues. Im März 1946 finden sich in den zwei oberschlesischen auflagestärksten Tageszeitungen aus Katowice einige Mitteilungen über Remarques Werk, verfasst wahrscheinlich von der polnischen Presseagentur PAP. So berichtete Dziennik Zachodni [Westliche Tageszeitung] in der Rubrik Rozmaitości ze świata [Verschiedenes aus der Welt] über eine Neuerscheinung: Vor 20 Jahren erschien Remarques berühmtes Buch Im Westen nichts Neues. Es war eines der besten Kriegsbücher über den Ersten Weltkrieg. Seit 1939 lebte der Autor in den Vereinigten Staaten, wo er sich der schriftstellerischen Tätigkeit widmete. Die Einnahmen aus seinem ersten Buch ermöglichten es ihm, ein komfortables Leben im Ausland zu führen. Sein zweites Buch, Der Weg zurück, schrieb Remarque in der Schweiz. In diesem Jahr veröffentlichte Remarque ein weiteres Buch mit dem Titel Arc de Triomphe.6

Das politisch geprägte Blatt Trybuna Robotnicza [Arbeitertribüne]7 setzte dabei andere Schwerpunkte und informierte sachlich seine Leser: 4 Wilhelm Szewczyk. Wspomnienia [Erinnerungen]. Katowice: Wydawnictwo Śląsk, 2001, 206. Alle im Text vorhandenen Übersetzungen aus dem Polnischen, falls nicht anders angegeben, stammen vom Verfasser des Beitrages. 5 Vgl. Michał Skop. »Arnold Zweig in der oberschlesischen Presse nach 1945«. Krzysztof Kłosowicz (Hg.). Arnold Zweig zum fünfzisten Todestag. Berlin, Bern: Peter Lang, 2019, 144. 6 »Rozmaitości ze świata [Verschiedenes aus der Welt]«. Dziennik Zachodni (1946), 72, 3. 7 Seit 1947 (Nr. 279) Schrift der Polnischen Arbeiterpartei, seit 1948 (1) Schrift der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, seit 1950 (110) Organ des Wojewodchafts-Komitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, seit 1975 (127) Tageszeitung der Polnischen Vereinigten

211

Michał Skop

Erich Remarques neuer Roman Arc de Triomphe ist in den Vereinigten Staaten erschienen. Der Rezensent der New York Times bezeichnete den neuen Roman als Remarques bestes Werk seit der Veröffentlichung seines berühmten Kriegsbuches Im Westen nichts Neues. In diesem Roman schildert der Autor die Geschichte von Paris in dem schrecklichen Jahr zwischen dem Münchner September und dem September, in dem der Zweite Weltkrieg ausbrach. Der Protagonist ist ein geflohener politischer Chirurg, welcher der Gestapo-Verfolgung entkommen konnte und später im Spanienkrieg auf der Seite der Republikaner kämpfte.8

Zeitnah zur oben angeführten Notiz aus Trybuna Robotnicza erschien auf dem polnischen Markt der Roman Arc de Triomphe (1947, in der Übersetzung von Wanda Melcer, publiziert im Warschauer Verlag Wiedza), welcher schon 1948 seine zweite Auflage erlebte. Dieses Ereignis nahm der polnische Schriftsteller und Literaturkritiker Henryk Vogler (1911–2005), erster Chefredakteur des Krakauer Verlags Wydawnictwo Literackie, zum Anlass, auf bestimmte Erscheinungen innerhalb der polnischen Literatur der frühen Nachkriegsperiode aufmerksam zu machen sowie Remarques Buch mit dem Gesellschaftsroman von Zbigniew Uniejowski (1909–1937) Wspólny pokój [1932, Gemeinschaftsraum] zu vergleichen. Die Handlung dieses Buches, das autobiografische Fäden enthält, spielt im Umfeld der Warschauer Künstlerbohème an der Wende der 1920er und 1930er Jahre. Kürzlich ist ein berühmter Roman Arc de Triomphe in polnischer Übersetzung erschienen. Ein Roman von eher problematischem Charakter und künstlerischem Wert. Und trotzdem kann er wegen seiner Eigenschaften zu den herausragenden literarischen Werken der Gegenwart gezählt werden. Denn jedes Kunstwerk hat – wie der Mensch – etwas, das man Charakter nennen könnte. Es gibt leidenschaftliche und zynische, ehrliche und brutale, kühne und bescheidene Werke. Der Charakter des Romans erinnert an den einer Kurtisane, einer weltbekannten Dame mit gewissen Sitten. Das Metall ihrer Zuneigung ist nicht edel, die Art der Gefühle, die sie ihren Kunden entgegenbringen kann, ist nicht sehr wählerisch und von einer eher verdächtigen Qualität. Aber sie duftet stets nach Parfümen der großen Welt, ein wenig nach dem Charme großer Erfahrungen und Leidenschaften. Unserer Literatur und unseren Romanen fehlt solch einer Hauch des großen Abenteuers, der weiten Straßen, des freien Raumes, des wilden Spiels des Lebens. Wir ersticken immer noch in den ungelüfteten »Gemeinschaftsräumen« von Uniejowski.9

Arbeiterpartei, seit 1990 (23) ohne Untertitel, seit 1990 (151) umbenannt in Trybuna Śląska, am 06.12.2004 aufgelöst. 8 »Nowa powieść Remarque’a [Remarques neuer Roman]«. Trybuna Robotnicza (1946), 74, 3. 9 Henryk Vogler. »Literatura. O zaścianku i twardych kotletach [Literatur. Über Engstirnigkeit und harte Schnitzel]«. Trybuna Tygodnia (1948) 1, 8.

212

Die Rezeption von Remarque in der schlesischen Presse nach 1945

Unter anderem Blickpunkt schaut auf das Werk von Remarque der Auslandskorrespondent der oberschlesischen Zeitungen und Zeitschriften (Dziennik Zachodni, Panorama Śląska, Przemiany) Jan Rakoczy (1909–1990), indem er in einem Text vom September 1956 über die Uraufführung von Die letzten Station am Westberliner Renaissance-Theater berichtet. Der Journalist nimmt nicht nur das »meisterhaft aufgeführte Stück« in der Regie von Paul Verhoeven nach Anweisungen des Autors mit Heidemarie Hatheyer, Kurt Meisel und Manfred Inger in den Hauptrollen unter die Lupe, vielmehr setzt er den Schwerpunkt auf die Wiedergabe der Pressekonferenz im »Berliner Kindl« nach der Premiere des Werkes. Denn bei einem erneuten Treffen mit Remarque während der Konferenz für Auslandspresse ergriff Rakoczy die Möglichkeit zur Fragestellung, fragte den deutschen Schriftsteller nach der Möglichkeit, das Stück auf polnischen Bühnen spielen zu lassen und fügte die Aussage in seinen Text ein: Würden Sie einer Aufführung des Stücks in Polen Ihre Zustimmung geben? Und im allgemeinem in den volksdemokratischen Ländern? Warum nicht? Ja, natürlich. Allerdings unter der Voraussetzung, dass der Text nicht geändert wird.10

Tatsächlich wurden Anfang der 1960er Jahre in polnischen Theatern Remarques Werke zur Aufführung gebracht, wie der Roman Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1960, Teatr Klasyczny Warszawa), später das Stück Die letzte Station (1965, Teatr im. Stefana Jaracza w Łodzi; 1965, Teatr Ziemi Gdańskiej w Gdyni; 1967, Teatr Telewizji; 1973, Teatr Dramatyczny w Wałbrzychu). Aus bibliografischer Sicht im Bezug auf andere Medien, wie den polnischen Rundfunk, ist noch zu ergänzen, dass vom 19. bis 30. September 1983 Die Nacht von Lissabon in einem Zyklus Codziennie powieść w wydaniu dźwiękowym [Täglich ein Roman als Hörspiel] im 3. Programm des polnischen Rundfunks präsentiert wurde. Remarques Romane als Hörfunksendungen wurden zuerst als Fragmente dargeboten – im April 1957 (Drei Kameraden) und als Hörspiel-Folgen – im September 1983 (Die Nacht von Lissabon), Februar 1987 und Oktober 1990 (Arc de Triomphe), Mai 1990 und September 1992 (Zeit zu leben und Zeit zu sterben). Die Theateraufführungen wurden nicht nur von auflagestarken Zeitungen verzeichnet, aber auch von lokalen Blättern und Wochenzeitungen. Auch in den Grenzregionen zwischen Schlesien und Mähren und im Teschener Schlesien wurde auf Remarques Werke hingewiesen. So informierten im Oktober 1967 die Redaktionen der polnischsprachigen Periodika, der Tageszeitung Głos Ludu [Volksstimme] in Mährisch-Ostrau11 und der Monatsschrift Zwrot [Wendung] 10 Jan Rakoczy. »Pięć godzin z Remarque’m [Fünf Stunden mit Remarque]«. Przemiany (1956), 7, 5. 11 Karol Wojnar. »Droga do widza [Der Weg zum Zuschauer]«. Głos Ludu (1967), 104, 3.

213

Michał Skop

in Tschechisch-Teschen,12 über die Aufführung von Die letzte Station am Theater Scena Polska Teatru Cieszyńskiego [Polnische Bühne des Teschener Theaters] in der Regie von Witold Rybicki (1927–2020) mit Ida Kocur, Kazimierz Sedlaczek, Fryderyk Gogółka in den Hauptrollen. Sowohl die 1950er wie auch die 1960er Jahre waren geprägt von der Veröffentlichung von Übersetzungen deutscher Schriftsteller ins Polnische, was dazu führte, dass sich immer mehr Leser für die deutsche Literatur interessierten. Dieses Phänomen wird von Hansjakob Stehle in seiner Publikation Nachbar Polen (1962) bestätigt, der berichtet, dass allein in den Jahren 1959 und 1960 76 Werke deutscher Schriftsteller in Polen veröffentlicht wurden, davon 40 in einer Auflage von über einer halben Million Exemplaren.13 Die Bibliografie der ins Polnische übersetzten Literatur von 1945 bis 1976 weist 21 einzelne Einträge über Auflagen von Erich Maria Remarques Veröffentlichungen auf. In chronologischer Reihenfolge waren es: Arc de Triomphe (1947, 1948, 1957, 1966, 1973), Im Westen nichts Neues (1956, 1960, 1967, 1974, übers. von Stefan Napierski), Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1956, 1959, 1960, 1975, übers. von Juliusz Stroynowski), Der Weg zurück (1956, übers. von Ludwik Szczepański), Der schwarze Obelisk (1958, übers. von Adam Kaska), Liebe Deinen Nächsten (1959, übers. von Erwin Wolf), Drei Kameraden (1959, 1968, übers. von Zbigniew Grabowski), Die Nacht von Lissabon (1964, 1972, übers. von Aleksander Matuszyn), Schatten im Paradies (1974, übers. von Aleksander Matuszyn).14 Auf das Vorhandensein einer Neuauflage von Im Westen nichts Neues und auf die Erstausgabe von Der Weg zurück im Kattowitzer Verlag Wydawnictwo Śląskie, machte den polnischen Leser Wilhelm Szewczyk in der Tageszeitung Trybuna Robotnicza aufmerksam. Dabei ging der Publizist auf die Rezeption der Werke Remarques in Polen ein, indem er die Veröffentlichung von Zeit zu Leben und Zeit zu sterben als Romanserie in der Kattowitzer illustrierten Wochenschrift Panorama (1956) in den Vordergrund stellte.15 Über den deutschen Autor konstatierte er: 12 Jan Wajda. »Czas pytań i odpowiedzi [Zeit der Fragen und Antworten]«. Zwrot (1967), 5, 27–28. 13 Stehle führt in seinem Buch folgende Namen nebeneinander an: J.W. Goethe, F. Schiller, E.T.A. Hoffmann, H. Kleist, T. Fontane, R.M. Rilke, E.M. Remarque, A. Döblin, F. Kafka, T. Mann, B. Brecht, W. Borchert, H. Böll, L. Rinser, L. Feuchtwanger, T. Plievier, F. Werfel, T. Weissenborn, H.E. Nossack, G. Le Fort, A. Zweig, E. Langgässer, E.E. Kisch, B. Traven. Vgl. Hansjakob Stehle. Nachbar Polen. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1963, 353. 14 Vgl. Stanisław Bębenek (Hg.). Bibliografia literatury tłumaczonej na język polski 1945–1976 [Bibliografie der ins Polnische übersetzten Literatur 1945–1976]. Warszawa: Czytelnik, 1977, 182–183. 15 Aus bibliografischer Sicht ist es wichtig, auf weitere Veröffentlichungen in der schlesischen Presse zu verweisen. Zwischen September 1960 und Februar 1961 erschien in Trybuna Robotnicza Remarques Der Himmel kennt keine Günstlinge als Romanserie Życie na kredyt. Historia pewnej miłości [Geborgtes Leben. Geschichte einer Liebe] übersetzt von Eugeniusz

214

Die Rezeption von Remarque in der schlesischen Presse nach 1945

Unter dem Eindruck des schrecklichen und grausamen Ersten Weltkriegs geschrieben, war Remarques Roman ein lauter und leidenschaftlicher Protest gegen den Krieg, gegen das imperialistische Komplott zur Vernichtung der Menschheit. Zu ihrer Zeit ging er um die Welt: Verfilmt war er nicht weniger erfolgreich als seine literarische Form. Die Wiederveröffentlichung durch den Verlag Śląsk kommt zur rechten Zeit. Wieder erhebt der westdeutsche Militarismus sein Haupt, anfangs schüchtern, aber jetzt immer lauter. Dieselben Stimmen, die zu zwei schrecklichen Kriegen geführt haben, wiederholen sich nun. Remarques Roman ist eine Warnung, eine unbeschönigte Reportage aus dem Land des Todes. Sein Pazifismus mag bisweilen erschrecken – aber es ist ein ehrliches Manifest gegen den Krieg. Es richtet sich übrigens nicht gegen gerechte Kriege. Schließlich ist Remarques Roman selbst ein militanter Angriff gegen den imperialistischen Krieg, gegen die Sinnlosigkeit des Mordens von Menschen im Namen der Politik der oberen Zehntausend. Junge Leser, die mit diesem Buch nicht vertraut sind, sollten es eher aufmerksam und mit Vorsicht lesen. Ältere Leser werden sich an die Ereignisse erinnern, die in vielen europäischen Haushalten Trauer auslösten.16

In einem seiner Feuilletons über deutsche zeitgenössische Literatur und Kultur, publiziert unter dem Pseudonym Wisz in der Rubrik Sprawy niemieckie [Deutsche Angelegenheiten] des Blattes Trybuna Robotnicza, verwies Wilhelm Szewczyk darauf, dass E.M. Remarque nach seiner Rückkehr von der Front beschloss, einen leidenschaftlichen Protest gegen den Krieg zu schreiben. Diese Auflehnung hatte die Form eines Romans, oder besser gesagt einer romanhaften Reportage. So entstand Im Westen nichts Neues, eines der populärsten Bücher der Weltliteratur zwischen den beiden Kriegen. In seinen Ausführungen erinnerte Szewczyk daran, dass viele literarische Werke auf der Grundlage von Kriegsereignissen geschrieben wurden, deren Autoren ihre Kriegserlebnisse minutiös beschrieben. Doch dieses Buch sei nicht nur einer der bedeutendsten Antikriegsromane der deutschen oder Weltliteratur, sondern auch eines der schockierenden literarischen Werke, das die Grausamkeit des Krieges zeigt. Angesichts der Ereignisse des Ersten Weltkriegs zeigte sich die Neigung des jungen Schriftstellers, Begebenheiten und Fakten auf der Grundlage direkter Beobachtung festzuhalten. Wilhelm Szewczyk schlussfolgerte in seinem Feuilleton: Wołończyk, illustriert von Leszek Piasecki. Die Darbietung der Textes der polnischen Leser erfolgte gleich nach dem Erscheinen auch als Romanserie in der Hamburger Illustrierten  Kristall (1959) und vor der Buchausgabe Der Himmel kennt keine Günstlinge (1961). Die Beuthener Wochenschrift Życie Bytomskie bot ihrem Lesepublikum von März 1963 bis Januar 1964 den Roman Die Nacht von Lissabon, übersetzt von Aleksander Matuszyn, illustriert von Jacek Kordowski. 16 P.K. [Wilhelm Szewczyk]. »Remarque w Polsce [Remarque in Polen]«. Trybuna Robotnicza (1956), 233, 4.

215

Michał Skop

Remarque war immer ein realistischer Schriftsteller. Wenn er sich eine poetische Beschreibung erlaubte, ließ er sich von den von ihm geschätzten Impressionisten inspirieren. Er hasste die Abstraktionisten, wie bereits gesagt wurde. Der Abstraktionismus in der Kunst war für ihn eine Form des Missverständnisses der Welt, eine Form der vernebelten Vision, gefährlich für die politische Bildung. Seiner Meinung nach versuchten Schriftsteller, die in den Abstraktionismus oder in die surrealistische Weltanschauung verliebt waren, die für eine bestimmte Art von Literatur charakteristisch war, die militante Leidenschaft zu mildern; seiner Meinung nach waren sie nicht in der Lage, den Faschismus so darzustellen, wie er wirklich war. Er ging einen geradlinigen Weg zu seinem Ziel; er beschrieb menschliche Schicksale, er fand dafür einen attraktiven Handlungsrahmen, er schrieb einfach interessante Romane und keine philosophischen Abhandlungen. Das ist der Grund, warum er zu einem sehr populären Schriftsteller wurde, warum er mehr zum Verständnis des Faschismus und seiner verbrecherischen Funktionen beigetragen hat als andere, tiefgründige und bessere Autoren und warum er vor allem mit seinen Büchern die breiteste Leserschaft erreichte. Er blieb auch nach dem Krieg ein beliebter Schriftsteller. Er blieb weiterhin ein Autor, der den Faschismus verfolgte – es genüge, an seinen Roman Zeit zu sterben und Zeit zu leben zu erinnern. Er kehrte immer wieder in die Zeit des Exils zurück, in die Jahre der berüchtigten Erinnerung an das Dritte Reich. Und machte weiterhin eine große Abrechnung mit einer Epoche, deren Existenz er schmerzlich spürte, deren beschämendes Stigma er auch in bestimmten westdeutschen Einrichtungen und Institutionen wahrnahm. [...] Also, auch sein neuer Roman, Die Nacht von Lissabon. [...] Solche Fragen werden gestellt, und das ist ohnehin schon schlimm. Deshalb ist Remarques Roman, der uns zwingt, uns an all das zu erinnern, was um den Faschismus herum entstanden ist, so notwendig. Deshalb ist seine Rolle als Impulsgeber noch nicht vorbei. Wir alle wissen – die Deutschen selbst –, dass auf dem Entwicklungskurs der BRD nicht nur Spuren jener schändlichen Epoche erkennbar sind (und sei es nur in der personellen Gestaltung der höheren Staatsverwaltung), sondern dass neue Keime der alten unsicheren nationalistisch-imperialistischen Gewohnheiten und Neigungen ebenfalls sichtbar werden. Mein Freund Remarque möchte nicht, dass es in Vergessenheit gerät.17

Auch in anderen Feuilletons und literarischen Skizzen verwies Szewczyk darauf, dass der Autor der Nacht von Lissabon eher als »geschickter Reporter und Belletrist«,18 denn als Prosaist wahrgenommen werden sollte; als Schriftsteller der

17 WISZ [Wilhelm Szewczyk]. »Mój przyjaciel Remarque [Mein Freund Remarque]«. Trybuna Robotnicza (1963), 155, 3. 18 Wilhelm Szewczyk. »Nie lubił calvadosu [Er liebt keinen Calvados]«. Życie Literackie (1968), 28, 2.

216

Die Rezeption von Remarque in der schlesischen Presse nach 1945

Faktizität abgeneigt war, dem Journalismus näher als der Fiktion, und welcher die Erfahrung mehr als die intellektuelle Erfahrung schätzte. Deshalb sollten seine größten Bücher, sein ganzer literarischer Ruhm, aus der tragischen Erfahrung des Ersten Weltkriegs geboren werden.19 Auf die Spezifik der Rezeption der Antikriegsliteratur macht in einem Beitrag über ihre Wirkungsbedingungen und Wirkungsweisen in der Weimarer Republik Sigrid Bock aufmerksam: Es besteht jedoch kein Zweifel: Einfach ist die Herstellung produktiver Beziehungen zwischen gestern und heute nicht. Das Beschwören einer glänzenden Vergangenheit befördert keineswegs automatisch die Aktivitäten der Gegenwart. Einem jungen Schriftsteller ein Schreiben wie Remarque zu empfehlen, hat wenig Sinn, obwohl Remarques Roman Im Westen nichts Neues in seiner auch internationalen Massenwirksamkeit wohl bisher einmalig blieb. Der Leser heute wird den Roman anders lesen, sich vielleicht sogar verwundert fragen, warum gerade dieses Buch, das er selbst »mäßig« finden mag, vor fünfzig Jahren so viel und so dauerhafte Aufregung hervorrief.20

Sowohl die Neuveröffentlichungen als auch die vor dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Werke des in Osnabrück geborenen Schriftstellers wurden in der regionalen (schlesischen) Presse von polnischen Literatur- und Theaterkritikern, Publizisten und Übersetzern aufgegriffen, wie zum Beispiel von Wojciech Natanson (1904–1996), Maria Klimas-Błahutowa (1909–1994), Egon Naganowski (1913–2000), Jan Koprowski (1918–2004), fanden aber großes Interesse in lokalen Tageszeitungen und Blättern, in denen aus unterschiedlichen Anlässen auf das literarische Werk Remarques hingewiesen wurde. So ließ die sozial-wirtschaftliche Wochenzeitung Nowiny [Nachrichten] aus dem Raum Rybnik, Wodzisław Śląski, Racibórz [Rybnik, Loslau, Ratibor] zu Weihnachten einige Buchzitate veröffentlichen. Es waren »die letzten Sätze, mit denen sich die von Euch, liebe Leser, gelesenen Bücher verabschiedet haben«21 (u.a. Anatole Frances Die Insel der Pinguine, Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer, Victor Hugos Die Elenden, Jack Londons Martin Eden, Alexander Sergejewitsch Puschkins Pique Dame, Remarques Arc de Trimphe, Michail Alexandrowitsch Scholochows Neuland unterm Pflug).

19 Vgl. Michał Skop. Literatura niemiecka w publicystyce Wilhelma Szewczyka [Deutsche Literatur in Wilhelm Szewczyks Publizistik]. Katowice: Wydawnictwo Naukowe Śląsk, 2016, 124–131. 20 Sigrid Bock. »Wirkungsbedingungen und Wirkungsweisen der Antikriegsliteratur in der Weimarer Republik«. Zeitschrift für Germanistik (1984) 1, 19. 21 »Chwila wspomnień [Ein Augenblick der Erinnerung]«. Nowiny (1964), 52, 3.

217

Michał Skop

Aus der Recherche der in digitalen Bibliotheken vorhandenen Studien und Bearbeitungen über Leseinteressen der Arbeitnehmer in den 1960er Jahren, am Beispiel der Breslauer Vierteljahresschrift Materiały metodyczne [Methodische Unterlagen], geht hervor, dass: […] das bekannte und viel diskutierte Phänomen der raschen Überalterung zeitgenössischer belletristischer Bücher in der Umfrage kaum vorkommt. Die Bibliothekare tendierten dazu, sich auf Titel zu konzentrieren, die sich bereits bewährt haben oder die heute in Mode und begehrt sind. Dieses Phänomen existiert jedoch und hat seine Bedeutung bei der Zusammenstellung von Sammlungen. Denn Bibliothekare kaufen lieber »Favoriten« oder »echte« Klassiker wie die Bücher von Kraszewski oder Wiederauflagen berühmter zeitgenössischer Bücher (wie die von Hemingway oder Remarque) als Erstlingswerke oder Erstübersetzungen, über die man wenig weiß oder bei denen zumindest unklar ist, ob und wie lange sie sich durchsetzen werden.22

Der Bericht liefert nicht nur Ergebnisse auf die Frage nach dem meistgelesenen zeitgenössischen ausländischen Schriftsteller, zusammengestellt in tabellarischer Form, aber auch die Begründung für das Leseinteresse in einzelnen öffentlichen Bibliotheken der Oppelner Region: Ernest Hemingway Erich Maria Remarque John Steinbeck Michail A. Scholochow Albert Camus

18 Bibliotheken 14 Bibliotheken 8 Bibliotheken 6 Bibliotheken 4 Bibliotheken

Remarque ist auch ein Schriftsteller, der die Massen anspricht, und unter seinen Romanen werden am häufigsten Zeit zu leben und Zeit zu sterben und Arc de Triomphe genannt. Steinbecks Popularität wurde vor allem durch seinen Roman Jenseits von Eden gefestigt. Scholochows großartiges Epos Der stille Don ist in der Wahrnehmung der Leser zu Recht das beliebteste Werk des Schriftstellers.23

Diese Tendenz kommt zum Ausdruck in einem weiteren Fachbericht, dem Jahrbuch Studia Śląskie [Schlesische Studien] entnommen, über die Bibliotheknutzer und ihre Lesegewohnheiten an der Wende der 1960er und 1970er Jahre in Polen. Die Ergebnisse der im Jahre 1968 durchgeführten Untersuchungen bezogen sich

22 Alina Janik. »Bibliotekarze o czytelnictwie. Literatura piękna [Bibliothekare über die Leserschaft. Schöngeistige Literatur]«. Materiały metodyczne 10 (1965), 4, 15. 23 Ebd., 16.

218

Die Rezeption von Remarque in der schlesischen Presse nach 1945

vor allem auf das Interesse an bestimmten Arten von Büchern in dieser jeweiligen gesellschaftlich-beruflichen Gruppe an bestimmter Literaturart, zum Beispiel Fachliteratur oder Belletristik. Ein besonderes Augenmerk richtete man auf den Bestand der Heimbibliotheken und auf den Ankauf von Büchern für den eigenen Gebrauch. Zwar erschöpfen die fragmentarisch dargestellten Forschungsergebnisse nicht die ganze komplizierte und ausgedehnte Problematik des täglichen Umgangs mit dem Buch in verschiedenen gesellschaftlich-beruflichen Kreisen, doch anhand von statistischen Methoden versuchten die Verfasser, Grundlagen für erkenntnismäßige Verallgemeinerungen im Bereich ästhetischer und soziologischer Erscheinungen festzulegen.24 So konstatierten die Bibliothekare Tadeusz Gospodarek und Maria Jednaka in ihrem statistisch-soziologischen Bericht über »das Interesse am Buche unter der technischen Intelligenz der Stadt Opole«: Die Korrelation zwischen dem Prozentsatz der Personen in den Untergruppen, die ein Interesse an den Autoren bekunden, ist enger im Vergleich mit der Höhe der durchschnittlichen Häufigkeit des Bücherlesens in den einzelnen Berufs- und Ausbildungsgruppen. Es ist davon auszugehen, dass das Interesse an den von den Befragten genannten Autoren zumindest in gewissem Maße durch den aktuellen Kontakt mit Belletristik geprägt ist und nicht nur ein Nachklang der früheren Gewohnheiten aus der Schulzeit darstellt. Daher ist die Auswahl dieser bevorzugten Autoren und die Konzentration der bekundeten Interessen auf bestimmte Namen von großer Bedeutung. Dies wird durch eine Liste der Lieblingsautoren von Büchern veranschaulicht, darunter 86 Namen, die 2134 Stimmen (85,5 %) erhalten haben, d.h. nur die Autoren, die mindestens 5 Stimmen erhalten haben. Wie bereits erwähnt, lag der arithmetische Mittelwert aller abgegebenen Stimmen für alle Autoren bei 7,7. Über diesem Mittelwert lagen 60 Namen auf der Liste von 324, die in den Umfragen aufgeführt waren. Von den 86 Autoren sind 37,2 % ausländische Schriftsteller, wobei E. Hemingway, E. M. Remarque, L. Tolstoi und A. Dumas die Spitzenplätze einnehmen.25

Der Tod von Erich Maria Remarque wurde auch in der schlesischen Presse verzeichnet. Die Redaktion von Trybuna Robotnicza ließ den Text von Adrian Czermiński26 Demaskator okropności wojennych [Aufdecker der Schrecken des

24 Vgl. Tadeusz Gospodarek, Anna Jednaka. »Zainteresowanie książką wśród inteligencji technicznej Opola [Das Interesse am Buche unter der technischen Intelligenz der Stadt Opole]«. Studia Śląskie. Nowa seria (1970) 18, 151–203. 25 Ebd., 198–199. 26 Czermiński gehörte dem Verein Agencja Robotnicza [Arbeiteragentur] an, der zwischen 1948

219

Michał Skop

Krieges] publizieren. Czermiński zieht eine Bilanz des schriftstellerischen Schaffens von Remarque, greift den Inhalt der Romane Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück, Arc de Triomphe, Zeit zu leben und Zeit zu sterben sowie Szewczyks Skizze Pacyfista na wojnie [Pazifist im Krieg] aus dem Buch Literatura niemiecka XX wieku [Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert] auf. Im Westen nichts Neues war Remarques erster Roman, der 1929 erschien, aber schon viel früher geschrieben wurde und auf seinen persönlichen Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs beruhte. Als Soldat der kaiserlichen Armee hat er den Krieg aus der Perspektive der Schützengräben, des Schmutzes, der Läuse, der Fäulnis und der Hoffnungslosigkeit des Wartens auf das makabre Ende erlebt. Im Westen nichts Neues war eine Anklage gegen den Krieg, die beim Leser den Hass auf das gegenseitige Abschlachten von Menschen auf beiden Seiten der Front weckte. Das Buch war äußerst populär und erreichte mehrere Millionen Exemplare, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Es war der Bestseller der 1930er Jahre auf dem Büchermarkt. Remarque wurde in Deutschland des Pazifismus bezichtigt, und sein Buch wurde 1933 vor der Berliner Oper öffentlich verbrannt. Remarque war damals Autor seines zweiten Buches, Der Weg zurück, in dem er das Schicksal demobilisierter deutscher Soldaten schilderte, die in der Realität der Nachkriegszeit nicht zurückfinden konnten. Sein Hass auf den Krieg und auf alle Bestialität, diesmal in poetischer Form, brachte einen weiteren Roman hervor: Arc de Triomphe, in dem er das Elend und die seelischen Qualen derjenigen schildert, die das braune Deutschland verlassen haben. Der Roman zeigt auch eine andere Gräueltat, die wahrscheinlich noch schlimmer ist als das Gemetzel im Krieg – Sklaverei und Verderbtheit, die den Menschen durch das totalitäre System aufgezwungen wird. Remarques letztes großes Buch, Zeit zu leben und Zeit zu sterben, ist eine Rückkehr zu den Schrecken des Krieges, diesmal des Zweiten Weltkriegs, die der Autor zwar nicht aus der Autopsie kannte, die aber nicht weniger erschreckend und wahr ist. Remarque machte den Protagonisten seines Buches »zu einem Führer durch das schreckliche Land des Elends und der Verzweiflung. Eine schwache, bittere Liebe, die man im Urlaub erfährt, wird nicht den Blick eines Soldaten auf die Ruinen überschatten, auch nicht auf den Gestapo-Terror, die Denunziation und den Opportunismus, die Korruption, das stille Heldentum oder die süße Suspension, die aus rauchenden Krematorien kommt«, schreibt W. Szewczyk27* – Remarque traf den Kern der deutschen Tragödie, die vielfach schuldhaft war, und er schlug anklagende Töne an. und 1972 als die offizielle Einrichtung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei zuständig für die Tagespresse der kommunistischen Partei war und dadurch eine wichtige Rolle im offiziellen Informationsfluss der Volksrepublik Polen spielte. S. Renata Piasecka. »Agencja Robotnicza w latach 1948-1972. Zarys problematyki badawczej [Arbeiteragentur 1948–1972. Übersicht der Forschungsfragen]«. Rocznik Historii Prasy Polskiej 6 (2003), 1, 105–122.

220

Die Rezeption von Remarque in der schlesischen Presse nach 1945

Für Millionen von Lesern blieb Remarque in erster Linie der Autor des Romans Im Westen nichts Neues, der die Menschen schockierte und das brutale Gesicht des Krieges zeigte, als das Heldentum des Kampfes noch verherrlicht wurde. Heutzutage, wo die Schrecken der weltweit geführten Kriege ihr zynisches Gesicht zeigen, bleibt Erich Maria Remarque in der Literatur als derjenige, der rief: Krieg dem Krieg! Ein Aufruf, der immer weitere Kreise der denkenden Menschheit erreicht.28

Andere Beiträge, zumeist Kurznotizen, Meldungen über Remarque oder Angaben über Buchveröffentlichungen und Neuauflagen, die zwischen 1970 und 2000 in schlesischen Blättern, Tageszeitungen, Wochenzeitungen und anderen Periodika publiziert wurden, erschienen zu Jubiläen der Geburtstage und Todestage des Schriftstellers. Hier wären vor allem die regionale Wochenzeitung Wiadomości Oławskie [Ohlauer Nachrichten], die Wochenschrift Przegląd lokalny [Lokaler Überblick] aus dem Gleiwitzer Kreis (Knurów, Gierałtowice, Pilchowice [Knauersdorf, Geraltowitz, Pilchowitz]) und das kulturell-informative Monatsheft aus Breslau, Co jest grane? [Was ist los?], zu nennen, welche über die Neuauflagen von Im Westen nichts Neues, Der Funke Leben, Arc de Triomphe Auskunft geben.29 1985 ist dem regionalen Blatt aus Grünberg, Gazeta Lubuska [Lebuser Zeitung], eine Information über die Rekonstruktion der Originalfassung des amerikanischen Films Im Westen nichts Neues zu entnehmen. Die Redaktion der Zeitung geht zwar auf das Datum der Erstaufführung nach mehr als einem halben Jahrhundert zurück, seitdem der Antikriegsfilm am 4. Dezember 1930 im Berliner Mozartsaal seine deutsche Premiere erlebte, gibt jedoch nur allgemein an, dass es sich dabei um eine im Auftrag des ZDF vorgenommene Rekonstruktion handelte, die am 18. November 1984 im ZDF erstmals ausgestrahlt wurde. 55 Jahre nach der Uraufführung hatte der Film des amerikanischen Regisseurs Lewis Milestone, Im Westen nichts Neues, nach dem Roman von Erich Maria Remarque, seine neue Premiere. Das Werk wurde von westdeutschen Filmemachern rekonstruiert. Große Hilfe leisteten private Sammler und Mitarbeiter des Staatlichen Filmarchivs der DDR. Dieser 1929 gedrehte und 1930 vertonte Film wurde wortwörtlich aus Bruchstücken rekonstruiert. Kritiker bezeichnen dieses Werk als

27 Wilhelm Szewczyk. Literatura niemiecka XX wieku [Deutsche Literatur im 20. Jahrhundert]. Katowice: Wydawnictwo Śląsk, 1962, 301; zweite Auflage 1964, 281. 28 Adrian Czermiński. »Po zgonie E.M. Remarque’a. Demaskator okropności wojennych [Nach E.M. Remarques Tod. Aufdecker der Schrecken des Krieges]«. Trybuna Robotnicza (1970) 241, 5. 29 M.Z. »To warto przeczytać [Das soll man lesen]«. Wiadomości Oławskie (1995) 7, 10; »Książki. E.M. Remarque. Na zachodzie bez zmian [Bücher. E.M. Remarque. Im Westen nichts Neues]«. Co jest grane? (1995) 31, 62; Bogusław Wilk. »W księgarniach [In Buchläden]«. Przegląd Lokalny (1996) 15, 5.

221

Michał Skop

»das größte Martyrium in der Geschichte des Kinos«. Als der Film vertont wurde, gab es praktisch keinen Ort, an dem er gezeigt werden konnte, da es in den Kinos keine entsprechende Tonausrüstung gab. Außerdem haben die Faschisten die Aufführung dieses Antikriegswerks sofort verboten.30

Zehn Jahre später – im Dezember 1995 – gab die schlesischen Presse Auskunft über eine von der Firma Sotheby’s veranstaltete Auktion. Im traditionsreichen Londoner Auktionshaus wurde das Manuskript von Im Westen nichts Neues für 276.000 Pfund Sterling versteigert. »Der Käufer war das Archiv der Stadt Osnabrück«.31 Die kurze Pressemeldung sollte darum ergänzt werden, dass dieses Manuskript am 1. Dezember durch die Niedersächsische Sparkassenstiftung für das Erich-Maria-Remarque-Archiv ersteigert wurde.32 Die Periode um die Jahrtausendwende und die darauffolgenden zwei Jahrzehnte bilden keinesfalls einen Höhepunkt in Bezug auf die mediale Rezeption des Schaffens von Remarque. Man beobachtet auf dem (Presse)Markt eine neue Tendenz. Notizen, Feuilletons, Besprechungen und Artikel erscheinen seltener in der regionalen Tagesspresse oder in schlesischen kulturellen Periodika, diese sind aber in polnischen Zeitschriften (u.a. in Dekada Literacka, Literatura, Opcje, Polonistyka, Przegląd, Przegląd Zachodni, Tygiel Kultury, Zeszyty Literackie) zu verzeichnen. Repräsentativ für diesen Zeitraum – und chronologisch zum Schluss des Beitrages – seien einige Texte aus wissenschaftlichen Periodika im schlesischen Raum zu nennen. Im ersten von ihnen schildert Hubert Orłowski einige Stationen aus dem Leben von E.M. Remarque und Elfriede Scholz, veröffentlicht 1998 in der Zeitschrift Arkusz aus Żary [Sohrau]. Der zweite ist ein Beitrag von Roman Dziergwa über Den unbekannten Remarque sowie über Das unbekannte Werk, veröffentlicht ein Jahr später in Orbis Linguarum aus Legnica, Wrocław [Liegnitz, Breslau].33 Der Verfasser nimmt die fünfbändige Ausgabe mit Werken Erich Maria Remarques unter die Lupe und bringt dem Leser u.a. die Fragment gebliebene Fassung von Remarques letztem Roman sowie seine frühen Romane, Kurzprosa, Gedichte, Briefe und Tagebücher nahe. Im dritten Artikel, der Kattowitzer kulturell-literarischen Zeitschrift ERR(G)O von 2007 entnommen, befasst sich Marek Kulisz mit der Problematik der Kampfhandlungen und Kriegführung, indem er einige Szenen der Handlung, Bilder und Beschreibungen aus Im Westen nicht Neues analysiert.34 Der vierte Text von Viktor Grotowicz mit dem Titel 30 »Filmowy cocktail [Filmcocktail]«. Gazeta Lubuska (1965) 121, 10. 31 PAI. »Remarque – także drogi [Remarque – auch teuer]«. Trybuna Śląska (1995) 295, 6. 32 Thomas F. Schneider. »Erich Maria Remarque – Kurzbiografie in Daten«. Text+Kritik (2001) 149, 92. 33 Roman Dziergwa. »Nieznany Remarque [Der unbekannte Remarque]«. Orbis Linguarum (1999) 12, 61–69. 34 Marek Kulisz. »Kamuflaż kontra honor [Tarnung versus Ehre]«. ERG(G)O (2007), 15, 47–57.

222

Die Rezeption von Remarque in der schlesischen Presse nach 1945

Samozagłada straconego pokolenia. W stulecie wybuchu pierwszej wojny światowej [Selbstvernichtung der verlorenen Generation. Hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges] wurde im traditionsreichen Breslauer Monatsheft Odra [Die Oder] 2014 veröffentlicht. Unter dem im Titel angeführten Blickpunkt konfrontiert der Autor einige Romane, darunter Remarques Im Westen nichts Neues mit Thomas Manns Zauberberg, Jaroslav Hašeks Abenteuer des braven Soldaten Schwejk und Francis Scott Fitzgeralds Der große Gatsby.35 Der fünfte, und zugleich letzte Artikel erschien 2020 im germanistischen Jahrbuch Wortfolge. Szyk Słów der Schlesischen Universität in Katowice. Die Verfasserin Renata Dampc-Jarosz stellt sowohl die Entstehungsgeschichte wie auch den Wirkungsbereich des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums in Osnabrück dar und beleuchtet zahlreiche Aktivitäten dieser Einrichtung.36

35 Viktor Grotowicz. »Samozagłada straconego pokolenia. W stulecie wybuchu pierwszej wojny światowej [Selbstvernichtung der verlorenen Generation. Hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges]«. Odra (2014) 5, 25–32. 36 Renata Dampc-Jarosz. »›Moim tematem jest człowiek XX wieku‹. Erich Maria RemarqueFriedenszentrum Osnabrück w przededniu jubileuszy. Podsumowanie działalności i zadania na przyszłość [›Mein Thema ist der Mensch des 20. Jahrhunderts‹. Erich Maria RemarqueFriedenszentrum Osnabrück am Vorabend des 50. Todes- und 125. Geburtstages des Schriftstellers – Bilanz und Zukunftsaufgaben]«. Wortfolge. Szyk słów (2020), 4, 1–14.

223

224

Alice Cadeddu

›Diabolus ex machina‹ Askold Akishins Comicadaption Eine Chronik militärischer Operationen nach Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues Contemporary Russian comics is a hardly popular phenomenon. Abroad, it is almost unknown, while at home, it is almost unwanted. (Ruslan Saduov)1

Comics und Graphic Novels spielen bis heute eine verhältnismäßig geringe Rolle in der russischen Gesellschaft, was sich auf die Umstände ihrer Entstehung, Entwicklung und insbesondere ihre über Jahrzehnte vom sowjetischen Staatsapparat veranlassten Unterdrückung zurückführen lässt. Nicht zuletzt tragen die sich auf das kulturelle Leben auswirkenden strengen Direktiven der Sowjetzeit dazu bei, dass die Comic-Kunst Russlands keine weit zurückreichende Tradition aufweist, sondern sich erst ab Mitte der 1980er Jahre in seiner modernen Form zu etablieren begann.2 Ein sich in dieser Zeit herausbildender Künstler ist der 1968 in Moskau geborene Zeichner Askold Akishin, der heute zu den erfolgreichsten und populärsten Comicautor:innen Russlands gehört.3 Sein 1990 fertiggestellter und auf Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues basierender Comic Eine Chronik militärischer Operationen soll in dieser Arbeit anhand seiner Spezi-

1 Ruslan Saduov. »The Otherness of contemporary Russian comics: Literary and Cultural Dimensions.« Jana Javorčíková, Eva Höhn (Hg.). Skúsenosť inakosti/Experience of Otherness – osobná a politická identita v kultúre, literatúre, preklade a humanitných vedách/Personal and Political Identity and its Reflection in Culture, Literature, Translation and Humanities. Bratislava: Z-F LINGUA, 2018, 292–301, hier 292. 2 Vgl. Maria Evdokimova. »The History of Russian Comics: An Interview with Misha Zaslavskiy«. Comics forum, 09.12.2015. https://comicsforum.org/2015/12/09/the-history-ofrussian-comics-an-interview-with-misha-zaslavskiy-by-maria-evdokimova/ (17.02.2021). 3 Vgl. »Askold Akishin«. Lambiek Comiclopedia. https://www.lambiek.net/artists/a/akishin_ askold.htm (29.06.2021).

225

Alice Cadeddu

fika eingehend untersucht werden. Die Grundlage dafür stellt eine Einführung in die Geschichte des russischen Comics dar, die im ersten Teil des Textes vorgenommen wird. Der zweite Teil beleuchtet die Rezeption der Werke Erich Maria Remarque in der Sowjetunion und dem heutigen Russland, woraufhin sich der dritte und letzte Teil mit der Analyse des Comics von Akishin befasst. Anhand von zentralen Motiven soll veranschaulicht werden, wie Akishin das Werk von Remarque umsetzt, interpretiert und es gegebenenfalls für seine Zwecke assimiliert. Die hier erarbeiteten Ergebnisse fließen in eine Folgestudie ein, die eine umfassende Darstellung und Analyse aller bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannten und weltweit publizierten Comic- und Graphic Novel-Adaptionen der Romane Remarques anstrebt. Nach heutigem Stand umfasst dies Werke von einem 1930 in Shanghai veröffentlichten Comic nach der US-amerikanischen Verfilmung All Quiet on the Western Front4 bis hin zu einer 2019 in Annapolis veröffentlichten Romanadaption von Im Westen nichts Neues.5 Die Ursprünge des russischen Comics Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo in den 1930er Jahren die bis heute weltweit bekannten und beliebten Superhelden-Comics erschaffen wurden, oder zu Europa, wo Belgiens Tin Tin, Frankreichs Asterix und Italiens Corto Maltese zum festen Bestandteil des über die jeweiligen Landesgrenzen ragenden Kulturgutes gehören, hat das Medium in Russland bis heute kein vergleichbares Ansehen erlangen können. Der dortige Stellenwert des Comics ist allem voran auf die politischen und soziokulturellen Umstände in der Sowjetunion zurückzuführen, die zu einer nachhaltigen ideologischen Entfremdung des Mediums geführt haben. Trotz der verhältnismäßig späten Etablierung des modernen russischen Comics ab Mitte der 1980er Jahre lassen sich bereits früh erste Hinweise auf eine comicähnliche Kunstform ausmachen, die im Mittelalter in hagiographischen Ikonen zu erkennen ist, in denen dem russischen Volk im 15. Jahrhundert erstmals eine durch Bilder erzählte Geschichte zugänglich gemacht wurde.

4 Lianhuan huatu xi xian wu zhansi. Shanghai, 1930. Für eine einführende Analyse des Comics siehe Alice Cadeddu. »Von kunstvoller Literaturvermittlung und Filmpiraterie. Ostasiatische Comic-Adaptionen der Werke Erich Maria Remarques von 1930 bis heute«. In Claudia Junk, Thomas F. Schneider (Hg.). Remarque Revisited. Beiträge zu Erich Maria Remarque und zur Kriegsliteratur. Göttingen: V&R unipress, 2020 (Krieg und Literatur/War and Literature 26), 7–41. 5 Wayne Vansant. All Quiet on the Western Front. Annapolis: Dead Reckoning, 2019.

226

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Ikonen und mittelalterliche Buchmalereien Ikonen kamen im 10. Jahrhundert über Byzanz zusammen mit der neuen Religion – dem Christentum – nach Russland und dienten sowohl dem Zweck religiöser Verehrung als auch der illustrativen Darstellung des Lebens der Heiligen und damit einhergehend der Vermittlung christlicher Werte.6 In einer Epoche, in der Lesen und Schreiben nur einer sehr geringen Anzahl an Personen umfassendenen Elite vorbehalten war, erfüllten Ikonen eine wichtige Bildungsfunktion, in welchen dem Volk die Lehren der Kirche vermittelt wurden. Eine weit verbreitete Gattung waren sogenannte ›zhitiinyi‹ (Житийный), also hagiographische Ikonen, die wichtige Ereignisse im Leben der Heiligen visualisierten, vornehmlich die von ihnen zu Lebzeiten vollbrachten Wunder. Der Aufbau solcher hagiographischen Ikonen folgte dabei einem klaren Muster: Im Zentrum stand das Abbild der heiligen Figur. Diese war wiederum von Tafeln umgeben, die Schlüsselereignisse aus dem Leben der Heiligen abbildeten (siehe Abb. 1). Dabei konnten die Szenen für sich alleine stehen, oder aber zu einer großen Erzählung zusammengefügt sein. Diese ›Randszenen‹ waren in chronologischer, und damit einer der späteren westlichen Comic-Tradition kompatiblen Reihenfolge angeordnet: von links nach rechts und von oben nach unten. Nicht selten wurden dabei die illustrierten Szenen durch erklärende Bildunterschriften ergänzt.7 Derartige Techniken der hagiographischen Ikonenmalerei wurden später für mittelalterliche Buchmalereien adaptiert und weiterentwickelt, in denen zentrale Elemente, wie beispielsweise die Anordnung von Gegenständen und Personen sowie deren Gestik und Mimik, fortan nicht mehr bloß illustrative, sondern wesentliche informative und epische Funktionen in der Erzählung übernahmen.8 Hagiographische Ikonen sowie die darin vermehrt angewandte Synthese von Bild und erläuterndem Text hatten unverkennbare Auswirkungen auf die Darstellungsstrategien der sich in der Folge entwickelnden Kunstform des ›Luboks‹.9 Der Lubok Der im frühen 17. Jahrhundert entwickelte und in der russischen Bevölkerung rasch an Beliebtheit gewonnene Lubok wird sowohl in der Fachliteratur als auch

6 Vgl. José Alaniz. Komiks: Comic Art in Russia. Jackson: UP of Mississippi, 2010, 13. 7 Vgl. Evdokimova, 2015, sowie Matt Young. »Russian Comic Books«. The Library of Congress, 20.12.2019. https://blogs.loc.gov/international-collections/2019/12/russian-comic-books (22.04.2021). 8 Vgl. Evdokimova, 2015. 9 Vgl. Alaniz, 2010, 15.

227

Alice Cadeddu

Abb. 1: Georgsritter (Russisches Museum Petersburg), »14 Einzelszenen illustrieren das Leben des Hl. Georg und sein Martyrium. Im Zentrum steht sein berühmtestes Wunder vom Kampf mit dem Drachen.«10

unter zahlreichen Angehörigen der russischen Comic-Szene als direkter Vorläufer des Comics, als sogenannter ›Proto-Comic‹ Russlands, angesehen.11 Der Begriff ›Lubok‹ (Лубок) wird wörtlich mit ›Lindenholztafel‹ übersetzt und bezeichnet eine graphische Kunstform, bei der zunächst ein Holzschnitt angefertigt wurde, von dem wiederum Abzüge gemacht wurden. Die dabei entstandenen Bilder wurden dann oftmals nach Fertigstellung von Hand koloriert.12 Die Etymologie des Begriffs ›Lubok‹ scheint bis heute nicht gänzlich geklärt, da die in der Literatur zu findenden Angaben diesbezüglich variieren: Ivan Mikhailovich Snegirev, einer der ersten russischen Ethnographen, stellte beispielsweise die Vermutung auf, dass der Begriff dem Wort ›lub‹ abstamme, also der dünnen Holzschicht

10 Abbildung entnommen aus Christoph Schmidt. Gemalt für die Ewigkeit. Geschichte der Ikonen in Russland. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2009, Innenteil ›Farbtafeln‹, Tafel 3. 11 Vgl. Alaniz, 2010, 15. 12 Vgl. Maria Sekirskaya. »How Russians invented memes in the 17th century: History of the ›lubok‹«. Russia Beyond 31.08.2020. https://www.rbth.com/arts/332642-russian-memeslubok#:~:text=The%20lubok%20is%20a%20form,used%20to%20create%20the%20 woodcut (10.02.2021).

228

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

unter der Rinde eines Lindenbaumes, die im alten Russland aufgrund ihrer zwar sehr dünnen, in gepresstem und getrocknetem Zustand jedoch äußerst robusten Beschaffenheit, gerne als Papier genutzt wurde.13 Zur Etymologie des Begriffs und zum Druckverfahren selbst schreibt Stephen M. Norris in seinem Werk A War of Images: [...] the image known as lubok (plural lubki) occupied an important place in Russian visual culture and in the articulation of national identity. [...] The term itself [...] derives from an old Russian word meaning »bast«, which is the soft layer of wood taken from trees in the spring and then used to make baskets, shoes and other containers. In early modern Russian culture, artists often used these pieces of bast in place of expensive parchment, and thus the crude woodcut images painted on them became known as lubochnye kartinki (or »bast pictures«). [...] The artist placed a watery tempera on a slight pencil design, and then painted an illustration using pigments diluted in egg emulsion or sticky vegetable substances. When the lubok artist painted these materials onto wood blocks and pressed them on cheap paper, the result was a combination of watercolor and a hand painting [...].14

Andere Forscher wiederum gehen von der Annahme aus, der Begriff leite sich von den aus Bast (ebenfalls ›lub‹ übersetzt) geflochtenen Körben ab, die von den im Russischen Reich zwischen den Ortschaften umherwandernden Handelskaufleuten, sogenannten ›ofeney‹ (офеней bzw. Офеня), für den Transport ihrer Waren genutzt wurden.15 Eine davon gänzlich abweichende etymologische Herkunft geht auf die ›Lubyanka Street‹ (Большая Лубянка) in Moskau zurück, in der sich zahlreiche Druckereien niedergelassen hatten, die vornehmlich auf die Herstellung von Lubki spezialisiert waren.16 Die Gattung des ›Lubok‹, auch Volksbilderbogen beziehungsweise ›narodnye kartinki‹, tauchte laut Koschmal vermutlich erstmals 1627 und 1629 auf.17 In seinem Zusammenspiel von Bild und Wort kann der Lubok als hybride Kunstform bezeichnet werden, in welcher der Text eine ebenso tragende Rolle einnimmt, wie die Illustration.18

13 Vgl. Jeffrey Brooks. When Russia learned to read. Literacy and popular literature, 1861–1917. Evanston: Northwestern University Press, 2003, 63. 14 Stephen M. Norris. A War of Images: Russian popular prints, wartime culture, and national identity, 1812-1945. De Kalb/IL: Northern Illinois University Press, 2006, 4. 15 Vgl. Walter Koschmal. Der russische Volksbilderbogen (Von der Religion zum Theater). München: Otto Sagner, 1989, 3 sowie »Russian Lubok«. Russia the Great. https://russia.rin.ru/ guides_e/7309.html (07.04.2021), und »Офеня«. Wikipedia. Die freie Enzyklopädie. 16 Vgl. Brooks, 2003, 63. 17 Vgl. Koschmal, 1989, 2. 18 Vgl. Alaniz, 2010, 15.

229

Alice Cadeddu

Nach José Alaniz zeichnen sich Lubki durch folgende, maßgebende Charaktereigenschaften aus: Die spielerische und gleichzeitig dramatische Darstellungsweise der Szenen verleitet die Rezipierenden zum »Eintauchen« in die Welt der Geschichte. Im humorvollen Umgang mit Sprechblasen (oder Schriftrollen, die manche Figuren noch bis ins 18. Jahrhundert in der Hand hielten) manifestiert sich der spielerische Charakter der Lubki. Hieroglyphische Wesenszüge sollen der Vereinfachung der Lesbarkeit dienen. So erschienen dargestellte Figuren in überspitzten und erkennbar dramatischen Posen, wie beispielsweise mit in Panik erhobenen Armen oder mit weit aufgerissenen Augen und Mündern. Gestische und mimische Überbetonung verhalf somit auch der analphabetischen Leserschaft zum Verständnis des dargestellten Geschehens. Die Seiten sind jeweils in nebeneinander stehende zeitliche Einheiten gegliedert, in denen Text und Bild in Verbindung zueinander stehen. Diese von Alaniz zusammengetragenen spezifischen Merkmale lassen den Autor zu dem Resümee kommen, dass der Lubok durchaus als erste Form des russischen Comics angesehen werden kann.19 Im 17. Jahrhundert war die Bandbreite der in den Lubki dargestellten Abbildungen und Bildserien sehr vielfältig: Die Mehrheit der Themen war zunächst religiöser Natur, mit Beginn der Herrschaft des Zaren Peter I. fanden aber auch historische Ereignisse, Verkündungen von Reformen, Satire und Märchen Einzug in die Darstellungen.20 Die den Lubki zugrunde liegenden Textquellen waren jedoch keineswegs nur auf russische Erzählungen beschränkt, denn beim Publikum erfreuten sich Märchen und Novellen aus dem Ausland weitaus größerer Beliebtheit, allem voran Giambattista Basiles Pentamerone, Il Decamerone von Giovanni Boccaccio sowie die morgenländischen Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht.21 Anfang des 18. Jahrhunderts erkannte Peter I., dass Lubki sich ideal für innenpolitische Propagandazwecke eigneten, woraufhin er 1711 eine eigens darauf ausgerichtete Kupferstichkammer einrichtete, in der die besten Lubok-Künstler seiner Zeit beschäftigt waren. 1724 erließ der Herrscher ein Dekret, das den Druck von Lubki mittels Kupferplatten ermöglichte und die Arbeit der Künstler um ein vielfaches erleichterte, da sie nun weitaus präzisere und ausdrucksstärkere Ergebnisse als mit Holzschnitten erzielen konnten. Wie zahlreiche andere Petrinische Reformen, zielte auch dieses Dekret nicht minder darauf ab, dem Staat ein gewisses Maß an Kontrolle über kulturelle und gesellschaftliche Abläufe – in diesem Fall der Produktion von Lubki – zu übertragen. Ein Unterfangen, das keinen

19 Vgl. ebd., 15–21. 20 Vgl. Evdokimova, 2015, und Norris, 2006, 5. 21 Vgl. Koschmal, 1989, 13–14.

230

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 2: »Der Barbier will dem Schismatiker den Bart schneiden. Der Schismatiker sagt zum Barbier: ›Hör zu, Barbier! Ich möchte meinen Bart nicht abschneiden. Schau, ich schreie gleich eine Wache hinzu‹.« Ende 17./ Anfang 18. Jahrhundert.23

großen Erfolg hatte, denn die Holzschnitte wurden trotz des Verbots weiterhin stillschweigend an Marktständen verkauft. Zu allem Überfluss kursierten darüber hinaus im ganzen Land zahlreiche Lubok-Drucke, die den Zaren und seine Reformen verhöhnten.22 In Abb. 2 ist beispielsweise eine vom Zaren nach der Rückkehr seiner Europareise eingeführte Reform aufgegriffen worden, nach welcher alle Männer im Russischen Kaiserreich sich die Bärte abschneiden lassen mussten. Peter I. war der Ansicht, dass das Tragen der langen Bärte seiner Untertanen eine an althergebrachten Traditionen festhaltende Gepflogenheit sei, die der von ihm angestrebten Modernisierung des Reichs entgegenstehe. Mit Einführung des Kupferdrucks ging auch eine Verschiebung der in den Lubki bis dato dargestellten Themen einher, denn die Etablierung dieser neuen Technik ermöglichte die Massenfertigung von Druckerzeugnissen, die nun durch erschwingliche Preise vermehrt Einzug in die Häuser der einfachen Leute hielten.24 Je ungebildeter das Publikum, desto einfacher und unmittelbarer wurden auch die in den Lubki dargestellten Inhalte, wodurch sie bei der Oberschicht fortan ihre Gunst verloren.25

22 Vgl. Sekirskaya, 2020. 23 Von unbekannt. (Rus.: »Цирюльник хочет раскольнику бороду стричь. Раскольник говорит цирюльнику: ›Слушай, Цырюльник! Я бороды стричь не хочу. Вот гляди, на тебя скоро караул закричу‹.« https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Raskolnik.jpg (02.07.2021). 24 Vgl. Alaniz, 2010, 17. 25 Vgl. Brooks, 2003, 64.

231

Alice Cadeddu

Abb. 3: Ivan Terebnev. »Napoleonischer Tanz«.26

Nach Snegirev waren die am häufigsten verwendeten Illustrationen aus folgenden Themengebieten entlehnt: – – – – –

religiöse und moralische Szenen philosophische Kommentare zu den Prüfungen des täglichen Lebens juristische Themen und Illustrationen von Bestrafungen historische Ereignisse, insbesondere Kriege symbolische oder poetische Szenen aus Legenden oder Folklore.27

Im 18. Jahrhundert wurden in den Lubki vorrangig volkstümliche Themen behandelt, aber auch Märchen und historische Ereignisse fanden Einzug in die Gattung. Etwa zu dieser Zeit entstanden auch aus mehreren Lubki zusammengesetzte Almanache und Kalender.28 Während des Krieges mit Frankreich 1812 erfuhr die Gattung des Lubok offizielle Anerkennung im Staat, da sie sich als äußerst effektive Propagandawaffe gegen den Feind herausstellte.29 Die Bevölkerung sollte durch die Lubki dahingehend gelenkt werden, dass allem voran der bedingungslose Patriotismus im Volk gefes-

26 Ivan Terebnev. »Наполеонова пляска« (»Napoleonova plyaska«). Abbildung entnommen aus K.S. Kuz’minskiy. »Отечественная война в живописи«, 2008. http://www.museum.ru/ museum/1812/Library/Sitin/book5_13.html (20.08.2021). 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. »Russian Lubok«. Auf Russia the Great. https://russia.rin.ru/guides_e/7309.html (07.04.2021). 29 Vgl. Evdokimova 2015.

232

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

tigt und das Einheitsgefühl gestärkt werden sollte.30 Der gegen Napoleon geführte Krieg führte zu einem enormen Anstieg der Lubki-Produktion, allein zwischen 1812 und 1814 erschienen über 200 Grafiken, die das Gefühl der nationalen Identität zu verstärken beabsichtigten und vornehmlich für Propagandazwecke genutzt wurden. In den Darstellungen wurde Napoleon zumeist in satirischen Szenen porträtiert, wohingegen russische Bauersleute kontrastierend dazu als Sieger und Helden dargestellt wurden (siehe Abb. 3). Derartige Zeichnungen sollten eine motivierende Wirkung auf die russische Bevölkerung im Krieg gegen die französischen Truppen haben, wodurch Napoleon zur indirekten Quelle des russischen Patriotismus gemacht und der Lubok mit Beginn des Krieges gegen Frankreich zu einem festen Bestandteil der russischen Volkskultur wurde.31 Die schrittweise eingeführte Vereinfachung der in den Lubki dargestellten Bilder und Texte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts sorgte für eine exponentiell steigende Zahl der Rezipient:innen. Aus der steigenden Nachfrage und den gleichzeitig sinkenden Ansprüchen an die Inhalte entstanden die sogenannten ›lubočnaja literatura‹, also kleine, wenige Seiten umfassende, illustrierte Texthefte, in denen die vermittelten Botschaften grober und direkter waren, und sich bei der ländlichen Leserschaft großer Beliebtheit erfreuten. Damit hat der Lubok den Grundstein für eine »neue Populärliteratur« gelegt, die massenhafte Verbreitung in Millionenauflagen im Land erfuhr.32 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stellte der Lubok eine der populärsten Formen der volkstümlichen Massenliteratur dar, was nicht zuletzt auf die den Text deutlich überwiegende Darstellung von Bildern geschuldet ist, denn trotz der sich kontinuierlich weiterbildenden Gesellschaft waren im Jahr 1897 noch immer knapp 80% der russischen Landbevölkerung nicht alphabetisiert.33 Der Lubok etablierte sich schnell zum beliebten Ausdrucksmedium der Meinungsäußerung und wird daher noch heute mancherorts als Spiegel der Seele des russischen Volkes bezeichnet.34 Letztlich musste der Lubok der im Volk steigenden Alphabetisierungsrate und ›eindrucksvolleren‹ Technologien wie dem Radio und dem Kino weichen. Seine Spuren hinterließ er dennoch: Bis heute sehen ihn viele Forscher:innen als prägendes Medium für den kontemporären russischen ComicStil, der sich zunächst in der russischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts manifestierte.35

30 Vgl. Koschmal, 1989, 27. 31 Vgl. Norris, 2006, 5 und 16. 32 Vgl. Koschmal, 1989, 12. 33 Vgl. Evdokimova, 2015 und Koschmal, 1989, 87. 34 Vgl. »Russian Lubok«. 35 Vgl. Alaniz, 2010, 25.

233

Alice Cadeddu

Abb. 4: Olga Vladimirovna Rozanova, Excerpt from a Newspaper Bulletin: »During the Execution…«. From the portfolio Voina (War), linocut in black ink, 40.5 x 31.8 cm.37

Russischer Futurismus, Avantgarde und Agit-Kunst Im Gegensatz zum europäischen Futurismus, der seinen Ursprung in Italien hatte und einen dezidierten Bruch mit der Vergangenheit propagierte, griffen die russischen Futuristen bewusst auf mittelalterliche Formen, so auch den Lubok, zurück. Diese Rückbesinnung diente dazu, ihren Werken ein dilettantisches, aber in erster Linie außereuropäisches Aussehen zu verleihen. Es entstand eine Form der Lithografie, in der das Bild und das Wort untrennbar miteinander verbunden waren und auch ineinander übergehen konnten. Die Entfernung des einen oder des anderen führte demnach unweigerlich zur Zerstörung der Gesamtbedeutung. Ein Beispiel für diese Form des russischen Futurismus ist das 1916 publizierte Album War [Rus.:война; Vojna], in dem die avantgardistische Malerin Olga Rozanova grafische Elemente mit lyrischen Texten des Dichters Aleksei Kruchenykh kombiniert (siehe Abb. 4). Auf fünfzehn im Linolschnitt angefertigten Blättern verbindet das Künstler-Duo kubo-futuristische, ›suprematistische‹ Illustrationen mit

36 Vgl. Mechella Yezernitskaya. »Away from the Frontlines: Olga Rozanova and Aleksei Kruchenykh’s 1916 Album War« (29.01.2020) post notes on art in a global context (MoMA). https://post.moma.org/away-from-the-frontlines-olga-rozanova-and-aleksei-kruchenykhs1916-album-war (10.12.2020). 37 Vgl. Ada Ackerman. »Olga Vladimirovna Rozanova«. awarewomenartists. https://awarewomenartists.com/en/artiste/olga-vladimirovna-rozanova/ (19.04.2021).

234

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Gedichten in der transrationalen Sprache ›Zaum‹, um das traumatische Erlebnis des Krieges zu verarbeiten. Durch den angewandten Linolschnitt ähnelt das Werk auf visueller Ebene nicht unwesentlich der Optik der im Holzschnitt angefertigten Lubki des 17. Jahrhunderts.36 Wenngleich der traditionelle Lubok in der russischen Kunstszene immer weniger Beachtung erfuhr, bedienten sich dennoch weiterhin einige Kunstschaffende, wie beispielsweise der international bekannte Maler Wassily Kandinsky, dieser mittelalterlichen Kunstform.38 Die Oktoberrevolution und die damit einhergehende Zeit der gesellschaftspolitischen Veränderung wirkte sich auch auf die Kunstform des Lubok aus, der in dieser Phase eine regelrechte Renaissance erlebte. Eine Weiterentwicklung der Gattung des Lubok fand auf zwei verschiedenen Ebenen statt: Auf der einen Seite knüpfte die revolutionäre Agitationskunst an die pragmatische Funktion der Lubki an, wohingegen der Neoprimitivismus der Avantgarde den ästhetischen Aspekt des Lubok in den Fokus stellte. Die erste, auch Agit-Kunst genannte Entwicklung brachte die Agit-Plakatkunst hervor, die während der Russischen Revolution sowie im Ersten und Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurde und im Folgenden näher beleuchtet wird.39 ROSTA-Fenster Der Einfluss des Luboks findet sich zweifelsohne in den revolutionären Postern wieder, die zu kommunistischen Propagandazwecken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Derartige Plakate dienten den Bolschewisten sowohl zur Mobilisierung der Massen für ihre Sache als auch der Verbreitung und Stärkung der neuen Symbole des kommunistischen Staates. Während des russischen Bürgerkrieges (1917–1922) vereinten die Propagandaplakate der russischen Telegrafenagentur ROSTA diese beiden Ziele in ganz besonderem Maße.40 Die auch unter dem Begriff ›Agitprop‹41 bekannten Poster wurden für die Bolschewisten ein wichtiges Werkzeug, um Informationen im Volk in einer Form zu verbreiten, über die sie uneingeschränkte Kontrolle hatten.42 Die in den Lubki bereits etablierte Bild-Text-Kombination war maßgeblich für die Gestaltung der ROSTA-Fenster. Wie bereits charakteristisch für ihre Vorgänger, standen auch hier Text und Bild in einer analogen Beziehung zueinander.43 38 Vgl. Sekirskaya, 2020. 39 Vgl. Koschmal, 1989, 102. 40 Vgl. Matt Young. »Russian Comic Books«. The Library of Congress, 20.12.2019. https://blogs. loc.gov/international-collections/2019/12/russian-comic-books/ (22.04.2021). 41 Eine Kombination aus den Worten ›Agitation‹ und ›Propaganda‹. 42 Vgl. Alaniz, 2010, 43. 43 Vgl. Koschmal, 1989, 102.

235

Alice Cadeddu

Abb. 5: Vladimir Vladimirovich Mayakovsky. »Die Welt steht auf einem Vulkan«, 1921.44

Die bunten Abbildungen, die zumeist auf starken Farbkontrasten (rot/weiß und rot/schwarz) basierten, wurden größtenteils mit Schablonen angefertigt und in den Fenstern der Städte und Dörfer aufgehängt, wo sie von allen Bewohnern gesehen werden konnten. Dies war eine effiziente Methode, um Nachrichten schnell unter das Volk zu bringen, das – zu großen Teilen nicht hinreichend alphabetisiert – den Inhalt solcher Botschaften dennoch ohne weiteres verstand. Die Bürger wurden durch die ROSTA-Fenster nicht nur über die neuesten Entwicklungen an der Front, sondern auch über öffentliche Bekanntmachungen zu kommunistischen Doktrinen bis hin zu allgemeinen Hygienevorschriften auf dem Laufenden gehalten.45 Mit den plakativen Darstellungen sollte ein möglichst breites Publikum erreicht werden, auf das die mutmaßlich einfachen Abbildungen didaktischen und politischen Einfluss nehmen sollten.46 Die Werke kombinierten oftmals ikonografische Symbole mit Strophen in Reimform, die mehrere Plakate umfass44 Vladimir Vladimirovich Mayakovsky. »Мир стоит на вулкане... [Mir stoit na vulkane...]«. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%D0%9C%D0%B0%D1%8F%D0%BA%D0%BE %D0%B2%D1%81%D0%BA%D0%B8%D0%B9._%D0%9E%D0%9A%D0%9D%D0%90_% D0%A0%D0%9E%D0%A1%D0%A2%D0%90.jpg?uselang=ru (12.07.2021). 45 Vgl. Young, 2019, sowie Vitaly Shishikin. »Komiksy v SSSR i rossii soderzhaniy«. Mir fantastiki 6 (94), Juni 2011, 53-57. http://old.mirf.ru/Articles/art4680.htm (31.03.2021). 46 Vgl. Koschmal, 1989, 102.

236

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

ten. Diese wurden in einer Reihe aufgehängt und erzählten in der Regel eine zusammenhängende Geschichte. Sowohl auf narrativer als auch visueller Ebene sind in den ROSTA-Plakaten unverkennbare Parallelen zum ›klassischen‹ Comic zu erkennen, allem voran die Verwendung mehrerer Panels. Diese dienten entweder dazu, einen Kontrast zwischen zwei konträren Seiten – bspw. ›Gut‹ [Kommunismus] vs. ›Böse‹ [Kapitalismus], damals vs. heute etc. – aufzuzeigen, oder aber um eine Erzählung durch Sequentialität zu erzeugen (siehe Abb. 5).47 Zu den bekanntesten ROSTA-Künstlern wird der Dichter und Futurist Vladimir Mayakovsky gezählt, dessen Werke aufgrund ihres besonderen Stils viele Nachahmer fanden. Mayakovsky schuf eine neue visuelle Sprache des sowjetischen Staates, zu der fortan die Figur des »schwerfälligen Kapitalisten« zu einem bevorzugt genutzten Symbol avancierte. Mit großem schwarzen Zylinder und auffälligem Monokel war er der stets in auffallendem Rot dargestellten Figur des hart arbeitenden Kommunisten entgegengestellt. Die Botschaften wurden überwiegend in mehreren, aufeinanderfolgenden Postern oder Tafeln vermittelt, angelehnt an die Lubki der vorangegangenen Jahrhunderte.48 Aber wie bereits schon die Lubki, waren auch die ROSTA-Fenster trotz ihrer zumeist humoristischen und cartoonartigen Darstellungen aufgrund ihrer bitteren und zynischen Botschaften nicht – oder nur bedingt – für Kinder geeignet.49 Die Produktion der ROSTA-Fenster hielt bis ca. 1930 an, bevor sie von moderneren Massenmedien wie Film und Fernsehen abgelöst wurden und durch den ideologischen Wandel der Zeit politisch auch nicht mehr von Nutzen waren.50 Auf der anderen Seite der Welt setzte derweil mit dem erstmaligen Erscheinen der Figur »Superman« in der 1938 erschienenen ersten Ausgabe der Action Comics eine neue Ära in den Vereinigten Staaten ein: Das Golden Age of Comic Books, das bis ca. Mitte der 1950er Jahre andauern sollte. Wenngleich zuvor bereits Comic-Strips in den Tageszeitungen erschienen, löste erst das Auftreten der Superhelden-Generation (Superman, Batman, Captain Marvel, Captain America, Wonder Woman etc.) binnen kürzester Zeit einen regelrechten Boom des Comic Heftes aus – und zwar weltweit.51 Nicht so jedoch in der damaligen Sowjetunion,

47 Vgl. Alaniz, 2010, 38 und 43. 48 Vgl. Young, 2019. 49 Vgl. Alaniz, 2010, 43. 50 Vgl. ebd., 47. 51 Vgl. u.a. Stephan Ditschke, Anjin Anhut. »Menschliches, Übermenschliches. Zur narrativen Struktur von Superheldencomics«. In Lukas Etter, Thomas Nehrlich, Joanna Nowotny (Hg.). Reader Superhelden. Theorie – Geschichte – Medien. Bielefeld: transcript: 2018, 117–156, hier 146–147. Weitere umfassende, einführende Werke zur Thematik siehe mitunter auch: Scott McCloud. Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Hamburg: Carlsen, 2001; Günter Metken. Comics. Frankfurt am Main, Hamburg: Fischer, 1970; Roger Sabin. Comics, Comix & Graphic Novels. A History of Comic Art. New York: Phaidon, 2014; Horst Schröder. Die ersten

237

Alice Cadeddu

denn der Weg zu den sowjetisch-russischen Leser:innen sollte dem Comicheft vorerst noch versperrt bleiben.52 Russischsprachige Comics in Jugoslawien Nach der Oktoberrevolution und der neu gegründeten Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik begann eine Ära, die Kunstschaffenden neue Wege und mehr Freiheiten ermöglichte. Diese neuen Privilegien umfassten jedoch keineswegs die Produktion von Comics, denn diese waren noch immer eine im Staat nicht geduldete Kunstform. Dennoch sorgten die damaligen Zustände im Land dafür, dass der russischsprachige Comic sich andernorts entwickeln und etablieren konnte, nämlich im damaligen Königreich Jugoslawien.53 Nach der Revolution und dem Bürgerkrieg wanderten zahlreiche russische Aristokraten und Offiziere der Weißen Armee in andere Länder aus, nachdem sie von den Bolschewiken besiegt worden waren. Einige dieser Emigrant:innen ließen sich im nicht weit entfernten Königreich Jugoslawien nieder, wo Comics in den 1920er und 1930er Jahren – im sogenannten ›Goldenen Zeitalter Serbischer Comics‹ – an Popularität gewannen. In dieser Zeit gründeten acht Künstler,54 von denen sechs ursprünglich aus Russland stammten, den ›Belgrade Circle‹ (›Beogradski krug‹). Inspiriert von einem der Gründer, Đorđe (Juri) Lobačev, der zugleich auch leidenschaftlicher Comic-Zeichner war, begann der Zirkel mit der Produktion zahlreicher Bildergeschichten, die im ganzen Land schnell an Beliebtheit gewannen, wenig später in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden und ihren Weg nach Europa fanden.55 Inhaltlich befassten sich die Werke mit russischen

Comics. Zeitungscomics in den USA von der Jahrhundertwende bis zu den dreißiger Jahren. Hamburg: Carlsen, 1982; Coulton Waugh. The Comics. Jackson/Mississippi: Univ. Press of Mississippi, 191991. 52 Noch heute kursiert eine Legende, laut der in der Sowjetunion ein absolutes Comic-Verbot verhängt wurde, nachdem der belgische Comic-Künstler Hergé im Jahr 1930 das Heft Tim im Lande der Sowjets veröffentlichte, in dem er, zwar auf humoristische Weise, aber dennoch deutlich erkennbar, starke Kritik am Kommunismus äußerte. Vgl. Sandra Frimmel. »Comics in Russland«. Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich. https://doi. org/10.5167/uzh-150283 (27.03.2021). Publiziert in Sandra Frimmel. Comics in Russland. Hamburg: édkoder, 2018. 53 Vgl. Young, 2019. 54 Đorđe Lobačev, Nikola Navojev, Sergej Solovjev, Konstantin Kuznjecov, Đuka Janković, Aleksije Ranhner, Ivan Šenšin und Branko Vidić. »Beogradski krug (škola stripa)«. Wikipedia Serbien. https://sr.wikipedia.org/sr-el/%D0%91%D0%B5%D0%BE%D0%B3%D1%80%D0% B0%D0%B4%D1%81%D0%BA%D0%B8_%D0%BA%D1%80%D1%83%D0%B3_(%D1%88 %D0%BA%D0%BE%D0%BB%D0%B0_%D1%81%D1%82%D1%80%D0%B8%D0%BF%D 0%B0) (20.08.2021). 55 Vgl. Saduov, 2018, 296.

238

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Märchen, Volkserzählungen und literarischen Klassikern, darunter Gogol, Lermontow, Puschkin und Tolstoi.56 Später reihten sich auch Erzählungen des Barons von Münchhausen, Walter Scott, Victor Hugo und Charles Dickens in die Produktion der Literatur-Comics ein. Die Zielgruppe dieser zunächst noch ohne Sprechblasen illustrierten Bildergeschichten bestand anfänglich fast ausschließlich aus Kindern, denn die Zeichnungen und die darunter verfassten Texte und Verse sollten zuallererst der literarischen Erziehung der Migrantenkinder dienen. Gleichzeitig wurden durch die illustrierten Adaptionen aber auch serbisch-jugoslawische Erwachsene auf unterhaltsame Weise mit der klassischen Literatur der russischen Zugewanderten vertraut gemacht.57 Das Goldene Zeitalter der serbischen Comics fand im Frühjahr 1941 mit der Bombardierung Belgrads durch die Nazis ein abruptes Ende. Einige Mitglieder des ›Belgrade Circle‹ konnten rechtzeitig fliehen, andere traf ein weitaus härteres Schicksal: Ivan Šenšin, den man für einen Nazi-Kollaborateur hielt, wurde von den Kommunisten hingerichtet. Lobačev wurde nach Rumänien deportiert, überlebte und siedelte 1950 in die Sowjetunion über.58 Seiner einstigen Tätigkeit als Comic-Zeichner konnte er hier jedoch nicht nachgehen, da der seit den 1930er Jahren von der sowjetischen Regierung einzig geförderte Kunststil der ›Sozialistische Realismus‹ war und anderweitig beeinflusste künstlerische Entwicklungen zumeist direkt unterbunden wurden. Sozialistischer Realismus Mit Beginn der autokratischen Kulturpolitik Stalins unterstanden Kunstschaffende fortan dem Staat, der sie als offizielle Organe der Regierungspropaganda in Anspruch nahm. Vorgeschriebene ideologische und ästhetische Vorgaben sorgten für eine strenge Kontrolle der Künstler:innen, deren Zuwiderhandeln harte Bestrafungen nach sich zog.59 In der Kunst herrschte fortan ein geradliniger, mimetischer Stil vor, der durch Androhung staatlicher Sanktionen bedingungslos durchgesetzt wurde. Westlich geprägte Kunst und deren fremde Einflüsse wurden als »Abweichung von der Doktrin geächtet« und waren strengstens verboten.60 Im Sozialistischen Realismus wurden ausschließlich wirklichkeitsgetreue künstleri56 Vgl. Young, 2019. 57 Vgl. Michel De Dobbeleer. »The ›Belgrade Circle‹: Pushkin, Lermontov, Gogol and Tolstoy in Serbian Interwar Comics«. SESDiva. Institute for Literature Bulgarian Academy of Sciences Online. https://sesdiva.eu/en/virtual-rooms/cultural-exchange/item/155-belgrade-circlepushkin-lermontov-gogol-tolstoy-in-serbian-interwar-comics-en (23.04.2021). 58 Vgl. Saduov, 2018, 296. 59 Vgl. Alaniz, 2010, 57. 60 Vgl. ebd. sowie Toby Clark. Kunst und Propaganda: das politische Bild im 20. Jahrhundert. Köln: DuMont, 1997, 85.

239

Alice Cadeddu

sche Darstellungen geduldet, die den derweil in den USA sehr beliebten, zumeist surrealistischen, heldenhaften und oft schrillen Comiczeichnungen, extrem konträr entgegenstanden.61 Es etablierte sich eine Haltung gegenüber der Gattung, die sie als geistlose Massenliteratur diskreditierte, als eine Art »Pseudo-Literatur« für eine abgestumpfte kapitalistische Leserschaft, die nur imstande sei, einer Erzählung zu folgen, wenn sie von Bildern begleitet wurde. Darüber hinaus seien derartige Geschichten oftmals nur Lügen und von unmoralischer, bürgerlicher Propaganda zersetztes Material.62 Um den Bildungsstandards der zeitgenössischen Kinderliteratur gerecht zu werden, war eine gesetzliche ›Obergrenze‹ für die räumliche Einteilung einer Seite festgeschrieben: In Büchern für sehr junge Kinder durften demnach die den Text begleitenden Illustrationen nicht mehr als 50 Prozent einer Seite einnehmen. Ältere Kinder, die bereits über die Fähigkeit verfügten, abstraktere Gedankengänge zu knüpfen, hatten in ihren Büchern bereits nur noch einen Bildanteil von maximal 10 Prozent. Auf diese Weise sollten Kinder in der ›Realität‹ verankert bleiben. In den speziell an Kinder gerichteten Zeitschriften, wie beispielsweise Murzilka [Мурзилка, 1924–heute] und Vesolyje Kartinki [Весёлые картинки, 1956–1991], waren Comics nur in den seltensten Fällen erlaubt. In derartigen Heften sollte nach strikter Vorgabe der sowjetischen Regierung eine positive Grundstimmung vermittelt werden. Neben einem grundlegenden Kollektivismus und Heimatliebe sollten auch Partei-Werte propagiert werden. Der Fokus lag auf dem erzieherischen Aspekt, der durch Märchen, informative Artikel und Spiele vermittelt wurde.63 Der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit Trotz der restriktiven Maßnahmen der sowjetischen Regierung gegen die westliche Kultur, besann man sich mit dem Vormarsch der Deutschen 1941 in die Sowjetunion wieder zurück auf die sich bereits zuvor mehrfach für Propaganda- und Mobilisierungszwecke bewährte Kunst der Plakate, die schon im Bürgerkrieg der Russischen Revolution und im Ersten Weltkrieg effektive Ergebnisse erzielten. Innerhalb kürzester Zeit plakatierte die Regierung im ganzen Land öffentliche Plätze und auch die berühmten »Fenster-Comics« fanden wieder Einzug in den Alltag der Bevölkerung, mit dem Unterschied, dass sie nun von der TASS, der Telegra61 Vgl. Young, 2019. 62 Nicht nur in der Sowjetunion wurde mit allen Mitteln versucht, Comics verbieten und aus dem kulturellen Leben verbannen zu lassen. In den USA warnte beispielsweise der damals in seinem Gebiet äußerst anerkannte Psychiater Dr. Fredric Wertham in seinem berüchtigten Buch Seduction of the Innocent (New York: Rinehart, 1954) vor den gefährlichen Auswirkungen, die Comics auf Kinder und Jugendlichen hätten, da sie mitunter die Jugendkriminalität förderten. Vgl. Günter Metken. Comics. Frankfurt am Main, Hamburg: Fischer, 1971, 70. 63 Vgl. Alaniz, 2010, 68–71, sowie Frimmel, 2018.

240

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 6: Irakli Moissejewitsch Toidse. Mutter Heimat ruft!, 1941.65

phenagentur der Sowjetunion und Nachfolgerin der einstigen ROSTA, produziert wurden. Im Rahmen dieser Propagandamaschinerie fertigte der georgisch-sowjetische Künstler Irakli Toidse das bis heute wohl bekannteste, in der Sowjetunion entstandene, politische Plakat zu Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges an: »Mutter Heimat ruft!« (siehe Abb. 6).64 Neben Toidse stellten zahlreiche Künstler, die bereits unter dem Zaren während des Ersten Weltkrieges Propagandaplakate anfertigten, auch in diesem Krieg Poster her, in denen der Fokus vornehmlich auf die Russische Identität gelegt wurde. Die Bilder referierten dabei nicht selten auf die im Krieg gegen Napoleon eingesetzten Propagandaplakate, die an den für die russische Armee siegreichen Ausgang des französischen Russlandfeldzuges 1812 erinnern sollten. Auf diese Weise appellierte man erneut an das Nationalitäts- und Einheitsgefühl der sowjetischen Bevölkerung im Krieg gegen Nazi-Deutschland, das einst – laut sowjetischer Propagandamaschinerie – bereits zum Sieg in einem zurückliegenden,

64 Vgl. Alaniz, 2010, 61. 65 Irakli Moissejewitsch Toidse. Родина-мать зовет! (Transkr.: Rodina-Mat’ zovet!), 1941. https://arthive.com/de/exhibitions/2051 (14.07.2021).

241

Alice Cadeddu

zunächst aussichtslosen Konflikt, geführt hatte.66 Die Zurückbesinnung auf den Lubok im Zweiten Weltkrieg rührt laut Stephen Norris mitunter daher, dass es als einfaches und zugleich sehr zweckdienliches Mittel zur Kommunikation politischer und ideologischer Botschaften diente, da eine breite Gesellschaftsschicht im Staat erreicht werden konnte, insbesondere die zu großen Teilen noch nicht alphabetisierte Landbevölkerung.67 Dabei gestalteten die Künstler (mitunter Boris Jefimow, Nikolai Radlow, Michail Tscheremnych, Alexej Radakow und Georgi Sawizki) ihre Bilder derart, dass der Inhalt auch ohne Bildunterschriften leicht zugänglich war und von allen Bildungsschichten verstanden wurde.68 Trotz der zu Propagandazwecken viel genutzten Lubki während des Zweiten Weltkrieges und der Beliebtheit, der sie sich in der Bevölkerung erfreuten, entwickelte sich im weiteren Verlauf keineswegs eine florierende Comic-Produktion. Anders, als beispielsweise in den USA, wo Comics im Krieg nicht nur der Unterhaltung der Soldaten dienten, sondern mitunter auch als Propagandamittel genutzt wurden, nahm die Entwicklung des Comics in der UdSSR einen anderen Verlauf. Ausschlaggebend dafür war insbesondere die zunehmende Popularität der Comics im Westen während des Kalten Krieges, weshalb die kommunistische Regierung der Sowjetunion das Medium harsch kritisierte und letztendlich auch vollends verbot.69 In ihren Bestrebungen, den Comic mit allen Mitteln zu bekämpfen, erhielt die Regierung mitunter auch aus sowjetischen Intelektuellenkreisen Unterstützung. Kornei Tschukowski, ein russisch-sowjetischer Dichter, Literaturkritiker und Autor zahlreicher Kinderbücher, verfasste beispielsweise zu diesem Zweck 1948 einen Artikel über die Gefahren von Comics für Kinder und Jugendliche. Unter dem Titel »Rastleniye detskikh dush« (Dt. »Verunreinigung von Kinderseelen«) übte er scharfe Kritik an US-amerikanischen Comics, die – so gibt er unmissverständlich zum Ausdruck – gewaltverherrlichend seien und kriminelle Handlungen heroisieren. Die moralische Grundlage, insbesondere der populären Superhelden-Comics wie Superman und Batman, sei äußerst bedenklich, da sie Kindern vornehmlich eines vermitteln: Dass »Der Mensch [...] dem Menschen ein Wolf«70 sei. Insbesondere in Bezug auf die Figur des Supermans wird die ablehnende Haltung Tschukoswkis gegenüber dem Massenmedium deutlich, die unverkennbar auf die Herkunft des Helden zurückzuführen ist:

66 Vgl. Norris, 2006, 10. 67 Vgl. ebd., 2006, 185. 68 Vgl. Shishikin, 2011. 69 Vgl. Saduov, 2018, 296; sowie Young, 2019. 70 »человек человеку – зверь«. Kornei Iwanowitsch Tschukowski. »РАСТЛЕНИЕ ДЕТСКИХ ДУШ« (»Rastleniye detskikh dush«). Literaturnaya Gazeta 1948, Nr. 76 (2459), 22.09.1948, 4.

242

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Wie es sich für eine Gottheit aller Religionen gehört, stieg er direkt vom Himmel auf die Erde herab. Geboren auf einem fernen Stern, dem Planeten Krypton, kam er von dort in die Vereinigten Staaten, denn sein Heimatplanet war, in perfekter amerikanischer Manier, eine Atombombe, bereit, jeden Augenblick zu explodieren.71

Mit Erscheinen der Zeitschrift Весёлые картинки (Veselye Kartinki; Dt.: Lustige Bilder) im Jahr 1956 wurden Bildergeschichten und damit einhergehend auch Comics zu einer vom Staat legitimierten Kunst- und Erziehungsform für Kinder.72 Das Magazin richtet sich inhaltlich an Kinder zwischen vier und elf Jahren, bezieht aber gleichzeitig auch die ganze Familie in den Leseprozess mit ein. Neben den im Magazin enthaltenen Gedichten, Geschichten, Comics und Witzen gab es in einigen Ausgaben auch Brettspiele für die ganze Familie sowie Rätsel, deren Lösung die Kinder von ihren Eltern kontrollieren lassen mussten. In den 1960er bis 1980er Jahren waren Veselye Kartinki und das bereits seit 1924 publizierte Magazin Murzilka) die beliebtesten und meistgelesensten Kinderzeitschriften in der UdSSR.73 Westliche Comic-Hefte sollten sowjetische Leser:innen jedoch erst in den späten 1970er Jahren erreichen. Die bis dato im üblichen Handel offiziell käuflich nicht zu erwerbenden Comics wurden zunächst von Diplomaten und Seeleuten aus dem Ausland mitgebracht und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Insbesondere vor dem Hintergrund der beinahe ausschließlich auf Kinder ausgerichteten Comics im eigenen Land erschienen westliche Superhelden-Comics wie Superman und Batman mit ihren vergleichsweisen brutalen und aggressiven Inhalten für Jugendliche und Erwachsene von großem Interesse zu sein.74

71 Ebd. Im Original: »Родившись на дальней звезде, на планете Криптон, он прибыл оттуда в Соединенные Штаты, ибо его родная планета в полном соответствии с новейшими американскими модами, оказалась атомной бомбой, ежеминутно готовой взорваться.« 72 Vgl. »История комиксов в России«. https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%98%D1%81%D1 %82%D0%BE%D1%80%D0%B8%D1%8F_%D0%BA%D0%BE%D0%BC%D0%B8%D0%B A%D1%81%D0%BE%D0%B2_%D0%B2_%D0%A0%D0%BE%D1%81%D1%81%D0%B8% D0%B8#cite_note-26 (14.07.2021). 73 Vgl. »Весёлые картинки (журнал)«. https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%92%D0%B5%D 1%81%D1%91%D0%BB%D1%8B%D0%B5_%D0%BA%D0%B0%D1%80%D1%82%D0%B 8%D0%BD%D0%BA%D0%B8_(%D0%B6%D1%83%D1%80%D0%BD%D0%B0%D0%BB (14.07.2021). 74 Vgl. Shishikin, 2011.

243

Alice Cadeddu

Perestroika. Die erste Welle des russischen Comics Comics, in ihrer ›klassischen‹ Form,75 etablierten sich aktiv erst in den späten 1980er Jahren in der Sowjetunion und Russland.76 Mit dem Beginn der Perestroika Anfang 1986 wurde auch das bis dato in der UdSSR herrschende Verlagsmonopol aufgehoben, wodurch eine ganz neue Möglichkeit der Publikation von aus- aber auch inländischer Literatur ermöglicht wurde.77 Die ›erste Welle‹ des russischen Comics wurde dabei von verschiedenen Faktoren ausgelöst: Zum einen lizenzierten eine Reihe von Verlagen ausländische Comic-Serien und publizierten sie als ›pictured literature‹, ein Begriff, unter welchem Comics bis heute in Russland vertrieben werden. Darüber hinaus schlossen sich im Land selbst sogenannte Kreativteams russischer Comic-Künstler:innen zusammen und eröffneten Comic-Studios, in denen sie ihre eigenen Comics produzierten und veröffentlichten.78 Ferner war es fortan durch die von Michail Gorbatschow eingeleitete neue Politik der freien Meinungsäußerung (Glasnost) möglich, einen weitaus offeneren Umgang mit der Vergangenheit und der Gegenwart auszuleben, als es seit den 1920er Jahren möglich gewesen war. Tabuthemen, allem voran Kritik gegenüber der Regierung, waren nicht mehr unter strikte Repressionen gestellt und Kulturgüter aus dem Ausland nicht mehr verboten. Mit dem Ziel, eine transparentere Gesellschaft zu schaffen, wurde ab 1986 der sowjetische Buch- und Pressemarkt liberalisiert, wodurch zahlreiche neue Verlage gegründet werden konnten. Perestroika und Glasnost ebneten den Weg für eine bis dato nicht existierende ComicIndustrie, und bereits 1988 wurde das erste Kollektiv russischer Künstler:innen gegründet, das sich ausschließlich der Herstellung von Comics widmete: Unter dem Namen KOM schlossen sich Comic-Größen wie Askold Akishin, Dmitry Spivak, Andrei Snegirov, Andrei Ayoshin, Alexei Kapninsky, Igor Kolgarev, Yury Zhigunov, Sasha Egorov, Mikhail Zaslavsky, Ilya Voronin, Konstantin Yavorsky, Ilya Savchenkov, Yury Pronin, Olga Kozlenkova, Alexei Iorsh, Alim Velitov und Vladimir Spiridov zusammen. Für viele von ihnen war KOM das Sprungbrett in eine teilweise bis heute andauernde Karriere als Comic-Künstler:innen,79 so auch für Akishin, der Schöpfer des in dieser Arbeit thematisierten Comics Eine Chronik militärischer Operationen. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass sich die knapp 70  Jahre andauernde sowjetische Herrschaft retrospektiv als großes Hindernis 75 Siehe hierzu u.a. McCloud, 2001; Thierry Groensteen. The System of Comics. Mississippi: Univ. Press of Mississippi, 2007; Will Eisner. Comics and sequential art: principles and practices from the legendary cartoonist. New York: W. W. Norton, 2008. 76 Vgl. Evdokimova, 2015. 77 Vgl. Frimmel, 2018. 78 Vgl. Evdokimova, 2015. 79 Vgl. Alaniz, 2010, 79–80.

244

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

für die Entwicklung des Comics als Kunstform in Russland auswirkte. Obwohl im ersten Jahrzehnt nach der Revolution Kunstschaffende durch die Aufhebung der Zensur von Seiten der sowjetischen Regierung dazu ermutigt wurden, soziale und künstlerische Experimente zu wagen, hat sich eine Comic-Industrie in der Sowjetzeit nie entwickeln können. Zurückzuführen ist dieses Phänomen mitunter auf die Bestrebungen der Sowjetmacht, den bis dato stark verbreiteten Analphabetismus zu bekämpfen, um auf diese Weise eine gebildete und ›überlegene‹ Bevölkerung zu schaffen. In diesem Zusammenhang wurden Werke bedeutender russischer Literaten, wie beispielsweise die Romane von Tolstoi und Gorki, weitaus mehr geschätzt, als vergleichsweise ›leichte‹ Literatur, von Comics ganz zu schweigen: Eine derartige Form der ›Massenkultur‹ war nicht mit dem Bildungsauftrag des Staates vereinbar. Insbesondere die Oberschicht, die sich bereits in früheren Zeiten gegen das Vulgäre und Einfache des Luboks aussprach, war auch der Comic-Kunst gegenüber äußerst negativ eingestellt.80 Das Ende der Sowjetunion. Die zweite Welle des russischen Comics Das Ende der Sowjetunion im Dezember 1991 ging mit grundlegenden Veränderungen für die Comic-Industrie einher. Ab sofort erschienen in der sogenannten ›zweiten Welle‹81 des russischen Comics Zeitschriften, in denen die bunten Bildergeschichten einen Umfang von bis zu vier Seiten einnehmen konnten. Andere ›Komiksisty‹ – so werden in Russland Comic-Künstler:innen bezeichnet – veröffentlichten ihre Werke wiederum im sogenannten ›самиздат‹ [Samizdat; Dt.: Selbstverlag]. Publikationen, die im Samizdat erschienen, waren in Russland in der Regel jedoch nur von wenig bis keinem Erfolg geprägt. Das Risiko des ökonomischen Verlustes war sowohl den Verlagen als auch den Künstler:innen zu hoch, sodass die Auflagen oft nur sehr wenige Exemplare umfassten. Comics, deren ästhetischer Charakter einen hohen künstlerischen Anspruch aufwiesen, wurden unter anderem im 1993 gegründeten Moscow Art Magazine abgedruckt, das, in Anlehnung an westliche Vorbilder, eine eigene Rubrik für Comics enthielt.82 Die von Boris Jelzin eingeführte Demokratie und die damit einhergehende vermeintlich freie Marktwirtschaft, löste bei vielen ›Komiksisty‹ die Hoffnung auf mehr Akzeptanz und Wohlstand aus. Was folgte, war jedoch ein erneuter Angriff auf die Comic-Industrie: Die Verlags- und Transportkosten stiegen ins Unermessliche, was Herausgeber dazu veranlasste, ›unsichere‹ Medien, mit anderen Worten: unbekannte russische Comics, nicht in ihr Programm aufzunehmen. Weitaus mehr Erfolg versprachen sie sich von ausländischen Comics, die in Russland

80 Vgl. ebd., 31–33. 81 Ebd., Alaniz, 2010, 91. 82 Vgl. Frimmel, 2018; sowie Alaniz, 2010, 119.

245

Alice Cadeddu

bereits den Vorteil der Markenbekanntheit genossen und darüber hinaus günstig importiert und übersetzt werden konnten. Die progressive ›Westernisierung‹ Russlands sowie die fortschreitende Professionalisierung der Comic-Kunst durfte jedoch keinesfalls als Zeichen der Akzeptanz dieses Mediums in der russischen Kultur angesehen werden. Noch immer wurde sie unablässig mit der ›minderwertigen‹, wenig intellektuellen amerikanischen Kultur assoziiert, von der es sich klar abzugrenzen galt.83 Diese Einstellung erschwerte die Arbeit der russischen Comic-Künstler:innen auf dem freien Markt außerordentlich, weshalb ein Großteil von ihnen die Kunst fortan nur noch als Hobby ausüben konnte, während sie ihren Unterhalt in anderen Berufen erwerben mussten. Die Finanzkrise 1998 in Russland trug ebenfalls einen großen Teil zum vorübergehenden abrupten Ende der kurzzeitig florierenden Comic-Industrie Russlands bei.84 Der russische Comic heute Als den ›Komiksisty‹ Ende der 1990er Jahre der freie Markt kaum noch zugänglich war und sie ihre Comics bis auf wenige Ausnahmen nicht im Verlag publizieren lassen konnten, musste eine andere Lösung gefunden werden, die es den Künstler:innen ermöglichte, ein möglichst breites Publikum für ihre Werke zu erreichen. Das Internet verschaffte die nötige Abhilfe: Im Jahr 1999 gründete der Künstler Andrey Ayoshin die Plattform Комиксолёт (Komicsolyot; Dt.: ComicFlugzeug), eine umfangreiche Online-Bibliothek für russische Comics.85 Diese Plattform leitete eine neue Ära in der russischen Comic-Szene ein, da sie nicht nur Newcomer:innen auf diesem Gebiet eine Möglichkeit bot, ihre Werke zu veröffentlichen, sondern auch verloren und vergessen geglaubte ›Klassiker‹ der russischen Comic-Kunst wieder in das Bewusstsein der Leser:innen rief (darunter auch das 1990 entstandene, bis dato unveröffentlichte Werk Eine Chronik militärischer Operationen von Askold Akishin). Viele Forscher:innen auf diesem Gebiet stellen sogar die Behauptung auf, dass das Internet den russischen Comic ›gerettet‹ habe. Die neu geschaffene Plattform eröffnete zahlreiche neue Möglichkeiten und führte z.B. dazu, dass im Jahr 2002 das erste Comicfestival unter dem Namen КомМиссия (KomMissia; Dt.: Com[ic]Mission) in Russland stattfinden konnte. Auf dem seither jährlich in Moskau ausgetragenen Festival werden Workshops und Vorträge von Künstler:innen angeboten, es finden Filmvorführungen statt, und in einem Wettbewerb werden die besten Comics ausgezeichnet. Die geladenen Talente kommen dabei nicht nur aus Russland, sondern werden aus der ganzen Welt zum Festival eingeladen.86 2007 folgte das nicht minder publikums83 Vgl. Alaniz, 2010, 93 und 105. 84 Vgl. Evdokimova, 2015. 85 Vgl. ebd. 86 Vgl. Alaniz, 2010, 112–116.

246

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

wirksame Festival ›Bumfest‹, das von Dmitry Yakovlev ins Leben gerufen wurde. Das Festival hatte einen solchen Erfolg, dass Yakolev kurze Zeit später den daraus hervorgegangenen Verlag ›Бумкнига‹ (›Bumkniga‹; Dt.: ›Boom-Buch‹) in Sankt Petersburg gründete. Dort verlegt er seither russische Comics und Graphic Novels aber auch international bekannte Werke von Künstler:innen wie Ulli Lust, Joe Sacco und Mawil in russischer Sprache.87 In einem Interview betont Yakolev zwar die in der jüngsten Vergangenheit steigende Zahl der in Russland veröffentlichten Comics, lässt dabei aber die parallel stark sinkende Auflagenzahl nicht außer acht. Er selbst erachtet es als sehr unwahrscheinlich, dass Comics in Russland in absehbarer Zeit einen ähnlichen Grad an Popularität erreichen können, wie sie ihn beispielsweise seit Jahrzehnten bereits in den Vereinigten Staaten oder Europa erfahren. Das rühre zum einen daher, dass Comics für zahlreiche russische Bürger:innen noch immer eine neue Art des Lesens darstellen und durch die wachsende Konkurrenz durch Medien wie Film, Fernsehen und soziale Medien zudem zunehmend an Interesse verlieren. Darüber hinaus wird durch mangelnde Vertriebskanäle der Verkauf immens erschwert, und fehlende Festpreise – wie vergleichsweise die Buchpreisbindung in Deutschland – tragen ihr Übriges dazu bei: Einige der größten Anbieter am Markt liefern sich regelmäßig Preiskämpfe, die nicht selten in Monopolisierungsversuchen gipfeln, den Comic-Künstler:innen ein geregeltes Einkommen unmöglich und den Berufszweig darüber hinaus äußerst unattraktiv machen.88 Dass der Berufszweig des Comic-Künstlers in Russland lange Zeit nicht als offizielle Profession angesehen war, zeigt sich mitunter auch in der nicht existenten Möglichkeit, dieses Handwerk auf akademischem Weg zu erlernen. Erst 2018 wurde an der HSE Art and Design School in Moskau erstmals der Studiengang »Illustration und Comics« angeboten, in dem sich bislang bis zu 24 Student:innen pro Abschlussjahr der Geschichte und dem Erlernen der Comic-Kunst widmen können.89 Ungeachtet der Tatsache, dass sich die Situation für Comic-Künstler:innen in Russland sukzessive zu verbessern scheint, sehen einem einschlägigen Erfolg des Mediums in Russland dennoch viele mit Skepsis entgegen. So ist der russische Comic-Autor und Mitorganisator des Comic-Festivals KomMissia, Khikus,90 bis zuletzt davon überzeugt gewesen, dass Comics in Russland niemals kommerziellen Erfolg er-

87 Vgl. Frimmel, 2018. 88 Vgl.Eugene Gerden. »Comics and Graphic Novels: Interview with Russia’s Dmitry Yakovlev«. Publishing Perspectives, 12.07.2019. https://publishingperspectives.com/2019/07/graphic-novel-comics-publisher-russia-dmitry-yakovlev-bumknigo/ (11.05.2021). 89 Vgl. Kirill Schamsutdinow. »Россия против комиксов«. Daily Storm Online, 07.02.2018. https://dailystorm.ru/kultura/rossiya-protiv-komiksov (21.07.2021); allgemeine Informationen zum Studium auf https://design.hse.ru/dir/comics. 90 Pavel Sukhikh, 03.03.1968, UdSSR – 29.06.2018, Israel.

247

Alice Cadeddu

langen werden. Die wohl einzige Leistung der russischen Comic-Industrie, und darin sind sich viele aus der Szene einig, ist es, dass sie überhaupt existiert.91

Rezeption der Romane Erich Maria Remarques in der ehemaligen Sowjetunion und Russland Lasen wir Remarque, dachten wir überhaupt nicht, das wären die Dreißiger, es kam uns vor, als wäre es jetzt. (Andrej Bitow)92

In keinem anderen Kulturkreis ist das Interesse an den Romanen Erich Maria Remarques so groß wie in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten.93 Bis heute zählt Remarque zu den bekanntesten und populärsten fremdsprachigen Autoren in Russland und das trotz der unablässigen Versuche, das große Interesse der Bevölkerung an seinen Romanen mittels politisch bedingter, zumeist inoffizieller Verbote zu unterdrücken. Seit den 1930er Jahren bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre hinein waren Remarques Romane aus ideologischen Gründen weder in inländischen Verlagen herausgegeben noch ins Russische übersetzt worden. Diese vom Regierungsapparat initiierte Zensur hatte allerdings keinen nachhaltigen Erfolg, wie die aktuelle Remarque-Forschung belegt.94 Remarque-Rezeption in der Sowjetunion und Russland Gehen wir zunächst einen Schritt zurück in das Jahr 1929: Im Januar des Jahres erschien der Roman Im Westen nichts Neues erstmals in Buchform auf dem deutschen

91 Vgl. Schamsutdinow, 2018. 92 Andrej Bitow. »Wie wir vor 30 Jahren gelesen haben«. In Erich Maria Remarque. Friedenspreis der Stadt Osnabrück. Verleihung an Swetlana Alexijewitsch und MEMORIAL Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge. 2001. Bramsche: Rasch, 2002, 63–70, hier 69. 93 Vgl. Thomas F. Schneider, Roman R. Tschaikowski (Hg.). In 60 Sprachen. Erich Maria Remarque: Übersetzungsgeschichte und -probleme. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 2002 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 16), 9. 94 Vgl. Roman R. Tschaikowski, Nadezhda A. Gossmann, Valentina V. Michaleva, Svetlana B. Christoforova. »Erste Übersetzungen des Romans Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque ins Russische«. Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues und die Folgen. Göttingen: V&R unipress, 2014 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 24), 33–44, hier 33.

248

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Markt, und durch bereits im Voraus im Verlag eingegangene Vorbestellungen war die erste Auflage unmittelbar ausverkauft.95 Weitaus weniger bekannt hingegen ist die Tatsache, dass der Roman bereits kurz zuvor in einer russischsprachigen Übersetzung96 als Buchformat im russischen Verlag Izd. Z. Kaganskogo mit Sitz in Berlin erschienen ist. Möglich war dies aufgrund des in der Berliner Vossischen Zeitung vom 10. November bis 9. Dezember 1928 veröffentlichten Vorabrucks des Romans, auf dessen Grundlage in kürzester Zeit eine Übersetzung ins Russische angefertigt wurde. Die Sowjetunion erreichte der Roman nur sechs Monate nach Erscheinen der deutschen Buchausgabe. Im Juli 1929 wurde eine sehr stark gekürzte Fassung des Romans im Moskauer Magazin Молодая гвардия (Molodaia gvardija; Dt.: Junge Garde) veröffentlicht, und Anfang 1930 erschien ein 45-seitiger illustrierter Abdruck97 im Literatur-Magazin Роман-газета (Roman-Gazeta). Bereits im ersten Jahr nach Erscheinen wurden jeweils über 100.000 Exemplare allein von den beiden Verlagshäusern Red Proletarian und Land and Factory vertrieben,98 was die Beliebtheit des Romans in der damaligen Sowjetunion zweifelsohne belegt.99 Ungeachtet der Tatsache, dass die Quintessenz des Romans von Remarque in erster Linie die grundsätzliche Ablehnung moderner Kriegsführung und Vermeidung eines erneuten Krieges ist, erntet das Werk viel positive Kritik seitens sowjetischer Kritiker:innnen. Eine Reaktion, die in absolutem Gegensatz zur allgemein vorherrschenden Ideologie sowjetischer Militarisierung stand. Derartige Kritiken stützen sich auf eine Argumentation, die auf der damals gegen die Bourgeoisie vorherrschenden ideologischen Haltung begründet ist, die man dem Werk Remarques ebenfalls unterstellte. In der Literaturnaia gazeta beispielsweise wurde Remarque dafür gelobt, dass er sich in seinem Roman ausschließlich an die »Fakten« hielt: »Literaturnaia gazeta [...] applauded Remarque for recording only

95 Zur ausführlichen Entstehungs- und Publikationsgeschichte von Im Westen nichts Neues siehe u.a.: Thomas F. Schneider. »›Wir passen nicht mehr in die Welt hinein‹. Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues«. Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013, 330–360. 96 Erich Maria Remarque. Na zapadnom fronte bez peremen. Berlin: Izd. Z. Kaganskogo, 1928. 97 Ремарк Э. М. На Западе без перемен. Роман. Пер. с нем. С.Мятежного и П.Черевина (Remark E. M. »Na zapadnom fronte bez peremen«. Roman. Per. s nem. S.Myatezhnogo i P.Cherevina). Роман-газета 2 (56), Moskau: 1930. http://roman.ruspole.info/?page=10 (07.06.2021). 98 Für eine umfassende Übersicht aller bislang erschienenen Ausgaben der Werke Remarques in russischer Sprache siehe den »Katalog der internationalen Buchausgaben der Werke Erich Maria Remarques« auf der Website des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums: https:// www.remarque.uni-osnabrueck.de/ausgaben/russisch.html. 99 Vgl. Karen Petrone. The Great War in Russian Memory. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press, 2011, 224.

249

Alice Cadeddu

›the facts‹ and for avoiding ›arguments and unnecessary humanitarian emotionalism‹«.100 Auf diese Weise wurde Im Westen nichts Neues den sowjetischen Leser:innen nicht als grundlegend pazifistisches Werk präsentiert, sondern schlicht als fundierte Basis für ein notwendiges politisches Handeln des Proletariats gegen den Imperialismus und dessen Vorbereitung auf einen imperialistischen Krieg. Diese ›Sowjetisierung‹ des Romans hielt allerdings nur bis zur Veröffentlichung des Folgeromans Der Weg zurück im Jahr 1931 an: Statt der ersehnten Revolution, von der die Lesenden als etwas beinahe Selbstverständliches in der Fortsetzung von Im Westen nichts Neues ausgingen, präsentierte Remarque wider Erwarten eine zerrüttete und ›verlorene‹ Generation. Als stünde diese ›Schmach‹ nicht bereits völlig im Widerspruch zu der damals im Staat propagierten Ideologie, stellte Remarque nun auch noch den Kommunismus auf eine ebenso schlechte Weise dar. Der Roman Der Weg zurück erschien infolgedessen zunächst nicht in der UdSSR und auch der Nachdruck von Im Westen nichts Neues wurde 1931 vorerst eingestellt und erst 1959 in Moskau mit einer Neuübersetzung wieder auf den Buchmarkt eingeführt.101 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre bildete sich in der Sowjetunion eine Literatur heraus, die in erster Linie dem Zweck der Propaganda und der soziokulturellen Adaptierung diente. Indem über bestimmte Themen systematisch geschwiegen wurde – ebenso wie es in der Presse und im Rundfunk praktiziert wurde –, entfernte man auch Erwähnungen von Staatsterror oder anderen Umständen aus der Literatur, die dem Standpunkt der sowjetischen Ideologie konträr gegenüberstanden. Wollten Schriftsteller:innen sich dem System nicht beugen, waren sie gezwungen, ihre ›unbequemen‹ Wahrheiten in einer Form zu chiffrieren, in der beispielsweise das Sterben als Opfer und Krankheiten als zu bestehende Prüfungen dargestellt wurden.102 Unter Nikita Chruschtschow wurde nach Stalins Tod (5. März 1953) ein sozialer Umbruch in der Sowjetunion eingeleitet, der die sowjetische Gesellschaft von den Zwängen der vorangegangenen Herrschaft Stalins zu ›befreien‹ beabsichtigte. Die Entstalinisierung betraf dabei nicht nur politische und wirtschaftliche Belange, sondern vollzog sich auch auf soziokulturellen Gebieten wie der Literatur: Der 1954 tagende Schriftstellerkongress beschloss demnach eine Abwendung pathetischer und von Ideologien überladener Literatur, die von Stalin vorge-

100 Zitiert nach ebd., 225. 101 Vgl. ebd., 225–227. 102 Vgl. Oleg E. Pokhalenkov. »Erich Maria Remarque und die moderne russische Literatur.« Alice Cadeddu, Claudia Junk, Thomas F. Schneider (Hg.). Weltweit – Worldwide – Remarque: Beiträge zur aktuellen internationalen Rezeption von Erich Maria Remarque. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 165–172; hier 166.

250

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

schrieben war, nun aber niemand mehr lesen wolle. Nichtsdestotrotz mussten sich Autor:innen noch immer am ›Sozialistischen Realismus‹ orientieren, und auch die Darstellung der Romanhelden sowie die Geschichte der Sowjetunion durften weiterhin keineswegs negativ konnotiert sein.103 Die in der Literatur behandelten Themen mussten fortan der neuen Ideologie und der Parteilinie Chruschtschows angepasst sein, in der humanitäre Aspekte im Vordergrund standen. Ausgewählte, unter Stalin verbotene, westliche literarische Werke wurden rehabilitiert und der Bevölkerung erneut zugänglich gemacht. Diese Ära der Renaissance westlicher Literatur erlebten auch die bis dato verbotenen Romane Remarques, die in der Folge große Wirkung auf die sich in dieser Epoche herausbildende Generation von Schriftsteller:innen hatte.104 Wie bereits erwähnt, erschienen die ersten beiden Romane105 Remarques zwar bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung in russischer Übersetzung,106 aber erst mit dem Roman Drei Kameraden gelang Remarque der eigentliche Durchbruch in der UdSSR. Inmitten der Tauwetter-Periode (1953–1964) erschien 1959 ein Sammelband im Lenizdat Verlag (Leningrad), der die Romane Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden umfasste. Das Besondere an dieser Anthologie war, dass der Roman Drei Kameraden bereits ein Jahr zuvor als Einzelausgabe erschienen war und sich rasch zum Bestseller im ganzen Land entwickelte. Der Kunsthistoriker und damals Mittzwanziger Mikhail German bezeichnete Remarques Werk als »roman pokoleniya«, was auf zweierlei Weise übersetzt werden kann: Zum einen als »Roman einer Generation« und zum anderen als »Romanze einer Generation«. In ihrem Buch To See Paris and Die rekapituliert Eleonory Gilburd den damaligen beinahe explosionsartigen Publikumserfolg von Drei Kameraden, den der Roman bis heute in Russland genießt:

103 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung/bpb. »Sowjetunion II: 1953–1991.« Informationen zur politischen Bildung 323, überarbeitete Neuauflage 2017, 4–11. 104 Oleg Pokhalenkov. »Erich Maria Remarque und Viktor Nekrassov«. Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque und der Film. Göttingen: V&R unipress, 2012 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 22), 96–103, hier 96. 105 Der Weg zurück erschien 1931 in der UdSSR, geriet jedoch schnell in die Kritik, da man dem Autor unter anderem Ausschweifungen, Pazifismus und Trunksucht vorwarf. Vgl. Pokhalenkov, 2012, 99. 106 Vgl. »Katalog der internationalen Buchausgaben der Werke Erich Maria Remarques« auf der Website des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums: Erich Maria Remarque. Na zapade bez peremen. Roman. Tr.: S. Mjateshnogo, P. Cherevina. Moskau: Federacija, 1929, und Erich Maria Remarque. Obratnyj put’. Riga: Orbis, 1931. Später wurde diese Übersetzung als Beispiel für eine fehlgeschlagene Erschließung ausländischer Literatur bezeichnet. Vgl. Eleonory Gilburd. To See Paris and Die. The Soviet Lives of Western Culture. Cambridge/MA, London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2018, 130.

251

Alice Cadeddu

[...] librarians did not have to advertise the novel: the life of the book outpaced the manual. Hundreds of thousands of copies would be sold out in a couple of days, even hours. Those who did not manage to buy [a copy] signed up on waiting lists in libraries and waited sometimes for month [...]. Libraries, clubs, institutes, and schools organized readers’ conferences devoted to Remarque.107

In den Jahren zwischen 1958 und 1960 erschien Drei Kameraden laut Gilburd in sechzehn Auflagen in verschiedenen Verlagen der Republiken der UdSSR und erreichte dabei Verkaufszahlen von über 3.500.000 Exemplaren. Darin nicht eingerechnet sind die zahlreichen Drucke in Zeitschriften wie der Literary Gazette, Komsomol Pravda und dem Sportmagazin Soviet Sport, das üblicherweise keine literarischen Texte abdruckte.108 Wie beliebt dieser Roman im Land war, zeigt sich auch in dem in den 1960er Jahren spielenden, oscarprämierten Film Moskau glaubt den Tränen nicht109 (1979) von Wladimir Lenschow, in dem die Protagonistin Vera den Roman Drei Kameraden während einer Zugfahrt liest und auf die Frage eines Mitreisenden, welches Buch sie gerade lese, ihm das Exemplar zeigt und entgegnet: »Jeder in Moskau liest es gerade«.110 Der russische Germanist, Schriftsteller und Träger des Erich-Maria-RemarqueFriedenspreises des Jahres 1991, Lew Kopelew,111 widmete sich in einigen seiner Vorlesungen dem Werk Erich Maria Remarques, in deren Anschluss er Umfragen unter den Studierenden durchführte. Im Zuge der Umfragen, die Kopelew unter den Titel »Kosmonauten-Bibliothek« stellte, sollten sich die Befragten in eine Situation versetzen, in der sie eine Reise ins All ohne Sicherheit auf Rückkehr antreten würden. Im Gepäck: Zehn Bücher nach Wahl und persönlichem Geschmack. Die Umfragen ergaben, dass nur knapp hinter Werken von Alexander Puschkin und Lew Tolstoi – den beiden meistgenannten Autoren –, zumeist auch mindestens ein Werk von Erich Maria Remarque aufgeführt wurde. Zwischen 1960 und 1962 wurde Remarque sogar mehrfach als erster Autor genannt.112 Die Gründe für die große Beliebtheit Remarques sieht Roman Ejwadis (er übersetzte u.a. Der Funke Leben ins Russische) unter anderem darin, dass Remarque in der Sowjetunion einer der wenigen westlichen Autoren war, dessen Werk im Zuge der Lockerungs-

107 Gilburd, 2018, 134. 108 Vgl. ebd., 141. 109 Originaltitel: Москва слезам не верит. 110 José Alaniz. »›Serious‹ comics Adaptations of the Classics in the Soviet Era: Askol’d Akishin’s A Chronicle of Military Actions«. International Journal of Comic Art 13 (2011), 1, 235–248, hier 240. Film siehe Minute 00:14:05’’. 111 09.04.1912–18.06.1997. 112 Vgl. Roman Ejwadis. »Erich Maria Remarque – auch ein ›Fenster nach Europa?‹«. Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque. Leben, Werk und weltweite Wirkung. Osnabrück: Rasch, 1998, 445–452, hier 445.

252

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

politik Chruschtschows in den 1950er Jahren erlaubt war. Das Erscheinen des Romans Drei Kameraden 1958, so Ejwadis, sei mit einer Explosion vergleichbar gewesen. Nach so vielen Jahren der Abschottungspolitik tat sich nun endlich ein ›Fenster‹ gen Europa auf, dass es den Bürger:innen der UdSSR erstmals ermöglichte, sich selbst ein Bild der westlichen Kultur zu machen, und zu ihrer Überraschung entsprach es in keiner Weise ihren bisherigen Vorstellungen. Remarque präsentierte den sowjetischen Leser:innen sympathische Charaktere, die von Kameradschaft, Freundschaft und Liebe erzählten – all das waren moralische Werte und Gefühle, die den ›Europäern‹ damals nicht zugetraut wurden.113 Dieser »ungeschriebene moralische Kodex Remarques« – wie Ilja Fradkin ihn in einem von Wladimir Pyljow geführten Interview bezeichnet – ist auch einer der wichtigsten Gründe für die Popularität Remarques unter sowjetischen Leser:innen. Die Themen, die Remarque in seinen Romanen behandelte, waren auch Jahre nach ihrer Niederschrift aktuell und spiegelten die Stimmung in der Bevölkerung wider. Über viele Generationen hinweg wurde die Literatur als Vermittlerin von Lebensweisheiten betrachtet, weshalb man es noch immer gewohnt war, in Romanen nach Antworten auf Fragen des eigenen Lebens zu suchen. Remarque, der sich mit seinen zutiefst humanistischen Themen an eine durchaus breite Leserschaft wandte, lieferte ihnen diese Antworten.114 Durch die Romane Remarques erfuhren sowjetische Leser:innen nun also ein völlig neues Bild der europäischen Gesellschaft, das ihnen darüber hinaus auch zu gefallen schien, denn plötzlich konnten sie sich mit ihr identifizieren. Der einstige Feind, gegen den im Zweiten Weltkrieg ein erbitterter Kampf geführt wurde, erweckte nun das Interesse der Leserschaft und gewährte ihr einen Einblick in das unerwartet schwere und gefährliche Leben derer, die sich bereits vor der Errichtung des ›Dritten Reichs‹ dem Nationalsozialismus entgegenzustellen wagten.115 Trotz der enormen Beliebtheit Remarques in der ehemaligen Sowjetunion – seine Bücher waren nach Erscheinen sofort vergriffen – erreichte beispielsweise der Roman Der Funke Leben erst vierzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1952 die russischen Leser:innen. Das Verbot des Romans in der UdSSR erklärt Ejwadis, der den Roman 1993 für den St. Petersburger Verlag Ekslibris ins Russische übersetzte, wie folgt: Warum war der Weg des Romans »Der Funke Leben« nach Russland so lang? Weil sich in ihm eine andere Form des Bösen zeigt – der Kommunismus, der es ver-

113 Vgl. Ejwadis, 1998, 446–447. 114 »Remarques Popularität in der Sowjetunion. Ein Interview von Wladimir Pyljow mit Ilja Fradkin«. Mitteilungen der Erich Maria Remarque Gesellschaft 5/6 (1989), 45–49, hier 46. 115 Vgl. Ejwadis, 1998, 446–447.

253

Alice Cadeddu

mochte, ohne Gaskammern und die gewaltige, reibungslos funktionierende Todesindustrie nach Muster von Auschwitz auszukommen, indem er das alles durch gewöhnliche Folterkammern, KZs, Massenerschießungen und psychiatrische Kliniken ersetzte, und es trotzdem im Kampf gegen das Gute viel weiter brachte: Die Zahl seiner Opfer lässt keine Zweifel daran entstehen [...]. Sowohl in Hitlerdeutschland als auch in der Sowjetunion war das Handwerk des Mörders, des Henkers gleich wichtig und profitabel. Eine der Hauptfiguren des Romans, der Oberhenker des Lagers Mellern [...], SS-Obersturmbannführer Weber, zweifelt fast gar nicht daran, daß sich für ihn auch bei den Kommunisten eine Arbeit in seinem Beruf findet.116

Damit begründet sich auch die äußerst gespaltene Meinung über Remarques Werk in der Sowjetunion: Auf der einen Seite wurden einige seiner Romane in eine Reihe mit den großen Klassikern des 20. Jahrhunderts, wie Thomas Mann und Ernest Hemingway, eingereiht, auf der anderen Seite diffamierten ihn Teile der Gesellschaft als »starken ideologischen Feind des Sozialismus« und »Verführer der sowjetischen Jugend«.117 Diese Antihaltung dem Werk Remarques gegenüber kristallisierte sich bereits zu Beginn der 1930er Jahre in der UdSSR heraus und manifestierte sich mitunter in dem Begriff »Ремаркизм« (Transk. »remarkizm«; Dt: »Remarquismus«). Der Begriff wurde nicht nur dem ebenso negativ konnotierten Pazifismus gleichgesetzt, sondern allem voran als Waffe gegen die Staatsideologie bezeichnet: »[...] Remarquism was [...] a ›sort of spiritual weapon used by capitalism in its struggle for the preservation of the older order‹ [...].«118 In der ›Breschnew-Ära‹ (1964–1982) kam es in der Sowjetunion zeitweise zu einem erneuten Publikationsstop der Werke Remarques – erneut aus ideologischer Überzeugung.119 In der Regierung des ukrainisch-sowjetischen Politikers Leonid Iljitsch Breschnew – eine Phase, die heute auch unter der von Michail Gorbatschow geprägten Bezeichnung ›Zeit der Stagnation und Korruption‹ bekannt ist – wurde eine neue Legitimation der Sowjetunion angestrebt, die allem voran für Stabilität in der Bevölkerung sorgen und neue Identifikationsangebote schaffen sollte. Ebenso wie sein Vorgänger Chruschtschow, sah sich nun auch Breschnew in der Verantwortung, eine neue Legitimierung der Sowjetunion nach der Herrschaft Stalins zu schaffen. Unterstützt werden sollte dieser Plan unter anderem durch den neu geschaffenen Gründungsmythos, der den Kult um den ›Großen Vaterländischen Krieg‹ neu belebte. In einem Staat, in dem Städten der Titel »Heldenstadt« verliehen und in dessen Museen Dioramen ausgestellt wur116 Ejwadis, 1998, 448–449. 117 Vgl. Oleg E. Pokhalenkov. »Erich Maria Remarque und die moderne russische Literatur.« Cadeddu, Junk, Schneider, 2020, 167. 118 Sergei Schepotiev. »Erich Maria Remarque and Some Motifs of the Soviet War Prose«. Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 7 (1997), 93–101, hier 93. 119 Vgl. Tschaikowski, Gossmann, Michaleva, Christoforova, 33.

254

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

den, die vorrangig heroische Schlachtszenen darstellen, waren Remarques AntiKriegsromane zu einer ideologischen Bedrohung der neuen Identifikationsangebote geworden, weshalb man sie schlicht verbannte.120 Zwischen 1960 und 1977 erschienen nach bisherigem Kenntnisstand keine Neuausgaben der bis dato ins Russische übersetzten Romane Erich Maria Remarques in der Sowjetunion.121 Zwei Romane Remarques hatten allem Anschein nach sogar bereits während der Chruschtschow-Ära keine Chance auf eine Veröffentlichung in der UdSSR: Der 1939 im US-amerikanischen Exil von Remarque veröffentlichte Roman Liebe Deinen Nächsten (Flotsam)122 wurde erstmals 1979 in der Sowjetunion (Kishniev) veröffentlicht123, und Der Funke Leben, ein Roman über ein fiktives Konzentrationslager, wurde sogar erst nach dem Fall der Sowjetunion erstmals in Russische übersetzt.124 Auch inländische Literatur stand unter scharfer Beobachtung, sie durfte weder negative Kritik am Staat äußern noch literarische Innovationen, die nicht den Vorgaben des sozialistischen Realismus entsprachen, hervorbringen. Die Schriftsteller Andrei Sinjawski und Juli Daniel beispielsweise wurden wegen Missachtung dieser Leitlinie 1966 zu jahrelangen Haftstrafen in Arbeitslagern verurteilt. Die Rückkehr der Regierung zu derartigen stalinistischen Methoden löste Ende der 1960er Jahre eine Bewegung aus, die den sogenannten ›samizdat‹ hervorbrachte: inoffizielle und im Untergrund agierende Selbstverlage, in denen verbotene Texte, religiöse Schriften und politische Pamphlete in Umlauf gebracht wurden, was zumindest bedingt die unzensierte Veröffentlichung in- und ausländischer Literatur ermöglichte.125 Warum seit 1977 wieder Romane Remarques in der Sowjetunion verlegt wurden, kann an dieser Stelle nur vermutet werden. Denkbar ist ein Zusammenhang mit der am 7. Oktober 1977 in Kraft getretenen sowjetischen Verfassung (auch ›Breschnew-Verfassung‹ genannt), die unter anderem auch Auswirkungen auf kulturpolitischer Ebene hatte. Fortan hatten die »Bürger der UdSSR [...] das Recht

120 Vgl. Susanne Schattenberg. »Stabilität und Stagnation unter Breschnew«. Informationen zur politischen Bildung 323, überarbeitete Neuauflage 2017, 22–39, hier 29. 121 Für eine Übersicht der ins Russische übersetzten Romane Erich Maria Remarques wird hier der Katalog der internationalen Buchausgaben und Übersetzungen auf der Website des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums empfohlen: https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ ausgaben/russisch.html. 122 Erstdruck: Erich Maria Remarque. »Flotsam«. Tr.: Denver Lindley. Collier’s (Springfield, OH) 104 (1939), 08.07.–23.09.1939. 123 Erich Maria Remarque. Vozljubi blizhnego svoego. Noch v. Lissabone. Zhizn’ vzajmy. Kishinev: Literatura artistike, 1979 (mit Die Nacht von Lissabon, Geborgtes Leben). 124 Erich Maria Remarque. Iskra zhizni. Novosibirsk: Novosibirsk, 1991. 125 Vgl. Bradley D. Woodworth. »The Politics of Soviet Literature Since Brezhnev«. Sigma: Journal of Political and International Studies 5 (1987), 2, 1–2.

255

Alice Cadeddu

auf Nutzung der Errungenschaften der Kultur [...] durch die allgemeine Zugänglichkeit der Werte der Landes- und der Weltkultur«. Der kulturelle Austausch mit ausländischen Staaten sollte gestärkt und »Freiheit des wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Schaffens garantiert« werden – selbstverständlich galten die individuellen Rechte nur solange, wie sie dem kollektiven Ziel, der Errichtung eines kommunistischen Staates, dienten.126 Seit Breschnew wurden Remarques Romane nie wieder in der UdSSR verboten, und spätestens mit dem Amtsantritt Gorbatschows als Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion im März 1985 und dem von ihm initiierten Programm der Perestroika sowie der damit einhergehenden Politik der Glasnost, wurde eine regelrechte Flut von bis dato unzugänglichem Material ausgelöst: Plötzlich waren zuvor verbotene kritische, politische und philosophische Werke russischer, sowjetischer, westlicher und exilierter Autor:innen zugänglich und sollten es fortan auch bleiben.127 Im heutigen Russland belegen die jährlich von der Russischen Buchkammer veröffentlichten Zahlen die ungebrochene Beliebtheit der Romane Remarques: In den letzten Jahren tauchte der Autor stets unter den Top 20 der Liste der in Russland am häufigsten veröffentlichten Autor:innen in der Kategorie ›Belletristik‹ auf. Jahr

Anzahl der Drucke

Gesamtauflage, tsd. Ex.

Ranking in Top 20

2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020

k.A. k.A. 48 53 78 64 66 53 49

k.A. k.A. 353,4 449,0 481,5 623,5 553,5 403,5 351,0

nicht aufgeführt nicht aufgeführt 15. Platz 11. Platz 10. Platz 7. Platz 5. Platz 9. Platz 6. Platz

Tabelle 1: Die Russische Buchkammer veröffentlicht seit 2012 frei zugängliche Statistiken, die hier zur Erstellung der Tabelle herangezogen wurden.128

126 »Die Verfassung (Grundgesetz) der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, 7. Oktober 1977.« Art. 46 und 47. https://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0042_ver_de.pdf (23.07.2021). 127 Vgl.: Nadya Peterson. »literature, perestroika«. Tatiana Smorodinskaya. Karen Evans-Romaine, Helena Goscilo. Encyclopedia of Contemporary Russian Culture. Abingdon: Routledge, 2007, 344–346, hier 344. 128 Statisticheskiye pokazateli 2012–2020. Moskau: Rossiyskaya knizhnaya palata, filial ITAR TASS, 2021. http://www.bookchamber.ru/statistics.html (26.07.2021).

256

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Die Zahlen der Russischen Buchkammer belegen, dass die Romane Erich Maria Remarques seit 2014 zu den in Russland am häufigsten veröffentlichten Autor:innen im Bereich der Belletristik gehören. Verlegt werden seine Romane heute vorrangig in den beiden Moskauer Verlagen Eksmo und AST,129 die mit großem Abstand die auflagenstärksten Verlage Russlands sind (allein im Jahr 2020 haben sie über 31% des gesamten Buchmarktes Russlands für sich verzeichnet)130 und die darüber hinaus laut Publishers Weekly regelmäßig auf der Liste der »Global 50«, dem internationalen Ranking der Verlagsindustrie, stehen.131 Nicht zuletzt trifft Remarque durch seine Erzählungen den Zeitgeist der russischen Leserschaft und bleibt dadurch ein Autor, dessen Werk nichts an Aktualität verloren hat: »It looks like still more and more people in the country torn with political passions for some years already understand the credo of 509 of Spark of Life: ›Humanity, tolerance and everyone’s right for his own opinion‹«.132 Eine Chronik militärischer Operationen. Askold Akishin – ›Meister der russischen Comic-Kunst‹133 Als Askold Akishin am 13. Januar 1965 als Sohn des sowjetischen Malers und Bühnenbildners Evgeny Michailowitsch Akishin in Moskau geboren wurde, wurde ihm das Interesse an der Kunst vermutlich direkt mit in die Wiege gelegt. In einem Interview mit Alexander Kunin, dem Leiter der Abteilung für Graphic Novels in der Russischen Staatsbibliothek für Jugendliche in Moskau, erinnert sich Akishin an seine Kindheit und die vielen Besuche der Künstlerkollegen seines Vaters bei ihnen zu Hause, die für eine ›kreative Atmosphäre‹ sorgten. In dieser Zeit begann Akishin seine Leidenschaft für das Zeichnen zu entdecken und ging dieser so oft er konnte in seiner Freizeit nach.134 Mit Comics in Berührung kam Akishin

129 Seit 2012 Tochtergesellschaft des Eksmo Verlags. 130 Vgl. Statisticheskiye pokazateli 2020. http://www.bookchamber.ru/statistics.html (26.07.2021). 131 Siehe dazu u.a. zuletzt den Bericht aus dem Jahr 2020: Rüdiger Wischenbart, Michaela Anna Fleischhacker (Hg.). Global 50. The World Ranking of the Publishing Industry 2020. The Ranking of the International Publishing Industry 2020. Paris, Wien: Livres Hebdo + Ruediger Wischenbart Content and Consulting, 2020, 83–85. 132 Sergei Schepotiev. »Erich Maria Remarque’s Conception of Goodness and Its Perception in Russia Today«. Schneider (Hg.), 1998, 453–456, hier 453. 133 Diesen Beinamen erhält Akishin wiederholt in Bezug auf sein Werk, so auch in Verbindung seiner kürzlich erschienenen Werkausgabe im auf russische Comics spezialisierten Moskauer Verlag Комикс Паблишер (›Komiks Pablisher‹). https://boomstarter.ru/projects/1018740/askold_akishin_antologiya_v_dvuh_tomah (20.07.2021). 134 Vgl. Alexander Kunin. »Аскольд Акишин: Отец русского хоррора!«. Khroniki Chedrika 2012. https://chedrik.ru/2012/akishin/ (21.07.2021).

257

Alice Cadeddu

erstmals in der Schule, als seine damalige Französischlehrerin das speziell an französische Kinder gerichtete Comicmagazin Pif Gadget als didaktisches Mittel zum Spracherwerb einsetzte. Nach der Schule besuchte er die Kunstschule in Moskau (Moskauer Staatliche Akademische Kunstschule zum Gedenken an 1905), um dort Industriegrafik zu erlernen; einen Berufszweig, den er jedoch nie einschlagen sollte. Bereits früh zeichnete er aus persönlichem Interesse und für sich selbst kurze Comics, seinen ersten ausgereiften Comic zeichnete er allerdings erst 1985. Unter dem Titel 60 боевых (60 boyevykh; Dt.: 60 Kämpfer) zeichnete Akishin, der damals als Zeichner in der sowjetischen Armee diente, eine Geschichte über den Alltag in der Armee, in der er seine Kameraden als Helden darstellte. Sie handelt von drei Soldaten, die sich im Winter unerlaubt vom Einsatzort entfernen, um in eine Kneipe zu gehen und wegen eines Handgemenges mit anderen dort anwesenden Männern verhaftet werden. Als der Comic bei Akishin gefunden wurde, wurde die Blattsammlung mit den Zeichnungen umgehend vernichtet und dem Künstler dafür eine strenge Rüge erteilt.135 1988 trat er im Alter von 23 Jahren dem Comic-Studio KOM bei, wo er seine ersten Comic-Strips in der Beilage der Moskauer Zeitung Vechernaia Moskva, die das Studio finanzierte, veröffentlichte. Wegen des ausbleibenden kommerziellen Erfolges des Studios musste er Auftragsarbeiten für russische Zeitschriften und Verlage annehmen, im Rahmen derer er z.B. Buchillustrationen für Werke von Arthur Conan Doyle, H. P. Lovecraft und Robert Louis Stevenson anfertige.136 Nach Schließung des Studios KOM im Jahr 1991 arbeitete er zwei Jahre mit seinem ehemaligen KOM-Kollegen, Mikhail Zaslavsky, an einer Comic-Adaption des russischen Klassikers Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow, die erstmals 2005 in Frankreich publiziert wurde.137 Bekannt wurde Akishin vor allem durch seine Comics im Horror-Genre, die nicht nur in Russland, sondern auch in italienischen, polnischen, slowakischen und tschechischen Fachzeitschriften sowie in mehreren englischen Anthologien internationaler Comics veröffentlicht wurden.138 In Russland wird Akishin wegen der grafischen Ausdruckskraft seiner Werke und der darin verwendeten nationalen folkloristischen Motivik in der Comic-Szene mitunter auch als der ›russische Mignola‹139 und als Pionier des russischen Comics bezeichnet.140 Seine Bandbreite umfasst jedoch ein weitaus breiteres Spektrum als nur Horror-Comics: 135 Vgl. Kunin, 2012. 136 Vgl. ebd. sowie Askold Akishin in einer persönlichen Korrespondenz mit Alice Cadeddu, 21.07.2021 (aus dem Russischen übersetzt von Sergey Loginov). 137 Vgl. Alaniz, 2011, 235. 138 Vgl. »Izdatel’ rasskazal, chto Pelevinu ponravilsya komiks po yego knige ›Omon Ra‹«. TASS Online, 06.10.2018. https://tass.ru/kultura/5645538 (20.07.2021). 139 Mike Mignola (1962) ist ein US-amerikanischer Comic-Zeichner und Schöpfer der dämonischen Kreatur ›Hellboy‹. Sein Markenzeichen ist ähnlich wie bei Akishin ein reduzierter Zeichenstil und eine düstere Grundstimmung. Vgl. Marcel Feige (Hg.). Das kleine Comic-

258

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Neben Fantasy-, Abenteuer-, und Kindergeschichten zeichnet er auch Superheldencomics, Detektivgeschichten, Underground- und Dokumentar-Stories sowie historische und militärische Erzählungen.141 Seine intensivere Beschäftigung mit Kriegsgeschichten begann Akishin (nach dem 1985 gezeichneten, zuvor bereits erwähnten Comic 60 Kämpfer) im Jahr 1989, als er seinen Comic Snow (Sneg) zeichnete, der jedoch erst Jahre später im Britischen Mammoth Book of Best War Comics (2007) publiziert wurde. Es folgte eine Comic-Biografie des Generalstabschefs der Roten Armee, Georgi Schukow (erschienen 1991 im Moskauer Progress Verlag), sowie die im Folgenden genauer betrachtete, auf Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues basierende Comic-Adaptation Хроника военных действий (Khroniki voennykh destvii; Dt.: Eine Chronik militärischer Operationen). Eine Chronik militärischer Operationen Comics sind Bildergeschichten, die Verhältnisse, unter denen wir leben, huldigend, parodierend oder satirisch beschreiben. Wer über Comics spricht, muß auch über die Gesellschaft, die sie produziert, nachdenken.142

Als Akishin im Jahr 1990 mit der Arbeit an seiner auf Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues basierenden Comic-Adaption Eine Chronik militärischer Operationen zu arbeiten begann, zeigte die Ende der 1980er Jahre im Land einsetzende schwere Wirtschaftskrise bereits ihre Folgen, die auch den Buchmarkt nicht unberührt ließen. Wie zahlreiche andere geplante Publikationen fiel auch Akishins Werk der misslichen wirtschaftlichen Lage im Land zum Opfer. Noch bevor er den Comic publizieren konnte, zog der Verlag, der das Werk zunächst herausbringen wollte, aus Angst vor finanziellen Verlusten sein Angebot zurück. Eine Chronik militärischer Operationen blieb der Öffentlichkeit daher lange Zeit nicht zugänglich, bis Akishin selbst einige Fragmente davon Ende der 1990er Jah-

Lexikon. Die schönsten Comics, die besten Zeichner, die witzigsten Texter. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2005, 542–543. 140 Vgl. Anna Korosteleva. »Askol’d Akishin. Antologiya v dvukh tomakh Slepok epokhi, nastoyashchiy arkheologicheskiy srez nezavisimogo rossiyskogo komiksa.« Boomstarter Online. https://boomstarter.ru/projects/1018740/askold_akishin_antologiya_v_dvuh_tomah (20.07.2021); sowie Anastasia Alekseeva. »›Voyna mirov‹ na Russkoy pochve«. Regnum Online, 12.05.2017. https://regnum.ru/news/cultura/2270856.html (20.07.2021). 141 Vgl. Alekseeva, 2017. 142 Werner Hoffmann, Sabine Rauch (Hg.). Comics. Materialien zur Analyse eines Massenmediums. Frankfurt am Main u.a.: Moritz Diesterweg, 1975, 2.

259

Alice Cadeddu

re auf der russischen Onlineplattform Komiksolet veröffentlichte. Eine Publikation in gedruckter Form erfolgte erst im Jahr 2020, als der auf Comics spezialisierte Verlag ›Komiks Pablisher‹ (Moskau) eine Crowdfunding-Kampagne startete, mit der Spenden für die Veröffentlichung einer umfassenden Werkausgabe von Aki­ shin gesammelt werden sollte. In wenigen Tagen war das benötigte Geld bereits zusammengetragen – ein unwiderlegbarer Beweis für die große Nachfrage an Akishins Comics und die längst überfällige Publikation seines Œuvres in Russland. Die Ausgabe umfasst mehr als sechzig Comics in zwei Bänden, die Akishin in den letzten dreißig Jahren anfertige.143 Seinen persönlichen Bezug zu Remarque fand Akishin bereits in seiner Jugend, als er die Romane Remarques las. Zu seinen Favoriten, so sagt er selbst, zählen Der schwarze Obelisk, Drei Kameraden und Im Westen nichts Neues, den er in einer ganz eigenen Version als Comic umsetzte. Das Werk Remarques verbindet er bis heute mit einer Zeit des Erwachsenwerdens, in der er sich selbst in der Welt der Kunst wiederfindet.144 Graphische Umsetzung Askold Akishin bediente sich bei der Umsetzung des Remarque-Romans einiger kreativer Freiheiten, die bereits in der Wahl seines Titels deutlich zu erkennen sind: Dieser lautet entgegen seiner Vorlage nicht Im Westen nichts Neues, sondern Eine Chronik militärischer Operationen.145 Dennoch weist Akishin auf der ersten Seite, die zugleich als Titelseite fungiert, darauf hin, dass der Comic eine Adaption nach dem Roman Im Westen nichts Neues ist: »Nach der Vorlage des Romans von Erich Maria Remarque ›Im Westen nichts Neues‹, Szenen und Zeichnungen von A. Akishin, 1990.«146 Unterschiede zum Roman lassen sich nicht nur auf der Textebene, sondern auch auf der grafischen Umsetzung feststellen; auf beides wird im Folgenden näher eingegangen. Format Obwohl der Comic zunächst nur online im sogenannten ›Samizdat‹ veröffentlicht wurde, ist er dennoch so ausgelegt, dass er als Druckerzeugnis interpretiert werden kann. Die Seiten sind eindeutig als solche erkennbar und können nicht,

143 https://www.mirf.ru/news/komiks-pablisher-vypustit-dvuhtomnik-s-komiksami-askoldaakishina (20.07.2021). 144 Vgl. Akishin in einer persönlichen Korrespondenz mit Alice Cadeddu, 21.07.2021. 145 Die Übersetzung des Titels sowie des vollständigen Comics stammt von Elina Schild, der ich an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich für Ihre Unterstützung danken möchte. 146 Akishin, 1990, 1.

260

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

wie es bei Online-Comics häufig gegeben ist, durchgehend am Bildschirm gelesen werden. Dadurch ist die Narration, wie bei einem handelsüblichen Printformat, noch immer durch den Seitenumbruch bestimmt. Eine Abweichung stellt die erste Seite des Comics dar, die bereits mit der Seitenzahl ›1‹ gekennzeichnet ist und in die fortlaufende Geschichte integriert ist. Wie bereits erwähnt, erfüllt die Seite zum einen zwar die Funktion eines Covers – sie enthält Titel und Autor –, gleichzeitig ist sie aber auch Teil der Erzählung, die hier mit einem Dialog zwischen drei Soldaten und einem Arzt im Lazarett einsetzt. Im Fachjargon wird ein derartiges Format als ›Opening-Splash‹ bezeichnet.147 Die Gestaltung der Panels und ihrer Rahmen ist sehr individuell und folgt keinem klaren Muster, wodurch Akishin einen sehr lebhaften, dynamischen Eindruck des Geschehens hervorruft. Die Rahmen bezieht Akishin jedoch bewusst in seine Erzählung ein, indem er die begrenzenden Linien wiederholt aufbricht und damit die Dramatisierung des Dargestellten erhöht. Oftmals erzeugt Akishin diese Wirkung durch über die Bildgrenzen hinausragende Rauchschwaden (z.B. S. 6, unten links) oder Explosionen (z.B. S. 18, siehe Abb. 7), wodurch gleichzeitig eine Verbindung zwischen den jeweiligen Panels einer Sequenz geschaffen wird, die für mehr Raumtiefe sorgt.148 Explosionen oder Bombeneinschläge, die auf eben diese Weise dargestellt werden, lösen nun bei den Betrachter:innen eine weitaus größere Zerstörungskraft aus, als eine innerhalb der Rahmenlinien stattfindende Detonation. Auch in ihrer Komposition sorgen die einzelnen Panels für einen abwechslungsreichen Leseprozess, da Akishin hier erneut keinem sich wiederholenden Muster folgt, sondern die Anzahl der Panels und deren Anordnung vielmehr dem in der Sequenz dargestellten Handlungsstrang sowie dem darin vom Künstler gesetzten Fokus anpasst. Dabei variieren die jeweiligen Seitengestaltungen teilweise sehr stark, sie reichen von ›Splash Pages‹ (ein Panel verteilt auf zwei Seiten, 41–42) bis hin zu Panel-in-Panel Gestaltungen (z.B. S. 31). Akishin wechselt gleichermaßen zwischen Hoch- und Querformaten, die er nach Bedarf auch durch quadratische Panels ergänzt. Auch hier zeigt sich die Fokussierung auf die Erzählung, die maßgeblich für die Gestaltung der einzelnen Panels ist. Die einzelnen Seiten in Akishins Comic bilden jeweils in sich geschlossene Einheiten, in der die Bilder aufeinander abgestimmt sind. So lässt Akishin beispielsweise in einem oben platzierten Panel Granaten in den Erdboden einschlagen, der wiederum durch den Rahmen vom unteren Teil abgegrenzt wird. Die drei senkrecht darunter platzierten Panels visualisieren den sich unter der Erde befindende Schutzraum in Form eines Granattrichters, in den die beiden handelnden Figuren

147 Vgl. Julia Abel, Christian Klein. Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart: J.B. Metzler, 2016, 92. 148 Vgl. Jakob F. Dittmar. Comic-Analyse. Konstanz: UVK, 2008, 65.

261

Alice Cadeddu

Abb. 7: Akishin, 1990, 18.

bildlich hinunterspringen, um sich in Deckung zu begeben (siehe Abb. 8). Durch die dreidimensional anmutende Darstellung der beiden hinunterspringenden Soldaten verleiht Akishin dem Motiv der schützenden Erde große Bedeutung. Dieses Motiv hat bereits Remarque in seinem Roman äußerst eindringlich beschrieben: Für niemand ist die Erde so viel wie für den Soldaten. Wenn er sich an sie preßt, lange, heftig, wenn er sich tief mit dem Gesicht und den Gliedern in sie hineinwühlt in der Todesangst des Feuers, dann ist sie sein einziger Freund, sein Bruder, seine Mutter, er stöhnt seine Furcht und seine Schreie in ihr Schweigen und ihre Geborgenheit, sie nimmt sie auf und entläßt ihn wieder zu neuen zehn Sekunden Lauf und Leben, faßt ihn wieder, und manchmal für immer.149

Die räumliche Anordnung der Panels einer jeweiligen Seite nutzt Akishin mehrfach für derartige Inszenierungen, wodurch er dem Geschehen mehr Plastizität und Dynamik verleiht, die durch das Aufbrechen des ›Panel Grids‹ noch verstärkt wird. Letzteres schafft eine Verbindung zwischen den einzelnen Bildern, die ins-

149 Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (KiWi 1368), 52.

262

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 8: Akishin, 1990, 8.

besondere in Sequenzen, in denen der Handlungsstrang ein besonderes Maß an Bewegung aufweist – in der Regel handelt es sich dabei um Kampfszenen –, für eine dynamische Erzählweise, und damit einhergehend für eine erhöhte Wirkung der Sequenz sorgt.150 Farbgestaltung In der Darstellungsweise ausgewählter Szenen legt Akishin weniger den Fokus auf eine explizite Wiedergabe der Erzählung Remarques, sondern limitiert sich beinahe ausschließlich auf Kampfhandlungen, die er in drastischer und beinahe expressionistischer Manier aufs Papier bringt. Durch den Einsatz verschiedener stilistischer Mittel erzeugt Aksishin eine düstere Atmosphäre, die insbesondere durch die Wahl seiner Zeichenutensilien sowie der nicht verwendeten Farbe zum Ausdruck kommt, denn eines der wohl unverkennbarsten Merkmale des Zeichenstils von Akishin ist sein ausnahmsloser Verzicht auf Farbe. Durch den Einsatz von Pinsel, Feder und schwarzer Tinte schafft Akishin äußerst kontrastreiche Bildergeschichten, in die er kaum Schattierungen oder Nuancierungen durch Grauab-

150 Vgl. Dittmar, 2008, 125–126.

263

Alice Cadeddu

stufungen einbringt. Die Prävalenz schwarzer Tinte sowie das Zeichnen kräftiger und breiter Linien verleihen zahlreichen Werken Akishins eine ernste, beinahe bedrohliche Aura, die insbesondere in Eine Chronik militärischer Operationen zum Tragen kommt. Den Verzicht auf Farbe führt Akishin unter anderem auf seine persönliche Bewunderung für Comic-Künstler wie Sergio Toppi und Dino Battaglia zurück, die ihn maßgeblich in seiner eigenen Entwicklung beeinflussten. Ferner ist Akishin der Ansicht, dass Farben im Comic zu viel Raum einnehmen und dadurch zu sehr von der Zeichnung selbst ablenken.151 Eine derartige Limitierung auf das Wesentliche spiegelt sich auch in den Kulissen der Erzählung wider, die bei Akishin oftmals gar nicht existieren. Auf leeren oder tiefschwarzen Hintergründen platziert, stellt er die Handlung mitsamt ihren Figuren in den Fokus der Geschichte, sorgt gleichzeitig aber auch für ein beklemmendes Leseerlebnis, da diese Form der Darstellung stark von den üblichen Sehgewohnheiten in Comics abweicht. Figuren Die dargestellten Figuren weisen vorwiegend realistische Züge auf: Die Physio­ gnomie der Figuren sowie deren Einbettung in die Umgebung entsprechen überwiegend naturgemäßen Proportionalitäten. Jedoch variiert die Darstellungsweise der Figuren stark in Abhängigkeit der Perspektive und lässt nur in Nahaufnahmen detaillierte Gesichtszüge sowie mimische Ausdrücke erkennen, die Akishin bei nur drei Figuren zulässt: Paul Bäumer, Katczinsky und dem Unteroffizier Himmelstoß. Alle anderen Figuren sind nur aus einer gewissen Distanz abgebildet, sie erscheinen mit zunehmender Entfernung immer undifferenzierter: In der halbnahen Einstellung lassen sich Figuren mitunter noch durch Statur, Kleidung oder markante Attribute (Bartwuchs, Brille etc.) voneinander unterscheiden, wohingegen sie in der Totalen nur noch als Silhouetten und folglich kaum bis gar nicht mehr individuell auseinanderzuhalten sind. Eine Figur, die sich besonders von den anderen abhebt, ist überraschenderweise die des Gérard Duval, der französische Soldat, dessen Ermordung für den Protagonisten Paul Bäumer im Roman einen Wendepunkt darstellt und die auch in Akishins Comic eine verhältnismäßig präsente Rolle einnimmt (S. 30–32). In allen bisher bekannten Verbildlichungen dieser Figur, sei es im Film oder im Comic, wird Duval als Soldat weißer Hautfarbe dargestellt – nicht jedoch in Eine Chronik militärischer Operationen, denn hier tritt Duval als dunkelhäutige Person in Erscheinung. Sich jeglicher rassistischer Klischees bedienend, karikiert Akishin den französischen Soldaten mit dicken Lippen und breiter Nase sowie einer dicken brennenden Zigarre im Mundwinkel (siehe Abb. 9). Trotz der nicht verwendeten Farbe lässt sich die Figur aufgrund

151 Vgl. Kunin, 2012.

264

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 9: Akishin, 1990, 30.

ihrer eindeutigen stereotypen Wesenszüge als Mann von dunkler Hautfarbe identifizieren. Durch diese übersteigerte Stereotypisierung hebt Akishin die Figur deutlich von den anderen dargestellten französischen Soldaten ab und erschafft auf diese Weise ein ›Feindbild‹, das in diesem Kontext noch fremder und dadurch noch bedrohlicher zu wirken scheint. Nach eingehender Betrachtung der Textstelle in Remarques Roman, obliegt die Darstellung Duvals als Menschen dunkler Hautfarbe vielleicht jedoch auch nur der eigenen Auslegung Akishins dieser Textstelle: »Ich schließe ihm die Augen. Sie sind braun. Das Haar ist schwarz, an den Seiten etwas lockig. Der Mund ist voll und weich unter dem Schnurrbart; die Nase ist ein wenig gebogen, die Haut bräunlich [...].«152 Remarque beschreibt Duval hier keineswegs als Person, die eindeutig von weißer Hautfarbe ist. Auch in der russischen Übersetzung des Romans (hier von Ju. Afon’kin aus dem Jahr 1960) wird Duval als dunkelhäutiger Mann beschrieben: »[...] seine Augen sind braun, sein Haar ist schwarz, an den Schläfen leicht gelockt. Unter dem Schnurrbärtchen pralle, weiche Lippen, die Nase mit einem leichten Buckel, ein dunkelhäutiges Gesicht; [...]«.153 In Anbetracht des hier beschriebenen Erscheinungsbildes Duvals liegt die Vermutung nahe, dass Akishin tatsächlich einen schwarzen Mann vor seinem inneren Auge hatte, als er den Roman Im Westen nichts Neues las. Die überspitzt stereotypisierte Darstellung lässt

152 Remarque, 2014, 197. 153 »[...] глаза у него карие, волосы черные, слегка вьющиеся на висках. под усиками пухлые, мягкие губы, нос с небольшой горбинкой, лицо смуглое; [...]«. Erich Maria Remarque. Na zapadnom fronte bez peremen. Petrozavodsk: Gosdat. Karel’skoje ASSR, 1960, 152.

265

Alice Cadeddu

sich zwar nicht leugnen, es lässt sich jedoch auch nicht ausschließen, dass Akishin sich der Klischees bediente, um zu verdeutlichen, dass es sich bei dieser Figur um eine dunkelhäutige Person handelt, da er es über den Einsatz von Farbe schließlich nicht konnte. Darstellung des Textes Die Form der Textblasen begrenzt sich in Akishins Werk ausschließlich auf eckige Blasen, dessen waage- und senkrechte Linien sich in den Rahmenlinien der Panels wiederholen. Eine Ausnahme findet sich auf S. 30 oben: Hier zeichnet Akishin zwei Textblasen mit abgerundeten Ecken und verdeutlicht damit ihre Funktion als Gedankenblase. Verstärkt wird sie durch die typischen ›Bläschen‹, die aus dem Kopf des Denkenden – hier Paul Bäumer – herauszuführen scheinen. Kommentare bringt Akishin nur selten in seine Erzählung ein,154 sie befinden sich stets am oberen oder unteren Rand eines Panels und sind in den meisten Fällen schlicht rechteckig gehalten (nur in wenigen Ausnahmen sind die Rahmenlinien ausgestaltet). Diese Herangehensweise ist keineswegs typisch für Akishin, der in seinen zahlreichen anderen Comics sogar ein weites Spektrum unterschiedlichster Einbindungen des Textes in die Bildergeschichten verwendet. Durch variierende Formen der Textblasen vermittelt Akishin den Lesenden, wie deren Inhalte betont werden: Um zu verdeutlichen, dass die dramatis personae gerade sehr laut redet, bzw. schreit, bricht er den Rahmen der ›einfachen‹ Textblase auf und verleiht ihr ringsum nach außen zulaufende Spitzen, die dem gesprochenen Wort unmittelbar mehr Raum verschaffen. Dadurch wird der Eindruck vermittelt, dass die Worte explosionsartig in die Handlung einfließen (siehe Abb. 10). Das Lettering selbst ist durchgehend handschriftlich und weitestgehend einheitlich gestaltet und wird darüber hinaus durch die konstant statische und ruhige Schrift auch nicht allzu sehr in den Fokus gerückt. Nur selten weicht Akishin in der Größe seiner verwendeten Schrift ab, um dem Gesprochenen mehr Nachdruck zu verleihen. Als Paul beispielsweise seinen Kameraden vor einer herannahenden Panzerkolonne warnen will, verwendet Akishin für den Ausruf »танки!« (»panzer!«) eine sich in der Größe deutlich abhebende Schrift, um dem Schrei Bäumers mehr Raum zu geben und dadurch mehr Intensität zu verleihen. Über die Schrift verdeutlicht Akishin auch die Abgrenzung zwischen den verfeindeten Seiten, indem er die französischen Soldaten in lateinischer Schrift und auf Französisch ›sprechen‹ lässt (siehe Abb. 10).

154 Akishin, 1990, 1, 5, 14 oben, 15 oben, 19 unten, 23 oben, 46.

266

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 10: Aki­ shin, 1990, 17.

Geräusche Der minimalistische Stil Akishins, der bereits durch die fehlende oder nur sehr geringfügig eingebrachte Darstellung von Hintergründen deutlich wird, findet sich auch in der Verwendung von Geräuschen als Bildelement wieder. Trotz der zahlreichen dargestellten Szenen im Comic, in denen sich auf grafischer Ebene Handlungen erkennen lassen, die zweifelsohne Geräusche verursachen, verwendet Akishin fast keinerlei Lautmalerei in seiner Erzählung, sondern lässt die Bilder für sich sprechen. Dies ist eine für Akishin sehr typische Herangehensweise, der seine Comics bisweilen vollständig ohne Text gestaltet und den Inhalt nur auf bildlicher Ebene transportiert. Zentrale Motive In seinem Comic Eine Chronik militärischer Operationen stellt Akishin bewusst einige Aspekte in den Vordergrund, die er im Verlauf seiner Erzählung mit Bedeutung auflädt und sie wiederholt leitmotivisch einsetzt. Auf diese Weise erhalten die Motive eine ausschließlich für Akishins Version der Erzählung geltende Bedeutung,155 die im Folgenden an einigen Beispielen herausgestellt werden. Die Gérard Duval-Szene Die Szene in Remarques Roman, in der Paul Bäumer den französischen Soldaten Gérard Duval tötet, dient als zentraler Schlüsselmoment, der Paul aus humanistischer Perspektive einmal mehr das Grauen und die Sinnlosigkeit des Krieges erkennen lässt. In zahlreichen filmischen und grafischen Adaptionen des Romans wurde insbesondere diesem Handlungsstrang große Bedeutung beigemessen. In

155 Vgl. Dittmar, 2008, 147.

267

Alice Cadeddu

den beiden Verfilmungen von Lewis Milestone (1930) und Delbert Mann (1979) erstreckt sich die sogenannte ›Trichter-Szene‹ über mehrere Minuten, und in Comic-Adaptionen wie beispielsweise von Alberto Breccia156 oder Maurice Del Bourgo,157 wird diese Episode über mehrere Panels hinweg erzählt. Wie im Roman erfährt auch der Rezipient aller hier eben genannten Adaptionen den Namen des getöteten Soldaten, wohingegen Akishin seinen Leser:innen diese Information vorenthält. Er reduziert das Aufeinandertreffen der feindlichen Soldaten auf bloß fünf Panels, von denen die ersten vier ausschließlich die Tötung Duvals darstellen (siehe Abb. 11). Entgegen der tief humanistischen Darstellung Remarques lässt Akishin die in dieser Szene beschriebene innere Zerrissenheit Bäumers völlig unbeachtet. Zur Verdeutlichung der Abweichung Akishins vom Original wird an diese Stelle die besagte Szene aus dem Roman wiedergegeben, in welcher der Protagonist Paul nach der Ermordung des französischen Soldaten von Schuldgefühlen geplagt ist und sich selbst aufs Äußerste für sein Handeln verurteilt: Kamerad, ich wollte dich nicht töten. Sprängst du noch einmal hier hinein, ich täte es nicht, wenn auch du vernünftig wärest. Aber du warst mir vorher nur ein Gedanke, eine Kombination, die in meinem Gehirn lebte und einen Entschluß hervorrief; – diese Kombination habe ich erstochen. Jetzt sehe ich erst, daß du ein Mensch bist, wie ich. Ich habe gedacht an deine Handgranaten, an dein Bajonett und deine Waffen; – jetzt sehe ich deine Frau und dein Gescht und das Gemeinsame. Vergib mir, Kamerad! Wir sehen es immer zu spät. Warum sagt man uns nicht immer wieder, daß ihr ebenso arme Hunde seid, wie wir, daß eure Mütter sich ebenso ängstigen wie unsere und daß wir die gleiche Furcht vor dem Tode haben und das gleiche Sterben und den gleichen Schmerz –. Vergib mir, Kamerad, wie konntest du mein Feind sein. Wenn wir diese Waffen und die Uniform fortwerfen, könntest du ebenso mein Bruder sein, wie Kat und Albert. Nimm zwanzig Jahre von mir, Kamerad, und stehe auf, – nimm mehr, denn ich weiß nicht, was ich damit noch beginnen soll. [...] Kamerad [...]. Heute du, morgen ich. Aber wenn ich davonkomme, Kamerad, will ich kämpfen gegen dieses, das uns beide zerschlug: dir das Leben – und mir – ? Auch das Leben. Ich verspreche es dir, Kamerad. Es darf nie wieder geschehen.158

Akishin nimmt der Szene jegliche Form der Emotionalität und reduziert sie auf die eigentliche Tötung Duvals sowie einem anschließenden Panel, in dem Paul neben dem Leichnam Duvals hockt und sich selbst sagt: »Heute du, morgen ich.

156 Alberto Breccia. Sin novedad en el frente. Versión autorizada de la película universal del mismo nombre. Buenos Aires: Aventuras, 1946 (Colección Aventuras 1). 157 Maurice Del Bourgo. All Quiet on the Western Front. Art by Maurice Del Bourgo. Adaptation by Ken Fitch. New York: Gilberton Publications, 1952 (Classics Illustrated 95). 158 Remarque, 2014, 198–199 sowie 201.

268

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 11: Akishin, 1990, 31.

Dir wurde dein Leben genommen, und mir? Mir wurde mein Leben genauso genommen.«159 Der zuvor bei Remarque deutlich erkennbare humanistische Aspekt dieser Szene entfällt bei Akishin gänzlich. Darüber hinaus verlagert Akishin den Fokus der Handlung auf den Tötungsprozess und schafft damit eine neue Bedeutungsperspektive, deren Schwerpunkt im Konflikt der handelnden Personen liegt. Die den Handlungsstrang definierende Humanität in Remarques Roman blendet Akishin durch die ausbleibende Vermenschlichung des Feindes in seinem Comic vollends aus, da weder der Name des französischen Soldaten erwähnt wird, noch auf anderem Wege eine Identifikation mit dem Toten stattfindet. Letztere verhindert Akishin mitunter auf grafischer Ebene, indem er das Gesicht Duvals unentwegt in tiefe Schatten hüllt, sodass es zumeist bis zur Unkenntlichkeit verdeckt ist. Auch das Familienfoto und der Pass des Toten spielen im Comic keine Rolle: er bleibt ein namen- und gesichtsloser Mensch, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft.

159 Akishin, 1990, 32 oben.

269

Alice Cadeddu

Humanismus Wenngleich Akishins Comic-Adaption nach Remarques Roman Im Westen nichts Neues in erster Linie eine Darstellung ›militärischer Operationen‹ ist, gibt es dennoch einige Aspekte in seinem Comic, die durchaus humanistische Wesenszüge aufweisen. Auf den ersten Blick widersprüchlich mag daran erscheinen, dass er sie in den Momenten größter Gewalt einbringt und beinahe ausschließlich auf grafischer Ebene formuliert. Besonders deutlich wird diese Herangehensweise in der Szene, in der die Franzosen zum Angriff übergehen. Hier sind die verfeindeten Soldaten zunächst noch klar durch die Gitterlinien der einzelnen Panels voneinander abzugrenzen, die Deutschen auf der rechten und die Franzosen auf der linken Seite.160 Auf der folgenden Seite verschwimmen die Fronten und gehen ineinander über; eine Trennung der hier im Gefecht gegeneinander stehenden Seiten ist kaum noch möglich (siehe Abb. 12). Die Abgrenzungen der Panels werden durch mehrfaches ›Erschüttern‹ der Gitterlinien aufgebrochen, panelübergreifende Figuren und Explosionen erzeugen ein dynamisches Schauspiel, in dem, trotz der räumlichen Distanz zwischen den beiden Fronten, alle Soldaten nebeneinander im selben Graben zu stehen scheinen.161 Akishins expressionistischer Zeichenstil sowie die zumeist an Details mangelnden Darstellungen einzelner Figuren erschweren oftmals eine klare Trennung zwischen ›Freund‹ und ›Feind‹, wodurch ein gewisses Gefühl von Verbundenheit zwischen den jeweils dargestellten Parteien entsteht. In der Duval-Szene weitet Akishin diese Form der Undifferenziertheit auf textueller Ebene aus, als er die einzige Lautmalerei in seinem gesamten Comic einbringt: ein Schrei, der über das gesamte untere Drittel der Seite gezogen ist (siehe Abb. 11). Der sich durch ein langgezogenes »AAAAAAAAA« geäußerte Schrei ist seinem Urheber nicht eindeutig zuzuweisen, er könnte sowohl von Paul als auch von Duval sein und fungiert auf diese Weise als ein die beiden Feinde verbindendes Element. Auch die sprachliche Trennung, die Akishin zuvor durch das in lateinischer Schrift dargestellte Französisch kenntlich gemacht hat, kommt an dieser Stelle nicht mehr zum Tragen, da der Buchstabe A im Kyrillischen und Lateinischen gleichermaßen geschrieben wird. Die zuvor bereits erwähnte tief humanistische Aussage dieser Szene, die bei Remarque insbesondere durch die Reue Paul Bäumers dargestellt ist, entfällt bei Akishin vollständig. Grundsätzlich stellt er in seinem Comic das Leid der Soldaten beinahe ausschließlich über Gewalteinwirkungen physischer Art dar, wohingegen er die psychischen Auswirkungen des Krieges auf dessen Teilnehmer:innen – sei es an der Front oder in der Heimat – nicht in seine Handlung einbezieht. Außerhalb des Schlachtfeldes findet kaum Handlung statt, weshalb in Akishins Comic grundlegende zwischenmenschliche Ereignisse, die

160 Akishin, 1990, 17. 161 Vgl. Alaniz, 2011, 245.

270

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 12: Akishin, 1990, 18.

in Remarques Roman eine tragende Rolle spielen, schlichtweg fehlen. Die Sinnlosigkeit des Krieges, die dem Protagonisten Paul z.B. während seines Fronturlaubes in der Heimat oder dem nächtlichen Besuch bei den französischen Frauen vor Augen geführt wird, vermittelt Akishin über andere Motive: durch die schonungslose Darstellung roher Gewalt und den ausweglosen Kampf ums Überleben in einem von Menschen gemachten Krieg, in dem Maschinen zu einem tödlichen Werkzeug gemacht werden. Diabolus ex Machina Die Maschinen spielen in Akishins Eine Chronik militärischer Operationen eine dem Mensch ausnahmslos überlegene und übergeordnete Rolle, die der Künstler auf mehreren Ebenen formuliert. Schon in der grafischen Umsetzung wird schnell deutlich, dass die Maschinen einen sehr großen Raum im Comic einnehmen und teilweise ganze Seiten füllen.162 Wenngleich den Leser:innen natürlich bewusst ist, dass all diese Maschinen, ob Autos, Panzer und Gewehre am Boden oder Flugzeuge in der Luft, durch Menschenhand bedient und gelenkt werden, stellt Akishin diese Figuren jedoch nur schemenhaft oder gar nicht dar. Die ›führerlosen‹ Ma-

162 Akishin, 1990, 5, 35, 37, 41–42 und 46.

271

Alice Cadeddu

schinen erwecken dadurch den Eindruck, als seien sie von einer höheren Macht gelenkt, sie sind also sprichwörtlich der ›Diabolus ex Machina‹, der plötzlich aus dem Nichts heraus auf der Bühne erscheint und durch sein Auftreten einen signifikanten Einfluss auf die Handlung nimmt. Auf diese Weise tritt die Maschine nicht nur auf grafischer, sondern auch auf inhaltlicher Ebene in den Vordergrund, da sie in Akishins Version von Im Westen nichts Neues ein entscheidender Handlungsträger ist. Ein im Comic herausstechender Akteur ist der französische Panzer, dem Akishin viel Raum gibt, was mitunter auch auf den persönlichen Bezug des Künstlers zu dieser Maschine zurückzuführen ist, denn sein Großvater war Panzerfahrer.163 Dessen ungeachtet wählte Akishin dieses Vehikel vermutlich auch wegen ihrer immensen Zerstörungskraft, die Remarque in seinem Roman wie folgt beschreibt: Die Tanks sind vom Gespött zu einer schweren Waffe geworden. Sie kommen gepanzert, in langer Reihe gerollt und verkörpern uns mehr als anderes das Grauen des Krieges. Die Geschütze, die uns das Trommelfeuer herüberschicken, sehen wir nicht, die angreifenden Linien der Gegner sind Menschen wie wir, – aber diese Tanks sind Maschinen, ihre Kettenbänder laufen endlos wie der Krieg, sie sind die Vernichtung, wenn sie fühllos in Trichter hineinrollen und wieder hochklettern, unaufhaltsam, eine Flotte brüllender, rauchspeiender Panzer, unverwundbare, Tote und Verwundete zerquetschende Stahltiere – – wir schrumpfen zusammen vor ihnen in unserer dünnen Haut, vor ihrer kolossalen Wucht werden unsere Arme zu Strohhalmen und unsere Handgranaten zu Streichhölzern. Granaten, Gasschwaden und Tankflottillen – Zerstampfen, Zerfressen, Tod.164

Zwar ist das von Akishin im Comic dargestellte Fahrzeugmodell (Renault FT-17) eine realistische Abbildung der im Ersten Weltkrieg von den Franzosen eingesetzten Panzer, dennoch entsprechen die Größenverhältnisse nicht der Realität. Akishin lässt den Panzer wesentlich größer erscheinen, insbesondere in Relation zu den dargestellten Figuren erscheint das Fahrzeug beinahe monströs, wodurch er zum Symbol für Unmenschlichkeit und die Unüberwindbarkeit der Tötungsmaschinerie in von Menschen geführten Kriegen wird. In Akishins Adaption gehen die Maschinen im Gefecht Mensch vs Maschine ausnahmslos als Sieger hervor, so auch im letzten Kampf, der dem Protagonisten Paul Bäumer das Leben kostet.

163 Dies teilte Akishin der Autorin in einer persönlichen Korrespondenz vom 21.07.2021 mit. 164 Remarque, 2014, 248–249.

272

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 13: Akishin, 1990, 41–42.

Der Tod Paul Bäumers Das Ende von Eine Chronik militärischer Operationen steht ganz im Zeichen des für diesen Beitrag gewählten Titels: ›Diabolus ex Machina‹. Remarque überlässt die Art und Weise, auf welche Paul Bäumer am Ende seines Romans stirbt, ganz der Vorstellungskraft der Leser:innen: Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, daß der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden. Er war vornübergesunken und lag wie schlafend an der Erde. Als man ihn umdrehte, sah man, daß er sich nicht lange gequält haben konnte; – sein Gesicht hatte einen so gefaßten Ausdruck, als wäre er beinahe zufrieden damit, daß es so gekommen war.165

Akishin beendet seine Adaption des Romans in zweierlei Hinsicht auf eine andere als von Remarque beschriebene Weise. Ein maßgeblicher Unterschied ist die Tatsache, dass er Paul in diesem Moment so kurz vor seinem Tod nicht alleine lässt, sondern ihm seinen Kameraden Katczinsky zur Seite stellt.166 Als die beiden nach einem überstandenen Luftangriff über ein Schlachtfeld laufen, werden sie von einer französischen Panzerkompanie überrascht. Sie geraten unter Beschuss, wobei Katczinsky tödlich verletzt wird. Die lebensbedrohliche Lage, in der sich Paul in dieser Szene befindet, kommt insbesondere durch die dynamische Bewegungsdarstellung zum Ausdruck, die Akishin durch die sich verändernden Größenverhält165 Remarque, 2014, 259. Die wohl bekannteste Interpretation dieser Textstelle stammt von dem US-amerikanischen Regisseur Lewis Milestone, der Paul durch den Schuss eines Scharfschützen sterben lässt, als er seine Hand aus dem Schützengraben streckt, um nach einem Schmetterling zu greifen. 166 In Remarques Roman stirbt Katczinsky bereits einige Wochen zuvor, als er gemeinsam mit Paul unterwegs ist und einer Verletzung durch einen verirrten Granatsplitter erliegt. Vgl. Remarque, 2014, 256.

273

Alice Cadeddu

Abb. 14: Akishin, 1990, 45.

nisse zwischen Mensch und Maschine darstellt. Der Panzer, der auf dem oberen Panel noch verhältnismäßig klein und im Hintergrund abgebildet ist, nimmt auf dem folgenden unteren Panel nun einen Großteil des Bildes ein und lässt Paul beinahe völlig unter der Größe des Panzers verschwinden (siehe Abb. 14). Paul, der noch zu fliehen versucht, gerät unter die Gleiskette des Panzers und verschwindet darunter. Anders als im Roman beschrieben ist Paul zuletzt nicht mehr zu sehen, sondern nur eine Nahansicht des Panzers, an dessen Wanne ein großer, schwarzer Fleck zu erkennen ist, der an Blut erinnert. Im Textfeld heißt es: »Sie starben im Oktober des Jahres 1918, an einem dieser Tage, als es an vielen Frontabschnitten derart ruhig und still war, dass die Heeresberichte nur aus einem einzigen Satz bestanden: Im Westen nichts Neues« (siehe Abb. 15). Die Abweichung seiner Schlussszene von der des Romans erklärt Akishin in einem Interview wie folgt: »I wanted less text and more action. I wanted to show a machine of war; a tank, I thought, would be an interesting conclusion. That is, man and tank: two opposites«.167 Der US-amerikanische Comic-Zeichner Maurice Del Bourgo hat bereits 1952 in seiner Comic-Adaption des Romans für die Classics Illustrated-Reihe ein ähnliches Motiv für seine Interpretation der Schlussszene gewählt. Im letzten Panel 167 Zitiert nach Alaniz, 2011, 246.

274

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 15: Akishin, 1990, 46.

liegt Paul Bäumer leblos neben einem Haufen Schutt auf einem Erdhügel, im Hintergrund entfernt sich ein Panzer vom Geschehen (siehe Abb. 16). Die Vermutung liegt nahe, dass auch hier der Panzer in den Tod Paul Bäumers involviert sein könnte, explizit darauf hingewiesen wird jedoch nicht. Ebenfalls

Abb. 16: Del Bourgo, 1952, 45.

275

Alice Cadeddu

Abb. 17: Akishin, 1990, 11: »Gas, Ga-a-a-s, Ga-as – Weitergeben!« Abb. 18: Del Bourgo, 1952, 16: »PAUL! GAS! GAS!«

unklar bleibt, ob die Adaption Del Bourgos Einfluss auf Akishins Schaffensprozess genommen hat, oder ob es sich dabei bloß um einen Zufall handelt. Eine Gegenüberstellung beider Comics lässt jedoch auffallend ähnliche Parallelen in der Mise-en-Scène erkennen, die eine Vermutung einer Einflussnahme zumindest bis zu einem gewissen Maß zulässt (siehe Abb. 17 bis 22). José Alaniz weist zudem auf eine deutlich erkennbare Referenz der Panzer-Szene in Akishins Comic zur Eingangsszene des sowjetischen Films Die Ballade vom Soldaten (1959) von Grigori Tschuchrai hin, in welcher der Hauptheld Aljoscha Skworzow in beinahe identischer Manier vor einem Panzer davonrennt. Die Jagd, so Alaniz, ist auf der einen Seite eine Hommage an das filmische Meisterwerk, dass gleichzeitig durch den brutalen Tod Pauls jedoch auch eine Parodie desselben ist, denn im Film überlebt der Fliehende durch einen gezielten Gewehrschuss auf den Panzer – ein derart filmreifes und bisweilen auch unrealistisches Heldentum lässt Akishin in seinem Comic – ebensowenig wie Remarque in der Vorlage – nicht zu. Nicht zuletzt in dieser Darstellungsweise lässt sich Akishins vehemente Ablehnung einer in zahlreichen Kriegscomics dargestellten Kriegseuphorie festmachen.168

168 Vgl. Alaniz, 2011, 246.

276

Askold Akishins Comicadaption von Im Westen nichts Neues

Abb. 19: Akishin, 1990, 9: Absturz eines deutschen Militärflugzeugs.

Abb. 20: Del Bourgo, 1952, 41: Absturz eines deutschen Militärflugzeugs.

Abb. 21: Akishin, 1990, 44: Tod Katczin­ skys.

Abb. 22: Del Bourgo, 1952, 44: Tod Katczinskys.

Schlussbetrachtung: Akishins Interpretation eines Antikriegsromans Akishins Darstellung des Krieges in seinem Comic Eine Chronik militärischer Operationen weicht in einem maßgeblichen Aspekt stark von seiner Romanvorlage Im Westen nicht Neues ab: Jegliche Form humanistischer Handlungen bei Remarque werden von Akishin nicht berücksichtigt. Wie der Titel seines Werks bereits verlauten lässt, werden in seinem Comic ausschließlich militärische Handlungen dargestellt, die Menschen rücken dabei sogar manchmal völlig in den Hintergrund, während die Maschinen den Krieg beinahe autark unter sich austragen. Zwischenmenschlichkeit und innere Konflikte, die in Remarques Roman von großer Bedeutung sind, spielen in Akishins Umsetzung kaum eine Rolle. Ein Leben vor dem Krieg oder abseits der Kämpfe auf dem Schlachtfeld findet hier schlicht nicht statt, die Soldaten befinden sich von Beginn an mitten im Geschehen, das ihre ganze Welt einzunehmen scheint. Akishin liefert den Leser:innen keinen 277

Alice Cadeddu

Kontext, sondern erschafft stattdessen eine Art in sich geschlossenen Kosmos, in dem die Protagonisten in Eine Chronik militärischer Operationen wie in der Hölle gefangen zu sein scheinen, aus der sie nur durch den eigenen Tod entkommen zu vermögen. Diese ›Hölle‹ ist bei Akishin in allen Ebenen präsent: Seine düsteren und farblosen Zeichnungen, die durch den Einsatz einer dicken Feder und schwarzer Tinte oft nur sehr schemenhaft wirken, konstruieren eine apokalyptische Atmosphäre. Verstärkt wird diese Stimmung durch die kaum vorhandene Hintergrundgestaltung, welche den Eindruck der völligen Zerstörung hinterlässt und die Figuren oft im Nichts zurücklässt. Auch auf textueller Ebene erschafft Akishins Minimalismus ein Gefühl von Verlorenheit und Leere: Nur wenige Dialoge führen durch die Erzählung, die fast ausschließlich vom Geschehen auf dem Schlachtfeld handelt, kaum jedoch von den Gefühlen und Gedanken der einzelnen Figuren. Im Kontrast zu Remarques Erzählung lässt Akishin zu keinem Zeitpunkt optimistische Gefühle oder auch nur den Hauch von Hoffnung auf Rettung zu: »[...] the adaption admits no such hope; like the majority of Soviet critics, Akishin pronounces Remarque’s ›common humanity‹ sentiment naïve«.169 Alaniz beschreibt Eine Chronik militärischer Operationen als eine Art Mittel zum Zweck, mit dem der Künstler seinen persönlichen Wunsch verfolgt, dem sich gerade erst – damals noch in der Sowjetunion – etablierenden Medium ›Comic‹ ein gewisses Maß an Legitimation zu verschaffen. Die noch sehr junge ComicKultur war damals noch vielen Anfeindungen ausgesetzt, die allem voran in der Voreingenommenheit des Lesepublikums begründet waren, denn sie waren schließlich in dem Glauben erzogen worden, dass Comics entweder nur für Kinder, oder aus dem Westen stammende ›Schund‹-Literatur seien. Eine Chronik militärischer Operationen soll den Beweis dafür vorlegen, dass der russische Comic auf grafischer und textueller Ebene als ernst zu nehmende und anspruchsvolle Kunst betrachtet werden muss. Ein schwieriges Unterfangen in Anbetracht der Tatsache, dass deren Daseinsberechtigung über viele Jahrzehnte hinweg von Autoritäten mit allen Mitteln zu untergraben versucht wurde: Not unlike the Academy Award-winning 1930 American Film adaptation of Remar­ que’s novel, then, A Chronicle of Military Actions is, among everything else, a plea for the credibility of a ›children’s‹ art form to tackle very adult subject matter.170

169 Alaniz, 2011, 243. 170 Ebd., 2011, 246.

278

Agnieszka Dreinert-Jakosz

Erich Maria Remarque und seine literarische Tätigkeit als Lerngegenstand im modernen Fremdsprachenunterricht

»Es ist übrigens komisch, dass das Unglück der Welt oft von kleinen Leuten herrührt, sie sind viel energischer und unverträglicher als großgewachsene.« Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues

Als Schriftsteller gehört Erich Maria Remarque zweifellos zu den bekanntesten Vertretern der deutschen Literaturwelt, was eine Widerspiegelung vor allem in Übersetzungen seiner Werke und ihren Neuauflagen gefunden hat, die bisher in mehr als 60 Sprachen der Welt veröffentlicht wurden.1 Die Beliebtheit Remarques reicht bis ins Jahr 1929 zurück, seit dem sein literarisches Schaffen die Anerkennung der Leserinnen und Leser in vielen Ländern Europas gefunden hat. Obwohl die literarische Tätigkeit Remarques seit der Veröffentlichung seines Bestsellers Im Westen nichts Neues dem Schriftsteller unbestritten Ruhm und Anerkennung bereitet hat, hat er dadurch ebenfalls so viele Befürworter wie Gegner mit den Vertretern des Nationalsozialismus an der Spitze gewonnen. In Anbetracht der Tatsache, dass nicht nur Remarque selbst, sondern auch seine literarische Aktivität von den Nationalsozialisten gehasst wurden, haben sie Remarques Werke auf die Schwarze Liste der verbannten Bücher eingeschrieben, die an die Aktion »Wider den undeutschen Geist« gegangen ist und die Vernichtung des schädlichen unerwünschten Schrifttums zum Ziel hatte.2 Infolge der erwähnten Aktion des nationalsozialistischen Regimes wurden die Bücher von Remarque und

1 Thomas F. Schneider, Roman Tschaikowskij (Hg.). In 60 Sprachen. Erich Maria Remarque: Übersetzungsgeschichte und -probleme. Osnabrück: Rasch, 2002. 2 https://www.berlin.de/berlin-im-ueberblick/geschichte/berlin-im-nationalsozialismus/verbannte-buecher/ (04.10.2021).

279

Agnieszka Dreinert-Jakosz

anderer gegen die nationalsozialistischen Parolen auftretender Schriftsteller auf dem Scheiterhaufen verbrannt, was Remarques Entscheidung für das Verlassen Deutschlands beschleunigt hat. Solch eine Vorgehensweise des Schriftstellers ist nicht ohne Einfluss auf die spätere, spezifische Rezeption seiner Werke geblieben, was zur Folge hat, dass er allmählich in Vergessenheit geraten ist.3 Die zum Anlass des 50. Todestages Remarques organisierte Ausstellung unter dem Titel »Erich Maria Remarque – militanter Pazifist« gilt als Endergebnis der Zusammenarbeit einer Studentengruppe der Schlesischen Universität in Katowice unter der Leitung von Thomas Schneider, dem Leiter des Erich Maria RemarqueFriedenzentrums in Osnabrück. Gemeint ist die Einrichtung, die seit mehr als 20 Jahren das Gedenken an den verstorbenen Schriftsteller pflegt und ihm durch ihre Tätigkeit Ehrerbietung zeigt. Das Hauptziel des genannten Projekts war die Erstellung und die spätere eventuelle Didaktisierung einer Lebensgeschichte von Remarque unter Berücksichtigung der wichtigsten Ereignisse aus dem Leben dieser namhaften Persönlichkeit der Literaturwelt, die einen wichtigen Einfluss auf sein literarisches Schaffen ausgeübt haben. Die Vorbereitungen für die Verwirklichung der Ausstellung begannen im Winter 2018 und wurden auf zwei grundlegenden Ebenen getroffen. In erster Linie konzentrierte sich die Gruppe von 16 Studierenden auf die organisatorischen Aspekte des Unterfangens. In diesem Rahmen erfolgten vor allem die Recherchen zur Anfertigung eines gesamten Kostenvoranschlags und die angegebenen Ausgaben betrafen nicht nur den Standort und die zusammen ausgewählte Form der Ausstellung, sondern auch die bestimmte Anzahl von Roll-ups, auf denen die wichtigsten Tatsachen über das Leben und die literarische Tätigkeit Remarques thematisiert wurden. Jedes Roll-up besteht aus einer Fotografie, die aus der Sammlung von privaten Fotos Remarques stammt und mit deutsch-polnischen Unterschriften versehen sind. Solch eine Vorgehensweise der Organisatoren hatte zum Ziel, eine für alle Besucherinnen und Besucher der Ausstellung verständliche sprachliche Umgebung zu schaffen, die ihnen eine Auseinandersetzung mit Remarque ermöglicht. Außer der unbestrittenen kulturellen und wissenschaftlichen Dimension verfügt das Projekt »Erich Maria Remarque – militanter Pazifist« ebenfalls über ein bedeutendes didaktisches Potential, das auf unterschiedlichen Bildungsstufen Anwendung finden kann. Obgleich sowohl der Arbeit mit Bild als auch den landeskundlichen Aspekten in zahlreichen Publikationen aus dem Bereich der Fremdsprachendidaktik bereits eine gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde,

3 Renata Dampc-Jarosz. »›Moim tematem jest człowiek XX wieku‹. Erich Maria RemarqueFriedenszentrum Osnabrück w przededniu jubileuszy – podsumowanie działalności i zadania na przyszłość«. Wortfolge. Szyk Słów 4 (2020), 1–2.

280

Remarque als Lerngegenstand im Fremdsprachenunterricht

ist trotzdem die parallele, komplexe Einführung von so vielen fremdsprachigen Impulsen und zwar Bild, landeskundliche und literarische Tatsachen sowie diese rein sprachliche Ebene eine Seltenheit. Mit Sicherheit resultiert dies daraus, dass die Fähigkeit der selbstständigen Verarbeitung des fremdsprachigen und in diesem Fall deutschsprachigen Inputs, für welches die Fotografie nur eine bereichernde, visuelle und die Vorstellungskräfte weckende Komponente bildet, ein komplexes Fremdsprachenwissen benötigt. Damit die Anwendung eines solchen visuell-landeskundlichen Sprachstoffs überhaupt möglich wird, muss die Lehrkraft im Stande sein, die wesentlichen theoretischen und zwar landeskundlichen Grundlagen des Fremdsprachenunterrichts zu verdeutlichen und sie im nächsten Schritt einer sprachlichen Analyse zu unterziehen. Das Projekt »Erich Maria Remarque – militanter Pazifist« konzentriert sich auf die Person von Remarque und sollte als eine Einstiegslektion, die das Kennenlernen seines Lebens und seiner literarischen Tätigkeit zum Ziel hat, betrachtet werden. Der Besuch der Ausstellung kann die Lernenden in die Welt Remarques einführen und ihnen die Gelegenheit bieten, sein literarisches Schaffen aus ganz anderer Perspektive zu zeigen. Dank der Veranschaulichung von bestimmten Geschehnissen aus seinem Leben sind die Lernenden auch dazu fähig, die damaligen historischen Ereignisse und ihren Einfluss auf die Werke der Schriftsteller wie Remarque nachzuvollziehen. Die Prinzipien zur Gestaltung des landeskundlichen Fremdsprachenunterrichts betreffen nach der Berliner didaktischen Schule die drei grundlegenden Ansätze (den kognitiven Ansatz (Wissen), den pragmatischen Ansatz (Handeln) und den emotionalen Ansatz (Einstellungen, Werte)), von denen der erste aus der Sicht unseres Beitrags die Hauptrolle spielt.4 Der kognitive Ansatz bezieht sich auf die Vermittlung des ganzen Sachwissens über die Kultur des Landes, dessen Sprache die Lernenden im Fremdsprachenunterricht beherrschen sollten. Die Voraussetzungen dieses Ansatzes umfassen ebenfalls den so genannten »hohen« Kulturbegriff, der sich auf solche landeskundlichen Inhalte bezieht, die aus Bereichen wie z.B. Literatur, Philosophie und Geschichte kommen und die vor allem in unterschiedlichen Textsorten zu beobachten sind. Im Laufe der Zeit wurden im Fremdsprachenunterricht auch diejenigen Themen aufgegriffen, die im Zusammenhang mit Politik, Sozialleben oder Wirtschaft standen, was den Lernenden eine komplexe Lernprogression ermöglicht. Nach dem kognitiven Ansatz sollten die Lehrenden im Fremdsprachenunterricht in erster Linie eine lernfreundliche Umgebung anbieten, in der die Lernenden einen historischen Kontext zu Lebzeiten Remarques, u.a. die Staatsform, die sozialen Stimmungen und die führenden Vertreter der Literaturwelt, kennenlernen können, was im Falle Remarques nicht ohne Bedeutung ist, weil dies seine

4 Günther Storch. Deutsch als Fremdsprache: eine Didaktik. Theoretische Grundlagen und praktische Unterrichtsgestaltung. München: Wilhelm Fink, 2009, 286.

281

Agnieszka Dreinert-Jakosz

literarische Rezeption wesentlich beeinflusste. Unsere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, dass die Ausstellung »Remarque – militanter Pazifist« eine Sprachbrücke zwischen den historischen Aspekten, die das Leben von damaligen Schriftstellern in hohem Maße beeinflusst haben, und der eigentlichen Auseinandersetzung mit Büchern von Remarque und Motiven bildet, die ihn dazu veranlasst haben, solche Ereignisse in seinen Werken zu thematisieren. Diese Thematik eignet sich besonders für jene Schulen, in denen Deutsch als Minderheitssprache verwendet wird, weil dort neben der Sprachpraxis auch solche Fächer wie Deutschkunde unterrichtet werden. Diese Einstufung des Lernprozesses ermöglicht eine allmähliche Auseinandersetzung mit den Schlüsselaspekten und vorgesehenen Lerninhalten ohne Zeitdruck.

282

Kamil Iwaniak

Die Muttersprache im Fremdsprachenunterricht Übersetzen als Mittel zur Förderung der Sprachkenntnisse am Beispiel einer Ausstellung zu Erich Maria Remarque

In dem vorliegenden Beitrag möchte ich auf die Rolle des Übersetzens im didaktischen Prozess hinweisen. Es wird ein Versuch folgen, zu beantworten, welche Bedeutung den übersetzerischen Übungen im Hinblick auf die Förderung der Deutschkenntnisse genau zugeschrieben werden kann und welche Bereiche der Sprachkompetenz besonders gestärkt und entwickelt werden. Der Anlass zu solchen Erwägungen bot sich bei der gemeinsamen Arbeit der Germanistikstudent:innen an der Schlesischen Universität, die sich mit den vorgegebenen deutschsprachigen Beschriftungen von Ausstellungstafeln auseinandergesetzt haben und dafür zuständig waren, den polnischsprachigen Ausstellungsbesuchern einen Einblick in das Leben und Schaffen von Erich Maria Remarque zu gewährleisten. Dem polnischen Besichtigenden dazu zu verhelfen, den namhaften deutschen Schriftsteller kennenzulernen und seine Werke im grenzübergeifenden Rahmen zu verstehen, stellt eine wertvolle Aufgabe an sich dar – welche Vorteile zogen jedoch die übersetzenden Studenten aus diesem Unterfangen in Bezug auf ihre Deutschkenntnisse? Es wird der Frage auf den Grund gegangen, welchen Stellenwert also das Übersetzen in einem Fremdsprachenunterricht einnimmt, mit besonderer Berücksichtigung der Universitätsausbildung von Philologiestudent:innen. Übersetzen als ein didaktisches Mittel ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer stärker in Verruf geraten, und wegen u.a. der audiolingualen Methode sowie später aufgrund des kommunikativen Ansatzes begann man, der Muttersprache im FSU immer weniger Bedeutsamkeit zuzuerkennen. Im Jahre 2003 brachte der Europäische Rat den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen heraus, der nach Podpora-Polit1 die Relevanz des Übersetzens

1 Emilia Podpora-Polit. »Tłumaczenie jako narzędzie rozwijania umiejętności językowych«. Języki Obce w Szkole (2020), 1, 65–71.

283

Kamil Iwaniak

in der Sprachdidaktik aufs Neue steigerte. Kaczmarski2 richtet unsere Aufmerksamkeit darauf, dass die Erstsprache ein permanenter Begleiter des Erlernens von einer Fremdsprache ist. Das Übertragen einer Äußerung in die Fremdsprache findet mental oft auf eine mehr oder weniger bewusste Art und Weise statt. Es wird in Gedanken besonders dann übersetzt, wenn die Aussage emotionsgeladen ist, spontan geschaffen wird oder sich auf ein Thema bezieht, das uns in der Erstsprache geläufiger ist. Es ist deshalb unmöglich, von der Muttersprache vollständig abzukommen, durch die unsere Sozialisation erfolgte und die unsere Weltwahrnehmung weitgehend mitprägt. Der Sapir-Whorf-Hypothese zufolge heißt es: Die Menschen leben nicht in einer objektiven Wirklichkeit […], sondern sind im großen Ausmaße auf die Gnade dieser Sprache angewiesen, die zum Verständigungsmittel innerhalb ihrer Gemeinschaft geworden ist […]. Die Welten, in denen verschiedene Gemeinschaften leben, sind als separate Dimensionen und nicht als eine Welt aufzufassen, die mit diversen Etiketten versehen wurde.3

Die Sprache, die wir nicht nur als ein Zeichensystem mit entsprechenden grammatischen Regeln, sondern vor allem als ein auf der gegebenen Kultur basierendes Konstrukt begreifen, trägt dazu bei, dass Mitglieder einer Gesellschaft die Welt anders als Vertreter anderer Gruppen erfahren. Diese Theorie wird derzeit mit mehreren empirischen Belegen untermauert, die gezeigt haben, dass u.a. Konzeptualisierungsvarianten von Zeit oder Farbwahrnehmung im Zusammenhang mit der gebrauchten Sprache stehen.4 Die Sprache ist mit unseren kognitiven Abläufen aufs Engste verknüpft und von der Kultur nicht auseinanderzuhalten, infolgedessen lässt sich die Muttersprache nicht beliebig und leicht ausschalten, sondern es ist ratsamer, aus ihr Nutzen zu ziehen und sie vernünftig einzusetzen, um das Erlernen einer Fremdsprache zu begünstigen. Dieser Gedanke findet seinen Niederschlag in den Ansichten von Bartmiński, der den Begriff des sprachlichen Weltbildes vorschlägt und von der Annahme ausgeht, dass dieses sprachliche Weltbild als eine manningfaltig verbalisierte Wirklichkeitsdeutung erachtet werden kann, die sich als Gefüge von Welturteilen ansehen lässt.5 Aus der erwähnten Wirklichkeitsdeutung ergibt sich eine aus Gefühlen,

2 Stanisław P. Kaczmarski. »Język ojczysty w nauce języka obcego-kilka refleksji«. Języki Obce w Szkole (2003), 1, 14–19. 3 Edward Sapir. Kultura, język, osobowość. Warszawa: Biblioteka Myśli Współczesnej, 1978, 162. 4 Lera Boroditsky. »How language shapes thought«. Scientific American (2011), 304, 62–65. 5 Jerzy Bartmiński. Językowe podstawy obrazu świata. Lublin: Wydawnictwo Uniwersytetu Marii Skłodowskiej-Curie, 2006, 12.

284

Muttersprache im Fremdsprachenunterricht

Werten und Gedanken bestehende vielgestaltige Ebene, über die alle Mitglieder einer Gemeinschaft gleichermaßen verfügen. Diese Beobachtung darf nicht übersehen werden, wenn ein Vergleich hinsichtlich eines Sachverhalts zwischen zwei Gemeinschaften durchgeführt wird, und bekommt ein besonderes Gewicht, wenn dieser Vergleich Komponenten einer sprachlichen Analyse mit einschließt, was zwangsläufig bei einer Übersetzung geschieht. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass das Übersetzen den Lernenden eine Möglichkeit entgegenhält, sich in die jeweilige Kultur zu vertiefen. Bislang hat man oft befürchtet, dass der Gebrauch der Muttersprache eine unerwünschte Übertragung sprachlicher Strukturen der Ausganssprache auf die Aussage in der fremden Zielsprache bewirkt. Mit dieser Überlegung ist u.a. Arabski6 nicht einverstanden, der das Augenmerk darauf richtet, dass der zwischensprachliche Transfer dem Erlernen von neuen Strukturen zugute kommen kann. Von einem positiven Transfer kann dann die Rede sein, wenn eine vollständige oder großteilige Überlappung von zwei Sprachen betreffs ihrer phonetischen, lexikalischen, syntaktischen, stilistischen oder pragmatischen Ebenen besteht. Die schon verfestigten Strukturen der Erstsprache werden automatisch in neue Sprachhandlungen eingebunden.7 Das Beherrschen von übereinstimmenden Konstruktionen und das Erkennen von Strukturen, die sich voneinander erheblich in beiden Sprachsystemen abheben, verstärken den positiven Transfer und verringern das Risiko von Interferenzfehlern.8 Solch ein bewusst unternommener Vergleich, für den durch Übersetzungsübungen gesorgt wird, ist in erster Linie beim Erwerb von idiomatischen Redensarten, Sprichwörtern und Kollokationen willkommen zu heißen. Stichhaltige Beweise für die Wichtigkeit des Übersetzens beim Lernen einer Fremdsprache wurden durch Untersuchungen vorgebracht, bei denen man auf die Funktionsweise unseres Gedächtnisses einging und sich mit der mentalen Verarbeitung des Textes befasste. Den fremdsprachigen Wortschatz ins Gedächtnis einzubetten, fällt dem Lernenden leichter, wenn die zu erlernenden Begriffe bereits in seinen mentalen Ressourcen gespeichert sind und man zu ihnen durch die Muttersprache einen kognitiven Zugang erlangt. Einen äußerst positiven Einfluss auf das Verständnis eines fremdsprachigen Materials hat eine vorbereitende Analyse des Textes, die in der ersten Sprache vollzogen wird.9 6 Janusz Arabski. »Transfer międzyjęzykowy«. Iza Kurcz (Hg.). Psychologiczne Aspekty dwujęzyczności. Gdańsk: Gdańskie Wydawnictwo Psychologiczne, 2007, 341–352. 7 Violetta E. Borecka. »Rola języka ojczystego w nauczaniu języków obcych-założenia teoretyczne oraz propozycje rozwiązań metodycznych«. E. Awramiuk, M. Karolczuk (Hg.). Z problematyki kształcenia językowego. Białystok: Wydawnictwo Uniwersytetu w Białymstoku, 2016, 149–170. 8 Jerzy Zybert. Errors in Foreign Language Learning. The case of Polish learners of English. Warszawa: Uniwersytet Warszawski, 1999, 19. 9 Cheryl Brown »Factors affecting the acquisition of vocabulary: Frequency and saliency of

285

Kamil Iwaniak

Zu übersetzen heißt, dem Prinzip von Analogienbildung zu folgen und entsprechende mentale Repräsentationen für neue sprachliche Strukturen herzustellen, was mit dem Levels-of-processing-Ansatz zusammenhängt. Auf der ersten Verarbeitungsebene werden sensorische Anreize analysiert, was das Schriftbild oder den Klang anbetrifft, die einzelnen bedeutungstragenden Einheiten werden voneinander unterschieden. Auf dem nächsten Niveau findet eine semantische Deutung des empfangenen Signals statt (die Bedeutung von Morphemen wird erfasst), nachträglich passiert ein Übergang auf die tiefste Ebene, wo das Vorwissen eingeschaltet wird und der Lernende mit Hilfe von unterschiedlichen Assoziationen das schon verfügbare Wissen und gerade aufgenommene Anregungen in neue Inhalte verwandelt. Angenommen, dass der Text mit vielen noch nicht im Gedächtnis der Schüler:innen/Student:innen verankerten Begriffen durchzogen ist, wird seine Verarbeitung auf dem tiefsten Niveau weitgehend behindert und bleibt nur partiell, weil ein schwerwiegender Teil der kognitiven Kapazität schon auf den anfänglichen Ebenen in Anspruch genommen wurde.10 Deshalb erfüllen Erläuterungen in der Muttersprache eine entlastende Funktion und helfen dabei, die für komplexe Gedankenvorgänge nötige Energie zu sparen. Überzeugende Argumente, warum im FSU translatorische Übungen nicht geringgeschätzt werden sollten, hat u.a. Königs11 zusammengebracht: 1. Übersetzen stellt einen Anlass dar, sowohl die muttersprachliche als auch die fremdsprachige Kompetenz zu entfalten. 2. Durch Erläuterung von Unterschieden zwischen den betreffenden Sprachen wird das Risiko des negativen Transfer geringfügig. 3. Es wird den Lernenden geholfen, die Sprachbewusstheit zu erhöhen. Es wird vor allem Erwartungen derjenigen entgegengetreten, die es vorziehen, bewusst Strukturen und sprachliche Regelmäßigkeiten zu lernen. 4. Übersetzen verlangt eine hohe sprachliche Genauigkeit und beugt den fehlerhaften Vereinfachungen bezüglich der Wortwahl und grammatischer Strukturen vor. 5. Es wird das Vermögen gefördert, feine Bedeutungschattierungen in beiden Sprachen zum Ausdruck zu bringen.

Nachdem die Nützlichkeit translatorischer Übungen im didaktischen Prozess unter Beweis gestellt wurde, gebührt es sich, auf einige zu beachtende Prinzipien zu

words«. T. Huckin, M. Haynes, J. Coady (Hg.). Second Language Reading and Vocabulary Learning. Norwood/NJ: Ablex, 1993, 263–268. 10 Borecka, , 157. 11 F. G. Königs. »Übersetzen im Deutschunterricht? Ja, aber anders«. Fremdsprache Deutsch (2000), 23, 6–13.

286

Muttersprache im Fremdsprachenunterricht

verweisen, die eine effektive Umsetzung des Übersetzens im Unterricht sichern. Eine Handvoll Ratschläge, die ebenfalls auf die neophilologische Ausbildung zutreffen, finden wir bei Lübke (nach Iluk).12 Seiner Meinung nach sollten die zu übersetzenden Texte inhaltlich zusammenhängend und motivierend sein. Es wäre auch angebracht, wenn sie durch eine überschaubare Struktur gekennzeichnet wären. Die Beschriftungen der Tafeln gelten auf Grund ihres transparenten Aufbaus, ihrer kohärenten Struktur, ihres begrenzten Umfangs und informativen Wertes als ein geeigneter Basisstoff zum Üben. Es wird behauptet (Rösler nach Kubacki),13 dass Texte in kleinen Gruppen übertragen werden sollten, was eine offene Diskussion anregt. Außerdem erhalten die Lernenden eine Chance, mehrere Vorschläge zu hören zu bekommen. Solch eine einladende Gesprächsplattform für einen regen Austausch hatte man Student:innen bei der Arbeit an Ausstellungstafeln während der Seminare zur Verfügung gestellt. Die Student:innen mussten sich einer anspruchsvolleren Aufgabe stellen, denn sie haben sich mit Inhalten beschäftigt, die einer konkreten Textsorte angehören, was den Übersetzenden dazu nötigt, bestimmte stilistische Merkmale zu bemerken und beizubehalten. Je stärker ein Text einer Konvention unterliegt, umso deutlicher wird die Ungebundenheit des Übersetzenden geschmälert.14 Es erscheint jedoch aus selbstverständlichen Gründen völlig folgerichtig, dass an Philologiestudent:innen höhere Ansprüche gestellt wurden. Was die Studierenden anlangt, bemerkt Kubacki,15 dass den Übersetzungsübungen besonders auf höherem Bildungsniveau eine bedeutende Rolle nicht abzusprechen ist. Diese Übungsart eignet sich dazu treffend, die rezeptive und produktive Kompetenz im Hinblick auf eine vielfältige Bandbreite der Textsorten in beiden Sprachen zu unterstützen. Sie dienen auch dazu, den Studierenden zu veranschaulichen, dass die vollständige Äquivalenz in vielen Fällen nicht erreichbar ist, deswegen soll man im Umgang mit zweisprachigen Wörterbüchern einen skeptischen Blick bewahren. Außerdem wird eine in der stark globalisierten Welt unverzichtbare Kompetenz entwickelt, nämlich die sog. interkulturelle Kompetenz. Es wird dabei zum Ziel gesetzt, die Lernenden mit Mitteln und Fertigkeiten auszustatten, die sie befähigen, sich zwischen zwei sprachlich- kulturellen Dimensionen bewusst, adäquat und zielsicher zu bewegen. Zur interkulturellen Kompetenz, die dank geschickter Umsetzung von Übersetzungsaufgaben im FSU eine beträchtliche Förderung erhält, gehören nach

12 Jan Iluk. »Tłumaczyć czy nie tłumaczyć na lekcjach języka obcego.« Języki Obce w Szkole (2008), 5, 32–41. 13 Dariusz Kubacki. »Rola ćwiczeń tłumaczeniowych na lekcjach języka obcego«. Neofilolog (2010), 35, 195–205. 14 Christiane Nord. Fertigkeit Übersetzen. Berlin: Langenscheidt, 1999, 97. 15 Kubacki, 199.

287

Kamil Iwaniak

Wilczyńska16 solche kommunikativ-pragmatischen Teilfertigkeiten wie: Wissen um verschiedene Aspekte von Eigenkultur und Zielkultur; die Fähigkeit, sich angemessen in einer kommunikativen Situation zu benehmen und sich den Forderungen der Zielkultur anzupassen; das Können, für die eigene Kultur zu werben und im interkulturellen Kontakt angebracht zu agieren. Während der translatorischen Arbeit an den Tafelbeschriftungen einer Ausstellung zu Leben und Werk Erich Maria Remarques, die im Herbst 2021 in Katowice präsentiert wurde, sind die Studierenden unterschiedlichen Herausforderungen begegnet, was ihnen die Gelegenheit geboten hatte, neue Erfahrungen im Bereich der Translatorik zu sammeln, eigene Lösungen für die auftretenden Schwierigkeiten vorzuschlagen und sich an einem konstruktiven Meinungs- und Ideenaustausch zu beteiligen. An dieser Stelle möchte ich ausgewählte Beispiele für solche Textstellen anführen, die von polnischen Student:innen während der Gesprächsrunden im Seminar als problembereitend oder interesseweckend empfunden wurden. Es wird ebenfalls der Versuch unternommen, Gründe für die in Diskussionen thematisierten translatorischen Hürden zu eruieren. Es wird auch über die letztendlich beim Übertragen ins Polnische getroffenen Entscheidungen reflektiert. I Die Student:innen mussten an dem in der deutschen Originalfassung vorgegebenen historischen Präsens festhalten. Die Gegenwartsformen der Verben werden in Bezug auf das schon verflossene Zeitalter verwendet, was dazu beitragen sollte, dass die vergangenen Ereignisse vergegenwärtigt werden und aus diesem Grund dem Zuschauer näherkommen (z.B. »Erich Maria Remarque wird am 22. Juni 1898 […] geboren«). II Die Verwendung des Wortes »kleinbürgerlich«, das sich vom Substantiv »Kleinbürger« ableiten lässt – sowohl im Deutschen als auch im Polnischen wird dieses Adjektiv nicht nur dann eingesetzt, um über jemandes sozialen Hintergrund Auskunft zu geben (Angehöriger des unteren Mittelstandes), sondern auch als eine eher abwertende Bezeichnung für jemanden, der engstirnig, allzu traditionsgebunden und sogar ziemlich rückschrittlich ist. Ins Polnische wurde dieser Begriff als »małomieszczański« übersetzt. Die Ähnlichkeit zwischen den besagten Termini, die in beiden Sprachen eine gesellschaftliche Stellung angeben und sich gleichzeitig abwertend auf eine bestimmte Lebensweise beziehen können, zeugt von einer vergleichbaren kulturellen Entwicklung beider Regionen.

16 Weronika Wilczyńska. »Czego potrzeba do udanej komunikacji interkulturowej?« M. Mackiewicz (Hg.). Dydaktyka języków obcych a kompetencja kulturowa i komunikacja interkulturowa. Poznań: Wyższa Szkoła Bankowa, 15–27.

288

Muttersprache im Fremdsprachenunterricht

III »Für Remarques Eltern ist nur eine Ausbildung ihres Sohnes Erich zum Volksschullehrer finanzierbar, die er 1912 beginnt. Sein Lebensweg scheint damit bereits jetzt vorgezeichnet.« Der polnische Übersetzungsvorschlag: »Rodzice mogą sfinansować kształcenie syna jedynie na nauczyciela szkoły podstawowej. Naukę rozpoczyna on w 1912 r. Tym samym jego los wydaje się być przesądzony.« a. »Volksschulehrer« wurde im Polnischen als »nauczyciel szkoły podstawowej« wiedergegeben. Eine unvollständige lexikalische Äquivalenz tritt auf, die sich zwangsläufig von Differenzen im Aufbau der damaligen deutschen und polnischen Schulsysteme herleitet. b. »finanzierbar« – dieses Adjektiv ist dadurch entstanden, dass das Verb »finanzieren« mit dem Suffix »-bar« zusammengefügt worden ist. Der ausgesonderte Suffix »-bar« deutet an, dass ein Geschehen in Betracht kommt. Die gesamte Struktur, die aus dem Kopulaverb »sein« und dem Adjektiv »finanzierbar« besteht, kann als eine Passiversatzform eingeordnet werden, deren Bedeutung im Polnischen unter Zuhilfenahme einer Verbalphrase mit dem Modalverb »mogą« ausgedrückt wurde. c. »vorgezeichnet« – durch den Gebrauch dieses Partizips wird nahegelegt, dass die elterliche Entscheidung für Remarques Erwachsenenleben ausschlaggebend sein sollte. Im Polnischen hat man diese Vermutung mit dem Wort »przesądzony« mitgeteilt. IV a. »Der Text wird sein Leben völlig verändern und bis heute ein internationales literarisches Symbol gegen die Schrecken jedes Krieges sein.« Der polnische Übersetzungsvorschlag: »Tekst zmieni jego całe życie. Do dziś utwór ten uznaje się za symbol literatury antywojennej.« An dieser Stelle wollte man herausstreichen, welchen gewaltigen Einfluss der Roman Im Westen nichts Neues auf das Leben und Schaffen von Remarque hatte. Bei der Übersetzung ist das Bemühen um eine klare Textgestaltung, Nachvollziehbarkeit und Aussagekraft zu beobachten, was auch bei der Aufteilung des zitierten inhaltsreichen Satzes zutage kommt, dessen Struktur auf dem Hilfsverb »werden« aufbaut, dass sich auf zwei Nebensätze gleichen Grades bezieht. Diese Struktur lässt sich im Polnischen nicht beibehalten, ohne umständlich zu wirken. b. »Er lebt nun in Hannover und verlässt seine Heimatstadt Osnabrück«. »Opuszcza swoje rodzinne miasto Osnabrück i przeprowadza się do Hanoweru.« Die angeführten Zeilen bieten sich als ein weiteres Beispiel für eine syntaktische Veränderung an, die von übersetzenden Studierenden vorgenommen wurde, um Klarheit und Stringenz zu erzielen und die Informationen für die Ausstellungsbesucher zugänglicher und merkfähiger zu gestalten. 289

Kamil Iwaniak

Anhand der vorgestellten Vorteile und zusammengetragenen Beispiele kann man zu dem Schluss gelangen, dass Übersetzen als eine ergänzende Lernmethode im Fremdsprachenunterricht, besonders auf dem fortgeschrittenen Niveau, zu empfehlen ist. Es wird nicht dazu aufgerufen, zur obsoleten Grammatik-Übersetzungsmethode zurückzukehren. Man kann jedoch den Eindruck gewinnen, dass ungeachtet vieler positiver Lerneffekte, die mit Übersetzen erzielt werden können, das Übersetzen oft wegen einer Abneigung gegen die Grammatik-Übersetzungsmethode unreflektiert pauschal abgelehnt wird. Zu den erwarteten erstrebenswerten Ergebnissen zählen u.a. die Förderung des Sprachgefühls, angemessene und zielsichere Wortwahl, die Intereferenzvorbeugung und Sensibilisierung für sprachliche Nuancen. Es wird eingeübt, Merkmale verschiedener Textsorten zu erkennen und sie in der Muttersprache mit entsprechenden Mitteln zu bewahren, was zur erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber den syntaktischen, morphologischen, lexikalischen und pragmatischen Unterschieden anspornt.

290

Beiträger:innen und Herausgeber:innen dieses Bandes

Alice Cadeddu, M.A.; studierte Europäische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Osnabrück und ist dort Doktorandin sowie Mitarbeiterin am Erich Maria ­Remarque-Friedens­zen­trum, Universität Osnabrück (Deutschland). Karsten Dahlmanns, Prof. Dr. habil.; ist Philosoph und Germanist am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen). Renata Dampc-Jarosz, Prof. Dr. habil; ist Germanistin am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen). Agnieszka Dreinert-Jakosz, M.A.; ist Lehrerin und studierte Germanistik am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen). Clemens Fuhrbach, M.A.; ist Germanist, Autor und Musiker und lebt in Köln (Deutschland). Simon Hansen, Dr.; ist Germanist am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien an der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Deutschland). Kamil Iwaniak, M.A.; ist Doktorand am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen). Claudia Junk, M.A.; studierte Germanistik und Philosophie an der Universität Osnabrück und ist Mitarbeiterin am Erich Maria ­Remarque-Friedens­zen­trum, Universität Osnabrück (Deutschland). Maria KŁaŃska, Prof. Dr. habil; ist Germanistin am Wydział Filologiczny der Uniwersytet Jagielloński in Kraków (Polen). Krzysztof Kłosowicz, Dr. phil; ist Germanist am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen). 291

Beiträger:innen und Herausgeber:innen

PaweŁ Meus, Dr. phil.; ist Germanist am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen). Nina Nowara-Matusik, Prof. Dr. habil; ist Germanistin am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen). Oleg E. Pokhalenkov, Dr. phil; ist Literaturwissenschaftler am Department of Literature der Universität Kaluga (Russland). Magdalena Popławska, Dr. phil; ist Germanistin am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen). Karol Sauerland, Prof. Dr. emer; war Germanist und Philosoph an der Uniwersytet Warszawski (Polen). Thomas F. Schneider, Dr. phil. habil.; ist Leiter des Erich Maria ­Remarque-Friedens­zen­trums, Universität Osnabrück, und lehrt dort sowie an der Universität der Bundeswehr München (Deutschland). Elena I. Shevarshinova, Dr. phil; ist Linguistin am Department of English Language der Universität Kaluga (Russland). MichaŁ Skop, Prof. Dr. habil; ist Germanist am Wydział Humanistyczny der Uniwersytet Śląski in Sosnowiec/Katowice (Polen). Uwe Zagratzki, Prof. Dr.; ist Anglist mit Schwerpunkt Kanada und Schottland und war bis zu seiner Emeritierung 2019 Professor for Anglophone Literatures and Cultures und Chair of Literature am Institute of English an der Uniwersytet Szczecin (Polen).

292