Remarque Revisited: Beiträge zu Erich Maria Remarque und zur Kriegsliteratur [1 ed.] 9783737012003, 9783847112006, 9783847012009

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Remarque Revisited: Beiträge zu Erich Maria Remarque und zur Kriegsliteratur [1 ed.]
 9783737012003, 9783847112006, 9783847012009

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Veröffentlichung des Universitätsverlages Osnabrück bei V&R unipress Krieg und Literatur / War and Literature Vol. XXVI (2020)

Herausgegeben von Claudia Junk und Thomas F. Schneider Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv / Forschungsstelle Krieg und Literatur

Claudia Junk / Thomas F. Schneider (Hg.)

Remarque Revisited Beiträge zu Erich Maria Remarque und zur Kriegsliteratur

Herausgeber / Editor Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv/Arbeitsstelle Krieg und Literatur Universität Osnabrück, Markt 6, D-49074 Osnabrück Herausgebergremium / Editorial Board Claudia Junk, Thomas F. Schneider Redaktion / Editing Claudia Junk, André Knochenwefel, Stephan Pohlmann, Marcus Weitz, Jon Wiggermann Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Committee Prof. Dr. em. Alan Bance, University of Southampton, Great Britain Dr. Fabian Brändle, Zürich, Schweiz Dr. Jens Ebert, Historiker und Publizist, Berlin, BR Deutschland Prof. Dr. em. Frederick J. Harris, Fordham University, New York, USA Prof. Dr. Christa Ehrmann-Hämmerle, Universität Wien, Österreich Prof. Dr. em. Walter Hölbling, Karl-Franzens-Universität Graz, Österreich Prof. Dr. em. Bernd Hüppauf, New York University, New York, USA Prof. Dr. em. Holger M. Klein, Universität Salzburg, Österreich Prof. Dr. em. Manfred Messerschmidt, Freiburg/Br., BR Deutschland Dr. Holger Nehring, University of Stirling, Great Britain Prof. Dr. em. Hubert Orłowski, Uniwersytet Poznan, Polska PD Dr. Matthias Schöning, Universität Konstanz, BR Deutschland Prof. Dr. Benjamin Ziemann, University of Sheffield, Great Britain Gestaltung / Layout Claudia Junk, Thomas F. Schneider Titelbildnachweis Cover der chinesischen Comic-Adaption von Erich Maria Remarques Die Nacht von Lissabon. Shanghai 1984.

KRIEG UND LITERATUR/WAR AND LITERATURE erscheint einmal jährlich. Preis pro Heft EUR 45,00 / Abonnement: EUR 40,00 p.a (+ Porto) © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Birkstraße 10, D-25917 Leck / Printed in the EU. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-8471-1200-6 | ISBN (E-Book) 978-3-8470-1200-9 ISBN (V&R eLibrary) 978-3-7370-1200-3 | ISSN 0935-9060

Inhalt 7

Alice Cadeddu Von kunstvoller Literaturvermittlung und Filmpiraterie Ostasiatische Comic-Adaptionen der Werke Erich Maria Remarque von 1930 bis heute

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Marc Hieger »La paz les molesta« oder die Agonie der Heimkehr Alberto Breccias Comic-Adaption von Erich Maria Remarques Roman Der Weg zurück

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Johannes Vogel Die notwendige Invasion Erich Maria Remarques Der Funke Leben und das Postulat des alliierten Befreierstatus

111

Paulus Tiozzo »Kaum dauerhaftes Glück« und »nervenzehrende Brutalität« Zu Erich Maria Remarques Nobelpreisnominierung und Rezeption in Schweden 1929–1931

123

Benno Haunhorst »Ich bin früher einmal Schulmeister gewesen« Erich Maria Remarque als Lehrer

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Inhalt

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Simone Herzig Von der Politikwissenschaft zur Auslandskunde Gleichschaltung und Selbstgleichschaltung eines Faches

147

Swen Steinberg »An der Schwelle« Die sozialdemokratische Flüchtlingszeitung Neuer Vorwärts in Paris und der Ausbruch des Krieges 1939

171

Monika Wolting Der postheroische Kriegsroman Beschreibung eines neuen Genres in der deutschen Literatur



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Rezensionen/Reviews

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Wolfgang Benz. Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler. (Thomas Amos) 198 Marian Füssel. Der Preis des Ruhms. Eine Weltgeschichte des Siebenjährigen Krieges. (Fabian Brändle) 200 Nikos Späth. Das Thema hatte es in sich. Die Reaktion der deutschen und amerikanischen Presse auf Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«. (Jens Ebert) 204 Bernd Wegner. Das deutsche Paris. Der Blick der Besatzer 1940–1944. (Thomas Amos)

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Eingegangene Bücher/Books Received

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Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe/ Contributors to this Edition

Alice Cadeddu

Von kunstvoller Literaturvermittlung und Filmpiraterie Ostasiatische Comic-Adaptionen der Werke Erich Maria Remarques von 1930 bis heute

»Remarque macht es einem mit seiner Art zu schreiben sehr einfach, er hat eine sehr bildhafte Sprache.« Peter Eickmeyer über seine Graphic Novel Im Westen nichts Neues (2014)1

Erich Maria Remarque wurde mit seinem Antikriegs-Roman Im Westen nichts Neues innerhalb kürzester Zeit zum weltbekannten Schriftsteller – ein Umstand, der ihm insbesondere durch seinen damit einhergehenden finanziellen Erfolg eine neue Welt öffnete. Er reiste viel, wurde zum Kunstsammler und entwickelte bereits früh großes Interesse an ihm bis dahin fremden Kulturen. In Anbetracht dessen überrascht es kaum, dass seine immense, bis heute unschätzbare Kunstsammlung, die er von Anfang der 1930er Jahre bis an sein Lebensende mit wertvollen S­ tücken aus aller Welt füllte, ebenfalls zahlreiche Gegenstände aus Asien umfasste. In seiner ›Casa Monte Tabor‹ in Porto Ronco säumten sich auf seinem Kaminsims nebst ostasiatischen Keramiken, Han-Vasen, Tigerporzellan und Korea-Vasen auch chinesische Bronzegefäße, die kurzerhand zu Blumenvasen umfunktioniert wurden.2 Eine Faszination für das Fremde, die keineswegs einseitig war, denn mit dem Erscheinen von Im Westen nichts Neues im Jahr 1928/29 war auch das Interesse

1 Dirk Krampitz. »Antikriegs-Comic: Nach hundert Jahren im Westen was Neues«. BZ online, 03.08.2014. https://www.bz-berlin.de/kultur/nach-hundert-jahren-im-westen-was-neues (zuletzt aufgerufen am 19.06.2020). 2 Vgl. Erich Maria Remarque. Tagebucheinträge, 14.12.1936 und 31.07.1937.

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der asiatischen Leser3 für das Werk Remarques geweckt. Bereits sehr früh wurden seine Romane ins Chinesische, Koreanische und Japanische übersetzt, doch dabei allein sollte es nicht bleiben: Einige der Werke Remarques fanden darüber hinaus Einzug in die ostasiatische Comic-Szene. Literatur-Adaptionen in Form von Comics, Graphic Novels oder Bilderbüchern gleichen in ihrem Wesen einer Literaturverfilmung oder einer Bühneninszenierung, bei denen im Verlauf des Rezeptionsprozesses ein neues und eigenständiges Werk entsteht.4 Einige dieser neu entstandenen Werke aus dem ostasiatischen Raum stehen im Fokus dieses Beitrags, in dem die spezifischen Merkmale der jeweiligen Comic-Adaptionen in Bezug auf die Umsetzung des Originals untersucht werden sollen. Nach heutigem Kenntnisstand sind seit 1930 bis heute drei chinesische Comics, ein japanischer Manga und ein koreanisches Bilderbuch in Anlehnung an Remarques Werk in Ostasien publiziert worden, es ist jedoch nicht auszuschließen, dass weitere, bislang unentdeckte Comic-Adaptionen existieren. Bei den chinesischen Comics handelt es sich zum einen um eine Adaption der Romanverfilmung All Quiet on the Western Front (1930) sowie um zwei voneinander unabhängig 1984 erschienene Adaptionen des Romans Die Nacht von Lissabon. 2005 ist in Korea ein Bilderbuch nach der Vorlage des Romans Arc de Triomphe publiziert worden, und das jüngste bekannte Werk stammt aus Japan: der 2011 online veröffentlichte Manga All Quiet on the Lawson Front. Mit dem vorhandenen Material soll veranschaulicht werden, wie sich die jeweiligen Adaptionen mit dem Werk Remarques befassen, welche besonderen Merkmale sie aufweisen, in welchem kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Kontext sie entstanden sind, um letztendlich die Spezifika der einzelnen Werke herauszuarbeiten. Die hier erarbeiteten Ergebnisse dienen der Vorbereitung einer in Planung befindlichen Folgestudie, die sich nicht nur mit auf Remarques Werk basierenden ostasiatischen Comic-Adaptionen befassen wird, sondern eine umfassende Darstellung und Analyse aller bisher bekannten, weltweit publizierten ComicAdaptionen der Romane Remarques anstrebt.

3 In diesem Beitrag wird zugunsten des Leseflusses auf eine gendergerechte Sprache verzichtet. Wenn nicht anders gekennzeichnet, sind selbstverständlich alle Geschlechter gemeint. 4 Vgl. Monika Schmitz-Emans. Literatur-Comics. Adaptionen und Transformationen der Weltliteratur. Berlin, Boston: De Gruyter, 2011 (linguea & litterae 10), 11.

Ostasiatische Comic-Adaptionen der Werke Remarques

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Rezeption der Romane Erich Maria Remarques in Ostasien Erich Maria Remarque war bereits zu Lebzeiten kein unbekannter Schriftsteller im ostasiatischen Kulturraum. Bis heute sind die meisten seiner Romane ins Chinesische, Koreanische und Japanische übersetzt worden, viele von ihnen bereits kurz nach Erscheinen des Originals. Sowohl in China als auch in Japan gehen die Anfänge der Remarque-Rezeption bis in das Jahr 1929 zurück, als dort die ersten Übersetzungen des parallel in 31 weitere Sprachen weltweit übersetzten Romans Im Westen nichts Neues erschienen. In Korea setzte die Rezeption nur ein Jahr später, ebenfalls mit der Übersetzung von Im Westen nichts Neues ein. In allen Ländern lässt sich bis heute eine kontinuierliche Rezeption der Werke feststellen, deren Umfang jedoch nahezu unbekannt ist. Seit Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk Remarques auf internationaler Ebene hat es auch Forschungsbestrebungen im asiatischen Sprachraum zur Thematik gegeben, die im Folgenden einen ersten Überblick der Remarque-Rezeption in China, Japan und Korea seit 1929 liefern.

China Die Remarque-Rezeption in China begann noch im selben Jahr, in dem die Erstausgabe des Romans Im Westen nichts Neues im Januar 1929 im Berliner Propyläen-Verlag publiziert wurde. Bereits im Oktober 1929 erschien die erste von Hong Shen und Ma Yanxiang ins Chinesische übertragene Übersetzung des Romans im Pingdeng-Verlag (Shanghai).5 Das Besondere an der hier erwähnten Übersetzung ist die – in der internationalen Übersetzungsgeschichte der Romane Remarques keineswegs einmalige – Vorgehensweise der Übersetzer: Sie nutzten als Textgrundlage für ihre Übersetzung die damals bereits vorliegende, von Arthur W. Wheen ins Englische übertragene Ausgabe des Textes. Erst im Anschluss wurde die daraus resultierende chinesische Übersetzung noch einmal von Hong Shen nach dem deutschen Original überarbeitet. Nur ein Jahr später erschienen bereits die zweite Übersetzung6 des Romans und im Jahr 1936 zwei weitere Neuübersetzungen.7 Die zahlreichen verschiedenen Übersetzungen sind auf den in den 1930er Jahren florierenden Literaturbetrieb Chinas zurückzuführen, der für ein erhöhtes Aufkommen an Verlagen und Buchhandlungen sorgte. Diese standen zumeist in 5 Erich Maria Remarque. Xi xian wu zhan shi. Shanghai: Pingdeng, 1929. 6 Erich Maria Remarque. Xi bu qian xian ping jing wu shi. Mit einem Vorwort von Lin Yü-tang. Shanghai: Shuimo, 1930. 7 Erich Maria Remarque. Xi xian wu zhan shi. Shanghai: Qi ming shu ju, 1936. Sowie Erich Maria Remarque. Xi xian wu zhan shi. Jingwei, 1936.

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starker Konkurrenz zueinander, sodass jeder, um sich nicht von anderen Verlagshäusern abhängig zu machen, seinen ganz persönlichen Übersetzer engagierte, um ebenfalls von der Erfolgsgeschichte des Romans profitieren zu können.8 Aus chinesischer Feder stammt auch die vermutlich erste Biografie über Remarque weltweit, die unter dem Titel Beschreibung von Remarques Leben mit kritischer Würdigung von Yang Changxi verfasst und im Juli 1931 publiziert wurde.9 Als sich Li Qinghua Anfang der 1990er Jahre mit der Remarque-Rezeption in China beschäftigte, gelangte er zu der Erkenntnis, dass Remarque seit der Veröffentlichung seiner Romane in chinesischer Sprache einer der bekanntesten ausländischen Schriftsteller in China war und vermutlich auch heute noch ist. Die Beliebtheit der bereits kurz nach Erscheinen, in allen Buchhandlungen vergriffenen Romane lässt sich sowohl auf kulturelle als auch auf politische Umstände zurückführen, von denen Li Qinghua in seiner Untersuchung einige nennt: Der realistische Schreibstil Remarques zeige beispielsweise große Reminiszenzen zum in der chinesischen Literatur gebräuchlichen Realismus auf, was in der Folge bei der chinesischen Leserschaft einen weniger befremdlichen Eindruck erwecke. Ferner, so Li Qinghua, liege der Fokus in Remarques Werken auf pazifistischen, antimilitaristischen und antifaschistischen Themen, die Werte wie Humanismus und Toleranz vermitteln sollen – eine innerhalb der chinesischen Bevölkerung nicht fremde Thematik, bedenkt man die seit Ende der 1920er Jahre durch den japanischen Imperialismus in China drohenden Kriegsgefahren. Auf die Entwicklung der chinesischen Literatur wirkte sich auch der zunehmende Einfluss der amerikanischen und japanischen Literatur aus, in deren Sprache das Werk Remarques bereits unmittelbar nach der deutschen Erstveröffentlichung übersetzt wurde.10 Bis heute ist das gesamte Hauptwerk Remarques ins Chinesische übersetzt worden, wobei allem voran die zahlreichen verschiedenen Übersetzungen als Beweis für die hohe Wertschätzung der Romane in China dienen. Besondere Beachtung findet in der chinesisch-sprachigen Remarque-Rezeption11 der Roman Im Westen nichts Neues, der seit 1929 bis heute (die letzte bekannte Ausgabe erschien 201912) in um die 50 Ausgaben in China erschienen ist.13

8 Vgl. Li Qinghua. »Remarque-Rezeption in China«. Erich Maria Remarque-Jahrbuch/Yearbook (1991), 30–47, hier: 46. 9 Vgl. ebd., 42. 10 Ebd., 45–46. 11 Hierzu zählen die Ausgaben in Republik und VR China, Taiwan und Hongkong. 12 Erich Maria Remarque. Xi xian wu zhan shi. Taipeh: Hao du zuozhe, 2019. 13 Vgl. hierzu eine auf der Website des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums zur Verfügung gestellte Liste der bislang bekannten Ausgaben von Erich Maria Remarques Romanen im Katalog der Internationalen Buchausgaben und Übersetzungen (https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ ausgaben/chinesisch.html).

Ostasiatische Comic-Adaptionen der Werke Remarques

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Korea Mit der im Jahr 1900 publizierten Übersetzung von Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell ins Koreanische wurde erstmals deutsche Literatur für die Bevölkerung Koreas zugänglich gemacht.14 Wenig später folgten bereits weitere Werke bedeutender deutscher Schriftsteller und Dichter. Insbesondere in den 1920er Jahren fokussierten sich Übersetzer vorrangig auf das lyrische Werk von Goethe, Heine und Schiller. Zurückführen lässt sich das kurz nach der Jahrhundertwende in Korea gesteigerte Interesse an ausländischer Literatur mitunter auf die im Zuge der japanischen Kolonialherrschaft über Korea (1910–1945) eröffneten ›Möglichkeiten‹, die vielen jungen Menschen den Weg ins Studium an japanischen Universitäten ebneten. Dort wurden die Studierenden mit einer ganz neuen Kultur konfrontiert, womit zeitgleich auch die Gelegenheit einherging, bis dato völlig unbekannten, kulturell fremden literarischen Werken zu begegnen – zeitgenössische deutsche Literatur inbegriffen.15 Die erste nachweislich bekannte Übersetzung eines Textes Erich Maria Remarques ins Koreanische wurde 1930 publiziert und stammt von dem Amerikaner Alexander A. Pieters. Wie zuvor bereits zahlreichen Werken lag auch dieser Übersetzung eine englischsprachige Ausgabe von Im Westen nichts Neues zugrunde. Bereits ein Jahr später erschienen in Korea drei weitere Ausgaben derselben Übersetzung, was als unwiderlegbarer Beweis für die Popularität des Romans in dem Land gewertet werden kann. Die damals maßgebende Tageszeitung Chosunilbo bestätigte diese Annahme in einem Artikel, in dem es heißt, dass in den ersten fünf Monaten nach Veröffentlichung in Korea bereits über drei Millionen Exemplare des Romans verkauft wurden.16 Das große Interesse an Remarques Antikriegswerk könne laut Mi-Hyun Ahn insbesondere darin begründet liegen, dass das Werk »wegen seiner Anklage gegen die Verheerungen des Krieges die unter der Kolonialherrschaft leidenden koreanischen Intellektuellen sehr stark anzog.«17 Die Befürworter des Romans ließen sich sowohl in linken als auch in rechten Lagern finden, da sie trotz ihrer völlig entgegengesetzten ideologischen Ausrichtung dasselbe Ziel vor Augen hatten: die Befreiung des Landes von der gewaltsamen Herrschaft Japans.18 In der Endphase der japanischen Fremdherrschaft (1936–1945) erfährt die Übersetzungsgeschichte ausländischer Literatur, bedingt durch die strenge, 14 Vgl. Mi-Hyun Ahn. »Ein ewiger Liebhaber. Das Bild Erich Maria Remarques in Korea«. Erich Maria Remarque-Jahrbuch/Yearbook 12 (2002). Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, 2002, 112–133, hier: 114. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. ebd, 115. 17 Ebd., 117. 18 Vgl. ebd., 131.

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ausschließlich auf ihre eigene Kultur ausgerichtete Herrschaft der Japaner einen starken Einbruch in Korea. Es ist eine Phase, die in der Literatur auch als »Zeit der kulturellen Finsternis« bezeichnet wird und auch die Verbreitung der Romane Remarques stark einschränkte.19 Mitte der 1950er Jahre, nach dem Korea-Krieg (1950–1953) und der Spaltung des Landes (1953), lebte die Übersetzungstätigkeit ausländischer Literatur wieder auf, das einstige Interesse an naturgebundener, idyllischer und provinzieller Literatur war in der Nachkriegszeit versiegt. Die koreanische Bevölkerung verlangte nach Literatur, welche die Unmenschlichkeit des Krieges an den Pranger stellte und ihren Charakteren eine Stimme verlieh, mit deren Orientierungslosigkeit und Verzweiflung sich die Leser in ihrer eigenen aktuellen Situation besonders gut identifizieren konnten.20 Die durch Verwüstung und Zerstörung geprägte gesellschaftliche und kulturelle Atmosphäre lieferte hervorragenden Nährboden für eine erneute Beschäftigung mit den Texten Remarques und der damit einhergehenden Übersetzung seiner Romane. Einer Studie aus dem Jahr 2002 zufolge handelt es sich bei dem ersten, in dieser Phase übersetzten Text Remarques um den Roman Arc de Triomphe, der in einer Übersetzung von JungKun Chae 1950 im Jung-um Verlag (Seoul) erschienen ist. 1959 erschien bereits eine zweite Übersetzung von Arc de Triomphe von Du-Sik Kang, einem Professor für Deutsche Literaturgeschichte.21 Bis heute ist Arc de Triomphe der populärste und mit Abstand auflagenstärkste – mehrfach von verschiedenen Verlagen als Raubkopie veröffentlichte22 – Roman Remarques auf koreanischem Boden.23 Bemerkenswert ist, dass Im Westen nichts Neues und Arc de Triomphe von den 1950er bis 1980er Jahren wiederholt in sogenannte ›Weltklassiker‹-Sammlungen, die von führenden Verlagen publiziert wurden, integriert wurden. Das Konzept einer solchen Sammlung entstand aus einer humanistischen Bildungsidee heraus und sollte in erster Linie junge Menschen ansprechen und bilden.24

19 Vgl. ebd., 118. 20 Vgl. ebd., 118f. 21 Vgl. ebd., 119. 22 Vgl. ebd., 123. 23 Vgl. die Liste der bislang bekannten Ausgaben: https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ausgaben/ korean.html. Die letzte bekannte Ausgabe von Arc de Triomphe erschien 2015 in Seouler Minumsa Verlag in einer Übersetzung von Yu han-jun. 24 Vgl. Mi-Hyun Ahn, 124.

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Japan Wie auch in China begann die Remarque-Rezeption in Japan bereits sehr früh: Am 4. Oktober 1929 erschien im Chuokouron-shinsha Verlag – einem der renommiertesten Verlage Tokyos – die erste Übersetzung25 von Im Westen nichts Neues auf Japanisch. Der Roman wurde in kürzester Zeit zum Bestseller und machte Erich Maria Remarque auch in Japan zum vielgelesenen Autor.26 Einen wesentlichen Beitrag zur Forschung auf dem Gebiet der Remarque-Rezeption Japans liefert Kunio Adachi, der im Januar 2013 – ebenfalls im Chuokouron-shinsha Verlag – die erste japanische Remarque-Biografie veröffentlichte. Die Übersetzungsgeschichte der Romane Remarques im japanischen Sprachraum (soweit diese zum jetzigen Zeitpunkt bekannt ist) erreichte ihren Höhepunkt in den 1950er bis 1960er Jahren, die Zahl der Übersetzungen fiel im Vergleich zu China und Korea jedoch wesentlich geringer aus. Der Fokus wurde auch in Japan auf die Romane Im Westen nichts Neues und Arc de Triomphe gelegt, die in mehrfachen Übersetzungen vorliegen. Andere Romane, wie beispielsweise Drei Kameraden oder Der schwarze Obelisk, sind bislang hingegen in nur einer Übersetzung bekannt.27 Die Cover-Gestaltung einiger japanischer Buchausgaben offenbart zweifelsohne eine Affinität zum Medium Film: Sowohl auf der zuletzt erschienen Ausgabe von Im Westen nichts Neues28 als auch auf zwei Ausgaben von Arc de Triomphe29 sowie auf der ältesten Ausgabe von Zeit zu leben und Zeit zu sterben30 sind Filmszenen und Plakatmotive der jeweiligen Romanverfilmungen abgebildet. Die Vorliebe für die audiovisuelle Verarbeitung des Werks Remarques wird ebenfalls in einer aufwändig produzierten Musicalversion von Arc de Triomphe ersichtlich, die erstmals im Jahr 2000 und ein weiteres Mal 2018 am Tokyo Takarazuka Theatre mit großem Erfolg aufgeführt wurde.

25 Erich Maria Remarque. Seibu sensen ijô nashi. Im Westen nichts Neues. Tokyo: Chuokoron sha, 1929. 26 Vgl. Kunio Adachi. »Für Remarque wäre ich der fünfte Japaner gewesen«. Alice Cadeddu, Claudia Junk, Thomas F. Schneider (Hgg.). Weltweit Worldwide Remarque. Beiträge zur aktuellen internationalen Rezeption von Erich Maria Remarque. Göttingen: V&R unipress, 2020 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 30), 253–259, hier: 255. 27 Vgl. hierzu die Liste der bislang bekannten Ausgaben: https://www.remarque.uni-osnabrueck.de/ ausgaben/japanisch.html. 28 Erich Maria Remarque. Seibu sensen ijô nashi. Tokyo: Shincho-sha, 2007. 29 Erich Maria Remarque. Gaisenmon. Tokyo: Kawade, 1960 (Sekai bungaku zenshu 7) und Erich Maria Remarque. Gaisenmon. Tokyo: Fukkan, 2003. 30 Erich Maria Remarque. Aisuru toki to shisuru toki. (In zwei Bänden). Tokyo: Shicho-sha, 1958.

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Remarque im ostasiatischen Comic Mit dem Begriff ›Comic‹ werden heutzutage oftmals Bilder berühmter Werke wie dem ›Franzosen‹ Asterix, dem aus Belgien stammenden Klassiker Tim und Struppi (Tintin), die zahlreichen US-amerikanischen Superheldencomics und natürlich Donald Duck (Uncle Scrooge) assoziiert. Das uns heute geläufige Format des modernen Comics durchlebte eine Entwicklung, die nach Ansicht einiger Historiker bis ins Mittelalter, wo Geschichten bereits in Comic-ähnlichen Illustrationen auf Holz und Stein erzählt wurden, zurückgeführt werden kann.31 Auch der asiatische Comic – in all seinen verschiedenartigen Formaten – blickt auf eine sehr lange, in den jeweiligen Ländern voneinander abweichend verlaufende Entstehungsgeschichte zurück, deren Einflüsse bis in die Westliche HanDynastie (207 v. Chr.–9 n. Chr.) zurückzuführen sind und zur Entwicklung der heute bekannten Formate wie dem chinesischen Manhua oder dem japanischen Manga führte.32

Der chinesische ›Lianhuanhua‹ Geschichten in Bilderform existieren in China bereits seit mehreren tausend Jahren und sind auch heute noch äußerst beliebt. Eines der moderneren chinesischen Comic-Genres ist das Lianhuanhua. Der chinesische Begriff ›Lianhuanhua‹ bedeutet frei übersetzt ›illustriertes Geschichtenbuch‹ und bezeichnet eine im 20. Jahrhundert in China sehr populäre Form des Comics, dessen Ursprung sich jedoch nur schwer bis gar nicht zeitlich eingrenzen lässt. Einige Forscher auf dem Gebiet glauben den Vorläufer des Lianhuanhua in der Steinbildhauerei und den Wandgemälden der Han-Dynastie zu erkennen, andere datieren die Ursprünge wesentlich später, im späten 19. bis frühen 20. Jahrhundert, als die Kunst der Lithographie in China Einzug hielt. Diese Theorie vertritt auch Kuiyi Shen, Professor für Asiatische Kunstgeschichte, der die Lithographie als eine Art Stimulus für die Entwicklung einer frühen Form der Lianhuanhua deutet.33 Als ›Lianhuanhua‹ wurden sie jedoch – soweit bekannt – erstmals 1927 in Shanghai bezeichnet, nachdem sie Mitte der 1920er Jahre in Heftform veröffentlicht wurden.34 Ebenfalls bekannt

31 Weiterführende Literatur zur Entstehung des Comics liefern u.a. Julia Abel und Christian Klein (Hgg.) mit ihrer Einführung Comics und Graphic Novels. Stuttgart: Metzler, 2016. 32 Vgl. John A. Lent. Asian Comics. Mississippi: University Press of Mississippi, 2015, 23. 33 Nach Lent, Asian Comics, 31. 34 Vgl. Kuiyi Shen. »Lianhuanhua and Manhua – Picture Books and Comics in Old Shanghai«. John A. Lent. Illustrating Asia. Comics, Humour Magazines, and Picture Books. Richmond: Curzon, 2001, 100–120, hier: 100.

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sind sie unter den Bezeichnungen ›xiaorenshu‹ oder ›little man’s books‹, wobei sich letzteres auf die Größe der Lianhuanhua zurückführen lässt, die üblicherweise den Maßen einer durchschnittlich großen Handfläche entsprechen.35 Lianhuanhua wurden oft mit später in den Vereinigten Staaten erschienenen Comic-Büchern wie den Big Little Books (erstmals 1932 erschienen36) und Classics Illustrated (erstmals 1941 erschienen37) verglichen, dennoch unterscheiden sie sich grundlegend von den US-amerikanischen Formaten in den Merkmalen Größe, Format, der übermittelten Botschaft und der damit einhergehenden Zielsetzung. In der Regel ist im Lianhuanhua jeweils eine Illustration pro Seite abgebildet, die durch einen kurzen Text am oberen oder unteren Seitenrand ergänzt wird. Sprechblasen tauchen nur in den seltensten Fällen auf. Die in den Lianhuanhua vermittelten Inhalte weichen oftmals von jenen der in den westlichen Comics kommunizierten Schwerpunkte ab, und nicht selten dienen sie dem Zweck, politische und gesellschaftliche Themen anzusprechen und die Rezipienten dahingehend zu belehren und zu mobilisieren. Aus diesem Grund unterlagen sie oft auch einer wesentlich strengeren Kontrolle als die in China ebenfalls erhältlichen westlichen Comics. Nach John A. Lent liegt die Rechtfertigung, den Lianhuanhua zur Gattung der Comics zu zählen, zum einen darin, dass sie visuelle mit verbalen Elementen verbinden, um eine Geschichte zu erzählen – ein weithin vorausgesetztes Kriterium für die Klassifikation von Comics –, und zum anderen, dass Lianhuanhua eine große Ähnlichkeit zu Werken aufweisen, die vor dem 20. Jahrhundert entstanden sind und von Wissenschaftlern als Comics kategorisiert werden.38 Eine sehr markante Ähnlichkeit zur visuellen Gestaltung der Lianhuanhua weisen beispielsweise die Comics des Schweizer Künstlers Rodolphe Töpffer (1799–1846) auf, dessen Bildergeschichten heute als Vorreiter des Comics bezeichnet werden (Abb. 1). Töpffer gilt bis heute als einer der ersten Zeichner,39 der die für Comics charakteristischen Panels anwendete, um so mitunter einen Eindruck für das Verstreichen von Zeit zu erzeugen. Darunter setzte er den dazugehörigen Text, der oftmals durch eine durchgezogene Linie von der sich darüber befindlichen Illustration abgegrenzt wurde.40

35 (L 127 mm x B 88,9 mm x T 6,4 mm). Vgl. Lent, Asian Comics, 31. 36 Vgl. »The Beginning«. http://www.biglittlebooks.com/historyofBLBs.html (zuletzt aufgerufen am 17.06.2020). 37 Vgl. William B. Jones, Jr. Classics Illustrated: A Cultural History. 2nd ed. North Carolina: McFarland & Company, 2011, 317. 38 Vgl. Lent, Asian Comics, 31. 39 Vgl. David Kunzle. Rodolphe Töpffer. The Complete Comic Strips. Mississippi: University Press of Mississippi, 2007, 6. 40 Georg Bremer. Heftchenhelden: Eine kurze Geschichte der Comics. Norderstedt: Books on Demand (BoD), 2011, 12.

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Abb. 1: Rodolphe Töpffer. ›Histoire de Monsieur Jabot‹. Publiziert im Selbstverlag, 1833.

Der schnell einsetzende Erfolg und die große Beliebtheit der Lianhuanhua in den 1920 und 1930er Jahren ist zum Teil auch auf ihren einzigartigen Distributionsweg zurückzuführen. Viele Buchhändler weigerten sich, die kleinen Hefte in ihren Geschäften zu verkaufen, da sie von der Oberschicht und Intellektuellen oft der Vulgarität und Geschmacklosigkeit bezichtigt wurden. Zurückzuführen war diese despektierliche Wertung auf die von den Zeichnern gewählten Themen, die oft auf gerade aktuellen Theaterinszenierungen, wilden Anekdoten und Legendenerzählungen beruhten. Bestimmte soziale Gruppen, zumeist Kinder und Angehörige der sozialen Unterschicht, hegten dahingegen großes Interesse an den bebilderten Heften, weshalb einige kleine Verleger die Produktion der Lianhuanhua fortsetzten. In Shanghai entstand auf diese Weise eine Art Untergrund-Netzwerk, das die Hefte an kleine Straßenstände verkaufte, deren Eigentümer sie wiederum für kleines Geld weiterverkauften oder an weniger begüterte Personen verliehen. Der Großteil der Lianhuanhua-Herausgeber war damals in einer Straße namens Beigongyili in Zhabei, einem Arbeiterviertel Shanghais, zu finden. Dort wurden sie jede Nacht von den Straßenhändlern aufgesucht, die sich von ihnen die oft erst kurz zuvor fertiggestellten Lianhuanhua beschafften. Die einzelnen Exem­plare waren meist Teil einer zusammenhängenden Reihe, die von Anfang bis Ende gelesen eine geschlossene Geschichte erzählte. In der Regel erschienen jede Nacht zwei neue Ausgaben einer Reihe, die eine Auflagenhöhe von bis zu 2.000 Exemplaren aufwies. War eine solche Comic-Reihe abgeschlossen, was üblicherweise mit der Vollendung des 24. Heftes geschah, wurden die Hefte vom Herausgeber

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zusammengebunden und als Buch ›im alten Stil‹ verkauft.41 Darüber hinaus hatten Käufer selbst auch die Gelegenheit, die gesammelten Hefte einer Comic-Reihe in einer kleinen, eigens dafür vorgesehenen Schachtel aufzubewahren. Die Inhalte der erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienenen Lianhuanhua,42 die zunächst von Nachrichten und dem aktuellen Zeitgeschehen geprägt waren, wurden später maßgeblich von der Peking-Oper beeinflusst. Als das berühmte Stück Limao huan taizi (Exchange the Prince with a Leopard Cat) der Peking-Oper 1918 für einige Monate in Shanghai aufgeführt wurde, machten sich einige Verleger den enormen Anklang, den die Oper fand, zunutze und engagierten Zeichner, die in kürzester Zeit auf Grundlage des Regiebuches der Oper illustrierte Hefte anfertigten. Zwei Jahre später entstand erstmals ein Lianhuanhua nach Vorlage eines Romans: 1920 adaptierte Liu Boilang den Roman Xue Rengui zhengdong (Xue Rengui Going on an Eastern Expedition) und setzte damit den Grundstein für zahlreiche folgende Romanadaptionen, die insbesondere in Analphabeten-Kreisen eine große Abnehmerschaft fanden. Mit der wachsenden Etablierung der Filmindustrie wuchs auch in China in den 1920er Jahren das Interesse am Genre Film, das sich, wie bereits das Theater, auf die inhaltliche Gestaltung der Lianhuanhua auswirkte. Lianhuanhua, die auf Dramen oder Filmen basierten, wurden oft noch in der Nacht der Uraufführung gezeichnet und vervielfacht, sodass sie bereits am nächsten Morgen verkauft werden konnten. Mit Einführung des Tonfilms traten in den kleinen Bilderbüchern erstmals auch Sprechblasen in Erscheinung.43 Aus dem Westen importierte Filme dienten ebenfalls als Vorlage für Lianhuanhua. Da die Adaptionen jedoch oft ohne offizielle Autorisierung der Urheber vorgenommen wurden, kann man die auf Filmen basierenden Lianhuanhua auch als eine frühe Form der Filmpiraterie bezeichnen. Im Laufe der Zeit kam es zur Verschiebung inhaltlicher Schwerpunkte in den Lianhuanhua, die nicht selten der Ideologie der jeweils aktuell machthabenden Regierung angepasst wurden. In der Republik China (1911–1949) zeichneten sich Lianhuanhua oftmals durch ihren Unterhaltungscharakter aus, wohingegen die inhaltlichen Schwerpunkte in der Volksrepublik vermehrt von propagandistischen Inhalten geprägt waren. In den 1950er Jahren wurde der Lianhuanhua mitunter zu einem wichtigen Werkzeug der Kommunistischen Partei und des Staates, als

41 Vgl. Kuiyi Shen. »Lianhuanhua and Manhua – Picture Books and Comics in Old Shanghai«. Lent, Illustrating Asia, 100–120, hier: 103f. 42 Forscher sind sich bis heute nicht einig, wann der erste Lianhuanhua erschien, es wird jedoch vermutet, dass der 1908 in der Wenyi Book Company erschienene Lianhuanhua Sanguozhi (The Legend of Three Kingdoms) von Zhu Zhixuan der erste seiner Art ist. John A. Lent. Xu Ying. Comics Art in China. Mississippi: University Press of Mississippi, 2017, 17. 43 Vgl. Lent, Xu Ying, 17–18.

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man ihn für das Erzählen traditioneller Folklore und zum Dokumentieren der Geschichte internationaler kommunistischer Bewegungen nutzte.44 Als Mao Zedong im Frühjahr 1966 die ›Große Proletarische Kulturrevolution‹ auslöste, wirkte sich dieser innenpolitische Umschwung nicht nur auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben Chinas aus, sondern nahm auch großen Einfluss auf den Fortbestand der Lianhuanhua. Plötzlich wurden sie als feudalistisch, kapitalistisch und revisionistisch bezeichnet, sie wurden in großen Teilen verbrannt und die hinter den Comics stehenden Künstler und Herausgeber für ihre ›vergifteten‹ Ideen attackiert, zensiert und bisweilen sogar des Landes verwiesen. Die Lianhuanhua der Kulturrevolution zeichneten sich einerseits durch ihre maßgebliche Kritik an Partei- und Staatsfeinden und andererseits durch extreme Heroisierung der Protagonisten der Revolution aus. Auch wenn es gesetzlich nicht vorgeschrieben war, gehörte es zum üblichen Brauch, die erste Seite eines jeden Lianhuanhua für die Worte Maos zu reservieren, vereinzelt gefolgt von Zitaten ›großer Persönlichkeiten‹ wie Engels, Lenin, Marx oder Stalin. Mit dem Tod Maos im Jahr 1976 und der darauffolgenden Reformund Öffnungspolitik der Volksrepublik China wurde auch die Funktion der Lianhuanhua ein weiteres Mal neu organisiert. Die strikten Vorgaben wurden aufgehoben, ehemals exilierte Künstler kehrten wieder in ihre Heimat zurück und ersetzten in ihren Heften die einstige Propaganda durch subtile Inhalte. Der Vertrieb der Lianhuanhua wurde mit der Zeit immer rentabler, beispielsweise wurden allein im Jahr 1983 über 2.100 Neuerscheinungen mit einer Reichweite von insgesamt 630 Millionen Exemplaren verzeichnet. Dieser Absatz entsprach in besagtem Jahr einem Viertel der gesamten Buchproduktion Chinas. Ende der 1980er Jahre gab es einen beachtlichen Umsatzeinbruch, was einige Forscher unter anderem mit dem Aufkommen des japanischen Mangas auf dem chinesischen Markt in Zusammenhang bringen. Die Leserschaft verlor das Interesse an den kleinen Heften, bis sie in den 1990er Jahren ein fast ausschließlich von Sammlern wertgeschätztes Medium darstellten.45 Im Allgemeinen gelten Lianhuanhua als Vorläufer des heutigen, modernen chinesischen Comics, der unter dem Begriff ›Manhua‹ bekannt ist.46 Manhua (nicht zu verwechseln mit dem japanischen Manga) gab es bereits kurze Zeit nach Erscheinen der Lianhuanhua in den 1920er bis 1930er Jahren in China und werden bis heute in großen Mengen produziert. Der Begriff ›mànhuà‹ tauchte bereits im 18. Jahrhundert im Jargon der Gelehrten auf und wird wörtlich mit ›Karikatur‹ oder auch ›Cartoon‹ übersetzt. Er umfasst alle Arten von Comics, nicht nur die in

44 Vgl. Lent, Asian Comics, 32–34. 45 Vgl. ebd., 35. 46 Vgl. Shen, »Lianhuanhua and Manhua, 100f.

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China produzierten. Die chinesischen Manhua unterscheiden sich nicht wesentlich von den europäischen oder nordamerikanischen Comics, was nicht zuletzt auf den seit den 1950er Jahren zunehmenden Einfluss der westlichen ›Vorbilder‹ auf die chinesische Kultur zurückzuführen ist.47

Chinesische Comic-Adaptionen von Werken Erich Maria Remarques Lianhuan huatu xi xian wu zhansi (Shanghai, 1930) Als 1930 die Verfilmung des Romans All Quiet on the Western Front von Lewis Milestone in den chinesischen Kinos Einzug hielt, gab es innerhalb kürzester Zeit intensive Bemühungen der chinesischen Regierung, die Aufführungen des US-amerikanischen Films zu unterbinden, da sie der Ansicht war, seine dezidierte Antikriegsbotschaft könne den nationalen Widerstand gegen die damals akute japanische Feindseligkeit untergraben. Trotz des Filmverbots48 bahnte sich Remarques Werk seinen Weg zum chinesischen Publikum und zwar auch in Form der vermutlich ersten auf Remarques Werk beruhenden Comic-Adaption. Besagter Lianhuanhua erschien 1930 im Shanghaier Verlag Aikesi Ahudian unter dem Titel Lianhuan huatu xi xian wu zhansi (wörtlich: »In Bildern dargestellter All Quiet on the Western Front«) und setzt sich aus 24 jeweils 20 Seiten umfassenden Einzelheften (130 x 160 mm) zusammen, die nach Fertigstellung in einer illustrierten Sammelbox (Abb. 249) aufbewahrt wurden.50 Der Urheber des Lianhuanhua ist nicht überliefert, jedoch ist mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er die Illustrationen für sein Werk auf Grundlage der o. g. Verfilmung angefertigt hat. Nachvollziehen lässt sich diese Annahme auf Basis einer der wenigen bekannten Fotografien des Lianhuanhuas, auf der zwei Soldaten zu erkennen sind, die mit ihren Krügen einem Poster an der Wand zuprosten. Darauf zu sehen sind eine junge Frau im Kleid mit einem 47 Vgl. Robert S. Petersen. Comics, Manga, and Graphic Novels: A History of Graphic Narratives. Santa Barbara, Denver, Oxford: Praeger, 2011, 120. 48 Vgl. Nikos Späth. »Das Thema hatte es in sich«. Die Reaktion der deutschen und amerikanischen Presse auf Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«. Eine vergleichende Rezeptionsstudie über Fronterlebnis- und Weltkriegserinnerung in der Weimarer Republik und den USA in den Jahren 1929 und 1930. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020 (Schriftenreihe des Erich Maria RemarqueArchivs 35), 170. 49 »Chinese Comics«. Rauner Special Collections Library, Dartmouth College. 13.08.2013. https:// raunerlibrary.blogspot.com/2013/08/chinese-comics.html (zuletzt aufgerufen am 25.04.2020). 50 Eine vollständig erhaltene Sammlung aller Hefte in der dazugehörigen Sammelbox befindet sich derzeit in der Rauner Special Collections Library des Dartmouth College in New Hampshire, USA. Eine Kopie wurde angefragt, konnte jedoch bis Redaktionsschluss aufgrund der zur Eindämmung des Corona-Virus bedingten Schließung der Rauner SC Library nicht erworben werden.

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Abb. 2: Cover der Sammelbox zur Aufbewahrung des Lianhuanhua xi xian wu zhansi.

aufgespannten Schirm in der Hand und ein Mann, mit dem sie vermutlich gerade flaniert (Abb. 3). Zwar findet sich die Szene auch in der Romanvorlage wieder,51 jedoch prosten die beiden Soldaten Paul Bäumer und Albert Kropp dem Bild der Frau nur in der Verfilmung Milestones auf genau dieselbe Weise zu, wie auf der Illustration abgebildet ist. Bei näherer Betrachtung der Zeichnungen lässt sich jedoch ein gravierender Unterschied zu Film und Buch feststellten: Die hier dargestellten Figuren tragen zwar westliche Kleidung – gut zu erkennen an den Uniformen der Soldaten –, sie sind jedoch unverkennbar mit asiatischer Physiognomie gezeichnet worden. Ob es eine vom Illustrator beabsichtigte Abwandlung zum Original war, lässt sich weder bestätigen noch ausschließen, die Vermutung liegt allerdings nahe, dass diese sogenannte Anpassung an das eigene Wesen in der Tradition der chinesischen Kunst verankert ist. Innerhalb des Lianhuanhua unterscheiden sich die gezeichneten Figuren optisch kaum bis gar nicht voneinander, da sie nur wenige individuelle Merkmale aufweisen: Sie gleichen sich in ihren Gesichtszügen, ihrer Anatomie, ihren Proportionen, in ihrer Kleidung (mit Ausnahme eines eindeutig an der Kleidung erkennbaren Offiziers), sie tragen sogar alle den selben Haarschnitt. Ausschließ51 »Da ist ein Mädchen in einem hellen Sommerkleid abgebildet, mit einem roten Lackgürtel um die Hüften. Sie stützt sich mit der einen Hand auf ein Geländer, mit der anderen hält sie einen Strohhut. Sie trägt weiße Strümpfe und weiße Schuhe, zierliche Spangenschuhe mit hohen Absätzen.« Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (kiwi 1367), 127.

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Abb. 3: Lianhuan huatu xi xian wu zhansi (1930). Rauner Special Collections Library, 2013.

lich in Bezug auf die Gesichtsbehaarung wird ein wenig Abwechslung geboten, denn einige der Figuren tragen einen Schnurrbart. Trotz des eher realistischen Zeichenstils, wirken die Figuren durch ihre vereinfachten Gesichtszüge beinahe ›cartoonhaft‹. Durch das Reduzieren der Details auf ein Minimum wird der Fokus automatisch auf die erzählte Geschichte gelenkt, da der Rezipient sich nicht durch die einzelnen Charaktere ablenken lässt. Auch bietet diese Form der Stilisierung mehr Raum für die Identifikation des Betrachters mit den dargestellten Figuren.52 Die farbliche Gestaltung des Lianhuanhua beschränkt sich ausschließlich auf das Deckblatt, dass vollständig in roter Farbe illustriert wurde. Innerhalb des Lianhuanhuas wurde sowohl für die textuelle als auch für die grafische Gestaltung schwarze Tinte verwendet. Einzig die auf der Sammelbox angebrachte Illustration ist zweifarbig in Gelb-Rot gestaltet. Sowohl in der Erzählstruktur als auch in der Panelgestaltung unterscheidet sich der chinesische Lianhuanhua gravierend von der Struktur der gängigen westlichen Comics. Im hier vorliegenden Lianhuanhua füllt das Panel – mit Ausnahme eines kleinen, fast freibleibenden Randes – die ganze Seite aus. Alle Panels weisen durchgängig dasselbe Format auf, das in zwei Bereiche unterteilt ist: Das obere Viertel ist ausschließlich dem Text vorbehalten, der die Geschichte – aller Wahrscheinlichkeit

52 Vgl. Scott McCloud. Comics richtig lesen. Hamburg: Carlsen Comics, 2015, 39 ff.

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nach – frei nacherzählt.53 Der Text ist nicht an das jeweilige Panel gebunden, da er – erkennbar am fehlenden Punkt – über die Seiten hinausgeschrieben wurde. Das untere Dreiviertel des Panels, das mit einer schwarzen Linie von Text abgetrennt wird, ist vollständig mit der Illustration einer Szene ausgefüllt, in der sich ebenfalls vereinzelt chinesische Schriftzeichen befinden. Dabei könnte es sich entweder um wörtliche Rede oder um Lautmalerei handeln. Am äußeren linken bzw. rechten Seitenrand sind weitere Schriftzeichen vermerkt, die eventuell als Seitenzahl fungieren. Durch die klar strukturierte Text-Bild-Kombination werden die Bilder automatisch vom Rezipienten als Einheit hintereinander in Beziehung gesetzt. Die Übergänge zwischen den einzelnen Bildern springen in der Regel von Szene zu Szene,54 die durch den darüberliegenden Text beschrieben werden. Das nicht dargestellte Geschehen zwischen den Bildern muss demnach nicht von der Phantasie des Rezipienten ergänzt werden, da es bereits durch den Text vermittelt wird. Auf diese Weise würde der Lianhuanhua zwar ohne Bilder funktionieren, jedoch nicht ohne Text, da den Bildern nur eine den Text optisch ergänzende Funktion zukommt. Ein ähnliches Phänomen wie das hier dargestellte Lianhuanhua tauchte übrigens fast zeitgleich in Spanien in Form der sogenannten ›cromos‹ auf. Cromos sind kleine Sammelbilder oder -karten, die insbesondere von Konditoren oder Schokoladenfabrikanten ihren Produkten beigelegt wurden, um einen zusätzlichen Anreiz für den Erwerb ihrer Produkte zu geben. Kurz nachdem der Film All Quiet on the Western Front Ende 1930 Einzug in die spanischen Kinos hielt, erschien die 42 Karten umfassende cromos-Reihe Sin novedad en el frente. Wie im zuvor erwähnten chinesischen Lianhuanhua handelt es sich bei den auf den Karten abgebildeten Motiven ebenfalls um ›Standbilder‹ der US-amerikanischen Verfilmung.55

53 Da der Film bereits kurz nach Erschienen der US-amerikanischen Originalfassung in den chinesischen Kinos aufgeführt wurde, kann davon ausgegangen werden, dass er dort entweder als Stummfilm-Fassung oder in der englischsprachigen Originalfassung gezeigt wurde. Der Texter des Lianhuanhua wird die Geschichte, die er zuvor auf der Leinwand verfolgt hat, also mit seinen eigenen Worten nacherzählt haben. 54 Vgl. Abel/Klein, Comics und Graphic Novels, 85. 55 Weiterführende Informationen zu den spanischen cromos in: Georg Pichler. »Bunte Bildchen vom Krieg. Die spanischen cromos von Im Westen nichts Neues«. Thomas F. Schneider (Hg.). Remarque und die Medien. Literatur, Musik, Film, Graphic Novel. Göttingen: V&R unipress, 2019 (Erich Maria Remarque-Jahrbuch/Yearbook XXVIII), 33–44.

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Lisiben Zhi Ye (Shanghai, 1984) Inmitten des zuvor bereits erwähnten Lianhuanhua-Comebacks in den 1980er Jahren erschien der von Sha Tiejun adaptierte Comic Lisiben Zhi Ye, der auf Erich Maria Remarques Roman Die Nacht von Lissabon (1961/63) basiert. Der Verlag Shanghai People’s Fine Arts Publishing House veröffentlichte am 1. August 1984 in einer 264.000 Exemplare umfassenden Auflage den Lianhuanhua Lisiben Zhi Ye im gewohnten handflächengroßen Taschenformat (925 mm x 1250 mm). Die Illustrationen der in insgesamt 206 Bildern erzählten Geschichte stammen von Lin Cong und Wu Aiqin, über die jedoch kaum Informationen vorliegen.56 Der Verlag wurde 1952 in Shanghai gegründet und spezialisiert sich seither auf das Publizieren von Bildbänden auf den Themengebieten Malerei, Fotografie und bildende Kunst. Darüber hinaus veröffentlicht er Kunstmagazine, Poster, Wandkalender, Bücher zur eigenen Gestaltung und persönlichen Entfaltung sowie Lianhuanhua. Unter dem Motto ›spreading knowledge and accumulating culture‹ vermarktet er seine Produkte nicht nur in China, sondern auch im Ausland und kann bisher auf über 200 Auszeichnungen zurückblicken. Die Sparte der PopulärLiteratur, Neujahrsbilder, Poster und Lianhuanhua bietet den umfangreichsten und – so der Verlag – einflussreichsten Bestand auf dem chinesischen Markt mit einer großen Leser- und Abnehmerschaft. Darüber hinaus sind im Verlag zahlreiche, in der Branche äußerste berühmte Künstler angestellt, die für ein zusätzliches Maß an Reputation sorgen.57 Der Lianhuanhua Lisiben Zhi Ye weist in der Gestaltung viele Ähnlichkeiten zum bereits besprochenen Lianhuanhua auf, die insbesondere im Seitenlayout zu erkennen sind. Auch hier wird nur ein Panel pro Seite verwendet und ebenfalls durch Text ergänzt. Dieser befindet sich aber unterhalb der Illustration, die ca. vier Fünftel der Seite einnimmt. Umrandet ist die Illustration von einem nicht bedruckten Rand, der am unteren Seitenrand 210 mm Raum für den je nach Seite in seiner Länge variierenden Text bietet. Die Textlänge ist zudem auf die Seite beschränkt und wird nicht, wie im vorherigen Lianhuanhua, als fortlaufender Text über die Seitenbegrenzung hinweg eingesetzt. Zu Beginn des Lianhuanhua gibt es eine vollständig betextete Seite, wobei es sich um eine Einführung in den Roman, Informationen zu Erich Maria Remarque oder aber auch um ein Vorwort der Illustratoren, des Texters oder des Verlages handeln könnte.

56 Alle hier angegebenen Informationen entstammen der Rückseite des Lianhuanhuas und wurden von Chen Lyu (Universität Nanjing), die das Exemplar für das Erich Maria Remarque Friedenszentrum erworben hat, bestätigt. 57 »›About Publishing House.‹ Shanghai People’s Fine Arts Publishing House«. http://www.shrmbooks. com/english/index.jhtml (zuletzt aufgerufen am 29.05.2020).

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Abb. 4: Lisiben Zhi Ye. Shanghai, Panel 114.

Innerhalb der Bilder wird – bis auf wenige Ausnahmen (Abb. 4) – keine Schrift verwendet, wörtliche Rede ist im Text untergebracht, deutlich zu erkennen an den sporadisch auftauchenden Anführungszeichen. Die Textlastigkeit deutet darauf hin, dass die Geschichte hier ebenfalls in erster Linie über den Text erzählt und mithilfe der Illustrationen zusätzlich untermalt und vertieft wird. Die Panels sind mit arabischen Ziffern durchnummeriert, welche in gewisser Weise die Funktion einer Seitenzahl übernehmen. Der Einsatz der Farbe deckt sich mit der des Lianhuanhua von 1930, denn auch hier ist nur das Deckblatt farblich gestaltet, die Illustrationen und der Text im Inneren des Heftes sind ausschließlich mit schwarzer Tinte angefertigt worden. Der Lianhuanhua Lisiben Zhi Ye weist markante Unterschiede zum vorab erwähnten, 1930 erschienen Lianhuanhua zum Film All Quiet on the Western Front auf. Die wohl unverkennbarste Differenz ist in der grafischen Umsetzung der Figuren zu erkennen, die in ihren Proportionen und ihrer Anatomie sehr detailgetreu und realistisch sowie nach kaukasischem Vorbild gezeichnet worden sind. Auch die Gesichtszüge lassen, zumindest in den größeren Bildausschnitten, eine Interpretation der Mimik zu, die Charaktere wirken lebendiger und sind darüber hinaus auch eindeutig voneinander zu unterscheiden. Die Detailtreue findet sich auch in der Darstellung der Szenerien wieder, in denen mitunter auf

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Abb. 5: Lisiben Zhi Ye. Shanghai, Panel 34.

äußerst realistische Weise gezeichnete gotische Kirchen, weitläufige Landschaften und Fachwerkhäuser dargestellt sind. Trotz der Nähe zu deutschen Orten scheint es sich hier um ein fiktives Europa zu handeln, da sowohl Bauten als auch Landschaften nicht eindeutig verortet werden können (Abb. 5). Die Vorlage für die Comic-Adaption lässt sich – trotz nicht vorhandener Sprachkenntnisse – auf Erich Maria Remarques Romanvorlage Die Nacht von Lissabon zurückführen, die erstmals 1967 ins Chinesische übersetzt wurde. Zwar existierte damals bereits eine Verfilmung des Romans – der 1971 unter der Regie des tschechischen Filmregisseurs Zbyněk Brynych produzierte ZDF-Film Die Nacht von Lissabon –, jedoch lässt sich nicht nachvollziehen, ob er jemals im chinesischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Darüber hinaus wird bei einem Blick in den Lianhuanhua Lisiben Zhi Ye schnell ersichtlich, dass der Film nicht als Vorlage gedient haben kann, da einige im Lianhuanhua illustrierte Motive nur in der Romanvorlage wiederzufinden sind. Vollständig ausgespart wurden – zumindest auf grafischer Ebene – die sich am Lissaboner Hafen abspielende Rahmenhandlung, in der Remarque das Gespräch zwischen den beiden Flüchtlingen schildert. Stattdessen wird nur die Geschichte von Josef Schwarz erzählt: Sie beginnt in Österreich mit der Fälschung des Passes, mit dem Schwarz die Identität eines verstorbenen Wie-

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Abb. 6: Lisiben Zhi Ye. Shanghai, Deckblatt.

ners annimmt, um nach Deutschland zu seiner Frau Helen zurückzukehren. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden wird zwar im Lianhuanhua thematisiert, der Fokus liegt jedoch auf dem persönlichen Leidensweg des Flüchtlings Schwarz, der sich oft inmitten prekärer Situationen wiederfindet: die fortwährende Bedrohung durch Helens Bruder, den Gestapobeamten Georg Jürgens, die gemeinsame Flucht in die Schweiz und die darauffolgende Internierung in getrennten Lagern, aus denen sie entkommen können, und schließlich die Folter durch die Gestapo sowie der Kampf mit Georg auf Leben und Tod (der Mord selbst wird nicht dargestellt). Dass die Liebesgeschichte zwischen Josef und Helen in den Hintergrund gerückt ist, spiegelt sich bereits auf dem Deckblatt des Lianhuanhua wider (Abb. 6), das hinsichtlich seiner Gestaltung vielmehr den Eindruck eines ›actiongeladenen‹ Agententhrillers vermuten lässt als eine dramatische Liebesgeschichte. Es ist zu vermuten, dass der Schwerpunkt des Romans in der hier vorliegenden ComicAdaption auf die spannungsreichen Momente verlagert wurde, um so eventuell eine bestimmte Zielgruppe anzusprechen.

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Lisiben Zhi Ye (Hangzhou, 1984) Unter dem selben Titel wie der hier zuvor erwähnte Lianhuanhua wurde noch im selben Jahr eine zweite, ebenfalls auf dem Roman Die Nacht von Lissabon basierende Comic-Adaption veröffentlicht. Es handelt sich dabei um den 7-seitigen Comicstrip Lisiben Zhi Ye,58 der 1984 in dem chinesischen Kunstmagazin Fuchunjiang Pictorial erschienen ist. Fuchunjiang Pictorial erschien von 1967 bis 198859 im Zhejiang Renming Meishu Verlag (Zhejiang People’s Fine Arts Publishing House, nicht zu verwechseln mit dem oben genannten Shanghai People’s Fine Arts Publishing House) in Hangzhou, der in 22 Jahren insgesamt 430 Ausgaben des Magazins veröffentlichte. Zunächst wurde es unter dem Titel Worker, Peasant and Soldier Pictorial veröffentlicht, ab Januar 1981 wurde es, ohne Auswirkungen auf den Inhalt, in Anlehnung an den Fuchun River der Provinz Zhejiang, in Fuchunjiang Pictorial umbenannt. Die Namensänderung lässt die Mutmaßung zu, dass der neue Titel in seiner Kürze und seinem Bezug zur Region um den Fuchun River ansprechender auf die Leserschaft wirken sollte. Die Region ist insbesondere deshalb ein passender Namensgeber für das Magazin, da sie aufgrund ihrer Schönheit bereits seit Jahrzehnten ein beliebtes Motiv für Künstler ist. Der von Bergen umrahmte Fluss, der bekannt für seine schönen Farben ist, dient bis heute zahlreichen Kunstmalern, Schriftstellern und Dichtern als Thema für ihr Werk. Inhaltlich spezialisierte sich das Magazin größtenteils auf Comicadaptionen, die ihren Ursprung in ausländischer Literatur hatten. Darüber hinaus wurden Gemälde von chinesischen und ausländischen Malern abgedruckt, denen in manchen Fällen ein kurzer Einführungstext vorangestellt war. Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt des Magazins lag in der Verbreitung von Propaganda: Portraits berühmter chinesischer Politiker und ihre in Comic-Strips dargestellten ›Heldentaten‹ zierten das Magazin (eine sehr ähnliche Form der künstlerischen Propaganda findet man besonders in den 1980er Jahren ebenfalls in vielen ähnlich konzipierten Magazinen in der Sowjetunion). Viele im Fuchunjiang Pictorial veröffentlichte Werke wurden im Rahmen internationaler und nationaler Wettbewerbe ausgezeichnet.60

58 XiaoXiao/Yu Xiaofu. »Lisiben Zhi Ye«. Fuchunjiang Pictorial 9. Hangzhou: Zhejiang People’s Fine Arts Publishing House, 1984, 29–35. 59 Von 1967 bis 1980 wurde es unter dem Titel Gōngnóng Bīng Huàbào [eng.: »Workers, Peasants and Soldiers Pictorial«] veröffentlicht. Vgl. (https://www.jianshu.com/p/e37f22d04598; zuletzt aufgerufen am 24.04.2020). 60 Die Informationen wurden von April Yang, Lektorin im Shanghai Translation Publishing House, zur Verfügung gestellt, die im Rahmen dieser Arbeit kontaktiert wurde.

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Abb. 7: »Lisiben Zhi Ye«. Hangzhou, 35.

Der 1958 gegründete und noch heute publizierende Verlag Zheijang People’s Fine Arts Publishing House veröffentlicht vornehmlich hochwertige Kunstbücher, die sich auf Malerei, Neujahrsbilder und Lianhuanhua spezialisieren. Darüber hinaus sei es das ständige Bestreben des Verlagshauses, alle wissenschaftlichen, technologischen und kulturellen Kenntnisse zu verbreiten, welche die soziale Entwicklung des Landes voranbringen und das kulturelle und geistige Leben der Menschen bereichern.61 Die Besonderheit der hier vorliegenden Comic-Adaption des Romans Die Nacht von Lissabon liegt darin, dass sie auf den ersten Blick als eine Art Mischform aus Lianhuanhua und Manhua bezeichnet werden könnte, da sie evidente Merkmale aus beiden Genres aufweist. Der Lianhuanhua findet sich vornehmlich im Design der Text-Bild-Aufmachung wieder, die demselben Prinzip folgt, wie in den beiden 61 Vgl. http://mss.zjcb.com/content/id-1.html (zuletzt aufgerufen am 24.04.2020).

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bereits präsentierten Lianhuanhua. Die inhaltliche Segmentierung jedes Panels ist klar strukturiert und folgt einem festen Muster, das sich vom ersten bis zum letzten Panel wiederholt. Auch hier erfolgt eine Nummerierung der einzelnen Panels durch eine dem Text vorangestellte arabische Ziffer. Die Text-Bildbeziehung erfüllt dieselbe Funktion wie im vorab erwähnten Lianhuanhua. Erzählt wird die Geschichte in 63 hochformatigen Panels (3 x 3 pro Seite), die alle gleich strukturiert sind: Am oberen Rand befindet sich der in seiner Länge variierende, nur wenige Zeilen umfassende Text, der bisweilen auch durch entsprechende Anführungszeichen gekennzeichnete wörtliche Rede enthält. Als Autor wird ein gewisser XiaoXiao angegeben – vermutlich ein Pseudonym62 –, woraus sich schlussfolgern lässt, dass der hier integrierte Text nicht direkt der chinesischen Übersetzung des Romans entnommen wurde, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach von XiaoXiao gekürzt und eventuell sogar umformuliert wurde, um ihn der Größe des Panels und der verhältnismäßig geringen, vermutlich aber vorgegebenen Seitenzahl entsprechend anzupassen. Die dem Text zugehörige Illustration nimmt jeweils die unteren drei Viertel des Panels ein. Die Illustrationen wurden von dem seinerzeit in China sehr bekannten Maler Yu Xiaofu angefertigt. Yu Xiaofu wurde 1950 in Changzhou in der im Osten Chinas gelegenen Provinz Jiangsu geboren. 1978 schloss er sein Studium der bildenden Künste an der Shanghai Theatre Acadamy ab und setzte sein Studium unmittelbar danach am Institut für Ölmalerei und Skulptur in Shanghai fort, bevor er 1988 für weitere Studien nach Großbritannien umsiedelte. Heute lebt er wieder in China und ist in zahlreichen bedeutenden Kunstvereinigungen und -einrichtungen aktiv, unter anderem ist er der stellvertretende Vorsitzende der Shanghaier Zweigstelle der China Artists Association, in der er ebenfalls Mitglied ist. Ferner ist er der Geschäftsführer der Chinese Oil Painters Society und hat eine Gastprofessur an der School of Fine Arts der Shanghai University inne. Bekannt ist er in China insbesondere für seine zahlreichen preisgekrönten Ölgemälde, die zumeist einen starken geschichtlichen Bezug aufweisen und in deren Erzählszenen neben historisch realen Figuren oft auch ein Selbstportrait des Künstlers auftaucht.63 Neben seinen teils auf großflächigen Leinwänden angefertigten Ölgemälden interessierte sich Yu Xiaofu auch für eine andere Form der künstlerischen Gestaltung, und zwar für den seinerzeit wieder an Popularität gewinnenden Lianhuanhua, mit denen er in der Szene überaus erfolgreich war. Er gewann beispielsweise mit seinem SchwarzWeiß-Comic Roots, der auf dem gleichnamigen, 1976 erschienenen Roman von 62 Die Annahme, dass es sich bei dem Namen um ein Pseudonym handelt, stammt von April Yang, die bei der Zusammentragung der hier gemachten Angaben über den Lianhuanhua und das Fuchunjiang Pictorial Magazin äußerst hilfreich gewesen ist. 63 Vgl. »Yu Xiaofu«. Arcadja Auctions Results. http://www.arcadja.com/auctions/de/xiaofu_yu/­kunstler/ 125994/ (zuletzt aufgerufen am 25.05.2020).

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Alex Haley basiert, den zweiten Preis bei den 3. National Comic Awards.64 Mit seinem Comic Peace Pidgeon, den der Künstler je zur Hälfte in Schwarz-Weiß und in Farbe illustrierte, belegte er bei der ersten ›Youth Art Exhibition‹ im Jahr 1985 in Shanghai den ersten Platz.65 Auf einem chinesischen Online-Nachrichtenportal wird in einem Porträt des Künstlers kurz die übliche Arbeitsweise Yu Xiaofus bei der Erstellung eines Lianhuanhuas erläutert: Nachdem er einen Auftrag zur Illustrierung eines auf einer Romanvorlage basierenden Lianhuanhua akzeptiert hat, beschafft er sich zunächst das Original und studiert es sorgfältig. Zahlreiche von Yu Xiaofu illustrierte Romane66 sind seinerzeit bereits weltbekannt und stammen zumeist aus dem Ausland. Yu Xiaofu taucht im Zuge dieser Arbeit tief in die Atmosphäre der Romanvorlage ein, stellt Recherchen zu den sozialen und kulturellen Gegebenheiten von Ort und Zeit an und bringt sein neu erlangtes Wissen ergänzt durch seine Phantasie aufs Papier.67 Sein wachsendes Interesse an der Kunstform des Lianhuanhua wurde unter anderem durch die eigens für die Veröffentlichung von Comic-Strips gegründeten Magazine Lianhua Pictorial (herausgegeben ab 1951 im People’s Fine Arts Publishing House und seit 1999 im China Acadamy of Fine Arts Publishing House) und dem zuvor bereits erwähnten Fuchungjiang Pictorial geweckt. Yu Xiaofu fertigte für die auf Remarques Roman basierende Comic-Adaption von Die Nacht von Lissabon ausschließlich schwarz-weiße Illustrationen an, in denen er sehr kontrastreich und ohne Schattierungen arbeitet. Die dargestellten Figuren sind eindeutig nach europäischem Vorbild gezeichnet, wirken bisweilen aber etwas unproportional. Der Zeichenstil erscheint auf den ersten Blick wenig detailgetreu – bisweilen sogar etwas ›ruckelig‹ – und ist auf das Wesentliche reduziert, die Gesichtszüge wirken kantig und kaum individuell. Die Proportionen der dargestellten Umgebung erwecken bisweilen ebenfalls einen etwas unrealistischen Eindruck, was insbesondere den oft nicht ganz stimmigen Größenverhältnissen der Figuren bzw. Gegenständen in Relation zur Kulisse geschuldet ist. Die kaum vorhandene, in die Illustrationen eingebundene Schrift ist überraschenderweise Deutsch, was vermutlich dem Zweck der gesteigerten Realistik dienen soll. Panel 6. lässt auf einer Telefonzelle das Wort ›elephon‹ erahnen – aufgrund der unzureichenden Qualität des vorliegenden Scans ist das ganze Wort nicht vollständig zu identifizieren – und Panel 55. das in Großbuchstaben geschriebene

64 Vgl. https://kknews.cc/culture/gbk9za8.html (zuletzt aufgerufen am 26.05.2020). 65 Vgl. »Hēibái căisè” xìliè liánhuánhuà dì 23 jí zhùmíng yìshùjiā – yúxiăofū (shàng)«, 27.09.2017. https://www.sohu.com/a/194991672_657240 (zuletzt aufgerufen am 26.05.2020). 66 Er illustrierte beispielsweise La Dernière Classe (1873) von Alphonse Daudet und Das Erdbeben in Chili von Heinrich von Kleist (1807). Vgl. ebd. 67 Vgl. Lianqu Zhaogang. »Zhùmíng liánhuánhuà jiā yúxiăofū hé tā de liánhuánhuà huòjiăng zuòpĭn ›gēn‹«, 27.09.2017. https://tinyurl.com/y7smxr93 (zuletzt aufgerufen am 26.05.2020).

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Abb. 8: »Lisiben Zhi Ye«. Hangzhou, 29.

Wort ›Achtung‹ auf einem Verkehrsschild erkennen. Wie der oben erwähnte, im selben Jahr veröffentlichte Lianhuanhua Lisiben Zhi Ye, ist auch dieses Werk nicht nach der Vorlage eines Films entstanden. Im direkten Vergleich der hier vorliegenden Comic-Adaption mit Remarques Roman auf der einen Seite und der TV-Verfilmung von Brynych auf der anderen Seite wird bereits auf der ersten Seite des Comics eindeutig ersichtlich, dass sich die Inhalte der Panels nach der Romanvorlage richten. Ein Beleg für diese Annahme sind die Panels 7.–9. (Abb. 8), die eine Szene im Roman wiedergeben, in der der Protagonist Josef Schwarz auf der Straße von einem SS-Mann um Feuer für seine Zigarette gebeten wird, woraufhin beide für ein kurzes Gespräch an Ort und Stelle verweilen. Diese Passage, die in Remarques Text nur einige Zeilen einnimmt68 und in der Verfilmung gar nicht erst umgesetzt ist, umfasst in der Comic-Adaption gleich drei Panels. Es ist ein unumstößlicher Beweis dafür, dass dem Zeichner Yu Xiaofu nicht die Verfilmung, sondern der Roman als Vorlage seiner Illustrationen diente, was eine bereits zuvor erwähnte, für den Künstler typische Herangehensweise bei der grafischen Umsetzung seiner Lianhuanhua ist. Die inhaltliche Umsetzung des Lianhuanhuas weist zahlreiche Differenzen zum o. g. Werk auf, was sich unter anderem in der hier berücksichtigten Rahmenhandlung – die Gespräche zwischen den beiden Flüchtlingen am Hafen von Lissabon – zeigt. Eine weitere Abweichung findet sich im Mord an Georg, der in den Illustrationen (54.–55.) von Xiaofu dargestellt wird. Die Geschichte beschränkt sich zwar nur auf einige ausgewählte Aspekte der Romanvorlage, scheint diese dafür aber in umfassendem Ausmaß wiederzugeben. So nimmt beispielsweise die Szene, in der Josef Helen besucht und sich vor ihrem Bruder verstecken muss, 68 Erich Maria Remarque. Die Nacht von Lissabon. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (kiwi 1577), 46–47.

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gleich fünf Panels (15.–19.) ein, wohingegen die Flucht aus dem Internierungslager nur in einem Panel (36.) dargestellt wird. Die Darstellung sowohl der Liebesgeschichte als auch der von Schwarz durchlebten Odyssee ist hier weitestgehend in ausgeglichenem Maß wiedergegeben.

Gaeseonmun (Paju, 2005) Bei diesem Werk handelt es sich keineswegs um einen Comic im klassischen Sinn, sondern vielmehr um ein für den schulischen Gebrauch vorgesehenes Bilderbuch (Abb. 9). Dennoch findet das Buch in diesen Beitrag Einzug, da es zum einen Comic-ähnliche Merkmale aufweist und zum anderen für die Remarque-Rezeption im asiatischen Sprach- und Kulturraum beispielhaft ist.69 Gaeseonmun (Arc de Triomphe) erschien 2005 im Samsung Book & Communication (B&C) Verlag in Paju, Südkorea. Adaptiert wurde das 121 Seiten umfassende Kinder- und Jugendbuch von Kim So-yeon, die zahlreichen Illustrationen stammen von Kim Tae-ran, deren Illustrationen ebenfalls in anderen Büchern dieser und anderer Reihen zu finden sind. Der Verlag hat 23 verschiedene Buchreihen herausgegeben, die sich an Kleinkinder, Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters richten. Mittels der Inhalte soll den Kindern Wissen über Naturwissenschaften, Philosophie, Kunst, Geschichte, Literatur und weiteren Themengebieten auf mitunter spielerische Weise vermitteln werden. Die Buchreihen richten sich nach diesen thematischen Schwerpunkten und variieren in ihrem Umfang und der Anzahl der Bücher innerhalb einer Reihe. Auch die Gestaltung der Bücher ist nicht einheitlich: Es gibt Comics, Bilderbücher und Sachbücher, die in ihrer jeweiligen Textgestaltung dem Alter der Zielgruppe angepasst sind. Der Lerncharakter der Buchreihen wird in einigen Ausgaben durch ergänzende CD-ROMs verstärkt, mit denen die Kinder vertiefende Einblicke am Computer erhalten. Auf ihnen sind weiterführende Informationen gespeichert, und in kleinen Spielen mit Quiz-Charakter kann das im Buch vermittelte Wissen direkt angewandt werden.70 Die hier maßgebliche Reihe ›Masterpieces of World Literature‹ umfasst insgesamt 64 Bücher, deren nicht weiter spezifizierte Unterkategorien jeweils zwischen 69 Auf eine eingehende Einführung in die koreanische Comic-Tradition wird an dieser Stelle verzichtet, da der in Gaeseonmun zum Einsatz gebrachte Zeichenstil insgesamt der westlichen Comic-Stilistik zugeordnet werden kann. Darüber hinaus wird der koreanische Comic – auch unter der Bezeichnung ›Manhwa‹ bekannt – aufgrund seines Zeichenstils oft mit dem japanischen Manga verwechselt, der sich jedoch substanziell von den in Gaeseonmun integrierten Zeichnungen unterschiedet. Vgl. Lent, Asian Comics, 77. 70 Vgl. »Doseomoglog«, http://www.samsungbnc.com/bbs/content.php?co_id=careclass (zuletzt aufgerufen am 04.06.2020)

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Abb. 9: Gaeseonmun. Paju: Samsung Book & Communication, 2005, Buchcover.

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6 bis 10 Bücher umfassen, darunter Werke von Hemingway, Dostojewski, Victor Hugo und Charlotte Brontë. Empfohlen werden die Bücher für den Grund- und Sekundarlehrplan. Die Reihe verfolgt ebenfalls ein pädagogisches Ziel: Sie soll Kindern und Jugendlichen einen Überblick über wichtige Werke der Weltliteratur vermitteln, ohne dafür jedoch gleich das ganze Werk gelesen haben zu müssen. Unter den ersten zehn Büchern der Reihe ›Theme 1: World Literature 01–10‹ befindet sich auch Erich Maria Remarques Roman Arc de Triomphe (Gaeseonmun). In verständlicher Sprache – die Sätze sind sehr kurzgehalten –, vielen farbigen Illustrationen und abschließenden Fragen – vermutlich zur Überprüfung des Erlernten – soll der Inhalt gefestigt werden.71 Auf textueller Ebene konnten aufgrund fehlender Sprachkenntnisse noch keine Untersuchungen vorgenommen werden, jedoch lässt sich aus dem Umfang des Textes zweifellos die Schlussfolgerung ziehen, dass er stark für den schulischen Gebrauch gekürzt wurde – schließlich umfasst das Original in der koreanischen Übersetzung je nach Ausgabe zwischen 400 und 600 Seiten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde im Zuge dessen auch das sprachliche Niveau an das Alter der anzusprechenden Kinder angepasst, da die Sätze äußerst kurz sind. Einige Sätze wurden vereinzelt farblich hervorgehoben, es lässt sich jedoch kein Muster erkennen, das auf eine dahingehende Funktion der Markierungen hindeutet. Auch die im Buch erfolgte Kapitelunterteilung ist auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar: Das Buch ist in zwei Teile mit jeweils vier bzw. fünf Kapiteln unterteilt, der Roman hingegen umfasst 33 Kapitel. Vermutlich handelt es sich um eine eigens vom Texter vorgenommene Gliederung, die sich nach inhaltlichen Sinnabschnitten richtet. Der Text, der den Hauptbestanteil des Buches ausmacht, wird in unregelmäßigen Abständen durch Bilder ergänzt, die in ihrer Größe stark variieren – die Bandbreite reicht hier von einer kleinen Ecke (z.B. S. 75) bis hin zum Ausfüllen einer ganzen Seite (z.B. S. 63). Im 9-seitigen Anhang findet sich zusätzlich zum bereits erwähnten, neun Aufgaben umfassenden didaktischen Teil eine Doppelseite mit Informationen zum Schriftsteller Erich Maria Remarque.72 Die Illustrationen sind sehr kindgerecht gezeichnet, sie sind farbenfroh gestaltet, wobei sie in keiner Weise knallig oder grell wirken, da sich die Farbwahl eher an kühle, erdige Töne hält. In Anbetracht der Thematik des Romans erscheint der Einsatz der hier ausgewählten Farbpalette weitestgehend passend gewählt. Die im westlichen Zeichenstil dargestellten Figuren weisen, trotz ihrer Erscheinung als eine offensichtlich erwachsene Person, äußerst kindliche Züge auf. Die kaum vorhandenen Gesichtszüge wirken sehr ›cartoonhaft‹: Zwei Kreise dienen als Augen, 71 Vgl. ebd. 72 Gaeseonmun, 114–115.

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Abb. 10: Gaeseonmun. Paju: Samsung Book & Communication, 2005, Seite 46.

der Mund ist nur als Strich oder Kreis dargestellt, und die vergleichsweise extrem groß gezeichnete Nase lassen die Gesichter beinahe niedlich erscheinen. Trotz der stark vereinfachten Gesichtszüge lassen sich bisweilen verschiedene Emotionen wie Trauer, Verzweiflung, Angst oder Wut in den Gesichtern der Figuren erkennen. Eigenartig erscheint der Stil der Kleidung, da er – insbesondere in Hinblick auf die Kleider von Joan Madou – ein wenig an das viktorianische Zeitalter erinnert, obwohl der Roman kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Frankreich spielt. Die Illustrationen lassen darauf schließen, dass sich das Buch inhaltlich auf die Liebesgeschichte von Ravic und Joan Madou fokussiert, da die beiden auch den Großteil der dargestellten Figuren einnehmen. Zwar wird die Folter-Szene durch den Gestapo-Agenten Haake dargestellt (Abb. 10), andere ›grausame‹ Szenen, wie

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beispielsweise der Mord an ihm werden jedoch, ganz im Sinne eines Kinderbuches, nicht illustriert. Die Wahl des Verlages Samsung B&C, den Roman Arc de Triomphe in ihrer Reihe ›Masterpieces ot World Literature‹ zu adaptieren, lässt sich in Anbetracht der eingangs vorgebrachten Feststellung bezüglich der Remarque-Rezeption in Korea leicht nachvollziehen: Seit den 1950er Jahren zählt gerade dieser Roman in koreanischer Übersetzung zu den auflagestärksten Romanen Remarques und war wiederholt unverzichtbarer Bestandteil sogenannter ›Weltliteratur-Sammlungen‹.

All Quiet on the Lawson Front (Kyoto, 2011) Den Abschluss dieser Betrachtung asiatischer Comic-Adaptionen des Werks Remarques bildet All Quiet on the Lawson Front, der im Stil des vermutlich bekanntesten Comic-Formates aus dem asiatischen Sprach- und Kulturraum produziert wurde: dem Manga. Der japanische Manga weist wie auch die Gattung des Lianhuanhua eine lange Historie auf, die bis in das 8. Jahrhundert zurückreicht und ebenso schwer auf ein spezifisches Ereignis oder Datum zurückzuführen ist wie sein chinesisches Äquivalent. Der Begriff ›Manga‹ setzt sich aus den beiden Silben ›man‹ – was mit ›zufällig‹ oder ›zusammenhangslos‹ übersetzt werden kann – und ›ga‹, was ›Bild‹ bedeutet. Trotz der sich nach Zusammenfügen der Silben ergebenden Bedeutung handelt es sich beim Manga keineswegs um zusammenhangslose Bilder, sondern vielmehr um eine »literarische Form des Erzählens«.73 Die Entstehungsgeschichte des Mangas steht im Folgenden jedoch nicht im Fokus der Untersuchung, weshalb an dieser Stelle lediglich kurz in die Bedeutung dieses Comic-Formates eingeführt werden soll. Mangas nehmen in der heutigen Zeit einen sehr hohen Stellenwert in der japanischen Kultur ein, da sie mitunter sogar Einzug in das Schulcurriculum halten. Ihre Zeichner – Mangaka genannt – sind in der Szene nicht selten hoch angesehene Berühmtheiten, die oft eine künstlerische Ausbildung vorweisen können. Die typischen Merkmale eines japanischen Mangas finden sich beispielsweise in der Farbgestaltung, die sich – mit Ausnahme des bunt gestalteten Deckblattes – auf den Gebrauch von Schwarz und Weiß beschränkt. Die Leserichtung ist japanisch, sie erfolgt demnach von rechts nach links.74 Die Text-Bild-Beziehung unterscheidet sich substanziell von der des Lianhuanhua, da im Manga nicht der Text überwiegt

73 Eva Mertens. »Mehr als ›nur‹ Manga und Anime: Geschichte, Verlage, Künstler und Fernsehsender«. Die Manga- und Animeszene stellt sich vor. Hamburg: Diplamica, 2012, 17. 74 Vgl. ebd.

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und Informationsträger ist, sondern die Bilder in erster Linie die Geschichte erzählen. Die Themen der Mangas sind äußerst vielfältig, weshalb sie auch eine sehr breite Leserschaft ansprechen, die sich auch auf internationalem Terrain findet: Manga adaptieren und integrieren fremde Alltagsphänomene aller Art, ebenso wie kulturelle, sprachliche, literarische, ökonomische und soziale Erscheinungen. Sie erweisen sich damit in gewissem Sinne als eine Literatur der Globalisierung, d.h. dem Umstand ihrer mittlerweile weltweiten Rezeption entspricht eine strukturelle und inhaltliche Ausformung, die ohne den Rückgriff auf die zahllosen fremdkulturellen Topoi nicht denkbar wäre.75

Die vermutlich größte Plattform für professionelle Mangaka, aber auch für Hobbyund Amateur-Zeichner – Dōjin76 genannt – findet sich im Internet. Dort gibt es unzählige, eigens für die Veröffentlichung der im Selbstverlag herausgegebenen Mangas initiierte Plattformen, auf denen jede dort registrierte Person ihre eigenen Werke einer breiten Community online zur Verfügung stellen kann. Auf einer dieser Plattformen, »Mangadex«,77 wurde auch das Werk All Quiet on the Lawson Front in der Kategorie ›Dōjinshi‹78 entdeckt, das 2011 unter dem Pseudonym Gunba veröffentlicht wurde. ›Dōjinshi‹ werden auch als ›Fan-Art‹ oder ›Fanzine‹ (ein Kofferwort aus den englischen Begriffen ›fan‹ und ›magazine‹) bezeichnet, für deren Vertrieb darauf spezialisierte Ladenketten genutzt und sogar eigene Messen veranstaltet werden.79 Laut Definition umfasst Fan-Art »›any amateur art for a specific TV show, movie, book, or other media event not owned or created by the artist,‹ and it generally includes art ›that is drawn or painted either traditionally or digitally‹«.80 Der von Gunba getextete und illustrierte, 31 Seiten umfassende Manga liegt ausschließlich in digitaler Form vor und wurde bereits ins Englische und Russische übertragen – an beiden Übersetzungen war der Künstler nicht beteiligt.81 75 Bernd Dolle-Weinkauff. »Manga – Eine Literatur der Globalisierung?«. Bernd Dolle-Weinkauff, Hans-Heine Ewers-Uhlmann, Carola Pohlmann (Hgg.) Kinder- und Jugendliteraturforschung (2004/2005). Frankfurt a/M u.a.: Peter Lang, 2005, 99–110, hier: 102f. 76 Als ›Dōjin‹ bezeichnet sich Gunba selbst in einer Nachricht vom 08.06.2020. 77 »All Quiet on the Lawson Front«. https://mangadex.org/title/1136/all-quiet-on-the-lawson-front (zuletzt aufgerufen am 07.05.2020). 78 Der Begriff ist eine Abkürzung der japanischen Worte ›dōjin zasshi‹, die übersetzt ›Zeitschrift von und für Gleichgesinnte‹ bedeuten. Vgl. »Dōjinshi«, Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. https:// de.wikipedia.org/wiki/D%C5%8Djinshi (zuletzt aufgerufen am 07.05.2020). 79 Vgl. ebd. 80 Valeria Franceschi. Exploring Plurilingualism in Fan Fiction. ELF Users and Creative Writers. Cambridge: Cambridge Scholars Publishing, 2017, 30. 81 Die Information wurde der Autorin von Gunba am 08.06.2020 mitgeteilt. Die Kontaktaufnahme erfolgte über das Onlineportal pixiv.net.

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Abb. 11: Cover All Quiet on the Lawson Front (2011) Abb. 12: Japanisches DVD-Cover All Quiet on the Western Front (2011)

Thematisch rezipiert der Manga nicht das Werk Remarques, sondern handelt von einem fiktiven Kriegsschauplatz, in dem sich drei Mitarbeiter einer LawsonSupermarktkette wiederfinden: Tashigi, Sempai und der ›Manager‹ verteidigen ihren Supermarkt, der sich inmitten einer umkämpften Zone zwischen Ost- und Westfront befindet. All Quiet on the Lawson Front ist in drei Kapitel unterteilt: »Chapter One: Good Morning, Lawson«, »Chapter Two: A Store too Far« und »Chapter Three: The Guns of Lawson«. Filmkundigen Lesern wird spätestens jetzt schnell ersichtlich, dass sich Gunba in seinem Manga zahlreichen US-amerikanischen Klassikern der Filmgeschichte bedient hat. Allem voran bezieht sich der Titel – das wurde vom Künstler selbst bestätigt – auf die US-amerikanische Remarque-Verfilmung All Quiet on the Western Front (1930) von Lewis Milestone. Die Betitelung der jeweiligen Kapitel sind unverkennbare Anspielungen auf Barry Levinsons Good Morning, Vietnam (USA, 1987), A Bridge Too Far (USA, 1977) von Richard Attenborough sowie den Oscar-prämierten Kriegsfilm The Guns of Navarone (USA/GB, 1961) von J. Lee Thompson. Auch innerhalb des Mangas finden sich insbesondere auf visueller aber auch auf textueller Ebene unzählige Anlehnungen an Hollywood-Blockbuster. Bereits auf dem Cover (Abb. 11) bezieht sich Gunba auf zwei Meisterwerke der Filmgeschichte: Zum einen ist hier eine sehr detaillierte Abbildung des Helms aus Stanely Kubricks Full Metal Jacket (GB/

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USA, 1967) nachgezeichnet worden, der auch vom Haupthelden Tashigi im Manga getragen wird – wenngleich mit einer kleinen Abwandlung bezüglich der Aufschrift: Aus »Born to Kill« wird in Anlehnung an die Tätigkeit des Protagonisten – er ist Teilzeitangestellter in einem ›Lawson‹-Supermarkt82 – »Born to Sell«. Die Anspielung auf den Supermarkt findet sich ebenfalls im Titel des Mangas wieder: All Quiet on the Lawson Front. Zusätzlich zum Titel gibt es noch eine weitere essentielle Verbindung zu Lewis Milestones Werk, die insbesondere heutzutage ein symbolträchtiges Bild in Verbindung zur Verfilmung darstellt. Es handelt sich um das berühmte Bild des Schmetterlings, nach dem Paul Bäumer aus dem Schützengraben heraus seine Hand ausstreckt und dabei von einem französischen Scharfschützen erschossen wird. Ein Blick auf das Cover der aktuell im japanischen Handel erwerblichen Universal Pictures DVD (Abb. 12) belegt, dass sich Gunba bei der Gestaltung seines Titelblattes vom Design der DVD hat inspirieren lassen. Auch im Manga selbst findet sich ein Bezug zum Filmtitel, wo es im letzten Panel heißt: »It’s all Quiet…on the Lawson Front.«83 Innerhalb des Mangas gibt es zahlreiche Anspielungen auf weitere, große Hollywood-Produktionen im Genre des Kriegsfilms wie mitunter aus den Klassikern Platoon (USA, 1968), Francis Ford Coppolas Apocalypse Now (USA, 1979), We Were Soldiers (USA/D, 2002) und dem Biopic Patton (USA, 1970). Aus dem Film Black Hawk Down (USA, 2001) von Ridley Scott übernimmt Gunba gleich eine ganze Szene und setzt sie in acht Panels im zweiten Kapitel um. Zu sehen ist ein Black-Hawk Hubschrauber, der auf die selbe Weise wie im Film – durch den Einsatz einer Panzerfaust – zum Absturz gebracht wird.84 Wie Gunba bereits zu Beginn des Mangas schreibt (»This is a work of fiction. Any resemblance to actual persons, organizations, or Lawson employees is purely coincidental«85), handelt es sich bei diesem Werk zweifelsohne um Fan-Art. In diesem Fall stellt das Werk eine Hommage an die vom Illustrator hochgeschätzten Kriegsfilme dar. Die in und um den Supermarkt angesiedelte Szenerie ist einer zur Entstehungszeit des Mangas erhöhten medialen Berichterstattung über die Lawson-Supermarktkette geschuldet, die den Künstler die Idee zum Manga geliefert hat.86 Zwar rezipiert der Manga inhaltlich nicht den auf Erich Maria Remarques Roman basierenden Film All Quiet on the Western Front, dennoch ist durch den unverkennbar an die Verfilmung angelehnten Titel und die weiteren Gestaltungs82 Lawson ist Japans zweitgrößter Convenience-Store-Betreiber. Vgl. »Lawson (Handelskette)«, https:// de.wikipedia.org/wiki/Lawson_(Handelskette) (zuletzt aufgerufen am 12.05.2020). 83 Gunba. All Quiet on the Lawson Front. Kyoto, 2011, 31. 84 Vgl. ebd, 15. 85 Ebd, 2. 86 Mitteilung von Gunba über das Portal pixiv.net, 08.06.2020.

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elemente ein eindeutiger Remarque-Bezug erkennbar. Hierzu äußert sich Gunba wie folgt: The title came from the 1930 movie, which is an important war movie for me in the sense that it was made during the interwar period. […] After the war, the tragedy of World War II occurred after the development of anti-war thought, and I think that what humanity experienced during World War I and the interwar period became meaningful.87

Schlussbetrachtung Die Remarque-Rezeption im ostasiatischen Sprach- und Kulturraum ist bislang ein nahezu unerforschtes Gebiet und bedarf einer eingehenderen Studie, insbesondere im Hinblick auf die Existenz der auf Erich Maria Remarques Werk basierenden Comic-Adaptionen. Trotz des Umstandes, dass in diesem Beitrag keine textbasierten Untersuchungen angestellt werden konnten, ließen sich dennoch allein auf Grundlage des kulturhistorischen Kontextes der ostasiatischen Comic-Traditionen in Verbindung mit einer auf die optische Gestaltung der Comics reduzierten Analyse erste Schlüsse ziehen. Im China der 1930er Jahre war der Lianhuanhua ein besonders unter Kindern, ungebildeten Menschen und Angehörigen aus der sozialen Unterschicht beliebtes und verbreitetes Medium. Maßgeblich für den Erfolg waren mitunter die einfache Sprache und der hohe Unterhaltungswert der kleinen Bilderbücher, die darüber hinaus auch noch erschwinglich waren. Mit der Erfindung des Films wurde dem Lianhuanhua eine neue Funktion zuteil: Er sollte Menschen, die nicht über die finanziellen Mittel für einen Kinobesuch verfügten, einen anderen Weg bieten, sich an dem Medium erfreuen zu können. Mit den auf den Kinofilmen basierenden Lianhuanhua war vermutlich eine erste Form der Filmpiraterie entstanden, die auch minderbegüterten Menschen das Gefühl gaben, Teil des öffentlichen kulturellen Lebens zu sein. Auch in die Kunstwelt hielten Lianhuanhua in Form kreativ gestalteter Literatur-Adaptionen Einzug, die bisweilen von renommierten Künstlern angefertigt und nicht selten mit Preisen ausgezeichnet wurden. Sie fungierten parallel sowohl als Ausdruck künstlerischer Fähigkeiten angesehener Maler, als auch als ein spannende Geschichten erzählendes Unterhaltungsmedium.

87 Ebd.

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In Korea, das mitunter für sein strenges Schulsystem bekannt ist, werden Literatur-Adaptionen im Comic-Format noch heute als Lehrmaterialien eingesetzt, um den Schülern das Wissen auf spielerische Art zu vermitteln. Mangas sind nicht nur in ihrem Herkunftsland Japan bekannt, sondern erfreuen sich mittlerweile einer internationalen Community, in der sowohl professionell ausgebildete Zeichner als auch Amateure für täglichen Nachschub von Mangas unterschiedlichster Thematiken sorgen. Auf unzähligen Internetportalen werden die Kreationen frei zugänglich gemacht, und nicht selten dienen sie ihren Künstlern dabei als Ausdruck der individuellen Vorlieben und eigenen Persönlichkeit.

Ausblick In einer Folgestudie werden die hier aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse nur oberflächlich untersuchten Comic-Adaptionen tiefergehend analysiert. Dabei soll nicht nur der kulturhistorische Kontext der jeweiligen Comic-Traditionen beleuchtet werden, sondern darüber hinaus auch eine Untersuchung auf textueller Ebene stattfinden. Es gilt zu prüfen, auf welche Art und Weise die westlichen Inhalte der Romane Remarques in den ostasiatischen Comic-Adaptionen umgesetzt wurden. Bleiben sie erhalten oder erfolgt eine Assimilierung an die asiatische Kultur? Welche spezifischen Merkmale weisen die jeweiligen Adaptionen auf, welche Inhalte wurden aus Remarques Werk übernommen, welche ausgelassen? Auf all diese Fragen wurde hier nahezu ausschließlich durch das alleinige Betrachten der Comics eine erste Antwort geliefert, ohne jedoch den Anspruch auf Vollständigkeit erfüllen zu können. Da die hier vorgestellten Werke weitestgehend im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung entdeckt wurden, bleibt zu hoffen, dass noch zahlreiche weitere Adaptionen weltweit ›wiederentdeckt‹ werden. Sie würden die Remarque-Forschung auf diesem bisher unbekannten Gebiet einen großen Schritt voranbringen.

Marc Hieger

»La paz les molesta«* oder die Agonie der Heimkehr Alberto Breccias Comic-Adaption von Erich Maria Remarques Roman Der Weg zurück

Die europäische Comic-Szene bietet heute eine große Anzahl von Graphic Novels,1 die sich mit dem Ersten Weltkrieg befassen. Der französische Zeichner Jacques Tardi zeigt zum Beispiel in seinem Werk Grabenkrieg (1993) nicht das heldenhafte, ruhmreiche Streiten, sondern das fürchterliche Schlachten an der Westfront. In seinen Augen »gibt [es] keine Helden und keine Hauptperson in dem beklagenswerten kollektiven Abenteuer genannt Krieg«,2 wie es im Vorwort des Bandes heißt. Tardi stellt den Krieg fern jeglicher Glorie dar, und er muss sich nicht auf einzelne historische Ereignisse beziehen, um glaubhaft und authentisch zu sein. Es sind vielmehr typische und grausame Szenen des Frontalltags, die er in Augenhöhe der Protagonisten dem Leser vor Augen führt: Angriff- und Gegenangriff, Artilleriebeschuss und Rattenplage in den Gräben, Erschießungen wegen »Desertion«, verletzte, verkrüppelte und tote Soldaten und andere Gräuel. Die Alben Charley’s War (1979–1985) von Pat Mills und Joe Colquhoun schildern ebenfalls sehr eindrücklich die Kriegsereignisse und -leiden aus der Sicht britischer Infanteriesoldaten. Die im vergangenen Jahr erschienenen Reprints der Comic* Dt.: »Der Frieden stört sie.« Panel (P) 25, Erich Maria Remarque, Alberto Breccia. De regreso. Continuación de ›Sin novedad en el frente‹. Versión autorizada de la película universal del mismo nombre. Colección Aventuras (Buenos Aires) 2 (1947), 17 (07.01.1947). 1 Eine Graphic Novel, auch illustrierter Roman, Comic-Roman oder grafischer Roman genannt, bezeichnet grundsätzlich ein Werk, das episch, komplex und anspruchsvoll erzählen will. Der Begriff kann aber auch ein Format (z.B. ein Comic in Buchform), Genre oder eine Vermarktungsstrategie repräsentieren, vgl. online unter: https://www.britannica.com/art/graphic-novel/The-firstgraphic-novels (Stand: 07.11.2019). 2 Jacques Tardi (Text/Zeichnungen). Grabenkrieg. Zürich 2013, 4.

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Serie zeigen – zumindest trifft dies offensichtlich für Großbritannien zu –, dass der Erste Weltkrieg nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist.3 Warum ist die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts weiterhin im öffentlichen Bewusstsein präsent? Trifft dies auch auf uns Deutsche zu? Zu Beginn des Jahres 2008 verstirbt der letzte deutsche Soldat, der das fürchterliche Gemetzel an der Westfront miterlebt hat, und fast hätte niemand davon Notiz genommen.4 Der Erste Weltkrieg und das Werk von Erich Maria Remarque sind aber in der deutschen Comic-Szene durchaus präsent. Aus deutscher Produktion erscheint 2014 eine Graphic Novel zu Im Westen nichts Neues, in der von Peter Eickmeyer der Roman in Bildern und durch Gaby von Borstel in Texten umgesetzt wird.5 Hinsichtlich der Präsentation von Krieg und Gewalt fällt hier das Wechselspiel im Stil, also die »Darstellung der Katastrophe und der Katastrophe der Darstellung« auf, das im Comic strukturbildend wirksam ist.6 Betrachtet man die Thematik Erster Weltkrieg und das transportierende Medium Comic, könnten Zweifel aufkommen, ob sich beides angemessen und ansprechend miteinander verbinden lässt – zumindest für den Leser, dem anspruchsvolle Comics und ihre mittlerweile feste kulturelle Verankerung nicht vertraut sind. Dem Genre Comic ist in der Vergangenheit massiv vorgeworfen worden, dass es Literatur nicht angemessen adaptieren könne, weil es verkürze, verzerre, als Medium dem vorliegenden Stoff überhaupt nicht gerecht werden könne.7 Comics haben eine lange und wechselvolle Geschichte hinter sich, da sie zum einen mit lange anhaltenden »Kunst- und Schund-Debatten« in den USA, aber auch in der Bundesrepublik, überzogen worden sind. Zum anderen sind sie heute etabliert und werden als Kunst(-medium) gefeiert, was sich anhand der Bandbreite und hohen Qualität vieler Graphic Novel-Produktionen ablesen lässt.8 Besonders in den USA wird die Comic-Kultur seit dem 20. Jahrhundert immer weiter vorangebracht und ist bis heute, nach vielen Höhenflügen und Rückschlägen, ein fester Bestandteil aktueller 3 Vgl. Pat Mills (Text), Joe Colquhoun (Zeichnungen). Charly’s War: The Definitive Collection. Bd. 1: Boy Soldier; Bd. 2: Brothers in Arms; Bd. 3: Remembrance. Oxford 2018. 4 Online unter: https://www.spiegel.de/einestages/erster-weltkrieg-a-946560.html (Stand: 07.11.2019). 5 Peter Eickmeyer (Zeichnungen), Gaby von Borstel (Text). Im Westen nichts Neues. Eine Graphic Novel nach dem Roman von Erich Maria Remarque. Bielefeld 2014. 6 Oliver Jahraus. »Im Krieg vom Krieg in Bildern erzählen? Der Erste Weltkrieg als Katastrophe im Film.« Michael Braun u.a. (Hgg.). Nach 1914: Der Erste Weltkrieg in der europäischen Literatur. Würzburg 2017 (Film, Medium, Diskurs 76), 287. 7 Vgl. dazu: Dietrich Grünewald. »Zwischen banal und kongenial. Literarische Stoffe als Comic erzählt.« Kurt Franz, Günter Lange (Hgg.). Bilderwelten. Vom Bildzeichen zur CD-Rom. Baltmannsweiler 1999 (Schriftreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach e.V. 24), 99f. 8 Vgl. zum Stellenwert von Comic-Kunst und Graphic Novel: Marc Hieger. »Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues in der Comic-Adaption von Alberto Winston Breccia.« Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 29 (2019), 130ff.

Alberto Breccias Comic-Adaption des Romans Der Weg zurück

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Pop-Kultur. Hier werden 1952 Teile von Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues als Comic-Adaption in der Reihe Classics-Illustrated (Nr. 95) auf den Markt gebracht. Den Text gestaltet Ken Fitch, und Maurice DelBourgo ist für die Zeichnungen verantwortlich.9 Auch heute ist Remarques Im Westen nichts Neues ein Stoff, für den sich Comic-Zeichner weiterhin interessieren. Wayne Vansant beispielsweise hat im vergangenen Jahr eine im Stil zwar konventionelle, aber visuell sehr beeindruckende Comic-Version des Romans vorgelegt.10 Der Künstler betont die Verantwortung gegenüber dem Werk und damit die Notwendigkeit zur Detailtreue bei der Bearbeitung und Darstellung: »Adapting something as fine and important as Remarque’s work is something you cannot take lightly. You have to keep an eye on the details from beginning to end.«11

Alberto Breccia und seine literarischen Adaptionen Bereits Mitte der 1940er Jahre erscheinen auf dem südamerikanischen bzw. argentinischen Markt die ersten Comic-Adaptionen zu Remarques Romanen und deren Verfilmungen, die der gebürtige Uruguayaner Alberto Breccia (1919–1993)12 zeichnet: Sin novedad en el frente (Im Westen nichts Neues)13 und De regreso (Der Weg zurück).14 Die Graphic Novel Lovecraft (1973, nach H.P. Lovecraft) oder später Dracula (1990, nach Bram Stoker) sind herausragende Beispiele seiner späteren Adaptionen literarischer Werke. Breccia präsentiert sich vor allem im letzten Drittel seines Schaffens als eigenwilliger, visionärer Zeichner und Künstler.15 9 Vgl.: Thomas F. Schneider. »Erich Maria Remarque im Comic.« Erich Maria Remarque Jahrbuch/ Yearbook 17 (2007), 52. S. auch die Neuauflage des Comics: Ken Fitch (Text), Maurice DelBourgo (Zeichnungen). All Quiet on the Western Front by Erich Maria Remarque. Newbury, Berkshire 2019, online unter: https://archive.org/details/ClassicsIllustrated095AllQuietOnTheWesternFront/page/ n1 (Stand: 22.01.2020). 10 Wayne Vansant (Text/Zeichnungen). Erich Maria Remarque: All Quiet on the Western Front. Annapolis, Meryland, MD 2019. 11 Online unter: https://coolcomicreviews.com/2020/01/18/exclusive-interview-wayne-vansant (Stand: 22.01.2020). 12 Vgl. folgende Biografien: Roland Mietz. »Breccia. Eine Chronologie.« Reddition. Zeitschrift für Graphische Literatur (1993), 20, 9–12; Volker Hamann, Roland Mietz. »Alberto Breccia.« Reddition. Zeitschrift für Graphische Literatur (2018), 68, 26–29, sowie Rodolfo Santullo. »El Señor de las sombras: Alberto Breccia, a casi cien años de su nacimiento: un repaso de su carrera.« La Pupila 1 (2008), 5, 21–25. 13 Erich Maria Remarque, Alberto Breccia. Sin novedad en el frente. Versión autorizada de la película universal del mismo nombre. Colección Aventuras (Buenos Aires) 1 (1946), 10 (10.12.1946). 14 Remarque/Breccia, De regreso. 15 Siehe ausführlicher zum Werdegang Breccias auch meinen Beitrag zur Comic-Adaption des Romans Im Westen nichts Neues (Fußnote 8). Vgl. auch die Überblicksdarstellung zu Breccias Werk: Pablo Turnes. La excepción en la regla: La obra historietística de Alberto Breccia (1962–1993). Buenos Aires 2019 (Colección Historia del Arte Argentino y Latinoamericano).

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Seine beiden Comic-Adaptionen von Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück sind zwei Auftragsarbeiten aus der Anfangszeit seiner Karriere, die er in ihrer künstlerischen Qualität eher gering und als unausgereifte Produkte der Jugendzeit eingeschätzt hat. Dies kann der Grund dafür sein, dass beide Arbeiten vollständig aus dem Blickfeld geraten sind und heute nicht mehr als wichtiger Teil von Breccias Werk wahrgenommen werden. Im Gegensatz dazu fällt sein Sohn Enrique Breccia, der heute als etablierter und anerkannter Comic-Künstler in Italien arbeitet, ein positives Urteil über die Im Westen nichts Neues-Adaption seines Vaters, in der die beklemmende und bedrückende Atmosphäre des Romans eindrucksvoll wiedergegeben werde.16 Die Comics zu Remarques Romanen Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück sind in der Tat zwei zu unrecht vergessene Graphic Novels, sowohl was die gelungene Umsetzung der literarischen Vorlagen als auch ihre intensive Bildsprache angeht. Auf den folgenden Seiten werden exemplarisch Szenen aus Breccias Comic-Version von Der Weg zurück untersucht. Hierbei soll in erster Linie das inhaltlich-adaptive Vorgehen des Künstlers, also die Frage im Vordergrund stehen, wie er mit der literarischen Vorlage umgegangen ist. Bezüglich seiner Arbeitsweise, seines Mal- und Zeichenstils, sei auf andere Untersuchungen verwiesen.17 Es soll aufgezeigt werden, warum sie nach wie vor als Teil einer anspruchsvollen ComicLiteratur – und zwar nicht nur in Lateinamerika – zu werten sind.

Gesellschaftliche und politische Rezeptionsbedingungen des Romans Der Weg zurück Dem literarischen Welterfolg von Im Westen nichts Neues (1928/29) muss eine Fortsetzung folgen. Der Verlag Ullstein ist in hohem Maße an einem Folgeband interessiert, katapultiert sie doch Autor und Verleger in vermutlich weitere Höhen des literarischen und kommerziellen Erfolges. In einem Interview mit dem Journalisten Friedrich Luft berichtet Remarque 1963 vom hohen Erwartungsdruck, der damals auf ihm gelastet habe: Man hat mir gesagt, ich müsste ein zweites Buch schreiben, ich wollte es auch schreiben und es ging ganz gut […], muss ich sagen. Ich fand das

16 Vgl.: Virginia Gallardo, Marc Hieger. »Ecos de Erich Maria Remarque en Argentina.« Alice Cadeddu, Claudia Junk, Thomas F. Schneider (Hgg.). Weltweit Worldwide Remarque. Beiträge zur aktuellen internationalen Rezeption von Erich Maria Remarque. Göttingen 2020 (Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 30), 17. 17 Vgl. dazu z.B.: Michel Jans. »Alberto Breccia im Gespräch.« Comic!Info. Das Magazin für Comic, Cartoon, Trickfilm und Illustration 1 (1993), 41 oder Hieger, »IWnN in der Comic-Adaption«, 125–154.

Alberto Breccias Comic-Adaption des Romans Der Weg zurück

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Abb. 1: »In der Stellung [jedem] seine Ecke, sein Loch«. Zitat aus Remarque, Der Weg zurück, 2014, 14. Fotofeldpostkarte der 111. Infanterie-Division, Landwehr-Infanterie-Regiment Nr. 77 (Osnabrück), 08.05.1916, Privatbesitz. Der Text auf der Rückseite lautet: »Deutsche Soldaten auf Horchposten 50m vor dem Feinde.«

zweite Buch, das ich geschrieben habe, war notwendig nach dem ersten. Ich wollte es gerne schreiben und habe es auch fertig gemacht. Aber ich wusste ohne weiteres, dass das Buch zerrissen werden musste. […] Und war deshalb ganz erstaunt, dass es eine viel bessere Presse hatte, als ich glaubte.18

Bereits vor dem Abschluss von Im Westen nichts Neues im Herbst 1927 schwebt Remarque eine Trilogie vor. In dieser soll sein erster Roman als erster Teil fungieren, ein zweiter mit »Heimkehr der Korporalschaft V« betitelter Band folgen und schließlich ein noch unbetitelter dritter Teil die Probleme und schließlich das Scheitern heimkehrender Soldaten in der Zivilgesellschaft thematisieren. Noch vor dem Abdruck von Im Westen nichts Neues in der Vossischen Zeitung (1928) beginnt Remarque im gleichen Jahr an einer Fortsetzung zu arbeiten. Die geplanten

18 Friedrich Luft. »Das Profil. Gespräch mit Erich Maria Remarque«. SFB, 03.02.1963, 31:17 Min. (5:08–5:47 Min.), online unter: https://www.youtube.com/watch?v=aOzROBGLkpE (Stand: 27.04.2020).

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Teile zwei und drei gehen nun in Der Weg zurück auf.19 In den drei Romanen Im Westen nichts Neues, Der Weg zurück und Drei Kameraden (1936) wird schließlich die, anders als zuvor geplant, realisierte Trilogie gesehen, was der Autor in einem vorangestellten Motto im letztgenannten Roman bestätigt.20 1930 erscheint der Folgeroman von Im Westen nichts Neues als Vorabdruck wieder in der Vossischen Zeitung (ab 7. Dezember 1930), im nordamerikanischen Magazin Collier’s (ab 30. Dezember 1930) sowie in anderen ausländischen Zeitschriften und Zeitungen.21 Doch scheint Remarque die Fassung des Vorabdrucks nicht zu befriedigen, was fraglos mit seiner neuen Rolle als Bestsellerautor und seiner belasteten Psyche zusammenhängt. Der Autor sieht sich ständigen Anfeindungen seitens der nationalsozialistischen Presse ausgesetzt und verfolgt die gewalttätigen Übergriffe durch SA-Trupps während der Berliner Filmaufführungen von Im Westen nichts Neues mit. Unter der Leitung von Joseph Goebbels erreichen die Nationalsozialisten schließlich, dass weitere Vorführungen unterbleiben und der Film letztendlich verboten wird. Es wird letztlich ein »Feldzug gegen die Weimarer Republik« und die »Demontage der Demokratie«.22 Unter diesen Eindrücken stehend sucht Remarque im Dezember 1930 erneut Osnabrück auf, um die Vorabdruckfassung von Der Weg zurück für die Buchausgabe umfassend zu überarbeiten.23 Diese 19 Thomas F. Schneider. »Die Revolution in der Provinz. Erich Maria Remarque: Der Weg zurück (1930/31).« Ulrich Kittstein, Regine Zeller (Hgg.). »Friede, Freiheit, Brot!« Romane zur deutschen Novemberrevolution. Amsterdam 2009, 256, und Thomas F. Schneider. »›Das Leben wiedergewinnen oder zugrundegehen.‹ Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques Der Weg zurück.« Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. Roman. Mit einem Nachwort hg. von Thomas F. Schneider. Köln 2014, 395f. 20 »Das vorliegende Buch ist das dritte und letzte einer Reihe, zu der Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück gehören. Es hat im Grunde das gleiche Thema, die Frage, die in den ersten beiden Büchern für Hunderttausende gestellt wurde, kehrt hier wieder für einen einzigen Menschen. Es ist die Frage des Lebens und des Todes, die Frage: Warum?«, vgl. Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Roman. Köln 2014, 555. 21 Schneider, »Die Revolution«, 256; vgl. auch: Schneider, »Das Leben wiedergewinnen«, 395f, 402. Beachte das Verzeichnis vorhandener Notizen und Arbeitsmanuskripte zum Roman: Thomas F. Schneider. Erich Maria Remarque. Der Nachlass in der Fales Library, New York City University. Ein Verzeichnis. Bd. 1. Osnabrück 1991, 14–22, sowie die ausf. Darst. zur globalen Vermarktungs- und Publikationsstrategie: Alice Cadeddu. »Erich Maria Remarques Der Weg zurück – Eine weltweite Publikationsstrategie.« Erich Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 28 (2018), 45–65. 22 Hanns-Georg Rodek. »Im Westen nichts Neues. Als Goebbels über einen Film die Machtfrage stellte«, online unter: https://www.welt.de/kultur/history/article11368397/Als-Goebbels-ueber-einen-Filmdie-Machtfrage-stellte.html (Stand: 22.04.2020). 23 So werden politisch eindeutige Passagen entschärft bzw. ganz gestrichen: Das Schicksal von Unteroffizier Himmelstoß wird nicht mehr erwähnt; es fehlen die kritischen Reflexionen/Einlassungen zur gescheiterten Novemberrevolution, vgl.: Schneider, »Die Revolution«, 263f; ders.: »Anhang (zur Edition des Romans)«, in: Remarque, Der Weg zurück, 2014, 379–394 und 401–409. Der pessimistische Schluss der Zeitungsversionen (Vossische Zeitung, Collier’s Magazine) fehlt in der Buchausgabe, vgl. auch: Tilman Westphalen. »Nachwort. Kameradschaft zum Tode.« Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. Köln 1990, 327.

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wird in Deutschland, Großbritannien und den USA fast zeitgleich, am 30. April 1931,24 veröffentlicht. Noch vor Abschluss der Arbeiten am Roman werden die Filmrechte von Carl Laemmle (Universal Studios), der bereits für die Produktion von Milestones Im Westen nichts Neues verantwortlich gewesen ist, erworben.25 Der Ullstein-Verlag und seine Presseorgane berichten ausführlich und detaillierter als jede andere Tageszeitung über die Filmsabotage durch die Nazis und die Zensur durch die Filmoberprüfstelle des preußischen Innenministeriums. Zeitgleich wird der »neue Remarque« beworben und so Sensation und Skandal erfolgreich innerhalb einer ausgefeilten Werbestrategie eingesetzt.26 Die radikale Rechte schießt sich besonders auf Remarque ein, steht er doch für alles, was ihr verachtens- und hassenswert erscheint: pazifistisches und antimilitaristisches Denken, Völkerverständigung und Ausgleich zwischen den ehemals verfeindeten Nationen. Die Nationalsozialisten werden am 10. Mai 1933 seine Romane Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück im ganzen Land verbieten und verbrennen, um den »literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges«27 zu sühnen. In der Wochenzeitschrift Die Weltbühne, dem zentralen Publikationsorgan der bürgerlichen Linken, schreibt Kurt Tucholsky im Erscheinungsjahr von Der Weg zurück: Die Bilderbuchethik der braven und wilden Patrioten sei nicht angerührt. Denen war Remarque immer ein Stein im Schnürstiefel: er erschien ihnen zu pazifistisch, weil er statt unkontrollierbarer Schwammigkeiten sehr reale und konkrete Geschichten aus dem Kriege aufgemalt hat; das wollten sie nicht. Durchfall stört die Romantik: die falsche nämlich.28

Tucholsky lobt den Autor dafür, dass der Roman Im Westen nichts Neues jeglicher Art der Glorifizierung und Verharmlosung des Krieges entgegentritt und ihr vorbeugen will. Tucholsky und andere links-intellektuelle Autoren wünschen sich jedoch einen streitbareren Autor, der sich politisch äußern und dem Naziterror die Stirn bieten soll:

24 Schneider, »Die Revolution«, 257 und Schneider, »Das Leben wiedergewinnen«, 408. 25 Lorenz Maroldt. »Im Westen was Neues. The Road Back bei Berlinale Classics.« Der Tagesspiegel, 19.02.2016; online unter: https://www.tagesspiegel.de/kultur/the-road-back-bei-berlinale-classicsim-westen-was-neues/12984416.html (Stand: 07.11.2019). 26 Cadeddu, »Publikationsstrategie«, 56. 27 Die so genannte Bücherverbrennung war eine »Aktion wider den undeutschen Geist« der Deutschen Studentenschaft, vgl. dazu: Dieter Sauberzweig. »Die Hochschulen im Dritten Reich. Die geistige SA rückt ein – Aktionen wider den undeutschen Geist.« Die Zeit, 10.03.1961; online unter: https://www.zeit.de/1961/11/die-hochschulen-im-dritten-reich (Stand: 22.04.2020). 28 Ignaz Worbel (d. i. Kurt Tucholsky). »Der neue Remarque.« Die Weltbühne 27 (1931), 19, 732.

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Auf Remarque als Kämpfer können wir nicht zählen, seit er sich von dem Kammerjäger Goebbels so leicht hat besiegen lassen. Da hat nun schon mal einer von uns so einen großen Erfolg, daß er auf alles husten kann – und dann stellt er sich nicht heraus. Schade. Bleibt abzuwarten, ob man auf den Dichter Remarque in Zukunft wird zählen können.29

Für Tucholsky steht fest, dass Remarques Nachfolgeroman von Im Westen nichts Neues nicht an den Erfolg des Vorgängerromans anknüpfen kann: Das neue Buch ist eine saubere und anständige Arbeit, nicht mehr und nicht weniger. Es ist ein Buch, das begrenzte Gültigkeit hat; nicht ausgeschlossen ist, daß es trotzdem im Ausland Erfolg hat. Während Im Westen nichts Neues für alle galt, gilt diese Schilderung nur für Deutschland.30

Remarque lege nicht erneut einen weltweiten Bestseller vor, sondern einen »deutschen« Roman, was den Vorwurf der Provinzialität beinhaltet. Die Aussagen des Werkes seien nicht verallgemeinerbar, daher nicht auf Nachkriegsgesellschaften in anderen Ländern übertragbar. In der langen Rückschau beurteilt man in einem Spiegel-Beitrag von 1952 den Roman ebenfalls als einen »nicht sehr erfolgreichen Aufguß« von Im Westen nichts Neues.31 In einem Interview mit der spanischen Tageszeitung ABC argumentiert Remarque 1930, dass das Werk ganz im Gegenteil auch für ein internationales Publikum von Interesse und für dieses lesenswert sei: Die Handlung findet natürlich in einem deutschen Rahmen statt. Aber ich glaube, dass Leser aus allen Ländern, die den Einfluss des Krieges gespürt haben – und welches Land hat ihn nicht gespürt? – in ihrem eigenen Land viele Analogien zu den Charakteren und den Umständen finden werden, mit denen sich mein Werk beschäftigt.32

29 Ebd., 733. 30 Ebd., 732. 31 »Remarque. Weltbürger wider Willen.« Der Spiegel, 09.01.1952, 23; online unter: https://www. spiegel.de/spiegel/print/d-21058617.html (Stand: 07.11.2019). 32 Span.: »La acción se desarrolla, naturalmente en un marco alemán, pero creo que los lectores de todos los países que hayan sentido la influencia de la guerra – ¿y qué país no la ha sentido? – encontrarán muchas analogias en su propio país con los personajes y las circunstancias de que mi obra se ocupa«; online unter: »La nueva novela del autor de Sin novedad en el Frente. Una conversación con Erich Maria Remarque.« ABC 26 (29.11.1930), 25; online unter: https://www. abc.es/archivo/ periodicos/abc-madrid-19301118-5.html (Stand: 25.04.2020).

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Tatsache ist, dass er mit seinem Literaturagenten Otto Klement den Roman Der Weg zurück international erfolgreich bewirbt und vermarkten lässt.33 Man kann Erich Maria Remarque als einen der wenigen republiktreuen Schriftsteller sehen, die in erster Linie die Lebenssituation zurückgekehrter Soldaten beschreiben wollen und dabei soziale Verhältnisse und Milieus ins Auge fassen, in denen sie sich selbst bewegen und in denen sie in die Zivilgesellschaft zurückkehren wollen.34 Es wird der Zusammenbruch der alten politischen und gesellschaftlichen Ordnung des Kaiserreichs gezeigt. In dieser Zeit des Umbruchs kehrt eine entwurzelte Generation zurück, die von der Schule aus direkt in den Krieg gegangen ist und jegliche Ziele im Leben verloren hat.35 In allen Romanen Remarques, die sich mit der Nachkriegszeit in der Weimarer Republik befassen, ist dies das zentrale Thema, z.B. auch in Drei Kameraden oder in der geschichtlich langen Distanz in Der schwarze Obelisk (1956). Die schwierige Rückkehr in die Zivilgesellschaft nach dem Krieg und die Verarbeitung privater und beruflicher Erfolge bzw. Misserfolge sind in seinen Romanen von großer Bedeutung und zeigen eine große Ehrlichkeit des Autors im Umgang mit der eigenen Vita. Natürlich kann man diese Werke nicht als rein autobiographische Texte lesen.36 Auch Der Weg zurück ist kein autobiographischer Roman, obwohl dies die ältere Forschungsliteratur nahelegt.37 Remarques »Weimar-Romane« spiegeln, reflektieren und fiktionalisieren aber ohne Zweifel wichtige Teile seiner Biografie: »Sie stellen für den Autor Vorlagen und Blaupausen [im eigenen Schreibprozess] dar […].«38

33 Vgl. dazu: Cadeddu, »Publikationsstrategie«, 54–65. 34 Brian Murdoch. »Innocent killing: Erich Maria Remarque and the Weimar anti-war-novels.« Ders. German literature and the First World War: the anti-war tradition. Farnham 2015 (Ashgate studies in First World War history), 142. 35 Ebd., 151. 36 Ebd., 578f. 37 Vgl. z.B.: Julie Gilbert. Opposite Attraction. The lives of Erich Maria Remarque and Paulette Goddard. New York 1995; Hans Wagener. Understanding Erich Maria Remarque. Columbia, SC 1991, zitiert nach: Schneider, »Die Revolution«, 267. 38 Thomas F. Schneider. »Ein ganz normaler Durchschnittsadoleszent. Zu Erich Maria Remarques Der schwarze Obelisk.« Erich Maria Remarque. Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend. Roman. Köln 2018, 579.

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Zur zeichnerischen Darstellung zentraler Motive des Romans Der Weg zurück Mit Alberto Breccias Remarque-Comics zu Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück liegen sowohl zwei werkgetreue Roman- als auch Film-Adaptionen vor, da es sich bei beiden Heften um Spin-Offs zu den US-Verfilmungen39 handelt. Sie erscheinen in der Colección Aventuras in Buenos Aires und sind vermutlich als Begleithefte zu den Filmen vorgesehen, wie es der Hinweis auf dem Umschlag des Im Westen nichts Neues-Heftes nahelegt.40 Mit ihnen kann das Publikum zuhause das cineastische Seh- und Hörerlebnis noch einmal nachvollziehen bzw. vertiefen. Im Folgenden sollen zentrale Teile seiner Comic-Adaption von Der Weg zurück untersucht und vorgestellt werden, um einen Einblick in die Arbeitsweise des Künstlers zu erhalten. Im begrenzten Rahmen dieses Beitrags kann jedoch kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden.. Alberto Breccia reduziert Remarques Roman Der Weg zurück auf 82 SchwarzWeiß-Bilder (sogenannte Panels).41 Eine Seite umfasst ca. 5–8 Panels, die durch Begleittexte bzw. Untertitelungen (Blocktexte) ergänzt werden. Anders als in seiner Comic-Adaption von Im Westen nichts Neues sind hier die Textanteile in den Untertitelungen erheblich größer. Grundsätzlich bilden die Panels einer Seite eine Erzähleinheit, d.h. sie visualisieren ein bestimmtes Handlungsthema, z.B. den Abmarsch von der Front (P. 1–5/6–10) oder die Entlassung aus dem Militär (P. 17–22). Nicht immer wird dies streng eingehalten, da der Zeichner an einigen Stellen ein oder mehrere Panels in die nächste Seite »hineinragen« lässt (vgl. z.B. das Treffen der alten Studienkameraden, P. 25–28 oder die Begegnung mit den Polizisten, P. 43–49). In der vorliegenden konventionellen Bildgestaltung werden nur quadratische und rechteckige Panels verwendet, das Rahmenraster und somit die Panelgröße variieren leicht. Die Panels sind auch häufig ineinander verschachtelt, und die Textteile blockweise als Untertitelungen eingefügt. Das Rahmenraster ist nicht unter- oder aufgebrochen, es ist in sich schlicht und statisch. Sprechblasen werden nur vereinzelt genutzt und mit einem geringen Textanteil versehen. Gedankenblasen fehlen im Comic hingegen ganz. Damit wird die Möglichkeit der Bewusstseinsdarstellung der Protagonisten stark eingeschränkt, was aber durch 39 Vgl. die US-amerikanischen Verfilmungen: All Quiet on the Western Front. USA 1930, Regie: Lewis Milestone, 136 Min. und The Road Back, USA 1937, Regie: James Whale, 97 Min. Vgl. dazu: Harley U. Taylor. Erich Maria Remarque: a literary and film biography. New York, Bern, Frankfurt/Main, Paris 1989 (American university studies: Serie 1, Germanic languages and literature 65), 90–91. 40 Der Hinweis auf dem Umschlagblatt lautet: »Versión autorizada de la película Universal del mismo hombre (autorisierte Version des Universal-Films des gleichen Autors) [gemeint ist hier E. M. Remarque].« Remarque/Breccia, De regreso. 41 Die Panels sind im Comic durchnummeriert und entsprechen in ihrer Anordnung der gewohnten Leserichtung.

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Panel 7: Figur Ernst Birkholz

den Begleittext kompensiert wird. An einigen Stellen werden die Gedankengänge der Figuren für den Leser in Form innerer Monologe sichtbar gemacht, z.B. »denkt« die Hauptfigur Ernst Birkholz laut: »La guerra pasó sobre nosotros como una aplanadora.« (P. 7)42 Diese Äußerung ist dem Roman wörtlich entnommen.43 Breccia verwendet viel Originaltext, z.T. ganze Passagen aus Remarques Der Weg zurück, und hält sich damit nicht nur in seiner zeichnerischen Darstellung eng an die Romanvorlage. Verbale Äußerungen der Figuren führen nur vereinzelt zu Dialogen (vgl. z.B. P. 14, 17, 27 oder 33), sie sind fast immer monologisch angelegt und kommentieren mehr das Geschehen aus der jeweiligen Figurensicht. Die Sprechblasen sind durchgängig eckig (im Gegensatz zu den heute meist gerundeten Sprechblasen) und nehmen somit die waage- und senkrechten Linien des Bilderrahmens bzw. Rahmenrasters auf.44 Sie fügen sich damit in das statische Konzept des Comics ein. Das Lettering der Blasen ist einheitlich. Es ist in (fetten) Drucktypen gesetzt und trägt nicht zur Modulation und Varianz der Figurenäußerungen bei. Die heute gängige Unterscheidung in Flüster- oder Schreiblasen gibt es nicht, ebenso

42 Dt.: »Der Krieg kam wie eine Planiermaschine über uns.« (P. 7) 43 Vgl.: »Der Krieg ist wie eine Dampfwalze über uns hinweggegangen.« Remarque, Der Weg zurück, 2014, 32. 44 Vgl. dazu: Jakob F. Dittmar. Comic-Analyse. Köln 2017, 100.

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wenig eine schriftliche Wiedergabe von Geräuschen (soundwords). Der große Anteil des Erzähl- bzw. Untertiteltextes erscheint ungewohnt und überladen, weil er den Aufnahmefluss der Leserinnen und Leser hemmt und damit heutigen Comic-Lesegewohnheiten entgegensteht. Zum Teil nehmen die Untertiteltexte bis zu einem Drittel oder sogar die Hälfte (vgl. P. 69 und 70) einiger Panels ein. In der Entwicklung des Comics setzt sich später die Sprechblase, die bis heute als comictypisch gilt, gegenüber dem Übergewicht der Untertitelungen durch.45 Bei Breccia hat sich dies augenscheinlich noch nicht vollzogen, denn umfangreiche Untertitelungen werden mit textlich stark reduzierten Sprechblasen, deren Aussagen damit umso mehr betont werden, kombiniert. Wie bereits erwähnt, entstammen die Untertiteltexte zu einem großen Teil der Romanvorlage. Der Beginn des 1. Kapitels wird fast wörtlich aus dem Originaltext übernommen. Wenn man diesen mit dem Comic-Text vergleicht, fällt auf, dass nur geringe Teile umformuliert bzw. weggelassen werden: Las grises columnas de soldados con sus uniformes descoloridos y sucios avanzan paso a paso. Los rostros hirsutos debajo de los yelmos de acero parecen vaciados por la miseria y el hambre. Demacrados y fundidos en las líneas trazadas por el terror, el coraje y la muerte. Avanzan silienciosos, sin muchas palabras, como habían avanzado por muchas carreteras y enfrenta­ do el fuego graneado, como habían sabido batirse junto a las alambradas y en los asaltos de las trincheras enemigas. Ancianos barbudos y jóvenes que no tienen aún veinte años. Sin embargo, no hay diferencia alguna entre ellos. Avanzan, paso a paso, enfermos, medio muertos de hambre, sangrando heridas, danzando en sus pupilas las imágenes recientes de tanto horror, tanta sangre y tanta muerte. Es el regreso.46 Über die Straßen aber ziehen Schritt um Schritt, in ihren fahlen, schmut­ zigen Uniformen, die grauen Kolonnen. Die stoppeligen Gesichter unter den Stahlhelmen sind schmal und ausgehöhlt von Hunger und Not, ausge­ mergelt und zusammengeschmolzen zu den Linien, die Grauen, Tapferkeit und Tod zeichnen. Schweigsam ziehen sie dahin, wie sie schon so viele Straßen entlang marschiert, in so vielen Güterwaggons gesessen, in so vielen Unterständen gehockt, in so vielen Trichtern gelegen haben, ohne viele Worte: so ziehen sie jetzt auf der Straße in die Heimat und den Frieden. Ohne viele Worte. Alte Leute mit Bärten und schmale, noch nicht zwanzigjährige,

45 Vgl.: Knigge/Arnold (Hgg.), Comics, 9. 46 Das erste einführende Panel des Comics enthält nur Erzähltext und liegt damit als einziges außerhalb der Panel-Zählung.

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Kameraden ohne Unterschied. Neben ihnen ihre Leutnants, halbe Kinder, aber Führer in vielen Nächten und Angriffen. Und hinter ihnen das Heer der Toten. So ziehen sie vorwärts, Schritt um Schritt, krank, halbverhungert, ohne Munition, in dünnen Kompagnien, mit Augen, die es immer noch nicht begreifen können: Entronnen der Unterwelt – den Weg zurück ins Leben.47

Da ein Comic zwangsläufig die Originalvorlage reduzieren muss, kann dies über zwei Wege geschehen: Zum einen durch Kürzungen oder Umformulierungen in den Untertitelungen, zum anderen natürlich durch die Panels, die mehrere Handlungsverläufe in sich aufnehmen und das Erzählte so weiter komprimieren. Die Texte ergänzen bzw. kommentieren die Handlung der Bilderfolge oder sie erzählen parallel weitere Episoden aus dem Roman. Breccia lässt einige zentrale Episoden des Romans Der Weg zurück außer Acht, wie z.B. die Begegnungen mit dem ehemaligen Feldwebel Seelig, ein Pendant zur Figur des Ausbilders Himmelstoß in Im Westen nichts Neues, mit Ernst Birkholz’ »Renommierverwandten« Onkel Karl, der sich als Etappenoffizier bereichert hat, oder auch die mit Scharfschütze Bruno Mückenhaupt, der feindliche Soldaten wie Schießbudenziele abgeschossen und eine Statistik darüber geführt hat. Diese Szenen des Romans zeigen die Unbelehrbarkeit und Immoralität bzw. die mangelnde Schuldfähigkeit ehemaliger Soldaten, die in dem vergangenen Krieg nach wie vor etwas Positives, Glorreiches sehen, an dem sie persönlich gewachsen sind oder der sie offensichtlich materiell vorangebracht hat. Dennoch fallen diese Episoden aus dem Comic weitestgehend heraus, und die Schuldfrage bzw. Reue eigener Kriegserfahrungen und -taten der Protagonisten wird nicht in dem Maße zu einem zentralen Thema gemacht, wie es in der Romanvorlage der Fall ist. Die Panelfolgen 13–15/19–20/68–69 bilden beispielsweise die zentrale Episoden um die Figur Oberleutnant Heel ab, in denen diese Thematik behandelt wird. Man kann feststellen, dass Bewegung, Dynamik und »Action« im Handlungsablauf nicht durch die verwendeten Texte vermittelt werden, sondern, ganz im Gegenteil, allein durch Breccias Zeichnungen. Der Erzähltext dient also der weitergehenden Information. Der Betrachter soll in dem vorgegebenen engen Umfang des Comics möglichst viele Handlungsdetails der Romanvorlage erhalten. Die Untertitelungen haben hier einen noch größeren Anteil als in seiner vorausgegangenen Adaption von Im Westen nichts Neues.48

47 Das im angeführten Beispiel kursiv Gedruckte fällt in der spanischen Übersetzung weg; Remarque, Der Weg zurück, 2014, 29. 48 Remarque/Breccia, Sin novedad en el frente.

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Der Protagonist im Roman Der Weg zurück heißt Ernst Birkholz, und er ist ebenfalls wie Paul Bäumer in Im Westen nichts Neues jung, kriegstraumatisiert und desillusioniert. Birkholz kehrt für Bäumer und somit stellvertretend für eine ganze Generation aus dem Krieg zurück, was auch durch die Analogie ihrer Namen deutlich wird. Beide Charaktere sind von der Schulbank direkt in den Krieg gezogen, der die grundlegende Erfahrung ihres bisherigen Lebens darstellt. Pauls temporäre und Ernsts endgültige Rückkehr aus dem Kriegsgebiet gerät in vielen Fällen zu einem regelrechten Desaster, und es bleibt trotz einer positiven Perspektive am Ende des Romans sowie des Comics offen, ob die Hauptfigur Ernst Birkholz wirklich in ein normales Leben zurückfindet und sich in ihrer Umgebung etablieren wird. Beide Figuren fühlen sich von ihrem früheren Leben abgeschnitten und spüren die vollständige Entfremdung von einem zivilen Leben, die in Orientierungslosigkeit mündet und dem Leser resignativ-melancholisch vor Augen geführt wird.49 Es ist jene innerlich verwüstete und zerstörte Generation, die im Motto von Im Westen nichts Neues erwähnt wird50 und die das Hauptmotiv des Romans und der Comic-Adaption ist. In der Weimarer Kriegs- und Nachkriegsliteratur – unabhängig von ihrer politischen Anschauung – wird der Einfluss des Krieges auf die weiteren Lebenseinstellungen und Perspektiven der Soldaten thematisiert. Die Massenerfahrung der Front führt […] zu einer hochgradigen Verunsi­ cherung des Einzelnen, wie Remarque in Der Weg zurück deutlich macht: Der »Weg zurück« in die alten Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft ist den Soldaten nach der Kriegserfahrung nicht mehr möglich; […] Die [persönliche] Krise wird zum Dauerzustand.51

Hier entsteht im Krieg, aus der Not heraus, eine »Generationsgemeinschaft«, die Remarque in seinen beiden Romanen »in einen überindividuellen Zusammenhang« rückt. Dies wird besonders im Roman Im Westen nichts Neues durch das vorangestellte Motto deutlich gemacht. Das Militär entindividualisiert den Einzelnen, und »durch die Uniformierung [wird er] als Mitglied eines Kollektivs charakterisiert«. Der Autor zeigt eindringlich auf, dass der Soldat »im Krieg nur als Soldat wichtig [war] – wer er vorher war und welche Charaktereigenschaften er hatte, wird unwesentlich, von Bedeutung sind nur die Eigenschaften des

49 Regine Zeller. »Einer von Millionen Gleichen«. Masse und Individuum im Zeitroman der Weimarer Republik. Heidelberg 2011, 67. 50 »Dieses Buch soll weder eine Anklage noch ein Bekenntnis sein. Es soll nur den Versuch machen, über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.«, vgl.: Remarque, Im Westen, 1992, 5. 51 Zeller, »Einer von Millionen Gleichen«, 208.

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Panel 25: »Alles ist uns jetzt fremd.«

Soldaten«.52 Die Auflösung und der Verlust des soldatischen Kollektivs wird in Der Weg zurück nicht kompensiert. Weder Ernst noch seine Freunde können sich einer alternativen »massenartigen Gemeinschaft« anschließen.53 Am Schluss steht »die totale Vereinzelung des Protagonisten«,54 auch wenn die Buchausgabe, anders als der Vorabdruck, mit einem optimistischen Ende schließt. Insbesondere junge Soldaten wie Paul oder Ernst können nicht an »bürgerliche Individualitätskonzepte«, wie z.B. Schule, Studium, anknüpfen.55 Die älteren Soldaten, die bereits vor dem Krieg in einem Beruf gestanden und Familien gegründet haben, scheinen zunächst bei ihrer Rückkehr eine bessere Prognose zu haben. Der evidente Zerfall familiärer Beziehungen ist für die Protagonisten jedoch ein schmerzvoller Prozess, der sich nicht umkehren lässt. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass alte Erfahrungen und Sicherheiten, die von der Familie, Freunden, von anderen Autoritäten und Vorbildern vor dem Krieg repräsentiert worden sind, nicht mehr existieren. Auch scheinbar gefestigte menschliche Verbindungen zerbrechen, wie die Ehe Adolf Bethkes. Der Krieg scheint weiterhin in den Charakteren stattzufinden, sie ringen mit sich und ihrer Umwelt, in die sie sich nicht einfügen können oder wollen. Treffend kann ihre Rückkehr als »twisted road across a no-man’s land into the trenches of peacetime living« beschrieben werden.56 Diese Situation hebt Breccia in Panel 25 hervor, in der die Figur (vielleicht Ernst Birkholz) äußert, dass den Rückkehrern jetzt alles fremd sei. Es sind andere Familienmitglieder oder vielleicht ehemalige Kameraden bzw. Freunde anwesend, die 52 Ebd., 61–63. 53 Ebd., 98. 54 Ebd., 131. 55 Ebd., 208. 56 Richard Arthur Firda. All quiet on the western front. Literary analysis and cultural context. New York [u.a.] 1993 (Twayne’s masterwork studies 129), 66.

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ratlos vor sich hinschauen und den Kommentar nicht erwidern. Der Leser scheint durch die gewählte nahe Perspektive mit am Tisch zu sitzen und wird Zeuge der resignativen Stimmung und Situation. Im Begleittext heißt es: Sie sind zurück. Jeder von ihnen hat sein Zuhause gefunden, seine Mutter oder seine Frau, den gedeckten Tisch, den entfachten Herd, den Frieden. Aber sie sind nicht mehr für dieses Leben geeignet. Es sind Soldaten, die mit dem tragischen Leben der Front allzu sehr vertraut waren. Der Friede stört sie. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie können mit ihren Gedanken nichts anfangen. Sie können nicht allein sein. Sie brauchen die Kameradschaft der anderen. So wie an der Front …

Ernst und seine ehemaligen Kameraden fühlen die täglich größer werdende Enttäuschung, die zu weiteren Frustrationen, zunehmender Entfremdung, Orientierungslosigkeit und bei einigen Protagonisten auch zu irreversiblen Depressionen führt. Die Jahre im Krieg haben ihre Spuren hinterlassen, man fühlt sich fremd zuhause und kann nicht erklären, wieso. Niemand der Nahestehenden kann dies verstehen, weil zwei völlig unterschiedliche Erfahrungswelten, die des Krieges und die des zivilen Lebens, aufeinander prallen. Dieses gegenseitige Unverständnis und die scheiternde innerfamiliäre Kommunikation zeigt Remarque eindrücklich in dem Vater-Sohn-Gespräch (das im Comic nicht aufgegriffen wird), in dem Ernst über seine »Berufspläne« spricht: Nachdenklich rauche ich und betrachte meinen Vater. Ich empfinde immer noch, daß er mein Vater ist, doch er ist außerdem noch ein lieber, älterer Mann, vorsichtig und pedantisch, dessen Ansichten für mich keinerlei Bedeutung mehr haben.57

Angesichts der traumatischen Kriegserfahrungen und dass der eigene Vater ihn »nicht [hatte] schützen können in den Jahren draußen«,58 bemerkt er: »Ich will es ja zu nichts bringen, Vater, ich will nur leben.«59 Diese Haltung nehmen Ernst und seine Kriegs- und Seminaristenkameraden auch später gegenüber ihren alten Lehrern ein, in denen sie nur noch »eine Anzahl älterer Männer« sehen, die sie »freundlich verachten«.60 Sie können nicht in eine zivile Normalität zurückfinden, denn vor dem Krieg wichtige Orientierungspunkte und Autoritäten des eigenen Lebenswegs sind obsolet geworden. Dem Tod ist man knapp entronnen, und man 57 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 283. 58 Ebd., 282. 59 Ebd., 283. 60 Ebd., 135.

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Panel 71: Albert Troßke ermordet seine Frau

will keine mit bürgerlich-konservativem Denken konform gehende Pläne schmieden. Remarque und Breccia ist es wichtig zu zeigen, dass die (post-)traumatischen Erfahrungen nach dem Krieg, das Nichtankommen in der Zivilgesellschaft und die totale Entwurzelung die Protagonisten zweifeln bzw. verzweifeln lassen, infolgedessen die Figuren Ludwig Breyer und Georg Rahe schließlich aufgeben und Selbstmord begehen. Enttäuschung und Frustration entladen sich nicht nur in Autoaggressionen, sondern ebenso in Gewalttaten, die sich z.T. gegen die unmittelbare Umgebung richten. Albert Troßke überrascht im Roman seine Frau und ihren Liebhaber, der ihn verhöhnt und lächerlich macht. Albert erschießt den Nebenbuhler, wird vor Gericht gestellt und verurteilt. Die Tat wird als Affekthandlung beschrieben, aber das Benutzen der Waffe ist eine trainierte, automatisierte, in Fleisch und Blut übergegangene Handlungsweise. Der Ich-Erzähler Ernst Birkholz kommentiert den Mord sarkastisch: »Er [Albert] hat kaum gezielt; – er war immer schon der beste Schütze in der Kompagnie, und mit seinem Feldrevolver weiß er seit Jahren Bescheid.«61 Im Comic hingegen ist seine Frau das Opfer. Im Begleittext von Panel 71 heißt es: »Albert, der eifersüchtig auf seine Frau war, erschoss sie eines Tages mit dem Revolver. […] An der Front war es eine alltägliche Sache den Revolver abzufeuern.« Dem Betrachter erscheint es so, als ob er selbst neben der Frau, quasi wie ein zweites Opfer, auf dem Boden liegt, durch die nahe Ansicht wird er zum unmittelbaren Tatzeugen. Im Roman hat der Leser zunächst den Eindruck, dass Albert sich ebenfalls umbringen will, aber er zeigt sich schließlich selbst an und 61 Ebd., 315.

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Panel 72: Resignation und Selbstaufgabe

wird verhaftet. Der Prozess, der gegen ihn geführt wird und der die Absurdität des Krieges in der Gerichtsverhandlung offenlegt, wird im Comic ausgelassen. Ludwig Breyers Selbstmord greift Breccia ebenfalls auf, nicht aber den Georg Rahes, obwohl dieser im Roman ausführlich thematisiert wird.62 Der Comic verzichtet auf die Darstellung einer wichtigen Episode, die die innere Zerrissenheit und Hoffnungslosigkeit einer der Hauptfiguren zeigt. In Panel 73, das Ernst in einem Gespräch mit Georg zeigt, wird in der Untertitelung lediglich erwähnt, dass er trotz aller Anstrengungen seine Bestimmung im Leben nicht mehr gefunden hat. In Panel 72 ist der Betrachter durch einen Close Shot erneut wieder ganz nah am Geschehen und wird Zeuge der Tat. Mit aufgeschnittenen Pulsadern sitzt Ludwig Breyer in einem Sessel, im Hintergrund ist ein Bücherschrank zu sehen, und Ort des Geschehens ist das eigene Zuhause. Ein typisches Element bei Remarque ist die Verwendung romantischer Motive bzw. auch die direkte Erwähnung romantischer Literatur, welche die Figuren verinnerlicht und trotz ihrer schrecklichen Erfahrungen nicht vergessen haben. So erinnern sich Ernst und Ludwig in ihrem letzten Gespräch an ihre langen nächtlichen Spaziergänge in den Wäldern, auf denen sie ein Band von Joseph von Eichendorff begleitet hat.63 Breccia zeigt dem Betrachter im Hintergrund des Panels neben dem Bücherregal ein offenes Fenster und am Himmel ziehende Wolken. In der Untertitelung heißt es: »An einem Nachmittag öffnete er sich die Adern. Er starb neben seinen Büchern vor dem Fenster, die Wolken betrachtend …«64 Der Suizid wird im Roman nicht beschrieben. Aber das Gespräch zwischen Ernst und Ludwig einen Tag zuvor und die Szene, in der Ernst den toten Freund auffindet, sind im Roman enthalten. Lange vorher treffen sich Birkholz, Breyer und Rahe eines Nachmittags und beraten sich über ihre 62 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 357–361. 63 Ebd., 323. 64 Span.: »Una tarde se abrió las venas. Murió junto a sus libros, frente a la ventana, mirando las nubes …« (P. 72)

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Panel 50–51: Gespräch über Zukunftsperspektiven

zukünftigen Hoffnungen und beruflichen Möglichkeiten (P. 50–51). Sie sprechen als ehemalige Kameraden und Freunde miteinander, und hier zeigt sich deutlich, dass die eigene Familie und andere Freunde in solchen grundlegenden Gesprächen außen vor bleiben und nicht wichtig sind. In Panel 50 trifft Georg Rahe seine Freunde, die zivile Kleidung tragen, eines Tages uniformiert wieder. Die Uniform grenzt die militärische Sphäre gegen die zivile ab und sie erfüllt nun eine Art Schutzfunktion, die es dem Träger weiterhin möglich macht, sich von der Außenwelt abzugrenzen. Die Kriegsrückkehrer setzen sich im Roman Der Weg zurück häufig ganz bewusst vom Zivilen ab, als sie beispielsweise ihren alten Lehrern (provokativ) uniformiert gegenübertreten und damit deren Autorität in Frage stellen.65 Paul Bäumer hingegen bevorzugt sein »Zivilzeug« und weigert sich, seine Uniform in der Öffentlichkeit zu tragen, da ihm Militär und Krieg verhasst sind und er beides wenigstens für einen kurzen Moment vergessen will.66 In Breccias Comic finden sich die ehemaligen Seminaristen nur in ziviler Kleidung ein (P. 26–34). Für viele ehemalige Soldaten treten aufgrund der Rückschläge im zivilen Leben ihre militärische Vergangenheit, die dort erlernten »Fähigkeiten« und damit der Krieg wieder in den Vordergrund; alles Dinge, die sie im Frieden haben überwinden und vergessen wollen. Gegenüber den Freunden bemerkt Georg Rahe in Panel 50, dass er wieder Soldat werden wolle, und dem Begleittext ist zu entnehmen, dass er noch keinen Lebensmittelpunkt gefunden und sich deshalb freiwillig gemeldet hat. In Roman und Comic (hier Panel 73) nimmt die Figur letztlich Abstand von einer erneuten militärischen Laufbahn. Im Roman erkennt Georg, welcher antidemokratische Geist, welche kriminelle Energie in den Freikorpsverbänden herrschen, und er ist angewidert von der Verlogen65 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 168. 66 Remarque, Im Westen, 1992, 152.

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Panel 1–2: Abmarsch von der Front

heit, Feigheit und dem fanatischen Nationalismus dort. Von der Kameradschaft sei nur noch etwas »Verwildertes, Karikaturhaftes« übriggeblieben.67 In Panel 51 sagt Ernst zu Georg, dass sie von Neuem lernen müssten zu arbeiten. Er erwidert,

67 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 338f.

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dass der Krieg sie zu sehr verbraucht habe.68 Der Begleittext des Panels erweitert die Perspektive dahingehend, dass der Krieg für alle beteiligten Völker ein Elend und ein Verrat an deren junger Generation ist: Ihm bleiben keine Hoffnungen mehr. Der Krieg hat ihn zerstört, wie er Tausende und Abertausende junger Männer zerstört hat. […] Die Jugend stand in der ganzen Welt auf, und die eines jeden Landes glaubte, für die Freiheit zu kämpfen. Und in jedem Land wurde sie getäuscht und miss­ braucht. In jedem Land kämpfte sie für Interessen und nicht für Ideale, in jedem Land wurde sie durch Kugeln zerstört und sie zerstörten einander.69

Remarque thematisiert ausführlich die Zugehörigkeit zur militärischen Gemeinschaft, die Kameradschaft, die er als idealen und reinen Freundschaftsbund charakterisiert. Bereits im Roman Im Westen nichts Neues besteht Paul Bäumers Kompagnie aus Personen, deren soziale Herkunft und Alter sehr unterschiedlich sind. Im Roman Der Weg zurück hingegen wird häufig deutlich gemacht, dass es sich um eine Notgemeinschaft und einen Ersatz für zivile Bindungen und Beziehungen handelt. In ihr erfahren die Figuren Verständnis, Vertrauen und Zuwendung, während sie sich jeden Tag im Schützengraben mit dem eigenen Tod konfrontiert sehen. Breccia greift im Sinne Remarques das Kameradschaftsmotiv am Anfang positiv auf (P. 1–2). Die rückkehrenden Soldaten helfen sich gegenseitig, es werden Verletzte versorgt oder beim Marschieren gestützt). Der schlechte physische Zustand der Überlebenden wird in der ersten Bilderfolge drastisch gezeigt. Anders als bei Remarque beginnt der Comic nicht im Kriegsgeschehen. Im Teil »Eingang«, der als Prolog fungiert, setzt die Handlung im Roman mitten im Frontgeschehen ein. Der Leser wird Zeuge der letzten Kriegshandlungen im Oktober 1918 und des absurden Todes von Heinrich Weßling, dem letzten »Gefallenen« der Kompa­ gnie. Die Gesamthandlung des Romans erstreckt sich von dort bis zum März 1920 (Teil »Ausgang«).70 Breccia klammert die Frontszenerien aus und beginnt seinen Comic mit der Darstellung der zurückmarschierenden Soldatenkolonnen, für die er zwei vollständige Seiten (P. 1–9) aufwendet. Im Roman umfasst der Rückmarsch immerhin auch die Kap. 1–2 des ersten Teils.71

68 Span.: »[Ernst:] Debemos aprender a trabajar de nuevo.« »[Georg:] La guerra nos ha gastado demasiado.« (P. 52) 69 Span.: »[…] La juventud se levantó […] se destruyó mutuamente.« (P. 51) 70 Schneider, »Die Revolution«, 257. 71 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 29–52.

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Panel 17: Erste Einblicke in den Frieden

Bei einem Halt übernachten die Soldaten in einem kleinen Dorf. Diese in Panel 17 und 18 dargestellte Szenen umfasst im Roman ca. acht Seiten.72 Es werden in zwei Bildern mehrere Handlungsvorgänge gebündelt, so z.B. die Unterbringung im Dorf, das folgende Trinkgelage und der Tanzabend in der Wirtschaft oder das Kartoffelfeuer im Garten. Dies ist ein Beispiel dafür, dass nicht nur in den Untertitelungen ein Gros der Handlung aufgenommen und gleichzeitig komprimiert wird, sondern natürlich auch in den Panels selbst. In Panel 17 betrachten Ernst und Albert Troßke die Szenerie der Feier wie außenstehende Zuschauer. Die Komposition des Bildes lässt den Leser dieselbe Perspektive wie die beiden Figuren einnehmen, die doch sehr an die einer Guckkasten- oder Kulissenbühne erinnert. Ernst äußert: »All dieser Dreck ist vorbei. Stimmt’s, Bruder?«73 Albert erwidert darauf: »Verdammt! So ist es.«74 Aus diesen Worten spricht die tiefe Erleichterung, dem Krieg entkommen zu sein und nun endlich dem ersehnten Frieden entgegenzublicken. Hier wird erneut die Texttreue der spanischen Übersetzung der Untertitelung deutlich.75 Allerdings sprechen im Roman die beiden Figuren nicht miteinander, während sie Tanzende beobachten, sondern während sie im Garten nebeneinander urinieren. Breccia kombiniert sie im Panel mit der Fest-Szenerie, die Ausgelassenheit, Freude und Zuneigung ausstrahlt und den Frieden symbolisiert. Die Zweifel der Figuren werden aber im Begleittext erwähnt:

72 Ebd., 45–53. 73 Span.: »Toda esta inmundicia ha terminando. ¿No es cierto, hermano?« (P. 17) 74 Span.: »¡Maldito sea. Así es!« (P. 17) 75 »[Ernst:] ›Daß der Mist vorbei ist, Albert, was?‹ – [Albert:] ›Verflucht ja, Ernst‹«. Remarque, Der Weg zurück, 2014, 49.

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Panel 41: Erste Erfahrungen mit dem Frieden

»Sie sind von der Zukunft besessen und manchmal zweifeln sie. ›Ist der Krieg wirklich zu Ende?‹«76 Die Haupthandlung von Roman und Comic umfasst das Jahr 1919, das mit seinen aufkommenden Hoffnungen, seinem radikalen gesellschaftlichen Umbruch und ersten politischen Enttäuschungen die Menschen prägen wird. Die Rückkehr ziviler Verhältnisse beinhaltet für die Mehrheit der Bevölkerung die Demokratisierung des Landes, aber noch viel mehr die eigene Existenzsicherung und Versorgung mit dem Nötigsten. Panel 41 zeigt, wie Ernst mit ein paar Kameraden auf einem ländlichen »Hamsterzug«77 ist. Diese Episode umfasst im Roman ca. drei Seiten und wird hier erneut in nur einem Bild wiedergegeben.78 Allerdings verläuft die Begegnung auf dem Hof, wo sie um Nahrungsmittel bitten, hier eindeutig negativ und im Roman dagegen positiv. Der Bauer schreit sie an: »Verschwindet hier, verfluchte Bettlerbande.«79 Weiter heißt es in der Untertitelung: »Wissen Sie, wie viele vor Ihnen hier vorbeigekommen sind?« […] »Mehr als ein Dutzend.«, »Wissen sie, wie viele jeden Tag kommen?«, »Mehr als hundert«.80 Auch in diesem Beispiel ist der Text fast wörtlich aus dem Originaltext übersetzt worden.81 Allerdings beschimpft im Roman die Bauersfrau die »Bettler«, und der Bauer selbst erweist sich im Nachhinein als Ex-Soldat, der wie Ernst und die anderen ebenfalls in Flandern gekämpft hat und deshalb jedem Eier schenkt. In Panel 42 wird im Begleittext zwar erwähnt, dass sie nicht leer ausgehen und von ein paar

76 Span.: »Los obsesiona el futuro y a veces dudan. ¿Ha terminado, en verdad, la guerra?« (P. 17). 77 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 185. 78 Ebd., 185–188. 79 Span.: »Fuera de aquí, maldita banda de mendigos.« (P. 41) 80 Span.: »[…]›¿Saben cuántos han pasado por aquí, antes de ustedes?‹ […] ›Más de una docena.‹ ›¿Saben cuántos vienen por día?‹ ›Más de cien.‹« (P. 41) 81 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 186.

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Panel 42–45: Begegnung mit der Polizei

Menschen wenige Dinge erhalten: etwas Mehl, einige Kartoffeln, Eier und Fleisch. Die Begegnung auf dem Bauernhof ist jedoch erzähltechnisch gerafft und, wie bereits erwähnt, stark verändert worden. In Panel 42 kommentiert Ernst diese Begegnung mit dem Bauern: »Dafür sind wir in den Schützengräben gewesen! Damit sie uns wie Landstreicher hinauswerfen!«82 Das Panel zeigt Ernst mit drei seiner ehemaligen Kameraden in der Nahansicht, die Mimik zeigt deutlich ihre Resignation, die Figuren blicken zu Boden bzw. ins Leere. Die materielle Notlage und der Hunger der Bevölkerung werden in den folgenden Bildern (P. 43–49) vertiefend thematisiert, womit Breccia hier eindeutig einen Schwerpunkt setzt. Gleichzeitig wird dem Leser die Ungesetzlichkeit der unmittelbaren Nachkriegsmonate vor Augen geführt: Zwei Polizisten beschlagnahmen Lebensmittel vom Schwarzmarkt. Im Roman wird diese Praxis zweimal erwähnt, auch Ernsts Schwestern sind Opfer polizeilicher Willkür

82 Span.: »Para eso hemos estado en las trincheras. Para que nos echen como vagabundos.« (P. 42)

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Panel 48–49: Selbstjustiz

geworden.83 Die in den Panels 43–49 sehr ausführlich dargestellte Begegnung mit den »Gendarmen«, während der Ernst und seine Kameraden ebenfalls nach ihrer »Hamstertour« durchsucht werden sollen, unterscheidet sich nur teilweise von der Darstellung im Roman. Eine Reihe von Frauen wird durchsucht, und in Panel 45 beklagt eine von ihnen: »Und dafür starb mein Mann im Krieg, damit meine Kinder vor Hunger sterben?«84 Dieser Kommentar erinnert sehr an den von Ernst Birkholz in Panel 42 zuvor. Die Textparallelität will verdeutlichen, dass die breite Masse der Bevölkerung den Preis des Krieges zu zahlen hat und am Ende noch weiter leiden muss. Die Soldaten sind Brüder, Ehemänner oder Söhne, die nicht zu ihren Familien zurückkehren und die durch ihren Tod und ihre Nichtrückkehr Leid anrichten. Neben der materiellen Notlage werden hier vor allem die schikanöse, entwürdigende Behandlung schwacher Menschen (im Roman werden Frauen, Kinder und alte Leute erwähnt) und der alltägliche Amtsmissbrauch gezeigt, gegen die sich die Ex-Soldaten wehren und die »Schutzmänner« kurzerhand verprügeln. In Panel 48 werden die Polizisten unter einem Baum gefesselt, im Roman in einem Plumpsklo eingesperrt. Im Begleittext wird die Szene erweitert. Willy Homeyer entgegnet einer der beteiligten Frauen: »Weine nicht. Mütterchen, selbst wenn die ganze Regierung hier wäre, würden wir uns nichts wegnehmen lassen. […] Altgediente Soldaten sollen ihr Essen hergeben? Das nicht, niemals …«85 Im Roman Im Westen nichts Neues will Paul Bäumer seinem schwer verletzten und beinamputierten Freund Franz Kemmerich Mut machen und erwähnt die 83 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 78. 84 Span.: »¿Y para esto murió mi marido en la guerra, para que mis hijos se mueran de hambre?« (P. 45); diese Bemerkung findet sich nahezu wörtlich im Roman wieder: »Dafür ist mein Mann gefallen, daß meine Kinder verhungern.«. Remarque, Der Weg zurück, 2014, 190. 85 »Heul nicht, Muttchen – und wenn die ganze Regierung da stände, wir ließen uns nichts wegnehmen! Altes Militär und Fressalien abgeben, das wäre was!«, Ebd., 192.

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Panel 11: Opfer von Gasangriffen

»großartigen Prothesen«, die es nun gebe, und ständig erfinde man neue Sachen. Damit könne er wieder richtig laufen und in ein ziviles (Berufs-)Leben zurückkehren.86 Bereits während des Krieges entwickeln Orthopäden funktionale Arm- oder Beinprothesen für die große Masse der Kriegsversehrten weiter. Dabei ist auffällig, dass häufig die berufliche bzw. wirtschaftliche Funktionalität im Vordergrund steht: Der arm- oder beinamputierte Veteran soll größtmöglich arbeitsfähig in die Berufswelt reintegriert werden. Die »Verwertbarkeit« oder das »Recycling« der Masse an versehrten Soldaten ist in vielen Wirtschaftsbereichen, besonders in der Industrie, unumgänglich.87 Es geht natürlich ebenso darum, dem Einzelnen individuelle Möglichkeiten der Existenzsicherung zu eröffnen, auch um den eigenen sozialen Status der Vorkriegszeit zurückzuerlangen. Breccia stellt diese Problematik in mehreren Panels eindrucksvoll heraus: Was wird mit der Masse der Verletzten und Behinderten geschehen? Diese Frage taucht an mehreren Stellen auf, es werden 1388 der insgesamt 81 Panels dafür aufgewendet. Im Roman wie im Comic sind Kriegsversehrte im täglichen Leben gegenwärtig, vor allem auf der Straße, wenn sie für ihre Rechte protestieren. Es werden Verstümmelte mit und ohne Arm- und Beinprothesen, Kopfverletzte mit zerschossenen Gesichtern oder Blinde beschrieben.89

86 Remarque, Im Westen, 1992, 31. 87 Vgl.: Heather R. Perry. Recycling the disabled. Army, medicine, and modernity in WWI Germany. Manchester 2014, 45–83; s. auch: Sabine Kienitz. Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923. Paderborn, München, Wien, Zürich 2008 (Krieg in der Geschichte 41), 152–237. Die umfassende Darstellung von Kienitz nimmt dezidiert Bezug auf die negativen gesellschaftlichen Folgen von Kriegsinvalidität in der Weimarer Republik, vgl. dies., 110–150. 88 Vgl. P. 10–11, 27–28, 31, 35–38, 76–79. 89 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 290–293.

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Panel 27–28: Verletzte Studienkameraden

Gleich zu Beginn des Comics zeigt Panel 11 einen Soldaten, der unter den Folgen eines Gasangriffs und Schusswunden im Bein leidet. Er kann kaum gehen und will sich doch den zurückmarschierenden Soldaten anschließen. Er macht indes nur ein paar Schritte, dann bricht er zusammen und stirbt an einer starken inneren Blutung. Die Panels 27–28 zeigen dann später, wie Ernst, Ludwig und Albert ehemalige Mitseminaristen wiedertreffen, die schwer vom Krieg gezeichnet sind. In Panel 27 fragt der entstellte Paul Rademacher, dem die Nase fehlt und der ein Glasauge hat, ob sie ihn wiedererkennen. Im nächsten Panel (P. 28) fügt er hinzu, dass ihm auch noch drei Finger fehlen. Diese Szene findet sich in Der Weg zurück, und der Vergleich mit dem Text zeigt, wie präzise Breccia die Verletzungen zeichnerisch wiedergegebenen hat: Ich sehe das Gesicht an, soweit es noch eins ist. Über der Stirn läuft eine breite, rote Narbe. Sie reicht bis ins linke Auge. Das Fleisch ist dort überge­ wachsen, so daß das Auge klein und tief liegt. Aber es ist noch da. Rechts ist das Auge starr, aus Glas. Die Nase ist fort, ein schwarzer Lappen bedeckt die Stelle. Die Narbe, die darunter hervor läuft, spaltet den Mund zweimal. Er ist wulstig und schief zusammengewachsen, daher die undeutliche Aus­ sprache.90

Bereits Mitte der 1920er Jahre versuchen Autoren, die Gräuel und Schrecken des Krieges einem größeren Publikum zugänglich und bewusst zu machen. Die abschreckende Bilderdokumentation Krieg dem Kriege! (1924) von Ernst Fried90 Ebd., 132f.

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rich zeigt drastisch Arm- und Beinamputationen ehemaliger Soldaten und die Entstellungen ihrer Gesichter.91 Remarque weiß aus eigener Erfahrung sehr gut, wovon er spricht. Ein Eintrag vom 23.08.1917 in den Deutschen Verlustenlisten des Heereskommandos West (Preuß. 918) vermerkt: »Remark Erich – 22.06.98 Osnabrück – schwer verwundet.«92 Er wird vom Feldlazarett über eine Zwischenstation in das St. Vinzenz-Hospital in Duisburg eingeliefert, nachdem er sechs Wochen an der Westfront in Nordfrankreich als Schanzsoldat eingesetzt und durch Granatsplitter am linken Bein, rechten Arm und am Hals verwundet worden ist. Während seiner Rekonvaleszenzzeit spricht er mit vielen verletzten Soldaten und schreibt seine Eindrücke in ein Tagebuch. Nach seiner Genesung arbeitet er weiter als Schreiber im Lazarett und erfährt noch mehr über die Schrecken des Krieges. Diese Aufzeichnungen bilden die Grundlage für seinen Roman Im Westen nichts Neues, und im Nachgang profitiert davon ebenfalls der Fortsetzungsroman Der Weg zurück.93 Hier werden gegen Ende demonstrierende Ex-Soldaten beschrieben, die in ihrer prekären Situation als Behinderte Solidarität und Unterstützung des Staates einfordern: Langsam kommt ein Zug Menschen heran in den verblichenen Uniformen der Front. Er ist gruppenweise formiert, immer zu vieren nebeneinander. Große weiße Schilder werden vorangetragen: »Wo bleibt der Dank des Vaterlandes?« – »Die Kriegskrüppel hungern.« Es sind Einarmige, die die­ se Schilder tragen. […] Ihnen folgen Leute mit Schäferhunden an kurzen Lederriemen. Die Tiere tragen das rote Blindenkreuz auf dem Geschirr.94

Unzweifelhaft ist zu erkennen, dass Breccia in den Panels 76–77 erneut viele Details des zitierten Romanauszugs, bis hin zu den Schriftzügen der Schilder, darstellt. Der Demonstrationszug, in dem die Menschen sich gruppenweise und nach der Art ihrer Verletzungen bewegen, wird in mehreren Panels gezeigt. In der halbnahen Ansicht stehen in Panel 76 die Armamputationen der beiden Demonstrierenden im Zentrum der Betrachtung. Die leichte Untersicht lässt beide Figuren größer erscheinen und hebt sie hervor. Besonders eindrucksvoll ist Panel 79, das einen beinamputierten Veteranen zeigt, der sich mangels eines Rollstuhls auf einer Art 91 Ernst Friedrich. Krieg dem Kriege! Berlin 1926, 187ff. Das Werk wird nach Erscheinen der ersten Auflage verboten. 92 André Massmann. »Der Lazarettschreiber. Vor 100 Jahren kam Erich Maria Remarque schwer verletzt in die Klinik – später schrieb er darüber seinen berühmtesten Roman.« Weser-Kurier am Sonntag, 13.08.2017, 80. 93 Ebd., 80; vgl. auch die Kurzbiografie des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums, online unter: https://www.remarque.uni-osnabrueck.de (Stand: 22.05.2020) und von Sternburg, »Als wäre alles das letzte Mal«, 85ff. 94 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 290f.

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Panel 76, 77, 79: Demonstration der Versehrten

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Rollbrett vorwärtsbewegen muss, umgeben von Leidensgenossen, die zumindest an Krücken noch halbwegs gehen können. Die extreme Untersicht bzw. Froschperspektive auf die Figur und die den Leser scheinbar umgebenden Beine veranschaulichen die besondere Notsituation des Betroffenen und erzeugen eine bedrückende Atmosphäre. Breccia gelingt es mit nur wenigen Zeichnungen, eines der Hauptprobleme der Nachkriegsgesellschaft eindrücklich darzustellen: Wie geht man gerecht und respektvoll mit den Kriegsverletzten um, die es in dieser Masse bis dato nach keinem militärischen Konflikt gegeben hat? Hinzu kommen die vielleicht körperlich unversehrten, aber psychisch kranken Ex-Soldaten. Nach neueren Schätzungen sind in Deutschland ca. 313.000 Menschen durch Kriegserfahrungen traumatisiert, in Großbritannien sogar bis zu 400.000. Mitte der 1920er Jahre arbeitet man weiter an Therapien für traumatisierte Soldaten, im Straßenbild sichtbar sind, z. B. die sogenannten »Kriegszitterer« oder »Schüttler«,95 wie Remarque sie nennt. Bereits im Verlauf des Krieges beginnen Ärzte »Konzepte zur Behandlung der so genannten Kriegsneurotiker«96 zu entwickeln. Sieht man heute verzögerte psychische Reaktionen und Störungen (Stichwort: posttraumatische Belastungsstörung) in vorausgegangenen Gewalt- oder Kriegshandlungen begründet, die sich nur langsam therapeutisch abbauen lassen, behaupten viele vor allem politisch rechts-national eingestellte Psychiater in den 1920er Jahren, dass »›Kriegsneurosen‹ […] psychogen und willensabhängig« seien.97 Damit werden Kriegstraumata nicht nur bagatellisiert, vielmehr negiert und zu einem Politikum gemacht. Denn nun hat man eine Erklärung für die militärische Niederlage, da »Simulanten« und »Drückeberger« schon während des Krieges nicht (mehr) haben kämpfen wollen. In Der Weg zurück führt Remarque dem Leser vor allem vor Augen, welche psychischen Schäden der Krieg angerichtet hat und wie Lebenswege vollständig zerstört worden sind. Birkholz besucht mit Albert und Ludwig seinen Freund

95 Ebd., 173 und 292f. 96 Petra Preckel. »Krank durch die ›seelischen Einwirkungen des Feldzuges‹? Psychische Erkrankungen der Soldaten im Ersten Weltkrieg und ihre Behandlung.« Livia Prüll, Philipp Rauh (Hgg.). Krieg und mediale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege 1914–1945. Göttingen 2014, 31. Vgl. auch: Petra Preckel. »What the patient records reveal: reassessing the treatment of ›war neurotics‹ in Germany (1914–1918).« Hans-Georg Hofer, Cay-Rüdiger Prüll, Wolfgang U. Eckart (Hgg.). War, trauma and medicine in Germany and central Europe (1914–1939). Freiburg 2011 (Neuere Medizin und Wissenschaftsgeschichte, Quellen und Studien 26), 139–159. 97 Diese Haltung großer Teile der (häufig bereits im Krieg tätigen) Ärzteschaft führt zu Auseinandersetzungen mit dem Weimarer Staat, der psychisch beeinträchtigten Kriegsteilnehmer grundsätzlich Rentenansprüche zuerkennt, die die ärztlichen Gutachter aber vielfach nicht attestieren wollen. Das Reichsversorgungsgesetz wird 1920 durch das Schwerbeschädigtengesetz ergänzt, das die berufliche Wiedereingliederung sicherstellen soll, vgl. Livia Prüll. »Die Fortsetzung des Krieges nach dem Krieg oder: die Medizin im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen für die Zwischenkriegszeit in Deutschland 1918 bis 1939.« Prüll/Rauh, Krieg und mediale Kultur, 131f.

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Panel 38: Verletzt an Geist und Seele

Giesecke in einer psychiatrischen Klinik. Diese Episode findet sich auch in einer Bilderfolge wieder, hier heißt die Figur allerdings Boedecker (P. 35–38). Im Roman wie im Comic gehen die Patienten ihrer Arbeit außerhalb der Anstalt nach und tragen wie Gefängnisinsassen gestreifte Kleidung. Giesecke ist in einem Gefecht verschüttet worden und leidet seitdem an Zwangsvorstellungen. Er macht trotzdem geistig einen weitgehend klaren Eindruck.98 Giesecke hat realisiert, dass er niemals wieder ein normales Leben führen kann, da er nicht mehr normal ist: »Wird wohl nichts mehr werden«, meint Giesecke trübe, »so einen lassen sie nicht an Kinder ran.«99 In Panel 38 äußert Giesecke (Boedecker) dies gegenüber seinen Freunden, und die Untertitelung verrät, dass er geradezu prädestiniert für den Lehrerberuf gewesen sei.100 Viele Betroffene erholen sich nie wieder, weil sie unter einer unzureichenden psychiatrischen Versorgung leiden bzw. ein gesellschaftliches Grundverständnis für ihre Erkrankung fehlt.101 Das, was den ehemaligen Soldaten an der Front zugestoßen ist und welche irreparablen psychischen Störungen daraus resultieren, scheinen viele Psychiater aufgrund ihrer politischen Einstellung schlichtweg zu ignorieren bzw. sie nehmen zentrale Kriegsprobleme zumindest

98 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 172f. 99 Ebd., 174. 100 Span.: [Sprechblase:] »›No podré ya ser maestro. No me dejarian tratar a los niños.‹« [Untertitelung:] »Boedecker había pensado ser maestro. Tenía vocación para ello. Estudiaba con entusiasmo.«, dt.: [Sprechblase:] »›Ich kann nicht mehr Lehrer sein. Sie werden mir den Umgang mit den Kindern nicht mehr erlauben.‹«; [Untertitelung:] »Boedecker dachte daran Lehrer zu sein. Er hatte eine Berufung dazu. Er studierte engagiert.« (P. 38) 101 Kershaw, Höllensturz, 146.

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Panel 30–33: »Vorbilder« und »Autoritäten«

nicht wahr. Damit besteht für einige Fachleute kein Zusammenhang zwischen den psychischen Problemen des Einzelnen und dessen Kriegseinsatz.102 Ernst will seine Lehrerausbildung fortsetzen und begibt sich mit den anderen Mitseminaristen zum Lehrerseminar. Bei Breccia findet sich diese Episode in einer längeren Bilderfolge (P. 26–34/39–40) wieder. Roman und Comic thematisieren hier die überkommenen Leit- und Vorbilder der jungen Erwachsenen, die selbst zukünftig als Lehrer arbeiten wollen. Es wird hinterfragt, welchen Stellenwert die alten gesellschaftlichen Werte noch haben bzw. wie man sich zum tief verwurzelten Militarismus stellen mag, den Seminarleitung und die Lehrer nach wie vor repräsentieren. Wie bereits erwähnt, finden sich Ernst und seine Begleiter im Roman zur ersten Unterrichtsstunde uniformiert ein, da sie unzweifelhaft einen Eklat im Seminar provozieren und ihre alten Autoritätspersonen und damit die Ausbildungsgrundsätze des Seminars herausfordern wollen. 102 Maria Hermes. Krankheit: Krieg. Psychiatrische Deutungen des Ersten Weltkrieges. Essen 2012 (Zeit der Weltkriege (ZdW) 2), 461.

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Zunächst wird eine Willkommensfeier für die überlebenden Seminaristen veranstaltet, die aber zu einer Farce wird, weil der Direktor zur Begrüßung »vom heldenhaften Ringen der Truppen, von Kampf, Sieg und Tapferkeit«103 spricht und damit den Unmut der Seminaristen weckt. Als guter Redner fährt er geschliffen fort: Einundzwanzig Kameraden sind nicht mehr unter uns; – einundzwanzig Kämpfer haben den ruhmreichen Tod der Waffen gefunden; – einund­ zwanzig Helden ruhen in fremder Erde aus vom Klirren der Schlacht und schlummern den ewigen Schlaf unterm grünen Rasen.104

Panel 30 zeigt die pathetische Pose des Direktors und seine Ansprache, die der Romanvorlage folgend in Sprechblase und Untertitelung wiedergegeben wird.105 Es finden sich in der Panelfolge auch weitere textliche Übereinstimmungen zwischen Roman und Comic. Z.B. greift Panel 31 im Begleittext Willys Schilderung vom Tod des jungen Soldaten Hover (bei Breccia heißt er Hoyer) nahezu wörtlich auf: Der kleine Hoyer verbrachte den Tag damit, vom Stacheldraht aus zu schrei­ en und die Gedärme hingen aus seinem Bauch. Dann riss ihm ein Stück Bombe die Finger ab, und zwei Stunden später verlor er ein Bein und er schrie weiter, während er mit der anderen Hand versuchte, seine Gedärme zurück zu schieben, bis nachts alles vorbei war.106

Panel 31 zeigt einen amputierten Seminaristen. Seine Verletzung unterstreicht die Wahrhaftigkeit seines Kommentars: »Die Gefallen sind nicht gefallen, damit man Reden über sie hält.«107 Wird der Direktor in seiner Rede in Panel 30 durch Nahund Untersicht als überragende Autoritätsperson gezeigt, erscheint er am Ende der Panelfolge in Panel 33 nicht mehr übergroß und übergeordnet, da er nun auf

103 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 135. 104 Ebd., 136f. 105 Span.: [Sprechblase:] »›Ventiuno de vosotros han encontrado una muerte gloriosa.‹« [Untertitelung:] »›Ventiún héroes descansan en el suelo de Francia, del fragor de la batalla y duermen el sueño eterno bajo el verde césped.‹«, dt.: [Sprechblase:] »›Vierundzwanzig von euch haben einen glorreichen Tod gefunden.‹« [Untertitelung:] »›Einundzwanzig Helden ruhen in Frankreichs Erde [aus], von der Hitze der Schlacht und sie schlafen den ewigen Schlaf unter dem grünen Gras.‹« (P. 30) 106 Span.: »El pequeño Hoyer se pasó el día gritando desde el alambrado y los intestinos le colgaban del vientre. Luego un trozo de bomba le arrancó los dedos, y dos horas más tarde quedaba sin una pierna, y él siguió gritando mientras intentaba meterse los intestinos con la otra mano, hasta que por la noche todo terminó.« (P. 31), s. Remarque, Der Weg zurück, 2014, 137. 107 Im Roman äußert dies der unverletzte Helmuth Reinersmann, s. Ebd., 138.

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Augenhöhe mit seinen Seminaristen spricht und sie beschwichtigend fragt, was sie denn nun von ihm wollen. Die Anspannung und der wachsende Zorn der Zuhörer wird durch die Ineinanderschachtelung der Panels visualisiert, der verbale Schlagabtausch zwischen Direktor und Seminaristen, der sich im Roman findet, komprimiert und nachvollziehbar.108 Die Seminaristen stehen in allen Panels im Vordergrund und sind in der nahen bzw. halbnahen Ansicht (P. 31) gezeichnet. Besonders Panel 32 zeigt die Gruppe um Ernst Birkholz und den Widerstand, der in ihr herrscht. Sie wollen die alten militaristischen Phrasen und Euphemismen des Krieges nicht mehr hören, und einer entgegnet dem Direktor: »Sie haben uns mit Ihren Reden in den Krieg geführt. Jetzt fordern wir Rechenschaft.«109 Die Brutalitäten der Front werden in Einzelheiten geschildert, und alle Anwesenden wollen nur noch die Wahrheit über den Krieg hören. In Breccias Darstellung fehlen z.B. die verbalen Ausfälle und das undisziplinierte Verhalten Albert Troßkes, der dem Direktor klar macht, dass die Anwesenden auf seine Ruhmesrede »scheißen« und er bitte schweigen solle.110 Die Panelfolge 30–33 wirkt im Ganzen »zahmer« und zurückhaltender als die entsprechende Textpassage im Roman. Dennoch gibt sie die Stimmung und die Abneigung, die unter den Rückkehrern gegenüber dem alten Geist der Ausbildungsstätte herrschen, präzise wieder. Die deutsche Novemberrevolution 1918 ist zwar ein Motiv in Remarques Roman Der Weg zurück, aber nicht handlungsbestimmend wie in Ernst Glaesers Roman Frieden (1930), Ludwig Renns Nachkrieg (1930) oder in Alfred Döblins Romantrilogie November 1918 (1949/50). Remarques Roman »schildert […] keine politischen Entwicklungen, keine politischen Programme oder Zielsetzungen, keine Erfolge oder Niederlagen, sondern Phänomene, die an der Oberfläche bleiben«.111 Ähnlich wie im Text wird das Phänomen der Revolution in Breccias Comic nur am Rande thematisiert und eher kritisch betrachtet. Die rückkehrenden Soldaten wollen keine Auseinandersetzungen mehr sehen oder in sie involviert werden. Das anfängliche Interesse für streikende Arbeiter und den Kampf für andere gesellschaftliche Verhältnisse, wie es in den Panels 12–15 gezeigt wird, vertieft sich nicht. Lediglich Max Weil schließt sich in der Heimatstadt den Demonstranten aufgrund seiner politischen Haltung an. Er wird am Ende bei einer Demonstration von seinem eigenen Kompagnieführer, Oberleutnant Heel (im Comic heißt die Figur Hehl bzw. Hahl), erschossen. Panel 23 zeigt den Gegensatz zwischen Infanterie- und Marinesoldaten, letztere scheinen aktiv die Revolution zu tragen, während sich die Rückkehrer des Hee108 Ebd., 136–140. 109 Span.: »Ustedes con sus discursos nos llevaron a la guerra. Ahora exigimos que se nos rinda cuenta.« (P. 32) 110 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 137, 139. 111 Schneider, »Die Revolution«, 259.

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Panel 23, 66–67: Aufruhr und Revolution

res passiv verhalten. Die Heel-Weil-Mordepisode umfasst im Comic immerhin 15 Bilder (P. 56–70) und wird damit sehr detailliert ausgebreitet. Max Weil ist pazifistisch eingestellt, Sozialdemokrat und zudem noch Jude. Damit erfüllt er alle Voraussetzungen, um ein Feindbild der radikalen politischen Rechten abzugeben. Dennoch scheint Heels Mord an Weil nicht (nur) politisch motiviert zu sein. Vielmehr ist er auch eine persönliche Abrechnung des Offiziers, der in Weil immer einen Querulanten gesehen hat, der liberale und demokratische Ideen offen geäußert hat. Heel ist eine reaktionäre Figur, die als Berufssoldat erneut eine Reichswehreinheit befehligt, nun gegen demonstrierende, revolutionäre Arbeiter im eigenen Land vorgeht und schließlich das Feuer auf sie eröffnet. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, ob sich unter den Demonstranten ehemalige Soldaten seiner eigenen Kompagnie befinden. Dennoch bieten Roman und Comic keinen tieferen Einblick in die politischen Ursachen oder den Verlauf der revolutionären Handlungen. Sie scheinen vielmehr Zeitkolorit zu sein und ein dramatisches Ambiente für

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Panel 69–70: Ernst Birkholz und Oberleutnant Heel

Heels Rache zu liefern. Remarque und Breccia arbeiten die Novemberrevolution an den Figuren Weil und Heel ab, ohne dabei dezidiert auf die historisch-politische Situation einzugehen.112 Nach der Ermordung Weils stellt Ernst den ehemaligen Vorgesetzten zur Rede. Breccia gestaltet dazu zwei eindrückliche Panels (P. 69–70), welche die explosive Stimmung zwischen den beiden Figuren und auf der Straße verdeutlichen. Birkholz kommentiert den Mord: »Schön, ihr Beruf, Leutnant Hehl!«113 Panel 70 zeigt die Masse von aufgebrachten Demonstranten, die »Mörder!… Mörder!… (¡asesinos,… asesinos!...)« schreit. Heel lässt weiter auf die Demonstranten und Unbeteiligte schießen, am Ende gibt es ein Blutbad. Auch hier stimmen die beiden Panels mit der Romanvorlage überein.114 Der Roman Der Weg zurück und auch Breccias Comic-Adaption rechnen mit der Verherrlichung des Krieges ab, auch wenn, wie bereits angemerkt, genauere gesellschaftliche und politische Hintergründe ausgeblendet werden. Am Ende des Romans wird eine Gruppe Minderjähriger im Stil der kommenden Hitlerjugend militärisch gedrillt. Bei den Anführern der Gruppe handelt es sich vielleicht um Freikorpsmitglieder, die die Jugendlichen indoktriniert haben. Dies ist ebenfalls eine der Schlüsselszenen des Romans, in der die Verführung der Jugend zu Gewalt

112 Ebd., 260. 113 Span.: »¡Lindo oficio el suyo, teniente Hehl!« (P. 69) 114 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 2014, 298–301.

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Panel 74–75: Ideologie des Krieges

und Krieg gezeigt und die auch von Breccia in den Panels 74–75 aufgegriffen wird. In Panel 74 sind Jugendliche zu sehen, die unter Anleitung eines »Ausbilders« das Schießen mit Stöcken üben. Ernst und Kosole, die Zeugen dieser militärischen Übungen sind, werden im Roman übel als »Drückeberger! Vaterlandsfeinde! Schlappes Verräterpack!« und »Pazifisten« beschimpft. Kosole stellt resigniert fest: »Ja, so geht es wieder los.«115 In Panel 75 sieht man die beiden Figuren niedergeschlagen nebeneinander her gehen, und Kosole sagt hier: »Hat ihnen ein Krieg nicht gereicht?«116 Umgeben sind beide Spaziergänger von der blühenden und beruhigenden Natur, die für die Jugendlichen lediglich ein Terrain für ihre paramilitärischen Spiele darstellt. Sie erfahren nicht das erwähnte romantische Lebensgefühl, das Ernst und seine Freunde noch aus der Vorkriegszeit kennen. In ihrer Jugendzeit »lebte in der Romantik des Wandervogels die Begeisterung für eine neue, freie Zukunft«,117 die auch ihnen nach den brutalen Kriegserlebnissen illusorisch erscheint. In der Untertitelung von Panel 75 heißt es: Das Land war ein Zufluchtsort für sie, aber es hat seinen ganzen Charme verloren. Die kommandierenden Stimmen hallen in ihm nach. Immer,

115 Ebd., 369f. 116 Span.: »¿No les ha bastado una guerra?« (P. 74) 117 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 367.

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Panel 52–54: Ernst Birkholz als Volksschullehrer

immer Krieg. Ja – sagt sich Kosole, ja – das ist der Beginn eines neuen Krieges.118

Die Väter von Birkholz und Remarque sind von Beruf Buchbinder.119 In beiden Romanen, Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück, fallen biografische Parallelen, und der Autor selbst bestätigt, dass Bäumer und Birkholz ihm ähnlich seien.120 Auch ist nicht zu leugnen, dass es sich bei dem Handlungsort des Romans 118 Span.: »El campo era un refugio para ellos, pero ya ha perdido todo su encanto. Están resonando en él voces de mando. Siempre, siempre la guerra. Sí – se dice Kosole, sí – éste es el principio de una nueva guerra.« (P. 75) 119 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 215. Vgl. zu den biografischen Anklängen: Hanns-Gert Rabe. »Remarque und Osnabrück. Ein Beitrag zu seiner Biographie«, Osnabrücker Mitteilungen (1970), 77, 234. 120 In einem Interview mit Wythe Williams im Oktober 1929 äußert Remarque: »I describe the way back to life, how a young man like myself – and Paul Bäumer – experienced war as a youth, who still carries its scars and who was then grabbed up by the chaos of the postwar period, [and] finally

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um Remarques Heimatstadt Osnabrück handelt, was sich im Comic allerdings nicht nachweisen lässt. Folgender Aussage kann man demnach zustimmen: »This moving novel again bears the hallmark of autobiographical authority«.121 Remarque beendet im Juni 1919 seine Lehrerausbildung am Katholischen Lehrerseminar in Osnabrück, arbeitet ca. eineinhalb Jahre als Volksschullehrer, wird aber wie seine Figur Ernst Birkholz im Roman letztlich einen anderen beruflichen Weg einschlagen und sich ganz dem Schreiben zuwenden.122 Die Panelfolge 52–54 zeigt Ernst Birkholz und Willy Homeyer, wie sie im Zug auf dem Weg zu ihrer neuen Arbeitsstätte sind und wie Ernst schließlich Kinder in einer Dorfschule unterrichtet. Auch in den beiden Schlusspanels (P. 81–82) bzw. besonders im Ending-Splash (P. 82) sieht man ihn übergroß als Lehrer vor seinen Schülern stehen. Im Gegensatz zu den aufgewühlten und »actionreichen« Bilderfolgen, die die Comic-Handlung vorantreiben, vermitteln diese Panels eine beruhigende, fast kontemplative Atmosphäre. Die Figur scheint in einem friedlichen Leben angekommen zu sein, das für sie sinnvoll und erfüllend sein wird. Die erste Unterrichtsstunde im Roman verläuft ruhig, die jüngsten Kinder in der altersgemischten Klasse sind sieben, die ältesten zehn Jahre alt.123 Die Kinder arbeiten still und gewissenhaft, schauen erwartungsvoll oder abwartend, was ihr Lehrer für sie bereithält. Diese Szenerie findet sich auch im Comic wider. Die Panels 53–54 enthalten als Begleittexte größere, wörtlich übernommene Textpassagen aus dem Roman. Panel 54 legt die fatalistischen Gedankengänge und Selbstzweifel Ernst Birkholz’ nahezu unverändert dar: Hier stehe ich vor euch, einer der hunderttausend Bankrotteure, denen der Krieg jeden Glauben und fast alle Kraft zerschlug – hier stehe ich vor euch und empfinde, wieviel lebendiger und daseinsverbundener ihr seid als ich – hier stehe ich vor euch und soll euch nun Lehrer und Führer sein. Was soll ich euch denn lehren? Soll ich euch sagen, daß ihr in zwanzig Jahren ausgetrocknet und verkrüppelt seid, verkümmert in euren freiesten Trieben und unbarmherzig zu Dutzendware gepreßt? Soll ich euch erzählen, daß alle Bildung, alle Kultur und alle Wissenschaft nichts ist als grauenhafter finds his way into life’s harmonies«, vgl.: Wythe Williams. »Interview mit E. M. Remarque«. New York Times, 13.10.1929), 8; zitiert nach: Taylor, Erich Maria Remarque, 297. 121 Ebd., 89. 122 Vgl. dazu: Rabe, »Remarque und Osnabrück«, 205–210. Remarque schlüpft in späteren Jahren noch einmal in die Rolle des Lehrers, nun aber als Schauspieler in der Verfilmung seines Romans Zeit zu leben, Zeit zu sterben (1954); A Time to Love and a Time to Die. USA 1958. Regie: Douglas Sirk, 132 Min. Vgl. zu den autobiografischen Bezügen und Remarques Lehrerlaufbahn z.B.: Bernhard Stegemann. »Autobiographisches aus der Seminar- und Lehrzeit von Erich Maria Remarque im Roman Der Weg zurück.« Schneider (Hg.), Erich Maria Remarque, 57–67. 123 Remarque, Der Weg zurück, 2014, 242–246.

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Panel 81–82: Ending-Splash

Hohn, solange sich Menschen noch mit Gas, Eisen, Pulver und Feuer im Namen Gottes und der Menschlichkeit bekriegen? Was soll ich euch lehren, ihr kleinen Geschöpfe – ihr, die ihr allein rein geblieben seid in diesen furchtbaren Jahren?124

Auch der Begleittext im vorletzten Panel des Comics ist wörtlich dem Roman entnommen und gibt weitere selbstreflexive, pazifistische Gedanken der Figur wieder.125 Schlusspunkt setzt ein halbseitiges Ending-Splash (P. 82), das aus dem herkömmlichen Rahmenraster herausfällt und das positive Ende der Handlung betont. Die beiden letzten Panels sind nicht nur visuell, sondern auch inhaltlich ineinander verschränkt. Die pessimistischen Einschätzungen, die in Panel 81 wiedergegeben werden, weichen in Panel 82 positiven und in eine hoffnungsvolle Zukunft gerichteten Gedanken. Ernst spricht zu sich selbst, ist aber seinen Schülern zugewandt:

124 Ebd., 274f. 125 Vgl. P. 81: Remarque, Der Weg zurück, 2014, 372 [»Ein Teil meines Daseins […] in den Jahren der Granaten und der Maschinengewehre.«].

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Ich werde wie vorher Lehrer sein. Ich werde dafür sorgen, dass meine Jun­ gen Männer werden, klare, vernünftige, anständige und gesunde Männer.

Aus Jungen sollen keine Soldaten mehr werden, sondern vernünftige, verantwortungsvolle Menschen. Übereinstimmend verrät der Begleittext, dass der Protagonist, anders als es beim zwar optimistischen, aber offenen Ende des Romans der Fall ist, seine Bestimmung gefunden hat: Zwischen all der Verzweiflung ist die Hoffnung wiedergeboren worden. Das Leben ist eine Mission. Das Leben ist ein Weg. Als Ernst aus den Schützengräben zurückkehrt, klammert er sich entschlossen an das Leben, um sein Schicksal als Lehrer zu erfüllen. Lehren. Menschen bilden. Die Zukunft aufbauen.

Schlussbetrachtung Alberto Breccia stimmt in seiner Darstellung mit den pazifistischen, antimilitaristischen Gedanken und Absichten Remarques vollständig überein und liefert mit seiner Comic-Adaption zu Der Weg zurück ein »fiktionales Korrektiv«,126 indem er die traumatischen Folgen des Ersten Weltkrieges für den Einzelnen und die Gesellschaft visualisiert. Seine Zeichnungen sind expressiv, einprägsam und ergreifend. Sie künden vom Leid der unzähligen Betroffenen und der akuten gesellschaftlichen Depression, die einen Neuanfang im zivilen Leben fast unmöglich macht. Die Hauptfiguren kommen zwar – in anderen Fällen ist das nicht selbstverständlich – physisch unversehrt in der Heimat an, aber die »mentale« Rückkehr scheitert, oder es bleibt zumeist in der Schwebe, ob dem Einzelnen ein positiver Lebensweg beschieden ist. Breccia zeigt dem Leser nicht die große Befreiung vom Übel des Krieges, die überfällige Feier des (Über-)Lebens, sondern das Unglück und das Unglücklichsein einer ganzen Generation junger Menschen, die entwurzelt in den Tag hineintreibt und nicht weiß, wie und wo sie ankommen soll. Es geht weiter abwärts, nicht auf- und vorwärts. Der Weg dieser Jugend führt zurück, aber nicht in ein neues Leben, sondern in die Agonie der eigenen Existenz, obwohl man doch überlebt hat und heimgekehrt ist. Betrachtet man Breccias Comic, den er als Auftragsarbeit selbst als minderwertig klassifiziert hat, fällt besonders seine Meisterschaft ins Auge, den Roman angemessen zu reduzieren bzw. zu komprimieren. Die wichtigsten Schlüsselepisoden 126 Heinz-Peter Preußer. »Perzeption und Urteilsvermögen. Eine Einleitung zu Krieg in den Medien.« Ders., Krieg in den Medien, 29.

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der Romanhandlung werden in anspruchsvollen Zeichnungen umgesetzt. Dabei bewahrt er die literarische Vorlage stets vor einer Verzerrung oder gar Verstümmelung. Es werden große Teile des Romantextes wörtlich übernommen und in die Zeichnungen integriert. In einigen Aspekten ist Breccias Comic zurückhaltender, was zum Beispiel die Darstellung von Gewalt oder die Verwendung von Umgangssprache angeht. Das mag mit dem Geschmack des argentinischen Publikums der 1940er Jahre und mit der damit einhergehenden Frage zusammenhängen, was man damals als zumutbar erachtet hat. Breccia legt mit seiner Bearbeitung der Romanvorlage von Der Weg zurück eine in sich geschlossene Bilderfolge und –erzählung vor, so wie es schon in seiner Comic-Adaption zu Im Westen nichts Neues der Fall ist. Beiden Werken ist ebenfalls gemeinsam, dass trotz der erheblichen Textmenge, die der Leser in fast jedem Panel zu bewältigen hat, die Zeichnungen handlungstragend sind. Sie kämen auch ohne Begleittexte und Sprechblasen aus, was wiederum ein zentrales Qualitätsmerkmal eines Comics oder eben einer Graphic Novel ist. Die historischen Ereignisse in Der Weg zurück und zuvor in Im Westen nichts Neues sind zumindest teilweise ihres Kontextes enthoben, weil ihre literarische Dar­ stellung auf vom Ereignis unabhängige Kontinuitäten, Erkenntnisse und menschliche Probleme fokussiert: Es sind zwar deutsche Soldaten, die […] geschildert werden, aber ihre Erfahrungen, Denkmuster und Verhaltens­ weisen sind tendenziell global und damit auch international rezipierbar und gültig.127

Folgt man diesem Gedankengang, dann sind Breccias Comic-Adaptionen zu den beiden Romanen Remarques, von ihrer künstlerisch-ästhetischen Qualität einmal abgesehen, ebenso universell und noch heute rezipierbar. Es wäre in der Tat wünschenswert, dass beide Arbeiten, die heute nahezu vollständig in Vergessenheit geraten sind, wieder einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden könnten. Verdient hätten sie es.

127 Thomas F. Schneider. »Literatur als Gedenkort. Der Unbekannte Soldat und Erich Maria Remarque.« Ana R.Calero Valera, Olaf Müller, Olga Hinojosa Picón (Hgg.). A Quien Pertenecen los Muertos? Su memoria y Descanso en la literatura. Valencia 2019 (Quaderns de Filologia. Estudis Literaris 24), 123.

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Die notwendige Invasion Erich Maria Remarques Der Funke Leben und das Postulat des alliierten Befreierstatus

Der Funke Leben beginnt mit dem ersten alliierten Bombardement auf die nahe dem fiktiven Konzentrationslager Mellern gelegene, gleichnamige Stadt. Wenn Häftling 509 seinen Mitgefangenen in Baracke 22 von der Bombardierung berichtet, ist dies den Häftlingen mitnichten ein Grund zur Freude, sondern verursacht im Gegenteil Angst und Panik. Die Schilderung trifft zunächst auf Schweigen, wird aber in der Folge mehrfach vom Schreien eines Häftlings unterbrochen:1 »›Du mit deinem verfluchten Bombardement‹, schrie der Mann im Dunkeln. ›Halt doch endlich deine Schnauze!‹«2 Bereits die Rede über Dinge außerhalb des Lagers überwältigt den namenlosen Insassen, der wiederholt darauf drängt, das Beschreiben der Vorgänge in und über Mellern zu unterbinden. Derweil offenbart sich die Beunruhigung der »Veteranen« darin, dass sie ihren in Schichten organisierten Zeitplan zum Verlassen der Baracke vernachlässigen – eine Maßnahme, die kurz zuvor noch als ihr gruppendefinierendes »Recht« vorgestellt wurde.3 Noch deutlicher reagiert der »Veteran« »Schäferhund«, dessen Knurren und panisches Bellen die allgemeine Anspannung, die das Bombardement in der Sektion auslöste, aufnimmt und kundtut.4 Indessen ist es weniger die greifbare Gefahr einer Bombardierung des Lagers, die diese Reaktionen hervorruft, sondern das gewaltsame Eindringen einer Schilderung der Außenwelt in die Isolation der Gefangenschaft. Für die Häftlinge, die mitunter seit Jahren versuchen, die Vernichtungsstrategien des Konzentrationslagers zu überstehen, bedeutet das 1 Erich Maria Remarque. Der Funke Leben. Roman. Vollständig rekonstruierte Originalfassung. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018, 25–28, 35. 2 Ebd., 27. 3 Ebd., 10, 26. 4 Ebd., 26.

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erste Bombardement auf Mellern einen radikalen Eingriff in ihre Lebenswelt. Dessen Ausformulierung und Wiederholung in 509s Bericht können sie daher kaum verkraften. So versuchen sie, von der Neuigkeit abzulenken, indem sie ihre Gespräche auf bekannte Phänomene innerhalb des Lagers, etwa mögliche »Vergeltungsmaßnahmen« seitens der SS, lenken.5 Von den Möglichkeiten oder Risiken, die die alliierte Invasion für sie und Mellern bedeuten könnte, wollen sie nichts wissen. Nichtsdestotrotz befreien die Alliierten letztlich nicht nur das Lager Mellern, vielmehr avanciert ihre Invasion im Laufe des Romans zum zentralen – und einzigen – Moment einer Sinnstiftung für die Gefangenen. Besonders deutlich wird dieser Wandel der Stellung der Häftlinge zu den Vorgängen außerhalb des Lagers in einer Szene gegen Ende des Romans. Die »Veteranen« meinen, in einem tieffliegenden Beobachtungsflugzeug der U.S. Air Force ein Vorzeichen der Befreiung zu erkennen, welches ihnen im Wedeln der Tragflächen zu signalisieren scheint, nur noch etwas durchzuhalten: Unbekannte Retter winkten ihnen zu. Sie waren nicht mehr allein. Es war der erste sichtbare Gruß der Freiheit. Sie waren nicht mehr der Dreck der Erde. Man schickte, trotz Gefahr, ein Flugzeug, um ihnen zu versichern, daß man um sie wisse und daß man käme für sie.6

Das baldige Eintreffen der Alliierten ist den Häftlingen hier zentrales Hoffnungsmoment geworden, welches ihnen als bereits greifbare, sie »grüßende Freiheit« erscheint. Der Unterschied zum Beginn des Romans liegt nicht nur in der Qualität dieser Hoffnung, sondern darin, dass die Gefangenen überhaupt hoffen und ihr Dasein darin wieder eine zeitliche Perspektive erhält. Ein solches Harren und Erwarten ist bei 509s initialem Bericht weder vorhanden noch angesichts der Reaktionen der Häftlinge überhaupt vorstellbar. Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit der Bedeutung der alliierten Invasion für das Lager Mellern, die Befreiung der Häftlinge sowie die Prozesse ihrer im Laufe des Romans erstarkenden mentalen Emanzipation. Darin soll gezeigt werden, dass Der Funke Leben das militärische Eingreifen der Alliierten als eine Notwendigkeit setzt. Die Häftlinge des »Kleinen Lagers« werden über die gesamte Länge des Romans als »Skelette« bezeichnet, was nicht nur ihren physischen Zustand, sondern auch eine geistige Verfassung beschreibt, die nicht einmal theoretisch eine Veränderung ihres Zustandes zu imaginieren vermag: Sie sind »Skelette« auch in dem Sinne, dass jedes Bewusstsein für die Außenwelt ihnen zum unangenehmen 5 Ebd., 26f. 6 Ebd., 454, vgl. 452f.

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und gefährlichen Eindringen wird, weswegen einzig ein Eingreifen von außen zu einer Veränderung ihrer der Lage führen kann. Darin ergänzt und korrigiert der Artikel eine Tendenz in der Remarque-Forschung, welche Der Funke Leben in erster Linie als Appell für humanes Engagement und individuelle Menschenwürde bespricht.7 Trotz der existentiellen Notlage, in der sich die Häftlinge befanden, seien sie in der Lage gewesen, auf Basis moralischer Grundsätze zu handeln, die sich auch unter Folter und Leid nicht aus ihnen haben tilgen lassen. Die Gefangenen handelten im Bewusstsein einer »moralischen Kompetenz« für »Menschlichkeit, Toleranz und Meinungsfreiheit«, welche in scharfem Kontrast zur Negation menschlicher Würde von Seiten der SS stehe.8 Firda spricht in Bezug auf die Entwicklung 509s gar von einem »final boon of real heroism of which most survivors can only dream while they remain alive.«9 Der titelgebende Lebensfunke wird gleichsam zum Nukleus einer Emanzipation des unfreien Individuums erklärt, in welchem die Hoffnung auf Freiheit heranwächst und in den Bereich tatsächlichen Widerstandes überschwappt. Dieser bei den Häftlingen festgestellte Widerstand meine indessen weniger das Vorgehen gegen die SS, sondern vielmehr das Beharren auf einem universellen, aber vom NS negierten Humanismus: Dieses Widerstehen ist von keinem politischen Programm geprägt. Widerstehen heißt hier Hoffen. Besinnen auf elementar Mitmenschliches unter den unmenschlichen Bedingungen des »kleinen Lagers«. Eine Geste, ein Wort, ein Stück Brot, das geteilt wird.10 7 Vgl. etwa Brian Murdoch. The Novels of Erich Maria Remarque: Sparks of Life. Rochester und Woodbridge: Camden House (Studies in german literature, linguistics, and culture), 2006; Heinrich Placke. »Naturrecht und menschliche Würde: Anmerkungen zu den Sinnpotentialen des Romans Der Funke Leben von Erich Maria Remarque«. Thomas F. Schneider, Tilman Westphalen (eds.). »Reue ist undeutsch«: Erich Maria Remarques Der Funke Leben und das Konzentrationslager Buchenwald: Katalog der Ausstellung. Bramsche: Rasch, 1992, 28–40; Heather Valencia. »The KZ Experience: Der Funke Leben in the light of recent work on the Holocaust in literature«. Brian Murdoch, Mark Ward, Maggie Sargeant (eds.). Remarque Against War: Essays for the Centenary of Erich Maria Remarque 1898–1970. Glasgow: Scottish Papers in Germanic Studies, 1998, 145–169; Hans Wagener. Understanding Erich Maria Remarque. Columbia: University of South Carolina Press, 1991 (Understanding Modern European and Latin American Literature). 8 Bernd Nienaber. »Der Blick zurück: Remarques Romane gegen die Adenauer-Restauration«. Tilman Westphalen (ed.). Erich Maria Remarque 1898–1970. Bramsche: Rasch, 1988, 79–93, hier: 83f.; vgl. Heinrich Placke. Die Chiffren des Utopischen: Zum literarischen Gehalt der politischen 50er-Jahre-Romane Remarques. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004 (Schriften des ErichMaria-Remarque-Archivs, 18), 454–495. 9 Richard A. Firda. Erich Maria Remarque: A Thematic Analysis of His Novels. New York: Peter Lang, 1988 (American University Studies, Series XIX: General Literature 8), 160, vgl. 146. 10 Martin Straub. »Bilder vom Widerstand: Erich Maria Remarques Der Funke Leben und spätere literarische Zeugnisse über Buchenwald«. Thomas F. Schneider (ed.). Erich Maria Remarque: Leben, Werk und weltweite Wirkung. Osnabrück: Rasch, 1998, 289–309, hier: 291; vgl. Cristina Fossaluzza.

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Dieser Interpretationsansatz geht soweit, in Der Funke Leben eine religiös konnotierte Passionsgeschichte zu erkennen.11 Zudem wird mitunter festgestellt, als Kulmination dieses Widerstandes habe in Mellern die Selbstbefreiung der Häftlinge stattgefunden.12 Die Emanzipation der Häftlinge sei somit der jedem Einzelnen entspringende Beleg für die universelle Kraft menschlicher Güte, welche den gezeigten Umständen im Lager zum Trotz stattfinden und sich durchsetzen könne. Die Auswirkungen der Invasion auf das Lager werden hingegen kaum beleuchtet und spielen bei der Interpretation des Romans eine zumindest untergeordnete Rolle. Thomas F. Schneider etwa fasst zusammen: Remarque gestaltet damit das Überleben nicht als abhängig vom äußeren Geschehen und der Willkür der SS, sondern vorrangig als inneren Prozess und damit abhängig von jedem Einzelnen.13

Indessen zeigt der vorliegende Artikel, dass die Invasion nicht nur für die letztliche Befreiung verantwortlich ist, sondern ab dem Moment der ersten Bombardierung jegliche Veränderung im Lager, sowohl auf Seiten der Häftlinge wie auf Seiten der SS, essentiell bedingt. Die durchaus evidenten Emanzipationsprozesse im Lager sind somit nicht den inneren Motivierungen der Häftlinge geschuldet, sondern stehen in engem Zusammenhang mit der militärischen Invasion, welche – auch für die Insassen zunächst gewaltsam – von außen in das Lager dringt. Die Setzung des alliierten Eingreifens als einzige Möglichkeit zur Befreiung der KZ etabliert eine Sicht auf die Invasion, die zunächst keine politische Komponente enthält. Gegen Ende des Romans hingegen ändert Remarque diese Perspektive plötzlich, indem er 509 eine scharfe und prinzipielle Kritik an der Sowjetunion und dem Kommunismus äußern lässt. Schließlich soll im Licht der vorigen Ergebnisse den Status dieser Kritik untersucht werden, die im Rahmen des Romans eine auffällige Anomalie darstellt.

»›Eine Expedition im hohen Eise‹: Psychologie des Ausnahmezustands in Erich Maria Remarques Roman Der Funke Leben«. Cristina Fossaluzza, Paolo Panizzo  (eds.). Literatur des Ausnahmezustands (1914–1945). Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015, 205–227, hier: 226. 11 Placke, Die Chiffren des Utopischen, 496. 12 Nienaber, 80. 13 Thomas F. Schneider. »Eine deutsche Geschichte: Zu Erich Maria Remarques Der Funke Leben«. Thomas F. Schneider (ed.). Der Funke Leben: Vollständig rekonstruierte Originalfassung. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2018, 586–616, hier: 607.

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Die Notwendigkeit der Invasion Der Alltag der Häftlinge im »Kleinen Lager« ist bestimmt von elementarster Bedürfnisbefriedigung: der Suche nach Nahrung, Bettstatt und Latrinenplatz. Physische Schwäche und ständiger Hunger bewirken zudem, dass sich ihr Vorstellungsvermögen auf Phänomene beschränkt, die innerhalb des von den Stacheldrahtzäunen bezeichneten Rahmens stattfinden. Das Lager stellt einen geschlossenen, ewig iterierenden Kreislauf der Arbeitsverwertung dar, in den stets neue Gefangene eingeliefert werden und zeitgleich der Tod immer präsent ist: »Fast alle starben rasch; aber neue kamen immer schon, wenn die andern noch nicht ganz tot waren, und so waren die Baracken stets überfüllt.«14 Die Krematoriums­ asche der Toten wird als Kunstdünger verkauft und weiterverwertet, sodass der verstorbene Häftling Silber nun »als Primelbusch im Garten des Kommandanten Neubauer« blüht.15 Selbst die Holzwände von Baracke  22 stammen aus einem polnischen Konzentrationslager, nicht aus der Außenwelt.16 Für die Gefangenen innerhalb dieses Kreislaufs existieren nur noch die Zusammenhänge, die das Lager ihnen auferlegt; vergangene Lebensstationen und ehemalige Berufe sind für sie ebenso irrelevant wie die Begründung, mit der sie ehemals inhaftiert wurden. Für die häufig seit Jahren gefangen Gehaltenen gibt es schlicht keine Perspektive eines Lebens »außerhalb« oder »nach« dem Lager mehr. So fehlen bei ihren biographischen Beschreibungen jegliche Angaben aus der Zeit vor der Inhaftierung. Jeder »Lebenslauf« im »Kleinen Lager« besteht lediglich aus der Aneinanderreihung von Aufenthalten in verschiedenen Ghettos und Konzentrationslagern.17 Das Lager ist der ultimative Gleichmacher, der jegliche individuelle Vorgeschichte sowie eine Charakterisierung von Figuren aus sich selbst heraus verneint. Die Betroffenen darin sind abgeschnitten von ihrer eigenen Vergangenheit und vegetieren ohne auch nur das theoretische Vorstellungsvermögen einer Änderung ihres Zustandes oder der sie bestimmenden Umstände. »Zeit war im Lager ein belangloser Begriff.«18 Indessen beschreibt ihre Isolation auch eine aktive Überlebensstrategie der Häftlinge. Deutlich erkennbar wird dies in der Darstellung der sogenannten »Klagemauer« – Barackenwänden, in denen ehemalige Häftlinge ihre Namen und 14 Remarque, Der Funke Leben, 9. 15 Ebd., 23f. 16 Ebd., 35. Noch das Sterben von 509 stellt ein Einfügen in diesen vom Lager aufgezeichneten Kreislauf dar: Der Beginn des Romans beschreibt sein Dahindämmern zwischen Ohnmacht und Schlaf als »Versinken in moorigen Tiefen, aus denen es kein Aufwachen mehr zu geben schien«. Ebd., 7. An diese Schilderung knüpft sein tatsächlicher Tod am Ende des Textes an: »[D]ann wurde die Erde, auf die er sich stützte, zu Moor, und er sank ein.« Ebd., 478. 17 Ebd., 24. 18 Ebd., 89, vgl. 142.

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kleine Botschaften hinterließen.19 »Lt. d. R. EK 1 & 2« steht dort als Namenszusatz unter einem Namen, womit sich der Ehemalige als Kämpfer im Ersten Weltkrieg und Träger des Eisernen Kreuzes zu erkennen gibt.20 509 sieht darin den Versuch des Häftlings, seinem Sterben eine besondere Bedeutung abzuringen: Als Soldat war er im Kampf für dieselbe Nation ausgezeichnet worden, in dessen Namen er nun vernichtet werden soll. Daher berge seine Haft eine besondere Ungerechtigkeit, sein Tod eine besondere Tragik.21 In diesem Beharren auf der soldatischen Vergangenheit sowie der an ihm verübten Gewalt, die seine Gedanken bis zuletzt prägten, erkennt 509 jedoch lediglich, dass der Ehemalige das Lager umso leidvoller erlebt habe: »Er war nur schwerer gestorben. Das Unrecht lag nicht in den Buchstaben, die er seinem Namen hinzugefügt hatte. Sie waren nur eine schäbige Ironie.«22 Jedes imaginierte Ausbrechen aus dem Lager birgt nicht Stärkung und Halt, der darin enthaltene Kontrast zu ihrer jetzigen Situation potenziert im Gegenteil nur das Leiden der Gefangenen. »Was man aussprach, verlor an Sicherheit und Kraft, – und eine getäuschte Hoffnung war immer ein schwerer Verlust an Energie.«23 Deswegen versuchen die »Veteranen«, das sie vernichtende Lager vollständig als gegeben hinzunehmen: Das Abfinden mit der Haft sowie das konsequente Ausblenden jeglicher Vorstellung von dessen Nichtexistenz – etwa in Erinnerungen oder Imaginationen der Freiheit – vergrößert zumindest nicht ihr Leid und kann so zur Überlebensstrategie werden. Dies bedeutet auch, dass das Hoffen auf eine Verbesserung ihrer Situation nicht zugelassen wird, da diesem die Gefahr innewohnt, bei Nichteintreten die Häftlinge noch mehr zu schwächen. Diese negative Bestimmung von Hoffnung wird etwa in 509s Betrachtungen der Stadt Mellern deutlich: Bot der Anblick der Stadt in den ersten Jahren seiner Gefangenschaft noch »das fast unerträgliche Bild der verlorenen Freiheit«,24 bleibt in der letzten Stufe seiner Gefangenschaft jede emotionale Teilhabe aus. Das »unveränderte Bild«25 Mellerns ist vielmehr Garant für die immerwährende Stetigkeit sowohl der Stadt wie auch des Lagers. Schließlich war auch der Haß erloschen. Der Kampf um eine Brotkruste war wichtiger geworden als alles andere – und ebenso die Erkenntnis, daß Haß und Erinnerungen ein gefährdetes Ich ebenso zerstören konnten wie Schmerz. 509 hatte gelernt, sich einzukapseln, zu vergessen und sich um

19 Ebd., 35f. 20 Ebd., 36. 21 Ebd., 37. 22 Ebd., 28. 23 Ebd., 85. 24 Ebd., 18. 25 Ebd., 19.

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nichts mehr zu kümmern als um die nackte Existenz von einer Stunde zur andern. Die Stadt war ihm gleichgültig geworden und ihr unverändertes Bild nur noch ein trübes Symbol dafür, daß auch sein Schicksal sich nicht mehr ändern würde.26

Die Gleichgültigkeit ist somit nicht Ergebnis der Umstände, sondern aktiv zu erlernende Strategie. Diese wird durch das Aufprallen der ersten Bomben auf Mellern radikal in Frage gestellt: Jetzt brannte sie. Er spürte, wie seine Arme zitterten. Er versuchte, es zu unterdrücken, doch er konnte es nicht; es wurde stärker. Alles in ihm war plötzlich lose und ohne Zusammenhang. Sein Kopf schmerzte, als wäre er hohl und jemand trommele darin. Er schloß die Augen. Er wollte das nicht. Er wollte nichts wieder in sich aufkommen lassen. Er hatte alle Hoffnung zerstampft und begraben. Er ließ die Arme auf den Boden gleiten und legte das Gesicht auf die Hände. Die Stadt ging ihn nichts an. Er wollte nicht, daß sie ihn anginge. Er wollte weiter, wie vorher, gleichgültig die Sonne auf das schmutzige Pergament scheinen lassen, das als Haut über seinen Schädel gespannt war, wollte atmen, Läuse töten, nicht denken, – so wie er es seit langem getan hatte. Er konnte es nicht. Das Beben in ihm hörte nicht auf.27

Tief erschüttert von den Bombeneinschlägen, die sich im Zittern seines Körpers fortsetzen, wiederholt 509 dreimal insistierend, dass ihn die Außenwelt nichts anginge: 509 zwang sich, das alles [das Lager] genau zu betrachten. Dieses war seine Welt. Keine Bombe hatte sie getroffen. Sie lag unerbittlich da wie immer. Sie allein beherrschte ihn; das da draußen, jenseits des Stacheldrahts, ging ihn nichts an.28

Dabei schaut er sogar »auf das Lager, und er blickte zum erstenmale darauf, als erwarte er Hilfe von dort.«29 Das Bombardement stellt seine Weltsicht radikal in Frage, die bis dahin aktiv »alle Hoffnung zerstampft und begraben« und »Gleichgültigkeit« geübt hatte. Dabei ist es tatsächlich nur der Aufprall der ersten Bombe, welcher 509 gerade noch einmal aus dem Sterben herausreißt, in welches er zuvor

26 Ebd. 27 Ebd., 19f. 28 Ebd., 21, vgl. 14, 20. 29 Ebd., 20, vgl. 17.

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hineindämmerte.30 Bereits in dieser, ersten Episode des Romans ist die Ambivalenz der Invasion als einziges, hier besonders drastisches, Mittel des Überlebens wie auch als Infragestellen der bisherigen Überlebensstrategie der Häftlinge angelegt. Wenn nachfolgend der aufgegebenen Hoffnung doch Raum gegeben wird, 509 über das mögliche Ende des Lagers nachsinnt31 und etwa Genugtuung darüber empfindet, dass bei der Bombardierung auch die SS Verluste erlitt,32 offenbart sich die Gefahr dieses geistigen Aufbrechens. Erstmalig beurteilt 509 seinen Mitgefangenen Bucher in der Perspektive eines möglichen Lebens nach der Befreiung: Bucher war fünfundzwanzig Jahre alt und seit sieben Jahren im Lager. Sein Vater war Redakteur einer sozialdemokratischen Zeitung gewesen; das hatte genügt, den Sohn einzusperren. Wenn er hier wieder herauskommt, kann er noch vierzig Jahre leben, dachte 509. Vierzig oder fünfzig. Ich dagegen bin fünfzig. Ich habe vielleicht noch zehn, höchstens zwanzig Jahre.33

Das theoretische Durchdenken der Befreiung lässt 509 das Lager als »verlorene Zeit« betrachten, die für den jüngeren Bucher leichter zu verkraften scheint als für ihn selbst. Das Ende des Lagers ist keine positive Imagination, sondern löst eine depressive Reaktion aus, die lediglich die Dauer seiner Gefangenschaft betont. Nachfolgend muss 509 sich durch Kauen und die Vorstellung von Nahrungsaufnahme dazu zwingen, diesen quälenden Gedanken fallenzulassen: »Er zog ein Stück Holz aus der Tasche und begann daran zu kauen. Wozu denke ich plötzlich an sowas?«34 Jegliche Vorstellung von der Nichtexistenz des Lagers birgt nicht Erleichterung, sondern bedeutet eine Verschlechterung der Lebensumstände. Die Hoffnung ist eine zusätzliche Gefahr, der man ebenso wie dem Sterben nicht nachgeben darf: »Man kann es kaum sagen, dachte er [509], es erschlägt einen fast, es ist ein so ungeheures Wort.«35 Das erste Bombardement auf Mellern verdeutlicht zum einen die Verfassung der Häftlinge, die dermaßen geschwächt sind, dass ihnen selbst das Hoffen zur existentiellen Gefahr wird. Zum anderen veranschaulicht der Luftangriff die Notwendigkeit eines Eingreifens von außen, da aus den Reaktionen der Gefangenen hervorgeht, wie wenig sie selbst in der Lage sind, eine Veränderung ihrer Situation herbeizuführen.

30 Ebd., 7. S. Anm. 16. 31 Ebd., 86f. 32 Ebd., 40. 33 Ebd., 29. 34 Ebd. 35 Ebd., 84, vgl. 21.

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Auswirkungen des militärischen Eingreifens Sachlich wirkt sich das militärische Eingreifen der Alliierten bis zum Moment der letztlichen Befreiung durchweg negativ auf die Lebensumstände im Lager Mellern aus. Es besteht die Gefahr willentlicher oder irrtümlicher Bombardierung durch die alliierte Luftwaffe. Weiterhin verschlechtert sich die ohnehin prekäre Versorgungslage im Lager durch das Näherrücken der Front, gestörte Transportwege und mangelnde Güter. Aus aufgelösten Lagern kommen zudem wiederholt neue Insassen nach Mellern und strapazieren die Infrastruktur des ohnehin überfüllten Lagers. Daneben schürt die drohende militärische Niederlage die Nervosität der SS, welche mit verschärfter Brutalität auftritt, noch viele Häftlinge als potentielle Zeugen ermordet und letztlich die Auflösung des Lagers und einen Todesmarsch befiehlt.36 Die Gruppe der »Veteranen« kann dabei als Indikator für die sich zuspitzende Situation im Frühjahr 1945 gelesen werden: Von den 44 »Veteranen« am Anfang des Winters 1944 sind zu Beginn der Handlung noch zwölf am Leben. Lediglich fünf von ihnen erleben tatsächlich die Befreiung des KZ.37 Hingegen zeigt Der Funke Leben auch, dass es maßgeblich die Auswirkungen der Invasion sind, die das Überleben vieler Häftlinge gewährleisten – und dies bereits Monate vor der tatsächlichen Niederlage des Deutschen Reiches. Für die SS bedeutet die alliierte Invasion den unvermeidlichen Zusammenbruch Nazideutschlands und zwingt ihren Mitgliedern die Entscheidung auf, entweder noch möglichst viele Häftlinge zu beseitigen oder aber diese bis hin zur aktiven Teilhabe an deren Widerstand zu unterstützen.38 Zwar wird diese Unterstützung konsensuell als Versuch gewertet, »sich ein Alibi zu verschaffen«,39 dennoch ermöglicht sie vielen Insassen, die andernfalls verstorben wären, das Überleben. Nach dem ersten Luftangriff auf Mellern äußert Lagerkommandant Neubauer: »Wer will schon im letzten Moment hops gehen?«40 Angesichts des drohenden Zusammenbruchs geht es ihm vor allem darum, sich abzusichern für die unvermeidbare Niederlage und sein Überleben nach dem Nationalsozialismus. Verstört sammelt er Material zur Denunziation seiner SS-Kameraden und ist bedacht darauf, die eigene Milde gegenüber den Häftlingen herauszustellen.41 Bedeutsamstes Ergebnis dieses Kurses ist, dass die Häftlinge für Stabsarzt Wieses Experimente tatsächlich »freiwillig« ausgewählt und die Verweigerer Bucher und 509 lediglich 36 Ebd., 429f., 445. 37 Ahasver, Berger, Bucher, Karel und Lebenthal. Die beiden »Veteranen« Meyer und Meyerhof erwähnt der Roman nach dem letzten Massaker der SS um Obersturmbannführer Weber nicht mehr. Es ist somit davon auszugehen, dass sie beim Abbrennen von Baracke 22 ums Leben kamen. 38 Ebd., 435. 39 Ebd., 465. 40 Ebd., 59. 41 Ebd., 52–59, 191, 462.

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mit einer relativ kurzen Bunkerstrafe bestraft werden.42 Dass Neubauer dadurch auch den ungeliebten Stabsarzt schneiden und seinen SS-Konkurrenten Weber in die Schranken weisen kann, sind Nebeneffekte einer Strategie, die bereits auf das Überleben nach der Niederlage ausgerichtet ist. Nur aufgrund der soeben in der Zerstörung seiner Mellerner Immobilien akut gewordenen Invasion benötigt Neubauers Regime überhaupt diese Dimension der »Milde«. Diese jedoch ermöglicht es Bucher und 509 den Bunker zu überleben und in der Folge zu Hoffnungssymbolen der baldigen Befreiung inszeniert zu werden.43 Maßgebliche Auswirkungen für das gesamte Lager hat Neubauers Kurs unmittelbar vor der Ankunft der Alliierten: Bestrebt, sein Bild als gütiger Gefängnisdirektor zu festigen, widerruft er den von Weber verhängten Befehl zum vollständigen Nahrungsentzug und verzögert außerdem die angeordnete Auflösung Mellerns sowie das Bilden von Todesmärschen.44 Diese Maßnahmen Neubauers sind direkt durch die Nähe der Front sowie den Zusammenbruch des NS motiviert und scheinen in einer anderen militärischen Lage kaum vorstellbar. Seitens der Häftlinge initiiert die Weigerung 509s und Buchers zur Unterzeichnung der Freiwilligenerklärung zentrale Emanzipationsprozesse. Unter den Häftlingen des Arbeitslagers scheint es extrem ungewöhnlich, dass zwei der »Skelette« des »Kleinen Lagers« eine Formalität verweigern und dies auch noch überleben konnten.45 Vor allem Lewinsky greift ihr Überleben auf zur Mobilmachung des gesamten Lager: »Wenn [sie] nicht [sterben], dann werden sie für das Lager ein Beispiel dafür sein, daß sich etwas geändert hat.«46 Für die Häftlinge des »Kleinen Lagers« bedeutet dies, erstmalig engeren Kontakt mit den Insassen des Arbeitslagers zu erhalten und über die Geschehnisse außerhalb des Stacheldrahts informiert zu werden. So bringt Lewinsky den »Veteranen« die Zeitungsmeldung von der alliierten Überquerung des Rheins bei Remagen. Dieser Schnipsel lässt sie die Unvermeidbarkeit der deutschen Niederlage akzeptieren und markiert so den Wendepunkt ihrer Haltung gegenüber dem Lager.47 Der Kontakt mit dem Arbeitslager leitet einen Prozess ein, der bei den als vollständige Produkte des Lagers eingeführten Häftlingen wieder Momente von Subjektivität auftreten lässt und an dessen Kulminationspunkt die erstmalige Namensnennung des zuvor konsequent »509« genannten Friedrich Koller steht.48 Es findet eine Veränderung ihrer Haltung statt, welche das Lager nicht mehr als vollständig gegeben akzeptiert:

42 Ebd., 96f. 43 Ebd., 131. 44 Ebd., 436, 460–464, vgl. 429. 45 Ebd., 128f. 46 Ebd., 131. 47 Ebd., 140–143, 226. 48 Ebd., 274.

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Die »Veteranen« begegnen den gewohnten Prügelstrafen durch den Blockältesten Handke nicht mehr mit Gleichgültigkeit, sondern mit Empörung und Hass.49 Bargen Vorstellungen von Zeiten und Orten außerhalb des Lagers bisher nur das Risiko der Verschlechterung ihrer derzeitigen Situation, bieten sie nun tatsächlich Ablenkung vom alltäglichen Leid50 sowie eine mentale Stärkung gegenüber Kapos und SS.51 Von nun an gilt es nicht mehr, das Lager zu akzeptieren, um das Sterben möglichst lange hinauszuzögern, sondern Zeit zu gewinnen und durchzuhalten bis zur Befreiung.52 Obwohl sich an den Bedingungen der Haft und den Maßnahmen der »Veteranen« sachlich wenig ändert und, wie die Episode um den Tod des »Veteranen« Westhof zeigt, nach wie vor jede Form widerständigen Auftretens tödlich enden kann,53 wandelt sich das Überlebensprogramm der »Veteranen« dahingehend grundlegend, dass überhaupt wieder ein Ziel existiert, bis zu dem es durchzuhalten gilt: »Es ist ein Rennen […]. Ein Wettrennen […]. Mit denen da [der SS]! Wir dürfen jetzt nicht noch verlieren. Das Ende ist in Sicht […].«54 Lediglich durch die Überzeugung, einen überschaubaren Zeitraum von einigen Wochen, dann Tagen, überbrücken zu müssen, werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass gerade die Häftlinge des »Kleinen Lagers« überhaupt bis zur Ankunft der alliierten Truppen durchhalten können. Währenddessen beginnen angesichts der wiederholten Fliegerangriffe die in den umliegenden Betrieben arbeitenden und zur Trümmerbeseitigung herangezogenen Häftlinge des Haupt- und Arbeitslagers die bis dahin uneingeschränkte Herrschaft der SS zu hinterfragen: Die alliierten Bomber stellen eine Gefahr für die Häftlinge, aber gleichermaßen auch für die Bevölkerung Mellerns und die SS dar. Bei den Gefangenen begründet dies ein Gefühl der Genugtuung darüber, nicht mehr die alleinigen Leidtragenden zu sein.55 Das Aufeinandertreffen eines Arbeitskommandos mit einem Zug deutscher Flüchtlinge scheint den Häftlingen »unerhört zu sein«,56 da sie hier erstmals eine Ähnlichkeit mit der gleichermaßen bedrohten deutschen Bevölkerung feststellen. Diese Aufwertung setzt sich fort beim Ausgraben von Zivilisten aus Trümmern unmittelbar nach einer Bombardierung. Die geleistete Hilfe weckt bei den Insassen das Gefühl, selbst als Befreier aufzutre49 Ebd., 156, 160f., 268. 50 Ebd., 432–434. 51 Ebd., 325f. 52 Ebd., 85. 53 Westhof wird von Kapo Handke erschlagen, nachdem er widersprochen hatte, Jude zu sein, und den Befehl zum Hinlegen nicht umgehend ausführte. Ebd., 155–158. 509 führt dieses Verhalten auf die wiedererstarkte Hoffnung in den Häftlingen zurück, die nach wie vor als Gefahr identifiziert wird. Ebd., 160f. 54 Ebd., 85. 55 Ebd., 292, 303–305. 56 Ebd., 199.

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ten, anstatt lediglich auf Befreiung zu warten: »Anstatt daß – sie uns befreien – […] befreien wir – sie –«.57 Die Gefährdung der Mellerner bedeutet ein Angleichen ihrer Situation an die Lage der Häftlinge, bei denen die Vorstellung aufkommt, »daß das Pendel zurückschwang« in »einer ungeheuren, unpersönlichen Gerechtigkeit«.58 Das Gefühl einer gemeinsamen Bedrohung spitzt sich zu, als erstmals die Leichen verschütteter SS-Leute geborgen werden, nach denen die Gefangenen »voll Haß und Genugtuung« suchen, »als grüben sie nach Gold«.59 Die Wachtruppe tritt in der Folge mit größerer Brutalität, jedoch auch zunehmender Verunsicherung und Ratlosigkeit auf.60 Erst diese Nervosität, zusammen mit der Zerstörung weiter Teile der Mellerner Infrastruktur, ermöglicht das Aufnehmen von durch die Zivilbevölkerung deponierten Waffenteilen, womit jene Hilfe initiiert werden kann, die schließlich zum Formieren eines bewaffneten Widerstandes führt.61 Die letztendliche Befreiung der Gefangenen vollzieht sich somit in zweifacher Weise bedingt von der alliierten Invasion: Zum einen konnte sich die bei den Häftlingen des »Kleinen Lagers« festgestellte Entwicklung eines Bewusstseins für die Möglichkeit der Befreiung sowie die Akzeptanz der Hoffnung auf diese nur durch das Nahen der Front etablieren. Zweitens ist die Organisation von Widerstand, der die Aktionen der SS gezielt hinauszögert und dieser schließlich bewaffnet gegenübertritt, nur vorstellbar durch die vom Frontverlauf verursachten Auflösungserscheinungen innerhalb der Wachtruppe.62 Trotz der zahlenmäßigen Übermacht der Häftlinge und deren Besetzung von fast allen Schlüsselpositionen im Lager erscheint offener Widerstand aber undenkbar. Die Gefangenen sind physisch extrem geschwächt, nur gering bewaffnet und unzureichend mit Munition ausgestattet.63 Bezeichnenderweise erweist sich der Revolver, den der kommunistische Untergrund bei 509 versteckte, diesem zwar als machtvolles Instrument zur Selbstverteidigung.64 Sein letztliches Schießen auf Weber wirkt jedoch angesichts der betrunkenen SS-Truppe, die mit Benzin und Maschinengewehren anrückt, verschwindend klein und hilflos. Auch bemerkt die SS die Schüsse von 509 zunächst gar nicht und meint, Querschläger der eigenen Leute hätten Weber getroffen.65 Der

57 Ebd., 305. 58 Ebd., 201. 59 Ebd., 401. 60 Ebd., 70–72. 61 Ebd., 193f., 210. 62 Neben den psychologischen Auflösungserscheinungen stellt der Roman fest, dass die Wachtruppen bis zum Frühjahr 1945 auf ein Drittel ihrer eigentlichen Stärke reduziert worden waren, um möglichst viele Männer für den Einsatz an der Front freizumachen. Ebd., 12. 63 »Selbst mit hundertmal soviel Revolvern hätten die Gefangenen im offenen Kampf keine Chance gehabt gegen die Maschinengewehre.« Ebd., 459. 64 Ebd., 272f. 65 Ebd., 472.

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Erfolg der bewaffneten Übernahme des Lagers durch die Häftlinge erklärt sich ausschließlich durch das Überraschungsmoment, das die ohnehin durch Flucht und innere Konkurrenzkämpfe zermürbte SS überrumpelt. Tatsächlich gehen die verbliebenen Wachtruppen von der Ankunft der Amerikaner aus, da man sich ein bewaffnetes Aufbegehren der Häftlinge nicht vorstellen kann.66 Die Fragilität der geglückten Übernahme des Lagers bekundet sich in der Prognose, dass es nur einer kleinen Abteilung vorüberziehender SS oder Hitlerjugend bedürfte, um das Lager zurückzuerobern.67 Die Übernahme Mellerns ist der Kulminationspunkt des individuellen wie gemeinschaftlichen Widerstandes der Häftlinge. Dieser ist jedoch lediglich aufgrund von Bedingungen denkbar, die von der militärischen Übermacht der nahenden Alliierten geschaffen wurden. Trotz der maßgeblichen Beteiligung der Häftlinge an ihrer Befreiung macht der Roman deutlich, dass das Ende der nationalsozialistischen KZ nicht ohne das Eingreifen der Alliierten hätte vollzogen werden können, ja, den Insassen im »Kleinen Lager« nicht einmal theoretisch vorstellbar schien.

Die Darstellung der Alliierten Der Funke Leben konstatiert die Notwendigkeit der alliierten Invasion als einzige Möglichkeit des Beendens der deutschen Konzentrationslager. Die Alliierten wie auch ihre militärischen Aktionen treten lediglich aus der Perspektive der Auswirkungen auf, die sie für die Lager haben, wodurch ihre Invasion als gerechtfertigt und zustimmungswürdig, sie selbst als Befreier legitimiert werden. Dieser Befreierstatus meint jedoch nicht das ideologische Akzeptieren der Mellern letztlich besetzenden Amerikaner: Die Alliierten in Der Funke Leben vertreten keine überlegene Politik oder Ideologie, noch werden sie als technisch superiore Kriegspartei gezeigt. Die am Ende des Romans auftauchenden GIs sind keine glorreichen Heldenfiguren, sondern schlicht die Ausführenden eines militärischen Unterfangens. Sie übernehmen die Versorgung und Unterbringung der Häftlinge sowie die Organisation der Aufräumarbeiten, individuelle Retter werden hingegen ebenso wenig identifiziert wie eine siegreiche Sache, für welche sie einstünden.68 In diesem Blick werden auch die Bombardierungen der Alliierten verhandelt: Zwar blendet Remarque die Zerstörungen und den vielfachen Tod von Zivilisten in Mellern durch den Bombenkrieg nicht aus. Dennoch ist dieser eine notwendige Begleiterscheinung für die letztliche Befreiung der Lager. Daher zeigt Der Funke

66 Ebd., 473. 67 Ebd., 482. 68 Vgl. ebd., 487–493.

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Leben die Verheerungen der alliierten Luftangriffe nicht als positive Auswirkungen eines ideologisch zu begrüßenden Kampfes, sondern als eine über die Stadt hereinbrechende Gewalt, die außerhalb des Rahmens militärischer Operationen stattfindet: Das erste, völlig unerwartete, Bombardement erscheint, »als wäre das Ganze eine Zeitlupenaufnahme und keine Wirklichkeit«.69 Beim folgenden Angriff »zwei Tage später« fallen die Bomben »rasch wie ein Schauer«.70 Die menschengemachten Angriffe auf Mellern erscheinen somit weniger als Auseinandersetzung von militärischen Feinden, sondern als unausweichliche Zerstörungen, vergleichbar den Folgen von Naturphänomenen. Ab dem Moment ihrer tatsächlichen Ankunft sorgen die Alliierten auf ganzer Linie für Verbesserungen der unmittelbaren Lage der Häftlinge. Der Roman wirbt jedoch auch für eine Akzeptanz der Alliierten über die militärische Invasion hinaus. Exemplarisch dafür steht die Reaktion eines amerikanischen Soldaten auf die Rechtfertigungen des gefangen genommenen Kommandanten Neubauer: Das werden in den nächsten Jahren zwei häufige Worte hier sein: Ich habe auf Befehl gehandelt, und: Ich habe nichts davon gewußt. […] Ich habe immer versucht, das beste zu tun – […] Das […] wird das dritte sein!71

Der Soldat durchschaut den Versuch Neubauers, das eigene Verhalten zu entschuldigen und möglichst unbescholten in die neue Gesellschaft entlassen zu werden. Weiter klingt im Roman das Vorhaben der Alliierten an, keine Standgerichte gegen die Verantwortlichen und Beteiligten nationalsozialistischer Verbrechen aufzustellen, sondern eine nach juristischen Grundsätzen aufgebaute Gerichtsbarkeit umzusetzen: Einer der GIs unterbindet den Gewaltausbruch des Häftlings Rosen gegen SS-Scharführer Niemann mit den Worten: »Come, come, – we’ll take care of that later.«72 Der Verweis auf die zeitliche Dimension eines »später« steht symptomatisch für den Anspruch der Amerikaner, nach der Niederlage Deutschlands als Besatzungsmacht aufzutreten und Projekte wie die Entnazifizierung zu initiieren und durchzuführen. Diese Vorhaben sind bereits im Bestehen des soeben befreiten Konzentrationslagers sowie im Verhalten der SS legitimiert. Remarque zeigt aber auch, wie geeignet gerade die Befreier zur Durchsetzung einer solchen Agenda sind: Der Roman stellt die Amerikaner als unbeteiligte, und darob unbefangene Dritte vor, auf die man bauen kann aufgrund ihrer Fähigkeit, die Rechtfertigungen 69 Ebd., 16, vgl. 14–18. 70 Ebd., 167. 71 Ebd., 489; vgl. Erich Maria Remarque. »Praktische Erziehungsarbeit in Deutschland nach dem Krieg (1944)«. Thomas F. Schneider (ed.). Ein militanter Pazifist: Texte und Interviews 1929–1966. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994, 66–83, hier: 68, 73. 72 Remarque, Der Funke Leben, 493.

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des Nazi-Personals zu durchschauen, sowie ihres Anspruches, über die militärische Zerschlagung des Nationalsozialismus hinaus in Deutschland aktiv zu sein und Probleme wie den Umgang mit dessen Tätern anzugehen. Diese, nur angedeuteten, Ansprüche der zukünftigen Besatzer begrüßt der Roman vollständig. Die Alliierten sind, eben weil sie als Befreier der KZ auftreten, dazu berechtigt, für den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland nach dem Faschismus einzustehen. Indessen schränkt Remarque diese Affirmation der Alliierten insofern ein, als er den Status begrüßenswerter Befreier lediglich für die Westalliierten, insbesondere die Amerikaner, gelten lässt, diesen der Sowjetunion aber vorenthält.

Remarques Antikommunismus – Kommunistischer Untergrund und totalitärer Vorwurf Die Affirmation der Amerikaner wird nicht über die ideologische Ausrichtung ihrer Politik oder die Gründe geleistet, weswegen sie gegen das Deutsche Reich Krieg führten, sondern lediglich durch die Auswirkungen, die ihre Invasion für die Befreiung der KZ hat. Die Absage dieses Befreierstatus gegenüber der Roten Armee hingegen wird in einer fraglos politisch-ideologischen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus ausgeführt. Die dahingehende Schlüsselszene ist ein Gespräch, das die Häftlinge Werner und 509 vor der Befreiung des Lagers führen, und in dem zu einer scharfen und kategorischen antikommunistischen Kritik ausgeholt wird.73 »[Es] muß selbstverständlich eine Partei da sein, die die Macht übernimmt. Eine geschlossene Partei […].« »Also deine Partei. Die Kommunisten.« »Wer sonst?« »Jede andere«, sagte 509. »Nur nicht wieder eine totalitäre.« […] »Die Zeit des Individualismus ist vorbei. Man kann nicht mehr allein stehen. Und die Zukunft gehört uns. Nicht der korrupten Mitte.« […]

73 Der Dialog brachte Remarque die scharfe Kritik politisch linker Kreise in der Bundesrepublik ein. Claudia Glunz. »›Eine harte Sache‹: Zur Rezeption von Erich Maria Remarques Der Funke Leben«. Schneider, Westphalen (eds.), »Reue ist undeutsch«, 21–27, hier: 25; Valencia, 148. Zudem war er bis in die 1990er Jahre der Hauptgrund dafür, dass Der Funke Leben in den Staaten des (ehemaligen) Ostblocks gar nicht oder lediglich ohne die nachfolgende Episode erscheinen konnte. Thomas F. Schneider. »›Heißes Eisen in lauwarmer Hand‹: Zur Rezeption von E.M.  Remarques Der Funke Leben«. Thomas F. Schneider, Dieter Voigt, Tilman Westphalen  (eds.). Erich Maria Remarque Jahrbuch IV. Osnabrück: Rasch, 1994, 29–44, hier: 35f.; Straub, 290, 294.

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»Wenn dieses hier vorbei ist«, sagte [509] langsam, »dann soll es mich wundern, wie lange es dauern wird, bis du ebenso mein Feind bist, wie die da auf den Türmen es jetzt sind.« »Nicht lange. Wir hier hatten eine Notgemeinschaft gegen die Nazis. Die fällt weg, wenn der Krieg zu Ende ist.« 509 nickte. »Es soll mich ebenfalls nicht wundern, wie lange es dauern würde, wenn ihr die Macht hättet, bis du mich einsperren ließest.« »Nicht lange. Du bist immer noch gefährlich. Aber du würdest nicht gefoltert werden. […] Wir würden dich einsperren und arbeiten lassen. Oder dich erschießen. […] Du weißt, daß Zwang nötig ist. Es ist die Verteidigung für den Beginn. Später wird er nicht mehr erforderlich sein.« »Doch«, sagte 509. »Jede Tyrannei braucht ihn. Und jedes Jahr mehr; nicht weniger. Das ist ihr Schicksal. Und immer ihr Ende. Du siehst es hier.« »Nein. Die Nazis haben den fundamentalen Irrtum begangen, einen Krieg anzufangen, dem sie nicht gewachsen waren.« »Es war kein Irrtum. Es war eine Notwendigkeit. Sie konnten nicht anders. Hätten sie abrüsten müssen und Frieden halten, so wären sie bankrott gewesen. Es wird euch ebenso gehen.« »Wir werden unsere Kriege gewinnen. Wir führen sie anders. Von innen.« »Ja, von innen und nach innen. Ihr könnt die Lager hier dann gleich behalten. Und sie füllen.« »Das können wir«, sagte Werner völlig ernst. »Warum kommst du nicht zu uns?« wiederholte er dann. »Genau deshalb nicht. Wenn du draußen an die Macht kämst, würdest du mich liquidieren lassen. Ich dich nicht. Das ist der Grund.«74

Die hier geübte Kritik beläuft sich nicht auf eine Auseinandersetzung mit dem Kommunismus; vielmehr wird diesem kategorisch vorgeworfen, ebenso totalitär  – und also verbrecherisch – zu agieren wie der Nationalsozialismus. Der Kommunismus wird dahingehend als Gefahr identifiziert, die eine Kontinuität des nationalsozialistischen Terrors und insbesondere der KZ bedeuten würde, nur unter verändertem ideologischem Vorzeichen.75 Tatsächlich ist der einzige vom Kommunisten Werner formulierte Kritikpunkt am Nationalsozialismus dessen »Fehler«, einen Krieg begonnen zu haben, der nicht zu gewinnen gewesen sei. Daneben unterstellt 509 den Kommunisten, als Anhänger einer totalitären Ideologie zu keinerlei Meinungsaustausch in der Lage zu sein: »Er [509] wußte, daß eine Diskussion mit einem Kommunisten ebenso zwecklos war wie mit einem 74 Remarque, Der Funke Leben, 406–409. 75 Vgl. Schneider, »Eine deutsche Geschichte«, 607.

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Nazi.«76 Das Gespräch sticht in seiner politischen Deutlichkeit aus dem übrigen Text heraus: Spielten bis dahin die »Nationalität, Religion, Beruf, Herkunft, politische Meinung« der Häftlinge keine Rolle,77 werden diese Kategorien in der Auseinandersetzung mit dem Kommunisten Werner auf einmal zu bedeutsamen Determinanten. Auch der Vorwurf, die sowjetischen Sonderlager stellten eine direkte Kontinuität der nationalsozialistischen KZ dar, wird im Text weder beglaubigt noch weiter verhandelt: Anstelle einer Auseinandersetzung mit den Lagern des Ostens oder der Diskussion, inwiefern eine Vergleichbarkeit der beiden Phänomene angebracht sei, wird der Sowjetunion lediglich durch den Verweis darauf, Lager zu unterhalten, Unrecht und Gewalt unterstellt. Dies erstaunt insofern, als sich Der Funke Leben Vergleichen dieser Art ansonsten verwehrt: Zu denken ist hierbei etwa an Neubauers mehrfach wiederholtes Insistieren darauf, dass die Umstände in Mellern sowie sein eigenes Verhalten dort deswegen zu entschuldigen seien, da es auch Lager gegeben habe, in denen noch viel drastischere Umstände geherrscht hätten.78 Das bloße Verweisen auf diese anderen Lager wird Neubauer als mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortlichkeit und letztlich als Charakterschwäche attestiert.79 Hier jedoch wird die gleiche Argumentation als legitimer Vorwurf gegen den Kommunismus genutzt. Nicht nur die deutliche politische Positionierung des Gespräches fällt somit aus der sonstigen Gestaltung des Romans heraus, sondern auch der Modus, in dem die Anschuldigungen vorgebracht werden. Hinzu kommt, dass die Darstellung der kommunistischen Untergrundorganisation in Der Funke Leben, die Werner als einer der Untergrundführer immerhin mitleitet,80 eine solche kategorische Ablehnung nicht rechtfertigt.81 Die kommunistische Untergrundorganisation ist die größte und einflussreichste Häftlingsstruktur des Arbeitslagers. Sie rekrutiert sich aus Mitgliedern der meisten Arbeitskommandos und unterhält Kontakte bis in die SS-Kasernen. Darüber hinaus ist sie maßgeblich an der Formierung und Organisation von Widerstand im Lager beteiligt. Dabei gehen sowohl die Mobilisierung und Führung der beteiligten Häftlinge, wie auch das Zurückhalten und Verbergen besonders gefährdeter

76 Remarque, Der Funke Leben, 369. 77 Schneider, »›Heißes Eisen in lauwarmer Hand‹«, 36. 78 Vgl. Remarque, Der Funke Leben, 122, 191, 217, 315, 347f., 417. 79 Gleiches gilt für seinen, das deutsche Opfernarrativ ausgebombter Städte vorwegnehmenden Verweis auf das Unrecht der alliierten Luftangriffe. Auf die Bemerkung seines Chauffeurs Alfred, dass vor den deutschen Städten zunächst Warschau, Coventry und Rotterdam bombardiert worden waren, antwortet er: »Etwas ganz anderes. Das waren strategische Notwendigkeiten. Dieses hier ist reiner Mord.« Ebd., 175. 80 Ebd., 390. 81 Vgl. Placke, »Naturrecht und menschliche Würde«, 28.

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Gefangener von ihr aus.82 Zudem sind es die Kommunisten, die in der Schlussphase des Lagers zum verlangsamten Befolgen von Befehlen,83 zu Sabotage,84 und schließlich zu bewaffnetem Widerstand aufrufen.85 Von 509 wird die Führungsspitze des kommunistischen Untergrundes folgendermaßen zusammenfassend beschrieben: Die Kommunisten bildeten in der unterirdischen Lagerleitung eine besonders zähe, verschlossene und energische Gruppe. Sie arbeitete zwar mit den anderen zusammen, traute ihnen aber nie ganz und verfolgte ihre besonderen Ziele. Sie schützte und förderte immer zuerst ihre eigenen Leute.86

Diese Beschreibung geht weder ein auf den Kommunismus als Weltanschauung, noch kommentiert sie die ideologische Gesinnung der einzelnen Organisationsmitglieder. Mit Blick auf ihren Pragmatismus, ihre Zähigkeit und den Schutz der eigenen Leute ähnelt die Darstellung der kommunistischen Lagerleitung in gewisser Weise sogar jener der »Veteranen«: Kommunisten sind in Mellern lediglich Diejenigen, die als politische Gegner der Nationalsozialisten in die Lager gesperrt worden waren und deren Zentralisierung sich aufgrund ihrer etwaigen vormaligen Organisation in Partei- oder Gewerkschaftsstrukturen leichter vollziehen konnte als bei anderen Häftlingen: »Remarques Kommunisten sind mutig, tatkräftig, erfahren durch den illegalen Kampf, allseitig informiert, pragmatische Köpfe, die die Gelegenheit beim Schopf packen.«87 Ihr Misstrauen und Bedacht auf die Sicherheit der eigenen Leute erscheinen angesichts der Umstände im Lager nur konsequent, keineswegs aber ideologisch motiviert. Zudem tritt die Untergrundorganisation trotz ihrer Sorge um die eigenen Leute durchaus mit dem Anspruch auf, für die Verbesserung der Lage aller Häftlinge einzutreten: Ziel ihrer Handlungen ist neben dem Schutz der Gefangenen vor dem Zugriff der SS auch die Vorbereitung und letztliche Durchführung der Übernahme des Lagers nach Abzug der Wachtruppen.88 Der Befreiung sehen die Kommunisten mit dem Anspruch entgegen, eine Vorbildrolle für die übrigen Häftlinge einzunehmen. Essentiell für die Organisation des Widerstandes ist daher »die Verhütung von Panik und Exzessen bei der Übernahme des Lagers. Wir müssen ein Beispiel dafür sein, daß wir Disziplin haben und uns von Racheausschreitungen nicht leiten lassen.«89 Das Bestreben

82 Remarque, Der Funke Leben, 333, 460. 83 Ebd., 334. 84 Ebd., 461. 85 Ebd., 473, vgl. 194, 364f., 479. 86 Ebd., 369. 87 Straub, 294. 88 Remarque, Der Funke Leben, 479, 482, vgl. 293. 89 Ebd., 388.

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des kommunistischen Untergrundes beschränkt sich somit auf rein pragmatische Ansprüche zur Verbesserung der Lebensumstände möglichst vieler Häftlinge. Politische Äußerungen der Kommunisten sind über die gesamte Länge des Romans eine Seltenheit. Werden sie ausgesprochen, – meist von Werner oder Lewinsky – heben sie die Notwendigkeit hervor, den im Lager stattfindenden Widerstand auch nach der militärischen Niederlage des Nationalsozialismus weiterzuführen. Wenn der Nationalsozialismus fällt, ist zum erstenmale keine geschlossene Partei da, um die politische Leitung zu übernehmen. Alle sind in den zwölf Jahren zersplittert oder zerstört worden. Die Reste sind untergrund gegangen. […] Nur eine einzige Partei wird im Chaos der Niederlage intakt bleiben: der Nationalsozialismus. Ich meine nicht die Mitläufer, die schließen sich jeder Partei an, – ich meine den Kern. Er wird geschlossen untergrund gehen und warten, um wieder herauszukommen. Dagegen haben wir zu kämpfen und dazu brauchen wir Leute.90

Das Weiterexistieren einer kommunistischen Organisation wird, hier von Werner, durch die erklärte Gegnerschaft mit dem Nationalsozialismus legitimiert: Er fürchtet das Weiterexistieren von nazistischen Tendenzen nach der Niederlage – Ängste, die etwa auch die Gefangene Ruth Holland teilt und die durch Webers symptomatische Aussage, nach dem Krieg wieder bei einer Polizei angestellt zu sein, bestätigt werden.91 Die Agenda der Kommunisten für die Zeit nach der Befreiung beinhaltet somit weniger das Durchsetzen eigener politischer Ziele als die Fortführung der antifaschistischen Arbeit, die sowohl aufgrund von Befürchtungen verschiedener Häftlinge als auch Prognosen der SS notwendig erscheint. Einen deutlichen Kommentar zur ideologischen Bewertung der Westalliierten liefert hingegen Lewinsky. Mit Blick darauf, dass Kampftruppen kaum in der Lage sein würden, die Verwaltung und Versorgung des befreiten KZ alleine zu organisieren, prognostiziert er eine Zusammenarbeit zwischen Amerikanern und dem Untergrund: »Sonderbar […]. Wie selbstverständlich wir mit der Hilfe unserer Feinde rechnen, wie?«92 Indessen betont diese Äußerung vornehmlich die Ungewöhnlichkeit der sich anbahnenden Zusammenarbeit, mit der, ungeachtet etwaiger ideologischer Differenzen, gerechnet wird. Zudem verdeutlicht sie, dass die Mitglieder des kommunistischen Untergrundes zwar durchaus ein ideologisches Bewusstsein an den Tag legen, ihre Organisation im Lager aber kein

90 Ebd., 386f. 91 Ebd., 265, 423. 92 Ebd., 371.

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politisches Programm verfolgt. Auch für Lewinsky sind die Alliierten die notwendigen Befreier. Die Textstelle korrespondiert mit einer Episode nach der erfolgten Befreiung des Lagers: Einigen »Veteranen« soll ein Schlafsaal mit wirklichen Betten zugewiesen werden, woraufhin Bucher gegenüber dem sie führenden Amerikaner bemerkt: »Das sind nun unsere Feinde!«93 In der Erstausgabe des Romans wurde diese Äußerung auf Anraten des Verlegers Witsch gestrichen, welcher die offenkundige Ironie der Aussage mit der Bemerkung überging, er »hoffe nicht, daß ein KZ-Häftling die Vorstellung hatte, daß die Amerikaner seine Feinde waren.«94 Die hier wiederholte Bezeichnung der Alliierten als »unsere Feinde« rekurriert auf die jahrelang durch die Nationalsozialisten propagierte Feindschaft zwischen Deutschen und Amerikanern. Beide Instanzen der »Feind«-Bezeichnung befinden sich an textlich pointierter Position: sie sind die jeweils letzten Sätze ihrer Abschnitte. Ziel dieser auffälligen Platzierung ist gerade die Betonung der Irrelevanz einer solchen Sortierung nach Freunden und Feinden angesichts der Lebensumstände in den Lagern. Letztlich verdeutlicht sie, wie vollständig die Häftlinge auf die Alliierten bauen – vormaligen oder vorhandenen Vorbehalten zum Trotz. Ihnen ist es gleich, wer sie befreit, weswegen jede ideologische Beurteilung der Alliierten von vornherein obsolet ist. Der kommunistische Untergrund tritt mit dem Selbstverständnis auf, für möglichst alle Häftlinge einzutreten und diesen gegenüber eine Vorbildrolle einzunehmen, wobei er sich auf die Besonnenheit und Disziplin seiner häufig bereits zuvor in politischen Strukturen organisierten Mitglieder beruft. Es erscheint somit nur folgerichtig, dass der immer offener auftretende Widerstand maßgeblich von den Kommunisten getragen wird: Diese sind in Der Funke Leben schlicht die größte und am diszipliniertesten agierende Gruppe, die aufgrund dessen weitreichenden Einfluss in Mellern hat und überhaupt in der Lage ist zur Organisation von Widerstand. Indessen treten sie lediglich mit dem pragmatischen Ziel an, Häftlinge und Wachtruppen zum Zweck des Überlebens möglichst Vieler auf ihre Seite zu ziehen. Eine ideologische Einordnung des kommunistischen Untergrundes ist nicht nur nicht präsent, sie spielt für die Konzeption der Häftlingsgemeinschaft bis zu dem programmatischen Gespräch zwischen 509 und Werner keine Rolle. Lediglich in diesem kommen ein politisches Programm der Kommunisten, vertreten allein durch Werner, sowie Kritik daran, in den Vorwürfen 509s überhaupt vor. Die eindeutig negative Bewertung des Kommunismus innerhalb des Dialogs erschließt sich jedoch keineswegs aus der sonstigen Konzeption des Romans – eher widerspricht sie dieser.95 Unter dem im Text etablierten Blick auf die Invasion gälte es, 93 Ebd., 492. 94 »Anhang«. Thomas F. Schneider (ed.), Der Funke Leben,508–585, hier: 532. 95 Im Gegenteil enthält Der Funke Leben einige Momente der Kritik am Antikommunismus und weist etwa auf die »Rechtsblindheit« der Justiz der Weimarer Republik hin: Lagerführer Weber wird als

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Jeden als Befreier zu billigen, der dem Leid der Häftlinge ein Ende hätte machen können. Das Gespräch hat jedoch zur Folge, dass die eigentlich generelle Beurteilung der Alliierten als zu begrüßende Befreier nur noch für die Westalliierten gilt. Der Roten Armee, obwohl diese faktisch Monate vor den Westalliierten die ersten Konzentrationslager im Osten befreite,96 verwehrt Remarque diesen Status. Indessen die Anlage des Romans eine solche Kritik nicht rechtfertigt, reflektiert sie doch den sich zu Beginn der 1950er Jahre als leitende Ideologie etablierenden Antikommunismus der westalliierten Staatenbündnisse, in welche sich die BRD in diesem Jahrzehnt politisch, wirtschaftlich und militärisch einbinden werden würde. Das Gespräch und die darin formulierte Absage an den Osten kann somit als Positionierung Remarques gelesen werden, die in ihrer Deutlichkeit wirklich jeden Zweifel an seiner ideologischen Haltung im sich abzeichnenden Kalten Krieg ausräumt

Remarques Publikum der neuen Bundesrepublik Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begegnete die Mehrzahl der Deutschen den alliierten Machthabern mit Misstrauen und ihren Maßnahmen in Nachkriegsdeutschland mit Ablehnung. Die Besatzung durch die bis vor Kurzem noch erklärten Feinde der Deutschen wurde konsensuell als peinlicher Eingriff in die nationale Souveränität wahrgenommen.97 Die Formel von der »Siegerjustiz« prägte die öffentlichen Debatten, nach der die Invasionsmächte das militärisch unterlegene Deutschland über Gebühr mit wirtschaftlicher Ausbeutung und Vorwürfen

nationalsozialistischer Kämpfer der ersten Stunde eingeführt, der wegen seiner Beteiligung »an der Ermordung von fünf kommunistischen Arbeitern« in den 1920er Jahren mit lediglich vier Monaten Haft bestraft wurde. Remarque, Der Funke Leben, 458. Auf der anderen Seite wird von Rechtsanwalt Mosse berichtet, der »1932 an einem Mordprozeß gegen zwei Nazis als Vertreter der Nebenkläger beteiligt« gewesen war. »Die Nazis waren freigesprochen worden, und Mosse war nach der Machtergreifung sofort ins Konzentrationslager gekommen«, wo ihm »1933 als Quittung für den Prozeß« ein Auge mit einer Zigarette ausgebrannt wurde. Ebd., 249. 96 Für einen Überblick der Chronologie der Befreiung s. Internationales Auschwitz Komitee. »Chronologie der Befreiung von KZ«. www.auschwitz.info/de/gedenken/gedenken-2015-70-jahre-befreiung/ chronologie-der-befreiung-von-kz.html (abgerufen am 05.08.2019). 97 Elena Agazzi. »Die Schuldfrage: Einleitung«. Elena Agazzi, Erhard Schütz (eds.). Handbuch Nachkriegskultur: Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945–1962). Berlin, Boston: De Gruyter, 2013, 281–290, hier: 282; Stephan Braese. »Deutschsprachige Literatur und der Holocaust«. Aus Politik und Zeitgeschichte 57 (2007), 50, 33–38, hier: 35; Christoph Classen. »Was bleibt vom ›Dritten Reich‹?: Der Umgang mit dem Nationalsozialismus im geteilten Nachkriegsdeutschland«. Dietmar Süß, Winfried Süß (eds.). Das »Dritte Reich«: Eine Einführung. München: Pantheon, 2009, 311–332, hier: 320; Martin Sabrow. »Den Zweiten Weltkrieg erinnern«. Aus Politik und Zeitgeschichte 59 (2009), 36/37, 14–21, hier: 18.

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kollektiver Schuld bestraften.98 Auch die Aktionen des Re-education-Programmes verfehlten ihre Zielsetzung weitgehend, durch die Aufklärung über nationalsozialistische Kriegsverbrechen eine Umerziehung der Deutschen zu stiften.99 Eher trugen gerade die atrocity-Filme über die Konzentrationslager zur allgemeinen »Frontstellung gegen die Alliierten« bei.100 Einer der deutschen Verfechter der alliierten Aufklärungs- und Umerziehungsprogramme war der seit Ende der 1930er Jahre in den USA lebende Remarque. Die nach seiner Auffassung notwendige alliierte Beteiligung am Aufbau einer neuen, friedlichen Gesellschaft auf deutschem Boden verschriftlichte er bereits 1944 in dem für den OSS verfassten Bericht Praktische Erziehungsarbeit in Deutschland nach dem Krieg. Darin liefert Remarque eine Prognose zu den »Möglichkeiten einer Demokratisierung Nachkriegsdeutschlands«101 und skizziert Strategien für eine medial breit aufgestellte Informationspolitik zur Aufklärung über die Verbrechen der Nationalsozialisten.102 Bezeichnenderweise antizipierte Remarque darin bereits die Schwierigkeiten, die sich aus der alliierten Besatzung Deutschlands ergeben würden. Kernpunkt der Schrift ist daher die Betonung der vergleichsweisen Milde, mit der die alliierten Siegermächte agierten: Es sollte immer und immer wieder verbreitet werden, wie sie [die Nationalsozialisten] barbarische Gesetze einführten, Geiseln erschossen, Konzentrationslager errichteten, Verdächtige folterten, Juden ermordeten und beraubten, Menschen zu Zwangsarbeit verurteilten, ganze Länder verhungern ließen etc. Und dies sollte verglichen werden mit der vergleichsweise wesentlich milderen Behandlung des besiegten Deutschlands.103

Noch während des Krieges erachtete Remarque den Vergleich zwischen dem Auftreten der Alliierten mit den Verbrechen der Nationalsozialisten als notwendig, da von der kategorischen Ablehnung der militärischen Sieger von Seiten der besiegten Deutschen auszugehen sei. Um den Vorwürfen ungerechtfertigter Siegerjustiz vorzubeugen und eine Zusammenarbeit mit den Deutschen zu ermöglichen, sollten alle verfügbaren Medien »genutzt werden, um zu zeigen, daß die Beset-

98 Classen, 320f.; Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (eds.). Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland: Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld: Transcript, 2015, 21–23; Erhard Schütz. »Nach dem Entkommen, vor dem Ankommen: Eine Einführung«. Agazzi, Schütz (eds.), Handbuch Nachkriegskultur, 1–139, hier: 14, 45f. 99 Classen, 321. 100 Agazzi, 282; Helmut Peitsch. Nachkriegsliteratur 1945–1989. Göttingen: V & R unipress, 2009, 29. 101 Schneider, »Eine deutsche Geschichte«, 589. 102 Remarque, »Praktische Erziehungsarbeit in Deutschland«, 76–78. 103 Ebd., 81.

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zung eines Landes gleichzeitig auch seine Befreiung bedeuten kann.«104 Im Lichte dessen kann Der Funke Leben als literarische Ausformulierung dieses Programms gelesen werden, das Remarque in den 1950er Jahren erklärtermaßen umzusetzen versuchte.105 Im Wesentlichen erzählt der Roman das Lager aus der Perspektive seiner Opfer, von deren Standpunkt aus die Invasion der Alliierten uneingeschränkt als Befreiung zu verstehen ist. Der Text ist somit als Werbung für die Akzeptanz der alliierten Besatzer als »Befreier« – zumindest der Konzentrationslager – zu verstehen, welche darüber hinaus aufgrund ihrer Unvoreingenommenheit als am ehesten in der Lage gezeigt werden, nach Ende der Kriegshandlungen als die verantwortlichen Schirmherren eines Wiederaufbaus zu agieren. Indessen arbeitete Remarque, nachdem die ersten Entwürfe für Der Funke Leben bereits 1946 unternommen waren, der Text aber mehrfach umgeschrieben und neu konzeptioniert wurde, mittlerweile sechs Jahre an dem Roman.106 Dieser erschien schließlich in einem Diskurs, der sich von den Debatten der unmittelbaren Nachkriegszeit verlagert hatte zum Kalten Krieg als bestimmender Determinante internationaler Politik. Zu Beginn der 1950er Jahre zeichnete sich ab, dass die Westalliierten im Zuge des sich verschärfenden Konflikts mit der Sowjetunion dazu bereit waren, den westlichen Besatzungszonen weitreichende Zugeständnisse zu machen, um Westdeutschland als Bundesgenossen im Kalten Krieg zu gewinnen. Das Ende der Demontagen, die Wirtschaftshilfe durch den »Marshallplan« (1948–1952), welcher die Grundlage für den im Rückblick als »Wirtschaftswunder« stilisierten ökonomischen Aufschwung bildete,107 die Wiederherstellung deutscher Souveränität im »Deutschlandvertrag« 1952,108 und schließlich die Eingliederung in die westlichen Bündnissysteme109 waren Stärkungsangebote an die unter der Schirmherrschaft der Alliierten gegründete Bundesrepublik,110 durch die sich auch das Bild der Alliierten von feindlichen Besatzern zu Bundesgenossen

104 Ebd., 82. 105 Vgl. Schneider, »Eine deutsche Geschichte«, 589f. 106 Vgl. Birgit Boge. Die Anfänge von Kiepenheuer & Witsch: Joseph Caspar Witsch und die Etablierung des Verlags (1948–1959). Wiesbaden: Harrassowitz (Buchwissenschaftliche Beiträge 78), 2009, 247; Thomas F. Schneider. »›Ein ekler Leichenwurm‹: Motive und Rezeption der Schriften Erich Maria Remarques zur nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit«. Text+Kritik (2001), 149, 42–54, hier: 44. 107 Fischer, Lorenz, 31f.; Schütz, 31–34. 108 Zum Deutschlandvertrag in Zusammenhang mit den Pariser Verträgen von 1954 s. Wilhelm G. Grewe. »Deutschlandvertrag«. Werner Weidenfeld, Karl-Rudolf Korte (eds.). Handbuch zur deutschen Einheit. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, 1996, 225–233, hier: 225–233 sowie Rudolf Morsey. Die Bundesrepublik Deutschland: Entstehung und Entwicklung bis 1969. München: Oldenbourg, 2007 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 19), 26–34. 109 Mitbegründen der Montanunion 1951, Beitritt zur WEU 1955, schließlich Beitritt zur NATO 1955. 110 Fischer und Lorenz, 89–91; Dietrich Thränhardt. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1996 (Moderne Deutsche Geschichte 12), 61–86.

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wandeln konnte.111 Indessen hat auch die Betonung eines gemeinsamen Feindbildes zu diesem Perspektivwandel beigetragen, welches im Kommunismus des Ostblocks gefunden wurde. Der Antikommunismus löste den antifaschistischen Konsens der unmittelbaren Nachkriegsjahre ab und avancierte zur ideologischen Dominante nicht nur der Bundesrepublik, sondern aller westlichen Blockstaaten.112 Die Etablierung Westdeutschlands als »westliche Nation« ging einher mit der scharfen Abgrenzung gegenüber der Sowjetunion, dem deutschen Schwesterstaat sowie allen, die im Verdacht standen, den Kommunismus zu unterstützen. Dabei konnte die junge BRD »vor der Folie der vermeintlich ›aktuellen‹ Bedrohung aus dem Osten«113 die eigene Vergangenheit im Faschismus ausgeblendet oder zumindest relativiert wissen. »Wer dagegen zu dieser Zeit auf nationalsozialistische Belastungen hinwies, sah sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, die Sache des Ostens zu betreiben.«114 Der Funke Leben erschien 1952 in einem westdeutschen Diskurs, in dem sich die Skepsis gegenüber den Westalliierten zu lösen begonnen hatte, man sich ihren Bündnissystemen annäherte und andererseits an der Frontbildung gegen Sowjet­ union und DDR beteiligt war. Die positive Zeichnung lediglich der Amerikaner sowie die scharfe Kritik gegenüber der Sowjetunion operiert somit genau entlang des dominanten Narrativs des Kalten Krieges. Der deutliche Antikommunismus darin ist Konzession an eine Zeittendenz der westlichen Welt, für die Remarque vornehmlich veröffentlichte. Die Dringlichkeit, mit der Der Funke Leben die Akzeptanz der Befreier Deutschlands postuliert, ist somit bereits eingegliedert in den sich abzeichnenden Konflikt zwischen westlicher und östlicher Einflusssphäre. Obwohl letztlich unklar ist, warum Remarque seinem Roman diese deutliche ideologische Kritik beigab, liegt es nahe, dass er, ohnehin aufgrund seines Themas heftige Kritik antizipierend, durch diese Positionierung mögliche Zweifel an seiner politischen Haltung auszuräumen und dem Vorwurf vorzugreifen versuchte, die Sache des Ostens zu unterstützen und etwa in der Darstellung des kommunistischen Untergrundes als einzig nennenswerter Häftlingsorganisation den antifaschistischen Heldenmythos der DDR nachzuerzählen.115 Dass Der Funke Leben trotz dieser Konzession von Teilen der zeitgenössischen Rezeption verrissen 111 Jost Hermand. Kultur im Wiederaufbau: Die Bundesrepublik Deutschland 1945–1965. München: Nymphenburger, 1986, 145–152; Schütz, 33f., 44–50. 112 Vgl. Schneider, »›Heißes Eisen in lauwarmer Hand‹«, 31; Thränhardt, 30–33. 113 Classen, 322; vgl. Ludwig Fischer. »Die Zeit von 1945 bis 1967 als Phase der Gesellschafts- und Literaturentwicklung«. Ludwig Fischer (ed.). Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. München: Carl Hanser, 1986, 29–96, hier: 48f.; Jörg Friedrich. Die kalte Amnestie: NS-Täter in der Bundesrepublik. München: List, 1994, 252–256. 114 Classen, 322; vgl. Fischer, 48f.; Friedrich, 252–256. 115 Vgl. Boge, 252; Thomas F. Schneider, Angelika Howind. »Die Zensur von Erich Maria Remarques Roman über den zweiten Weltkrieg ›Zeit zu leben und Zeit zu sterben‹ 1954 in der BRD: Mit

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wurde, kann vielleicht als Beleg für die Berechtigung dieser Befürchtung gelten.116 Die Wirkung dieser Setzung hingegen ist, dass der eigentlichen, unideologischen Aussage des Textes eine sich in den Vordergrund drängende ideologische Dimension übergestülpt wird.

Zusammenfassung Die alliierte Invasion rahmt den Roman in mehrfacher Hinsicht: Die Handlung beginnt mit der ersten Bombardierung Mellerns und endet mit der Befreiung des Lagers. Überdies sind alle Entwicklungen auf Seiten der Häftlinge sowie des SS-Wachpersonals bedingt von den Auswirkungen der militärischen Invasion Deutschlands. Es wird deutlich, dass sich Der Funke Leben in erster Linie mit der moralischen Beantwortung der Frage befasst, ob die Invasion Deutschlands als Befreiung oder Niederlage zu werten sei. Indem er nur die Perspektive der Gefangenen zulässt, die von der des SS-Wachpersonals kontrastiert wird, erklärt der Roman die alliierte Intervention zur Notwendigkeit, die deutschen Konzentrationslager zu befreien. Die Insassen sind zu Beginn des Romans derartig von den Bedingungen des Lagers bestimmt, dass ihnen selbst die Hoffnung auf die theoretische Veränderung ihrer Lage zur Gefahr wird. Die buchstäbliche Perspektivlosigkeit der Gefangenen verdeutlicht deren Ausgeliefertsein gegenüber dem Lager, welches aus bloßer innerer Motivation nicht zu überwinden ist. Die durchaus evidente Etablierung eines Bewusstseins für das Individuum und insbesondere die Emanzipation von 509 sind darin ungeheuer erscheinende Phänomene, die in erster Linie die Ungewöhnlichkeit verdeutlichen, dass unter den gezeigten Umständen solche Prozesse überhaupt möglich werden konnten. Tatsächlich ist selbst das Wiederaufkommen von Subjektivität und Individualität nur im Rahmen der Invasion möglich und aufgrund der letztlich tatsächlich stattfindenden Befreiung – und auch dann für längst nicht alle Häftlinge – erfolgreich. Unter dieser Maßgabe erscheint das militärische Eingreifen gerechtfertigt und dessen Agenten werden als Befreier uneingeschränkt positiv bewertet. Durch diese Akzeptanz formuliert Der Funke Leben eine direkte Zeitkritik zur Legitimation der Alliierten als Besatzungsmächte. Darin ist der Roman weniger das humanistische Werk, das den Lebensfunken als nicht zu vernichtendes Menschliches feiert, sondern ein einem Seitenblick auf die Rezeption in der DDR«. Ursula Heukenkamp (ed.). Militärische und zivile Mentalität: Ein literaturkritischer Report. Berlin: Aufbau, 1991, 303–320, hier: 306–309. 116 Für eine differenzierte Untersuchung der ambivalenten Rezeption von Der Funke Leben s. Glunz; Schneider, »›Heißes Eisen in lauwarmer Hand‹«, sowie Christoph Wolfgang Steiner. »Diesmal bin ich mir jedenfalls sicher, von allen Seiten attackiert zu werden«: Die ambivalente Aufnahme von Erich Maria Remarques Der Funke Leben durch die Literaturkritik. Masterarbeit Universität Graz, 2011.

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durchaus politischer Appell an die bundesdeutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit. Dass Remarque diese generelle Akzeptanz um die Sowjetunion einschränkt, unterstreicht sein Verlangen, sich mit einem heiklen Text in der jungen Bundesrepublik Gehör zu verschaffen, die sich zu Beginn der 1950er Jahre wieder »der Lektüre von Offiziersmemoiren widmete«117 – ein Ruf, der nicht in Vorwürfen prokommunistischer Propaganda untergehen sollte.

117 Schneider, »›Heißes Eisen in lauwarmer Hand‹«, 31.

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»Kaum dauerhaftes Glück« und »nervenzehrende Brutalität« Zu Erich Maria Remarques Nobelpreisnominierung und Rezeption in Schweden 1929–1931

Erich Maria Remarque wurde ein einziges Mal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen und hat ihn nie bekommen. Die Nominierung geschah früh in seiner Autorenlaufbahn: 1931, als Der Weg zurück gerade erschienen war. Der Grund der Ablehnung könnte sich vielleicht von selbst erklären: Als junger und weltberühmter Autor eines breiten Lesepublikums entsprach er wohl nicht den hohen ästhetischen Anforderungen, die das Nobelkomitee der Schwedischen Akademie bei einem Literaturnobelpreiskandidaten erwartet.1 Und gewiss war das zum Teil einer der Gründe dafür, warum er den Preis damals nicht erhalten hat. Es gab aber auch andere Gründe, die viel widersprüchlicher waren. Das kann nämlich aus den Unterlagen des Nobelkomitees der Schwedischen Akademie zu seiner Nominierung herausgelesen werden. Seine Nobelpreisnominierung ist aber bis heute kaum bekannt; keiner hat bisher darüber geschrieben und recherchiert, aus welchen Gründen er nie Nobelpreisträger wurde. Und noch weniger bekannt ist seine frühe Rezeption in Schweden.

1 Das »Nobelkomitee« der Schwedischen Akademie ist eine Gruppe, bestehend aus Mitgliedern der Schwedischen Akademie, die als besondere Aufgabe haben, jährlich eine Übersicht von sämtlichen Literaturnobelpreiskandidaten zu erstellen; sie nimmt die Nobelpreisvorschläge entgegen, erstellt eine Liste und schreibt dazu Gutachten. Wer am Ende Nobelpreisträger wird, wird aber von der gesamten Schwedischen Akademie entschieden. Für eine weitere Beschreibung der Literaturnobelpreisarbeit siehe Sture Allén, Kjell Espmark. Der Nobelpreis für Literatur. Eine Einführung. Stockholm 2011. Für die Geschichte des Literaturnobelpreises siehe Kjell Espmark. Der Nobelpreis für Literatur. Prinzipien und Bewertungen hinter den Entscheidungen. Göttingen 1988.

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Diese Rezeption ist vergleichsweise wichtiger als andere, denn zwischen der literaturkritischen Wahrnehmung eines Autors in Schweden und einer Nobelpreisnominierung gibt es gewisse Verbindungen. Denn die Mitglieder im Nobelkomitee der Schwedischen Akademie waren nicht selten Literaturkritiker. Sie haben Autoren, die für den Nobelpreis nominiert wurden, ebenfalls in den Rezensionen der Tagespresse erläutert. Das heißt also, dass die Rezensionen die Nobelpreisunterlagen ergänzen, denn die Urteile in den Nobelpreisprotokollen sind in der Regel summarisch geschrieben, sodass die Meinungen der einzelnen Komiteemitglieder nicht eindeutig hervortreten.2 Bei Remarque waren die Meinungen in Schweden der 1930er Jahre gespalten; er wurde gelobt, aber auch wegen sowohl stilistischer Schwächen als auch aus politischen Gründen kritisiert. Dazu gab es gewisse äußere Umstände, die seine Nominierung zwar nicht entschieden haben, obwohl sie gewiss am Ende nicht einen guten Einfluss darauf ausübten. Der ›Auftakt‹ zu Remarques Nobelpreisnominierung begann 1929, etwa zwei Jahre vor seiner Nominierung. Ab diesem Jahr, als Folge des weltweiten Erfolges von Im Westen nichts Neues, wurde er in der schwedischen Literaturkritik wahrgenommen. Dabei wurde er in eher belanglosen Nebensachen erwähnt: Klatsch, wie es zu jeder Berühmtheit gehört. Wichtiger ist aber die Tatsache, dass Remarques Präsens in den großen Tageszeitungen Schwedens gewissermaßen auch zu seiner Nominierung beigetragen hat.

Die schwedische Rezeption von Im Westen nichts Neues Reinhard Dithmar stellt in seiner Übersicht über die deutsche, zeitgenössische Wahrnehmung von Im Westen nichts Neues sowie dessen erster Verfilmung fest, dass die Remarque-Rezeption gespalten war.3 Remarque bekam nicht nur weitgehende Anerkennung, sondern auch harte Kritik.4 So wurde er sowohl als Sprachrohr der Kriegsgeneration als auch deren Beschmutzer beschrieben, sowohl als Pazifist als auch als Kriegsverherrlicher wahrgenommen, und er wurde auch sowohl aus dem rechten, dem linken als auch dem nationalsozialistischen Lager angegriffen.5

2 Mit wenigen Ausnahmen sind die Quellen in schwedischer Sprache geschrieben und wurden somit vom Autor ins Deutsche übersetzt. 3 Vgl. Reinhard Dithmar. »Wirkung oder wider Willen? Remarques Erfolgsroman ›Im Westen nichts Neues‹ und die zeitgenössische Rezeption«. Blätter für den Deutschlehrer (28) 1984, 34–47. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. ebd.

Zu Remarques Nobelpreisnominierung

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Im Laufe der frühen Remarque-Debatte wurden mehrere Hetzschriften gegen ihn veröffentlicht. Es ist hier nicht den Ort, auf sie einzugehen, aber eine von ihnen dürfte nennenswert sein, und zwar die von Salomo Friedlaender (»Mynona«) verfasste Abrechnung mit dem Remarque-Phänomen: Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? Der Mann. Das Werk. Der Genius. 1000 Worte Remarque (1929), denn gerade diese Schrift sollte später eine gewisse Bedeutung für Remarques Bewertung im Nobelpreiskommitee der Schwedischen Akademie bekommen. Zunächst war aber die zeitgenössische schwedische Rezeption kaum von der deutschen Diskussion betroffen; sie war eine fast durchweg einheitliche Lobpreisung von Autor und Werk. Die allererste Erwähnung von Remarque in Schweden war die Rezension von Im Westen nichts Neues von Sten Selander, die in Dagens Nyheter am 18. März 1929 erschien.6 Sie ist vor allem ein Vergleich mit Edmund Blundens Kriegsmemoiren Undertones of War. Beide werden von Selander als die besten Kriegsschilderungen, die er kannte, beschrieben, weil sie etwas anderes und mehr sind als bedeutende Kunstwerke: sie seien ein flammendes Memento dem dummen, vergesslichen Menschengeschlecht, dass wir nie den Krieg und was der Krieg ist vergessen dürfen.7

Einige Tage danach, am 22. März, wurde Im Westen nichts Neues in einer allgemeinen Buchbesprechung in Svenska Dagbladet von August von Löwis of Menar erwähnt.8 Darin wurde das Werk wegen dessen einfacher Sprache und Echtheit bei der Darstellung der Grausamkeiten des Krieges gelobt, und Löwis of Menar verglich die Verbreitung des Werks mit der Bahn eines Meteors.9 Er verglich außerdem das Werk mit Henri Barbusses Le Feu und kam dabei zu der Feststellung, dass Im Westen nichts Neues »viel echter, viel ungekünstelter und deshalb ergreifender« sei.10 Etwa einen Monat später, am 22. April 1929, wurde Im Westen nichts Neues von dem führenden Literaturkritiker, Poeten und Mitglied der Schwedischen Akademie und dessen Nobelkomitee, Anders Österling, besprochen.11 Er lobte das Werk als das vorzüglichste »literarische Denkmal« über den Krieg.12 Man kann aber eine vorsichtige Kritik an Remarques Stil bei Österling wahrnehmen, denn er behaup-

6 Vgl. Sten Selander. »De två största krigsböckerna«. Dagens Nyheter, 18.03.1929. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. August von Löwis of Menar. »Ny tysk litteratur«. Svenska Dagbladet, 22.03.1929. 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. Anders Österling. »Den tyska krigsromanen«. Svenska Dagbladet¸ 20.04.1929. 12 Vgl. ebd.

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tete nämlich, dass Im Westen nichts Neues »mehr Dokument als Kunstwerk« sei.13 Dass er eine nicht unbedingt positive Einschätzung von Remarque hatte, geht aber vor allem aus späteren Äußerungen hervor: Weniger als ein Jahr später behauptete er in einer Rezension von Richard Aldingtons Death of a Hero, dass Aldington über größere militärische Sachkenntnisse als Remarque verfüge und dass er außerdem weniger »agitatorisch« als Remarque sei.14 Und 1960, als Heinrich Böll für den Literaturnobelpreis nominiert wurde, behauptete er, dass Wo warst du, Adam? eine viel gelungenere Kriegsschilderung als Im Westen nichts Neues sei.15 Die letzte Rezension von Im Westen nichts Neues im Jahr 1929 erschien am 8. Mai in Aftonbladet und wurde von John Landquist verfasst.16 Sie ist, wie die weiteren Rezensionen in diesem Jahr, eine Anerkennung von Ehrlichkeit und der Exaktheit, mit der Remarque die Schrecken des Krieges schildere.17 In der Zeit danach wurde das Werk und dessen Autor natürlich weiterhin in der literaturkritischen Diskussion angesprochen.18 Der Fokus begann aber bereits im gleichen Jahr eine andere Richtung zu nehmen: Eine Diskussion um Remarque und den Nobelpreis hatte begonnen.

Das Nobelpreisgerücht von 1929 Im Spätsommer und Herbst 1929 begann das Gerücht sowohl in den landesweiten Zeitungen als auch den Provinzblättern Schwedens verbreitet zu werden, dass Remarque Nobelpreiskandidat geworden sei.19 Auch in Deutschland wurde diese Nachricht verbreitet und unter anderem von Friedlaender kommentiert.20 Dabei war allerdings nicht ganz klar, ob das nun dem Friedensnobelpreis oder dem Literaturnobelpreis galt, und die schwedische Berichterstattung referierte vor allem verschiedene Reaktionen auf diese Nachricht. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. Anders Österling. »En hjältes död«. Svenska Dagbladet. 01.02.1930. 15 Vgl. Protokoll des Nobelkomitees 1960. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. 16 Vgl. John Landquist. »På västfronten intet nytt. En tysk succéroman«. Aftonbladet, 08.05.1929. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. Hans von Hülsen. »Erich Maria Remarque«. Dagens Nyheter, 01.07.1929; Erik Wilhelm Olson. »Krigets verkliga ansikte«. Svenska Dagbladet, 28.11.1929; Karl Ragnar Gierow. »Soldaten i kriget«. Ord och Bild 38 (1929), 648–653. 19 Vgl. »Remarque räknas som given nobelpristagare«. Sölvesborgs-Tidningen, 13.08.1929; »Nobelpriset till Remarque?« Trelleborgs-Tidningen, 14.08.1929; »[Erich Maria Remarque]«. Söderhamns Tidning, 15.08.1929; »Nobelpristagare?«. Dagens Nyheter, 16.08.1929; »Tysk officiersprotest mot Nobelpris åt Remarque«. Svenska Dagbladet, 07.09.1929; »Pressfronter«. Svenska Dagbladet, 09.09.1929; »En fredspriskandidat efter borgarnas sinne«. Norrskensflamman, 09.11.1929. 20 Vgl. Salomo Friedlaender. Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? Der Mann. Das Werk. Der Genius. 1000 Worte Remarque. Berlin 1929, 35.

Zu Remarques Nobelpreisnominierung

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Der Auslöser scheint Bjørn Bjørnson, der Sohn von Bjørnstjerne Bjørnson, gewesen zu sein; er habe in einem Artikel in der norwegischen Zeitung Aftenposten Remarque als Nobelpreisträger vorgeschlagen, so eine Nachricht in Svenska Dagbladet.21 Die Preiskategorie wurde nicht angekündigt und außerdem geht nicht hervor, ob Bjørnson wirklich in Aftenposten eine Remarque-Nominierung ankündigte oder ob er sich darin nur positiv geäußert habe. Immerhin hat er Remarque nicht formal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, wohl weil er das Vorschlagsrecht nicht besaß. Als Kandidat taucht Remarque in der Vorschlagsliste 1930 jedenfalls nicht auf. Die Annahme, dass Remarque Nobelpreiskandidat war, hat aber konkrete Spuren im Archiv der Schwedischen Akademie hinterlassen; das Gerücht war so stark und weitverbreitet, dass Protest- und Unterstützungsbriefe in Stockholm eingingen. Die meisten von ihnen waren nicht direkt an die Schwedische Akademie adressiert, sondern an das Nobelkomitee oder an die Nobelstiftung. Sie wurden aber allesamt an das Nobelkomitee der Schwedischen Akademie weitergeleitet, wo sie heute in einer Mappe mit den ungültigen Nobelpreisvorschlägen liegen. Keiner der Briefschreiber war prominent, und nichts deutet darauf hin, dass ihre Briefe Teil einer gezielten Aktion waren. Sie haben vermutlich auch keinen entscheidenden Einfluss auf die letztendliche Bewertung von Remarque bei der Nominierung ein Jahr später ausgeübt. Immerhin sind sie nichtsdestoweniger interessante Zeitdokumente, und es ist wahrscheinlich, dass sie einen Eindruck auf die Mitglieder des Nobelkomitees machten, da sie wahrgenommen und kommentiert wurden. Zwei der Briefe unterstützten Remarque als Preisträger. Aus Ungarn kam ein Brief, in dem Remarque sowohl als Friedenspreis- als auch als Literaturpreisträger vorgeschlagen wurde.22 Und aus Heilbronn mahnte »Obering. J.A. Meier«, die Kritik des Deutschen Offizier-Bundes nicht zu beachten und stattdessen Remarque mit dem Nobelpreis zu ehren: Durch eine Ehrung Remarques sind Sie in der Lage, die Dankbarkeit der zahllosen Leser, denen dies Buch aus der Seele gesprochen ist, für die Allgemeinheit zu einem sichtbaren Ausdruck zu bringen.23

Die übrigen vier Briefe waren aber entschieden dagegen. Die Studienrätin Gertrud Pottel aus Königsberg berief sich auf Wilhelm Müller-Schelds Schrift »Im Westen 21 Vgl. Svenska Dagbladet, 08.04.1929. 22 [Unlesbare Unterschrift]: Brief zur Unterstützung des Nobelpreises an Erich Maria Remarque, 16.08.1929. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. 23 J.A. Meier. Brief zur Unterstützung des Nobelpreises an Erich Maria Remarque, 23.09.1929. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm.

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nichts Neues« eine Täuschung (1929) sowie ihre eigenen germanistischen Studien an den Universitäten in Marburg, Halle und Berlin, um einen Nobelpreis an Remarque zu kritisieren und zwei nach ihrer Einschätzung bessere Kandidaten vorzuschlagen: Da ich mich während meines Studiums der Germanistik […] viel mit deutscher Prosakunst beschäftigt habe, muss ich gestehen, dass unsere Kunst zu bedauern wäre, wenn Remarques Buch mit dem Nobelpreis bedacht würde. Was die Masse liebt, ist nicht immer das Beste. Welche Idee hält die Darstellung Remarques zusammen? Ein Kunstwerk muss doch einen überzeitlichen Wert haben, wenn überhaupt ein schöpferischer Geist dahintersteht! Sonstige Mängel hebt W. Müller Scheld scharf heraus. Wie lebensvoll und warm sind dagegen die Werke wie Franz Schauwecker: Das Frontbuch (Dickmann Verlag, Halle 1927) [und] Ernst Jünger: In Stahlgewittern (Mittler und Sohn, Berlin 1926) und andere.24

Diese Erwähnung von Ernst Jünger dürfte die allererste zu ihm im Nobelpreiszusammenhang – vielleicht sogar in Schweden überhaupt – sein. Es sollte aber fast drei Jahrzehnte dauern, bis er (1956) von Maurice Boucher offiziell für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde. Der Berliner Jurist »Von Behr-Pinnow« (vermutlich Karl von Behr-Pinnow) schrieb, dass ein Nobelpreis an Remarque »einen großen Teil des deutschen Volkes, und gewiss seinen besten, schwer verletzen würde«.25 Und der Berliner Verleger Karl Winckler (Brunnen-Verlag) teilte mit, dass [d]ie Verleihung des Nobelpreises ein Schlag ins Gesicht sein würde für den weitaus größten Teil des deutschen Volkes, der sein Leben für das Vaterland eingesetzt hat, und insbesondere für den größten Teil der deutschen Frauenwelt,

nachdem er Im Westen nichts Neues als ein pornographisches Werk beschrieben hatte.26 In die gleiche Richtung, wenngleich etwas milder, ging der Protest von Gillis Gullbransson, einem schwedischen Unternehmer in Bad Soden, der sich auf seine eigene Fronterfahrung berief – er hatte als Kriegsfreiwilliger für Deutschland an

24 Gertrud Pottel. Protestbrief gegen den Nobelpreis an Erich Maria Remarque, 21.08.1929. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. 25 Karl von Behr-Pinnow. Protestbrief gegen den Nobelpreis an Erich Maria Remarque, 29.08.1929. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. 26 Karl Winckler. Protestbrief gegen den Nobelpreis an Erich Maria Remarque, 12.11.1929. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm.

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der Ostfront gekämpft.27 Er beschrieb Im Westen nichts Neues als ein unsittliches Werk und als eine Herabsetzung der deutschen Nation.28 Diese Proteste waren ja eigentlich verfehlt, da Remarque kein Nobelpreiskandidat war. Und es scheint außerdem der Fall gewesen zu sein, dass keiner der Vorschlagsberechtigten, weder innerhalb noch außerhalb der deutschsprachigen Länder, ein Interesse hatte, ihn vorzuschlagen. Remarque sollte aber etwas mehr als ein Jahr später auf die richtige Art vorgeschlagen werden, und es scheint, dass Dagens Nyheter dabei indirekt eine wichtige Rolle gespielt hat.

Die schwedische Rezeption von Der Weg zurück Im November 1930 wurde in Dagens Nyheter angekündigt, dass Der Weg zurück als Fortsetzungsroman in schwedischer Übersetzung unter dem direkt übersetzten Titel Vägen tillbaka ab dem 5. Dezember erscheinen sollte.29 Wie angekündigt, erschien der Roman auf diese Art bis Januar 1931.30 Dabei gab es bereits im Dezember für die Abonnenten der Zeitung die Möglichkeit, die bisher erschienenen Kapitel kostenlos als Sonderdruck zu erhalten, und ab Januar konnte der gesamte Roman – ebenfalls kostenlos für die Abonnenten – bezogen werden.31 Im darauffolgenden Frühling erschien Vägen tillbaka im Bonnier-Verlag. Der Weg zurück bekam zwar nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Anerkennung wie dessen Vorgänger, jedoch waren die meisten Rezensionen positiv. So wurde der Roman sowohl von Sten Selander als auch von John Landquist als würdiger Nachfolger gepriesen; von beiden wurde Remarques Stil gelobt und der Text als ein notwendiger Abschluss des Vorgängers betrachtet.32 Etwas kritischer dagegen war Erik Wilhelm Olson, der das Buch als eine Enttäuschung im Vergleich zum Vorgänger bewertete und dabei Skepsis gegenüber Remarques Stil überhaupt äußerte, den er als äußerlich und substanzlos beschrieb.33

27 Vgl. Gillis Gullbransson. Protestbrief gegen den Nobelpreis an Erich Maria Remarque, 25.10.1929. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. »›Vägen tillbaka‹. Remarques nya bok, läses som följetong i Dagens Nyheter«. Dagens Nyheter, 14.11.1930; »Ingen väg tillbaka«. Dagens Nyheter, 23.11.1930. 30 »Idag börjar Remarques bok som följetong«. Dagens Nyheter, 05.12.1930. 31 »Abonnenter få Remarques nya bok«. Dagens Nyheter, 22.12.1930; »Remarques nya bok GRATIS till Dagens Nyheters abonnente«. Dagens Nyheter, 03.01.1931 32 Vgl. Sten Selander. »Remarques nya roman«. Dagens Nyheter, 09.05.1931; John Landquist. »Remarques nya bok«. Aftonbladet, 12.05.1931. 33 Erik Wilhelm Olson. »En ny Remarque«. Svenska Dagbladet, 01.05.1931.

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Das ist zunächst kein Hinweis darauf, dass Dagens Nyheter eine Rolle für Remarques Nobelpreisnominierung spielte. Das tritt aber deutlicher hervor, wenn man den Vorschlagenden und seinen Vorschlagsbrief näher betrachtet.

Remarques Nobelpreisnominierung Remarque wurde von einem Mitglied der Schwedischen Akademie, dem Dramatiker Tor Hedberg, für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, und das Besondere bei seiner Nominierung ist, dass dessen Begründung noch erhalten ist – eine Seltenheit gerade bei den Nominierungen der Mitglieder der Schwedischen Akademie. Sie haben nämlich nicht die gleiche Verpflichtung wie die sonstigen Vorschlagenden – die Literaturprofessoren, die Preisträger sowie die Vorsitzenden von Schriftstellerverbänden und die Mitglieder ausländischer Akademien – einen Vorschlagsbrief zu schreiben, aber Tor Hedberg hat es trotzdem gemacht. Und daraus geht hervor, dass er Remarque wegen Der Weg zurück vorschlug: Der Unterzeichnende darf hiermit, als Kandidaten für den literarischen Nobelpreis von 1931, den deutschen Autor Er ich Mar ia Remarque vorschlagen, mit besonderer Berücksichtigung seiner letzten Arbeit: Der Weg zurück, dessen literarischen Wert und in Nobels Sinn ausgesprochen ideellen Zweck.34

Da der Brief Ende Januar 1931 geschrieben wurde, dürfte wahrscheinlich sein, dass Hedberg den Roman in Dagens Nyheter gelesen hatte oder durch seine Affiliation zur Zeitung Zugang zum deutschen Originaltext bekommen hatte. Deshalb könnte es gut möglich sein, dass er ihn direkt in der Vossischen Zeitung gelesen hat. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Mitarbeiter von Dagens Nyheter Zugang zu ausländischen Zeitungen hatten – Hedberg war für die Zeitung als Kritiker tätig. Was dafür spricht, dass Hedberg den Roman auf Deutsch gelesen hatte, ist, dass er den deutschsprachigen Titel des Werkes in seiner Begründung benutzt und nicht den schwedischen: Vägen tillbaka. Auf jeden Fall dürfte es plausibel sein, dass Dagens Nyheter dabei eine Rolle gespielt hat; denn wie sonst wäre Hedberg bereits im Januar 1931 auf die Idee gekommen, Remarque wegen Der Weg zurück zu nominieren? Der Roman war zu dem Zeitpunkt in Schweden nur als Sonderdruck für die Abonnenten von Dagens Nyheter zugänglich.

34 Tor Hedberg. Vorschlagsbrief für Erich Maria Remarque, 29.01.1931. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. Hervorhebung im Original.

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Der Roman war jedenfalls noch nicht in Buchform erschienen, als das Gutachten des Nobelkomitees zu Remarque geschrieben wurde. Der Autor dieses Gutachtens war Per Hallström, Vorsitzender des Nobelkomitees und Experte des Komitees für deutschsprachige Literatur. Er hat darin ein kritisches Urteil über den Autor gefällt. Bereits aus den ersten Sätzen des Gutachtens geht hervor, dass Hallström Remarque ablehnt.35 So beginnt er mit der Feststellung, dass vor allem der »äußerst scharfe Naturalismus und die journalistische Effekthascherei« in Im Westen nichts Neues verantwortlich für den weltweiten Erfolg des Buches sei.36 Dabei behauptet Hallström, dass es dem Werk zwar nicht an literarischen Verdiensten fehle, dass diese aber eher gering seien. Den weltweiten Erfolg des Werks führt er auch auf die von ihm als negativ aufgefassten allgemeinen pazifistischen Tendenzen und antideutschen Stimmungen zurück; denn Remarque, so Hallström, habe durch Im Westen nichts Neues etwas Willkommenes für die Feinde Deutschlands geliefert – durch seine unbarmherzige Schilderung der Rohheit von unmenschlichen Vorgesetzten und preußischer Disziplin.37 Dabei geht er von einer Kritik an Remarques militärischen Sachkenntnissen aus – welche Hallström in Frage stellt, und kommentiert lediglich Remarques Lebenslauf. Als Quelle für Remarques Biografie stützt er sich auf Salomo Friedlaenders Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt? Der Mann. Das Werk. Der Genius. 1000 Worte Remarque (1929). Hallström erkennt zwar, dass Friedlaenders Schrift »wegen [deren] unermüdlicher Ironie unlesbar« sei, deutet trotzdem an, dass deren biografischer Anhang hilfreich sei.38 Hallström stellt Remarque als einen Schwindler dar, und zwar als einen, der bewusst falsche Informationen zu seinen Kriegsverdiensten verbreitet habe.39 Obwohl Hallström erkennt, dass das unmittelbar nichts mit Remarques literarischer Bedeutung zu tun hat, meint er trotzdem, dass diese vermeintlichen Tatsachen Bedenken im Hinblick auf Remarques Wahrheitsansatz ausüben.40 Hallström setzt danach das Gutachten mit einer Kritik von Inhalt und Stil fort. Auch wenn er gewisse Einzelheiten lobt, wie die Echtheit von Remarques psychologischen Beobachtungen, findet er, dass Remarque »recht primitiv« als Menschendarsteller sei und dass der Stil überhaupt grob und roh sei.41

35 Vgl. Per Hallström. Gutachten für Erich Maria Remarque, 07.04.1931. Archiv der Schwedischen Akademie, Stockholm. 36 Vgl. ebd. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. ebd. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. ebd.

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Der Weg zurück wurde aber nicht bewertet, und zwar mit der Entschuldigung, dass der Roman nicht in Buchform vorliege und infolgedessen nicht von der Nobelbibliothek erworben werden konnte: »Wenngleich er bald kommt, dürfte die Zeit kaum erlauben, dass er im Wettbewerb dieses Jahres zur Prüfung aufgenommen werden kann.«42 Hallströms Urteil wurde richtungsweisend für das Urteil des Nobelkomitees: Das Gutachten zum einzigen als fertig vorliegenden Buch, als der Vorschlag eingereicht wurde, das weltberühmte Im Westen nichts Neues, hat nicht eine Prämierung von diesem Werk empfehlen können. Dessen fast beispielloses, aber wahrscheinlich kaum dauerhaftes Glück scheint es weniger durch literarische Verdienste als durch die Fähigkeit des Stoffes, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, insbesondere mit der nervenzehrenden Brutalität in dessen Behandlung, die der Autor erreicht hat. Die Mitglieder des Komitees sind bei derselben ablehnenden Haltung geblieben.43

Remarque bekam infolgedessen den Nobelpreis nicht, und es ist unwahrscheinlich, dass es eine größere Diskussion um ihn bei der finalen Abstimmung gab, denn Tor Hedberg starb im Juli, etwa zwei Monate vor der Anfertigung des Gutachtens des Komitees, und so konnte er nicht für seinen Vorschlag plädieren. Remarque hatte aber nicht nur einen Anhänger in Hedberg innerhalb der Schwedischen Akademie. In denselben Julitagen 1931 starb auch Nathan Söderblom, der 1929 Im Westen nichts Neues hoch gelobt hatte. Er hatte dessen Bedeutung mit Uncle Tom’s Cabin verglichen: Ähnlich wie Harriet Beecher Stowe, deren Roman eine Großtat gegen die Sklaverei der Afroamerikaner sei, habe Remarques Roman eine Großtat gegen den Krieg geleistet, so Söderblom.44 Es dürfte darum wahrscheinlich sein, dass er sich gegen Hallströms Urteil ausgesprochen hätte. Der Künstler Albert Engström hatte ebenfalls 1929 Im Westen nichts Neues gelobt und es sogar als »das wichtigste, meistbedeutende Buch des Jahrhunderts« beschrieben.45 Auch der Literaturhistoriker Martin Lamm schätzte das Buch als »bewundernswert«.46 Es ist allerdings unklar, inwieweit – wenn überhaupt – diese positiven Einschätzungen von Eng­ström und Lamm zu einer Unterstützung von Remarque als Nobelpreisträger führten.

42 Vgl. ebd. 43 »Protokoll des Nobelkomitees 1931«. Bo Svensén (Hg.). Nobelpriset i litteratur II. Stockholm 2001, 169–170. 44 Vgl. Dagens Nyheter, 11.08.1929. Nathan Söderbloms Lob kommt in einer Werbung für Im Westen nichts Neues vor, in der auch Albert Engström zitiert wird. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. Martin Lamm. Brief an Fredrik Böök, 21.05.1929. Archiv der Universitätsbibliothek, Lund.

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Ergebnisse und Ausblick Vielleicht ist es nicht besonders merkwürdig, dass Remarque nicht den Nobelpreis bekam. Er war ja nicht der Typ des Autors, der damals in der Gunst des Nobelkomitees der Schwedischen Akademie stand. Eine eindeutige Definition des erwünschten Autortypus zu geben, ist aber eigentlich nicht möglich, weil die Bewertungen der Komiteemitglieder subjektiv bedingt und deswegen manchmal widersprüchlich sind. So hat beispielsweise das Komitee der 1920er und 1930er Jahre gerne Autoren unterstützt, die für ein breites Lesepublikum schrieben, was aber gerade bei Autoren wie Remarque und Lion Feuchtwanger – der 1930 nominiert wurde – nicht zutraf. Man kann aber das ›Ideal‹ des Nobelkomitees dermaßen beschreiben, dass ein Autor eine gewisse Anknüpfung an die abendländischen literarischen Traditionen und dazu einen Klassizismus und Hoheit im Stil verfolgen sollte. Daher wurden allzu impressionistisch und expressionistisch geprägte Darstellungen nicht besonders geschätzt. Und wie man diesen Maßstab auf die jeweiligen Kandidaten applizierte, muss einzeln betrachtet werden. Dabei ist allerdings zu erkennen, dass die Urteile des Komitees und die Entscheidungen der Akademie – auch wenn sie offiziell als mehr oder weniger einstimmig kommuniziert wurden – nicht immer einstimmig waren. Das geht vor allem aus der persönlichen Korrespondenz der Akademiemitglieder hervor. Gerade bei Remarque ist auffallend, dass er nicht wegen seines wohl wichtigsten Werkes vorgeschlagen wurde, aber trotzdem wegen Im Westen nichts Neues abgelehnt wurde. Ebenfalls auffallend ist, dass nicht nur angebliche stilistische Schwächen eine Bedeutung bei der negativen Bewertung hatten; politische Gründe waren ja auch von mindestens ebenso großer Relevanz wie die ästhetischen. Denn Hallström vertrat auch die Meinung, dass Im Westen nichts Neues ein antideutsches Werk sei, was für ihn etwas Unverzeihliches bedeutete, denn er war ein leidenschaftlicher Anhänger der deutschen Kultur und nicht allein dieser. Er hatte sich während des Ersten Weltkrieges für Deutschland durch zahlreiche prodeutsche Artikel engagiert und empfand deshalb die Niederlage und den Versailler Friedensvertag als eine persönliche Niederlage. In der Zwischenkriegszeit verfolgte er die politischen Entwicklungen in Deutschland mit großem Interesse und hegte zugleich die Hoffnung, dass Deutschland sich wieder erheben würde. Daher konnte er nicht Autoren dulden, bei denen er ein Hindernis für diese Hoffnung sah, was er offensichtlich bei Remarque zu erkennen glaubte. Außerdem schätzte er seinen Stil nicht und betrachtete den Autor selbst als unehrlich, unreif und unsympathisch. Alles sprach also gegen Remarque, zumindest aus Hallströms Sicht. Es wäre jedoch übertrieben, allein Hallström dafür verantwortlich zu machen, dass Remarque den Nobelpreis nicht bekam. Denn wenngleich Remarque einige Unterstützer innerhalb der Schwedischen Akademie hatte und wenngleich es eine

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weit verbreitete Meinung gab, dass er den Nobelpreis bekommen sollte, gab es letztendlich keine Mehrheit innerhalb der Schwedischen Akademie, die ihn prämieren wollte. Es ist auch eine auffallende Tatsache, dass er nie wieder für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen wurde; kein Vorschlagsberechtigter aus Deutschland oder aus einem anderen Land hat ihn je vorgeschlagen. Er wurde auch nie ›inoffiziell‹ nominiert, wenn man von den zwei Unterstützungsbriefen 1929 absieht. Warum hat niemand mehr außer Tor Hedberg Remarque für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen? Man kann nur vermuten, dass es eine Kombination aus dem Renommee des Autors als Populärschriftsteller und den weit verbreiteten kritischen Stimmungen gegen ihn war, die gewiss bei vielen Konservativen beziehungsweise national gesinnten Vorschlagenden vorkamen. Allerdings kann aus den vorliegenden Dokumenten zur einzigen Nominierungen so viel entnommen werden, dass Remarque aus einer Kombination von sowohl politisch als aus ästhetisch motivierten Begründungen abgelehnt wurde.

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»Ich bin früher einmal Schulmeister gewesen« Erich Maria Remarque als Lehrer

Es gibt einige Autoren, die über Schule geschrieben haben, aber nur sehr wenige, die Lehrer waren. Walter Kempowski fällt einem gleich ein, aber Ernst Jandl? Und wenn man an die Zeitgenossen Erich Maria Remarques denkt, erinnert man sich an Ärzte, Juristen und Journalisten unter den deutschen Schriftstellern, aber dazu gehören auch die Lehrer Gerd Gaiser, Georg von der Vring und Ernst Wiechert. Es wäre durchaus interessant zu untersuchen, ob literarische Eigenarten nach den erlernten und praktizierten Berufen späterer Schriftsteller unterschieden werden können. Das soll aber hier nicht zum Thema werden. Erich Maria Remarque war nur 14 Monate lang als Lehrer aktiv tätig, aber in fast allen seinen Romanen erzählt er auch von Lehrern.

Sämann des Lebens 1920 veröffentlichte Erich Maria Remarque – damals führte er noch seinen Geburtsnamen Remark – in der Zeitschrift des Katholischen Lehrerverbandes eine kleine – ich möchte sie nennen – »Gemütsskizze«: Der junge Lehrer. Plauderei eines Kriegslehrers.1 Dort finde ich die anrührende Stelle: »Sämann des Lebens! Ein schöner Name für einen Lehrer!«.2 Remarque war zu diesem Zeitpunkt Hilfslehrer in der Dorfschule in Lohne bei Lingen. Während es draußen stürmt, schweifen seine Gedanken beim Überprüfen der Schulhefte ab. Er denkt zurück an Winterabende im Schützengraben und im

1 Abgedruckt in: Erich Maria Remarque. Der Feind. Sämtliche Erzählungen zum Ersten Weltkrieg. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Thomas F. Schneider. Köln 2014, 15–20. 2 Ebd., 17.

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Lazarett. Er wägt ab zwischen seiner Einsamkeit auf dem Dorf und den Möglichkeiten der Zerstreuung in der Stadt. Er schlägt die vor ihm liegenden Hefte auf, und vor ihm erstehen die Persönlichkeitsbilder seiner Schülerinnen und Schüler. Von jedem weiß er mehr über Vorlieben und Charakter zu sagen, als sich aus seiner Leistungsbeurteilung ergibt. Ich horche wieder in mich hinein und vernehme das leise Wachsen meiner Seele. Ich widme mich wieder liebevoll den kleinen Dingen, über die ich oft hochmütig hinwegsah, und ich finde da das, dem ich früher vergeblich nachstrebte: Die Harmonie in Gott! Hier in der Einsamkeit kann man sich wieder auf sich selbst besinnen. Alle Dinge haben dann so einen eigenen Glanz.3

Man kann diese kleine literarische Skizze auch – bestenfalls – als Fingerübung eines schriftstellernden Neulings oder – schlechtestenfalls – als Kitsch bzw. als anbiedernde Interessenprosa bezeichnen. Jedenfalls stellt Remarque zehn Jahre später seine Erfahrungen als Dorfschullehrer anders dar. Aber sein Urteil aus Der Weg zurück bleibt auf einer Linie mit dem hier vorgetragenen ideellen Selbstbild. Remarque verlässt nicht die Idee vom Lehrer als »Sämann des Lebens«, nur hat er aus seinen in der Schulpraxis erworbenen Erfahrungen gelernt, dass er dieser Sämann im Leben junger Menschen nicht sein kann, weil er selbst nicht weiß, wofür er in seinem Leben steht. Der Sämann als Bild für einen Lehrer ist nach heutigem Urteil durchaus problematisch. Es suggeriert, die Schülerinnen und Schüler seien Objekte des Lehrerhandelns, passiv und auf den Lehrer angewiesen, um zum Leben zu erwachen. Dass Schülerinnen und Schüler eigenständige Subjekte sind, schien in Remarques Lehrerausbildung nicht angelegt gewesen zu sein. In seiner Skizze Der junge Lehrer versucht er aber, gerade das herauszuarbeiten, indem ihm beim Korrigieren der Hefte einzelne Schüler vor Augen treten mit ihren individuellen Eigenarten, ihren Interessen und Neigungen, über die sie bereits verfügen ohne Zutun eines Lehrers. Remarque gibt in seiner Besinnung auf das Lehrersein Einblicke in die reformpädagogischen Diskussionen über Ansätze einer neuen Schule zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Man wollte weg von einer »Lernschule«, in der die Schüler in der passiven Rolle des Rezipienten gesehen wurden, hin zu einer Schule als Lebensform, als »Lebensschule«. Sehr wahrscheinlich hatte Remarque während seiner Ausbildung im katholischen Lehrerseminar in Osnabrück von der neuen »Münchener Methode«, die der »Katechetenverein« seit der Jahrhundertwende entwickelte, gehört. Die Schule soll eine »Lebensschule« sein, der Unterricht soll 3 Ebd., 16–17.

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»aus dem Leben für das Leben« gestaltet werden. Vom heutigen Standpunkt aus erscheint das Lehrerbild vom »Sämann des Lebens« als autoritär. Der Kontext zur Zeit des pädagogischen Einstiegs von Remarque war aber ein reformerischer. Jedoch setzten sich diese Impulse erst ab 1920 in der Umgestaltung des Schulwesens und dann auch in der Lehrerausbildung allgemein durch. Für Remarque kam das zu spät. Die Gegenübersetzungen von Lernen und Leben, von Intellekt und Tatkraft, von Ordnung und Ereignis, von Erkennen und Glauben, von Dulden und Schaffen, gehören zum reformpädagogischen Arsenal des 20. Jahrhunderts. Drei Grundströmungen verbinden sich damit: Eine lebensreformerisch-jugendbewegte Richtung (Hoffmann, Wyneken u.a.), eine völkisch-konservative Richtung (de Lagarde, Langbehn u.a.) sowie eine religiöse, vom biblischen Menschenbild motivierte Richtung (Montessori, Guardini, Buber u.a.). Ohne Zweifel waren alle drei Richtungen reformorientiert – und sind es in ihren Nachfolgern noch heute –, aber fraglich bleibt, welche dieser Richtungen Menschenrechte und demokratisch-freiheitliche Lebensformen für alle in der Bildungs- und Erziehungswirklichkeit umsetzen wollte und welche nicht. Ich wage hier den Versuch, Remarque der dritten Richtung zuzuordnen, jedoch mit einer stufenweisen Entwicklung. In seiner frühen Studie Der junge Lehrer scheint mir ein naiver Idealismus als erste Stufe eines reformorientierten christlichen Lehrerbildes durch. Aus seinem Roman Der Weg zurück lese ich einen realistischen Idealismus dieser Richtung heraus. Es bleibt weiterhin die Lebensbildung das Ideal Remarques, aber er selbst sieht sich dazu nach besonderen eigenen Erfahrungen nicht in der Lage. Die dritte Stufe, zu der Remarque letztlich findet, möchte ich »kritischen Humanismus« nennen. Er bleibt seinem Ziel der Lebensbildung treu, jedoch in einem reflexiven Sinne der Fragen nach dem Grund und der Reichweite eines biblisch inspirierten Lehrerhandelns. Am deutlichsten markiert Remarque diese Position in dem Religionslehrer Pohlmann in Zeit zu leben und Zeit zu sterben.

Erfahrungen von Schule Nach acht Jahren beendete Remarque an der katholischen Johannisschule in Osnabrück seine Volksschulzeit.4 Er war vierzehn Jahre alt und zu Ostern 1912 mit einem guten Zeugnis entlassen worden. Jetzt stand die Berufswahl an.

4 Vgl. zum Folgenden: Bernhard Stegemann. »Autobiographisches aus der Seminar- und Lehrerzeit von Erich Maria Remarque im Roman Der Weg zurück«. Thomas F. Schneider (Hg.). Erich Maria Remarque: Leben, Werk und weltweite Wirkung. Osnabrück 1998, 57–67.

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Remarque wollte Volksschullehrer werden. Dafür musste er zunächst noch die »Präparande« besuchen. Eine Vorschule zur Lehrerausbildung, in der eine erweiterte Allgemeinbildung angezielt wurde. Dort nahm er auch am Französisch-, Klavier- und Geigenunterricht teil. Drei Jahre dauerte diese Aufbauschule, so dass er zu Ostern 1915 mit Erfolg entlassen wurde. Die Präparande war eine katholische Schule ebenso wie das Lehrerseminar, in das er am 2. Juli 1915 eintrat. Für das Studium am Lehrerseminar waren wieder drei Jahre vorgesehen, aber im November 1916 erreichte Remarque der Einberufungsbefehl. Im Januar 1919 kehrte er zurück ans Lehrerseminar, bereits am 26. Juni 1919 bestand er seine erste Lehrerprüfung. Dieses halbe Jahr ist allerdings keine einfache Zeit gewesen für die Kriegsheimkehrer – und dazu gehörte Remarque. Der Unterrichtsstil und der Umgangston am Seminar hatten sich nicht geändert, und das ließen sich viele von ihnen nicht bieten. Remarque gehört zu den Wortführern, wird bei den Kultusministern in Hannover und Berlin vorstellig und schließlich zum »1. Vorsitzenden des Gesamtverbandes der Kriegs- Seminaristen aller Seminare in der Provinz Hannover« gewählt. Bis jetzt hatte Remarque 15 Jahre seines Lebens, also seine gesamte Schul- und Ausbildungszeit, jedoch unterbrochen von seinem Militärdienst, an katholischen Bildungseinrichtungen verbracht. Das wird vorerst noch so weiter gehen. Zunächst kommt er als Vertretungslehrer an die katholische Volksschule in Lohne (Kreis Lingen) vom 1. August 1919 bis zum 31. März 1920. Remarque geht sonntags zur Messe und führt in der Woche seine Schüler in die Werktagsgottesdienste. Jedoch wird er bei der Regierung in Osnabrück angezeigt wegen »spartakistischer Umtriebe« und des unberechtigten Tragens der Offiziersuniform und von Ordensauszeichnungen. Remarque erhält eine dienstliche Verwarnung. Am 27. April 1920 wird er in eine weitere Stelle als Vertretungslehrer in der katholischen Volksschule in Klein-Berßen (Hümmling) eingewiesen. Dort trägt er jetzt die alleinige Verantwortung für 89 Kinder der Klassenstufen 1 bis 8 in einem Klassenraum. Aber am 15. Juli 1920 endet bereits seine Krankheitsvertretung. Mit den Schülern scheint Remarque auch hier gut zurecht gekommen zu sein. Aber mit den Autoritäten vor Ort gibt es wieder Ärger. Diesmal in Gestalt des Dechants Brand, der Remarque vorwirft, er gehe nicht mehr zur Kirche, leiste in Religion und überhaupt in der Schule nichts. Remarque seinerseits klagt gegen Brand wegen der ausbleibenden Gehaltzahlungen. Noch einmal – vom 23. August bis zum 20. November 1920 – wird Remarque zur Vertretung eingesetzt, diesmal in Nahne, einem Vorort von Osnabrück. Danach geht er nicht mehr in die Schule zurück. Remarque kündigt, nachdem ihn ein »Verweis« der Regierung ereilt hatte wegen seines ungebührlichen Verhaltens gegenüber Dechant Brand. Insgesamt war er bis dahin an drei Schulen zusammen 14 Monate im Lehramt tätig gewesen.

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Ludwig Bodmer, Remarques alter ego aus Der schwarze Obelisk, erklärt sich so: Dann kam der Zusammenbruch, ich wurde schließlich Schulmeister, meine kranke Mutter hatte das gewollt, und ich hatte es ihr versprochen, bevor sie starb. Sie war so viel krank gewesen, dass sie dachte, wenn ich einen Beruf mit lebenslänglicher Anstellung als Beamter hätte, könnte wenigstens mir nichts mehr passieren. Sie starb in den letzten Monaten des Krieges, aber ich machte trotzdem meine Prüfung und wurde auf ein paar Dörfer in der Heide geschickt, bis ich genug davon hatte, Kindern Sachen einzutrichtern, an die ich selbst nicht mehr glaubte, und lebendig begraben zu sein zwischen Erinnerungen, die ich vergessen wollte.5

Wäre Remarque ein guter Lehrer geworden? Nein, ich glaube nicht. Remarque war sich seiner selbst nicht sicher, er konnte deshalb auch nicht lehren. Man wird zwar sagen können, dass er sich in seiner Lehrtätigkeit wirklich bemühte und für die Schüler einsetzte. Aber wenn er den Lehrerberuf als »zu eng« für sich beurteilte, dann darf man diesem Urteil trauen. In seinem Roman Der Weg zurück knüpft Remarque 1930 an seine Erfahrungen von 1918 bis 1920 an und stellt sich seinen Erwartungen an den Lehrerberuf. Nach diesem Krieg will Remarque sich nicht mehr daran beteiligen, die Schüler auf das Leben vorzubereiten. Wirklichkeit und Schule stimmen nicht überein, das Leben und der Lehrplan sind nicht aufeinander abgestimmt. Remarque stellt zwei Lehrertypen gegeneinander: Kantorek aus Im Westen nichts Neues, der die Schüler belügt und vorführt. Und Pohlmann aus Zeit zu leben, Zeit zu sterben, dem die Schüler trauen, weil er integer ist. Pohlmann, der menschlich gebliebene Religionslehrer, der nicht mitmacht im NS-System, vertritt Remarques Ideal eines christlichen Lehrers des kritischen Humanismus. Erich Maria Remarque war diese Person wohl so wichtig, dass er in der späteren Verfilmung selbst Pohlmann darstellte – es blieb seine einzige Filmrolle, aber überzeugend gespielt – und dass er es in seinem Roman gleich mehrfach zu Begegnungen zwischen der Hauptperson Graeber und dem unter Beobachtung stehenden Pohlmann kommen lässt. Graeber will von seinem alten Religionslehrer wissen, ob er sich schuldig macht, wenn er als Soldat weiter kämpft für ein verbrecherisches Regime. Pohlmann kann Graeber keine Antwort erteilen, er vermag sein Gewissen nicht zu entlasten, weil er selbst nach seiner eigenen Mitschuld fragt. Er und seine Generation hatten in Schule, Gesellschaft und Kirche nicht genug Widerstandskraft gegen all die glatten Antworten und lauten Parolen aufgebracht. Pohlmann hilft Verfolgten. Er wird von der Gestapo verhaftet. Keine zehn Jahre nach Kriegsende – der Roman erschien 5 Erich Maria Remarque. Der schwarze Obelisk. Köln 1998, 33.

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1954 – war die Frage nach der Mitschuld des Militärs, der Schule und der Kirche an dem Unrecht in Deutschland noch ungewöhnlich und wurde gesellschaftlich nicht akzeptiert.

Der Weg zurück Ernst Birkholz fasst als ersten Gedanken am Ende des Krieges bei der Ankündigung des Friedens: »Vielleicht ist nur deshalb immer wieder Krieg, weil der eine nie ganz empfinden kann, was der andere leidet.«6 Wenn man Remarques literarisches Werk analysiert, wird man zu dem Ergebnis kommen, dass sich in diesen Worten seine eigene Motivation zum Schreiben niederschlägt. Er möchte von den Ängsten, dem Elend und dem Leiden der Menschen, die Gewalt, Ungerechtigkeit und Krieg unterworfen sind, erzählen, damit die Nachfolgenden alles dafür tun, dass so etwas nie mehr geschieht. Überzeugungen stiften durch Lernen an Beispielen. Das ist ein zutiefst pädagogisches Anliegen, kein politisches. Remarque hat recht, wenn er immer wieder betont, kein politischer Autor zu sein. Aber er ist ein Autor, der zu einer humanen Einstellung hinführen möchte. In diesem Sinne ist Remarque Lehrer geworden und geblieben. Der Weg zurück ist dazu der Schlüsselroman. Und er ist ein sehr stark unterschätztes Werk. Man kann sich auch heute noch gut in Remarques Situation Ende der 1920er Jahre hinein versetzen. Er wurde über Nacht zum Erfolgsautor einer Geschichte ohne happy end, aber mit dem Anspruch, so soll es nicht sein, so sinnlos wie in den Schützengräben darf ein Leben nicht enden. Nun ist er sich selbst und seinen Lesern aber schuldig, diesen moralischen Anspruch des »Nie wieder« einzulösen. Und genau von diesem Anspruch und von dem Weg in ein menschenverträgliches Leben erzählt das Buch. Es erzählt aber auch von dem Scheitern eines »zurück« und von der Suche nach einem neuen Weg. Somit legt Remarque einen Bildungsroman vor, in dem auch nachgedacht wird über die Bedingungen der Möglichkeit von Mitmenschlichkeit und Gewaltlosigkeit in schulischer Bildung. Richten wir dazu unsere Aufmerksamkeit auf einige Schlüsselszenen. Als sehr aufschlussreich vollzieht sich für Erich Birkholz und seine Kameraden der notwendige Wiedereintritt in das Lehrerseminar. Sie kommen aus der Welt der Schützengräben und sollen sich jetzt wieder in den alten Klassenzimmern als Schüler einfinden. Sie können das Erlebte nicht vergessen. Der Krieg überschattet ihr Lernen. Auf eine wichtige Erkenntnis für jeden Lehrer macht Remarque

6 Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. In Fassung der Erstausgabe. Mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln ²2019, 40.

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damit aufmerksam: Es gibt Erfahrungen und Situationen, die schulisches Lernen unmöglich machen. In der Aula werden sie von ihren Lehrern empfangen. »Aber was können sie uns schon lehren. Wir kennen das Leben jetzt besser als sie, wir haben ein anderes Wissen erworben, hart, blutig, grausam und unerbittlich.«7 Sie unterbrechen den Direktor bei seiner Begrüßungsrede, in der er das heldenhafte Kämpfen und Sterben lobt. Sie verlangen das Ende der großen Worte, haben aber selbst keine Worte für das, was sie aus dem Krieg mitgebracht haben, und für das, was sie sich für ihr neues Leben erwarten. In der ersten Stunde bekommen sie von ihrem alten und jetzt wieder neuen Deutschlehrer ihre noch vorhandenen Aufsatzhefte ausgeteilt. »Das letzte Thema, das wir als Aufsatz bearbeitet haben, hieß: Warum muß Deutschland den Krieg gewinnen? Das war Anfang 1916.«8 Remarque schreibt von einem doppelten Zivilisationsbruch: Von der zerbrochenen Lebenseinstellung der Kriegsteilnehmer und von der Unmöglichkeit zur Verständigung mit den Vertretern der traditionellen Kultur. Birkholz besteht das Lehrerexamen und ist nun froh, aus dem Leerlauf herauszukommen und unterrichten zu können. Ihm wird fürs Erste eine Aushilfsstelle an einer Dorfschule zugewiesen. Die Schule hat nur drei Klassen, weil sie auch nur drei Lehrer hat. Birkholz muss die vierzig jüngsten Schüler unterrichten. Sie sind zwischen sieben und zehn Jahre alt. Er sieht einfache, aber lebendige Kinder vor sich sitzen, die sehr diszipliniert arbeiten und seinen Anweisungen folgen. Er wird diesen jungen Menschen niemals die Erfahrungen, die ihn im Krieg geprägt haben, verständlich nahebringen können. Er spürt die Verantwortung für das Leben von vierzig jungen Menschen und fühlt sich mutlos und überfordert. Er wird seinen Schülerinnen und Schülern nicht ins Leben helfen können. Als Birkholz eines Tages aushilfsweise die Abschlussklasse unterrichtet, also die Schülerinnen und Schüler, die schon bald die Schule verlassen werden, um in das Berufsleben einzutreten, wird er auf eine grundlegende Diskrepanz aufmerksam. In der Schule zählt die Lebenskraft der jungen Leute und ihre eigenständige Persönlichkeit nichts. Es zählt allein der »gute« Schüler, also jener, der fleißig lernt und sich den Anforderungen der Lehrer anpasst. Er fragt sich, ob vielleicht eine kameradschaftliche Einstellung des Lehrers zu den Schülern weiterführen würde, muss aber feststellen, dass das nur eine Täuschung wäre. Ein Erwachsener kann nicht auf das Niveau eines Jugendlichen zurückgehen. Remarque formuliert für Birkholz eine Erkenntnis, die so etwas wie ein erzieherisches Grundprinzip beinhaltet: 7 Ebd., 135. 8 Ebd., 171.

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Die Erzieher, die mit der Jugend zu fühlen glauben, sind Schwärmer. Jugend will gar nicht verstanden sein; sie will nur so bleiben, wie sie ist. Der Erwachsene, der sich ihr zu aufdringlich nähert, wird ebenso lächerlich, als wenn er Kinderkleidchen anzöge. Wir können mit der Jugend fühlen, aber die Jugend fühlt nicht mit uns. Das ist ihre Rettung.9

Dieser Kommentar beinhaltet auch das durchaus pessimistische Eingeständnis, dass die ältere Generation die Erfahrungen von Barbarei und Gewalt nicht an die jüngere weitergeben kann. Der endgültige Bruch mit seinem Lehrerberuf ereignet sich eines Morgens, als er den Klassenraum betritt und in die erwartungsfrohen Augen seiner Schülerinnen und Schüler blickt. Er kann sie nichts lehren, weil er die unüberbrückbare Distanz spürt zwischen seinen Erfahrungen der Unmenschlichkeit und ihren Erwartungen an ein gelingendes Leben. Ernst Birkholz gesteht sich ein: Da stehe ich vor euch, ein Befleckter, ein Schuldiger und müßte euch bitten: bleibt wie ihr seid und laßt das warme Licht der Kindheit nicht zur Stichflamme des Hasses mißbrauchen! Um eure Stirnen ist noch der Hauch der Unschuld – wie kann ich euch da lehren wollen! Hinter mir jagen noch die blutigen Schatten der Vergangenheit – wie kann ich mich da zwischen euch wagen? Muß ich nicht selbst erst wieder ein Mensch werden?10

Erziehung zu tätiger Demokratie Mehrfach kommt Remarque in Interviews darauf zu sprechen, dass es keine »Umerziehung« eines ganzen Volkes von außen her geben kann. Die Erziehung muss von innen her, von den eigenen Kräften ausgehen. Sie kann von außen nur durch das gute Beispiel vorgelebt werden und durch die Förderung der demokratischen und humanen Kräfte im Innern unterstützt werden. Damit vollzieht Remarque die pädagogisch notwendige Unterscheidung von Erziehung und Bildung nach und überträgt sie auf die gesellschaftliche Situation des Nachkriegsdeutschlands. Erziehung meint einen von außen kommenden Gestaltungsprozess, während man Bildung als einen inneren Entfaltungsprozess betrachtet. Beides – die Anleitung von außen mit Hilfe von gestellten Aufgaben und neuen Lernzusammenhängen wie auch die eigene Aneignung, Verarbeitung und Entwicklung

9 Ebd., 258. 10 Ebd., 276.

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persönlicher Identität – bilden die pädagogische Grundlage von Schule. Das ist Remarque noch aus seiner Lehrerzeit bekannt. 1956 legte Remarque seine Intention für die Mitwirkung an dem Film Der letzte Akt« offen.11 Man solle nicht einfach nur darauf hoffen, dass sich in Deutschland etwas ändert, sondern eine »Erziehung zu tätiger Demokratie« anstrengen. Zwölf Jahre Erziehung zu Intoleranz und ein paar hundert Jahre Schulung zu blindem Gehorsam sind nicht ohne weiteres abzuwerfen. Deshalb heißt es, wachsam zu sein.12

Dieser Ansatz für eine »Erziehung nach Auschwitz« (Th.W. Adorno) war gut 10 Jahre nach dem Ende der NS-Zeit noch nicht mehrheitsfähig in Deutschland. Man darf die jungen Menschen in den Schulen nicht lehren »Du sollst nicht töten« und ihnen gleichzeitig einbleuen »Du musst gut zielen,damit du triffst«, beschreibt Remarque in einem anderen Interview den Widerspruch in der traditionellen schulischen Erziehung.13 Er habe sich als »alter Schulmeister«, so nennt er sich noch 1962 selbst, einmal die neueren Schulbücher angeschaut, aber feststellen müssen, dass dort nichts zu lesen sei über die schrecklichen Verbrechen der Deutschen. Deshalb schreibe er noch immer über das alte Deutschland, um vor allem die jungen Menschen aufzuklären.14 In demselben Gespräch mit dem Berliner Literaturkritiker Friedrich Luft wiederholt Remarque jedoch auch, was er zu vielen Gelegenheiten gesagt und geschrieben hat: Er habe keine Botschaft, sei kein politischer Mensch und wolle auch niemanden erziehen. Tatsächlich kann man diese nach außen gezeigte Interessenlosigkeit aber nicht aus Remarques Stellungnahme Praktische Erziehungsarbeit in Deutschland nach dem Krieg, verfasst für den amerikanischen Geheimdienst OSS 1944,15 herauslesen. Sein Auftrag lag wohl darin, Konzepte für eine »Re-education« von Erwachsenen zu liefern. Er sah in dem deutschen Militarismus das Grundübel, wollte aber auch mit Fotos und Augenzeugenberichten aus Konzentrationslagern über die von Deutschen begangenen Greuel berichten. Zwar wird man die Nazis schnell überführen und besiegen können, nicht aber den deutschen Nationalismus und Militarismus, prognostiziert Remarque.

11 Vgl. Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966. Hg. und mit einem Vorwort von Thomas F. Schneider. Köln 1998, 96–101. 12 Ebd., 100. 13 Vgl. ebd., 121f. 14 Vgl. ebd., 115. 15 Vgl. ebd., 66–83.

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Als gelernter Lehrer weiß Remarque von der Notwendigkeit, die Didaktik – also die inhaltlichen Lehrziele des schulischen Lernens – zu verändern. Hier die Wiedergabe einiger seiner Überlegungen aus der Denkschrift für den OSS: Das Ideal der Demokratie hat zwar viel Vernunft, aber wenig Glanz, besonders in Europa. Hier liegt eine erstrangige Aufgabe. Einige Linien, denen man folgen sollte: die Verherrlichung des Krieges durch die Verherrlichung der Freiheit ersetzen; die Helden der Zerstörung durch die Helden der Wissenschaft und des Aufbaus; das Ideal militärischen Gehorsams durch das Ideal persönlicher Unabhängigkeit; den Stolz des Soldaten durch den Stolz der Persönlichkeit; nationalen Chauvinismus durch nationalen Stolz, für die Humanität zu arbeiten. Der Mythos der Herrenrasse muß zerstört werden, sein Unsinn erklärt und lächerlich gemacht werden.16

Die zerstörerischen Folgen des Krieges auf materielle Güter und kulturelle Werte und damit die Notwendigkeit einer nichtmilitärischen Konfliktlösung sollten stets vor Augen geführt werden. Remarque setzt bei seinen didaktischen Prinzipien auf faktengestützte, argumentativ begründete Einsicht. Und der gelernte Lehrer Remarque weiß auch: »Um die Kinder zu erziehen, muß man die Lehrer erziehen.«17 Die Ausbildung, die er genossen hat, bezeichnet Remarque als »nur jämmerlich«.18 Es gab einen alten Spruch im kaiserlichen Deutschland: »Alle deutschen Kriege werden von den deutschen Lehrern errungen.« Darin liegt eine Wahrheit. Wer die Lehrer gewinnt, gewinnt die Jugend.19

Remarque fordert das Universitätsstudium und politisch-demokratische Kurse für alle Lehrer, eine bessere Bezahlung, Rückhalt durch die Regierung, eine enge Zusammenarbeit von Kultusministerium und Lehrerverbänden. Remarques Ausführungen für den OSS über die »Praktische Erziehungsarbeit in Deutschland« dienten ihm sicherlich als Motivation dazu, nach 1945 von Der Funke Leben an auch weiterhin in mehreren Romanen über die Nazi-Barbarei zu schreiben; aber auch den Schmerz derjenigen zur Sprache zu bringen, die die Unmöglichkeit erkennen müssen, ihre Erfahrungen lebensbildend weiterzugeben, wie etwa in Schatten im Paradies (1971). Man bekommt einen Einblick in das fast bodenlose Unternehmen dieser Erziehungsarbeit, wenn man z. B. nur einen Blick 16 Vgl. ebd., 76f. 17 Ebd., 78. 18 Ebd. 19 Ebd.

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wirft in die Reportagen des berühmten amerikanischen Autors John Dos Passos aus dem zerstörten Deutschland im Herbst 1945.20 Auf die vielen mittlerweile publizierten autobiographischen oder literarischen Zeugnisse deutscher Autoren über diese zentrale Frage der Nachkriegszeit kann hier nicht mehr eingegangen werden. Im Übrigen wäre es interessant, einen Vergleich der Praktischen Erziehungsarbeit in Deutschland mit Ernst Jüngers »Friedensschrift« herbeizuführen, die ab 1943 in Kreisen des militärischen Widerstandes zirkulierte.21 Jünger konzentriert sich zwar auf den ersten Blick nicht auf Erziehungsfragen, aber wie unterschiedlich er und Remarque die ethischen und politischen Herausforderungen des Krieges und der Diktatur beschreiben, könnte zu einem Erkenntnisgewinn über diese beiden berühmtesten deutschen Weltkriegsautoren führen. Bereits Günter Grass realisierte die Idee, Erich Maria Remarque und Ernst Jünger in ein Gespräch zu bringen. In seiner beeindruckenden Zeitreise Mein Jahrhundert (1999) lässt er die beiden in fünf Treffen die Jahre 1914 bis 1918 Revue passieren. Grass gewährte sonst niemandem aus dem letzten Jahrhundert so viel Platz in seiner Retrospektive. Hier sollen allerdings die pädagogischen Ansätze der beiden verglichen werden. Jüngers Schrift ist nämlich ein Appell zur Erziehung, denn er richtet sich an die Jugend Europas und der Welt. Was aber will er von der jungen Generation, wie nimmt er die Situation am Ende des Krieges wahr und welche Vorstellung von der Zukunft entwirft Jünger? Fast zeitgleich arbeiten die beiden an ihren Stellungnahmen: Jünger gelangt im November 1943, Remarque im September 1944 zum Abschluss. Die Unterschiede sind auffällig. Remarque nimmt eine didaktische Analyse vor: Welche Gruppierungen existieren in der deutschen Bevölkerung, mit welchen Stärken und Schwächen? Welche Ziele sollte die Erziehungsarbeit verfolgen und mit welchen Methoden und Medien kann man sie realisieren? Auf welche Probleme wird man dabei möglicherweise stoßen? Remarque hält sich an die politischen und historischen Fakten, auf die er das Ziel der Erziehungsarbeit aufbaut: Eine starke Demokratie in Deutschland. Ganz anders Ernst Jünger in seiner Schrift Der Friede. Zwar besitzt sie in ihrem ersten Teil eine Zustandsbeschreibung, gefolgt von einer Zukunftsvision im zweiten Teil, aber das alles wird in gegenstandslosen Worten und ahnenden Bildern vorgetragen. Krieg und Diktatur sind wie ein allgemeines Schicksal über die Menschheit gekommen. Jünger verbleibt in Andeutungen, Verallgemeinerungen und in der subjektlosen Anklage einer nihilistischen Weltanschauung seiner Zeit. Er nennt keine Verantwortlichen, sondern verfolgt die Idee von der Kollektiv20 Vgl. John Dos Passos. Das Land des Fragebogens. 1945: Reportagen aus dem besiegten Deutschland. Reinbek 1999. 21 Ernst Jünger. Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas und an die Jugend der Welt. Hamburg 1945 (auch in: Sämtliche Werke. Bd. 7. Stuttgart 1980).

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schuld. Zweifellos gelingen Ernst Jünger starke Bilder zur Illustrierung moderner Kriege, aber sie bleiben geschichtslose Verpackungen ohne Inhalte. Man sollte dieses Urteil auch nicht abschwächen durch den Hinweis auf die Umstände der Entstehung der »Friedensschrift« im noch funktionierenden NS-Regime. Jüngers Ausführungen sind kein politisches Manifest als Akt des Widerstands, sondern eher die Selbstvergewisserung des »Anarchen«, als den er sich selbst bezeichnete, in Gestalt appellativer Literatur. Erich Maria Remarque propagiert nicht die Kollektivschuld aller Deutschen. Es sind der Militarismus und die autoritären Strukturen, die durch Pazifismus und tätige Demokratie überwunden werden müssen. Dort, wo Ernst Jünger die weltanschauliche Umkehr zu christlicher Tradition und Kultur als Erziehungsperspektive zur Erneuerung Europas erklärt, verfolgt Erich Maria Remarque einen pädagogischen Pragmatismus. Zweifellos zeigt sich auch darin wieder, dass der »alte Schulmeister« Remarque seine schriftstellerische Tätigkeit als seinen Beitrag zu einer Lebensschule des kritischen Humanismus begriffen hat.

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Von der Politikwissenschaft zur Auslandskunde Gleichschaltung und Selbstgleichschaltung eines Faches

Nach 1945 herrschte jahrzehntelang die Meinung vor, die Politikwissenschaft sei in der Weimarer Republik ausschließlich als Demokratiewissenschaft betrieben worden und habe sich im Dritten Reich als einzige Disziplin geschlossen der Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten entzogen. Man pflegte die Legende, dass der Lehrkörper vollzählig emigriert sei und keine Schuld an der Gleichschaltung der Institute und Fakultäten getragen habe. Die Studie Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920–1945 von Rainer Eisfeld,1 erschienen 1991, trug entschieden dazu bei, dass die jahrzehntelang aufrechterhaltene Suggestivbehauptung von der durchgängigen Demokratietreue der Politikwissenschaft seit ihren Weimarer Anfängen als »Familienlegende« (Söllner)2 bzw. »Gründungsmythos« (Buchstein)3 des Fachs ad acta gelegt werden musste. Das Buch, so Hubertus Buchstein rückblickend 2008, zerstörte die Legende von der DHfP als einer »Hochburg der Weimarer Demokratie«.4 Interessant ist dieses Thema weiterhin, denn 2011 wurde eine neuerliche Debatte von Rainer Eisfeld angestoßen, nämlich zu einem der Gründerväter der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Eschenburg. Dieser 1 Rainer Eisfeld war von 1974–2006 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück. 2 Alfons Söllner. »Gruppenbild mit Jäckh: Anmerkungen zur ›Verwissenschaftlichung‹ der Deutschen Hochschule für Politik während der Weimarer Republik«. Gerhard Göhler (eds.). Kontinuitäten und Brüche der deutschen Politikwissenschaft. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges., 1991, 41–64, 41. 3 Hubertus Buchstein. »Angebräunte Politikwissenschaft?«. Politische Vierteljahresschrift (PVS) 1992, 33, 145–151, 150. 4 Rainer Eisfeld. Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920–1945. 2., überarbeitete Auflage, Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges, 2013, 9. Zitiert wird in der vorliegenden Arbeit allerdings, wenn nicht anders gekennzeichnet, die 1. Auflage von 1991: Rainer Eisfeld. Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920–1945. Baden-Baden: Nomos, 1991.

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war zusammen mit Hans Rothfels auch der Gründungsherausgeber der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Eisfeld legte offen, dass Eschenburg in der NS-Zeit ab 1938 als »Dienststellenleiter der Reisgruppe Industrie« an ›Arisierungsverfahren‹ beteiligt war. In der Folge entwickelten sich umfangreiche Debatten,5 die u.a. dazu führten, dass der im Jahre 2000 gestiftete, nach Eschenburg benannte LebenswerkPreis der »Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft« (DVPW) in die Kritik geriet und 2013 sogar abgeschafft wurde.6

Die Deutsche Hochschule für Politik (DHfP) und das Institut für Auswärtige Politik Die Gründungen der Deutschen Hochschule für Politik DHfP in Berlin 1929 und des Institutes für Auswärtige Politik 1923 in Hamburg markieren den Neubeginn der Politikwissenschaft in Deutschland. Inspiriert wurden diese Gründungen durch den liberal-demokratischen Geist der jungen Weimarer Republik. Sie stellten einen Reformansatz nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Systems dar, denn mit der Errichtung einer demokratischen Staatsform war es vonnöten, die ergebenen Untertanen des Kaiserreiches zu mündigen Staatsbürgern zu erziehen. Die DHfP war in diesem Zusammenhang mehr auf die Lehre ausgerichtet, wohingegen sich das Hamburger Institut in erster Linie auf die Forschung konzentrieren sollte. Eine der wesentlichen Aufgaben bestand in der Widerlegung der »Kriegsschuldthese«. An dieser Stelle wird deutlich, welchen Stellenwert der so genannte »Kriegsschuldparagraph« und der »Versailler Vertrag« in der demokratisch ausgerichteten Weimarer Republik einnahmen. Und dieses traf eben nicht nur auf rechtsgerichtete konservative Kreise, sondern auch auf Liberale und grundsätzliche Verfechter der Demokratie zu. Zum Leiter des Institutes wurde Prof. Dr. Albrecht Mendelssohn Bartholdy ernannt, der, aus einer liberal-bürgerlichen Familie mit humanistischer Tradition stammend, das

5 Im Jahre 2016 hat Rainer Eisfeld einen Band vorgelegt, der eine umfassende Dokumentation der Debatte darstellt. Rainer Eisfeld (ed.). Mitgemacht. Theodor Eschenburgs Beteiligung an »Arisierungen« im Nationalsozialismus. Wiesbaden: Springer VS, 2016. Einen Schlusspunkt unter die Debatte setzte der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann, als er Eisfelds Ergebnis anerkannte und zugab, dass es aus Unkenntnis heraus wohl ein Fehler gewesen sei, einen Preis nach Eschenburg zu benennen. 6 Eisfeld, Mitgemacht, 11f. und 24ff. Eisfeld stellt an dieser Stelle außerdem heraus, Eschenburg habe nach dem Krieg »jahrzehntelang konservative Funktionsträger« gerechtfertigt, beispielsweise Hans Globke, Lutz Schwerin von Krosigk und Ernst von Weizsäcker, »die dem Regime in ähnlicher Weise zugearbeitet« hätten. Ebd., 12.

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Institut durch seine Persönlichkeit prägte und ihm, auch im Ausland, zu Ansehen verhalf. Deutlich wird diese Prägung in der Bezeichnung »Mendelssohn-Institut«.7 Die DHfP wurde 1920 ebenfalls als eine private Stiftung von mehrheitlich liberalen Politikern auf Initiative von Friedrich Naumann, der allerdings bereits 1919 starb, gegründet. Ihr Bestreben beinhaltete anfänglich die pädagogische Abstützung der demokratischen Verfassung der Weimarer Republik und die in diesem Sinne ausgerichtete Volksbildung sowie einen Beitrag zum nationalen Neubeginn, wiederum allerdings im Sinne der Überwindung von Versailles. Sie war unabhängig und überparteilich organisiert und als eine Art gehobene Volkshochschule konzipiert. Geprägt wurde sie in der Anfangsphase durch liberale, sozialdemokratische und deutschnationale Dozenten.8 Zu den liberalen Dozenten zählte auch Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, der allerdings ein funktionalistisches Demokratieverständnis vertrat, das in etwa mit dem Begriff des ›Vernunftrepublikaners‹ gleichzusetzen ist. Hermann Heller zählte zu den wenigen, die auf der demokratisch-sozialstaatlichen Ebene anzusiedeln sind. Die Leitung der DHfP lag von 1920 bis 1930 bei Ernst Jäckh, der auch nach 1945 noch behauptete, dem Nationalsozialismus gegenüber standhaft geblieben zu sein. Erwiesen ist, dass Jäckh, um Konflikte zu vermeiden, eine Übereinstimmung des national-liberalen Geistes im Sinne von Naumann und der Ideologie der Nationalsozialisten suggerierte.9 Die Errichtung einer Stiftung zur Lehre der Politikwissenschaft wurde gewissermaßen als Notlösung vorgenommen, da das Fach zu diesem Zeitpunkt noch keinen Einlass in die Universitäten fand.

Gleichschaltung und Selbstgleichschaltung des Faches nach 1933 Das Institut für Auswärtige Politik Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 erfolgte im September desselben Jahres die Zwangsemeritierung des Demokraten und Juden Mendelsohn Bartholdy von seiner Professur an der Universität Hamburg. Nach einer schleichenden Entmachtung und Intrigenspielen legte er im Februar 1934 sein Amt als Institutsleiter nieder. Zu seinem Nachfolger wurde sein vorheriger Stellvertreter Delaquis ernannt, der das Institut allerdings nur von März 7 Gisela Gantzel-Kress. »Das Institut für Auswärtige Politik im Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus«. Eckart Krause u. a. (eds.). Hochschulalltag im Dritten Reich. Die Hamburger Universität 1933–1945. Berlin, Hamburg: Reimer, 1991 (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, 3), 914–937, 915ff. 8 Söllner, »Gruppenbild«, 56ff. 9 Ebd., 56f., und Eisfeld, Ausgebürgert, 106.

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bis Juli 1934 leitete. Sein Einsatz war von Beginn an als Notlösung und somit als begrenzt eingestuft worden.10 Daran anschließend ging die Institutsleitung kommissarisch an Prof. Dr. Rein über, der maßgeblich am Intrigenspiel gegen Mendelssohn Bartholdy beteiligt gewesen war. Inhaltliche Veränderungen traten erst auf, als Dr. Fritz Berber 1935 zum Stellvertreter von Rein ernannt wurde und somit mehr Einfluss auf das Institut gewann. Berber gehörte dem Beraterstab des Botschafters in London und späteren Außenministers Joachim von Ribbentrop an. Er wurde von diesem protegiert und aufgrund seines eigenen Opportunismus’ und Machtstrebens schnell zu einem Werkzeug dessen Willens.11 Berber konzipierte für von Ribbentrop eine Diplomaten-Hochschule in Berlin, die eine Formung des diplomatischen Nachwuchses in dessen Sinne bewerkstelligen sollte.12 Die Gründung des Deutschen Institutes für Außenpolitische Forschung 1937 wurde das Institut für Auswärtige Politik von Hamburg nach Berlin verlegt und dort dem von Ribbentrop im Sinne einer Stiftung eingerichteten Deutschen Institut für Außenpolitische Forschung einverleibt. Zum Leiter des neuen Institutes wurde Berber ernannt. Das eigentliche Ziel des Hamburger Institutes, die Erforschung von Kriegsursachen und internationalen Beziehungen, wurde untergraben. Es wurde benutzt, um das Institut Ribbentrops lebensfähig zu machen.13 Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges verfolgte man das Ziel, im Sinne einer revisionistischen Außenpolitik wissenschaftlich zu arbeiten und zu forschen. Seit dem Überfall auf Polen allerdings bestand die Aufgabe darin, die Kriegspolitik Hitlers propagandistisch zu untermauern und zu begleiten. Deutlich wurde diese neue Aufgabe in der Errichtung der »Informationsstelle I« unter der Leitung von Berber und der »Informationsstelle II« unter der Leitung des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt (AA) Luther. Das Institut war praktisch dem Auswärtigen Amt (AA) eingegliedert und dem Außenminister direkt unterstellt, der es für seine Belange zu nutzen verstand.14 Die Deutsche Hochschule für Politik (DHfP) Mit dem 30. Januar 1933 wurde der Fortbestand der DHfP infrage gestellt, da sie unter den Prämissen der Weimarer Republik gegründet worden war. Für ihre 10 Vgl. Gantzel-Kress, »Das Institut für Auswärtige Politik«, 918–921. 11 Hermann Weber. »Die politische Verantwortung der Wissenschaft: Friedrich Berber in den Jahren 1937–1945«. Krause, Hochschulalltag im Dritten Reich, 939–951, 949. 12 Ebd., 924ff. 13 Ebd., 939. 14 Ebd., 940ff.

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Erhaltung als selbstständige Einrichtung sprachen sich die Lehrenden und Studierenden der Hochschule aus, während das »Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda« (Promi) unter der Leitung von Joseph Goebbels die Hochschule in den eigenen Dienst zu stellen suchte. Um ihre Hochschule nicht zu verlieren, ordneten sich zahlreiche Lehrende und Studierende dem Propagandaministerium unter. Die DHfP nach 1933 war zwar im juristischen Sinne keine Einrichtung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und bis 1937 auch nicht staatlich,15 stellte aber in fast jeder Hinsicht einen tiefen Bruch mit der Zeit vor 1933 dar. Die einzige Kontinuität, die zu verzeichnen war, war derjenige Teil der Professorenschaft, der übernommen wurde, was allerdings keine Kontinuität in der Lehre implizierte. Die herausragenden demokratischen Vertreter der Professorenschaft – Hermann Heller, Hajo Holborn und Franz L. Neumann – wurden 1933 im Rahmen der Säuberungsaktion der NSDAP von der Hochschule vertrieben und emigrierten in die Vereinigten Staaten. Heller verstarb bereits 1934, Holborn und Neumann setzten ihre Karrieren im Exil erfolgreich fort.16 Darüber hinaus wurden neue Dozenten mit nationalsozialistischem Hintergrund eingestellt.17 Ab dem Jahr 1936 galt die Mitgliedschaft in der NSDAP als Aufnahmevoraussetzung für die DHfP, was beispielhaft für die Gleichschaltung der Hochschule stehen kann, wie auch die Ernennung des Nationalsozialisten Paul Maier-Benneckenstein, der zuvor Regierungsrat unter Goebbels gewesen war, zum Leiter der Hochschule.18 Beeinflusst wurde die DHfP spätestens ab diesem Zeitpunkt insbesondere vom Propagandaministerium, das eine Erziehung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie vorsah. Wissenschaft, wie sie vor 1933 praktiziert worden war, wurde durch Pseudo-Wissenschaft und zum Teil antisemitische und rasseideologische Indoktrination ersetzt.19 Frühere Schwerpunkte der Politikwissenschaft wie Soziologie, politische Geschichte, Außen- und Innenpolitik oder Rechts- und Wirtschaftspolitik wurden im Sinne der NSDAP ideologisiert. Hinzu kamen Schwerpunkte wie »Rassenkunde« und »Rassenpflege«, »Wehrpolitik«, Presse und Propaganda sowie Schulungsseminare für Mitglieder nationalsozialistischer Verbände und Einrichtungen, der »Sturm-Abteilung« (SA), der »Hitlerjugend« (HJ), der »NS-Frauenschaft«, der »Deutschen Arbeitsfront« (DAF) oder des »NS-Lehrerbundes«. Aufgrund außenpolitischer Umstände

15 Mit der Verstaatlichung ging eine Namensänderung einher. Aus der »Deutschen Hochschule für Politik« (DHfP) wurde die »Hochschule für Politik« (HfP). 16 Eisfeld, Ausgebürgert, 115ff. 17 Vgl. Ernst Haiger. »Politikwissenschaft und Auslandswissenschaft im ›Dritten Reich‹ – (Deutsche Hochschule für Politik (1933–1939) und Auslandswissenschaftliche Fakultät der Berliner Universität 1940–1945«. Göhler, Kontinuitäten, 94–136, 96ff. 18 Eisfeld, Ausgebürgert, 107. 19 Haiger, »Politikwissenschaft«, 102.

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wurden zusätzliche Veranstaltungen wie das »Antimarxistische Seminar« oder Seminare für Kolonialpolitik angeboten.20 Das Verhalten der Professoren Bereits in den ersten drei Jahren des Dritten Reiches sammelte sich eine Gruppe von Akademikern, zu denen auch Franz Alfred Six zählte, um Reinhard Heydrich, den »Leiter des Sicherheitsdienstes (SD) des Reichsleiters SS Heinrich Himmler«. Die Hauptaufgabe des SD bestand darin, mit Hilfe eines weit verzweigten Nachrichtennetzes antisozialistische Strömungen auszumachen. Die Akademiker sollten beispielsweise durch die Erarbeitung neuer Strategien einen Beitrag zur »Wissenschaftlichkeit« der Vorgehensweise leisten, wozu sie sich bereiterklärten. Heydrich und Himmler wollten die Hochschulen für ihre Belange nutzen und SS-Nachwuchs erziehen, der später zur Übernahme von führenden Positionen tauglich war.21 Die Nationalisten, die Vernunftrepublikaner und die Demokraten Ursprünglich war die DHfP in der jungen Weimarer Republik mit dem Ziel gegründet worden, die Ideen von Demokratie und Liberalismus in einer vom Untertanengeist des Deutschen Kaiserreiches geprägten Gesellschaft einzuführen und zu konsolidieren. Offiziell wurde dieses Ziel bis 1933 verfolgt, die eigentlichen Intentionen eines Teiles der Professorenschaft sahen aber auch bereits während der Weimarer Republik oftmals anders aus. Die Nationalisten befürchteten, durch das Zeitalter der Massen ihre elitäre Position in der Gesellschaft einzubüßen, und stellten mit Schrecken fest, dass die in ihren Augen untergeordneten Gesellschaftsschichten an die Universitäten drängten, zumal auch die von ihnen verhasste Sozialdemokratie immer mehr an Einfluss gewonnen hatte. Verhasst deswegen, weil sie das Organ der aufstrebenden Arbeiterschaft darstellte, die Adel und Bürgertum den Rang streitig machte, und weil sie mit Blick auf die so genannte »Dolchstoßlegende« für die Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich gemacht wurde. Darüber hinaus warf man der Sozialdemokratie vor, im Kontext der Weimarer Koalition mit der SPD an der Spitze, den Versailler Vertrag mit Gebietsabtretungen und Reparationen angenommen und damit akzeptiert zu haben, dass Deutschland die alleinige Kriegsschuld zugesprochen wurde. Folglich wandte man sich in entsprechenden Kreisen gegen alles, was mit Demokratie und Parlamentarismus zusammenhing, und begegnete dem Nationalsozialismus großenteils mit Wohlwollen und Offenheit. Die Mehrheit der Professorenschaft in der Weimarer Republik 20 Eisfeld, Ausgebürgert, 109. 21 Ebd., 141.

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rekrutierte sich aus dieser als »nationalistisch-oppositionell«22 oder »orthodox«23 zu bezeichnenden Gruppe. Ein kleinerer Teil der Professoren gehörte den so genannten »Vernunftrepublikanern« oder »Modernisten« an, die die nach 1918 eingetretene Entwicklung realistisch betrachteten und versuchten, sich mit ihr zu arrangieren.24 Sie waren in diesem Sinne keine Streiter mehr für Demokratie und Republik. Der nationalsozialistischen Machtübernahme verwehrten sie sich nicht und unterstützten sie zum Teil sogar aktiv. Dennoch zog sich die Mehrheit der Vertreter im Laufe der 1930er Jahre aus verschiedenen Gründen zurück.25 Die Selbstgleichschaltung lässt sich durch das Verhalten zweier Personen, die zudem den »Modernisten« zuzuordnen sind, besonders gut charakterisieren – durch Arnold Bergstraesser und Richard Schmidt. Bergstraesser wertete studentische Arbeiten, die eigentlich unzulänglich waren, auf, wenn sie ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus beinhalteten, und ersetzte folglich wissenschaftliche durch politische oder ideologische Maßstäbe. Zu seinen Promovenden zählten Franz Alfred Six, auf den später noch eingegangen wird, und Fritz Hippler, der kurze Zeit nach seiner Promotion durch Goebbels zum »Reichsfilmintendanten« ernannt wurde und u.a. für den NS-Propagandafilm Der ewige Jude verantwortlich war.26 Auch Richard Schmidt hatte einen großen Anteil an der Reduzierung der Politikwissenschaft auf die so genannte »Auslandskunde« und damit die Unterstützung der nationalsozialistischen Politik. Bereits 1924 schuf er das »Institut für politische Auslandskunde« an der Universität Leipzig, das »Auslandskunde« und »Deutschtumsfragen« miteinander verband.27 Die wirklichen Demokraten unter den Professoren bildeten die absolute Minderheit. Sie blieben nach 1933 ihren Prinzipien treu, ließen sich nicht vereinnahmen und begaben sich ins Exil, wo sie zu einem großen Teil die Demokratiewissenschaft weiterentwickelten.28 An dieser Stelle wird deutlich, dass das, was aus der Politikwissenschaft wurde, nicht nur als Bruch mit dem Vorhergehenden, sondern durchaus auch als Kontinuum zu begreifen ist. Hätte die Politikwissenschaft sich wirklich als Demokratiewissenschaft verstanden, hätte sie bereits 1930 beim Aufkommen der Präsidialkabinette und dem damit einhergehenden Demokratieabbau intervenieren müssen, spätestens jedoch im Zuge der Beseitigung der Demokratie 1933. Das Misstrauen in die demokratische Staatsform war aber so groß, dass man sich auf der Seite der Lehrenden größtenteils vereinnahmen ließ, 22 Ebd. 23 Fritz K. Ringer. Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933. Stuttgart: KlettCotta, 1983, 120ff. 24 Ebd. 25 Eisfeld, Ausgebürgert, 166ff. 26 Ebd., 126. 27 Ebd., 130. 28 Ebd., 166ff.

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wie u.a. Adolf Grabowsky, der die offensive »Revision von Versailles« nach 1933 rechtfertigte, oder dass man illusionär an den angeblichen Friedenswillen glaubte, wie z.B. Arnold Wolfers.29 Das Verhalten der Studierenden So, wie sich ein Großteil der Professoren vom neuen System vereinnahmen ließ, verhielt es sich auch mit den Studierenden. Zu Beginn des Sommersemesters 1933 waren 6,6 % der DHfP-Studenten im »Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund« (NSDStB) registriert, bereits am Ende des Semesters waren es 37 % und bis zum Wintersemester 1937/38 69 %.30 Sicherlich waren nicht alle, die dem Studentenbund angehörten, von der nationalsozialistischen Ideologie überzeugt. Deutlich wird allerdings, dass sie in diesem neuen System mitliefen, um keine Restriktionen hinnehmen zu müssen, und es somit unterstützten. Hinzu kam, dass seit dem Sommersemester 1936 die Zugehörigkeit zur NSDAP oder einer ihrer Gliederungen als Aufnahmevoraussetzung galt. Nachweisbare politische Aktivitäten hatten den gleichen Stellenwert wie das Abitur, was dazu führte, dass der Anteil der Studierenden ohne Abitur bis zum Sommersemester 1935 bei geradezu 70 % lag. Nach 1935 wurde er auf etwa 50 % zurückgeschraubt, um ein Mindestmaß an Niveau halten zu können.31 Aus dieser antidemokratischen und antirepublikanischen Haltung insbesondere der Professorenschaft, aber auch der Studierenden, wird ersichtlich, warum die Nationalsozialisten nach 1933 ein leichtes Spiel an den Hochschulen hatten und sie schnell in ihren Dienst stellen konnten. Hinzu kam der Opportunismus, der natürlich Vertreter beider Gruppen kennzeichnet. Jeder war – wie so häufig – sich selbst der Nächste und erhoffte sich als Lohn für die Kooperation persönliche und berufliche Vorteile. Die Professorenschaft ebnete folglich den Weg zur Gleichschaltung der Hochschulen. Nicht der Druck, den die Nationalsozialisten ausübten war entscheidend, sondern die Willfährigkeit, die vielen Veränderungen und Eingriffen die Tür öffneten.32

29 Ebd., 125. 30 Haiger, »Politikwissenschaft«, 103. 31 Ebd. 32 Vgl. Eisfeld, Ausgebürgert, 944f.

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»Auslandswissenschaftliche Fakultät« (AWF) und »Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut« (DAWI) Die DHfP, bzw. HfP, arbeitete nach Ansicht von Goebbels nicht ergiebig genug. Ihre Zukunft war schon frühzeitig ungewiss geworden, da die Ausbildung nicht mit einer staatlich anerkannten Abschlussprüfung endete und auf kein bestimmtes Berufsziel hinauslief, was zu Auseinandersetzungen zwischen der Hochschule und dem »Reichserziehungsministerium« (REM) führte. 1940 wurde die HfP in die neu gegründete »Auslandswissenschaftliche Fakultät« (AWF) und ihr »Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut« (DAWI) in Berlin eingegliedert. Die Leitung wurde Franz Alfred Six unterstellt, dessen Lebenslauf als exemplarisch für die Lebensläufe einiger Professoren gelten kann und zudem ein Sinnbild für die Situation an den deutschen Hochschulen darstellt. Franz Alfred Six 1930 der NSDAP beigetreten, wurde Six 1934 zum Hauptamtsleiter der »Reichsführung der Deutschen Studentenschaft« ernannt. Im gleichen Jahr stieg er zum »Sturmführer« in der SA auf, nach deren Entmachtung durch den so genannten »Röhm-Putsch« er 1935 in die SS wechselte.33 1938 wurde Six zum Amtschef II »Gegnerforschung« im SD-Hauptamt ernannt und trat zwei Jahre später in die »Waffen-SS« und die »SS-Division Deutschland« ein.34 Ab 1941 führte er Einsätze in der Sowjetunion zur Vorbereitung der »industriellen Vernichtung« der jüdischen Bevölkerung durch.35 Soviel zu seiner militärischen Karriere, nun zur akademischen. 1934 verfasste er eine Schrift mit dem Titel Die politische Propaganda der NSDAP im Kampf um die Macht, die für seine spätere Karriere von Bedeutung sein sollte. Nach seiner Promotion durch Arnold Bergstraesser und der sich anschließenden Habilitation war er außerordentlicher Professor in Königsberg. Durch sein Bemühen um die Eingliederung der HfP in die AWF wurde er 1940 zum Professor für Außenpolitik und Auslandskunde an die AWF berufen. Zudem wurde ihm die Leitung von Fakultät und Institut zugewiesen, die er bis 1945 innehatte.36 Die geschäftsführende Leitung lag bei dem Antisemiten Pfeffer, der seinen Einfluss in diesem Sinne ausübte. Zudem wurde Six 1943, als Gesandtem I. Klasse, die Leitung der »Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes« (AA) übertragen.37 Unter der Herausgeberschaft von Six avancierte die einstmals wissenschaftlich 33 Ebd., 125f. 34 Ebd., 152. 35 Ebd., 163. 36 Ebd., 19f. 37 Ebd., 152.

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anerkannte Zeitschrift für Politik (ZfP) endgültig zu einer Propagandaschrift. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurde Franz Alfred Six zu 20 Jahren Haft verurteilt, allerdings 1952 aufgrund des aufbrechenden Ost-West-Konfliktes wieder freigelassen.38 Die Aufgaben von Fakultät und Institut Wie zuvor die Hochschule für Politik (HfP) waren die »Auslandswissenschaftliche Fakultät« (AWF) und das »Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut« (DAWI) dazu bestimmt, die nationalsozialistische Praxis, insbesondere die Außenpolitik, wissenschaftlich und propagandistisch zu unterstützen. Der Lehrkörper wurde durch die SS und das REM rekrutiert, wobei man nach verschiedenen Kriterien vorging. Dazu zählten zum einen der so genannte »Ariernachweis« und die ideologische Einstellung, zum anderen aber auch Qualifikationen wie Promotion und Habilitation. Allerdings lag der Schwerpunkt auf dem ersten Kriterium, mangelnde Qualifikation wirkte ggf. nur aufschiebend, aber nicht hindernd.39 Das DAWI, das 1943 aus der Fakultät herausgelöst wurde, wurde in den Dienst des Planes gestellt, der von den Nationalsozialisten für die Zukunft Europas entwickelt worden war. Basierend auf dem »Rassegedanken« und der daraus resultierenden Vormachtstellung der deutschen »Volksgemeinschaft« sollte ein einheitliches Europa unter der Hegemonie Deutschlands entstehen. Bezeichnend dafür war zum einen die Abgrenzung gegen die »minderwertige Rasse« der slawischen Völker, insbesondere der Sowjetunion mit ihrem Staats- und Gesellschaftssystem des Bolschewismus, und zum anderen gegen das demokratische und kapitalistische System der Vereinigten Staaten von Amerika.40 Die Aufgaben bestanden in der Verwaltung besetzter Gebiete, der Mitarbeit im Auswärtigen Amt oder der »Informationsstelle I«. Ferner wurden Gutachten erstellt, Übersetzungen vorgenommen oder Forschungsaufträge bearbeitet. Eine wesentliche Aufgabe bezog sich auf die Erarbeitung von Propagandamaterial. Alles, was publiziert wurde, musste anwendungsorientiert sein, z.B. Handbücher, Wörterbücher oder Karten. Der Nutzen, der für die Führung des Krieges aus dieser praxisorientierten Arbeit gezogen wurde, war enorm.41

38 Ebd., 163. 39 Vgl. Haiger, »Politikwissenschaft«, 119 sowie Eisfeld, Ausgebürgert, 147. 40 Eisfeld, Ausgebürgert, 155. 41 Haiger, »Politikwissenschaft«, 122.

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»Auslandswissenschaft« und NS-Polykratie Wie in jedem Bereich des nationalsozialistischen Machtapparates wird auch in Bezug auf die Auslandswissenschaft eine stark ausgebildete Polykratie deutlich. Einrichtungen mit gleichem oder ähnlichem Zweck existieren nebeneinander, alte Instanzen wurden fortgeführt, neue gegründet und Ämter multipliziert. Darüber hinaus wirkten eigentlich außenstehende Institutionen einen starken Einfluss aus, nämlich im Fall der Politikwissenschaft, bzw. der Auslandskunde, die SS, das Auswärtige Amt, das »Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« (»Reicherziehungsministerium«/REM) und das »Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda« (Promi), um nur die Wichtigsten zu nennen. Diese polykratischen Strukturen, Verbindungen und Abhängigkeiten entstanden dabei eher »naturwüchsig« als Folge der Rivalität der NS-Instanzen und des so genannten »Führerprinzips«. Die Folgen bestanden aber sicherlich darin, dass wesentlich mehr Menschen an das Regime gebunden wurden und mit dieser Integration in das System auch Interesse an seinem Fortbestehen hatten. Ferner wurden Machtkonzentrationen in den Händen einzelner Personen verhindert, in dem sich fortlaufend neue Instanzen bildeten. Dieses führte wiederum dazu, dass sich die Instanzen gegenseitig einschränkten und somit die Hegemonie einer Gruppe verhindert wurde. Im Streit um Zuständigkeiten und Einflussmöglichkeiten blieb letztlich nur eine wirkliche Bezugsgröße übrig, und das war Adolf Hitler.42

Abschließende Betrachtung Die Freiheit des geistigen Schaffens selbstverständlich ist unbeschränkt, ihre Grundsätze aber sind unverrückbar von der nationalsozialistischen Weltanschauung bestimmt.43

Dieses Zitat Hermann Görings verdeutlicht die Intention, die unweigerlich zur Gleichschaltung allen geistigen Schaffens führen musste. Das Denken als solches wurde der nationalsozialistischen Weltanschauung unterstellt. Die von Göring angeführte »Freiheit« bestand ausschließlich darin, auf dieser Basis Wissenschaft zu betreiben, also letztlich Gedanken zu entwickeln, die die Ideologie untermauerten.

42 Vgl. Eisfeld, Ausgebürgert, 139. 43 Das Zitat Görings stammt aus einer Rede über »Kunstwillen und Volksempfinden« aus dem Jahr 1934. Sie wurde veröffentlicht in Hermann Göring. Reden und Aufsätze. München: Zentralverlag der NSDAP Franz Eher Nachfolger GmbH, 1942, 181.

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Am Beispiel der Politikwissenschaft und ihrer Reduzierung auf die »Auslandskunde« wird diese völlige Vereinnahmung und Indienststellung deutlich. Der Nutzen, der sich in der Praxis aus dem erarbeiteten Propaganda- und Kartenmaterial, den Büchern oder der Rekrutierung von Verwaltungspersonal ergab, war beträchtlich. Dabei verfolgte die Etablierung der »Auslandswissenschaft« im Wesentlichen zwei Ziele. Zum einen den beschriebenen praktischen Nutzen, zum anderen aber auch die Abschaffung der allgemeinen und in besonderem Maße natürlich auch der wissenschaftlichen Diskussion über innenpolitische Fragestellungen. In dieser Hinsicht wollte man jegliche Einflussnahme unterbinden, um die errungene Macht nicht zu gefährden. Entscheidend bei der Betrachtung der Politikwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus ist das Ineinandergreifen von Gleichschaltung und Selbstgleichschaltung des Fachs. Durch die Offenheit und Willfährigkeit der Professorenschaft wurde den Nationalsozialisten der Weg geebnet und so manche Tür, die zur Gleichschaltung führte, geöffnet. Beschämend ist, dass sich die Legende von der Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft und die Behauptung von der Unschuld der Professoren in der Bundesrepublik Deutschland etablieren konnte wie so manche andere Legende auch. Am Beispiel der Politikwissenschaft ist sehr schön zu erkennen, dass auch nach siebzig bis achtzig Jahren noch Legenden förmlich vom Sockel gestoßen werden können und müssen: siehe Theodor Eschenburg. Und, dass ein großer Teil der Deutschen – auch wenn sich viele in der jungen Bundesrepublik reinwaschen konnten –, bewusst oder unbewusst und aus welchen Motiven auch immer, seinen Teil zum Entstehen und Bestehen des Dritten Reiches beigetragen hatte.

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»An der Schwelle« Die sozialdemokratische Flüchtlingszeitung Neuer Vorwärts in Paris und der Ausbruch des Krieges 1939

Am 2. September 1939 erschien in Paris der Neue Vorwärts mit der Schlagzeile »An der Schwelle des Krieges«, untertitelt mit »Im Kampfe für Freiheit und Demokratie«. Der dazugehörige Leitartikel war in der immer aggressiveren Stimmung des späten August 1939 und kurz vor dem deutschen Überfall auf Polen entstanden, die Wochenzeitung begleitete diese vom Deutschen Reich ausgehende Eskalation fortan – und teils prominent auf der ersten Seite – in einer »Chronik der Woche«. Der Artikel »An der Schwelle des Krieges« stellte dabei vor allem eine Standortbestimmung der deutschen geflüchteten Sozialdemokraten in der französischen Emigration dar, die seit Erscheinen der ersten Nummer ihres Exilorgans im Sommer 1933 immer wieder auf die immanente Gefahr eines vom Deutschen Reich ausgehenden weiteren Krieges hingewiesen hatten – zuerst in der Tschechoslowakei, ab Januar 1938 dann in Frankreich und dessen Öffentlichkeit adressierend, immer aber auch »unseren Freunden, unseren Genossen, unseren Mitkämpfern in Deutschland« zugewandt: Wir deutschen Sozialdemokraten brauchen deshalb in diesen Stunden nicht viel Worte, um unsere Stellung zu erklären: Wir fühlen uns als die Verbündeten aller Gegner Hitlers, die für die Freiheit und die Kultur Europas kämpfen, als die Feinde der Despoten und Kriegstreiber und aller jener, die, wie Stalin, die Kriegstreiber begünstigten. So haben wir gewirkt, solange

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Frieden war. So werden wir weiter wirken, wenn unglücklicherweise der Krieg ausbrechen sollte.1

Der vorliegende Beitrag geht diesen Positionierungen nach und skizziert im ersten Teil die Entwicklung des 1933 in Karlsbad (Karlovy Vary) gegründeten und von 1938 bis 1940 in Paris fortgesetzten Neuen Vorwärts als Wochenzeitung der deutschen Sozialdemokraten im Exil. Diese serielle Quelle politischer Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich wird dabei2 – dem Titel des zitierten Leitartikels von 1939 folgend – auch als ein Medium des Übergangs bzw. Transits eingeordnet,3 in dem sich die Protagonisten hinter dieser Exilpublikation nicht allein durch ihre Flucht »von Land zu Land« befanden.4 Vielmehr wurden die Fluchtländer selbst – in die-

1 »An der Schwelle des Krieges. Im Kampfe für Freiheit und Demokratie«. Neuer Vorwärts. Sozialdemokratisches Wochenblatt [im Folgenden: NV], 324, 02.09.1939. Die genannte, auf ein Deutschland nach Hitler ausgerichtete politische Exilarbeit war bei den deutschen geflüchteten Sozialdemokraten vor allem mit dem 1939 in Paris verstorbenen Vorsitzenden Otto Wels verbunden. Vgl. exemplarisch bzw. für die langfristige Auseinandersetzung der Exilforschung mit dieser Perspektive Erich Matthias (Hg.). Friedrich Stampfer: Mit dem Gesicht nach Deutschland. Eine Dokumentation über sozialdemokratische Emigration. Düsseldorf 1968; Thomas Koebner, Gert Sautermeister, Sigrit Schneider (Hgg.). Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1933–1949. Opladen 1987; Boris Schilmar. Der Europadiskurs im deutschen Exil 1933–1945. München 1998; Claus-Dieter Krohn, Martin Schumacher (Hgg.). Exil und Neuordnung: Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945. Düsseldorf 2000, sowie die Beiträge in britischer Perspektive in der Sonderausgabe des Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 15 (2014): Vision and Reality: Central Europe after Hitler. Am 17. September 1939 begann der NV unter der Überschrift »Unser Kampf gegen Hitler« dann auch, dies mit eigenen Wortmeldungen seit 1933 zu dokumentieren. Vgl. »Unser Kampf gegen Hitler«, NV, 326, 17.09.1939; »Unser Kampf gegen Hitler, Schluss«. NV, 327, 24.09.1939. 2 Die Frage, was eigentlich ein »politischer Flüchtling« sei, war schon zeitgenössisch nur schwer zu beantworten bzw. rechtlich weder national noch international definiert: Norman Bentwich, Director of the High Commission for Refugees from Germany, unterschied beispielsweise noch 1936 »Jewish« und »non-Jewish refugees«; letztere, deren Zahl er für Ende 1933 mit etwa 13.000 angab, beschrieb Bentwich vor allem als »political refugees, and a smaller number of exiles for freedom of conscience«. Die US-amerikanische Schriftstellerin und politische Aktivistin Dorothy Thompson warb dagegen 1938 dafür, genau diesen Gegensatz aufzulösen, handelte es sich doch bei Kategorien wie »Jewish«, »Aryan« oder »Nordic« um Konstrukte der nationalsozialistischen Ideologie, die andere Fluchtgründe verdeckten: »Many of the German refugees are as ›Nordic‹ as can be, but have had to flee for political reasons, because they were liberals, socialists, democrats, pacifists, or religious devotees. As for a new stream of exiles from former Austria, it includes monarchists of aristocratic background, former members of Chancellor Schuschnigg’s Fatherland Front, and Catholics.« Norman Bentwich. The Refugees from Germany, April 1933 to December 1935. London 1936, 198; Dorothy Thompson. Refugees. Anarchy or Organization. New York 1938, 56. 3 Vgl. hierzu vor allem Wendy A. Vogt. Lives in Transit: Violence and Intimacy on the Migrant Journey. Oakland 2018; Aspasia Papadopoulou-Kourkoula. Transit Migration: The Missing Link Between Emigration and Settlement. New York 2008. 4 Vgl. Insa Meinen, Ahlrich Meyer. Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938–1944. Paderborn 2013.

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sem Falle die Tschechoslowakei und Frankreich5 – mit ihren politischen, so­zialen und politischen Debatten und Rahmenbedingungen im Verlauf der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zu Übergangsräumen, in denen der Aspekt der Zuflucht aus politischen oder anderen Verfolgungsgründen zuerst aus dem Deutschen Reich, ab 1934 aus Österreich oder ab 1935 aus dem Saarland immer wieder bzw. immer mehr in Frage gestellt wurde.6 Allerdings war der NV weitaus mehr als eine ›politische Emigrationszeitung‹ und nicht allein im Feuilleton den Ansätzen des »Kultursozialismus« bzw. der bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen sozialdemokratischen Arbeiterkulturbewegung verpflichtet, die nach der »gesellschaftlichen Egalisierung durch die Verbürgerlichung des Proletariers« strebte und deswegen Themen wie »Kultur, Bildung und Gesundheit« ins Zentrum rückte.7 Laut Frank Heidenreich sind die »Anstrengungen der Arbeiterbewegung auf kulturellem Gebiet« generell nur »als eine gegensätzliche Beanspruchung der herrschenden ideologischen Werte und der kulturellen Überlieferung begreifbar«.8 Die Werte der Arbeiterkulturbewegung leiteten sich dem folgend also von ›antagonistischen‹ und vor allem bürgerlichen Werten ab: Der Schriftsteller und Lokaljournalist der

5 Vgl. zur Aufnahmepolitik vor allem Claudia Curio. »Unwilling Refuge. France and the Dilemma of Illegal Immigration, 1933–1939«. Frank Caestecker, Bob Moore (Hgg.). Refugees from Nazi Germany and the Liberal European States. New York/Oxford 2010, 57–81; Charmian Brinson, Marian Malet (Hgg.). Exile in and from Czechoslovakia during the 1930s and 1940s, Amsterdam 2009 (Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 11); Michal Frankl. »Azyl nebo dočasné útočiště? Proměny československé uprchlické politiky, 1933–1938«. Alena Mišková (Hg.). Exil v Praze a Ceskoslovensku 1918–1938 / Exile in Prague and Czechoslovakia 1918–1938. Praha 2005, 56–69; Kateřina Čapková. »Československo jako útočiště uprchlíků před nacismem!?«. Ebd., 138–159; Květuše Hyršlová, Václav Kural (Hgg.). Češi a Němci společně proti Hitlerovi: Exil říšsko-německých antifašistů v Československu. Praha 1999; Vicky Caron. Uneasy Asylum. France and the Jewish Refugee Crisis, 1933–1942. Stanford 1999. 6 Vgl. David Jünger. Jahre der Ungewissheit: Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938. Göttingen 2017; Margit Franz, Heimo Halbrainer (Hgg.). Going East – Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika. Graz 2014; Irene Nawrocka (Hg.). Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Wien 2013; Kateřina Čapková, Michal Frankl.  Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und ihre Flüchtlinge aus NS-Deutschland und Österreich 1933–1938. Wien, Köln, Weimar 2012; Anthony Grenville. Stimmen der Flucht: Österreichische Emigration nach Großbritannien ab 1938. Wien 2011; Debórah Dwork, Richard Jan van Pelt. Flight from the Reich: Refugee Jews, 1933–1946. New York, London 2009; Claus-Dieter Krohn, Patrik von zur Mühlen, Gerhard Paul, Lutz Winckler (Hgg.). Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945. Darmstadt 1998; Patrik von zur Mühlen. »Schlagt Hitler an der Saar!« Abstimmungskampf, Emigration und Widerstand im Saargebiet 1933–1935. Bonn 1979. 7 Hans-Georg Lippert. »›Eine Insel Utopia inmitten der kapitalistischen Welt.‹ Stadtzentrumsplanungen für Freital (Sachsen) in den 1920er Jahren«. Hans Vorländer (Hg.). Transzendenz und die Konstitution von Ordnung. Berlin 2013, 45–65, hier: 58. 8 Frank Heidenreich. Arbeiterkulturbewegung und Sozialdemokratie in Sachsen vor 1933. Köln, Weimar, Wien 1995, 12. Vgl. hierzu auch aus regionaler Perspektive Mike Schmeitzner, Swen Steinberg. »Arbeiterkultur in Sachsen. Milieu, Infrastruktur und Medien«. Wolfgang Hesse, Holger Starke (Hgg.). Arbeiter | Kultur | Geschichte. Arbeiterfotografie der Weimarer Republik, Leipzig 2017, 21–60.

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sozialdemokratischen Dresdner Volkszeitung Edgar Hahnewald etwa gehörte 1926 dem in Leipzig erscheinenden Kulturwille nach »zum Typus des proletarischen Sozialisten, die die bürgerliche Kultur aufnehmen, um sie in sich zu verarbeiten und mit neuem Geist beseelt zu neuer Form zu gestalten«.9 Gleichzeitig zählte Hahnewald aber auch zu jener Personengruppe, die in der Weimarer Republik gegen die neuen Ideologien von rechts und links anschrieb, die schon im Frühjahr 1933 in die Tschechoslowakei flüchtete – und die hier politisch-schriftstellerisch aktiv wurde: Hahnewald schrieb unter anderem für den Neuen Vorwärts, wobei er sich erneut nicht auf tagespolitische Artikel oder Kommentare zu Entwicklungen im Deutschen Reich beschränkte.10 Vielmehr – und eben den Ansätzen der Arbeiterkulturbewegung folgend – verfasste er auch Kurzgeschichten und schließlich 1936 einen »antifaschistischen Zeitroman«,11 die den Gegensatz zwischen den Werten einer sozialistischen Zukunft auf der einen Seite und der nationalsozialistischen Ideologie bzw. Gegenwart und Gefahr auf der anderen deutlich machten. Und damit war Edgar Hahnewald im Neuen Vorwärts kein Einzelfall. Im Hauptteil des Beitrags werden deswegen schwerpunktmäßig literarische und künstlerische Reaktionen vorgestellt, die sich in diesem Exilorgan ab September 1939 auf den Ausbruch und Verlauf des Krieges finden, ebenso aber auch hinsichtlich der veränderten Rahmenbedingungen im Exilland Frankreich12 bzw. generell der Reaktion auf den Faschismus als europäisches Phänomen13 – in Form von Kurzprosa, Gedichten oder der Besprechung von Literatur ebenso wie in Reaktion auf die Positionierung von geflüchteten Schriftstellern oder Künstlern etwa zur in der eingangs zitierten Passage bereits anklingenden Frage der Volksfront gegen den Faschismus in Europa.14 Welche Einordnungen und Diagnosen vermochten die betreffenden Exil-Autorinnen und -Autoren »an der Schwelle des Krieges« zu formulieren, wer schrieb überhaupt »als die Stimme der Sozialdemokratischen 9 Karl Ullrich. »Auch ein Arbeiterdichter«. Kulturwille 3 (1926) 8, 140–141, hier: 141. 10 Vgl. zu Biografie und Werk Swen Steinberg. »Karl Herschowitz kehrt heim«. Der Schriftsteller-Journalist Edgar Hahnewald zwischen sächsischer Identität und der Heimat im Exil. Mit einer kritischen Edition. Berlin 2016. 11 Vgl. zu diesem Begriff bzw. zum Sujet Sigrid Thielking. »Roman«. Krohn/von zur Mühlen/Paul/ Winkler (Hgg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration, Sp. 1072–1087, hier: Sp. 1074. Vgl. zudem die kritische Edition des Romans in Steinberg, Herschowitz, 183–336. 12 Vgl. hierzu etwa Nicholas John Williams. An »Evil Year in Exile«? The Evacuation of the FrancoGerman Border Areas in 1939 under Democratic and Totalitarian Conditions. Berlin 2018; Julia S. Torrie. German Soldiers and the Occupation of France 1940–1944. Cambridge 2018; Nico Wouters. Mayoral Collaboration Under Nazi Occupation in Belgium, The Netherlands and France, 1938–46. New York 2016. 13 Vgl. Gerd-Rainer Horn. European Socialists Respond to Fascism. Ideology, Activism and Contingency in the 1930s. New York, Oxford 1996. 14 Vgl. Manfred Overesch. »Deutsche Volksfront«. Wolfgang Benz, Walter H. Pehle (Hgg.). Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt/M. 1994, 194–196, sowie im Besonderen Ursula Langkau-Alex. Deutsche Volksfront 1932–1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau. Bd. 1–3, Berlin 2004/2005.

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Partei Deutschlands«15 vor und mehr noch nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs? Welche Rolle spielte dabei der Aspekt der eigenen Flucht und die bereits erwähnte Situation im Übergang bzw. im Transit?

Von Prag nach Paris Neuer Vorwärts. Sozialdemokratisches Wochenblatt (NV) wurde erstmals am 18. Juni 1933 in Karlsbad als Exil-Organ der aus dem Deutschen Reich geflüchteten Sozialdemokraten mit ihrem Auslandsvorstand (Sopade) veröffentlicht, Vorbereitungen für das ›Ausweichen‹ des SPD-Organs Vorwärts aus Berlin im Falle eines Verbots waren schon im Herbst 1932 getroffen worden.16 Die achtseitige Zeitung mit feuilletonischter »Beilage«, die auch Karikaturen, Kurzprosa, Rezensionen und Gedichte brachte, konnte in der Tschecholsowakei (ČSR) bis in den Herbst 1937 unter »einer wohlwollenden Duldung«17 und anfangs in einer Auflage von fast 28.000 Exemplaren wöchentlich erscheinen.18 Durch die ins Ausland geretteten Geldmittel der Sopade ermöglichte die Zeitung geflüchteten Redakteuren sowie Parteifunktionären und -angestellten ein Auskommen, galt Journalismus doch als künstlerische Betätigung und war in der ČSR erlaubt.19 Vergleichbare rechtliche Grauzonen ermöglichten den Exiljournalismus auch in anderen europäischen Ländern wie beispielsweise Frankreich.20 Eine Zielgruppe des NV waren dabei erstens die Verfolgten des Nationalsozialismus, die sich nicht auf die vergleichsweise kleine Gruppe der aufgrund ihrer politischen Tätigkeit Geflohenen beschränkte – auf lokal bzw. regional aktive Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre oder Angestellte aus den Vorfeldinstitutionen bzw. -organisationen (Druckereien, Arbeitersport, Konsumvereine, Naturfreunde, Krankenkassen etc.) sowie exilierte sozialdemokratische Parlamentariern der 15 »An der Schwelle des Krieges«. 16 Vgl. Marlis Buchholz, Bernd Rother (Hgg.). Der Parteivorstand der SPD im Exil. Protokolle der Sopade. Bonn 1995, XXXVII. 17 »Schluss in Prag. Zum Verbot des ›Neuen Vorwärts‹ in der Tschechoslowakei«. NV, 292, 22.01.1939. 18 Vgl. Buchholz/Rother, Parteivorstand, XXXVII. 19 Die Arbeit von Schriftstellern, Künstlern und Journalisten war die einzige Tätigkeit, die vom für Emigranten geltenden Verbot abhängiger Erwerbsarbeit in der Tschechoslowakei ausgenommen war. Vgl. hierzu Peter Heumos. »Tschechoslowakei«. Krohn/von zur Mühlen/Paul/Winckler (Hgg.), Handbuch, Sp. 411–426, hier: Sp. 414; Čapková/Frankl, Unsichere Zuflucht, 90–94. 20 Vgl. hierzu Hélène Roussel, Lutz Winckler (Hgg.). Rechts und links der Seine: »Pariser Tageblatt« und »Pariser Tageszeitung« 1933–1940. Tübingen 2002; Lutz Winkler (Hg.). Unter der »Coupole«. Die Paris-Feuilletons Hermann Wendels 1933–1936. Tübingen 1995; Hélène Roussel, Lutz Winkler (Hgg.). Deutsche Exilpresse und Frankreich 1933–1940. Bern 1992; Autorenkollektiv. »Exilpublizistik in Frankreich«. Hanno Hardt, Elke Hilscher, Winfried B. Lerg (Hgg.). Presse im Exil. Beitrag zur Kommunikationsgeschichte des deutschen Exils 1933–1945. München 1979, 123–180.

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Landtage oder aus Gemeindegremien.21 Zu dieser Zielgruppe gehörten vielmehr vor allem Jüdinnen und Juden, deren Schicksal als Verfolgte in Deutschland wie auch als Flüchtlinge schon in den ersten Ausgaben 1933 und bis zur Einstellung des NV 1940 immer wieder thematisiert wurde.22 Zweitens wurde der NV ab Sommer 1933 aber auch über die ›grüne Grenze‹ nach Schlesien, Sachsen und Bayern in das Deutsche Reich geschmuggelt.23 Letzteres Muster, das sich in allen politischen Exilgruppen bzw. parteipolitischen Richtungen findet, wurde unter erheblichen Gefahren organisiert und hatte teils drastische Konsequenzen für die Beteiligten: Im März 1934 wurden beispielsweise 58 Personen eines sächsischen Verteilernetzes des NV zu Gefängnis- oder Zuchthausstrafen verurteilt, andere kamen ins Konzentrationslager;24 im Jahr darauf wurden auf dem Erzgebirgskamm bei Altenberg drei kommunistische Kuriere in einem Hinterhalt erschossen.25 Und noch im Oktober 1939 verhaftete die Gestapo-Leitstelle Liegnitz sechs Mitglieder des »Sopade-Nachrichtendienst« unter dem Vorwurf, diese hätten »Zeitschriften nach Görlitz geschmuggelt«.26 Die Gefahr dieser Arbeit im Grenzraum wurde auch von den beteiligten Journalisten so wahrgenommen: Der im März 1933 aus

21 Vgl. hierzu sowie generell zu der im Text benannten Gruppe Swen Steinberg. »Der Blick von unten. Lokale und regionale Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre im Exil der Tschechoslowakei«. Rüdiger Hachtmann, Franka Maubach, Markus Roth (Hgg.). Zeitdiagnose im Exil. Zur Deutung des Nationalsozialismus nach 1933. Göttingen 2020, im Erscheinen; ders. »Should I Stay or Should I Go? Regional Functionaries, Political Networks, and the German-Czechoslovakian Borderlands in 1933«. Reinhard Andress (Hg.). Early Stages of Exile / Vorstufen des Exils. Amsterdam 2020, im Erscheinen; ders. »Reorganisation, inhaltliche Arbeit und alte Konflikte. Zur langfristigen Prägung gewerkschaftlicher Exilnetzwerke kleiner und mittlerer Funktionäre in Großbritannien nach 1938«. Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 15 (2014), 93–117; ders. »How to Become Isolated in Isolation? Networks in the German Political and Trade Union Exile after 1933«. Helga Schreckenberger (Hg.). Networks of Refugees from Nazi Germany. Continuities, Reorientations, and Collaborations in Exile. Amsterdam 2016, 89–108. 22 Vgl. hierzu vor allem Rainer Eckert. Emigrationspublizistik und Judenverfolgung. Das Beispiel Tschechoslowakei. Frankfurt/M. 2000, sowie die exemplarische Untersuchung in Swen Steinberg. »Dokumentierende Emigration. Die Berichte der sozialdemokratischen Exil-Zeitung ›Neuer Vorwärts‹ über die Deportation polnischer Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich im Oktober 1938«. Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 10 (2016), 19, http://www. medaon.de/pdf/medaon_19_Steinberg.pdf [24.6.2020]. 23 Im Juni 1933 wurden für den ›Auslandsmarkt‹ des Exils 13.500 Stück hergestellt, hinzu kamen 14.000 Stück auf verkleinertem Dünndruckpapier für den Widerstand im Deutschen Reich. Im Oktober 1933 wurde der NV von der Sozialistischen Aktion abgelöst, der nunmehr nur noch im Ausland vertrieben werden sollte. Der NV spielte aber auch weiterhin in der Grenzarbeit eine Rolle. Vgl. Buchholz/Rother, Parteivorstand, XXXVII; Swen Steinberg. »Grenz-Netzwerke, Grenz-Arbeit, Grenz-Exil: Der deutsch-tschechoslowakische Grenzraum als politischer Ort, 1920–1938«.  Hermann Gätje, Sikander Singh (Hgg.). Grenze als Erfahrung und Diskurs. Tübingen 2018, 175–192. 24 Vgl. »Zuchthaus für ›Vorwärts‹-Verbreitung! Massenprozesse vor dem Dresdner Sondergericht«. NV, 40, 18.03.1934. 25 Vgl. Steinberg, Herschowitz, 120–122. 26 Bundesarchiv Berlin [im Folgenden BArch], R58, 2255, 140.

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Dresden geflüchtete sozialdemokratische Lokalredakteur Edgar Hahnewald etwa reflektierte im Januar 1936 in einer NV-Kurzgeschichte nicht nur seine Erfahrungen als »Granatenkutscher« im Ersten Weltkrieg, sondern führte dies mit dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten eng – die an die tschechoslowakischdeutsche Grenze gebrachten Drucksachen waren für ihn »Munition an die Front!«27 Umgekehrt kamen auf dem Wege über Kuriere und Besucher zahlreiche der in der Exil-Wochenzeitung wiedergegebenen und kommentierten Informationen und Nachrichten aus dem nationalsozialistischen Deutschland;28 diese Austauschprozesse finden sich auch in anderen Grenzgebieten etwa nach Dänemark, Frankreich oder den Niederlanden.29 Aufgrund dieser Aktivitäten richtete sich der NV drittens an die Öffentlichkeit des Auslands: Die Artikel des NV zwischen 1933 und 1940 warnten vor Faschismus und Autoritarismus nicht allein im Deutschen Reich, sondern vor allem vor der deutschen Aggression und einem möglichen Krieg. Gezielt unterstützt wurde diese Breitenwirkung durch die ab 1934 ebenfalls in Karlsbad und später bzw. bis April 1940 in Paris monatlich veröffentlichten und teils mehr als 130seitigen Deutschlandberichte der Sopade, die Nachrichten aus dem Deutschen Reich sowie die deutsche Innen- und Außenpolitik oder Reaktionen hierauf dokumentierten.30 Dabei war der NV zudem ab 1934, eindeutig jedoch spätestens ab Anfang 1937, ein wichtiges antikommunistisches Sprachrohr der politischen Emigration,31 dessen Redakteure im August 1939 mit dem deutsch27 Der Artikel »Klio macht sich lustig« findet sich nachgedruckt in Steinberg, Herschowitz, 362–367. Vgl. zu Hahnewalds Weltkriegsreflektionen im Exil auch Swen Steinberg. »Menschliches im Massensterben. Die Erzählbände des sozialdemokratischen Schriftsteller-Journalisten Edgar Hahnewald und die andere Fronterfahrung im Osten«. Frank Jacob, Riccardo Altieri (Hgg.). Krieg und Frieden im Spiegel des Sozialismus 1914–1918. Berlin 2018, 81–110, hier: 109–110. 28 Vgl. Steinberg, »Grenz-Netzwerke«. 29 Vgl. Walter Nachtmann. »Erwin Schoettle: Grenzsekretär der Sozialdemokraten in Württemberg«. Michael Bosch, Wolfgang Niess (Hgg.). Der Widerstand im deutschen Südwesten 1933–1945. Stuttgart 1984, 152–161; Günther Braun. »Georg Reinbold: Grenzsekretär der Sozialdemokraten in Rheinland und Pfalz«. Ebd., 163–171; Ralf Deppe. »Sozialdemokratisches Exil in Dänemark und der innerdeutsche Widerstand: Das Grenzsekretariat Kopenhagen der Sopade – Unterstützung der Widerstandsarbeit in Deutschland«. Hans Uwe Petersen (Hg.). Hitlerflüchtlinge im Norden: Asyl und politisches Exil 1933–1945. Kiel 1991, 207–214; Ludwig Eiber. »Richard Hansen, das Grenzsekretariat der Sopade in Kopenhagen und die Verbindungen nach Hamburg 1933–1939. Ein Fallbeispiel über die Infiltration eines skandinavischen Exilmilieus durch die Gestapo«. Einhart Lorenz u.a. (Hgg.). Ein sehr trübes Kapitel? Hitlerflüchtlinge im nordeuropäischen Exil 1933 bis 1950. Hamburg 1998, 181–193. 30 Vgl. Klaus Behnken (Hg.).  Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934–1940. 7 Bde. Frankfurt/M. 1980. 31 Vgl. zu den entsprechenden Phasen Buchholz/Rother, Parteivorstand, XLV–XLVII, sowie exemplarisch F. St. [Friedrich Stampfer]. »Volksfront im Wandel der Zeiten. Revolution und Koalition«. NV, 312, 11.06.1939; ders. »Siemens-Schuckert – Hitler-Göring. Thomas Mann und die Kommunisten«. NV, 315, 25.06.1939; Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »Stalins Verantwortung. Der Gang der englisch-russischen Verhandlungen«. NV, 317, 16.07.1939.

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sowjetischen Nichtangriffspakt zwischen »Pg. Stalin und Towaritsch Hitler« Bestätigung für ihre über Jahre teils unnachgiebig vertretene Linie erhielten:32 Am 3.  September 1939 prangerte der NV »Die Schande der KPD« an – »Sie machen die Einheitsfront – aber mit Hitler.«33 Diese rechtssozialdemokratische Position war fraglos eines der zentralen Kennzeichen der Wochenzeitung in der ›Landschaft‹ des deutschen politischen Exils. Wesentliche Basis dieser Form des Widerstands gegen den Nationalsozialismus im Ausland blieben dabei bis zuletzt die erwähnten Austauschprozesse vor allem in den Grenzräumen des Deutschen Reichs bis hin zum Abdruck von ›authentischen Reiseberichten‹, Zusendungen oder Zeitungsmeldungen aus Deutschland und später aus besetzten Ländern wie der Tschechoslowakei:34 Exil-Periodika wie der NV stehen hier auch für bislang nicht im Detail untersuchte Prozesse der klandestinen Wissenszirkulation, die eng mit Migration und widerständigem Handeln bzw. zumindest ›abweichendem‹ Verhalten verbunden waren – und die bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Mitteleuropa eine eigene Wirkung entfalteten.35 Im November 1937 hatte Joseph Goebbels durch den deutschen Gesandten in Prag »eine Liste mit den Titeln der Emigrantenblätter und -korrespondenzen« an Edvard Beneš übergeben lassen, »deren Verbot das Deutsche Reich vordringlich wünschte«. Darunter fanden sich Die neue Weltbühne, ebenso aber auch der NV und die Deutschlandberichte der Sopade.36 Diese Entwicklung gipfelte im Dezember 1937 in einem »Pressefrieden« zwischen den beiden Ländern, der das Erscheinen der deutschen Exilpresse in der Tschechoslowakei innerhalb kurzer Zeit nahezu unmöglich machte:37 Der NV durfte zuerst »in den offenen Zeitungsständen nicht 32 Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »Der Kurs der russischen Aussenpolitik. Pg. Stalin und Towaritsch Hitler«. NV, 324, 03.09.1939. Vgl. zudem »Der Hitler-Stalin-Pakt. Völliger Umsturz der internationalen Situation«. NV, 323, 27.08.1939; B. Br. [Robert Grötzsch]. »Der Todfeind. Ein Schlager der Nazi-Presse«. NV, 324, 03.09.1939; »Zum Hitler-Stalin-Pakt. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und der deutsch-russische Nichtangriffspakt«. NV, 325, 10.09.1939. 33 »Die Schande der KPD. Sie machen die Einheitsfront – aber mit Hitler«. NV, 324, 03.09.1939. 34 Vgl. exemplarisch »Ein Maler berichtet. Aus Strassburg wird uns geschrieben«. NV, 290, 08.01.1939; »Gespräche in deutschen Betrieben«. Ebd.; »Im annektierten Prag. Ein Tatsachenbericht«. NV, 303, 09.04.1939; »Der Selbstmörder. Eine Geschichte aus Deutschland«. NV, 306, 30.04.1939; Paul Westheim. »Die Kunstvernichtung. Ein Bericht aus Deutschland«. NV, 308, 14.05.1939; »Stimme aus Deutschland«. NV, 317, 16.07.1939; »Die neue Generation. Wie sieht es in der deutschen Jugend aus?« NV, 319, 30.07.1939; »Der Zustand im Protektorat. Tatsachen aus der annektierten Tschechoslovakei«. Ebd. 35 Vgl. Simone Lässig, Swen Steinberg. »Knowledge on the Move. New Approaches toward a History of Migrant Knowledge«. Geschichte und Gesellschaft 43 (2017) 3: Themenheft Knowledge and ­Migration, 313–346. 36 Angela Hermann. Der Weg in den Krieg. Quellenkritische Studien zu den Tagebüchern von Joseph Goebbels. München 2011, 145. Vgl. zur Pressekampagne der nationalsozialistischen Propaganda gegen die Tschechoslowakei 1937/38 ebd., 137–165. 37 Vgl. Herbert E. Tutas. Nationalsozialismus und Exil. Die Politik des Dritten Reiches gegenüber der deutschen politischen Emigration (1933–1939). München 1975, 37.

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mehr verkauft werden«;38 zwischen Ende November 1937 und Sommer 1939 war er immerhin noch in mehr als 20 Staaten Mitteleuropas sowie in Palästina, Argentinien, Brasilien und den USA erhältlich.39 Seine Auflage aber ging beständig zurück: 1934 lag sie noch bei 14.000 Stück, Anfang 1935 nur noch bei 9.300.40 Ende Dezember 1937 erschien dann mit Nr. 238 die letzte Ausgabe in Karlsbad, am 17. Januar 1938 kam mit einer zweiwöchigen Unterbrechung die erste weiterhin achtseitige Ausgabe in Paris an den Markt, die nun auch einen ganzseitigen Anzeigenteil enthielt.41 Im Mai 1938 verlegte der Vorstand der Sopade dann seinen Sitz in die Hauptstadt an der Seine – Brüssel war ebenso als Option diskutiert worden –, von wo nun auch der NV redaktionell und im Vertrieb organisiert wurde.42 Letzterer ging allerdings infolge der teils erheblichen logistischen Probleme des Umzugs nach Paris wie auch der immer restriktiveren Politik in vielen Ländern Europas immer weiter zurück,43 im Januar 1939 erfolgte beispielsweise das gänzliche Erscheinungsverbot des NV in der Tschechoslowakei.44 Zu diesem Zeitpunkt erreichte der NV nur noch eine Auflage von 3.500 Stück wöchentlich.45 Der Titel der Wochenzeitung war dabei seit Januar 1938 französisch mit »En Avant! Hebdomadaire en langue allemande« untertitelt. Ab der Ausgabe vom 3.  September 1939 trug sie den Zusatz »Journal Antihitlériene« (Abb. 1), vom 10. September 1939 bis zur letzten Nummer 358 am 12. Mai 1940 war der NV in Paris mit »Journal Antihitleriene. Journal social-démocrate destiné aux réfugiés de langue allemande« überschrieben. Mit dem Ausbruch des Krieges änderte sich auch das Format, der NV erschien ab Mitte September 1939 nur noch vierseitig sowie ohne den Anzeigenteil und die »Beilage«, auch fielen schon im Sommer 1939 – wohl aus Platzgründen – die Karikaturen weg.46 So die NV-Artikel namentlich, mit Kürzeln oder Pseudonymen gekennzeichnet waren – bei viele Beiträgen war dies nicht der Fall, von den 1939/40 im NV 38 »Schluss in Prag«. 39 Vgl. »Impressum«. NV, 233, 28.11.1937; »Bezugbedingungen«. NV, 312, 11.06.1939. 40 Vgl. Buchholz/Rother, Parteivorstand, XXXVII. 41 Vgl. »Wie reden weiter. Der ›Neue Vorwärts‹ in Paris«. NV, 239, 17.01.1938. 42 Vgl. Steinberg, Herschowitz, 127–128; Archiv der Sozialen Demokratie [im Folgenden AdSD], Sopade, Mappe 52, Schreiben Fritz Heines an Curt Geyer vom 27.01.1938. Verantwortlicher Redakteur des NV war – vermutlich aus arbeits- oder publikationsrechtlichen Gründen – seit Januar 1938 Maurice Croquet, selbst Redakteur der Section française de l’Internationale ouvrière. Er wurde mit der Ausgabe vom 24. September 1939 von Albert Marion abgelöst (bis Mai 1940). Vgl. Liselotte Maas. Handbuch der deutschen Exilpresse 1933–1945. Bd. 1. München 1976, 421. 43 Vgl. Buchholz/Rother, Parteivorstand, XXXVII, sowie die Korrespondenzen in AdSD, Sopade, Mappe 52. 44 »Schluss in Prag«. 45 Vgl. Buchholz/Rother, Parteivorstand, XXXVII. 46 Die feuilletonische »Beilage« des NV war allerdings nie ›strikt‹ vom Hauptteil getrennt – hier erschienen ebenso politische Artikel, wie sich im Hauptteil Glossen oder Reaktionen auf Bücher oder Presseveröffentlichungen finden konnten.

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Abb. 1: Titelseite des Neuen Vorwärts vom 10. September 1939 ( Historische Presse der deutschen Sozialdemokratie online, Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung).

abgedruckten Gedichten war beispielsweise kein einziges namentlich gezeichnet –, stammten sie in der Pariser Zeit vor allem vom Wirtschaftstheoretiker und einstigen Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding, dem einstigen Vorwärts-Redakteur Curt Geyer und dem vormaligen Herausgeber des Vorwärts Friedrich Stampfer

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sowie dem einstigen Chefredakteur der Dresdner Volkszeitung Robert Grötzsch, die gewissermaßen hauptamtlich und natürlich nicht frei von internen Disputen um die politische Ausrichtung bis April 1940 für nahezu jede Nummer schrieben.47 Hinzu kamen – neben dem im September 1939 in Paris verstorbenen SopadeVorsitzenden Otto Wels oder seinem Nachfolger Hans Vogel – nicht-ständige bzw. teils nachgedruckte Autoren wie Julius Bab, Paul Westheim, Karl Richard Kern, Viktor Schiff, Siegfried Aufhäuser, Kurt Doberer, Bruno Altmann, Oda Olberg oder Otto Krille. Zwischen dem Ausbruch des Krieges im September 1939 und der Einstellung des NV im April 1940 waren es aber vor allem Hilferding, Geyer, Stampfer und Grötzsch, die »als die Stimme der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands«48 auftraten bzw. im NV schrieben – auch wenn sie sich teils hinter Pseudonymen oder Kürzeln verbergen mussten. Und vor allem Geyer, Stampfer wie auch Grötzsch waren maßgebliche Gegner einer Zusammenarbeit mit den Kommunisten, bei letzterem lässt sich diese rechtssozialdemokratische Positionierung bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückverfolgen.49

Positionierung rechts der Mitte Der mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 in den Titel des NV aufgenommene Anspruch, ein deutschsprachiges Organ der sozialdemokratischen Flüchtlinge zu sein, schlug sich nicht allein in der Berichterstattung vor und nach dem Ausbruch des Krieges im September 1939 nieder: Immer wieder thematisierte der NV in Paris etwa die Flucht aus dem Deutschen Reich sowie 47 Vgl. exemplarisch den »heftigen Disput« um einen Artikel Friedrich Stampfers, der Fritz Heine »kreuzzuwider« war: AdSD, Sopade, Mappe 52, Schreiben Fritz Heines an Curt Geyer vom 16.02.1938, sowie zu Frage der »Hauptamtlichen« und damit von der Exilpartei finanzierten Personen ebd., Schreiben Fritz Heines an Curt Geyer vom 01.03.1938. Vgl. zudem zu den im Text Genannten vor allem Jörg Thunecke. »Friedrich Stampfers Rolle in der Exil-Debatte um das ›andere Deutschland‹ während der 1940er-Jahre«. Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 15 (2014), 47–71; David E. Barclay. »Rethinking Social Democracy, the State, and Europe: Rudolf Hilferding in Exile, 1933 to 1941«. Ders., Eric D. Weitz (Hgg.). Between Reform and Revolution: German Socialism and Communism from 1840 to 1990. New York/Oxford 1998, 373–395; Swen Steinberg. »Tormann Bobby. Biografie, Netzwerke und Identität in Robert Grötzschs Exil-Arbeiterjugend- und -sportroman von 1938«. Jörg Thunecke, Susanne Blumesberger (Hgg.). Kinder- und Jugendliteratur im Exil. Frankfurt/M. 2017, 231–275; Mike Schmeitzner. »Proletarische Diktatur oder freiheitliche Demokratie? Die Wandlungen des Curt Geyer«. Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (2008), 285–295; Rainer Behring. »Option für den Westen: Rudolf Hilferding, Curt Geyer und der antitotalitäre Konsens. Mike Schmeitzner (Hg.). Totalitarismuskritik von links. Göttingen 2007, 135–160. 48 »An der Schwelle des Krieges«. 49 Vgl. Steinberg, »Biografie«, 235–238; ders., Herschowitz, 20–22.

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seit 1938 und infolge der deutschen Agression auch aus Österreich, Nordböhmen und der Tschechoslowakei, berichtete über den prekären Status der Flüchtlinge50 und eröffnete alternative Fluchthorizonte, die ab 1939 zunehmend jenseits der europäischen Hemisphäre und im globalen Süden lagen.51 Darüber hinaus war der NV aber vor allem in seinen feuilletonistischen und literarischen Beiträgen ein Ort, an dem geflüchtete sozialdemokratische Journalisten und Schriftsteller wie Robert Grötzsch oder die ebenfalls aus Sachsen geflüchtete Irene Herzfeld in Kurzprosa, Glossen oder Gedichten Flucht, Transit, Heimatlosigkeit und Identität verhandelten.52 Hinzu kam die Auseinandersetzung mit Literatur im weitesten Sinne, brachte der NV doch vor wie nach dem September 1939 auch Besprechungen und Kommentare über Neuerscheinungen oder Autoren – aus den Ländern des Exils und hier etwa mit Joseph Roth, René Schickele oder Franz Werfel.53 Ebenso aber auch – »Was lesen die Deutschen?«54 – mit der Publizistik im Deutschen Reich, auch mit dort veröffentlichten oder aufgeführten bzw. als »ewige Wahrheiten« zensierten Theaterstücken.55 Am 3. September 1939 etwa schrieb Robert Grötzsch eine »Warnung an die Dichter« in Deutschland, die immer

50 Vgl. Oda Olberg. »Rechte und Pflichten der Emigration. Zum Verbot politischer Betätigung im Gastlande«. NV, 299, 12.03.1939. 51 Vgl. die Serie »Nach Übersee. Die sozialdemokratische Flüchtlingshilfe informiert«, die begonnen wurde in NV, 294, 05.02.1939. Vgl. zur Perspektive der Flucht jenseits der nordwestlichen Hemisphäre Swen Steinberg, Anthony Grenville. »Forgotten Destinations? Refugees from Nazi-Occupied Europe in British Colonies, Dominions and Overseas Territories«. Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 20 (2019), Themenheft »Refugees from Nazi-Occupied Europe in British Overseas Territories«, 1–20. 52 Vgl. exemplarisch Mucki [Irene Herzfeld]. »Homer zeitgemäß«. NV, 294, 05.02.1939; Br. Brandy [Robert Grötzsch]. »Heimweh«. NV, 295, 12.22.1939; ders. »Lied im Schnee. Erinnerung an Prag«. NV, 301, 26.03.1939; Robert Groetzsch. »Nordböhmen 1938. Den unbekannten Soldaten der Freiheit, Teil 1«. NV, 321, 13.08.1939, »Schluss«. NV, 322, 20.08.1939. Irene Herzfeld wurde in Chemnitz geboren und absolvierte eine Ausbildung zur Sozialpflegerin, in diesem Beruf arbeitete sie bis 1933. Seit 1925 schrieb sie allerdings auch Artikel für die Dresdner Volkszeitung und andere sozialdemokratische Organe, von hier kannte sie Robert Grötzsch. Im Mai 1933 flüchtete sie nach Prag und schrieb unter Pseudonymen Artikel und Gedichte für den Neuen Vorwärts und die Deutsche Freiheit in Saarbrücken. 1938 ging sie mit dem NV nach Paris und wurde im Mai 1940 mit Hedwig und Robert Grötzsch in Gurs interniert. Nach Entlassung und kurzer Rückkehr nach Paris gelang ihr via Spanien die Flucht nach Portugal. Im Juli 1941 gelangte sie auf Vermittlung der Labour Party nach London, wo sie die Mitarbeiterin und schließlich auch die Lebensgefährtin von Curt Geyer wurde. Vgl. Werner Röder, Herbert A. Strauss (Hgg.). Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. München 1980, 290–291. 53 Vgl. exemplarisch C.G. [Curt Geyer]. »Joseph Roth«. NV, 311, 04.06.1939; Julius Bab. »Gedichte aus 30 Jahren. Franz Werfels lyrisches Werk«. Ebd.; R.G. [Robert Grötzsch]. »Die gläubige Köchin [über Franz Werfels Roman Der veruntreute Himmel]«. NV, 344, 21.01.1940; rg. [ders.]. »René Schickele gestorben«. NV, 347, 11.02.1940. 54 »Was lesen die Deutschen«. NV, 332, 23.10.1939. 55 »Ewige Wahrheiten. Die rote Kommission«. NV, 333, 05.11.1939. Vgl. auch »Theater im Kriege. Brief aus Deutschland«. NV, 344, 21.01.1940; »Seperatistendrama«. NV, 355, 21.04.1940.

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wieder mit den »grotesken, amoralischen Schwenkungen und Widersprüche[n] der Nazipolitik« Schritt zu halten hatten: »fixer noch als ihre geschmierten Federn war die Weltgeschichte – der braune Dichter kommt hinter dem Parolenwechsel nicht mehr drein.«56 Und im Verlauf des Spätherbstes 1939 finden sich im NV auch Reflektionen darüber, was deutsche Soldaten als privaten Lesestoff mit an die Front nehmen – »Bücher, die möglichst weit von der deutschen Gegenwart hinwegführen« – und über »rollende Feldbüchereien«, die als »Buch-Falle« zur »Entdeckung subversiver Elemente dienen sollen.«57 Der Ausbruch des Krieges selbst mochte für die wenigen verbliebenen hauptwie auch die neben- oder ehrenamtlichen Redakteure und Beiträger des NV kaum überraschend gekommen sein, begleitete die Wochenzeitung doch auch nach dem Umzug nach Paris weiterhin kritisch die deutsche Aufrüstung und Außenpolitik: mit politischen Analysen,58 ebenso aber auch mit Reflektionen nationalsozialistischer Publikationen, nicht selten in Form von Glossen und mit Bezügen zum Ersten Weltkrieg und hier etwa zum »Gaskrieg«.59 Diese ›Prophezeihungen‹ des heraufziehenden Krieges mehrten sich Anfang Sommer 1939: Als der NV beispielsweise Ende Mai 1939 den Selbstmord Ernst Tollers in New York meldete – eines Menschen, den seine »Kriegserfahrung« auf den »Weg des humanitären Idealismus« geführt hatte –, ahnte die Redaktion, »was ihn zerbrochen hat – das 56 Zitiert nach rg [Robert Grötzsch]. »Die unerwarteten Wendungen. Warnung an die Dichter«. NV, 324, 03.09.1939. Vgl. hierzu auch »Ueberfahrene Dichter«. NV, 332, 29.10.1939. 57 »Von deutschen Büchern«. NV, 335, 19.11.1939. 58 Vgl. exemplarisch »Die entscheidende Phase. Hitler verkündet das deutsch-italienische Militärbündnis«. NV, 294, 05.02.1939; »Um das rumänische Öl. Zusammenschlusstendenzen im Südosten«. Ebd.; Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »Grenzen der Rüstung. Der Arbeitermangel in Deutschland«. NV, 297, 26.02.1939; ders. »Im Rüstungswettlauf. Die deutschen Finanzschwierigkeiten«. NV, 298, 05.03.1939; ders. »Deutsche Drohreden. Göring über die deutsche Luftrüstung«. NV, 299, 12.03.1939; C.G. [Curt Geyer]. »Dem Weltkrieg entgegen. Das Verbrechen des Hitlersystems an der Tschechoslovakei«. NV, 301, 26.03.1939; Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »Auf dem Höhepunkt der Gefahr. Die Entwicklung der internationalen Konstellation«. NV, 304, 16.04.1939; C.G. [Curt Geyer]. »Dokument der Kriegsschuld. Neue Drohungen, neue Erpressungen, neue Vertragsbrüche«. NV, 307, 07.05.1939; Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »Der Pakt der Angreifer. Hitlers und Mussolinis Bündnis bindet nicht die Völker«. NV, 310, 28.05.1939; »Hitler besetzt Italien. Die Vorbereitung des neuen Weltkriegs«. NV, 311, 04.06.1939; Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »An der Schwelle des Krieges. Tag höchster Spannung – Kriegsausbruch um Danzig?« NV, 316, 09.07.1939; »Armee im Wasser. Deutsche Angriffspläne gegen Holland«. NV, 317, 16.07.1939; Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »Der unersättliche Moloch. Wehrwirtschaft als Ursache des Rohstoffmangels«. NV, 318, 23.07.1939; F. St. [Friedrich Stampfer]. »Noch kann der Krieg verhindert werden. Gewinnt das deutsche Volk für den Frieden!« NV, 321, 13.08.1939; »Hitlers Kriegsparole. Sein Angriffskrieg soll in Volksverteidigung umgelogen werden«. Ebd.; Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »In der Periode der Vorbereitung. Mobilmachung der Heere und Bündnisse«. Ebd. 59 Vgl. exemplarisch B. Br. [Robert Grötzsch]. »Der sterbende Humor. Befreiendes Lachen – Nach dem Gaskrieg«. NV, 299, 12.03.1939; ders. »Richter und Räuber. Eine Skizze aus dem deutschen Alltag von heute«. NV, 300, 19.03.1939; »Gaskrieg mit Gesang und Tanz«. NV, 301, 26.03.1939.

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Herannahen des neuen Weltkrieges.«60 Kurz darauf jährte sich die Julikrise von 1914 zum 25. Mal, die Ermordung des österreichischen Thronfolgers habe seinerzeit das »neue Blutzeitalter« eingeläutet. »Es wird,« so der mutmaßliche Autor Robert Grötzsch, »nicht enden, solange Hitler und seine Trabanten an der Macht sind.«61 Friedrich Stampfer gedachte in der Ausgabe vom 9. Juli 1939 des 20. Jahrestages des Friedens von Versailles, machte den Lesern aber wenig Illusionen: Der »Nazismus« habe aus Deutschland einen »Lügensumpf« gemacht – »und aus ihm wächst neuer Krieg und neue Niederlage.« Hitler habe das Land in eine Situation »hineinmanövriert, in der kein anderer Weg mehr sichtbar ist als der in einen völlig aussichtslosen Krieg, in den dümmsten, den verbrecherischsten, den grauenhaftesten aller Kriege: den Hit lerk r ieg!«62 Und wenige Wochen später war es wohl Otto Friedländer, der an die Ermordung von Jean Jaurès am 31. Juli 1914 in Paris sowie an dessen 80. Geburtstag erinnerte, den der Pazifist am 3. September 1939 begangen hätte: »Wird die Welt sich dieses Tages erinnern? Wird sie ihn in dem Frieden begehen, für dessen Gedanken er lebte und starb?«63 Ausdruck des im Spätsommer 1939 erkennbaren Bewusstseins, »an der Schwelle« zu einem neuen tragischen Kapitel zu stehen, bilden auch zwei Kurzgeschichten von Robert Grötzsch: Am 13. und 20. August 1939 brachte der NV die zweiteilige Erzählung »Nordböhmen. Den unbekannten Soldaten der Freiheit«,64 die die politischen Auseinandersetzungen wie auch das Erstarken der Nationalsozialisten noch vor der deutschen Besetzung des sogenannten Sudetenlandes im Oktober 1938 schilderte. Die Geschichte prangerte dabei nicht nur aus einer lokalen Perspektive das Versagen von stadtbürgerlichen Eliten und von Institutionen wie den Schulen oder der Kirche an, sondern auch die »Schande« der nationalsozialistischen Organisationen der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei, »Kinder für Krieg und Barberei zu begeistern«.65 Am 10. September 1939 und damit in der ersten Nummer des NV, die nach dem deutschen Angriff auf Polen entstanden war, erschien mit »Zwei am Wegrand« eine Kurzgeschichte Grötzschs, die die Erfahrung der Flucht über die ›grüne Grenze‹ mit der aktuellen weltpolitischen

60 »Ernst Toller«. NV, 310, 28.05.1939. 61 »Das Blutzeitalter. Ein Vierteljahrhundert nach Sarajewo – Der Weg des Mordes«. NV, 315, 25.06.1939. Der Artikel stammte mit großer Wahrscheinlichkeit von Robert Grötzsch, wurde darin doch auch auf einen 1932 begangenen Fememord an einem Dresdner SA-Mann Bezug genommen, an dessen Aufdeckung der einstige Chefredakteur der Dresdner Volkszeitung mitgewirkt hatte. Vgl. hierzu Steinberg, Herschowitz, 89–90. 62 F. St. [Friedrich Stampfer]. »Wahrheit und Lüge um Versailles. Nachträgliches zu einem Gedenktag«. NV, 316, 09.07.1939, Hervorhebung im Original. 63 O. F. [vermutlich Otto Friedländer]. »Der erste Tote des Weltkriegs. Zur Erinnerung an Jean Jaurès«. NV, 7, 30.07.1939. 64 Vgl. Robert Groetzsch, »Nordböhmen. Den unbekannten Soldaten der Freiheit, Teil 1«; »Schluss«. 65 Ebd., Teil 1.

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Lage zusammenführte: Ein deutscher Kommunist rettet sein Leben, hinter »ihm lag die Hölle, der er entflohen«. Die Gewalterfahrung dieses individuellen Schicksals wurde dabei der »freien Luft der Flucht« in der friedvollen Natur einer Waldlandschaft entgegengestellt, die allerdings sein inneres Zerwürfnis nicht auflösen konnte: »Hitler und Stalin, Hand in Hand ...«. Doch auch das Zusammentreffen mit einem Fremden, der dem geflüchteten Kommunisten dessen eigene Verblendung im Kampf gegen den Nationalsozialismus deutlich zu machen sucht, vermochte diesem keine Orientierung zu geben: »Jetzt dinieren sie miteinander, jetzt tafeln sie auf den Toten. [...] Du, he, kapiere doch, die Truppen stehen, der Generalstab aber geht in einer Kampfpause zum Feinde über!« Diese Begegnung der ›zwei am Wegrand der Geschichte‹ endete im gemeinsamen Fortgehen in jene ungewisse Zukunft, in der Grötzsch dieselbe verfasst hatte.66 Der Hitler-Stalin-Pakt und die von ihm abgeleitete Einordnung von »Hitlers Kriegskommunismus« als »braune[m] Bolschwismus« spielte auch in den folgenden Nummern des NV eine maßgebliche Rolle – in der Berichterstattung und politischen Kommentierung,67 ebenso aber auch im Feuilleton. Ende September 1939 erschien etwa die ebenfalls von Robert Grötzsch verfasste Satire »Der Hinkende und der Novize«, in der Ersterer dem Zweiteren die neue außenpolitische Position des Deutschen Reiches erklärte: Wo es bisher Bolschewismus hiess, ist jetzt immer internationaler Kapitalismus zu setzen. [...] Was ist Bolschewismus? Wir vernichten ihn am besten, indem wir ihn ignorieren. Wir sind autark. Alles, was er hat, haben wir auch. GPU – wir auch. Füsiladen, Abwürgung der alten Kämpfer – wir auch. Weltrevolution – wir auch. Nitschewo – wir auch. Freiheit – wir auch nicht. Sozialismus – wir auch nicht. Ich sehe einstweilen keine Dissonanzen – ausser der Ukraine, der Ostsee, dem Baltikum, dem Weg nach Asien. Davon später.68

Prophezeite Grötzsch hier also bereits, dass der Angriff auf Polen nur der Beginn der deutschen Aggression mit dem Ziel umfassender Eroberungen im Osten sei, so schloss eine Warnung des Hinkenden an den Novizen zugleich an seine weiter oben zitierte »Warnung an die Dichter« an:

66 Robert Grötzsch. »Zwei am Wegrand«. NV, 325, 10.09.1939. 67 Vgl. G.A.F. »Hitlers Kriegskommunismus. Der braune Bolschewismus«. NV, 327, 24.09.1939; Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »Die Krönung des Verrats. Stalin als militärischer Bundesgenosse Hitlers«. Ebd.; C.G. [Curt Geyer]. »Soll Deutschland bolschewistisch werden?« NV, 333, 05.11.1939. 68 Br. [Robert Grötzsch]. »Der Hinkende und der Novize«. NV, 327, 24.09.1939.

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Bolschewismus eine jüdische Erfindung? Frag nicht mehr, als die Gestapo erlaubt. Wer oft fragt, kommt oft nach Dachau. [...] Setze Dich aufs Motorrad, mein Sohn, damit Du hinter der Entwicklung dreinkommst.69

Diese vor allem der volksfrontkritischen Position des NV entsprechende Diktion fand sich fortan immer wieder im Feuilleton und in der Regel aus der Feder von Robert Grötzsch – etwa in »Rotbart. Alte Sage neu ausgerichtet« Anfang Oktober 1939, in der Friedrich Barbarossa zur Fortsetzung seines Bergschlafs aufgefordert wird, weil »Gott uns einen Führer gesandt [hat], der uns erneuern und der den Bolschewismus töten wird.« Als der einstige deutsche Kaiser abermals erwacht und seinen Pagen nach den aktuellen Entwicklungen fragt und ob der Bolschewismus »getötet sei«, entspann sich folgender Dialog: »Vorläufig hat er sich mit ihm erstmal verbündet. Unsere waren in Moskau  ...« – Rotbart: »In Mos – Moskau? Kommen die Russen dafür nach Berlin?« – Page: »Ja, vielleicht auch nach Berlin, vielleicht mehr als uns lieb sind.«70

Und mehr noch, der Page muss den vormaligen Kaiser schließlich auch über dessen Überflüssigkeit unterrichten und ihm das Exil als Option vorschlagen: Wir haben für Nibelungentreue, Andreas Hofer-Romantik, KyffhäuserVerheissungen etcetera keine rechte Verwendung mehr, es sei denn im Schullesebuch. Für die Erwachsenen sind alle Rettersagen bis auf weiteres erfüllt. Proteste der Sagenhelden sind staatsfeindlich. Stirb oder emigriere, alter Herr ...71

Die ersten literarischen Reaktionen im NV auf den Krieg bezogen sich folglich nur indirekt auf denselben und fokussierten deutlich mehr die außenpolitischen Rahmenbedingungen, die aus der Perspektive politischer Flüchtlinge auch die möglichen Koalitionen zur Überwindung von Nationalsozialismus und Faschismus determinierten. Wobei sich die Redakteure und Beiträger des NV, wie bereits erwähnt, ohnehin in Entwicklungen wie dem Hitler-Stalin-Pakt eher noch bestätigt fanden. Die damit verbundene Kritik, gewissermaßen nicht mit den Feinden der Demokratie gegen die Feinde der Demokratie zusammenzuarbeiten, traf dann vor allem auch Literaten und andere Künstler, wichen diese von der im NV absolut ver-

69 Ebd. 70 Vgl. R.G. [Robert Grötzsch]. »Rotbart. Alte Sage neu ausgerichtet«. NV, 329, 08.10.1939. 71 Ebd.

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tretenen, rechtssozialdemokratischen Position einer Verweigerung den Kommunisten gegenüber ab. Schon im März 1939 begab sich Robert Grötzsch mit seiner Kritik an einer solchen Volksfront gewissermaßen auf seine ›alte politische Linie‹ der Weimarer Republik zurück und warf vor allem Heinrich Mann eine »Humanisierung der Stalinschen Despotie« vor: In seinem Buch Mut wolle dieser »den blutigen Stalinismus ungefähr so auf demokratisch retuschieren […], wie das die braunen Klopffechter mit dem Hitlerismus versuchen.« Das Ziel der »Sozialisten« bestehe aber in einer »wahrhaften sozialistisch-demokratischen Einheitsfront der deutschen Opposition« ohne die Kommunisten, die allerdings »durch den blossen Missbrauch schwarzrotgoldener Phrasen […] nicht zu schaffen« sei.72 Noch bissiger reagierte der NV aber nach dem deutschen Überfall auf Polen auf solche Positionen: Mitte September 1939 hatte die New Yorker Volks-Zeitung beispielsweise »eine Rundfrage an alle antifschistischen Schriftsteller veranstaltet«, ob sie »erstens den Hitler-Stalin-Pakt billigen, und zweitens mit welcher Begründung.« Als Klaus Mann hierauf erklärte, ein einfaches »Ja oder Nein« sei da nicht möglich und stelle eine »unaufrichtige Vereinfachung« dar, hielt der NV dies vierzehn Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen für eine »Selbsthinrichtung« und »feige Ausflucht«: Herr Klaus Mann wollte sich ganz offenkundig nicht seine Beziehungen zu Sowjetrussland und den Kommunisten verderben. Er streicht sich damit selbst aus der Reihe derer, die für sich in Anspruch nehmen können, für das bessere Deutschland und für die Sache der Freiheit zu kämpfen.73

Klaus wie auch Heinrich Mann waren auch weiterhin den Angriffen des NV ausgesetzt, die hier nicht zuletzt wegen ihrer ›bürgerlichen‹ Herkunft als »seltsame Sozialisten« galten. Robert Grötzsch bezeichnete Klaus Mann Ende Oktober 1939 in einem Artikel, der im Subtext ebenfalls dessen Onkel angriff, jedenfalls als »gelehrig-fingerfertigen Snob« – und machte damit den Gegensatz zum ›wahren‹ Widerstand der Arbeiterbewegung deutlich, die sich eben nicht wie die Manns auf das sowjetische Experiment einließ. Ihm galt es dagegen, jeder »schaurigen Rechts- und Menschenverhöhnung unserer Tage« eine deutliches »nein« entgegenzusetzen.74 Die hier geschilderten Auseinandersetzungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich der NV sehr wohl ab Anfang September 1939 in seiner regulären 72 R.G. [ders.]. »Für Freiheit und Volksfront. Heinrich Mann und Sowjetrussland«. NV, 299, 12.03.1939. Vgl. zur Rolle Heinrich Manns in der Volksfrontdebatte vor allem Dieter Schiller. Der Traum von Hitlers Sturz. Studien zur deutschen Exilliteratur. Frankfurt/M. 2010, 225–247. 73 »Nur kein Ja oder Nein: Eine feige Ausflucht«. NV, 331, 22.10.1939. 74 R.G. [Robert Grötzsch]. »Die Verwüstungen«. NV, 332, 29.10.1939.

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Berichterstattung mit dem Krieg selbst, den späteren und teils überaus gewaltsamen Folgen deutscher Besatzung, der Lage an der deutschen »Heimatfront« zwischen Mangel, Mehrbelastung und zunehmender Verfolgung oder den ersten Maßnahmen im Kontext der Lebensraum-Ideologie befasste – hier namentlich mit der Umsiedlung sogenannter Volksdeutscher.75 Und umgekehrt zählte für die deutschen geflüchteten Sozialdemokraten die »Befreiung des deutschen Volkes von Hitlerherrschaft und Hitlergeist« weiterhin zu den fundamentalen »Voraussetzungen des Friedens«, wie NV-Chefredakteur Curt Geyer in der ersten Januarausgabe 1940 deutlich machte.76 Die künstlerische Reaktion und Verarbeitung beschränkte sich dagegen bis Ende 1939 fast ausschließlich auf die Kritik am Hitler-Stalin-Pakt. »Fata Morgana« (Abb. 2) – eine der wenigen Karikaturen, die sich nach dem September 1939 überhaupt im NV finden – verdeutlicht diese thematisch weitgehend einseitige Ausrichtung: Gezeigt wird ein deutscher Soldat, der nach den Rohstoffen und Versorgungsgütern der Sowjetunion greift, die Stalin seinem eigenen Volk vorenthält. Und in dieser Diktion erschien der NV bis zuletzt, Curt Geyer etwa bezeichnete noch im NVLeitartikel vom 14. April 1940 die deutschen Kommunisten als die »Bundesgenossen Hitlers«, die »auf Befehl Stalins« dem »Hitlerfrieden« zugestimmt hätten.77 Die zuvor ausgeführte Schwerpunktsetzung spiegelte sich auch in den feuilletonistischen Beiträgen etwa Robert Grötzschs, der in seinen im Winter 1939 im NV gedruckten Kurzgeschichten und Satiren ebenfalls verstärkt die Verhältnisse im Deutschen Reich bzw. auf den »innerdeutschen Kriegsschauplatz« fokussierte:78 In der NV-Weihnachtsnummer etwa die »deutsche Kleinbürgerstube« in der Erzählung »Tannenbaum 1939«, an Sylvester die Sorgen und Nöte des deutschen Großbürgertums in »Der hungernde Millionär«;79 in der Ausgabe vom 17. Dezember 1939 erläuterte Grötzsch zudem in »Die Weißen von Kötzschenbroda«, welche 75 Vgl. exemplarisch neben vielen anderen Artikeln »Heim ins Reich. Die jugoslawische Minderheit will nicht«. NV, 340, 24.12.1939; »Kriegslöhne in Deutschland. Wenig Lohn, mehr Arbeit«. Ebd.; »Deutsche Weihnachtseinkäufe. Sorgen der deutschen Frauen«. Ebd.; »Volk in Lumpen«. Ebd.; »Die Hinrichtungswelle«. Ebd.; »Vernichtungsfeldzug gegen eine ganze Nation. Polen unter dem Terror der Sieger«. NV, 348, 18.02.1940. Auch wurde weiterhin im Sinne der Authentizität aus erster Hand und hier etwa über Reiseberichte oder Zusendungen berichtet. Vgl. exemplarisch »Deutsches Stimmungsbild in Briefen. Aus deutschen Originalbriefen«. NV, 341, 31.12.1939; »Bewusstseinswandel in Deutschland. Bericht eines neutralen Ausländers über eine Reise in Deutschland«. NV, 343, 14.01.1940; »Volk der Habenichtse. Brief aus Deutschland«. NV, 348, 18.02.1940; »Berlin im Kriege. Eindrücke und Beobachtungen eines Ausgewanderten«. NV, 349, 25.02.1940; »Innere Front. Ein Brief aus Deutschland«. NV, 358, 12.05.1940. 76 C.G. [Curt Geyer]. »Voraussetzungen des Friedens. Die Befreiung des deutschen Volkes von Hitlerherrschaft und Hitlergeist«. NV, 342, 07.01.1940. 77 C.G. [ders.]. »Die Bundesgenossen Hitlers. Die deutschen Kommunisten auf Befehl Stalins für den Hitlerfrieden«. NV, 354, 14.04.1940. 78 »Vom innerdeutschen Kriegsschauplatz«. NV, 341, 31.12.1939. 79 R.G. [Robert Grötzsch]. »Tannenbaum 1939«. NV, 340, 24.12.1939; R.G. [ders.]. »Der hungernde Millionär«. NV, 341, 31.12.1939.

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Abb. 2: Karikatur im Neuen Vorwärts, 338, 10.12.1939 (Historische Presse der deutschen Sozialdemokratie online, Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung).

Vorteile die Sachsen als »Juda-Ersatz« für die nationalsozialistischen Ideologie hätten.80 Ein ähnliches Bild ergeben dann auch die NV-Ausgaben im Frühjahr 1940, in denen sich vergleichbare Texte wie »Schwejks Geist« oder der Bezug auf andere Literaten findet – Ende März 1940 etwa ein Nachruf auf Selma Lagerlöf, Anfang April 1940 eine Würdigung Emile Zolas –,81 der Krieg selbst aber kaum 80 B. Br. [ders]. »Juda-Ersatz Oder die Weißen von Kötzschenbroda«. NV, 339, 17.12.1939. 81 Vgl. r.g. [ders]. »Schwejks Geist. NV, 352, 24.03.1940; R.G. [ders.]. »Die nordische Skaldin. Selma Lagerlöf gestorben«. Ebd.; »Künder der Wirklichkeit. Emile Zolas 100. Geburtstag«. NV, 353, 07.04.1940.

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noch eine Rolle in den feuilletonistischen Texten des NV spielte. Dies galt ebenso für die Auseinandersetzung mit Veröffentlichungen im Deutschen Reich. Robert Grötzsch schrieb Mitte April 1940 beispielsweise über das »verarmte braune Kriegsfeuilleton« – durch die fehlende »Kriegsstimmung« fehlten offenbar auch die »Kriegsgedichte«, die Nerven des deutschen Publikums seien ohnehin »seit Jahren von Kriegsgeschrei und Rüstungswahnsinn überspannt«.82 Dies änderte sich erst in den letzten Ausgaben des NV: Am 21. April 1940 erschien mit »Die Geiseln« von Robert Grötzsch eine Kurzgeschichte, die den beginnenden Völkermord in Polen zum Gegenstand hatte – ohne dass dies dem Autor bewusst gewesen sein dürfte.83 Und in der darauffolgenden Ausgabe markierte der deutsche Überfall auf Dänemark und Norwegen die Schlagzeile, der Krieg war nun als maßgebliches Thema in diese sozialdemokratische Exilpublikation zurückgekehrt.84 In der letzten Ausgabe des NV vom 12. Mai 1940 war es dann wieder Grötzsch, der in einer Kurzgeschichte Bezug auf diese aktuellen Entwicklungen nahm: Er schilderte einen blinden deutschen Invaliden aus dem letzten »grossen Krieg« – einer der »den Krieg verflucht und alle, die an die Gewalt glauben« –, dem die kriegsbedingte Verdunkelung seiner Stadt die »letzte Orientierung« nahm; sie »verschob die Geräusche, liess die Menschen unsicher hasten und greifen.« Am Verhalten während und nach einem Luftschutz-Probealarm erkannte er aber, dass seine sehenden Mitmenschen blinder waren als er selbst – und empfand Mitleid mit ihnen: Alle sind sie wie er, der Blinde. Ein Volk, seit Jahren in geistiger Verdunkelung gehalten! Unsicher geworden, findet es sich in seiner Umgebung nicht mehr zurecht, tappt im Dunklen, wird ängstlich, ergibt sich in jede Führung, ganz gleich wohin, und preist selbst den falschen Führer als Retter aus der Finsternis. Eines Tages wird es dastehen wie er, der Blinde: betrogen, beraubt und schreiend nach Licht, Licht, Helle ...85

Der im September 1939 vom Deutschen Reich begonnene Krieg wurde mit dem deutschen Angriff auf Frankreich und der kurz darauf folgenden Besetzung von Paris Mitte Juni 1940 auch in der französischen Hauptstadt Realität: Der Einstellung des NV im Mai 1940 folgten Flucht und Verfolgung der an ihm Beteiligten. Zwar hatte es in der Exilsozialdemokratie und im Kreis des NV längst Vorberei82 Br. Brandy [Robert Grötzsch]. »Poesie und Prosa. Das verarmte braune Kriegsfeuilleton«. NV, 354, 14.04.1940. 83 Vgl. B. Br. [ders]. »Die Geiseln«. NV, 355, 21.04.1940. 84 Vgl. Hans Vogel. »Gegen das Verbrechen. Zum deutschen Überfall auf Dänemark und Norwegen«. NV, 356, 28.04.1940. 85 R.G. [Robert Grötzsch]. »Der Blinde«. NV, 358, 12.05.1940.

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tungen gegeben, das Land zu verlassen: Friedrich Stampfer etwa, der 1933 den NV maßgeblich aufgebaut bzw. geleitet hatte und bis zuletzt unter dem Kürzel »F. St.« veröffentlichte,86 war bereits Anfang 1939 in die USA gereist, um zuerst Mittel zur Unterstützung der politischen Arbeit der deutschen geflüchteten Sozialdemokraten in Frankreich zu aquirieren.87 Später spielten diese Kontakte eine wichtige Rolle im »Emergency Rescue Committee«, die Stampfer etwa erfolgreich dafür nutzen konnte, um Robert Grötzsch und dessen Frau Hedwig aus Südfrankreich über die Pyrenäen nach Portugal und von hier Anfang 1941 in die USA zu bringen.88 Curt Geyer, der den NV seit 1938 leitete, gelang dagegen via Südfrankreich die Flucht nach Großbritannien, wohin sich auch ›unregelmässige‹ Autoren wie Kurt Doberer gerettet hatten.89 Grötzsch, der bis zuletzt pazifistische und gegen den Faschismus gerichtete Beiträge verfasste und im NV publizierte, ist dabei aber auch ein Beispiel dafür, wie der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die nationalsozialistische Verfolgung und schließlich auch der Holocaust miteinander verbunden waren. Denn die deutschen Verfolgungsbehörden hatten die Mitarbeiter des NV nie ›aus den Augen gelassen‹. Die Gestapo Dresden führte Grötzsch beispielsweise noch am 24. September 1938 – und damit unmittelbar vor der Besetzung des »Sudetenlandes«, als dieser mit der NV-Redaktion bereits in Paris war – in einer Liste von Personen, die »sich besonders im Kurierdienst und Hetzschriftenschmuggel über die deutsch-tschechoslowakische Grenze betätigt haben« und die deswegen gesucht wurden.90 Aus diesem Grund wurde Grötzsch im November 1939 von der Dresdner Gestapo in das »Deutsche Fahndungsbuch« aufgenommen, der Vorwurf lautete »Vorbereitung zum Hochverrat«. Nachdem man seiner in der Tschechoslowakei nicht habhaft werden konnte, wurde das »Einsatzkommando Paris« der Gestapo nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich mit seiner Ergreifung beauftragt.91 Während Grötzsch 1940 die weitere Flucht gelang, blieb dieses Glück andere NV-Autoren versagt: Sopade-Vorstandsmitglied Rudolf Hilferding, der als »Dr. Richard Kern« Verfasser von mehr als 300 NV-Artikeln war, schrieb noch in der letzten Ausgabe des NV am 12. Mai 1940 den Leitartikel.92 Zusammen mit 86 Vgl. seinen letzten gekennzeichneten Artikel F. St. [Friedrich Stampfer]. »Hitler befahl den Reichstagsbrand. Endgültige Feststellung durch Rauschning«. NV, 339, 17.12.1939. 87 Vgl. Joachim Radkau. Die deutsche Emigration in den USA. Ihr Einfluss auf die amerikanische Europapolitik 1933–1945. Düsseldorf 1971, 155. 88 Vgl. etwa »Brandstifter als Feuerwehr. Die Presse des Dritten Reiches hetzt gegen alle«. NV, 306, 30.04.1939. 89 Vgl. zu seinem Werdegang und Exilwerk Swen Steinberg. »Todesstrahlen, Dampfbomber, GeoMimikry. Kurt Doberer, das Exil und das Wissen über moderne Kriegstechnologie«. Inge HansenSchaberg u.a. (Hgg.). Exil im Krieg (1939–1945), Göttingen 2016, 47–56. 90 BArch, R58, 2209, 133–134. 91 Ebd., 9681, Karteikarten Robert Grötzsch. 92 Vgl. Dr. Richard Kern [Rudolf Hilferding]. »Von Narvik bis Alexandrien. Die italienische Drohung im Mittelmeer«. NV, 358, 12.05.1940.

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dem Sopade-Vorstandsmitglied und NV-Autor Rudolf Breitscheid wurde er in Marseille durch die französischen Vichy-Behörden verhaftet, im Februar 1941 an die Pariser Gestapo ausgeliefert, wo Hilferding innerhalb weniger Tage erschlagen wurde; Breitscheid kam 1944 bei einem Luftangriff auf das KZ Buchenwald ums Leben. Dieses Schicksal teilten Autoren, deren Artikel unregelmäßig im NV erschienen; etwa der sozialdemokratische Schriftsteller Bruno Altmann, der vor der Machtübernahme in Berlin wohnte und 1933 nach Frankreich flüchtete: Altmann wurde 1940 in Drancy interniert und 1943 nach Majdanek deportiert, hier wurde er im März 1943 ermordet.93

Ausblick Auch wenn die Auflagenzahlen vor allem ab 1939 wie auch die politische Position am ›rechten Rand‹ des linken sozialistischen Spektrums ein Nischendasein vermuten lassen, so war der NV bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fraglos eine etablierte Stimme der deutschsprachigen politischen Emigration: Er war die Plattform für Politiker oder Redakteure wie Rudolf Hilferding, Hans Vogel, Friedrich Stampfer, Otto Wels oder Curt Geyer, kommentierte über fast sieben Jahre das Geschehen in Deutschland bzw. Europa und verschaffte nicht zuletzt geflüchteten Journalisten, Schriftstellern und Künstlern aus dem sozialdemokratischen Lager eine Öffentlichkeit – auch nach dem deutschen Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Dieser Beitrag plädiert deswegen abschließend erstens für eine genauere Einordnung dieser Aktivitäten, die in einem Wechselverhältnis zwischen dem Deutschen Reich und dem Exil organisiert waren bzw. entstanden – und nur aus diesem Wechselverhältnis heraus zu verstehen sind, sei es in der direkten grenzübergreifenden Situation der Tschechoslowakei bis 1937 oder der weiterhin auf die Entwicklungen in Deutschland gerichteten Aufmerksamkeit in Frankreich bis 1940. Vor allem die eingehendere Untersuchung der künstlerischen Verarbeitung der Exilsituation ›an der Schwelle‹ und nach dem Ausbruch des Krieges, die in diesem Beitrag für Robert Grötzsch zumindest angerissen wurde, erscheint nicht nur mit Blick auf den NV, sondern auch hinsichtlich anderer Publikationen bzw. Periodika des politischen Exils vielversprechend. Denn Beispiele wie eben das des einstigen sozialdemokratischen Redakteurs Grötzsch zeigen, dass – in seinem Falle – literarisch-künstlerische Reflektionen über Exil und Krieg auch jenseits der Gruppe der teils schon vor der Flucht etablierten Schriftsteller und Journalisten zu finden waren. Zwar gehörte auch der ehemalige Chefredakteur der Dresdner 93 Vgl. exemplarisch Bruno Altmann. »Proletariat und französische Revolution. Warum feiern Sozialisten die französische Revolution?« NV, 313, 18.06.1939.

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Volkszeitung nicht zum »Exil der kleinen Leute«.94 Die von ihm hinterlassenen und in Publikationen wie dem NV dokumentierten Quellen deuten aber gerade nicht auf »Sprachlosigkeit«,95 sondern auf Formen der Ermächtigung und des Widerstands durch Sprache.96 Zweitens gilt es, dem Aspekt der Netzwerkbildung vor, während und nach dem Exil mehr Beachtung zu schenken.97 So ist beispielsweise bislang die Interaktion der aus dem Deutschen Reich ab 1933 oder aus Österreich ab 1934/38 geflüchteten politischen Gruppen mit jenen der aufnehmenden Länder wie eben der Tschechoslowakei oder Frankreichs kaum untersucht.98 Personen aus dem NV-Kontext wie Friedrich Stampfer und vor allem auch Robert Grötzsch verweisen zudem auf bereits vor 1933 etablierte und teils grenzübergreifende Netzwerke, ohne die deren Agieren und auch die jeweilige politische Positionierung im Exil aber kaum mehr als oberflächlich verstanden werden kann. Diese Perspektive umfasst auch universellere Gedanken oder Wertvorstellungen wie den Pazifismus, die nicht erst im September 1939 zum Tragen kamen, sondern gerade in den linken und sozialistischen Gruppen immer auch im europäischen Kontext des Ersten Weltkriegs mit seinen Folgen sowie dem transnationalen Agieren in der Zwischenkriegszeit zu verorten sind.99 Diese Fokussierung von Netzwerken vor und während des Exils umfassen drittens auch den gruppenbiografischen und geschlechtergeschichtlichen Aspekt, bewegten sich die hier thematisierten zumeist männlichen Akteure doch zwischen der individuellen Ebene von agency und den nicht zuletzt ideologisch determinierten Rahmungen bzw. der structure ihrer Netzwerke – diese beiden Pole werden von der modernen historischen Biografik als maßgeblich für die Einordnung individuellen Handelns angesehen.100 Welche Folgen dies allerdings gerade in einer gruppenbiografischen Perspektive für bereits vor 1933 politisch-schriftstellerisch aktive 94 Vgl. Wolfgang Benz (Hg.). Das Exil der kleinen Leute: Alltagserfahrungen deutscher Juden in der Emigration. München 1991. 95 Vgl. Helene Maimann. »Sprachlosigkeit. Ein zentrales Phänomen der Exilerfahrung«. Wolfgang Frühwald, Wolfgang Schieder (Hgg.). Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933–1945. Hamburg 1981, 31–38. 96 Vgl. Volker M. Heins. »Can the refugee speak? Albert Hirschmann and the changing meanings of exile«. Thesis Eleven, 158, 06.2020, https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/07255 13619888666 [28.06.2020]. 97 Vgl. hierzu vor allem Andress (Hg.), Vorstufen des Exils; Schreckenberger (Hg.), Networks of Refugees. 98 Vgl. exemplarisch Martin K. Bachstein. »Die Beziehungen zwischen sudetendeutschen Sozialdemokraten und dem deutschen Exil: Dialektische Freundschaft«. Peter Becher, Peter Heumos (Hgg.). Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933–1939. München 1992, 41–52. 99 Vgl. Steinberg, »Grenz-Netzwerke«. 100 Vgl. hierzu die Beiträge in Volker R. Berghahn, Simone Lässig (Hgg.). Biography between Structure and Agency. Central European Lives in International Historiography. New York 2008.

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Journalisten wie eben Robert Grötzsch hatte, ist bislang kaum bekannt. Jedenfalls steht zu vermuten, dass solche Personen teils erhebliche Perspektivwechsel zu bewältigen hatten, die sich von einer zumeist auch kultursozialistisch verstandenen Ansprache der deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter über den Aufruf zum Widerstand bis hin zu einer ihnen teils weitgehend unbekannten Öffentlichkeit bewegten – seien es die deutschen Flüchtlinge oder die politischen Milieus der aufnehmenden Länder. Und dass dies auch auf die literarische und künstlerische Reflektion rückwirkte, darauf deuten die in diesem Beitrag vorgestellten Beispiele aus dem NV, die nach dem 3. September 1939 und in Paris erschienen.

Monika Wolting

Der postheroische Kriegsroman Beschreibung eines neuen Genres in der deutschen Literatur

55 deutsche Soldaten kamen im Afghanistan-Krieg ums Leben. Viele Hunderte kamen belastet mit Traumata aus den Auslandseinsätzen nach Deutschland zurück. Die Angehörigen, die stumm in der Öffentlichkeit gebliebenen sind, setzen sich tagtäglich mit den psychischen und physischen Beschwerden der Heimkehrer auseinander. Auch wenn der ehemalige Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) in seiner Rede am 6. Oktober 2013 im Militärlager in Kundus/ Afghanistan bezüglich des geführten Krieges in Afghanistan feststellte: »Dass [der Afghanistankrieg] eine Zäsur, nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die deutsche Gesellschaft war«, so wird zu konstatieren sein, dass im gesellschaftlichen Diskurs jegliche Diskussion um die Afghanistan-Politik der Vergangenheit und der Zukunft zu vermeiden [seien]. Und der Abzug aus Kundus verursachte nicht viel mehr als ein kurzes Achselzucken in der Medienlandschaft nach einem zehn Jahre dauernden Einsatz, von dem die meisten Menschen wohl nicht recht wissen, was davon zu halten ist,1

stellt der Journalist Thomas Pöttgen fest. Dieser Hinweis ist gerade da von entscheidender Bedeutung, wo es um literarische Texte, Kunstobjekte, fiktionale Geschichten geht, die – trotz aller möglichen Fiktionalisierung – in besonderemMaße an die jeweilige »wirkliche Wirklichkeit« und die entsprechenden Räume gebunden sind.

1 Thomas Pöttgen. »Vom Hindukusch in die österreichischen Alpen.« Culturmag. Literatur, Musik & Positionen (2013), http://culturmag.de/rubri ken/buecher/jochen-rausch-krieg/76687 (Zugriff am 28.02.2020).

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Monika Wolting

Am 15. Januar 2009 lud die Rundfunkanstalt der ARD Gäste aus Gesellschaft, Bundeswehr und Medien zu einer Preview in ihr Hauptstadtstudio. Das Thema der Veranstaltung war der Film Willkommen zuhause,2 der in der ARD Premiere haben sollte. Der Intendant des Südwestfunks Peter Boudgoust leitete die Filmvorführung mit folgenden Worten ein: Im ARD Hauptstadtstudio in Berlin ist normalerweise kein Platz für fiktive Geschichten, hier spielen nur Fakten und Themen der realen aktuellen Politik des Landes eine Rolle. Aber die bewegende Geschichte des jungen Bundeswehrsoldaten Ben Winter im Film – »Willkommen zuhause« – ist hochaktuell und orientiert sich an der Realität junger deutscher Soldaten im Einsatz. Deshalb ist hier in Berlin genau der richtige Ort für diese Preview.3

Die Worte können als Beleg dafür genommen werden, wie brisant 2008 das Thema psychischer Belastungen zurückkehrender Soldaten wurde. Die Kulturinstitutionen und die Medien erkannten die Notwendigkeit, sich mit der Fragestellung der Folgen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr für die Soldaten auseinanderzusetzen. Im selben Jahr entstand ein weiterer Spielfilm, Nacht vor Augen,4 der ebenso intensiv und realistisch die Überforderung eines jungen Soldaten thematisiert, der nach seiner Rückkehr aus dem Krisengebiet an Posttraumatischer Belastungsstörung erkrankt. Die aktuell ausgefochtenen Kriege erzeugen Störungen in gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Systemen und führen zur Hinterfragung bestehender Werte, Normen wie gesellschaftlich verbindlicher Toleranzvorstellungen. Die deutschen Gegenwartsautoren und -autorinnen – von Seite der Literaturkritik und der Autorinnen und Autoren5 selbst dazu ermuntert, sich relevanten und zeitdiagnostischen Stoffen zuzuwenden – haben den Diskurs der in der Gegenwart geführten Kriege aufgegriffen. Die Literatur reagiert engagiert auf diese Herausforderungen der Zeit und bindet Ereignisse der Wirklichkeit in die fiktionale Welt des literarischen Textes ein. Nach Jahren der Abwesenheit der Gattung entsteht in Deutschland erneut eine aktuelle Kriegs- und Heimkehrerliteratur.

2 Willkommen zuhause. Regie: Andreas Senn, 2008. 3 »Preview: Willkommen zuhause. Großer Bahnhof bei der ARD in Berlin!«. https://www.angriffauf-die-seele.de (Zugriff am 26.02.2020). 4 Nacht vor Augen. Regie: Brigitte Bertele, 2008. 5 Juli Zeh. »Wir trauen uns nicht.« Zeit Online, Literatur, 04.03.2004, https://www.zeit.de/2004/11/LPreisverleihung (Zugriff am 10.04. 2020). Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki, Michael Schindhelm. »Was soll der Roman?« Zeit Online, 23.06.2005, https://www.zeit.de/2005/26/ Debatte_1/komplettansicht (Zugriff am 26.04.2020).

Der postheroische Kriegsroman

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Der Begriff ›Afghanistan-Roman‹ wird zum ersten Mal von Ingeborg Harms in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3. Oktober 2010 in Bezug auf den Roman Deutscher Sohn von Ingo Niermann und Alexander Wallasch verwendet.6 Das Sujet ›Afghanistankonflikt‹ hat sich inzwischen zu einem weit verbreiteten Thema deutschsprachiger Literatur etabliert, zu den bekanntesten Texten gehören Norbert Scheuers preisgekrönter Roman Die Sprache der Vögel von 2015, Dirk Kurbjuweits Kriegsbraut von 2011 oder auch Linus Reichlins Das Leuchten in der Ferne von 2013, Jochen Rauschs Krieg von 2013 oder Dorothea Dieckmanns Guantánamo von 2004. Literarische Reaktionen auf den Afghanistankonflikt lassen sich ebenso in der französischen, englischen oder auch amerikanischen Literatur beobachten. Die Literatur reagiert auf die globalen Geschehnisse und nimmt den Krieg als Schauplatz, Medieninszenierung oder auch als Hintergrund erzählter Geschichten, wie es im Falle von Frank Schätzings Breaking News (2015) festzuhalten ist, und stellt das Thema im wechselnden Verhältnis von politischem und ästhetischem Interesse dar. Der Krieg in Afghanistan interessiert die Autoren auf unterschiedliche Weise, auch als Gegenstand einer sich auf Recherche, Zeitzeugengespräche und Berichte stützenden, ihren Realismus betonenden Literatur. Das ›realistische Schreiben‹ äußert sich dann im Text in einer möglichst großen Annäherung an die soziale Wirklichkeit der Figuren und in der versuchten Widerspiegelung ihrer Lebenslagen und Konflikte. Mit der Bezeichnung des ›realistischen Schreibens‹ wird allerdings auf eine Schreibtechnik rekurriert, unter deren Verwendung »sich dem Leser automatisch eine erzählte Welt, eine Diegese präsentiert, ohne dass er [sich] zunächst mit Phänomenen der Textebene«7 auseinandersetzen muss. Wenn man Literatur als ein Modell der Wirklichkeit auffasst, die gegebene gesellschaftliche Zustände und Prozesse in literarische Formen verwandelt und sie dadurch dem Leser erfahrbar macht, dann lässt sich der Literaturkorpus der Afghanistan-Romane als Ausdruck der Notwendigkeit einer ästhetischen wie ethischen Beschäftigung mit den Ereignissen des Afghanistan-Konflikts wie auch mit dem Umstand der Teilnahme der Bundeswehr am Krieg nach einer fast sechzigjährigen Abwesenheit in Kriegsoperationen betrachten. Allerdings interessierte Krieg als Erzählstoff schon immer Literaten und eine breite Leserschaft. Auch wenn sich der Krieg wegen seines Ausmaßes an Akteuren, Räumen und der zeitlichen Dimension schon immer als schwer erzählbar darstellte, so verwundert die Verbreitung der Gattung doch sehr. So muss der »Reiz« der Kriegserzählungen woanders als in ihrer Erzählbarkeit liegen. 6 Ingeborg Harms. »Importe aus Feuchtgebieten. Ist Deutschland ein hormonell weiblich gesteuertes Land?« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 03.10.2010. 7 Moritz Baßler. »Populärer Realismus.« Pop Zeitschrift, 23.10.2012. http://www.pop-zeitschrift.de/ 2012/10/23/popularer-realismusvon-moritz-basler23-10-2012/ (Zugriff am 15.06.2019).

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Unter Wissenschaftlern herrscht Konsens darüber, dass Kriegs- und Krisenerzählungen nicht zuletzt deshalb im Laufe der Jahrhunderte, seit der Entstehung erster griechischer Kriegsepen oder sogar seit den alttestamentarischen Kampferzählungen, an ihrer Popularität nichts eingebüßt haben, weil Kriege imstande sind, Sozialsysteme neu zu sortieren und sich für soziale, ökonomische und kulturelle Umbrüche verantwortlich zu zeigen. Sie erzeugen damit gleichsam einen enormen Normalisierungsdruck. Die Normalisierung8 von Konflikten und Differenzen bedeutet eine Funktion, die die Erzählungen für die und in der Gesellschaft zu leisten haben. Dabei geht es nicht nur um Wiedergutmachung oder Kompensation. Narrationen arbeiten in jenem Bereich, in dem der Krieg Eingang aus dem individuellen ins kulturelle Gedächtnis findet, indem der bestehende Konflikt mit Bedeutung und Normativität versehen wird. So tritt die Literatur in die Rolle einer Vermittlerin zwischen soziologischen wie gesellschaftlichen Erfahrungen und dem kulturellen Bestreben einer Gesellschaft oder ihrer Individuen. In diesem Kontext ist es nicht zuletzt der literaturkritischen Diskussion zu entnehmen, dass die Afghanistan-Texte auch als Ausdruck eines immer individuellen Anliegens zu lesen sind, Menschen, die Grenzerfahrungen ausgesetzt werden und denen im öffentlichen Diskurs wenig Raum gewährt wird, wieder ins Bewusstsein zu rücken. Wie die Analyse des gewählten Textkorpus’ im Folgenden zeigen wird, weisen die Texte zunächst eine charakteristische, geschlossene Raumzeitkonstellation9 auf, die als spezifische systemprägende Dominante des Genres anzusehen ist: Die Handlung der meisten Afghanistan-Romane spielt im Militärcamp am Hindukusch beziehungsweise auf Kontrollfahrten in Militärfahrzeugen und betrifft jeweils die Monate des Einsatzes der handelnden Figuren in den Jahren des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan, also von 2002 bis 2014. In den Heimkehrerromanen sind es dann entsprechend Krankenhausräume und Räume psychiatrischer Kliniken oder Orte, in denen die Figuren nach Flucht von der Außenwelt Einsamkeit suchen: eigene Wohnungen und Verstecke. Die in den Texten geschilderten Räume weisen eine Nähe zu den ›Räumen‹ auf, die Foucault als ›Abweichungsheterotopien‹ bezeichnet, also »Orten, die sich die Gesellschaft an ihren Rändern unterhält«,10 aber ihr Vorkommen aus dem kollektiven Gedächtnis zunehmend ausblendet. Mithin ist in der literarischen Reflexion über diesen Konflikt die gleichzeitige »Existenz und nicht Existenz« dieser Orte zu vernehmen. Präsent sind sie nur für die unmittelbar beteiligten Figuren: Soldaten, 8 Vgl. Jürgen Link. Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997. 9 Vgl. Michail M. Bachtin. Chronotopos. Hg. v. Michael C. Frank, Kirsten Mahlke, übers. v. Michael Dewey. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008. 10 Michel Voucault. »Die Heterotopien«. Ders. Die Heterotopien – Les héterotopies / Der utopische Körper – Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2005, 7–22, hier: 12.

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Offiziere, Freunde und Eltern; nicht-existent verbleiben sie jedoch für den Großteil der fiktionalisierten Gesellschaft. So liegt der Fokus der Abhandlung darauf, die literarisierten Afghanistan-Konflikt-Räume, die Räume der Irritation zu analysieren, denn Irritationen, Störungen entstehen an den Grenzen der Räume, indem die Grenzen überschritten oder irritiert werden. Der Raum und die Zeitspanne des Geschehens werden in den Textwelten fast durchgehend explizit benannt, was den Authentizitätscharakter der Texte unterstreicht. Das Erzählen der Kriegsereignisse beginnt meistens im Camp, das stets als Referenzraum auch für das Erzählen außerhalb des Raumes fungiert. Neben dieser chronotopischen Anordnung der Erzählstrukturen lässt sich als weiterer Befund festhalten: Das Deutungsangebot, das zum Teil auch von der spärlich vorhandenen Literaturkritik zum Thema geteilt wird, könnte wie folgt formuliert werden: Die Daseinserfahrung der Figuren der analysierten Texte ist durch die Empfindung permanenter Angst und das Gefühl des ständigen Bedrohtseins gekennzeichnet, das als ›ontologische Unsicherheit‹ zusammengefasst werden kann.11 Der Begriff der ›ontologischen Unsicherheit‹ wird in der Terminologie von Ronald D. Laing als Gegenentwurf zur ›ontologischen Sicherheit‹ gefasst. Die Problematik der inneren und äußeren Zerrissenheit wird als ein Modell aufgebaut, das den Menschen als Ganzes fasst, in dem Seele, Geist und Körper in einer Balance zueinanderstehen. ›Ontologische Sicherheit‹ wird von Laing als das Selbstverständnis und das Empfinden seines Selbst als Ganzes in einer Einheit der Identität bezeichnet. Diesbezüglich kann der Mensch, so Laing, das Gefühl seiner Präsenz in der Welt als eine reale, lebendige, ganze und im temporalen Sinn kontinuierliche Person haben. Als solche kann er in der Welt leben und andere treffen: Eine Welt und andere, die als gleichermaßen real, lebendig, ganz, kontinuierlich erfahren werden.12

Diesem Schema gegenüber entwickelt Laing die Begrifflichkeit der ›ontologischen Unsicherheit‹, die als tendenzielle Auflösung der Ganzheit, Zersplitterung der Identität, Existenz im dauerhaften Angstzustand, in Hoffnungslosigkeit und in Zweifeln zu verstehen ist. Mit dieser Denkfigur wird im Folgenden darauf hingewiesen, dass die Unsicherheit der Figuren während oder nach dem Afghanistaneinsatz zeitweise oder dauerhaft ihr »In-der-Welt-Sein« infrage stellt. Es entstehenFragen nach dem Sinn der eigenen Existenz, nach dem eigenen Wert, mithin nach 11 Vgl. Ronald David Laing. Das Selbst und die Anderen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1976; Ronald David Laing. Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn. Köln: Kiepenheuer & Witsch, (1994) 1987 (orig. The Divided Self. An esistential study on sanity and madness. 1960). 12 Laing, Das Selbst, 47.

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den Grenzen der Individuation. Des Weiteren kommt es durch die Teilnahme der Figuren an dem Militäreinsatz zur starken Belastung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die oft Irritationen der Privatsphäre, Entfremdung und letztendlich Vereinsamung der Figuren verursacht. Diese Überlegung führt direkt zu einem weiteren Befund, der die Figur des Soldaten betrifft. Er stellt keineswegs eine heroische Figur dar, auch keine von der Notwendigkeit des Einsatzes ausnahmslos überzeugte Figur. Der Soldat zeigt sich weit entfernt von einem »Helden«, der für seine Heimat bewusst sein Leben riskiert, er ist vor allem Berufssoldat, der nicht selten unter mangelhafter Beratung vor dem Einsatz und Betreuung nach dem Einsatz zu einer Leidensgestalt des Afghanistan-Veteranen wird. Dieser Umstand führt dazu, dass die Texte des Öfteren psychische Erkrankungen der Figuren, die am Afghanistankrieg beteiligt sind, in den Fokus ihrer Aushandlungen nehmen. Es wird an dieser Stelle von der These ausgegangen, dass die Form der Literarisierung des Kriegsgeschehens im hohen Maße von der Form der Kriegführung abhängig ist. Die literarische Darstellbarkeit der gegenwärtigen Kriege, die in der Forschung unter dem Begriff ›neue Kriege‹ geführt werden,13 wird demnach mit entsprechenden literaturästhetischen Mitteln erreicht. Denn Schriftsteller fungieren, wie es Thomas Mann zutreffend in Die Entstehung des Doktor Faustus formuliert: als »Seismographen« ihrer Epoche. So nehmen die deutschsprachigen Autorinnen und Autoren die Besonderheiten der neuen Kriege wahr, mit denen die Welt-Gesellschaften konfrontiert werden, und binden sie demzufolge in den Plot ihrer literarischen Texte ein.

Der Topos »Krieg« Die Beschäftigung mit dem Topos ›Krieg‹ nimmt in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts eine gesellschaftlich relevante Stellung ein. Er ist prägend für den Expressionismus, in dem die kulturrevolutionäre Begeisterung mit der Vorstellung angereichert wurde, dass eine bessere Zukunft nur über individuelle und kollektive Katastrophen zu erreichen ist. Es nimmt daher nicht Wunder, dass die Ereignisse vom August 1914 von vielen Expressionisten mit Enthusiasmus als Aufbruch und Neuanfang aufgenommen wurden, auch wenn er von nicht langer Dauer war. Wenn Ernst Jünger seinen Roman In Stahlgewittern (erste Fassung 1920) fernab jeder politischen oder moralischen Parteinahme als inneres Erlebnis des Soldaten darstellt, so schreibt 1929 Erich Maria Remarque den Band Im Westen nichts Neues, dessen Erscheinen inzwischen in der Forschung als mittelbarer 13 Vgl. Herfried Münkler. Die neuen Kriege. Reinbek: Rowohlt, 2002.

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Auslöser einer Reihe von nationalistisch-militärischen Texten der aufkeimenden nationalsozialistischen Ära angesehen wird. Die durch Remarques Roman in Gang gesetzte gesellschaftliche Debatte ging in eine literarische Fiktion über, in der das Kriegserlebnis dezidiert als Verpflichtung auf ein nationalistisches Engagement benannt wird. Der real erlebte Kampf in den Schützengräben und Freikorps war in einen Kampf um gesellschaftliche Sinnstiftungen überführt worden.14

Die Gegenpole äußerten sich dann in unterschiedlicher Auswertung des Krieges: Zum einen präsentierte sich dies in der Darstellung einer von Krieg, Elend und Enttäuschung gezeichneten Generation, zum anderen wurde die Niederlage als der Auftakt zum Aufbruch eines erneuerten Deutschland bewertet. Letztere zeichneten in gewissem Maße für die begeisterte Aufnahme der nationalsozialistischen Ideologie und das Aufkommen des Dritten Reiches verantwortlich. Der Kriegs- und der Heimkehrerroman nehmen eine zentrale, auch wenn anders gepolte Stellung in der westdeutschen und ostdeutschen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Für die Jahre unmittelbar nach dem Krieg diagnostiziert Norman Ächtler das ›Opfernarrativ‹, das er als »mentalitätsprägende Gründungserzählung der bundesrepublikanischen Gesellschaft« bestimmt, die »die über Jahrzehnte hinweg aufgebaute kollektive Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg entscheidend« formte.15 Zugleich waren in den nachfolgenden Jahrzehnten Krieg und Holocaust, Exil und Vertreibung, nationalsozialistische Verbrechen die thematischen Schwerpunkte einer Literatur, die sich vom Opfernarrativ immer mehr verabschiedete und Richtung Vergangenheitsverarbeitung und -bewältigung tendierte. Die DDR-Literatur war durch den Versuch der Auseinandersetzung mit Krieg und Faschismus geprägt, der beispielhaft im Roman Nackt unter Wölfen (1958) von Bruno Apitz realisiert wurde. Bei der Entwicklung der bundesrepublikanischen Literatur ist mitzudenken, dass die beiden Gründungsgenerationen der Gruppe 47 sich in ihren zeitgeschichtlichen literarischen Texten zwar kritisch mit der Realität der Nachkriegszeit auseinandersetzten, zugleich sie aber eher rechtfertigende, denn kritische Modelle zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus bereitstellten und als tendenziell systemstabilisierender Faktor der westdeutschen Mentalitätsgeschichte agierten. Die jungen Autoren, die aus dem Krieg und der Kriegsgefangenschaft heimkehrten, bedienten sich in ihrer Publizistik und in ihren literarischen Texten verschiedener 14 Jörg Lehmann. Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik. Norderstedt: Books on Demand, 2014, 3. 15 Norman Ächtler. Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945–1960. Göttingen: Wallstein, 2013, 7.

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Entlastungsstrategien, die sich zu einer suggestiven ›kollektiven Kriegserzählung‹ verdichteten.16 Die um 1960 einsetzenden entscheidenden Diskursverschiebungen in Hinsicht auf die Bewertung der jüngsten Vergangenheit, insbesondere die verstärkte Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, mit Krieg und Holocaust lassen sich dann ebenfalls den Texten und Debatten der Gruppe 47 entnehmen.17 Die Debatten, von literarischen Texten wie beispielsweise der Danziger Trilogie von Günter Grass angestoßen, zeigen sich in der weiteren Entwicklung deutschsprachiger Literatur als prägend, bis es 1968 es zu einer markanten Zäsur kommt. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Distanzierung von Krieg und militärischem Einsatz übten der Vietnam-Krieg und die gewalttätige Niederschlagung des Prager Frühlings aus. Radikaler als es die Mitglieder der Gruppe 47 artikuliert haben, sprach sich nun die junge Generation, die keine unmittelbaren Erfahrungen mit den Kriegsereignissen mehr besaß, gegen die Verletzung von Menschenrechten und Menschenwürde in Weltkonflikten aus. Neben dieser engagierten Literatur entstand eine neue Richtung, die ihre Schwerpunkte abseits des Krieges suchte und sich am Individuum und seiner Position in der Gesellschaft orientierte. Der Fall der Mauer im Jahre 1989 führte globale Veränderungen herbei. Mit dem eingeleiteten Umbau des ›Funktionsgedächtnisses‹ musste eine Neubewertung des Vergangenen stattfinden.18 Die zweite und die dritte Nachkriegsgeneration waren bemüht, erneut Fragen zum Geschehen des Zweiten Weltkrieges zu stellen. So werden Themen wie Krieg, Holocaust, Vertreibung, Flucht, Bombenkrieg, Vergewaltigung oder deutsche Täter- und Opferrolle in literarischen Texten wieder aufgenommen und neu ausgelotet. Seit dem Vietnamkrieg dauerte das Interesse deutschsprachiger Autoren ebenfalls für globale, kriegerische Konflikte fort. Bürgerkriege, Guerillakämpfe, neue Kriege, kleine Kriege oder Kriege an der Peripherie der Wohlstandsgesellschaft rückten immer mehr ins Zentrum des Interesses der Literatur. Bis 2001 handelt es sich stets um Kriege, an denen keine deutschen Soldaten und Soldatinnen teilnehmen, auch wenn sie mit deutscher finanzieller Unterstützung geführt werden. Paul Michael Lützeler bezeichnet dieses Engagement der Autoren mit dem Begriff »der postkoloniale Blick« – gemeint ist damit »die Sehweise der Empathie, des

16 Klaus Briegleb. »Neuanfang in der westdeutschen Nachkriegsliteratur – Die Gruppe 47 in den Jahren 1947–1951«. Stephan Braese (ed.). Bestandsaufnahme – Studien zur Gruppe 47. Berlin, 1999, 43; Vgl. Matthias N. Lorenz. »Notwendige Neubewertung«. Junge Welt, 06.09.2017. 17 Vgl. ebd. 18 Carsten Gansel, Heinrich Kaulen. »Kriegsdiskurse in Literatur und Medien von 1989 bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts.« Dies. (eds.). Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Göttingen: V&R unipress, 2011, 9.

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Verstehenswollens und der transnationalen Anerkennung der Menschenrechte«.19 Nun aber rückt 2002 der Krieg näher an Deutschland heran. Die Beteiligung der Bundeswehr am militärischen Einsatz in Afghanistan wurde vom Deutschen Bundestag auf Antrag von Bundeskanzler Gerhard Schröder in zwei Abstimmungen vom 16. November und 22. Dezember 2001 beschlossen. Sie betraf die militärische Unterstützung der von den USA geführten Operation ›Enduring Freedom‹ und den ISAF-Einsatz mit dem Ziel der Stabilisierung der politischen Lage in Afghanistan. Der Einsatz endete am 31. Dezember 2014. Deutschland beteiligte sich nach einer fast 60jährigen Vermeidung militärischer Auseinandersetzungen an einem Krieg.

Raum, Zeit und Figuren im neuen Kriegsroman Kriege, politische Unruhen und militärische Operationen leiten durch Irritationen und Störungen fundamentale Veränderungen in gesellschaftlichen Systemen ein, sie setzen den Normalzustand einer Gesellschaft außer Kraft, stellen geltende Werte und Normen infrage.20 Wenn also Literatur als Form der »Selbstbeobachtung von Gesellschaften« (H. Böhme) zu verstehen ist, ist zu erwarten, dass in literarischen Texten die durch Krieg hervorgebrachten Katastrophen, Irritationen und Reizungen thematisiert werden können. In diesem Beitrag liegt das Hauptaugenmerk auf der Schilderung der Poetik der Afghanistan-Romane, die im zeitlichen und thematischen Zusammenhang mit dem in Afghanistan von 2001 bis 2014 geführten zunächst Militäreinsatz, später Krieg stehen. Dabei liegen die Schwerpunkte der Untersuchung sowohl in der Analyse der ästhetischen Seite der Texte als auch in der Darstellung des Engagements der Autorinnen und Autoren im Hinblick auf die sozialen und politischen Fragestellungen der Gegenwart. Um das Spektrum der Analyse zu erweitern, wird in dieser Studie auf die Ergebnisse und Erkenntnisse solcher Disziplinen wie Kommunikationswissenschaften, Sozial- und Politikwissenschaften, Psychologie und Psychopathologie zurückgegriffen. Diese Vorgehensweise ergibt sich aus der Überzeugung, dass literarische Texte nicht ausschließlich mit literaturwissenschaftlichen Mitteln zu interpretieren, sondern als ein umfassender Versuch zu begreifen sind, geistige und soziale Gegebenheiten der Gegenwartskultur in Sprache zu binden. Der vorliegende Text verfolgt zwei Leitfragen: Zum einen gilt es, den Textkorpus auf seine narrativen und ästhetischen Muster hin zu untersuchen, diese mit politi19 Vgl. Paul Michael Lützeler. Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: Wilhelm Fink, 2009. 20 Vgl. Niklas Luhmann. Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1988; Niklas Luhmann. Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1995, 9.

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schen und gesellschaftlichen Kontexten und Indizien in Beziehung zu setzen und auf diesem Wege zu einer Strukturbeschreibung der Literatur des Afghanistaneinsatzes und Afghanistankrieges zu gelangen. Denn die tatsächlichen, real gemachten Lebenserfahrungen der Soldaten und Soldatinnen, der Offiziere, der Ärzte und Ärztinnen, der Reporter sowie der zu Hause gebliebenen Angehörigen werden als Vorlage für die Erfahrungen der Romanfiguren verwendet. Sie bilden, im Sinne von Paul Ricœurs ›Kreis der Mimesis‹, die Präfiguration des Textes (Mimesis I), sie liefern den Stoff für erzählte Geschichten21 – Afghanistankonflikt und Afghanistankrieg, Heimkehr und Trauer. Erst auf dieser Grundlage erfolgt dann die literarische Konfiguration (Mimesis II) – die Erzählung. Auf die Präfiguration des Textes, also auf die Ebene der Mimesis I haben neben den einzelnen Elementen eines kulturellen Begriffsnetzes auch die bereits publizierten Texte (journalistische Publikationen, Essays, Nachrichten, politische Dokumente), die bestehenden Figurationen des Soldaten, des Heimkehrers, kulturell bekannte Plotstrukturen oder master narratives einen beträchtlichen Einfluss, in der Aufnahme wie auch der Neusuche nach entsprechenden Mitteln der literarischen Darstellung. Es fällt leicht, in der außerliterarischen Wirklichkeit, in Medien, in der Öffentlichkeit, Beispiele für deutsche Soldaten und Soldatinnen, die »die Freiheit von Deutschland am Hindukusch verteidigen«, zu finden. Die jeweils erzählten Geschichten und ihre Fabelkonstruktionen entstammen nach Ricœur einem »Vorverständnis der Welt des Handelns«, also der Ausgangswelt, »[…] ihrer Sinnstrukturen, ihrer symbolischen Ressourcen und ihres zeitlichen Charakters«, ohne die Literatur nicht begreifbar wäre.22 Von daher ist es sinnvoll, danach zu fragen, welche die kulturellen, politischen, militärischen Ereignisse, Handlungen, Interaktionen (die Präfigurationen) sind, aus denen der entsprechende literarische Text seine Elemente bezieht. Dies ist für den Prozess von Mimesis II, also die Konfiguration des Textes, den konkreten Prozess des Entwurfs einer Erzählerstimme und einer gezielten Handlungs-, Figuren- und Raumkonstruktion von entscheidender Bedeutung. Denn die Beteiligung der Bundeswehr an einem Krieg wie auch die Form des Krieges können nicht als verfügbare Plotstrukturen und als bekanntes Geschichtsnarrativ verstanden werden, sondern werden neu über den Akt des Erzählens mit der Mimesis II verbunden. Dieser Umstand macht die Beschäftigung mit den Themen, die sich aus den Texten heraus entwickeln, umso relevanter. Der zur Analyse herangezogene Textkorpus wurde aus mehreren Gründen auf die Gattung des Romans eingeschränkt. Denn ›die Leistungskraft‹ der Literatur 21 Vgl. Paul Ricœur. Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. München: Wilhelm Fink, 2007 (2. Aufl.). 22 Ebd., 90; s. auch Astrid Erll. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2005, 150f.

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liegt in den verschiedenartigen gattungsmäßigen Redearten, die dem Ausdruck der literarischen Fiktion zur Verfügung gestellt werden. Christa Karpenstein-Eßbach schlägt vor: »Zweifellos gibt es eine literarische Gattung, die jenem ethischen Bedürfnis in besonderer Weise entgegenkommt: der Roman.«23Der Befund findet eine Unterstützung in der Benjaminischen Formel von einem Erzähler, der als jene Gestalt bezeichnet wird, in der sich der Gerechte selbst begegnet. Der Roman, als ästhetische Form, hat die Fähigkeit. die Literarisierung des Krieges in einer besonderen Weise zu rechtfertigen, denn die Ereignisse passieren nicht im Roman, sondern werden von dem Erzähler des Romans und von den Figuren erzählt. Zudem kommt noch hinzu die Überlegung von Ian Watts, der allein dem Roman den Realismus als das Grundcharakteristikum zuschreibt.24 Der Realismus wird hier als ein stilistischer und erzähltechnischer Begriff verstanden im Sinne der Bewegung hin zu einer größten Wirklichkeitsnähe. Der Afghanistan-Roman, gelesen als realistischer Roman, stellt zwischen den gängigen moralischen Ansichten und politischen Meinungen der wirklichen Welt und den geschilderten Ereignissen und Vorgängen wie auch der Rede der dargestellten Figuren Beziehungen her. Mithin besteht der Realismus ›des neuen Kriegsromans‹ darin, die Romanwelt als einen möglichen Teil der wirklichen Welt erscheinen zu lassen und nicht als Abbild der realen Welt. Das ›realistische Schreiben‹ äußert sich in den Texten in einer möglichst großen Annäherung an die soziale Wirklichkeit und in einer versuchten Ausdeutung der Lebenssituation und der Probleme der Hauptfiguren. Insofern wird das Schicksal der Protagonisten eng mit dem afghanischen Konflikt verbunden, seine Darstellung bildet die zentrale Problemlage der meisten Texte. Einen weiteren Schwerpunkt der Texte bildet die Reflexion über die Anteilnahme der deutschen Öffentlichkeit an dem Konflikt, über das Interesse an den Schicksalen der deutschen Soldaten und Soldatinnen. Bei der Durchsicht der vorliegenden Primärliteratur stellt sich heraus, dass die literarische Fiktion in ihren Inhalten intensiv auf die Veränderungen der Kriegführung am Ende des 20. Jahrhunderts reagiert. Das bedeutet, dass für den Kriegsroman der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhundert sowohl die militärischen Veränderungen als auch die gesellschaftlichen Entwicklungen maßgebend sind, die sich im Zuge der Entstehung neuer Kriege entfalteten. Der seit 2001 geführte Afghanistaneinsatz gehört zu der in der Forschungsliteratur noch wenig bekannten Art von militärischen Konflikten. So schreibt Herfried Münkler, dass das Zeitalter des klassischen Kriegsmusters, wonach Staaten gegeneinander angetreten sind, zwar mit dem Fall des Eisernen Vorhangs an sein 23 Christa Karpenstein-Eßbach. »Kriegsgewalt in der Literatur«. Gereon Heuft, Insa Fooken (eds.). Das späte Echo von Kriegskindheiten: Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensläufen und Zeitgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. 24 Ian Watts. The Rise of the Novel. (1957). Berkeley: Univ. of California Press, 2001.

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Ende kam, was aber zugleich den Anfang der neuen Kriege bedeutete. Insofern dauert in der Friedens- und Konfliktforschung die Debatte darüber an, ob die Kriege, die nach 1990 entfacht wurden, wirklich einen Gestaltwandel durchlaufen haben. Während Martin van Creveld, Mary Kaldor und Herfried Münkler in dieser Debatte einen ›neuen Krieg‹ konstatieren, betonen Klaus Jürgen Gantzel und Klaus Schlichte, dass sich der Krieg nicht grundlegend gewandelt hat.25 Am Verlauf des ersten Golfkrieges von 1990/91, der Zerfallskriege Jugoslawiens und der Sowjetunion (Tschetschenienkriege, Bergkarabachkonflikt), der Kriege in Nordafrika werden allerdings neue Tendenzen und Entwicklungen einsehbar. Diese Veränderungen der Kriegsform zeichnen sich durch eine »neue kriminelle Gewaltökonomie, neue Gewaltmotive, brutale Gewaltstrategien« und durch »zahlreiche private Gewaltakteure« aus.26 Diese Gestalt des Krieges fand bereits Eingang in die literarische Welt in Form der Beschreibungen von Verwüstungen durch Gangs, Misshandlungen der Zivilbevölkerung, Todesurteilsvollstreckungen, Morden, Pogromen, Massaker und Flüchtlingsströmen. Die Figuren beurteilen die Kriegssituation als unübersichtlich, ohne klar konturierte Gegen-Fraktionen und zählen neben den ethnischen und religiösen Kriegsursachen auch die wirtschaftlichen und machtpolitischen Faktoren dazu. Die Gewalt dieser Kriege erscheint als willkürliche Setzung, sie wird privatisiert und kommerzialisiert, zudem richtet sie sich häufig gegen die Zivilbevölkerung. Auch das Bild des Soldaten unterliegt einer weitgehenden Veränderung mit der Folge, dass dies einen großen Einfluss auf die Konstruktion literarischer SoldatenFiguren hat. Dazu schreibt Wolf Schneider in seinem Sachbuch Der Soldat – Ein Nachruf, dass das die historischen Beschreibungen bestimmende Bild des Soldaten heute keine Gültigkeit mehr besitze. Seine These unterstützt er durch die Feststellung, dass der Soldat nichts mehr zum Sieg beitragen könne: Selbstmordattentäter, selbst Partisanen seien ihm überlegen, auch im Angesicht der fortschreitenden Technik, die im Krieg ihren Einsatz in Form von Drohnen, Atomraketen, Computern oder auch menschlichen Kampfmaschinen finde, sei er machtlos.27 Um auf den theoretischen Kern des Problems zurückzukommen, sei die Frage erlaubt: Was ist an den neuen Kriegen im Vergleich zu den alten Kriegen neu, die 25 Vgl. Münkler, Die neuen Kriege, 2002; Martin van Creveld. Die Zukunft des Krieges. München, Gerling Akademie, 1998; Klaus Jürgen Gantzel. »Neue Kriege? Neue Kämpfer?« Bruno Schoch, Corinna Hauswedell, Christoph Weller, Ulrich Ratsch, Reinhard Mutz (eds.). Friedensgutachten 2002. Hamburg 2002, 80–89; Mary Kaldor. Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2000. Klaus Schlichte. »Neues über den Krieg? Einige Anmerkungen zum Stand der Kriegsforschung in den Internationalen Beziehungen.« Zeitschrift für Internationale Beziehungen 9 (2002), 1, 113–138. 26 Monika Heupel, Bernhard Zangl. »Die empirische Realität des neuen Krieges.« IIS Arbeitspapier 27. Universität Bremen, 2003. 27 Wolf Schneider. Der Soldat – Ein Nachruf. Reinbek: Rowohlt, 2014.

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eine fundierte Beschreibung in Clausewitz Abhandlung Vom Kriege (1823–1824) fanden.28 Herfried Münkler gilt neben Mary Kaldor als der bedeutendste Theoretiker der ›neuen Kriege‹ und zugleich als einer der renommiertesten deutschen Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker. In seinem Band Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert schlägt er drei Merkmale der neuen Kriege vor, die als Charakteristika gelten können.29 Zum einen ist es die fortschreitende »Privatisierung des Krieges«, »die zur Folge hat, dass die Staaten nicht länger die Monopolisten des Krieges sind.«30 Mary Kaldor, die 1999 den Terminus ›neuer Krieg‹ prägte, nennt als dessen Kennzeichen »das Verschwimmen der Grenzen zwischen Krieg […], organisiertem Verbrechen […] und massiven Menschenrechtsverletzungen«.31 Bereits 2002 greift Herfried Münkler in seinem Standartwerk Die neuen Kriege den Terminus auf und vertieft die von Kaldor erwähnte Verquickung von politischen und ökonomischen Interessen: Kurz, ethnische wie religiöse Gegensätze sind meist nicht die Ursachen eines Konfliktes, sondern sie verstärken ihn nur. Die neuen Kriege werden von einer schwer durchschaubaren Gemengelage aus persönlichem Machtsterben, ideologischen Überzeugungen, ethnisch-kulturellen Gegensätzen sowie Habgier und Korruption am Schwelen gehalten und häufig nicht um erkennbare Zwecke und Ziele geführt.32

Die Kriege werden von Warlords unterschiedlicher Herkunft geführt und durch sie auch entschieden, deswegen ist der Krieg für viele Interessengruppen längst zu einem finanziellen Faktor geworden: Je länger der Konflikt andauert, desto größer sind die Einnahmen bestimmter privater Organisationen und Individuen. Die literarische Fiktion reagiert schnell auf diese Veränderung und entwickelt eine neue Figur – die des Warlords (z. B. die Figur Dilawar in Linus Reichlins Das Leuchten in der Ferne). Monika Heupel führt als Ergebnis ihrer Analyse eine weitere Hypothese hinzu, die ideologische und identitätsbezogene Rhetorik der Warlords diene nur noch »als Deckmantel ihrer ökonomischen Gewaltmotive.«33 So können die Kriege nicht von selbst enden, sie bedürfen meist eines Dritten. Diese Annahme ist bereits oft widerlegt worden, und die Forderung nach Abzug 28 Carl von Clausewitz. Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz. Hg. v. Werner Hahlweg. Bonn: Dümmler, 1991. 29 Herfried Münkler. Kriegssplitter: Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin: Rowohlt, 2015, 210–211. 30 Ebd., 210. 31 Kaldor, 16. 32 Münkler, Die neuen Kriege, 16. 33 Monika Heupel. Friedenskonsolidierung im Zeitalter der »neuen Kriege«: Der Wandel der Gewalt­ ökonomien als Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2005, 10.

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internationaler Ordnungsmächte gewinnt immer mehr Anhänger, weil auch bei einem durch starken finanziellen Zufluss abgeschlossenen Friedensabkommen die Gefahr groß ist, dass der Krieg gleich wieder an einem anderen Ort ausbricht. Auch dieser Umstand ist zum inhaltlichen Schwerpunkt literarischer Texte geworden: Der Sinn des geführten Krieges wird von den handelnden Figuren diskutiert, die Zweifelhaftigkeit der Beteiligung deutscher Truppen immer wieder thematisiert (z. B. Dirk Kurbjuweit: Kriegsbraut, Jochen Rausch: Krieg). Als ein weiteres Merkmal der neuen Kriege führt Herfried Münkler die »Asymmetrierung der Kriegsgewalt« an, also strategischer Kalküle, mit denen die »Stärken des Gegners in Schwächen verwandelt werden sollen«.34 Dementsprechend findet auch diese Eigenschaft Eingang in die literarische Fiktion, z. B. in Form von Bildern, in denen westliche Medien als Plattform zur Veröffentlichung von Forderungen der Terroristen oder Aufständischen benutzt werden (Frank Schätzing: Breaking News). Als drittes Charakteristikum nennt Herfried Münkler die »Demilitarisierung des Krieges«.35 Damit ist gemeint, dass das reguläre, staatlich zugeordnete Militär nicht länger »Monopolist der Kriegsführung« ist.36 Dies wird in der literarischen Fiktion deutlich, wonach Soldaten der westlichen Mächte gegen Krieger, Aufständische, Terroristen kämpfen müssen und sich mit keiner regulären Armee mehr konfrontiert sehen (Dirk Kurbjuweit: Kriegsbraut, Jochen Rausch: Krieg, Frank Schätzing: Breaking News). Mit der Demilitarisierung des Krieges löst sich die Grenze zwischen Krieg und Frieden auf, »und an die Stelle des Kriegsparadigmas tritt zunehmend das Kriminalitätsparadigma«.37 Inzwischen spricht Herfried Münkler von »transkulturellen Kriegen«, die nicht mehr unter Beteiligung kulturell nahestehender Nachbarstaaten stattfinden, sondern vermehrt durch die Intervention globaler Ordnungsmächte beeinflusst werden und dadurch sich noch weiter von der Möglichkeit einer Symmetrieherausbildung entfernen, die auf kultureller Nähe beruht und das Einhalten von Regeln und Vereinbarungen begünstigen könnte.38 Nicht unerheblich für die Bestimmung der Art der Kriege und im Anschluss daran: für ihre literarische Konfiguration ist die narrative Opposition von ›heroisch‹ und ›postheroisch‹. In Münklers Auffassung ist postheroische Gesellschaft nicht gleich unheroisch, damit wird eine Gesellschaft gemeint, die sich daran erinnert, dass sie mal heroisch war, daraus Konsequenzen gezogen und einen Weg

34 Münkler, Kriegssplitter, 211. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd., 210.

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des Lernprozesses hinter sich gelassen hat.39 Entsprechend finden Zeugnisse dieses Lernprozesses Eingang in die literarische Fiktion in Form von Figurenaussagen und bestimmten Figurenhandlungen.

Der postheroische Kriegsroman Maximilian Probst diagnostiziert in der Zeit im Sommer 2018: »Das postheroische Zeitalter geht zu Ende. Die Verherrlichung des Kämpfers kehrt zurück – nicht nur am rechten Rand.«40 Dieser Feststellung schließt sich ebenfalls Jacob Augstein vom Spiegel an.41 Ganz entgegen den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wird von einer »neuen Begeisterung für den Kampf gesprochen«. Wenn, wie in diesem Beitrag angenommen, Literatur maßgeblich auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagiert, dann kann davon ausgegangen werden, dass das Genre des ›neuen Kriegsromans‹ der postheroischen Gesellschaft unter neuen politischen Tendenzen bald »ausgedient« hat. Die These für diesen Beitrag lautete, dass Literatur auf die gegenwärtigen Krisenlagen und Herausforderungen der globalen Welt mit eigenen Mitteln reagiert. Nun soll an dieser Stelle die Antwort auf die Frage gesucht werden, wie sich die Romane zu dem Diskurs der neuen Kriege und der postheroischen Gesellschaft positionieren, auf welche Weise Figuren und Handlungsräume von Autoren konstruiert werden. Das Erzählen von Geschichten, die in neuen Kriegen angesiedelt sind, erfordert zuerst die Entstehung neuer Narrationen, neuer Settings und neuer Figurenschemata, denn die Entwürfe für das Erzählen von Kriegsgeschichten vergangener Epochen sind als überholt einzuschätzen. Dabei soll aber mitgedacht werden, dass die Kriege der Vergangenheit sich im Raum und in der Zeit dehnten. An den Kriegshandlungen nahmen immer große Heere teil. Die Autoren, die doch das Wagnis unternommen haben, vom Krieg zu erzählen, standen vor der Herausforderung einer Begrenzung des Personenensembles des Romans, der Notwendigkeit von Zeitraffern, der Fokussierung auf bestimmte Zeitausschnitte. So ging es poetologisch in erster Linie bei der literarischen Fixierung der alten Kriege um eine ästhetisch plausible Reduktion eines Massenereignisses auf die erzählbare Sphäre von Kleingruppen an begrenzten Orten in einer real fassbaren Zeit. Der Akt der Begrenzung der Zeit und Einschränkung des Personals sowie der Handlung sind 39 Herfried Münkler. »Was bedeutet Krieg in unserer Zeit? Gespräch mit Thilo Kößler.« http:// www.deutschlandfunk.de/kriegssplitter-von-herfried-muenkler-was-bedeutet-krieg-in.1310. de.html?dram:article_id=334482, 19.05.2015. (Zugriff am 20.09.2019). 40 Maximilian Probst. »Held auf dem Sprung«. Die Zeit, 2018, 29 (11.07.2018). 41 Jacob Augstein. »Peng. Das saß«. Der Spiegel, 2018, 30 (21.07.2018).

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Bedingung dieser Erzählung und stellen kein Element der erzählten Geschichte dar. Mit der Veränderung der Kriegführung, der Kriegsmotivation, der Kriegsakteure und der Formen der Friedensabkommen verändert sich die Poetik der Kriegs- und Krisenerzählungen. Obwohl global ausgetragen, finden die neuen Kriege lokal statt, sie werden asymmetrisch geführt und repräsentieren keine Massenbewegun- gen, sondern kleinere, nicht immer soldatische Gruppen. So ist die Reduktion des Settings eine Folge der Wandlung der Kriegsart und somit ein wichtiger Teil der Handlung. So lässt sich feststellen, dass die Eingrenzung der Anzahl der Akteure bereits aus der neuen Art der Kriegführung heraus stattfindet und nicht aus einer narrativen Notwendigkeit. Die meisten Begegnungen der feindlichen Gruppierungen finden in einer begrenzten Zeit, an einem klar umrissenen Ort und mit einer kleinen Anzahl von Protagonisten statt. Die zumeist verwendeten Situationen sind Hinterhalt, Attentat, hauptsächlich Selbstmordattentat, Angriff auf Lager oder Angriff auf einen Hof (Dirk Kurbjuweit: Kriegsbraut, Ingo Niermann und Alexander Wallasch: Deutscher Sohn). Der Soldat/die Soldatin der neuen Kriege befindet sich anders als in den Texten über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg weder an der Front noch im Kessel, er/ sie hält sich vorwiegend in einem vor militärischen Angriffen geschützten Raum auf: im Camp, im gepanzerten Fahrzeug – das allerdings nur den Anschein eines geschützten Raumes für die Soldaten gibt, denn das Fahrzeug gehört zum äußeren Raum – oder zu Hause in Deutschland. Das Bild des geschützten Raums wird durch den äußeren Raum konterkariert: den Raum der unerwarteten Terroranschläge (Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel), den Raum der Geiselentführung (Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne) oder den Raum der Kontakte mit den Einheimischen (Helmut H. Haffner: Geflüsterte Schreie, 2014). Die Grenzüberschreitung im Raum markiert meist den Handlungsbeginn oder den Wendepunkt der Erzählung. Insofern fungieren Irritationen, Störungen, Überschreitungen als das motivierende Moment für eine bestimmte Handlung. Als Konsequenz dessen steht der äußere Raum für die Missachtung der Menschenrechte in der Form von Gewaltmaßnahmen, Gefangenschaften, Tötungen, Hinterhalt, Folter, Geiselentführung und Emigrationszwang. In den vermeintlich geschützten Raum drängen Störungen und Irritationen von Außen ein. Die literarische Konfiguration erhalten sie durch den Einsatz von solchen Motiven wie Angst im Camp, Angst durch verstärke Hinterhaltgefahr bei Erkundungsfahrten und Reisen mit humanitärer Hilfe (Dirk Kurbjuweit: Kriegsbraut), posttraumatische Krankheiten, die nach Heimkehr der Soldaten ausbrechen (Sabrina Janesch: Ambra, 2012, Wolfang Schorlau: Brennende Kälte), Fremd- erfahrungen und Persönlichkeitsstörungen der Heimkehrer (Ingo Niermann und Alexander Wallasch: Deutscher Sohn, Helmut H. Haffner: Gefüsterte Schreie), Trauer nach dem Verlust eines Familienangehörigen (Jochen Rausch:

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Krieg) oder Ausbildung für den Afghanistaneinsatz (Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin, 2011, Isabelle Lehn: Binde zwei Vögel zusammen, 2016). Dies alles macht die Ereignisse in Krisen- und Kriegsgebieten erzählbar. Die sich zumeist als gravierend darstellbaren Einschränkungen der Kriege der Vergangenheit stehen den Autoren nicht mehr im Weg. Die zweite These, die sich aus der Arbeit ergibt, könnte so formuliert werden: Mit dem Aufkommen neuer Kriege ist der Abschied vom heroischen Helden, pathetischen Ausdrucksweisen und Gesten vollzogen worden. Kants Vorstellung vom Krieg, wonach der Krieg, wenn er mit Ordnung und Achtung bürgerlicher Rechte geführt würde, etwas Erhabenes an sich habe,42 ist strukturell außer Kraft gesetzt und damit obsolet geworden.43 Diese Rhetorik findet sich allerdings auch in Kriegserzählungen über den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, jedoch die Gründe dafür waren andere als postheroisch. Die neuen Kriege werden über kleine Gefechte, kaum gelingende, jedoch bedrohliche Hinterhalte, eine starke Passivität der technisch besser ausgestatteten Seite, über Drohnenangriffe entschieden, beziehungsweise in die Länge gezogen (Dirk Kurbjuweit: Kriegsbraut, Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne, Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel). Somit haben sie ihren heroischen Effekt, ihre erhabene Wirkung und Bedeutungsaufladung verloren. Dementsprechend fällt die Konstruktion der literarischen Figuren aus: Ihre charakteristischen Eigenschaften sind nicht heroisch zu nennen, meist sind es etwas verängstigte, wenig über den Krieg wissende junge Figuren, die des Öfteren im Einsatz oder nach der Heimkehr an psychischen Störungen leiden (Ingo Niermann und Alexander Wallasch: Deutscher Sohn, Sabrina Janesch: Ambra, Helmut H. Haffner: Geflüsterte Schreie). Die Krankheitsbilder der Soldaten und Menschen, die mit dem Krieg konfrontiert werden, werden vor dem Hintergrund einer geringen Relevanz der Kriege für die westliche Gesellschaft dargestellt. Diese Figuren befinden sich in einem Zustand, der hier als ›ontologische Unsicherheit‹ bezeichnet wird, oft finden sie keine Kraft und keinen Mut, die Angst, die im Laufe des Einsatzes entstand, zu überwinden. Da diese Angst nicht auf einzelne bestimmbare Objekte bezogen werden kann, ist sie im tiefsten menschlichen Gefühl verankert. Die ihr unterliegenden Menschen werden an ihre Grenzen getrieben, die unter Bezug auf Mittel der literarischen Fiktion ihre künstlerische Fixierung erhalten. Dadurch, dass die Kriege an den Peripherien und Grenzen der Wohlstandsgesellschaft stattfinden, hinterlassen sie hauptsächlich mediale Bilder der Zerstörung,es entsteht der Anschein der Abwesenheit des Krieges in weiten Teilen

42 Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe. Bd X. Hg. v. V. W. Weischedel. Frankfurt/ Main: Suhrkamp, 1979, 187f. 43 Vgl. Reiner Leschke. »Krieg als schöne Medienübung«. Gansel, 347.

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Europas. Infolgedessen entfremden sich die an dem Krieg teilnehmenden Soldaten von der Gesellschaft und leiden an Einsamkeit. Umso mehr wird die Gesellschaft durch plötzlich eindringende Gefahrenmomente, wie Attentate, Morddrohungen, die sie territorial direkt betreffen, erschüttert (Robert Menasse: Die Hauptstadt, 2017, Katharina Hacker: Die Habenichtse, 2006). Allerdings bleibt die gesellschaftliche Aufstörung nur punktuell und oft ohne nachhallende Wirkung, damit sinken die soziale Relevanz der Kriege und die Betroffenheit, die sie auslösen. So eröffnen »postheroisch« und »asymmetrisch« verlaufende Kriege neue narrative Möglichkeiten. Die heroische Kampfführung blickt auf eine lange erzählerische Tradition zurück. Umso mehr bestimmen die Erzählungen von Helden und ihren Heldentaten die antike Literatur und alle späteren Texte, die sich an ihr ein Beispiel nahmen. Für die postheroische Narration müssen erst noch poetologische Strategien erarbeitet werden. Die heroische Narration wurde vom Subjekt hergeführt, sodass die Handlung um die heldenhafte Einzelfigur aufgerollt werden konnte. Dagegen werden die neuen Kriege mit einer technologischen Überlegenheit der westlichen Seite geführt, was allein schon ganz stark den Soldaten den Anschein des weniger Heldenhaften verleiht (Frank Schätzing: Breaking News, Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin, Wolfgang Schorlau: Brennende Kälte). Dementsprechend gibt es auf der Seite der Rebellen, der Einzelkämpfer mit schlechter militärischer Ausrüstung, des determinierten Selbstmordattentäters (Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne) aber weiterhin das heroische Potenzial. Entscheidend dabei ist allerdings, dass die Literatur über ein großes Arsenal an positiven Beschreibungsformen für die zweite Gruppe verfügt, für die erste sie dagegen eher ein Schema von negativen Bildern und Konnotationen aufzuweisen hat. Denn in der literarischen Tradition zählt viel mehr die persönliche, von Subjekt ausgehende Leistung als eine industriell-technologische, militärische Übermacht. Dieser Umstand macht die Konfiguration der Figuren kompliziert, weil die Autoren und Autorinnen nicht auf bestehende Muster zurückgreifen können und eine völlig neue Poetik der Kriegstexte der deutschen Literatur entwerfen müssen. Um den Konnex plastischer zu gestalten, führt Münkler für die neue Soldatenkonstellation den in der Literatur und Kunst weitverbreiteten Topos des Kampfes zwischen David und Goliath an, dabei steht David für die Rebellen, die Taliban, die afghanischen Aufständischen und Goliath für die westlichen Streitkräfte: Goliath hat ein Imageproblem: Er ist zu groß, zu ungelenk und furchtbar hässlich. Er ist der Inbegriff einer hochgerüsteten Kriegsmaschine ohne menschliche Regung. Selbstverständlich sind unsere Sympathien auf der Seite dessen, der dieses hässliche Monstrum zu Fall bringt. […] Die Bundeswehr ist in Afghanistan in der Goliath-Rolle, sie ist ein Teil des gewaltigen Goliaths, den die westlichen Streitkräfte am Hindukusch aufgerichtet haben. […] Die

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Taliban […] verfügen nicht über schwere Waffen und vor allem haben sie keine Luftwaffe. Sie agieren als leichte Infanterie, sie haben die David-Rolle besetzt.44

Die ungleichen Kampfbedingungen »versetzen die übermächtig erscheinenden, realiter aber höchst verwundbaren westlichen Streitkräfte in eine nahezu aussichtslose Lage.«45 Nun steht die literarische Darstellung vor dem formal-ästhetischen Dilemma, wie die Rollen in der Diegese verteilt werden sollen. Denn eine gelungene Konzeption der Erzählung beruht oft auf einer Fraktur, die ein direktes Verstehen ermöglicht. Auf der Textebene werden Informationen geliefert, die anhand sprachlich-kultureller Muster entziffert werden sollen. Der Leser verfügt über Frames und Skripts, die ihm das Entziffern von im Text gespeicherten Informationen erleichtern. Wenn aber semiotisch konnotierte Stärke und Schwäche anders zu bewerten sind, wird der Autor vor erhebliche Schwierigkeiten der Umsetzung des Themas gestellt. Denn der Leser ergänz[t] dann die Angaben im Text automatisch um das, was nach Maßgabe solcher kulturellen Muster normalerweise dazugehört, und bilde[t] dadurch seine Vorstellung der erzählten Welt und auch die Erwartungen, was hier weiter geschehen könnte.46

Die Umkehrung der Figurenkonzeption kann zu normativen Irritationen führen: Die Figuren erhalten nicht das für Kriegsfiguren notwendige Pathos und sie entbehren einer klassisch gewordenen Erhabenheit im Sinne Kants47 (Jochen Rausch: Krieg, Ingo Niermann und Alexander Wallasch: Deutscher Sohn). Der Gewinn an Erzählbarkeit durch die Reduktion des Settings macht den Verlust des Erhabenen, Heroischen und der kulturellen Rezeptionskonstellationen und Frames nur sehr schwer wett, dazu kommt die Verminderung der Relevanz dieser Störungen für westliche Gesellschaften. So kann es passieren, dass das Erzählen vom Krieg in Afghanistan, anders als das Erzählen über die Kriege, die die Gesellschaften primär betreffen, gar nicht notwendigerweise zur Normalisierung erzeugter Störungen führen muss. Dieser Umstand basiert auf der Verlagerung der Konflikte und Differenzen außerhalb der Gesellschaft. Denn Narrationen normieren und kategorisieren Konfliktdynamiken, indem sie diese 44 Herfried Münkler. »Der tückische David. Von der Führung eines asymmetrischen Krieges.« Der Spiegel, 2010 (10.05.2010), 28–29. 45 Daniel Jacobi, Gunther Hellmann, Sebastian Nieke. »Deutschlands Verteidigung am Hindukusch«. Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 2011, 4, 171–196. 46 Baßler, 2012. 47 Vgl. Leschke, 347.

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in Dramaturgien übertragen. Anders ausgedrückt: Die Kriegserzählungen sind ein notwendiger Teil des Verarbeitungsprozesses, den eine Gesellschaft angesichts einer solchen Störung in Gang bringt. Nun aber fand der Afghanistankrieg, wie viele andere kleine Kriege, am Rande europäischer Gesellschaften statt. Obwohl die Kriege eine verhältnismäßig große Gruppe von Soldaten (schätzungsweise 300.000 Soldaten in 14 Jahren), von ihren Familien und Angehörigen betraf, wurde ihnen kaum mediale Aufmerksamkeit gewidmet. Folglich ist die Funktion gesellschaftlich engagierter Literatur in Hinsicht auf die Normalisierung eingeschränkt und für die breiteren gesellschaftlichen Schichten nicht immer notwendig. Aus diesem Grund entscheiden sich Autoren und Autorinnen, ihre Geschichten inmitten der deutschen Gesellschaft anzusiedeln und aus der Perspektive eines Heim- gekehrten die Geschichten zu erzählen (Ingo Niermann und Alexander Wallasch: Deutscher Sohn, Sabrina Janesch: Ambra). Denn Narrationen fungieren selbst als Irritationsfaktoren, die Geschichten schildern, in denen Figuren entworfen werden, die eine aufstörende Aufgabe übernehmen, den Konflikt mit Bedeutung und Normativität aufladen (Wolfgang Schorlau: Brennende Kälte). Wirft man einen Blick auf die Rezeption der Texte, so fällt auf, dass es für die Wirkung des Textes von Vorteil zu sein scheint, die Diegese nicht allzu weit weg von der Erfahrungswelt der Rezipienten anzusiedeln (Ingo Niermann und Alexander Wallasch: Deutscher Sohn, Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel). Die Erzählungen vermitteln reflexiv das wenig bekannte, oft durch direkte mediale Überlieferung verfälschte Bild der Kriege, legen verborgene Zustände und Stimmungen offen (Frank Schätzing: Breaking News). Daher wird in den Texten zum Afghanistankonflikt weniger der Schwerpunkt auf die Darstellung der antagonistischen Kämpfergruppen gelegt, sondern vielmehr auf die Herausstellung einzelner Figuren und ihrer inneren Vorgänge während und nach dem Einsatz (Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel, Ingo Niermann und Alexander Wallasch: Deutscher Sohn). Ganz anders als es in den Medien praktiziert wird, würde das Verankern der Handlung im militärischen Geschehen zu einer starken Stereotypisierung führen, denn der »Gegner«, damit er ernst genommen werden sollte, müsste ein enormes Bedrohungspotenzial entwickeln, was unter den gegenwärtig gegebenen Kriegsumständen kaum zu realisieren ist. Um in dem von Münkler entworfenen Sinnbild zu bleiben, müsste David grausam und bedrohlich werden, damit die Taten von Goliath zu rechtfertigen wären (Dorothea Dieckmann: Guantánamo). Die Autoren konzentrieren sich daher auf die Schilderung der individuellen Folgen des Einsatzes für die Protagonisten. Eventuell notwendige Kriegshandlungen werden nur am Rande der Diegese geschildert, denn sie bleiben bei aller bei solchen Urteilen gebotenen Vorsicht erstmal nur lokal relevant. Die Figuren, die als Protagonisten auftreten, stehen nolens volens auf der überlegenen, militärisch und technologisch bestausgerüsteten Seite (Wolfgang Schorlau: Brennende Kälte).

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Es führt dazu, dass die Entscheidung, sie mit heldenhaften Zügen auszustatten, keine Wirkung erzielen kann. Aus diesem Grund suchen die Autoren andere Modi, wie sie potenzielle Leser für ihre Figuren interessieren können: Die finden sie in der Umkehrung des Gegebenen. Die Figuren werden mit Eigenschaften »aufgeladen«, die sie als verletzbar, anfällig, antimilitärisch, pazifistisch, gutmütig, sensibel oder verwundbar erscheinen lassen (Jochen Rausch: Krieg, Norbert Scheuer: Die Sprache der Vögel, Sabrina Janesch: Ambra, Dirk Kurbjuweit: Kriegsbraut, Dorothea Dieckmann: Guantánamo). Es werden weitgehend postheroische Figuren entworfen, die, um die Kriege der Vergangenheit wissend, nach anderen Formen der Auseinandersetzung mit Konflikten ringen als militärische. Allerdings werden sie fast durchgehend durch die Angriffe der Antagonisten zu militärischen Handlungen gezwungen, die in vielen Fällen als Folge körperliche oder seelische Verletzungen nach sich ziehen. Daher führt die literarische Auseinandersetzung mit einer derartigen Störung zur Überprüfung des bestehenden kollektiven Konsensus, des Normativen. Die Figuren legen Rechenschaft darüber ab, ob das, was sie angenommen und geglaubt haben, auch angesichts des real existierenden militärischen Konflikts oder gar Krieges noch greift und ob ihr Werte- und Normensystem einem konfliktlösenden Kontext standhält (Jochen Rausch: Krieg, Frank Schätzing: Breaking News). Dabei ist es ebenfalls interessant, auf den beruflichen Hintergrund zu schauen, dem die literarischen Figuren angehören. In den meisten Fällen handelt sich um Berufsgruppen, die so bis zur Entwicklung des Genres Afghanistan-Roman keiner Literarisierung unterlagen: der Berufssoldat (Wolfgang Schorlau: Brennende Kälte), die Berufssoldatin (Dirk Kurbjuweit: Kriegsbraut), der Journalist, der in Begleitung des Militärs unterwegs ist und unter dessen Schutz und Kontrolle er steht (Frank Schätzing: Breaking News, Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne), die Zivillisten, die für Kriegssimulationen beschäftigt werden (Isabelle Lehn: Binde zwei Vögel zusammen) sowie Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten, die speziell für Folterverhöre gegenwärtig ausgebildet werden (Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin). Die Gültigkeit des Konfigurationsmodells für die Literarisierung des Afghanistankrieges weist darauf hin, dass sich im literarischen Feld offenbar ein bestimmter narrativer Modus des Gedenkens an den Afghanistankrieg etabliert hat. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Hinblick auf die neuen Entwicklungen im Genre der Kriegsliteratur von einer Gattung ›des Kriegsromans‹ der postheroischen Gesellschaft zu sprechen ist. Um auf den theoretischen Kern der Gattung zu kommen, seien folgende Merkmale genannt: die Entwicklung einer postheroischen Soldaten-Innenfigur, die Konzentration der Erzählung auf die Innenperspektive der Figuren, die Hervorhebung der psychischen Belastung der Figuren, ein weitgehender Verzicht auf Darstellungen des äußeren Kriegsgeschehens und der militärischen Auseinandersetzungen, die Eingrenzung des

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Settings, eine kritische Einbettung militärischer Einsätze der westlichen Streitkräfte in das weitere Weltgeschehen, die Diskussion politischer und gesellschaftlicher Fragestellungen und die Erarbeitung einer pazifistischen Aussage des Textes. Innerliterarisch hat die postheroische Tendenz für den Text eine strukturbildende Funktion: Der Protagonist kann moralisch gewissermaßen unbelastet am Krieg teilnehmen, weil er zum einen im humanitären Auftrag wirkt und zum anderen über die Geschichte der vorigen Kriege Bescheid weiß, ohne die entsprechenden Primärerfahrungen gemacht zu haben.48

48 Der Beitrag basiert auf Analysen, die im Band Monika Wolting. Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur. Heidelberg: Winter, 2019, durchgeführt wurden.

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Wolfgang Benz. Im Widerstand. Größe und Scheitern der Opposition gegen Hitler. München: C. H. Beck, 2018, 556 pp., Ill., 32,00 € [978-3406-73345-1]. Der Widerstand gegen die NS-Diktatur, ein zentraler Forschungsgegenstand der Neueren Geschichte, ist insofern gerade auch für ein breiteres Publikum von großem Interesse, als sich daran erweist, dass die Geschichte – entgegen postmodernem Verständnis – durchaus Lehren zur Reaktion auf einen Unrechtsstaat bereitzuhalten vermag. Neben bloßem Informationserhalt bietet die große Übersichtsdarstellung von Wolfgang Benz somit eine zweite Lesestrategie. Umfassend berichtet der Verf. von geglückten und missglückten Versuchen unterschiedlicher Tragweite und Signalkraft, die Maschinerie des totalitären Staates zu (zer-)stören; das breite wie vollständige Spektrum reicht dabei von der Produktion von Flugblättern bis zum Attentatsversuch auf Adolf Hitler. Da Widerstand aus allen Bevölkerungsschichten und -gruppen heraus erfolgte, ergibt sich zwangsläufig eine sozialgeschichtliche Ausrichtung und Sortierung, die selbst beim Anschlag vom 20. Juli, einem von der histoire événementielle wie auch von der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit lange Zeit favorisierten Exempel, überzeugend beibehalten wird (vgl. 416–430). Angesichts der 1945 massenhaft einsetzenden Schutzbehauptungen legt der »Prolog« (9–22) die gebotene valide Definition der Begriffskonstellation »Widerstand gegen den Nationalsozialismus« vor, die explizit voraussetzt, dass die vorgebliche, grundsätzlich oppositionelle persönliche Einstellung zum NS-Regime durch konkrete und persönliche Gefährdung implizierende Taten komplettiert werden muss (vgl. 16ff.). Der einzelnen Widerstandshandlung eignet dabei in jedem Fall eine hohe, von den Widerstandkämpfern wie vom Regime wahrgenommene Zeichenhaftigkeit, ja Signalwirkung.

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Als ergiebiger interdisziplinärer Einstieg in die Materie dient, ungewöhnlich für historiographische Darstellungen, eine konzise Überschau jenes Widerstandes, den so hellsichtige wie engagierte Beobachter dem Nationalsozialismus schon vor der sogenannten Machtergreifung entgegensetzten (23–63). Nach zwei, den politischen Parteien nahestehenden Organisationen (Reichsbanner Schwarz-RotGold und ab 1931 die Eiserne Front, 55–60) wird hier in Auswahl ein dezidierter Widerstand der Feder präsentiert. Zu seinen Vertretern gehören neben bekannten, den Nationalsozialisten verhassten Publizisten (Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Erich Mühsam) und Autoren (Friedrich Franz von Unruh, 60–63) auch heutzutage weitgehend vergessene Namen, beispielsweise Walter Gysling (Der Anti-Nazi. Handbuch im Kampf gegen die NSDAP, 1930; 34f.) oder Werner Hegemann, Autor des noch im Februar 1933 erschienen Buches Entlarvte Geschichte, welches die von den Nationalsozialisten betriebene Instrumentalisierung der großen Gestalten der deutschen Geschichte dekonstruiert (50ff.), weiterhin der Mathematiker Emil Gumbel (32f.) und der Jurist Hans Achim Litten (53ff.). Das konservative Lager vertreten die Nationalbolschewisten Ernst Niekisch und A. Paul Weber sowie, signifikant für die Haltung des Kulturbetriebes insgesamt, der zwischen Anpassung und Widerstand changierende Zeichner Erich Ohser (38–44). Im Hauptteil stellt der Band derart umfassend den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in seiner ganzen Diversität dar, so dass der Rez. sich auf einzelne Personen und Gruppen beschränken muss. Eine grotesk anmutende, weniger bekannte Episode bildet der von bayerischen Monarchisten in völliger Verkennung des Nationalsozialismus noch Anfang März 1933 betriebene Versuch einer Re-Installierung der Wittelsbacher Monarchie; man mag hier die Schwierigkeiten des Konservatismus mit dem NS-Staat ausmachen, indes führen Filiationen zum Kreis um Stauffenberg (64–74). Den Widerstand des linken politischen Spektrums dominieren die beiden großen, auch nunmehr strikt getrennt agierenden Linksparteien. Nachdem die Pariser »Auslandsleitung« der KPD anfangs Flugschriften ins Reich einschmuggeln ließ, favorisiert sie ab 1935 statt spektakulärer Aktionen die (riskantere) Strategie der Überzeugungsarbeit in den Betrieben (75–79). Die nicht linientreuen und »eigentlichen Protagonisten des Widerstands der Arbeiterbewegung« (79) präsentiert der Verf. am eindrücklichen Beispiel der Kommunisten Alfred und Lina Haag (79–86) und der bis zu ihrer Zerschlagung 1936 in Hannover tätigen Sozialistischen Front um den Sozialdemokraten Werner Blumenberg (97). Das Unterkapitel über die von Prag, Paris und schließlich London aus operierende Exil-SPD (86–98) führt sämtliche damals namhaften sozialdemokratischen Politiker auf, u.a. die an der Erhebung des 20. Juli beteiligten Julius Leber und Adolf Reichwein. Nennenswerter Widerstand von Seiten der Gewerkschaften existierte nicht (99–103). Als effizientere, da parteipolitisch ungebundene und den Legalitätskurs der SPD

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missachtende Gruppierungen der Linken zeigt der Verf. die »Roten Kämpfer« und »Neu Beginnen« (104ff.) sowie den Internationalen Sozialistischen Kampfbund mit Ludwig Gehm (107–111). Festzustellen ist in diesem Zusammenhang auch, dass die seit 1935 angestrebte Sammlung aller linken Kräfte in einer antifaschistischen Einheitsfront nach französischem Vorbild an Unterschieden und Abgrenzungszwängen geradezu zwangsläufig scheitern musste (111–116). Die insgesamt sehr ausführlich dargestellten Positionen der christlichen Kirchen (156–207) kennzeichnen auf protestantischer Seite die von den »Deutschen Christen« propagierte weltanschauliche Neutralität bzw. bei den Katholiken eine letztlich regierungskonforme Einstellung (157f.). Widerstand ging folglich stets, auch innerhalb der sogenannten Bekennenden Kirche (162–164), die eine Bewahrung der christlichen Lehre anstrebte, von Einzelpersonen aus (u. a. die protestantische Sozialarbeiterin Marga Meusel, 160ff., Martin Niemöller, 168f. und Rupert Mayer, 170f.), was auch für Reaktionen auf die »Reichskristallnacht« (177–181) und den Krankenmord (181–183) zutrifft. Das Beispiel des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen (184–187), der die »Euthanasie« von der Kanzel aus verurteilte und dessen Seligsprechung 2005 eine kontroverse Debatte über seine politische, nämlich deutsch-nationale Haltung auslöste, zeigt, möglicherweise exemplarisch, dass bei der Bewertung von Widerstandkämpfern moralische Schwarz-Weiß-Kategorien nicht mehr eindeutig greifen. Zur Reaktion auf die Judenverfolgung (194–205) resümiert der Verf.: »Die christlichen Kirchen haben angesichts des Holocaust die Glaubensprüfung nicht bestanden, und es hat lange gedauert, bis sie darüber zu reflektieren begannen.« (194) Die Gründe hierfür sind zweifelsohne die hierarchischen und konservativen innerkirchlichen Strukturen sowie permanenter Behauptungs- und Rechtfertigungsdruck der beiden christlichen Kirchen gegenüber dem atheistischen NS-Staat. Komplementär legt der Verf. übrigens im Kapitel »Katholische Martyrologie und christliche Barmherzigkeit« dar, wie die katholische Kirche bei Kriegsende über die »Rattenlinie« zahlreichen NS-Kriegsverbrechern die Flucht (teils mit dem Vatikan als Zwischenstation) ins Ausland ermöglichte (207–213) und erkennt »ein Problem kirchlichen Selbstverständnisses im Spannungsfeld von Anpassung und Widerstand« (213), womit sich die Rolle der Kirchen im Nationalsozialismus bündig resümieren lässt. Durchgängig grundsätzlich ablehnend gegenüber dem Nationalsozialismus verhielten sich als einzige christliche Glaubensgemeinschaft lediglich die Zeugen Jehovas, die 1937 mit einer spektakulären Flugblattaktion (»logistische Meisterleistung«, 192) hervortraten (190–194). Die ausführliche Würdigung einer Einzelperson erfolgt im Kapitel »Der Mann aus dem Volk: Georg Elser« (129–154); das Diktum des Verf., Elser sei »heute neben (bei vielen sogar vor dem Grafen Stauffenberg) der eigentliche Held des deutschen Widerstands« (152), beweist, dass die Wahrnehmung bzw. Instrumen-

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talisierung des deutschen Widerstandes nach 1945 in beiden deutschen Staaten stets zeitgebunden und daher einem Wandel unterworfen war. Im Falle Elsers wird, was eine Identifizierung heutzutage zweifelsohne erleichtert, das moralisch integre Individuum gewürdigt. Auch geht der Verf. ausführlich auf den Diskreditierungsversuch des Historikers Lothar Fritzes ein (vgl. 153ff.), der Elser 1999 vorwirft, den Tod Unschuldiger in Kauf genommen zu haben, und folgert richtig, dass man mit dem »Versuchsballon am schlichten Tischlergesellen« (155) habe erproben wollen, »wie tragfähig der gesellschaftliche Konsens über den Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft« (155) tatsächlich sei. Eine erst spät rehabilitierte Widerstandsgruppe ist die Rote Kapelle um das Ehepaar Harro Schulze-Boysen und Libertas Haas-Heye, Arvid und Mildred Hanack sowie Günther Weißenborn und Adolf Grimme (215–244): Ihre sozial und weltanschaulich heterogene Zusammensetzung, der beträchtliche Frauenanteil und insbesondere die Spionage für Moskau machte sie den Nazis besonders verhasst – letzteres bot den beiden deutschen Staaten nach 1945 die Möglichkeit der Glorifizierung bzw. der Verdammung (vgl. 237–244). Bereits der verhältnismäßig knappe Raum (416–425; außerdem ein etwas reißerisches Kapitel zu den Strafen der Verschwörer, einschließlich der sogenannten Sippenhaft, 425–430), der hier dem Attentat vom 20. Juli gegeben wird, zeigt eine ambivalente Sicht auf den Kreis um Stauffenberg, wenn man nicht gar auf eine sich allmählich innerhalb der Geschichtswissenschaft wandelnde Einschätzung erkennen möchte. Während schon in den 1950er Jahren im Zuge der Wiederbewaffnung mit den Attentätern sowohl eine gesellschaftliche Integration der Bundeswehr betrieben, als auch die Armee eines demokratischen Staates mit dem »Staatsbürger in Uniform« geschaffen werden sollte, brauchte es genau ein halbes Jahrhundert, bis die beiden Wehrmachtsausstellungen 1995–1999 und 2000–2004 einem breiteren Publikum in aller Drastik zeigen konnten, was man vorher ausblendete – die vor allem im Osten massenhaft begangenen, völkerrechtswidrigen Kriegsverbrechen der vermeintlich moralisch integren Wehrmacht. Anders als die deutsche Öffentlichkeit, die sich seither eine distanzierte, jedenfalls kritische Sicht auf das Attentat zu eigen gemacht hat, gelangt der Verf. zu einer letztlich positiven Einschätzung: Obwohl er den Verschwörern Zögerlichkeit, Methodendiskussion und moralische Bedenken attestiert (vgl. 424) erkennt er »eine notwendige symbolische Geste, die als Erinnerung Legitimation stiftete für den Neubeginn nach der Befreiung Deutschlands nach außen.« (430) Dass die Pläne der Offiziere nach dem Tode Hitlers keineswegs einen demokratischen Staat vorsahen, da dies ihrer weltanschaulich-politischen Überzeugung zuwiderlief, so dass sie schwerlich zu Vorbildern taugen –, dies unterschlägt der Verf. freilich. Komplementär dazu ist das 1943 von ranghöchsten Wehrmachtsoffizieren und kommunistischen Emigranten (u.a. Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck) in Mos-

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kau gemeinsam gegründete Nationalkommitee Freies Deutschland zu sehen, das mit Aufklärung, Rundfunksendungen und Flugblättern Aufklärungsarbeit unter den Wehrmachtssoldaten leisten wollte (430–438); nach Kriegsende war dieser Widerstand über ideologische Grenzen hinweg den beiden deutschen Staaten verständlicherweise höchst suspekt. Ablehnung bzw. Diskreditierung durch die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik traf auch lange Kriegsdienstverweigerer und Deserteure – hier befindet der Verf., es liege durch politische und private Gründe »ein individueller Akt des Widerstands durch Entzug« (439) vor; den Kulminationspunkt markierte 1978 der Skandal um den Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg Hans Filbinger, vormals Marinerichter (441). Die »Kriegsverräter« – ein weitgefasster Begriff, worunter der Nazi-Jargon jedes ansatzweise defätistische Verhalten zusammenfasste – erfuhren ohnehin erst 2009 Rehabilitierung (441). Durchaus kritisch der eigenen Disziplin gegenüber, thematisiert der Verf. im »Epilog: Widerstand in Deutschland und im Exil« (463–482) am Exempel des Historikers Friedrich Meinecke die Rolle der Geschichtswissenschaft im NS-Staat (463–468) sowie die nach 1945 erfolgte Verlagerung des Themas »Widerstand« auf außer-universitäre Forschungseinrichtungen, wobei die zwei deutschen Staaten der Forschung unterschiedliche Prämissen vorgaben, so dass ein selektiver Blick jeweils ideologiekonforme Widerstandkämpfer propagierte ‒ und heroisierte (vgl. 468f.). Schließlich, ganz am Ende des Buches, umreißt der Verf. drei Phasen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Widerstand: Nach Verleugnung und Heroisierung erfolge derzeit »die Historisierung, d. h. die kritische Betrachtung und Einordnung in den gesellschaftlichen und politischen Kontext der NS-Zeit« (481). Dem entspricht der Band nicht nur auf vorzügliche Weise: Wolfgang Benz hat ein Standardwerk mit Handbuch-Charakter vorgelegt, das, sehr gut lesbar und mit umfänglichem Anmerkungsteil und Literaturverzeichnis versehen, die Kategorien »Sachbuch« und historiographische Abhandlung mit höchster Souveränität zusammenführt (und damit auch beiläufig zeigt, dass diese Unterscheidung obsolet ist). Die sachlich, ohne Pathos erzählten Geschichten vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus enthalten selbst in ihrem Scheitern Momente von großer Strahlkraft – historia docet. Thomas Amos, Frankfurt/Main

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Marian Füssel. Der Preis des Ruhms. Eine Weltgeschichte des Siebenjährigen Krieges. München: C. H. Beck, 2019, 656 pp., Ill., 32,00 € [978-3-406-74005-3]. Der Siebenjährige Krieg (1756 – 1763) dauerte länger als die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Wie diese war er ein Weltkrieg, wurde er doch auf verschiedenen Kontinenten ausgefochten. Heere und Flotten bekämpften sich unter anderem in Europa, in Nordamerika, in der Karibik, vor der Westküste Afrikas, in Indien, auf den Philippinen. Der in Göttingen lehrende Professor Marian Füssel mahnt, die eurozentristische Perspektive auf den blutigen Krieg aufzugeben und dessen globale Verflechtungen (entanglements) ins Auge zu nehmen. In seinem Buch gelingt ihm das, mehr noch: Sprachlich überzeugend versteht er es, Mikro- und Makrodimensionen des Krieges miteinander zu verknüpfen und auch die Perspektive des gemeinen Soldaten oder der Zivilistin miteinzubeziehen. Dazu verwendet Füssel mit Gewinn rund 200 Selbstzeugnisse auch aus Großbritannien oder aus Frankreich. Zwar stammen diese Texte vorwiegend aus der Hand der schreiberfahrenen Eliten (Hochadel, Offizierskorps, Bürgertum), doch haben auch Bauern oder Soldaten und Unteroffiziere über ihre Kriegserlebnisse berichtet. Berühmtestes Beispiel dafür ist mit Sicherheit der Schweizer Söldner in preußischen Diensten und Deserteur Ulrich Bräker, »der arme Mann aus dem Tockenburg«. Doch finden sich auch eine ganze Anzahl zum Teil wenig bekannter Texte, die Füssel einbaut. Es muss indessen angemerkt werden, dass die Überlieferung dieser Quellen zum Teil problematisch ist (Manuskriptverluste). Mich jedenfalls haben die Kriegserfahrungen der »Gemeinen« in Marian Füssels Buch am meisten fasziniert – von der ritualhaften »Montirung« (Einkleidung) bis zur eventuellen Desertion. Die ereignisgeschichtlichen Passagen wirken für den Rezensenten demgegenüber etwas ermüdend, obwohl Füssel bewusst so manche Lücke eingebaut hat. Hier ist der Autor meines Erachtens noch zu stark der traditionellen Militärgeschichte verhaftet. Mehr überzeugt hat mich Füssels Deutung der Religion als mobilisierender Faktor. Der Siebenjährige Krieg war – das war schon den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen klar – kein Religionskrieg, dafür waren die Allianzen zu heterogen. Selbst der Papst verwahrte sich, von einer »guerra di religione« zu sprechen. Preußenkönig und Feldherr Friedrich II., an sich ein aufgeklärter, durchaus religionskritischer Monarch, verstand es trotzdem immer wieder, die Konfession als agens ins Spiel zu bringen. Er tat dies raffiniert, mit Flugblättern und Fälschungen, was uns daran erinnert, dass der Siebenjährige Krieg auch ein Medienkrieg war. Nach jeder nicht eindeutig verlaufenen Schlacht lieferten sich die verfeindeten Parteien ein mediales Nachspiel. Deutungskämpfe über Sieg und Niederlage prägten den

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Ausstoß von den so populären Flugschriften und Zeitungen, die begierig gelesen wurden. Der Siebenjährige Krieg produzierte auch eine Souvenirindustrie mit Tabakdosen oder Vignetten. Er weist in vielen Dingen in die Moderne. Mit Marian Füssels Buch erhält er nun eine hervorragende Gesamtdarstellung, die bald als Klassiker des Genres gelten wird. Fabian Brändle, Zürich

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Nikos Späth. Das Thema hatte es in sich. Die Reaktion der deutschen und amerikanischen Presse auf Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. Eine vergleichende Rezeptionsstudie über Fronterlebnis- und Weltkriegserinnerung in der Weimarer Republik und den USA in den Jahren 1929 und 1930. Göttingen: V&R unipress, 2020 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 35), 619 pp., 75,00 € [978-3-8471-1021-7]. Es war der größte deutsche Romanerfolg aller Zeiten: Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. Er war ebenso erfolgreich, wie umstritten oder gar umkämpft. Solcherart spektakuläre Auseinandersetzungen um einen Roman waren bis dato eine singuläre Erscheinung in der deutschen Literatur- und Mediengeschichte. Die Diskussionen lösten sich rasch von der Betrachtung des Buches als literarisches Kunstwerk. Die Hinweise von Verlag und Autor, dass es sich eben um einen Roman handele, wurden von weiten Teilen des Lesepublikums ignoriert. Hartnäckig wurde der Roman als Erlebnisbericht gelesen. Auch bei der Betrachtung des Filmes, der in einer noch deutlicher politisch aufgeheizten Situation seine Premiere hatte als das Buch, dominierten keine künstlerischen Bewertungen. Die erstaunliche Rezeptionsgeschichte des Romans und seiner zwei Jahre später erfolgten Verfilmung in den USA ist bereits in zahlreichen Untersuchungen beschrieben worden. Nikos Späth hat es unter dem bei F. C. Weiskopf entlehnten Titel »Das Thema hatte es in sich« unternommen, Die Reaktion der deutschen und amerikanischen Presse auf Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues zu systematisieren, zusammenzufassen und zu erweitern. Dass er sich bei der Rezeption auf die deutschen und amerikanischen Beiträge der Jahre 1929 und 1930 beschränkt, ist angesichts der Unmenge an publizistischen, journalistischen, politischen u.a. Wortmeldungen sinnvoll. Späth hat ca. 300 Artikel, Anzeigen und andere Schriften aus 43 Presseorganen untersucht. Dass er sich bei den deutschsprachigen Äußerungen vor allem auf die Tagespresse konzentriert und nur da, »wo Lücken im Bestand […] aufgetreten sind« andere Pressepublikationen heranzieht, ist jedoch bedauerlich. Gerade ein Blick auf Zwischentöne und eventuelle regionale und politische Differenzierungen unterhalb der »Königsebene« würden das Remarque-Bild vielleicht erweitern. Bei den US-Quellen, hier betritt der Autor z. T. Neuland im deutschsprachigen Raum, stehen ebenfalls die auflagenstarken Tageszeitungen im Vordergrund. »Um eine möglichst große geographische Abdeckung sicherzustellen«, werden zudem Regional- und Lokalblätter sowie literarische und kulturelle Zeitschriften einbezogen. Trotz aller Beschränkungen: Der Umfang der vorliegenden Untersuchung ist mit 619 Seiten recht beachtlich. Vor den Analysen zur Rezeption von Roman und Film Im Westen nichts Neues führt Späth den Leser durch mehrere Kapitel in das Thema ein. Hier ist – anlehnend an den Romantitel – nichts Neues zu vermelden. Der Autor fasst hauptsäch-

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lich die Ergebnisse der Remarque-Forschung der letzten drei Jahrzehnte präzise zusammen. Lesenswert sind die Kapitel jedoch in jedem Fall. In »Deutschland und die USA vor und nach 1917: Eine dialektische Beziehung« skizziert er das widersprüchliche Verhältnis beider Staaten, die gegenseitige Wahrnehmung sowie positive und negative Stereotype bei der jeweiligen Beurteilung des Anderen, die sich im Laufe der Zeit allerdings mehrfach veränderten. In den beiden darauffolgenden Kapiteln widmet sich der Autor, getrennt für Deutschland und die USA, dem Kriegserlebnis und der Kriegserfahrung sowie deren zeitgenössischer und später vermittelter Deutung. Als Quelle für die Welt des »kleinen Mannes« bezieht sich Späth häufig auf Ego-Dokumente, wie z. B. Feldpostbriefe, da diese authentischen Texte den größten Bezug zu den oftmals autobiographisch gefärbten Kriegsromanen besitzen. Hierfür hat er alle einschlägigen und relevanten Publikationen der vergangenen Jahrzehnte zur Kenntnis genommen. In einem weiteren Kapitel wird auf die Genese und die Publikation des Romans näher eingegangen und dieser in die literarische Landschaft jener Zeit eingeordnet. Späth referiert hier die bekannten, meist zur Beförderung des Verkaufserfolgs vom Ullstein-Verlag befeuerten Mythen und ihre spätere Dekonstruktion. Dass sich der rasante Erfolg des Romans in Deutschland wenig später in den USA wiederholte und Remarque damit erstaunlicherweise sogar amerikanische Erfolgsautoren in den Schatten stellte, ist dem deutschen Leser sicher nicht so geläufig. Die zuvor erschienenen kriegskritischen Werke einheimischer Autoren wie Ernest Hemingway, E. E. Cummings oder John Dos Passos waren längst nicht auf eine so große Resonanz gestoßen wie ihr deutsches Pendant mit seiner desillusionierenden Darstellung der Front. (14)

Das Erfolgsrezept bei der Vermarktung allerdings war das gleiche: »Wie in Deutschland war der Buchtext auch in den USA in voller Länge als Fortsetzungsroman für Zeitungsleser erhältlich.« (118) Anders als in Deutschland war der Vorabdruck jedoch nicht nur auf eine auflagenstarke Tageszeitung beschränkt, sondern erfolgte auch in mehreren Regionalblättern. Welch große Bedeutung die Verarbeitung und Deutung des Kriegserlebnisses zunächst am Anfang und dann explosionsartig am Ende der 1920er Jahre hatte, wird im anschließenden Kapitel untersucht. In Kapitel sieben schließlich kommt Späth zum eigentlichen Thema seines Buches. Einleitend konstatiert er einen grundlegenden und bemerkenswerten Unterschied zwischen den Presselandschaften in Deutschland und den USA. Während sich deutsche Blätter als Partei- oder Gesinnungspresse aktiv in die Debatte um Im Westen nichts Neues einbrachten, bestanden bei der US-Presse so gut wie gar keine Zusammenhänge zwischen der politischen

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Heimat des Verlags und der redaktionellen Berichterstattung über die Kriegserzählung des deutschen Schriftstellers. (175)

Die Zeitungen in Deutschland fungierten »nicht nur als Spiegel des Geschehens, sondern ergriffen in dem bald erbitterten publizistischen Streit selbst Partei für oder gegen Im Westen nichts Neues.« (74) Späth ist ausdrücklich zuzustimmen, wenn er schreibt: »So ist die deutsche Remarque-Rezeption gleichsam ein Paradigma für den Untergang der Weimarer Republik.« (15) In der kommunistischen Presse wurde Remarque wegen der fehlenden Benennung der Ursache des Krieges, der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, kritisiert. Sein Pazifismus galt der KPD-Führung zu schwach, um eine wirkliche AntiKriegs-Haltung zu befördern. Generell lehnte die kommunistische Bewegung in den 1920er Jahren den Pazifismus als bürgerliche Strömung ab. Hier wäre ein Blick nicht nur auf die deutsche, sondern auf die deutschsprachige Presse differenzierter gewesen. Die durchgängig ablehnende Haltung von Rote Fahne (Zentralorgan der KPD) und Linkskurve (Organ des Bundes Proletarisch Revolutionärer Schriftsteller) kontrastierte deutlich bspw. mit dem Beitrag von Karl Radek in Berlin am Morgen, einer Zeitung im »Münzenberg-Konzern« und einem in der, in Moskau herausgegebenen, deutschsprachigen Internationale Presse-Korrespondenz. Beide zollen dem herausragenden Werk Remarques unmissverständlich Respekt. Die in diesem Abschnitt von Späth ebenfalls zitierte Zeitschrift Der Klassenkampf ist nur bedingt der kommunistischen Presse zuzuordnen. Eigentlich ist sie eher von linken Sozialdemokraten und Kommunisten außerhalb der KPD beeinflusst und daher zwischen den beiden großen Arbeiterparteien anzusiedeln. Anschließend behandelt der Autor die sozialdemokratische Presse. Diese gehörte zu den vehementesten Verteidigern des Romans und bemühte sich um eine sachliche Auseinandersetzung. Doch auch hier wurde bemängelt, dass es sich bei Remarques Pazifismus um eine bürgerliche Sichtweise auf den Krieg handele. Der proletarische Kriegsroman müsse noch geschrieben werden. Anders aber als die Kommunisten sahen die Sozialdemokraten im bürgerlichen Pazifismus einen Bündnispartner. In zahlreichen SPD-nahen Blättern wurde Auszüge des Romans veröffentlicht. »Die überwiegend positive Rezeption […] durch die sozialdemokratische Presse wurde von den liberalen Zeitungen noch einmal weit übertroffen.« (210) Dass sich hierbei gerade die Blätter aus dem Hause Ullstein, wo der Roman erschienen war, hervortaten, ist z. T. auch Vermarktungsstrategien zuzuschreiben. Doch auch die meisten anderen liberalen und linksliberalen Zeitungen und Zeitschriften, wie z. B. die Weltbühne bejubelten das Buch. Sie konnten als Rezensenten auch eine Vielzahl von Prominenten gewinnen. Die linksliberale Presse der Weimarer Republik hatte nicht nur in der Remarque-Debatte einen großen gesellschaftlichen Einfluss, einen größeren als die ähnliche Ziele und Werte vertretenden Parteien und Bewegungen.

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Die Nationalsozialisten stilisierten Remarque zu einem ihrer Hauptfeinde. Die durchgängig ablehnenden Stellungnahmen waren ebenfalls durchgängig im Gossen-Jargon verfasst. Der NS-Barde Zöberlein sprach von »Latrinenperspektive« und »Kothaufen«. (300) Die Diffamierungen Remarques gipfelten dann 1933 in einem eigenen Spruch bei der Bücherverbrennung. In den USA war die Meinungsführerschaft auflagenstarker Tageszeitungen damals noch weitaus weniger zentralisiert und einflussreich als in Deutschland. »Eine wirklich landesweit operierende Tagespresse gab es noch nicht. Dafür hatten Lokalzeitungen eine große Bedeutung.« (322) Remarque war in den USA deutlich weniger umstritten, wie Späth akribisch dokumentiert. »Immer wieder wurde der Literaturimport aus Deutschland als das perfekte Antikriegsbuch bezeichnet, wobei sich die Rezensenten mit Superlativen überboten.« (329) Die Anti-Kriegs-Haltung stieß bis auf wenige Ausnahmen auf ungeteilte Zustimmung. Der Roman wurde auch nicht so tagespolitisch instrumentalisiert wie in Deutschland. »Nie trug die Debatte kampagnenhafte Züge.« (354) Späth kommt zu dem Resümee, »dass kein einziger Artikel im Kontext der Kriegsliteraturdebatte und Remarque-Rezeption von einem positiven Resultat für die Vereinigten Staaten aus dem Einsatz ›over there‹ sprach«. (369) Festzuhalten ist, dass die Remarque-Debatte zu einer positiveren Wahrnehmung Deutschlands in der US-amerikanischen Öffentlichkeit Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre führte. Die Rezeption der US-Verfilmung nimmt im vorliegenden Buch einen deutlich kleineren Raum als die des Romans ein. Dies entspricht auch der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung. Die politischen Frontstellungen waren ähnlich. Eine kommunistische Kritik am Film gab es jedoch nicht. Dafür eine Verschärfung im rechten politischen Lager. Als der Film 1930 in Deutschland Premiere hatte, waren die Nationalsozialisten bereits so erstarkt, dass der Berliner »Gauleiter« Joseph Goebbels erfolgreich versuchen konnte, die Wehrhaftigkeit der Demokratie auszutesten. Der Film wurde nach Störversuchen der Aufführungen durch die Nazis wegen »Gefährdung des deutschen Ansehens und der öffentlichen Ordnung« für öffentliche Veranstaltungen verboten. Ganz anders die Situation in den USA. »Die Verfilmung von All Quiet on the Western Front durch Universal Pictures stieß bei den amerikanischen Journalisten auf ein mindestens so breites und positives Echo wie wenige Monate zuvor Remarques Roman.« (409) Der Film wurde auch ein Erfolg an den Kinokassen. Es wäre wünschenswert, wenn sich Literaturwissenschaftler oder Medienhistoriker auch der Rezeption von Roman und Film in anderen Ländern und das bis in die Gegenwart hinein annehmen würden. Jens Ebert, Berlin

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Bernd Wegner. Das deutsche Paris. Der Blick der Besatzer 1940-1944. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2019, 259 pp., 39,90 € [978-3-506-78055-3]. Als Wehrmachtsverbände am 14. Juni 1940 in Paris einmarschieren, beginnt mit hoher Symbolhaftigkeit, was am 22. Juni die Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages formal festlegt: die rund vier Jahre dauernde Besetzung Frankreichs, von den Franzosen offiziell l’Occupation und umgangssprachlich »les Années noires« genannt. Absicht des Bandes ist laut des griffigen Titels, das während dieser vier Jahre vorgeblich »deutsche Paris« zu zeigen, wobei dies selbstredend eine contradictio in adjecto ist, die zu keinem Zeitpunkt von der Besatzungsmacht erstrebt wurde. Gemeint ist vielmehr die Wahrnehmung der französischen Hauptstadt aus der Perspektive der dort stationierten Deutschen. Die Quellen – hauptsächlich Korrespondenz, Tagebücher, Aufzeichnungen abgehörter Gespräche in Gefangenenlagern, auch offizielle Akten (vgl. VIII–IX) – bettet der Verf. in seine Darstellung unmittelbar ein. Paris ist mit einer derart breit gefächerten Symbolik aufgeladen und mit vielfältigen Assoziationen verknüpft, dass die Einnahme geradezu euphorisch erlebt wird. Bezeichnend erscheint, gerade in der ambivalenten Ausdrucksweise, die Bemerkung eines siegestrunkenen Unteroffiziers im Juli 1940: »Es war ein einzigartiges Erlebnis, als Sieger in der Hauptstadt des Erbfeindes zu lustwandeln. Es lässt sich nicht beschreiben.« (47); ein anderer bewundert »die ungeheuerliche Leistung Hitlers« (47), und ein Lehrer verkündet 1941 exaltiert: »Me voila [sic]: […] Klassischen Sirenenklängen gleich, so dringt voller Sehnsucht an mein Ohr dein Name – Paris.« (49) Folgende Aspekte werden behandelt: das touristische Pflichtprogramm der Sehenswürdigkeiten, mithin die französischen Erinnerungsorte (64–70), die (für die höheren Ränge luxuriösen) Quartiere (71–78) und die Wahrnehmung der Franzosen im Alltag (79–93). Insbesondere fällt mehrfach das Make up der Französinnen auf (vgl. 83–87); (»[…] ich gewahrte auf ihren Lippen die widerliche Schminke«, 83); mit der Formel »gemalte Frauen, geckenhafte Männer« (87) rekurrieren die Soldaten auf den alten Topos der artifiziellen und im Nazi-Jargon: degenerierten französischen Kultur. Weiter absolvieren die Kriegstouristen das übliche Pflichtprogramm der »Amüsiermetropole« (103), nämlich Nachtleben (103–115) samt dem daheim verbotenen Jazz (149–152), Einkauf französischer Luxusprodukte (118–133) und Kulturbetrieb (140–152). Bei der ausführlichen Behandlung der weit verbreiteten (Gelegenheits-)Prostitution bzw. der Affären höherer Chargen (153–172) will der Verf. einen gewissen Opportunismus der Französinnen erkennen, seien die Besatzer doch Männer gewesen, »denen die Zukunft gehörte, und sie waren Repräsentanten einer Nation, die die Zukunft gestalten würde.« (158) Dass in der Résistance Frauen eine bedeutende Rolle

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spielten und etwa bei Kontrollen bewusst auf die Galanterie der Deutschen setzten, wird unterschlagen. In der Wahrnehmung der Wehrmachtsangehörigen erscheint Paris, obwohl manches fremd, ja unheimlich bleibt, insgesamt als Inbegriff des legendären französischen savoir-vivre und als Gegensatz zur Ostfront. Man findet genau jene erwarteten Klischees von Paris vor, die zusätzlich von den Bewohnern aus pekuniären Erwägungen heraus betont werden. Selten nur tritt das brutale Gesicht der Besatzungsarmee zutage, so wenn im Kapitel über öffentlichen Raum (79–93) eine Strafaktion gegen farbige Kolonialsoldaten (»Senegal-Neger«) berichtet wird: »Aber wir haben sie restlos fertig gemacht, und die, die gefangen wurden, haben wir erschossen, weil sie einem Offizier der Infanterie die Augen ausgestochen haben…« (88) Das komplexe, zwischen Pragmatismus und klarer Ablehnung graduell abgestufte Verhalten der Franzosen gegenüber den deutschen Besatzern thematisiert und resümiert der Verf., wohl ohne sich der Doppeldeutigkeit der Formulierung bewusst zu sein, als »ein Verhältnis zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten« (131; vgl. 131f). Zugleich verharmlost der Band durchgängig, indem er vornehmlich staunend-unbeholfene Soldaten zeigt, die Funktion der Wehrmacht, immerhin einer Besatzungsarmee, die in Frankreich einen vom Völkerrecht nicht gedeckten Angriffskrieg führte. Die Mitte Juli 1942 einsetzende Verfolgung der Pariser Juden, ihre Internierung im Vélodrome d’hiver unter katastrophalen Bedingungen und die anschließende Deportation in die Todeslager führte zwar die übrigens teils unmotiviert wirkende Pariser Polizei aus, wie der Verf. schreibt (vgl. 93), jedoch geschah dies auf Betreiben des »Militärbefehlshabers in Frankreich«, des Antisemiten Carl-Heinrich von Stülpnagel. In Ermangelung literarischer Zeugnisse rekurriert der Verf. komplementär auf Felix Hartlaub (Jahrgang 1913), dessen 1940 entstandene Kriegsaufzeichnungen 2011 kurzfristig als literarische Entdeckung galten, sowie, im Zuge der gegenwärtigen Renaissance dieses Autors, mehrfach auf den Hauptmann Ernst Jünger, der in Paris in der Abteilung »Feindaufklärung und Abwehr« tätig war und ansonsten in Kreisen der literarischen Kollaboration verkehrte (vgl. auch das Kapitel zur durchaus regen Salonkultur der Kollaborationsjahre, die freilich von Kriegsgewinnlern und drittklassigen Schriftstellern getragen wurde; 134–139). Jünger beschäftigt sich in Paris zu sehr mit der Suche nach Anerkennung und der Stilisierung der eigenen Person, als dass man ihn als objektiven Beobachter auffassen oder ihm gar Widerstand attestieren könnte. Die hier erneut kolportierte Geschichte (vgl. 91), er habe angesichts eines Passanten mit dem gelben Stern salutiert und so »Beschämung« (91) gezeigt, ist ihrer Mehrdeutigkeit wegen typisch. Das andere Deutschland freilich existierte selbst im Paris unter der Besatzung, und zwar in der Illegalität oder im Widerstand. So überlebte Salomo Friedländer (1871–1946),

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Jude und den Nazis verhasster Autor, in einem Versteck, und die ausgebürgerte Theaterkünstlerin Dorothea »Mopsa« Sternheim (1905–1954), 1944 nach Ravensbrück verschleppt, wirkte aktiv in der Résistance mit. Ein Verweis auf einen literarischen Text erscheint hier angezeigt. Die heimlich veröffentlichte und von der Résistance verbreitete Erzählung Le Silence de la Mer (1942) gilt als berühmtestes Zeugnis literarischer Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzung und hat in Frankreich längst den Status eines lieu de mémoire eingenommen. Der Autor Vercors (i. e. Jean Marcel Adolphe Bruller, 1902–1991) erzählt darin, wie ein deutscher Offizier, der bei einem Franzosen und dessen Nichte Quartier bezogen hat, allabendlich von einer deutsch-französischen Gemeinschaft nach dem Krieg schwärmt, während die beiden Franzosen schweigend zuhören und die Nichte zudem mit einer Handarbeit beschäftigt ist. Als der Deutsche nach Gesprächen mit anderen Offizieren in Paris begreift, dass dies eine Illusion ist und Frankreich in einem vom Deutschen Reich neugeordneten Europa lediglich die Rolle eines Vasallenstaates einzunehmen hat, beantragt er die Versetzung an die Ostfront. Erstaunlich bleibt unverändert, wie hellsichtig der Verfasser die Besatzungspolitik einschätzt. Die Gründe, warum die vom Verf. angestrebte, grundsätzlich vielversprechende Kombination von histoire événementielle mit Sozialgeschichte und Alltagsgeschichte kaum neue, sondern meist banale und letztlich vorhersehbare Erkenntnisse liefert, treten rasch hervor, dies sind: zuerst der unzuverlässige Quellencharakter (Zensur bzw. bewusst-unbewusste Selbstzensur der Zeitzeugen und deren Drang zur Renommisterei bzw. Selbststilisierung), sodann die Kürze der Ausschnitte, eine beliebig erscheinende Auswahl und mitunter handwerkliche Laxheit (unvollständige Angaben zu Alter, militärischem Rang, Beruf oder Bildungsstand der Zeitzeugen). Festzuhalten bleibt lediglich, dass der »fremde Blick«, ein seit der französischen Aufklärung gewichtiges narrativ-didaktisches Verfahren zur Sicht auf andere Länder und Kulturen den Besatzern keine Erkenntnisse bringt, sondern (als solche nicht erkannte) Zerrbilder liefert und deshalb ein oberflächlicher, nicht verstehender, wertloser Blick bleibt. Thomas Amos, Frankfurt/Main

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Matthias Beer (ed.). Krieg und Zwangsmigration in Südosteuropa 1940–1950. Pläne, Umsetzung, Folgen. Stuttgart: Franz Steiner, 2019, 305 pp., 49,00 € [978-3-515-11676-3]. In their contributions, the authors of this volume illustrate the importance of war as a central prerequisite for forced migration. In addition, the theory and practice of forced migrations in various countries are being contextualised, interrelations and differences between individual manifestations are beeing illustrated. The book deals specifically with the topic of war and forced migration in Southeast Europe which became a hotspot from 1940 to 1950. For example, tha authors analyse the extermination of Jews in Serbia 1941/42, deportations in Romania 1941–1943, and political intentions and forced conversions in the Independent State of Croatia. Bulgaria is also investigated as a paradigmatic historic case of state-sanctioned ethnic cleansing policies, followed by an analysis of German resettlement plans in occupied Slovenia from 1941 to 1945 and the history of German minority groups emigrating from Bosnia from 1941 to 1950. Finally the book examinize forced migrations, population exchanges and power restructuring in Vojvodina and Hungary from 1944–48, as well as deportations in the Italian-Yugoslav border regions from 1922 to 1954. The book contains a bibliography and a list of authors as well as a register of persons and geographical locations. Die AutorInnen des Bandes verdeutlichen in ihren Beiträgen die Wertung des Krieges als zentrale Voraussetzung für Gewaltmigrationen. Darüber hinaus werden Theorie und Praxis der Zwangsmigrationen in den verschiedenen Staaten zueinander in Beziehung gesetzt und voneinander abgegrenzt. Das Buch behandelt im Speziellen die Thematik Krieg und Zwangsmigration in Südosteuropa als »Hotspot« des Phänomens in den Jahren 1940–1950. Beispielsweise widmen sich Beiträge der Vernichtung der Juden in Serbien 1941/42, Deportationen in Rumänien 1941–1943 und den politischen Absichten und Zwangskonversionen im Unabhängigen Staat Kroatien. Weiterhin wird Bulgarien als paradigmatischer Fall staatlicher ethnischer Säuberungspolitik behandelt, gefolgt von deutschen Umsiedlungsplänen im besetzten Slowenien 1941–1945 und der Geschichte der Deutschen aus Bosnien 1941–1950. Abschließend werden Themen wie Zwangsmigrationen, Bevölkerungsaustausch

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und Machtumstrukturierung in der Vojvodina und in Ungarn 1944–1948 ebenso behandelt wie der Fall der Deportationen im italienisch-jugoslawischen Grenzgebiet 1922–1954. Das Buch enthält ein Literatur- und ein AutorInnenverzeichnis – ebenso ein Personenregister und ein Register geografischer Orte. Marlen Bidwell-Steiner, Birgit Wagner (eds.). Der Spanische Bürgerkrieg als (Anti)Humanistisches Laboratorium. Göttingen: V&R unipress/Vienna University Press, 2019 (Broken Narratives 4), 206 pp., 40,00 € [978-3-8471-0944-0]. This collection brings together contributions from history, literature, film and media studies. The events of the Spanish Civil War are examined from a Spanish, Italian and Austrian perspective. Due to new mass media available, the Spanish Civil War was also waged as a propaganda war – even on an international level. The authors therefore primarily seek to examine and compare media products of both sides, poetry and reporting are considered as well as newsreels in the cinema or contributions of today’s digital society. Dieser Sammelband vereint Beiträge aus der Geschichts-, Literatur-, Film- und Medienwissenschaft. Die Ereignisse des Spanischen Bürgerkrieges werden aus spanischer, italienischer und österreichischer Sicht beleuchtet. Aufgrund der neuen Massenmedien wurde der Spanische Bürgerkrieg auch als Propagandakrieg – auch international – ausgetragen. Daher widmen sich die Autoren vor allem den medialen Erzeugnissen beider Seiten im Vergleich, wobei Dichtung und Berichterstattung ebenso betrachtet werden wie Wochenschauen im Kino oder Beiträge der heutigen digitalen Gesellschaft. Azra Bikic, Laurence Cole, Matthias Egger u.a.. »Schwere Zeiten«. Das Tagebuch des Salzburger Gemischtwarenhändlers Alexander Haidenthaller aus dem Ersten Weltkrieg. Salzburg: Stadtgemeinde Salzburg, 2018 (Schriftenreihe des Archivs Salzburg 50), 290 pp., Ill., 23,10 € [978-3-900213-39-8]. The book deals with the life of the Salzburg general store owner Alexander Haidenthaller, and especially with his diary entries from the war years 1914–1918. It begins with a short biography ​​ of Haidenthaller and then examines the structural conditions in the Salzburg and Gnigl region from which he came. It continues with the effects of war on a regional and local level, as well as the question of food supplies for the so-called »home front«, a topic which the shopkeeper often mentioned in his diary. This is followed by the diary records from July 1914 to November 1918, which provide unprecedented insights into the war experiences of a lower-middle-class citizen from the Austrian half of the Habsburg monarchy’s realm. Haidenthaller describes in detail the everyday experience of war in the hinterland, which would soon be marked by a lack of supplies, and he provides an overview of perceptions and sentiments on the home front. Das Buch behandelt das Leben des Salzburger Gemischtwarenhändlers Alexander Haiden­ thaller, speziell seine Tagebucheinträge aus den Kriegsjahren 1914–1918. Es beginnt thematisch mit einer biografischen Skizze Haidenthallers und untersucht dann die strukturellen Voraussetzungen in der Region Salzburg und Gnigl, aus der er stammte. Weiter geht es mit

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den Kriegsauswirkungen auf regionaler und lokaler Ebene, sowie der Ernährungsfrage an der »Heimatfront«, einem im Tagebuch oft erwähnten Thema des Gemischtwarenhändlers. Es folgen die Tagebuch-Aufzeichnungen von Juli 1914 bis November 1918, welche bisher unbekannte Einblicke in die Kriegserfahrungen eines Kleinbürgers aus der österreichischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie bieten. Er schildert detailliert den Kriegsalltag im Hinterland, der bald stark von Mangelwirtschaft geprägt ist, und verschafft einen Überblick über Wahrnehmungen und Stimmungslagen an der Heimatfront. Kerstin Bischl. Frontbeziehungen. Geschlechterverhältnisse und Gewaltdynamiken in der Roten Armee 1941–1945. Hamburg: Hamburger Edition, 2019 (Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts), 348 pp., 28,00 € [978-3-86854-332-2]. Kerstin Bischl focuses her research on the gender relations between the Red Army and the civilians they encountered, as well as the relationships between men and women in the army itself. Based on archive and personal documents, she reconstructs the everyday life of men and women of the Red Army during the defense operations of the Soviet Union in the face of the Wehrmacht attack, and investigates the resulting reasons for crimes of sexual violence against women in their own army, women from liberated areas and women from Germany in the subsequent counter-attack. Bischl discusses possible causes for the excessive attacks, how soldiers had already been shaped by violence and much more even under the Stalinist regime, and how the effects of life on the front affected soldiers. In interviews with contemporary witnesses, Bischl presents the story of the end of the war from different perspectives, ranging from male and female war veterans of the Soviet army to former civilians who fled from the war and experienced violence of all kinds. In the appendix there is a detailed collection of sources consisting of literature, people and archives consulted during the creation of the work. Kerstin Bischl legt den Fokus ihrer Untersuchung auf die Geschlechterverhältnisse zwischen der Roten Armee und den Zivilisten, auf die sie trafen, sowie auf die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen in der Armee selbst. Basierend auf Archiv- und Ego-Dokumenten rekonstruiert sie den Alltag der Männer und Frauen der Roten Armee während der Verteidigung der Sowjetunion vor dem Überfall der Wehrmacht und die dadurch entstandenen Gründe für sexuelle Gewaltverbrechen an Frauen in der eigenen Armee, aus befreiten Gebieten und aus Deutschland beim darauffolgenden Gegenangriff. Sie bespricht mögliche Ursachen für die exzessiven Übergriffe, wie Soldaten bereits während des stalinistischen Regimes durch Gewalt und vieles mehr geprägt wurden und wie sich die Einflüsse des Lebens an der Front auf die Soldaten auswirkten. In Interviews mit Zeitzeugen stellt Bischl die Geschichte zum Ende des Krieges aus verschiedenen Sichtweisen dar, von männlichen und weiblichen Kriegsveteranen der sowjetischen Armee bis hin zu ehemaligen Zivilistinnen, die vor dem Krieg flohen und Erfahrungen mit Gewalt unterschiedlichster Art machten. Im Anhang findet sich eine ausführliche Quellensammlung bestehend aus Literatur, Personen und Archiven, die während der Entstehung der Arbeit konsultiert wurden.

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Riccardo Concetti. Robert Michel. Ein österreichischer Dichter-Offizier zwischen Halbmond und Doppeladler. Wien: Praesens, 2018, 285 pp., Ill., 28,00 € [978-3-7069-0585-5]. The book deals with the life and work of the Austrian writer Robert Michel. It begins with a detailed, biographical reappraisal of his life, divided into its most important stages, from his cradle to his death. Michel gathered much of his inspiration for his early works in Bosnia-Herzegovina, a predominantly Muslim country, where he was sationed as a young officer, which in turn provided the content for the next chapter of the book: the story collection »Die Verhüllte« (»The Veiled«). This balancing act between the two cultures is also the reason for the subtitle of the book presented. It continues with his ethnographic works, photography and lithography, and includes the novel »The Houses on the Džamija«. The book concludes with Robert Michel’s film experiments and an afterword. At the end there is a bibliography and register. Das Buch behandelt Leben und Werk des österreichischen Schriftstellers Robert Michel. Es beginnt mit einer detailreichen biografischen Aufarbeitung seines Lebens, gegliedert in wichtige einzelne Lebensabschnitte, von der Wiege bis zu seinem Ableben. Viel seiner Inspiration für seine frühen Werke sammelte Michel in dem stark muslimisch geprägten Bosnien-Herzegowina, wohin er als junger Offizier versetzt wurde und womit es inhaltlich im Buch weitergeht: die Erzählsammlung Die Verhüllte. Der Spagat zwischen den zwei Kulturen ist auch Grund für den Untertitel des vorgestellten Buches. Weiter geht es mit seinen ethnografischen Werken, Fotografie und Lithografie sowie dem Roman Die Häuser an der Džamija. Das Buch schließt inhaltlich mit Robert Michels Filmversuchen und einem Nachwort. Am Ende finden sich Bibliografie und Register. Renata Dampc-Jarosz, Paweł Zimniak (eds.). Politischen Konjunkturen zum Trotz. Heinrich Bölls Wirklichkeitsrepräsentationen. Göttingen: V&R unipress, 2018, 362 pp., Ill., 50,00 € [978-3-8471-0864-1]. For Heinrich Böll’s 100th birthday, scientists are re-examining his texts from a biographical, contemporary and international point of view. The book begins with Heinrich Böll’s representations of reality, as well as speeches and essays on his 100th birthday, illustrating for example, Böll’s support for the democratic opposition in Poland, and a contribution by his son René Böll is included at this point. Next, the book addresses Böll’s poetics as an author, person and contemporary, dealing with topics such as ethical realism, the private life of Böll as »the author of the public« and his closeness to Paul Celan, Lew Kopelew and Horst Bienek. It continues with an analysis and interpretation of his works from today’s perspective: war diaries, spaces of war in the works of Remarque and Böll, Catholicism as well as his contributions to various cooperative works – including cinematic adaptions of his works. The volume ends with the reception of his work abroad. For example, his image and esteem in Polish memory discourse, in the Soviet Union’s cultural apparatus, and in Swedish culture are being analysed. At the end, additional information on the authors can be found.

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Zum 100. Geburtstag Heinrich Bölls untersuchen Wissenschaftler seine Texte unter biografischen, aktuellen und internationalen Gesichtspunkten neu. Thematisch beginnt das Buch mit Heinrich Bölls Wirklichkeitsrepräsentationen, sowie Reden und Essays zu seinem 100. Geburtstag, unter anderem über Bölls Unterstützung der demokratischen Opposition in Polen. Auch ein Beitrag seines Sohnes René Böll ist enthalten. Inhaltlich folgt Bölls Poetik als Autor, Mensch und Zeitgenosse, wobei es um Themen wie ethischen Realismus, den privaten Böll als Autor der Öffentlichkeit und seine Nähe zu Paul Celan, Lew Kopelew und Horst Bienek geht. Weiter geht es mit einer Analyse und Interpretation seiner Werke aus heutiger Sicht: Kriegstagebücher, Kriegsraum bei Remarque und Böll, Katholizismus, sowie diverse Beiträge zu verschiedenen Werken – darunter auch Verfilmungen seiner Arbeiten. Thematisch schließt der Band mit der Rezeption seines Schaffens im Ausland, so wird seine Bedeutung etwa im heutigen polnischen Erinnerungsdiskurs, im sowjetischen Kulturapparat und in Schweden analysiert. Am Ende sind zusätzliche Informationen über die AutorInnen nachzulesen. Christoph Deupmann. Die verlorene Generation. Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 399), 403 pp., 48,00 € [978-3-8253-4686-7]. Since the First World War – at the very least –, the problem has been known that people returning from the war need, on the one hand, to communicate and convey their experiences, but on the other hand face more than just linguistic difficulties in expressing themselves. Young participants in the First World War coined the term of a »lost generation«, who – drawn to war with completely illusive ideas – could hardly cope with everyday life in their homeland due to traumatization, disillusionment and, above all, speechlessness. In literary texts, some attempts have been made to describe the very special role of returnees in the »post-war period«, which would always be overshadowed by the past war and shaped by people both with and without experience of war. Christoph Deupmann’s analysis focuses on well-known as well as less well-known authors such as Bertolt Brecht, Erich Maria Remarque, Alfred Döblin, or Hans Sochaczewer, Jakob Wassermann and Eberhard Wolfgang Möller. An extensive bibliography complements the volume. Spätestens seit dem Ersten Weltkrieg ist die Problematik bekannt, dass Kriegsheimkehrer zum einen das Bedürfnis haben, sich mitzuteilen und ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu vermitteln, zum anderen aber vor nicht nur sprachlichen Schwierigkeiten stehen, sich auszudrücken. Die jungen Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges prägten dann auch den Begriff der »verlorenen Generation«, die – mit ganz anderen Vorstellungen in den Krieg gezogen – sich durch Traumatisierung, Ernüchterung und vor allem Sprachlosigkeit in ihrer Heimat kaum mehr zurechtfand. Auch in literarischen Texten wurde und wird versucht, die ganz spezielle Rolle der Kriegsheimkehrer für die »Nach-Kriegs-Zeit«, die immer vom vergangenen Krieg überschattet ist und durch Menschen ohne und eben auch mit Kriegserfahrung gestaltet wird, zu beschreiben. Christoph Deupmann widmet sich in

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seiner Analyse bekannten und weniger bekannten Autoren wie u.a. Bertolt Brecht, Erich Maria Remarque, Alfred Döblin, oder Hans Sochaczewer, Jakob Wassermann und Eberhard Wolfgang Möller. Eine umfangreiche Bibliografie ergänzt den Band. Dan Diner. Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 199 pp., 23,00 € [978-3-525-31085-4]. Remembrance of the Holocaust mass crime continues to determine the parameters of universal ethics. The annihilation of European Jews decisively influenced the global cutlure of memory. Notwithstanding, other memories of mass crimes observe a place in public memory – and thus recognition – as well. Such a pluralism of remembrance holds a not inconsiderable potential for conflict, especially if the diverse experiences of suffering were made in the context of one and the same historical event – the Second World War. If that is the case, opposing constellations and competitions of memory can appear – not only between the political cultures of Western and Eastern Europe, but also and especially between European and colonial memories. This book was published as a bilingual edition (German – Arabic) with a register. Das Erinnern an den Holocaust als Massenverbrechen bedingt bis heute die Parameter einer universellen Ethik. Die Vernichtung der europäischen Juden hat unsere Erinnerungskultur weltweit entscheidend beeinflusst. Inzwischen fordern aber auch andere Gedenken an Massenverbrechen öffentliche Erinnerung und damit Anerkennung ein. Ein solcher Pluralismus der Erinnerungskulturen birgt ein nicht unerhebliches Konfliktpotential, vor allem dann, wenn die unterschiedlichen Leiderfahrungen auf ein und dasselbe historische Ereignis zurückgeführt werden – den Zweiten Weltkrieg. Dann stellen sich gegenläufige Konstellation und Konkurrenzen der Erinnerung ein – nicht nur zwischen den politischen Kulturen des westlichen und des östlichen Europas, sondern auch und gerade zwischen europäischen und kolonialen Gedächtnissen. Dieses Buch wurde als zweisprachige Ausgabe (Deutsch–Arabisch) veröffentlich und enthält ein Register. Tanisha M. Fazal. [Kein] Recht im Krieg? Nicht intendierte Folgen der völkerrechtlichen Regelung bewaffneter Konflikte. Hamburg: Hamburger Edition HIS, 2019, 418 pp., 35,00 € [978-3-86854-333-9]. The emergence of modern international humanitarian law is based on the desire to limit the worst effects of war. But it is not uncommon for unintended consequences to counteract the intention. In this book, the author combines historical narrative and quantitative analysis, thus depicting changes in the practice of international humanitarian law based on past and present interstate wars and civil wars and refuting myths about war and peace, statehood and secession. Analysing and explaining »war» and »peace«, the author examines and describes, among other things, issues such as declarations of war in inter-state wars, compliance with martial law, peace treaties, declarations of independence in civil wars and attacks on civilians. A bibliography completes the volume.

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Der Entstehung des modernen humanitären Völkerrechts liegt der Wunsch zugrunde, die schlimmsten Auswirkungen des Krieges zu begrenzen. Doch nicht selten konterkarieren unbeabsichtigte Folgen das Unterfangen. Die Autorin verbindet historische Erzählung und quantitative Analyse, stellt so Veränderungen in der Praxis des humanitären Völkerrechts anhand von vergangenen und gegenwärtigen zwischenstaatlichen Kriegen und Bürgerkriegen dar und widerlegt Mythen über Krieg und Frieden, Staatlichkeit und Sezession. Über die Erklärung von »Krieg« und »Frieden« untersucht und beschreibt die Autorin u.a. Themen wie Kriegserklärungen in zwischenstaatlichen Kriegen, die Einhaltung des Kriegsrechts, Friedensverträge, Unabhängigkeitserklärungen in Bürgerkriegen sowie Angriffe auf Zivilpersonen. Eine Bibliografie rundet den Band ab. Alexandra Föderl-Schmid, Konrad Rufus Müller. Unfassbare Wunder – Gespräche mit Holocaust-Überlebenden in Deutschland, Österreich und Israel. Wien: Böhlau, 2019, 182 pp., 35,00 € [978-3-205-23226-1]. Alexandra Föderl-Schmid and Konrad Rufus Müller conduct interviews with people who survived the terror of National Socialism in Germany. Many of the survivors are able to talk about the memories of persecution and concentration camps only at high age, sometimes only shortly before the end of their lives. Seventy-five years ago, the Second World War raged, and the number of witnesses alive continues to decrease. With the interviews the authors want to ensure that the crimes crimes of the National Socialists will not be forgotten. In summarized conversations, 25 survivors of various ages, from 74 to 105 years, who today are living in Austria, Israel and Germany, talk about their memories of the time of persecution by the National Socialists. The conversations are accompanied by portrait photos made by Konrad Rufus Müller. Alexandra Föderl-Schmid und Konrad Rufus Müller führen Interviews mit Menschen, die den Terror des Nationalsozialismus überlebt haben. Viele der Überlebenden können erst kurz vor Ende ihres Lebens über die Erinnerungen an Verfolgung, Konzentrationslager und viele weitere schreckliche Ereignisse sprechen. Vor 75 Jahren wütete der Zweite Weltkrieg, die Zahl der Zeitzeugen sinkt weiter. Mit den Interviews wollen die Autoren dem möglichen Vergessen der Verbrechen der Nationalsozialisten entgegenwirken. In zusammengefassten Gesprächen erzählen 25 Überlebende unterschiedlichsten Alters, von 74 bis 105 Jahren, die heute in Österreich, Israel und auch noch Deutschland leben, welche Erinnerungen sie an die Zeit der Verfolgung durch die Nationalsozialisten haben. Begleitet werden die Gespräche von Porträtfotos, angefertigt durch Konrad Rufus Müller. Thomas Geiger, Norbert Miller, Joachim Sartorius (eds.). Holocaust als Kultur. Zur Poetik von Imre Kertész. Köln: Böhlau, 2018 (Sprache im technischen Zeitalter 228), 594 pp., 14,00 € [978-3-412-51301-6; 0038-8475]. This book focuses ont the works of Jewish-born Hungarian writer Imre Kertész, but also includes contributions about the Matvei Yankalevich, a Russion-born poet who had emigrated

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to New York at four years of age as well as about the project Atelier NRW. The book begins with the topic »Holocaust as culture – About the poetics of Imre Kertész« and provides deep insights into the life and work of the author. This is followed by the section »Auf Tritt Die Poesie« characteristic for this publications series, which in this volume is dedicated to the life and works of the poet Matvei Yankalevich. The book ends with contributrions informing about the Atelier NRW, a project that is supported by the Arts Foundations NRW, which frequently invites writers to reflect about texts and writing. The essays provided on this art project were created in the context of a local conventions, where participants had held impulsive lectures on poetological, social and literary issues, and the essays correspondingly focus on these topics as well. Im Fokus des Bandes steht das Werk des jüdisch-stämmigen ungarischen Schriftstellers Imre Kertész, im Anschluss sind aber auch Beiträge zu dem in Russland geborenen, und seit seinem vierten Lebensjahr in New York lebenden Dichters Matvei Yankalevich sowie zum Projekt Atelier NRW zu lesen. Das Buch beginnt thematisch mit der Oberthema »Holocaust als Kultur – Zur Poetik von Imre Kertész« und verschafft tiefe Eindrücke in das Leben und Werk des Schriftstellers. Danach folgt die für die Reihe typische Rubrik »Auf Tritt Die Poesie«, die dieses Mal Einblick in Leben und Schaffen des Dichters Matvei Yankalevich gewährt. Das Heft schließt inhaltlich mit Beiträgen über das Atelier NRW, einem Projekt, das von der Kunststiftung NRW unterstützt wird, und das immer wieder SchriftstellerInnen versammelt, um über Texte und das Schreiben zu reflektieren. Die Beiträge aus dem Heft bezüglich des Projekts sind Essays, die im Anschluss einer dortigen Tagung entstanden sind. Auf der Tagung hielten Teilnehmer Impulsvorträge zu poetologischen, sozialen und literaturbetrieblichen Fragestellungen, und die Essays behandeln eben diese Themen. Wassili Grossmann. Die Hölle von Treblinka. Wien, Hamburg: new academic press, 2020 (VWI Studienreihe 5), 102 pp., 12,00 € [978-3-7003-2177-4]. This is a reprint of the report by Wassili Grossmann, who visited the Teblinka extermination camp as a Soviet writer of literature in September 1944, spoke both to survivors and arrested security guards, and thus was able to write a testimony of the Nazi atrocities, first published as an article and then as a brochure. In his foreword to this reprint, historian Dieter Pohl puts the work into its historical context and illustrates the importance of Grossmann’s text, which has been translated into serveral European languages, for the subsequent perception of Treblinka. In her afterword, literary scholar Irina Scherbakowa addresses Grossmann’s literary and political development. Editorial explanation for the original text complete the volume. Reprint des Berichtes von Wassili Grossmann, der als sowjetischer Schriftsteller im September 1944 das Vernichtungslagers Teblinka aufsuchte, mit Überlebenden und verhafteten Wachmännern sprach und so ein zunächst als Artikel, dann als Broschüre veröffentlichtes Zeugnis der NS-Gräuel verfasste. In seinem Vorwort zum Reprint stellt der Historiker Dieter Pohl das Werk in seinen historischen Zusammenhang und verdeutlicht die Bedeutung von Grossmanns Text, der in weiten Teilen Europas übersetzt wurde, für die Wahrnehmung

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Treblinkas. Die Literaturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa widmet sich in ihrem Nachwort der literarischen und politischen Entwicklung Grossmanns. Redaktionelle Erläuterungen zum Originaltext vervollständigen den Band. Jost Hermand. Unbewältigte Vergangenheit. Auswirkungen des Kalten Kriegs auf die westdeutsche Nachkriegsliteratur. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2019, 269 pp., Ill., 35,00 € [978-3-412-51468-1]. In the early years after the end of World War II, the four occupying powers in Germany were still relatively united in building a non-racist, peace-loving cultural life, with the United States and the USSR taking a more proactive stance than the UK and France. By the beginning of the Cold War in 1947 at the latest, the conflicts between the control authorities of the Allied occupying powers in Germany had become more evident in this area, too. In the western zones, the initially purely anti-fascist appeals changed to anti-communist propaganda waves such as »brown equals red« and even »red is worse than brown«, which pushed the crimes of Nazi fascism more and more into the background. The author Jost Hermand analyzes what is described by historians as an »unresolved past« using significant examples of West German literature by i.a. Thomas Mann, Ernst von Salomon, Heinrich Böll and Heinz G. Konsalik. Hermand also investigates topics such as the »anti-Soviet sentiment in the war novels of the fifties« and the »West German novels of anti-totalitarianism between 1947 and 1960«. A register of persons complements the volume. Die ersten Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren sich die vier Besatzungsmächte noch relativ einig hinsichtlich des Aufbaus eines nicht-rassistischen, friedliebenden Kulturlebens in Deutschland, wobei die Vereinigten Staaten sowie die UdSSR sich kulturpolitisch aktiver zeigten als das Vereinigte Königreich und Frankreich. Spätestens mit Beginn des Kalten Krieges im Jahr 1947 traten die Konflikte zwischen den Kontrollbehörden der alliierten Besatzungsmächte in Deutschland auch in diesem Bereich deutlicher zu Tage. In den westlichen Besatzungszonen veränderten sich die zunächst rein antifaschistischen Appelle zunehmend in antikommunistische Progpagandawellen wie z.B. »Braun gleich Rot« bis hin zu »Rot ist schlimmer als Braun«, die mehr und mehr die Verbrechen des Nazifaschismus in den Hintergrund drängten. Was von Historikern als »Unbewältigte Vergangenheit« charakterisiert wird, analysiert der Autor Jost Hermand anhand signifikanter Beispiele westdeutscher Literatur von u.a. Thomas Mann, Ernst von Salomon, Heinrich Böll und Heinz G. Konsalik. Darüber hinaus beschreibt Hermand auch z.B. die »antisowjetische Stimmungsmache in den Kriegsromanen der fünfziger Jahre« sowie die »westdeutschen Romane des Antitotalitarismus zwischen 1947 und 1960«. Ein Personenregister ergänzt den Band. Heidrun Kämper. Sprachgebrauch im Nationalsozialismus. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019 (Literaturhinweise zur Linguistik 9), 97 pp., 14,00 € [978-3-8253-6982-8]. This book provides comprehensive bibliography of scholarly literature on the subject of »Language use in National Socialism«, primarily aimed at students and scientists. Digitization

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and corpus technology open up access options that make it possible to formulate new research questions. After an introduction to the current state of research, the bibliography is divided into e.g. »language criticism«, »NS apparatus« (propaganda, rhetoric –- speech, language control, language policy, ideologization), »integrated society«, »the excluded and exiled« as well as »types of text« (from press texts to letters, songs, diaries). Additional studies on the use of the appropriate language before 1933 or after 1945 are recorded bibliographically, as well as publicatins from the academic disciplines of literature studies, cultural studies, and art history, articles addressing the history of scholarly reasearch, and text collections. Der vorligende Band ist eine umfassende Bibliographie wissenschaftlicher Literatur zum Thema »Sprachgebrauch im Nationalsozialismus«, die sich in erster Linie an Studierende und WissenschaftlerInnen richtet. Digitalisierung und Korpustechnologie eröffnen Zugangsmöglichkeiten, die neue Foschungsfragen formulierbar machen. Nach einer Einleitung zum bisherigen Forschungsstand ist die Bibliographie detailliert gegliedert in z.B. »Sprachkritik«, »NS-Apparat« (Propaganda, Rhetorik – Rede, Sprachlenkung, -politik, Ideologisierung), »Integrierte Gesellschaft«, »Ausgeschlossene und Exilanten« sowie »Textsorten« (von Pressetexten über Briefe, Lieder, Tagebücher). Studien zum Gebrauch entsprechender Sprache vor 1933 oder nach 1945 werden ebenso bibliografisch erfasst wie literaturwissenschaftliche, kultur- und kunstgeschichtliche Publikationen, Beiträge aus der Wissenschaftsgeschichte sowie Textsammlungen. Judith Keilbach, Béla Rásky, Jana Starek (eds.). Völkermord zur Prime Time. Der Holocaust im Fernsehen. Wien, Hamburg: new academic press, 2019 (Beiträge des VWI zur Holocaustforschung 8), 406 pp., 31,00 € [978-3-7003-2133-0]. The reception of the US mini series »Holocaust. The history of the Weiss family« in the late 1970s is still ambivalent, the series was and is controversial. The provoked diverse of dealing with the National Socialist extermination policy the broadcasting countries respective approach to reviews and viewer reaction to the series, depending on whether the country in question had built up a culture of remembering, forgetting or suppressing the memory of the National Socialist crimes. Other adaptations of the topic have often been overshadowed by the iconization of this series. This volume devotes several chapters to these programs: 22 authors from ten countries explore selected examples. In addition to »national narratives«, television games, documentaries and TV series are also examined – along with an outlook on representations of the Holocaust in new media and on YouTube. Die Rezeption der US-Miniserie Holocaust. Die Geschichte der Familie Weiss Ende der 1970er Jahre ist bis heute ambivalent, die Serie war und ist umstritten. Der jeweilige Umgang mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den Ausstrahlungsländern bedingte die Reaktion der Zuschauer und Rezensenten auf die Serie, abhängig davon, ob eher Erinnern oder Vergessen bzw. Verdrängen im Vordergrund standen und stehen. Weitere neben Holocaust entstandende filmische Aufarbeitungen des Themas für das Fernsehen sind durch die mittlerweile entstandene Ikonisierung dieser Serie oft in den Hintergrund geraten. Der

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vorliegende Band gibt auch diesen Adaptionen Raum: 22 AutorInnen aus zehn Ländern beschäftigen sich mit ausgwählten Beispielen. Untersucht werden neben »nationalen Narrativen« auch Fernsehspiele, dokumentarische Sendungen sowie Serien – mit einem Ausblick auf die Darstellung des Holocaust in neuen Medien und auf YouTube. Daniela Kuschel. Spanischer Bürgerkrieg goes Pop. Modifikationen der Erinnerungskultur in populärkulturellen Diskursen. Bielefeld: transcript, 2019 (Edition Medienwissenschaft 67), 279 pp., 39,99 € [ISBN 978-3-8376-4871-3]. The Spanish Civil War (1936–1939) is widely considered to be one of the most defining events in Spanish history, resulting in a dictatorial regime that lasted for 40 years. It was decisire in the process of shaping the identity of the nation itself. As such, the civil war is subject of many scientific papers and as of late, it has also found its way into modern popular culture. The author Daniela Kuschel investigates the main media of popular culture in which the Spanish Civil War is portrayed with new means of production. She further inspects how movies deal with the subject and how much it can be interwoven with fictional parts without diverging too much from its historical context. In pop culture, comics play another major role. Here the author focusses on the characterisation of both fictional and semi-fictional heroes, raising the question how accurate a glorified – or villainized – figure can be against the historical background of the war. The final part discusses video games that addressthe topic of the Spanish Civil War and the problems that might arise when historical events are combined with gameplay elements and liberal abstraction, while also acknowledging the positive implications of visualizing historical scenes in video games. An extensive bibliography refers to used sources and literature. Als ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte Spaniens und prägend für Identität der Nation gilt der Bürgerkrieg, der von 1936 bis 1939 andauerte und zu einer 40-jährigen Diktatur führte. Die Erinnerungskultur an diese Zeit, die große Brüche in der Gesellschaft hinterließ, wird in vielen wissenschaftlichen Werken aufgenommen, seit neuster Zeit auch in popkulturellen Medien. Die Autorin Daniela Kuschel untersucht die Hauptmedien der Popkultur, die die Ereignisse des Spanischen Bürgerkrieges mit neuer Ästhetik und neuen »Werkzeugen« der Popkultur wiedergeben. Hierbei fokussiert sie sich auf verschiedene Filme, die das Thema auf unterschiedliche Weise behandeln, und analysiert, wie zum Beispiel mit Fantasie und fiktiven Szenarien gearbeitet wird und wie sehr dies in einem historischen Kontext geschehen darf. Comics spielen eine weitere große Rolle, Kuschel beleuchtet hier die Heroisierung von realen und fiktiven Personen, die wie Superhelden oder –schurken in den Erzählungen über den Bürgerkrieg dargestellt werden. Zuletzt befasst sie sich mit dem Medium der Videospiele, in denen das Thema ebenfalls aufgegriffen wird, hier werden ebenso Probleme behandelt, die durch die zu starke Abstraktion oder (moralische) Konflikte durch Spielmechaniken auftreten können, sie spricht jedoch auch über die positiven Aspekte der Darstellung historischer Szenarien in Videospielen. Eine ausführliche Bibliographie verweist auf Quellen und Literatur, die verwendet wurden.

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Reinhold Lütgemeier-Davin (ed.). Kurt Hiller – Rezeptionsgeschichte(n). Beiträge einer Tagung der Kurt Hiller Gesellschaft und des Instituts für Braunschweigische Regionalgeschichte. Neumünster: von Bockel, 2019, 221 pp., 19,80 € [978-3-95675-027-4]. In 1998 the Kurt Hiller Gesellschaft e.V. was founded with the goal to encourage research on the author, pacifist, journalist and – eventually – exile Kurt Hiller who died in 1972. Several authorspresent various aspects of his life and his work: Ian King compares Kurt Hiller with Kurt Tucholsky, highlightning their similar while also pointing to opposing ideas in some aspects. Kurt Kraushaar investigates Hiller’s books were produced during his time as an exile and how his work influenced other exiles all over the world who had fled from National Socialism in Germany. Reinhold Lütgemeier-Davin discusses what impact Hiller’s post-war publications had on his readers during the Cold War period, and what expectations the author himself had on his readers. Problems with his publisher, which resulted in an instrumentalisation of Hiller’s works by old supporters of National Socialism and in a subsequent distortion of his ideas, are also being addressed as well as the influence of Hiller’s place of residence Hamburg during the creation of his work. The modern reception of Hiller’s work and how it still plays a major role in philosophical, cultural historical or political contexts is also discussed. An extensive index of persons named in the texts can be found at the end of the book. Als der Autor, Pazifist, Journalist und letztendliche Exilant Kurt Hiller nach seinem Tod 1972 langsam in Vergessenheit geriet, wurde 1998 die Kurt Hiller Gesellschaft e.V. gegründet, um dem Vergessen entgegenzuwirken und wissenschaftliche Forschung rund um den vielseitigen Autor zu fördern. Mehrere Autoren befassen sich in diesem Sammelband mit den verschiedenen Bereichen seines Lebens und rezipieren sein Werk, so betrachtet Ian King Ähnlichkeiten und Berührungspunkte zwischen Kurt Hiller und Kurt Tucholsky sowie die Bereiche, in denen sie voneinander abweichen. Im Text von Kurt Kraushaar wird Hillers im Exil entstandene Literatur besprochen und analysiert, wie sie andere vor dem Nationalsozialismus flüchtende Exilanten beeinflusst hat. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschienen weitere Publikationen von Kurt Hiller. Reinhold Lütgemeier-Davin erläutert die Wirkung dieser Werke auf den Leser zur Zeit des Kalten Krieges und darüber hinaus die Erwartungen Hillers, die er wiederum an die Leser hatte. Verlagsprobleme und die dadurch entstandene Instrumentalisierung von Alt-Nationalsozialisten, die zu einer Verfälschung seiner Ideen führten, werden ebenso angesprochen wie mögliche Einflüsse von Hillers Wohnort Hamburg auf dessen Arbeit. Hillers Werk kann noch immer in vielen verschiedenen Kontexten wie Philosophie oder Kulturgeschichte und in Erinnerung gerufen werden. Ein ausführliches Personenregister ist am Ende des Bandes zu finden. Reinhard Otto, Rolf Keller. Sowjetische Kriegsgefangene im System der Konzentrationslager. Wien: new academic press, 2019 (Mauthausen-Studien, Schriftenreihe der KZGedenkstätte Mauthausen 14), 351 pp., 29,90 € [978-3-7003-2170-5]. In addition to the large number of victims killed in the battles in the Second World War, many Soviet soldiers were also killed in war captivity by the Wehrmacht. In cooperation with

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archives and the Concentration Camp Memorial at Mauthausen, a place tht played a major role in these people’s captivity, new insights were gained on the reasons for exchanges between the Wehrmacht, SS and Gestapo, as well as on the varying treatment of prisoners, and on »verdicts« made by the guards in the concentration camps. The appendix contains an index of persons and a detailed list of literature. Neben der großen Zahl an Opfern während der Gefechte im Zweiten Weltkrieg kamen auch viele sowjetische Soldaten in Kriegsgefangenschaft bei der Wehrmacht ums Leben. In Zusammenarbeit mit zahlreichen Archiven und der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, einem Lager, das eine große Rolle in der Kriegsgefangenschaft dieser Menschen spielte, wurden neue Erkenntnisse über den Verlauf und die Gründe des Austausches zwischen Wehrmacht, SS und Gestapo gemacht sowie über die unterschiedliche Behandlung der Gefangenen und »Verurteilung« durch das Wachpersonal in den Konzentrationslagern. Der Anhang des Bandes wird durch ein Personenregister und ein ausführliches Literaturverzeichnis ergänzt. Martin Schawe. Die Verluste der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen im Zweiten Weltkrieg. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2019 (Schriften der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen 3), 314 pp., 30,00 € [ISBN 978-3-412-51399-3]. Many pieces of art, paintings as well as sculptures, were either destroyed or confiscated during World War II. Recording and tracing the history of those lost artworks is an essential part of the research the field of art history, since not only museums lost significant works of art, but also private households as well as many governmental institutions, such as embassies, which had major works of art confiscated after the outbreak of the war, schools, universities, government officials, or even railway companies who had items loaned across these diverse institutions by museums. Through intensive research it was possible to identify the inventory of the Bayerische Staatsgemäldesammlung even though many of the works are now missing or have since been destroyed. An additional catalogue lists all the lost artworks and includes detailed information and descriptions, as well as – where possible – black-and-white photographs. The book also provides a list of sources and literature. Mit der Zerstörung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg ging auch die Zerstörung und Beschlagnahmung wichtiger Kunstwerke, Gemälde und Plastiken einher. Ein wichtiger Teil der Forschung in diesem Bereich ist die Erfassung dieser Werke und die Aufarbeitung der Geschichte hinter ihrem Verbleib. Durch Kriegsschäden und ideologische Zerstörung fanden Verluste nicht nur in Museen statt, sondern auch in den vielen Leihstellen, an die Kunstwerke von Museen verliehen worden waren. Unter anderem waren darunter Institutionen wie Botschaften und Gesandtschaften im Ausland, aus denen Kunst als Feindeigentum während des Kriegsbeginns beschlagnahmt wurde, die Reichsbahngesellschaft, bei der viele Werke aufgrund von Kriegsschäden zerstört wurden, Schulen und Universitäten sowie private Leihnehmer aus den Reihen der Regierung. Durch intensive Nachforschung in diesen Bereichen konnten viele der Werke, die aus der Bayerischen Staatsgemäldesammlung verschwanden, ermittelt werden, auch wenn die meisten davon heute nicht mehr bestehen

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oder vermisst werden. Ein Katalog mit detaillierten Beschreibungen der verlorenen Plastiken und Gemälde ist am Ende des Bandes zu finden, einige davon mit schwarz-weißen Fotografien. Ein Anhang mit Literatur- und Quellenverzeichnis ist ebenfalls vorhanden. Clémentine Vidal-Naquet (ed.). La Grande Guerre des Français: à travers les archives de la grande collecte. Paris: Comme un éditeur, 2018, 511 pp., 11,90 € [979-109-527-501-5]. The First World War is still remembered as the »Great War« by the French. In celebration of the 100th anniversary of the end of the First World War, the Grande Collecte invited the French people to send them still existing documents of the war for digitization. With great success: 325,000 documents were submitted by the citizens. From this wealth of documents, historian Clémentine Vidal-Naquet presents a selection of 1,200 pieces in her book as testimonies to the war. These documents include letters, postcards, war diaries, drawings and photos made in the trenches. In order to capture actions and feelings of the creators in words and pictures, they were exchanged between the trenches, villages, hospitals and prison camps. The book illustrates the military and political developments during the war, which was waged between German and French soldiers. It provides an outline of the lives of French soldiers and their families, the general population, prisoners and displaced persons. The work tells of the hardships of war and of daily life and death on the front. It reflects hope, fear, grief, but also the few, little joys of everyday life in times of war. The book is supplemented by a chronicle as well as an illustration and bibliography. Der Erste Weltkrieg ist der französischen Bevölkerung auch heute noch als der »Große Krieg« präsent. Anlässlich des 100. Jahrestages des Endes des Ersten Weltkrieges rief die Grande Collecte die Franzosen auf, noch vorhandene Dokumente des Krieges für die Digitalisierung an sie zu senden. Mit großem Erfolg: 325.000 Dokumente wurden von den Bürgern eingereicht. Aus dieser Fülle von Dokumenten präsentiert die Historikerin Clémentine Vidal-Naquet 1.200 als Zeugnisses des Krieges in ihrem Buch. Unter den Dokumenten befinden sich Briefe, Postkarten, Kriegstagebücher, in den Schützengräben angefertigte Zeichnungen und Fotos. Sie wurden zwischen den Schützengräben, Dörfern, Krankenhäusern und Gefangenenlagern ausgetauscht, um Handlungen und Gefühle durch die Beobachter in Worten und Bildern festzuhalten. Das Buch berichtet von den militärischen und politischen Entwicklungen während des zwischen deutschen und französischen Soldaten geführten Krieges. Es gibt einen Überblick über das Leben der französischen Soldaten und ihrer Familien, der Bevölkerung, Gefangener und Vertriebener. Das Werk erzählt von den Entbehrungen des Krieges und vom täglichen Leben und Sterben an der Front. Es spiegelt die Hoffnung, Angst, Trauer, aber auch die wenigen, kleinen Freuden des Kriegsalltages wider. Das Buch wird durch eine Chronik sowie ein Abbildungs- und Literaturverzeichnis ergänzt.

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Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück (ed.). IMIS-Beiträge 50/2016. Osnabrück: Universität Osnabrück, 2016, 174pp. [0949-4723]. The book deals with the fundamental differentiation of language and migration, focusing on linguistic registers, the development of language, multilingualism and the historical dimension of language reflection. This is followed by digressions on writing and writtenness, the demarcation of language and linguistic variety, transitional forms, code-switching and methodological control. It continues with the overall theme of language development, including an excursion on the written cultural dimension of different writing systems using Arabic/German as an example. The volume concludes with pedagogical and language policy measures, such as the Janus character of pedagogy and the written cultural dimension of language pedagogy. The volume includes a bibliography and information on the authors. It can be downloaded as PDF or ordered free of charge from IMIS. Das Buch beschäftigt sich mit der grundlegenden Differenzierung von Sprache und Migration und geht dabei ein auf sprachliche Register, die Entwicklung der Sprache, Mehrsprachigkeit und historische Dimension der Sprachreflexion. Es folgen Exkurse zur Schrift und Schriftlichkeit, zur Abgrenzung von Sprache und sprachlicher Varietät, Übergangsformen, zum Codeswitchen und zur methodischen Kontrolle. Weiter geht es mit dem Oberthema des Sprachausbaus, inklusive eines Exkurses zur schriftkulturellen Dimension verschiedener Schriftsysteme am Beispiel arabisch/deutsch. Thematisch schließt der Band mit pädagogischen und sprachpolitischen Maßnahmen, wie dem Januscharakter des Pädagogischen und der schriftkulturellen Dimension der Sprachpädagogik. Der Band verfügt über ein Literaturverzeichnis sowie Angaben zu den Autoren. Es kann als PDF heruntergeladen werden oder ist kostenlos zu bestellen beim IMIS. Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück (eds.). IMIS-Beiträge 51/2017. Themenheft: Die Szenographie der Migration. Osnabrück: Steinbacher, 2017, 316 pp. [0949-4723]. This volume follows on from its predecessor and deals with the overall theme of migration, especially the scenography of migration, with contributions from various authors. This refers to the staging of migration in exhibitions, museums and art. The booklet begins with an introduction to this very area and provides an insight into history, practice and the future. It continues with temporary exhibitions as driving forces behind the museumization of migration in Germany since 1990 and with articles on individual exhibitions in Germany and Austria. But other areas of art are also dealt with, as in the article Migration in the Memory of Music. In the following, the focus is on knowledge transfer and concepts of exhibitions in Germany and Great Britain, contemporary witness in migration exhibitions, and the question of how connectedness is created. The book concludes with additional information about the authors. The volume can be downloaded as PDF or ordered free of charge from IMIS.

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Dieser Band schließt thematisch an den Vorgänger an und behandelt das Oberthema Migration, speziell die Szenographie der Migration, mit Beiträgen diverser Autoren. Hiermit gemeint ist die Inszenierung von Migration in Ausstellungen, Museen und Kunst. Das Heft beginnt mit einer Einleitung über diesen Bereich und verschafft Einblick in Geschichte, Praxis und Zukunft. Weiter geht es mit temporären Ausstellungen als Triebkräfte der Musealisierung von Migration in Deutschland seit 1990 und mit Beiträgen über einzelne Ausstellungen in Deutschland und Österreich. Doch auch andere Bereiche der Kunst werden behandelt, so wie im Beitrag Migration im Gedächtnis der Musik. Im Folgenden geht es um Wissenstransfers und Konzepte von Ausstellungen in Deutschland und Großbritannien, Zeitzeugenschaft in Migrationsausstellungen sowie um die Frage, wie Verbundenheit entsteht. Das Buch schließt mit zusätzlichen Angaben über die Autoren. Der Band kann als PDF heruntergeladen werden oder ist kostenlos zu bestellen beim IMIS. Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück (eds.). IMIS-Beiträge 52/2018. Osnabrück: Steinbacher, 2018, 173 pp. [0949-4723] The volume begins with a discourse on the resilience of refugees, which deals with the fact that refugees are no longer merely victims, but rather resilient actors in society. It continues with two articles on highly qualified (re-)immigrants from Turkey working in German companies based in Turkey and on educational opportunities for migrants in general. This is followed by a contribution on practices of exclusion, especially on the expulsion of the German Empire during the migration regime of the German Empire from 1871/75 to 1914/18. The book concludes with an analysis of urban-rural migration in South Africa and argues for a translocal perspective in migration and vulnerability research in the Global South. Additional information on the authors can be found in the appendix. The volume can be downloaded as PDF or ordered free of charge from IMIS. Der Band beginnt mit einem Diskurs über Resilienz von Flüchtlingen, welcher sich damit beschäftigt, dass Flüchtlinge nicht mehr nur Opfer sind, sondern resiliente Akteure der Gesellschaft. Weiter geht es mit zwei Beiträgen zu hochqualifizierten aus der Türkei stammenden (Re-)MigrantInnen in deutschen Unternehmen, die in der Türkei ansässig sind, sowie um Bildungschancen von Migranten generell. Es folgt ein Beitrag über Praktiken der Exklusion, speziell über die Reichsverweisung im Migrationsregime des Deutschen Kaiserreichts 1871/75 bis 1914/18. Thematisch schließt das Buch mit einer Analyse von Stadt-Land-Migrationen in Südafrika und plädiert für eine translokale Perspektive in der Migrations- und Verwundbarkeitsforschung im Globalen Süden. Im Anhang sind zusätzliche Angaben zu den Autoren zu finden. Der Band kann als PDF heruntergeladen werden oder ist kostenlos zu bestellen beim IMIS.

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Johannes Waßmer. Die neuen Zeiten im Westen und das ästhetische Niemandsland. Phänomenologie der Beschleunigung und Metaphysik der Geschichte in den WestfrontRomanen des Ersten Weltkriegs. Freiburg: rombach litterae, 2018, 437 pp., 68,00 €, [9783-79309921-5]. The book deals with the phenomenology of the acceleration and metaphysics of history in the Western Front novels of the First World War. The book begins with the narrative dynamics of the Western Front and then examines the works of selected authors. First, Ernst Jünger’s books »In Stahlgewittern« and »Sturm« are analyzed. A discussion of Henri Barbusse’s »Le Feu« follows. Afterwards, Erich Maria Remarque’s novels »All Quiet on the Western Front« and »The Road Back« are investigated, followed by Werner Beumelburg’s »Die Gruppe Bosemüller«. Afterwards the author deals with Christian Kracht’s »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«. Finally, recurring visions of eternal peace in the aesthetic representations of no man’s land in the works just mentioned are examined. The book contains a bibliography. Das Buch behandelt die Phänomenologie der Beschleunigung und Metaphysik der Geschichte in den Westfront-Romanen des Ersten Weltkriegs. Thematisch beginnt das Buch mit der narrativen Dynamik der Westfront und untersucht anschließend die Werke ausgewählter Autoren. Zunächst werden Ernst Jüngers Bücher In Stahlgewittern sowie Sturm analysiert. Es folgt eine Auseinandersetzung mit Henri Barbusses Das Feuer. Anschließend werden Erich Maria Remarques Romane Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück bearbeitet. Weiterhin folgt die Analyse Werner Beumelburgs Die Gruppe Bosemüller. Danach beschäftigt sich der Autor mit Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Abschließend werden die Visionen vom Ewigen Frieden im ästhetischen Niemandsland der eben genannten Werke untersucht. Das Buch enthält ein Literaturverzeichnis. Monika Wolting. Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 353), 345 pp., 46,00 € [978-3-8253-6974-3]. Continuous outbreaks of new wars, but above all new forms of warfare through terrorism, obscure war zones and massive refugee movements lead to irritations and shifts in current social, political and religious systems. Both first hand experiences and evaluations of war events in people’s home regions find their way into current literature on experiences of war, people returning from war and discussions about contemporary wars. Monika Wolting’s analysis focuses specifically on the German-language »Afghanistan novel« genre and examines, among other things, new literary figures such as the »Bundeswehr soldiers of postheroic society, the traumatized veteran, the bystanders of the war activities, the female Bundeswehr soldier, the investigative war reporters and the refugees fleeing from the atrocities of war.« A comprehensive bibliography and interviews with the authors Dorothea Dieckmann, Norbert Scheuer and Jochen Rausch complete the volume.

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Eingegangene Bücher

Immer neue Kriege, vor allem aber neue Formen der Kriegführung durch Terrorismus, unklare Kriegsgebiete und auch die massiven Flüchtlingsbewegungen führen zu Irritationen und Verschiebungen in gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Systemen. Sowohl Erlebnisse »vor Ort« als auch Bewertungen von Kriegsgeschehen in der Heimat finden Eingang in aktuelle Literatur über Kriegserfahrung, Kriegsheimkehrer und Diskussionen über aktuelle Kriege. Monika Wolting widmet sich in ihrer Analyse speziell dem deutschsprachigen »Afghanistan-Roman« und untersucht u.a. neue literarische Figuren wie z.B. den »Bundeswehrsoldaten der postheroischen Gesellschaft, den traumatisierten Veteran, den Statisten der Kriegsaktivitäten, die Bundeswehrsoldatin, die investigativen Kriegsreporter sowie die vor den Gräueln des Krieges Geflüchteten«. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie Gespräche mit den AutorInnen Dorothea Dieckmann, Norbert Scheuer und Jochen Rausch ergänzen den Band.

Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe Contributors to this Edition

Dr. Thomas Amos; Dozent für Literatuwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt/Main (Deutschland); er promovierte im Fach Romanistik über Beziehungen zwischen Phantastik, Architektur und Manierismus; derzeit Habilitationsprojekt zum Ballett­libretto / lecturer in literary studies at the Goethe University in Frankfurt/Main (Germany) and received his doctorate in Romance studies on the relationship between fantasy, architecture and mannerism; currently his habilitation project on the ballet libretto. Fabian Brändle; Historiker; er forscht und publiziert zur Geschichte der Volkskultur, zur popularen Autobiographik, zur Geschichte der demokratischen Bewegungen sowie zur Sozialgeschichte des Sports. Er lebt in Zürich (Schweiz) / historian; he researches and publishes on the history of folk culture, popular autobiography, the history of democratic movements and the social history of sport. He lives in Zurich (Switzerland). Alice Cadeddu, M.A.; studierte Europäische Literatur und Kulturwissenschaften an der Universität Osnabrück; Mitarbeiterin am Erich Maria Remarque-Friedenszentrum, Universität Osnabrück (Deutschland) / studied European Literature and Cultural Studies at the University of Osnabrück (Germany); staff member at the Erich Maria Remarque Peace Centre, University of Osnabrück (Germany) Dr. Jens Ebert; studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Moskau und lebt als Publizist in Berlin; 1989-2001 Lehrtätigkeit an Universitäten in Berlin, Rom und Nairobi. Arbeiten für Presse, Rundfunk und Fernsehen. Veröffentlichungen zur Literatur-, Kulturund Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts / studied German and history in Berlin and Moscow and lives as a journalist in Berlin; 1989-2001 teaching at universities in Berlin, Rome and Nairobi. Works for press, radio and television. Publications on the history of literature, culture and mentality in the 20th century. Benno Haunhorst, OStDr. i. R.; beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Leben und Werk Erich Maria Remarques und ist Mitglied der Erich-Maria-Remarque-Gesellschaft e.V. Osnabrück (Germany) / has been dealing with the life and work of Erich Maria Remarque for many years and is a member of the Erich-Maria-Remarque-Gesellschaft e.V. Osnabrück (Germany).

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Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Simone Herzig, M.A.; studierte Geschichte an der Universität Osnabrück und publizierte u.a. über den Ersten Weltkrieg in der Osnabrücker Tagespresse. Ihre Schwerpunktthemen sind die Diskursgeschichte der Weimarer Republik sowie Geschichtsdidaktik / studied history at the University of Osnabrück and published about the »First World War in the Osnabrück daily press«. Her main topics are the discourse history of the Weimar Republic and the didactics of history. Marc Hieger, OStR; Germanist; lehrt an der Deutschen Schule/Colégio Alemán in Santa Cruz de la Sierra (Bolivien) / Germanist; teaches at the German School/Colégio Alemán in Santa Cruz de la Sierra (Bolivia). Dr. Swen Steinberg; forscht und lehrt als Postdoctoral Fellow und Assistant Professor am Department of History der Queen’s University in Kingston/Ontario (Kanada), zugleich Affiliated Scholar des Deutschen Historischen Instituts Washington/DC mit seinem Pacific Regional Office an der University of California in Berkeley (USA) / researches and teaches as Postdoctoral Fellow and Assistant Professor at the Department of History of Queen‘s University in Kingston/Ontario (Canada), at the same time Affiliated Scholar of the German Historical Institute Washington/DC with its Pacific Regional Office at the University of California in Berkeley (USA). Paulus Tiozzo, M.A.; Doktorant am Department of Languages and Literatures der Universität in Göteborg (Schweden) / doctoral candidate at the Department of Languages and Literatures, University of Gothenburg (Sweden). Johannes Vogel, M.A.; Doktorant im Promotionsstudiengang »Sprache –Literatur – Gesellschaft« der Philosophischen Fakultät II an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (Germany) / doctoral candidate in the doctoral program »Language - Literature - Society« of the Faculty of Philosophy II at the Martin Luther University Halle-Wittenberg (Germany). Prof. Dr. Monika Wolting; Literaturwissenschaftlerin; Professur für Neuere Deutsche Literatur und Literaturdidaktik am Lehrstuhl für Literatur und Kultur nach 1945 am Germanistischen Institut der Universität Wrocław (Polen) / Literary scholar; Professor of Modern German Literature and Literary Didactics in the Department of Literature and Culture after 1945 at the German Institute of the University Wrocław (Poland).