Entwicklungslinien im Gesundheitswesen: Demographie und Integrierte Versorgung [1 ed.] 9783896444455, 9783896734457

Die demographische Entwicklung sowie das Aufbrechen der bisherigen Versorgungsstrukturen durch Integrierte Versorgungsan

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Entwicklungslinien im Gesundheitswesen: Demographie und Integrierte Versorgung [1 ed.]
 9783896444455, 9783896734457

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MANAGEMENTSCHRIFTEN Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein — Hochschule für Wirtschaft

HERAUSGEGEBEN VON BEATE KREMIN-BUCH, FRITZ UNGER, HARTMUT WALZ

EVELINE HÄUSLER (BAND-HRSG.)

Entwicklungslinien im Gesundheitswesen Demographie und Integrierte Versorgung

Verlag Wissenschaft & Praxis

Entwicklungslinien im Gesundheitswesen Demographie und Integrierte Versorgung

Managementschriften Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein Hochschule für Wirtschaft

HERAUSGEGEBEN VON BEATE KREMIN-BUCH, FRITZ UNGER HARTMUT WALZ

Band 9

Beate Kremin-Buch, Fritz Unger, Hartmut Walz (Hrsg.)

Eveline Häusler (Band-Hrsg.)

Entwicklungslinien im Gesundheitswesen Demographie und Integrierte Versorgung

Verlag Wissenschaft & Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89673-445-7 © Verlag Wissenschaft & Praxis Dr. Brauner GmbH 2008 D-75447 Sternenfels, Nußbaumweg 6 Tel. 07045/930093 Fax 07045/930094

Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany

Vorwort Alterung der Gesellschaft und zunehmende Wettbewerbsorientierung gehören zu den Entwicklungslinien, die das Gesundheitswesen in den kommenden Jahren prägen werden. Mit beiden Aspekten setzt sich dieser Band auseinander. Die demographischen Veränderungen betreffen sowohl die Gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung als auch die Leistungserbringer. Wie Manfred Erbsland in seiner Untersuchung zeigt, hängen die erwarteten Beitragssatzwirkungen wesentlich davon ab, ob die infolge der gestiegenen Lebenserwartung gewonnen Lebensjahre im Sinne der sogenannten Medikalisierungsthese mit zusätzlichen Krankheiten belastet sein werden oder, wie es die Kompressionsthese nahe legt, lediglich eine zeitliche Verschiebung des Krankheitsgeschehens eintritt. Mit Blick auf die Nachfrage nach Pflegedienstleistungen geht er bis 2050 von einer Verdopplung der Zahl der Pflegebedürftigen aus. Bernhard Langer unterzieht die finanzierungsseitigen Reformen der Gesetzlichen Krankenversicherung durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 einer Überprüfung auf ihre „Demographiefestigkeit“. Zudem untersucht er die – zum Teil überraschenden – Anreizwirkungen, die von der neu eingeführten „kleinen Kopfprämie“ auf Versicherte und Krankenkassen ausgehen. Die Beiträge von Kurt Witterstätter und Werner Schwartz lenken anschließend den Blick auf die Seite der Leistungserbringer – in diesem Fall die Anbieter von Altenhilfeleistungen. Kurt Witterstätter legt dar, dass die sich wandelnden Anforderungen der Senioren, die Veränderungen in den familialen Strukturen und nicht zuletzt die finanziellen Rahmenbedingungen eine Anpassung des Pflegemixes im Sinne einer strukturierten Verknüpfung von formellen und informellen Ressourcen erzwingen. In die gleiche Richtung argumentiert Werner Schwartz, der trotz zunehmender Altersbevölkerung zumindest mittelfristig vor einer Expansion des stationären Pflegeangebotes warnt. Als zentrale Herausforderung für das Management von Altenhilfeanbietern identifiziert er die strategische Positionierung des Unternehmens, die Stärkung der Innovationsfähigkeit, die Etablierung eines Change-Management, Ausbau des Controlling, Mitarbeitermotivation und Qualitätsmanagement sowie die Markenbildung. Bei den genannten Beiträgen handelt es sich um Vorträge, die anlässlich der Gesundheitsökonomischen Gespräche im Oktober 2006 an der Fachhochschule

5

Vorwort Ludwigshafen gehalten wurden. Die Tagung fand mit freundlicher Unterstützung durch den Förderverein Gesundheitsökonomie an der Fachhochschule Ludwigshafen, Hochschule für Wirtschaft e.V. statt. Eine zweite das Gesundheitswesen prägende Entwicklungslinie ist die zunehmende Wettbewerbsorientierung. Folgt man dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen werden dezentrale Verhandlungen über Versorgungsaufträge, Vergütungssätze etc. die bisherigen Allokationsmechanismen der politisch-administrativen Steuerung und kollektivvertraglichen Vereinbarungen zunehmend ablösen.1 Dabei dient die Integrierte Versorgung, in diesem Band verstanden als integrierte Versorgungsformen gemäß § 140 SGB V, als Instrument zur Intensivierung des Wettbewerbs der Krankenkassen und Leistungserbringer. Die zunehmende Bedeutung dieser Versorgungsform belegt der rapide Anstieg der Zahl registrierter Verträge, die sich binnen zwei Jahre auf 4.044 Verträge im zweiten Quartal 2007 mehr als versechsfacht hat.2 Der Beitrag von Heinrich Hanika führt in die rechtlichen Rahmenbedingungen ein, unter denen Integrierte Versorgung stattfindet. Im Mittelpunkt des Beitrags steht das Aufzeigen der Diversität möglicher Modelle und der damit einhergehenden juristischen Fragestellungen. Ausführlich diskutiert werden dabei etwa vergaberechtliche und die häufig – zu Unrecht – ausgeblendeten haftungsrechtlichen Implikationen. Die Sicht von Leistungserbringern und Krankenkassen auf Integrierte Versorgungsmodelle hat sich gewandelt. Dienten die Verträge zu Beginn vielfach der Rechtfertigung bzw. Kompensation der 1%-igen Rechnungskürzung im Rahmen der sogenannten Anschubfinanzierung, werden sie zunehmend als Möglichkeit zur strategischen Positionierung gesehen. Diese Sichtweise dürfte sich in Zukunft noch verstärken, wenn sich die Auffassung des Sachverständigenrates durchsetzt, wonach Versorgungsnetze alle notwendigen Behandlungsstufen umfassen sollen und Exklusivverträge anzustreben sind.3 Damit steigen die Anforderungen an die operative Funktionstüchtigkeit der Versorgungsnetze sowie die Qualitätssicherung im Rahmen der Verträge. Ausgehend von einem praktischen 1

2 3

6

Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, Kooperation und Verantwortung, Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung, Gutachten 2007, Rn. 288. www.svr-gesundheit.de (6. August 2007). Vgl. BQS, Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung gGmbH, www.bqs-online.de (6. August 2007) Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, a.a.o., Rn. 357 f.

Vorwort Beispiel erarbeitet Doreen Bruhnke in ihrem Beitrag konkrete Vorschläge für ein professionelles Netzmanagement und die Ausgestaltung des Qualitätsmanagements. Der Beitrag von Doreen Bruhnke ist ein Beispiel für herausragende Studienleistungen. Es handelt sich um die Kurzfassung einer Diplomarbeit, die im Rahmen des Studienganges Gesundheitsökonomie im Praxisverbund GiP an der Fachhochschule Ludwigshafen angefertigt wurde. Der Band möge dazu beitragen, so der Wunsch der Herausgeber, das Wissen, das sich an der Fachhochschule Ludwigshafen auf dem Gebiet von Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement bildet, zu verbreiten.

Ludwigshafen, im August 2007

Eveline Häusler im Namen der Herausgeber

7

Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................................5 Autorenverzeichnis ...........................................................................................10 Manfred Erbsland Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen für das Gesundheitswesen ..................................................................................13 Bernhard Langer Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzreformen: Eine kritische Analyse ........................................................................................55 Kurt Witterstätter Alternde Bevölkerung und ihre Versorgung – Ansprüche und Möglichkeiten ............................................................................75 Werner Schwartz Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck ....................89 Heinrich Hanika Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung: Stand und zukünftige Potentiale ....................................................................... 109 Doreen Bruhnke Netzmanagement und Qualitätssicherung in integrierten Versorgungsnetzen..................................................................... 163

9

Autoren-/Herausgeberverzeichnis Autoren Doreen Bruhnke ist seit August 2005 für die Siemens Betriebskrankenkasse in dem Bereich Leistungen, Versorgungsangebote und Versorgungsmanagement tätig und dort für das Gesamtprozessmanagement der Disease-Management-Programme verantwortlich. Studium der Gesundheitsökonomie an der Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein, Hochschule für Wirtschaft (Dipl.-Gesundheitsökonomin 2005). Zuvor schloss sie eine Berufsausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten ab. Prof. Dr. Manfred Erbsland ist seit Februar 2003 Professor für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik an der Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein, Hochschule für Wirtschaft. Zuvor war er über 4 Jahre lang Professor für Volkswirtschaftslehre, Gesundheitsökonomie und Ökonomie an der Fachhochschule Neubrandenburg. Die Forschungsschwerpunkte von Herrn Erbsland sind: Demographische Entwicklung und die Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme, Gesundheitsökonomie sowie angewandte Ökonometrie und Statistik. Prof. Dr. Heinrich Hanika ist Professor für Wirtschaftsrecht und Recht der Europäischen Union an der Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein, Hochschule für Wirtschaft sowie Dozent an der Steinbeis-Hochschule Berlin. Er verfügt über 18 Jahre praktischer sowie wissenschaftlicher Erfahrungen in der Gesundheitswirtschaft z.B. als Rechtsanwalt, juristischer Berater eines börsennotierten Krankenhauskonzerns, Geschäftsführer und Justitiar einer Ärztekammer sowie als Rechtswissenschaftler für wissenschaftliche Fachgesellschaften. Seine Lehrgebiete und Forschungsschwerpunkte sind Internationales Recht und Europarecht, Gesundheits-, Medizin-, Pflege- und Sozialrecht sowie Internet-, Telekommunikations- und Multimediarecht. Hinzu kommen Forschungsprojekte und umfangreiche Publikationen an den Schnittstellen des Rechts zur Informatik, Management, Medizin, Pflege und Ökonomie im Gesundheitswesen.

10

Autoren-/Herausgeberverzeichnis Dr. Bernhard Langer Nach Abitur am Staatlichen Gymnasium Kaufbeuren und Zivildienst beim Bayerischen Roten Kreuz Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Universität Augsburg mit den Vertiefungen Gesundheitsökonomie, Öffentliche Wirtschaft sowie Unternehmensführung und Organisation. Promotion in Volkswirtschaftslehre mit einer Arbeit über die Auswirkungen von Selbstbeteiligungen auf die GKV-Arzneimittelausgaben. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Finanzwissenschaft und Sozialpolitik (Prof. Dr. Martin Pfaff) der Universität Augsburg. Consultant am Internationalen Institut für Empirische Sozialökonomie (INIFES) in Stadtbergen bei Augsburg. Seit 2006 Tätigkeit beim Verband der Angestellten-Krankenkassen (VdAK) in Berlin im Bereich Strategische Marktanalysen. Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Ravensburg-Weingarten, der Universität Augsburg und der German University in Cairo. Dr. Werner Schwartz ist Pfarrer der Evangelischen Kirche der Pfalz und seit 2001 Vorsteher der Evangelischen Diakonissenanstalt Speyer-Mannheim. Er hat 1982 mit einer Arbeit über „Analytische Ethik und christliche Theologie“ an der Universität Mainz promoviert, war seit 1977 Gemeindepfarrer in Großkarlbach und seit 1986 Dekan in Frankenthal (Pfalz). 1998 war er als Visiting Scholar am Princeton Theological Seminary, USA, und nimmt jetzt einen Lehrauftrag am Diakoniewissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg wahr. Prof. Kurt Witterstätter lehrte nach sozialwissenschaftlichem Studium (Diplom-Sozialwirt 1965, Lehramtsassessor 1969) als Dozent und ab 1973 als Professor an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen die Gebiete Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie; schrieb mehrere Bücher zur Soziologie und Sozialpolitik der Sozialen Arbeit und Pflege; 2004 emeritiert; leitete 2004 bis 2006 das MasterAufbaustudium Sozialgerontologie an seiner früheren Hochschule; derzeit tätig als Schriftleiter für das Evangelische Seniorenwerk Stuttgart und im Fachausschuss Altenhilfe der Georg-Kraus-Stiftung Hagen.

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Autoren-/Herausgeberverzeichnis Herausgeber Prof. Dr. Eveline Häusler ist seit 2001 Inhaberin einer durch verschiedene BKKen geförderten Stiftungsprofessur Betriebswirtschaftslehre der Dienstleistungen an der Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein, Hochschule für Wirtschaft und lehrt schwerpunktmäßig im Studiengang Gesundheitsökonomie im Praxisverbund (GiP). Als Initiatorin der Gesundheitsökonomischen Gespräche an der Fachhochschule Ludwigshafen will sie den Diskurs zwischen Gesundheitswesenpraxis und Hochschule fördern sowie die Erkenntnisse der „klassischen“ Betriebswirtschaftslehre für das Gesundheitswesen fruchtbar machen. Prof. Dr. Beate Kremin-Buch Prof. Dr. Beate Kremin-Buch vertritt die Fächer Rechnungswesen und Controlling im Fachbereich Management und Controlling. Forschungsschwerpunkte sind die Internationale Rechnungslegung und das Strategische Kostenmanagement. Diverse Veröffentlichungen widmen sich diesen beiden Gebieten, z.B. Internationale Rechnungslegung, 3. Aufl., 2002, Fachbegriffe der Internationalen Rechnungslegung (zusammen mit Götz Hohenstein), 2. Aufl., 2002 und Strategisches Kostenmanagement, 4. Aufl., 2007. Außerdem beschäftigt sie sich seit 2004 intensiv mit der Ressource Wissen und deren Abbildung in der Rechnungslegung. Auch daraus sind mehrere einschlägige Veröffentlichungen entstanden. Seit dem Frühjahr 2007 ist Beate Kremin-Buch Trägerin des Lehrpreises 2006 des Landes Rheinland-Pfalz in der Kategorie Wirtschaft. Prof. Dr. Fritz Unger lehrt Betriebswirtschaftslehre und Marketing im Berufsintegrierenden Studium (BIS), ist Autor, Mitautor und Herausgeber zahlreicher Bücher (u.a. Management der Marktkommunikation, 2. Aufl., 1999, Integriertes Marketing, 3. Aufl., 2001, Marktpsychologie, 2001, Mediaplanung, 2. Aufl., 2002 und Verkaufsförderung, 2. Aufl., 2003). Prof. Dr. Hartmut Walz ist verantwortlich für Bankbetriebslehre und Finanzdienstleistungen. Seine jüngste Monographie hat den Titel „Investitions- und Finanzplanung“ (Heidelberg, 2004). Darüber hinaus gilt sein besonderes Interesse dem Phänomen irrationalen Anlegerverhaltens im Rahmen der Behavioral Finance.

12

Prof. Dr. Manfred Erbsland

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen für das Gesundheitswesen

1 Alterung der Bevölkerung 2 Zusammenhang zwischen Alter und den Krankheitskosten bzw. den Gesundheitsausgaben 3 Modellrechnungen zu den demographischen Effekten auf das Gesundheitswesen 4 Schlussbemerkungen 5 Literatur

*

Der folgende Beitrag stellt eine stark erweiterte und mit neuen Daten und Schätzungen versehene Fassung meines am 20. Oktober 2006 gehaltenen Vortrags bei den 4. Gesundheitsökonomischen Gesprächen an der Fachhochschule Ludwigshafen dar.

13

1

Alterung der Bevölkerung

Bezogen auf den Einzelnen stellt die Alterung einen natürlichen Vorgang dar, der durch das chronologische Alter abgebildet wird. „Demographische Alterung ist exakt der bevölkerungsdynamische Prozess, der sich in seinem Ergebnis auf die Bevölkerungsstruktur dahingehend auswirkt, dass ältere Menschen relativ gegenüber jüngeren zunehmen. Das heißt, eine Bevölkerung ist demographisch gealtert, wenn sich im Zeitablauf die relative Besetzung der oberen Altersstufen im Vergleich zu den unteren Altersstufen erhöht“ (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung [2004], S. 91). Gäbe es keine Geburten, Sterbefälle sowie Zuund Abwanderungen, dann würde das Durchschnittsalter einer Gesellschaft zwangsläufig um ein Jahr zunehmen (vgl. Erbsland/Wille [1995], 661). Die Entwicklung von Umfang und Struktur einer Bevölkerung determinieren somit folgende Ereignisse: x

Geburten,

x

Sterbefälle und

x

Wanderungssaldo.

Die Alterung einer Bevölkerung lässt sich darauf zurückführen, dass die obigen Ereignisse, die die Entwicklung einer Bevölkerung determinieren, zu gering ausfallen. Der langfristige Trend einer abnehmenden Fruchtbarkeitsziffer1 und die deutlich gestiegene Lebenserwartung bei Frauen und Männern (siehe Abb. 1) haben in der Vergangenheit den Alterungsprozess der Bevölkerung verursacht, der in der Literatur auch als „double aging process“ (Börsch-Supan [1991], 107) bezeichnet wird.

1

Die Geburten- bzw. Fruchtbarkeitsziffer gibt an, wie viele Kinder 1000 Frauen in ihrem Leben gebären würden, wenn sich die Geburtenhäufigkeit des Beobachtungsjahres nicht verändern und keine Frau unter 50 Jahren sterben würde (vgl. Bretz [1986], S. 236). Diese zusammengefasste Geburtenziffer entspricht der Summe der altersspezifischen Geburtenziffern je 1000 Frauen im Alter von 15 – 49 Jahren und gewährleistet bei einem Durchschnitt von 2,1 Kindern je Frau die Reproduktion der deutschen Bevölkerung (vgl. Erbsland/Wille [1995], S. 661).

15

Manfred Erbsland

90 80 70 60 50 40 30 20 10

männl ich

2002/04

1993/95

1986/88

1980/82

1970/72

1960/62

1949/51

1932/34

1924/26

1910/11

1901/10

1891/1900

1881/90

1871/80

0

we i bl ich

Abb. 1: Mittlere Lebenserwartung ab Geburt. Quelle: Statistisches Bundesamt [2006b, S. 38]. Der Rückgang der Geburtenrate begann in Deutschland als sekulärer Trend bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts (siehe Abb. 2). Er löste vornehmlich das bisherige demographische Altern aus, denn die zurückgehende Sterberate (siehe Abb. 2) schwächte über eine deutliche Abnahme der Säuglings- und Kindersterblichkeit diesen Aging-Prozess zunächst eher noch ab (vgl. Feichtinger [1990], S. 81, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung [2004], S. 12). Da sich die Säuglings- und Kindersterblichkeit in Deutschland auf einem niedrigen Niveau stabilisiert hat, dürfte eine sinkende Sterbeziffer2 in Zukunft vor allem die 2

16

Die standardisierte allgemeine Sterbeziffer beschreibt die Zahl der Sterbefälle je 1000 Einwohner unter der Prämisse eines gleich bleibenden Altersaufbaus. Der Effekt einer sinkenden Sterbeziffer bzw. eine Erhöhung der Lebenserwartung auf das Durchschnittsalter einer Bevölkerung ist nicht eindeutig (vgl. Feichtinger [1979], S. 220 ff. und Dinkel [1989], S. 268 ff.). Geht die Sterblichkeit in den jüngeren Jahrgängen und somit im reproduktiven Lebensabschnitt zurück, so tritt neben

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen Lebenserwartung in den höheren Altersstufen zunehmen lassen und damit das demographische Altern beschleunigen. Zu dem bisherigen „Aging at the Bottom“, das auf den Rückgang der Geburtenziffer zurückzuführen war, tritt dann noch in Form einer höheren Lebenserwartung der älteren Bevölkerung ein „Aging at the Top“ hinzu (vgl. The Secretariat of the Economic Commission for Europe [1992], S. 13). 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1850

1900

1950

2000

Jahr Lebendgeborene

Gestorbene

Anmerkungen: 1850 bis 1944 Reichsgebiet (bis 1920 jeweiliger Gebietsstand, 1921 ohne Saargebiet, 1922 bis 1944 Gebietsstand vom 31. 12. 1937); ab 1946 Deutschland; Gestorbene 1939 bis 1945 ohne Wehrmachtstote; 1945 Schätzung. Abb. 2: Lebendgeborene und Gestorbene je 1000 Einwohner, 1850 – 2006. Quelle: Bretz/Niemeyer [1992] und Statistisches Bundesamt[2007a].

den lebensverlängernden Sterbetafeleffekt noch eine Erhöhung der Fertilität hinzu. Dieser fertilitätserhöhende Effekt einer sinkenden Sterbeziffer, der unter sonst konstanten Bedingungen eine Abnahme des Durchschnittsalters einer Bevölkerung bewirkt, bleibt aus, wenn die Sterblichkeit nur oberhalb des reproduktionsfähigen Lebensabschnitts abnimmt (vgl. Erbsland/Wille [1995], S.662).

17

Manfred Erbsland Unter ökonomischen Gesichtspunkten und insbesondere unter Sozialversicherungsaspekten interessiert vor allem die Veränderung der jungen und der alten Bevölkerung im Verhältnis zur mittleren Bevölkerung (vgl. Erbsland/Wille [1995], S. 662). Dies wird in Tabelle 1 durch die sogenannten Unterstützungskoeffizienten abgebildet. Die Grundidee der Unterstützungskoeffizienten ist, dass hier die (potenziell) erwerbstätige Bevölkerung zu jenen Bevölkerungsgruppen ins Verhältnis gesetzt wird, die aus ihrem Erwerbseinkommen vor allem finanziert werden. Der potenzielle Unterstützungskoeffizient zeigt hier das Verhältnis der 20- bis unter 65jährigen zu den 65jährigen und älteren. Im Jahr 1864 waren noch ungefähr 13 Personen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren für eine ältere Person ab 65 Jahren zuständig. Im Jahr 2050 müssen 1,7 potenziell erwerbstätige Personen für eine ältere Person aufkommen. Jahr

Jugendquotient

1864

89,2

7,6

13,2

3,6

1871

83,7

8,9

11,3

3,2

1910

85,4

9,8

10,2

4,6

1939

52,7

13,1

7,6

5,4

1950

50,8

16,2

6,2

5,7

2000

34,0

26,8

3,7

19,8

29,2

60,1

1,7

68,3

2050

1)

Altenquotient

Potenzieller UnterStützungskoeffizient

Intergenerationeller Unterstützungskoeffizient

1) 11. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Obergrenze „mittlere Bevölkerung“.

Tab. 1: Alten und Unterstützungsquotienten in Preußen, dem Deutschen Reich und der Bundesrepublik Deutschland, 1864 – 2050 Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung [2004], S. 59, Statistisches Bundesamt [2006a] sowie eigene Berechnungen.

18

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen Der intergenerationelle Unterstützungskoeffizient zeigt das Verhältnis der sehr alten Personen (80 Jahre und älter) zur nächsten Generation im Alter zwischen 50 und 64 Jahren. Die 50- bis 64jährigen sind die Bevölkerungsgruppe, die vor allem Unterstützungs- und Pflegeleistungen für die Hochbetagten erbringt. Im Jahr 1864 kamen auf 100 Personen im Alter von 50 bis 64 Jahren in etwa vier 80jährige und älter. Im Jahr 2050 werden es ungefähr 68 Hochbetagte auf 100 50- bis unter 64jährige sein. Ein Aufhalten der Alterung der Bevölkerung mit demographischen Mitteln ist nicht möglich (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung [2004], S. 14 f.). Die demographische Vergangenheit mit niedriger Geburtenhäufigkeit und hoher (und zukünftig noch weiter steigender) Lebenserwartung hat zum Altersaufbau einer alternden Bevölkerung geführt. Um dem Altern der Bevölkerung wirkungsvoll zu begegnen, müsste über einen längeren Zeitraum stabil deutlich mehr Kinder geboren werden. Dies erscheint gegenwärtig eher unwahrscheinlich. Ein Aufhalten der Alterung über eine vermehrte (Netto-)Zuwanderung ist ebenfalls unrealistisch. Soll die Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter des Jahres 1995 von 55,8 Millionen bis zum Jahr 2050 unverändert bleiben, ist nach Berechnung der Vereinten Nationen eine Nettozuwanderung von jährlich etwa 458 Tausend Menschen notwendig (vgl. United Nations, Department of Economic and Social Affairs [2001], S. 42). Soll der potenzielle Unterstützungskoeffizient des Jahres 1995 von 4,4, d.h. das Verhältnis der Bevölkerung im Rentenalter (Bevölkerung 65 Jahre und älter) zur Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (Bevölkerung im Alter 15 – 64 Jahre) konstant bleiben, dann wäre eine jährliche Nettozuwanderung von 3,4 Millionen Menschen erforderlich. Dies würde im Jahr 2050 zu einer Bevölkerungszahl von 299 Millionen führen und eine Bevölkerungsdichte hervorrufen, die höher liegt als die heutige Bevölkerungsdichte von Frankfurt/Main (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung [2004], S. 64, United Nations, Department of Economic and Social Affairs [2001], S. 2 und 42). Diese Zahlen verdeutlichen, dass das Problem der Alterung der Bevölkerung über eine vermehrte Zuwanderung zu lösen unrealistisch ist. Es bleibt festzuhalten, dass über mehr Geburten und eine vermehrte Zuwanderung der Alterungsprozess der Bevölkerung zwar verlangsamt, aber nicht gestoppt werden kann (vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung [2004], S. 14).

19

Manfred Erbsland

2

Zusammenhang zwischen Alter und den Krankheitskosten bzw. den Gesundheitsausgaben

2.1

Altersspezifische Ausgabenprofile und Pflegequoten

Altersspezifische Ausgabenprofile geben die Ausgaben pro Kopf für die entsprechende Altersklasse wieder. Abbildung 3 zeigt die Krankheitskostenprofile nach Alter und Geschlecht für das Jahr 2004. Wie das Schaubbild verdeutlicht, verursacht die Altersgruppe der 65 – 84jährigen etwa das 5,4fache und die Gruppe der 85jährigen und Älteren das 13,3fache an Krankheitskosten wie die Alterskohorte der unter 15jährigen. Die Krankheitskosten geben die gesamtwirtschaftlichen Kosten wieder, die durch Erkrankungen anfallen. 3

3

20

Zur Abgrenzung der Krankheitskosten siehe Statistisches Bundesamt [2006d], S. 13 ff. Die Krankheitskostenstatistik des Statistischen Bundesamtes erfasst die Ausgaben für Gesundheit aller Ausgabenträger (GKV, Pflege-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung). Weiterhin berücksichtigt die Krankheitskostenrechnung auch die indirekten Kosten von Krankheit. Die direkten Kosten stellen den unmittelbar mit einer medizinischen Heilbehandlung, einer Präventios-, Rehabilitations- oder Pflegemaßnahme verbundenen monetären Ressourcenverbrauch im Gesundheitswesen dar. Die indirekten Kosten bewerten den mittelbar mit einer Erkrankung in Verbindung stehenden Ressourcenverlust. Hierbei handelt es sich vor allem um die durch Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und vorzeitigen Tod der erwerbsfähigen Bevölkerung hervorgerufenen potenziellen volkswirtschaftlichen (Wohlfahrts-) Verluste. Das Statistische Bundesamt weist diese in Form von verlorenen Erwerbstätigkeitsjahren nach. Zu den indirekten Kosten zählen auch die sogenannten intangiblen Kosten. Sie stellen den durch die Krankheit verursachten Verlust an Lebensqualität dar. Diese Kosten bleiben in der Krankheitskostenrechnunug unberücksichtigt, da sie monetär in der Regel nicht oder sehr schwer messbar sind (vgl. Statistisches Bundesamt [2006d], S. 13).

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen

1110 1020 1210

unter 15

1160 1440 900

15 bis unter 30

1550 1840 1270

30 bis unter 45

2910 3060 2770

45 bis unter 65

5950 6080 5770

65 bis unter 85 85 und darüber

11840

0

5000

10000

14750 15680

15000

Euro pro Kopf

Männer

Frauen

beide Geschlechter

Abb. 3: Krankheitskosten pro Kopf für das Jahr 2004 nach Alter und Geschlecht Quelle: Statistisches Bundesamt [2006d] sowie eigene Darstellung. Ursache für den kräftigen Anstieg der Krankheitskosten pro Kopf für die hochbetagten Einwohner ist die starke Zunahme der entsprechenden Kosten in Pflegeeinrichtungen, die in den Krankheitskosten enthalten sind. Bei den hochbetagten Frauen fallen knapp 54 % der Krankheitskosten in Einrichtungen der Pflege (8450 Euro) an. Bei den hochbetagten Männern beträgt der entsprechende Anteil nur 38 % (siehe Abb. 4), was auf deren geringere Pflegefallwahrscheinlichkeit zurückzuführen ist (siehe Abb. 5).

21

Manfred Erbsland

Frauen 65 - 84

5020

1060

Männer 65 - 84

5170

600

Frauen 85 u. ä.

7230

Männer 85 u.ä.

7330

0

8450

4510

5000

10000

15000

Euro je Einwohner in der entsprechenden Altersgruppe

Krankheitskosten ohne Krankheitskosten in Pflegeeinrichtungen Krankheitskosten in Pflegeeinrichtungen

Abb. 4: Krankheitskosten pro Kopf 2004 für ausgewählte Altersgruppen nach Geschlecht und Krankheitskosten in Pflegeeinrichtungen Quelle: Statistisches Bundesamt [2006d] sowie eigene Darstellung. Abb. 5 verdeutlicht, dass ab dem 75. Lebensjahr die Pflegequote merklich zunimmt. Für die über 90jährigen Frauen beträgt sie über 66,5 %, d.h. von 100 Frauen in dieser Altersgruppe sind 67 pflegebedürftig. Bei den Männern fällt die Quote für die entsprechende Altersgruppe mit 39,2 % deutlich geringer aus. Ta-

22

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen belle 2 gibt die Pflegequoten für die soziale Pflegeversicherung wieder, wobei hier nochmals nach Pflegestufen unterschieden wird. Von den pflegebedürftigen Frauen im Alter ab 90 Jahre sind 17,1% der Pflegestufe III zugeordnet, bei den Männern sind es nur 10,9 %. Da die Pflegestufen den Grad an Pflegebedürftigkeit abbilden, sind die hochbetagten pflegebedürftigen Männer relativ weniger schwerstpflegebedürftig als die Frauen.

65,6%

69,3%

80,00% 70,00%

Männer

rü be r

5 r9

0 r9

un te

d un 95

90

bi

s

s bi 85

80

bi

s

un te

un te

un te

r8

r8

0

5

8,5% 10,3%

4,9% 4,9% r7 s bi 75

70

bi

s

s bi 65

5

2,8% 2,4% un te

r7

r6

un te

un te s bi

60

0

1,7% 1,5% 5

0 r6 un te

s bi 15

bi s

un te r

15

0,00%

0,5% 0,5%

0,6% 0,5%

10,00%

da

15,8% 22,3%

30,00% 20,00%

26,9%

40,00%

29,0%

39,7%

50,00%

43,6%

60,00%

Frauen

Abb. 5: Pflegebedürftige zum Jahresende: Alter und „Pflegequote“4 Quelle: Statistisches Bundesamt [2007b], S. 13 sowie eigene Darstellung.

4

Die Daten der amtlichen Pflegestatistik weichen zum Teil von den Daten der sozialen Pflegeversicherung (SPV) und der privaten Pflegeversicherung (PPV) ab. So weist die amtliche Pflegestatistik für das Jahr 2005 rund 60000 Pflegebedürftige mehr aus als die SPV und PPV zusammen (2,07 Millionen). In Statistisches Bundesamt [2007b, S. 27] sind die Gründe hierfür ausführlich dargelegt.

23

Manfred Erbsland

Gruppen

Frauen Stufe I

Stufe II

Männer

Stufe III

zusam-

Stufe I

Stufe II

men

Stufe

zusam-

III

men

unter 15

0.28%

0.19%

0.10%

0.57%

0.40%

0.23%

0.11%

0.74%

15 - 19

0.26%

0.17%

0.14%

0.57%

0.36%

0.22%

0.18%

0.76%

20 - 24

0.22%

0.15%

0.12%

0.48%

0.30%

0.20%

0.15%

0.66%

25 - 29

0.19%

0.14%

0.09%

0.42%

0.28%

0.19%

0.12%

0.59%

30 - 34

0.21%

0.14%

0.08%

0.43%

0.30%

0.18%

0.11%

0.59%

35 - 39

0.24%

0.14%

0.08%

0.47%

0.34%

0.18%

0.10%

0.62%

40 - 44

0.29%

0.16%

0.08%

0.53%

0.37%

0.20%

0.10%

0.67%

45 - 49

0.37%

0.20%

0.09%

0.66%

0.45%

0.23%

0.10%

0.78%

50 - 54

0.46%

0.24%

0.11%

0.82%

0.56%

0.28%

0.11%

0.95%

55 - 59

0.63%

0.33%

0.14%

1.10%

0.77%

0.39%

0.15%

1.30%

60 - 64

0.88%

0.50%

0.18%

1.56%

1.11%

0.62%

0.20%

1.94%

65 - 69

1.31%

0.75%

0.25%

2.32%

1.59%

0.97%

0.30%

2.86%

70 - 74

2.55%

1.46%

0.47%

4.48%

2.54%

1.71%

0.52%

4.78%

75 - 79

5.39%

3.10%

1.02%

9.50%

4.33%

2.99%

0.88%

8.20%

80 - 84

11.09%

6.62%

2.26%

19.97%

7.74%

5.27%

1.49%

14.50%

85 - 89

18.72%

12.69%

4.41%

35.83%

13.24%

9.02%

2.36%

24.63%

90 u.ä.

24.51%

24.98%

10.19%

59.68%

20.85%

17.13%

4.64%

42.62%

Tab. 2: Soziale Pflegeversicherung: Alter, Pflegestufe und „Pflegequoten“ für das Jahr 2006 5. Quelle: Zusammengestellt und berechnet aus Bundesministerium für Gesundheit [2007]. 5

24

Die Pflegequote der jeweiligen Altersgruppe wird berechnet, indem die Zahl der Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung in der Altersgruppe (am 31.12.2006) durch die Zahl der in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Personen in der entsprechenden Altersgruppe (am 01.07.2007) dividiert wird. Hierbei begeht man einen gewissen Fehler, da neben dem nicht identischen Stichtag auch die Versicherten der GKV und SPV nicht ganz deckungsgleich sind. So sind am 01.07.2007 67611 SPV-Versicherte nicht GKV-versichert und 32634 GKV-Versicherte nicht SPV-versichert.

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen

Pro-Kopf-Leistungsausgaben in €

Die (RSA-)Leistungsausgaben nach Geschlecht und Alter der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zeigt Abbildung 6. Die Ausgabenprofile entstammen aus Berechnungen für den Risikostrukturausgleich für das Jahr 2005.6 Der Peak für das Alter 35 Jahre ist darauf zurückzuführen, dass die Versichertengruppe der Erwerbsminderungsrentner unter 35 Jahren dem Alter 35 zugeordnet werden (vgl. Bundesversicherungsamt [2006b], S. 16). Abb. 7 stellt das geschätzte Ausgabenprofil der GKV für das Jahr 1995 dem des Jahres 2005 gegenüber. Die Vergleichbarkeit der Ausgabenprofile ist aber stark eingeschränkt, insbesondere deswegen, weil das Profil für 1995 auf Schätzungen beruht.

6.000,00 5.000,00 4.000,00 3.000,00 2.000,00 1.000,00 0,00 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

Alter Männer

Frauen

Abb.6: Pro-Kopf-Leistungsausgaben der GKV 2005 Quelle: Zusammengestellt und errechnet aus Bundesversicherungsamt [2006a].

6

Die Berechnung der Ausgabenprofile aus den Daten des Bundesversicherungsamtes hat Herr Christian Igel durchgeführt, bei dem ich mich hiermit für die Bereitstellung der Ausgabenprofile bedanke.

25

Manfred Erbsland

Pro-Kopf-Ausgaben in €

6000.00 5000.00 4000.00

Männer

3000.00 2000.00 1000.00 0.00 0-14 15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79

80 u.ä

1995

2005

Pro-Kopf-Ausgaben in €

6000.00 5000.00 4000.00

Frauen

3000.00 2000.00 1000.00 0.00 0-14 15-19 20-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79

80 u.ä

1995

2005

Abb. 7: Pro-Kopf-Ausgabenprofile der GKV von Männern und Frauen nach Altersgruppen für die Jahre 1995 und 2005. Quelle: Berechnet und Zusammengestellt aus Daten der Abb. 6, Bundesversicherungsamt( [2006a], Tabelle: SA40_GK_2005_19.10.06.txt) und Erbsland/Wille [1995], S.682 ff.

26

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen Dass zwischen dem 15. und 40. Lebensjahr die Leistungsausgaben pro Kopf der Frauen über jenen der Männer zu liegen kommen, ist vor allem auf die Ausgaben für Schwangerschaft und Geburt zurückzuführen. Jenseits des fünfzigsten Lebensjahres verursachen die männlichen Versicherten höhere Gesundheitsausgaben pro Kopf als die weiblichen Versicherten (siehe Abb. 6 und 7). Ein Vergleich der Krankheitskostenstatistik des Statistischen Bundesamtes mit den Gesundheitsausgaben der GKV zeigt, dass bei Berücksichtigung aller Kostenträger die Krankheitskosten pro Kopf in den oberen Altersgruppen bei den Frauen über denen der Männer liegen. Betrachtet man nur die Leistungsausgaben der GKV, so liegen in den höheren Altersgruppen die Ausgaben pro Kopf für Männer über jenen der Frauen (vgl. hierzu auch Henke/Reimers [2007], S. 738 f.). Ursächlich für den Unterschied in den oberen Altersgruppen sind vor allem die unterschiedlichen durchschnittlichen Pflegeausgaben (siehe Abb. 4). Die Verläufe der Kosten- und Ausgabenprofile legen folgenden Zusammenhang zwischen Alter und Gesundheitsausgaben nahe. Der Alterungsprozess beeinflusst die Kosten bzw. Ausgaben für Gesundheit pro Kopf in erheblichen Umfang, denn ältere Menschen leiden im Vergleich zu jüngeren häufiger an einer oder mehreren Krankheit(en). Dies verdeutlicht der Morbiditätsindex in Tabelle 3, der auf Daten des telefonischen Gesundheitssurveys 2003 beruht (vgl. Kohler/Ziese [2004]). So leiden 27,9 % der jungen Männer (Altersgruppe 18 – 29 Jahre) an keiner (chronischen) Krankheit. Bei den über 65jährigen Männern sind es nur noch 9,4 %. Auch die Multimorbidität nimmt mit dem Alter zu. Leiden bei den jungen Frauen 1 % an mehr als 4 (chronischen) Krankheiten, so sind es bei den über 65jährigen Frauen 16,4 %. Da mit zunehmendem Alter die Morbidität und die Multimorbidität zunehmen, steigt somit auch das Ausgabenprofil an. Entsprechend nehmen in einer demographisch alternden Bevölkerung die Krankheitskosten bzw. Gesundheitsausgaben pro Einwohner zu.

27

Manfred Erbsland

Teilgruppe Männlich 18 – 19 Jahre 30 – 39 Jahre 40 – 65 Jahre über 65 Jahre Weiblich 18 – 19 Jahre 30 – 39 Jahre 40 – 65 Jahre über 65 Jahre

Krankheiten in ... Bereichen1) Keinem 1–2 3–4 20,0 58,6 18,8 27,9 59,6 12,5 24,0 63,1 12,4 16,4 59,8 20,7 9,4 45,5 36,2 13,8 54,3 25,7 18,2 63,7 17,1 16,8 61,7 19,5 13,2 54,5 26,5 7,1 37,1 39,3

>4 2,6 ----0,6 3,1 8,9 6,2 1,0 2,0 5,8 16,4

1) Anteile in Prozent, gewichtet.

Tab. 3: Morbiditätsindex gruppiert nach Geschlecht und Alter Quelle: Kohler/Ziese [2004], S. 26 sowie eigene Darstellung.

2.2

„Rektangularisierung“ der Überlebenskurve

Schaubild 8 gibt die Überlebenskurven für Männer und Frauen wieder. Die Überlebenskurve hat sich in den letzten 130 Jahren stark verändert. Der Rückgang der Säuglings- und Kindersterblichkeit führt zu einem Verschwinden des starken Abfalls der Überlebenskurve am Lebensanfang. Weiterhin zeigt die Kurve nur eine leichte Verschiebung nach rechts außen, so dass die Überlebenskurve im hohen Alter immer steiler abfällt. Im Zeitablauf hat sich somit eine Rektangularisierung der Überlebenskurve eingestellt (vgl. Felder [2006], S. 51, Breyer/ Zweifel/Kifmann [2005], S. 519 f.). In der Rektangularisierung spiegelt sich der Anstieg der Lebenserwartung wider. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tragen eine bessere Hygiene, eine bessere Ernährung und Fortschritte in der Bekämpfung von Infektionskrankheiten zu einer Erhöhung der Lebenserwartung bei. Vor allem die Reduzierung der Sterblichkeit bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen hat in den letzten Jahrzehnten die Lebenserwartung weiter ansteigen lassen (vgl. Felder [2006], S. 53). Es stellt sich nun folgende Frage: Werden die durch die gestiegene Lebenserwartung gewonnenen Lebensjahre in Gesundheit oder Krankheit verbracht? Hierzu existieren in der gesundheitsökonomischen Literatur zwei Thesen, die im folgenden Kapitel vorgestellt und diskutiert werden.

28

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen 100000 90000

Überlebende

80000 70000 60000 50000 40000 30000

Frauen

20000 10000 0 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Alter 1871 / 18815

1949 / 1951

2002 / 2004

Überlebende

100000 90000 80000 70000 60000 50000 40000 30000

Männer

20000 10000 0 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Alter 1871 / 1881

1949 / 1951

2002 / 2004

Abb. 8: Überlebenskurven für Frauen und Männer 1871/81 – 2002/04. Quelle: Statistisches Bundesamt [2006f] sowie eigene Darstellung.

29

Manfred Erbsland

2.3

Medikalisierungs- und Kompressionsthese

Nehmen trotz steigender Lebenserwartung zukünftig alle Altersgruppen vermehrt medizinische Leistungen in Anspruch, dann werden die aufgrund der steigenden (ferneren) Lebenserwartung gewonnenen Lebensjahre in Krankheit und nicht in Gesundheit verbracht. Der Grund hierfür ist, dass der medizinischtechnische Fortschritt dazu beiträgt, dass auch nicht gesunde Menschen bis in höhere Altersstufen überleben. Zahlreiche Menschen werden vor dem Tod gerettet, aber nicht geheilt. Die Gesamtmorbidität nimmt in diesem Fall im Vergleich zur Bevölkerung zu, da die Zahl der in schlechter Gesundheit verbrachten Lebensjahre überproportional ansteigt. Wir erhalten somit in der Zeit eine abnehmende Mortalität bei zunehmender Morbidität. Hieraus ergibt sich eine Versteilerung der Ausgabenprofile im Zeitablauf. Dies entspricht der sogenannten Medikalisierungsthese (vgl. Kuhlmey, A. [2007], S. 801ff. Schmeinck [2006], S. 229 ff., Henke/Reimers [2007], S. 737 ff.). Der Vergleich der Altersprofile der GKV für das Jahr 1995 mit dem für das Jahr 2005 für die Älteren (ab 65 Jahren) zeigt eine Versteilerung der Ausgabenprofile. So liegen die Pro-Kopf-Aussagen für die 80jährigen Frauen im Jahr 1995 um knapp 53 % über jenen der 65 – 69jährigen. Im Jahr 2005 sind es 73 % (siehe Abb. 9). Dieses empirische Ergebnis widerspricht der Medikalisierungsthese nicht. Aufgrund der Medikalisierungsthese hängt die altersbedingte Zunahme der ProKopf-Ausgaben, wie sie sich im Ausgabenprofil für ein bestimmtes Jahr zeigt, vom erreichten Lebensalter im Sinne der Differenz zwischen Kalender- und Geburtsjahr ab. Dies wird als (Lebens-)Alterseffekt bezeichnet (Vgl. Erbsland/Ried/Ulrich [1999], S. 175). Dieser physische Lebensalterseffekt bewirkt, dass in einer alternden Bevölkerung die Nachfrage nach medizinischen und pflegerischen Leistungen und damit auch die entsprechenden Ausgaben ansteigen. Die sogenannte Kompressionsthese behauptet, dass die durch die steigende Lebenserwartung gewonnenen Lebensjahre in Gesundheit verbracht würden. Auch der Gesundheitszustand der Bevölkerung in höheren Altersstufen würde sich aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts verbessern. Menschen würden nicht mit zunehmendem Alter kontinuierlich kränker, sondern in Abhängigkeit von der Annäherung zum Tod, der aufgrund der steigenden Lebenserwartung immer später einsetzt (vgl. Kuhlmey [2007], S. 801 ff, Schmeinck [2006], S. 230 f., Henke/Reimers [2007], S. 740 ff.).

30

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen

180 170

16 3

160

Index

150

Männer

14 6

140 130

100

1995 2005

12 4

120 110

14 2

13 1

115 10 0 10 0

90 65-69

70-74

75-79

80 u.ä

Altersgruppen 180

17 3

170 160

Index

150

15 3 14 6

Frauen

13 9

140 130

100

2005

12 3 117

120 110

1995

10 0 10 0

90 65-69

70-74

75-79

80 u.ä

Altersgruppen

Abb. 9: Vergleich der Ausgabenprofile der Älteren (Altersgruppe 65 – 69 = 100) Quelle: Eigene Berechnungen aus den Daten zu Abb. 7.

31

Manfred Erbsland Der altersbedingte Zuwachs der Pro-Kopf-Ausgaben hängt somit von der noch verbleibenden Lebenszeit im Sinne der Differenz zwischen Kalenderjahr und Todeszeitpunkt ab. Liegt ein solcher sogenannter Restlebenszeiteffekt vor, dann besitzt eine alternde Bevölkerung keine Auswirkung auf die Pro-KopfAusgaben. Jede Person steht einmal 3 Monate vor ihrem Todeszeitpunkt7, unabhängig wie alt sie letztendlich wird. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass bei einer Zunahme der Lebenserwartung um z.B. 7 Jahre ein 80jähriger im Jahr 2050 das gleiche relative Pro-Kopf-Ausgabenniveau wie ein heutiger 73jähriger hätte. Dann wäre nicht der Alterungsprozess der Bevölkerung das Problem im Hinblick auf die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, sondern der medizinisch-technische Fortschritt, der sich in einer intensiven medizinischen Betreuung des Patienten am Ende seines Lebens niederschlägt (vgl. Erbsland/Ried/Ulrich [1999], S. 178.]). Die Gesundheitsausgaben zur Vermeidung des Todes (sogenannte „Sterbekosten“) betragen ein Vielfaches der Gesundheitsausgaben für Überlebende, wie Abbildung 10 für die GKV zeigt. Das Schaubild offenbart aber auch, dass die Sterbekosten mit zunehmendem Alter stark sinken und die Ausgaben für Überlebende mit zunehmendem Alter langsam ansteigen (Morbiditätseffekt). Es liegen somit zwei gegenläufige Effekte vor, die auf die Gesundheitsausgaben einwirken. Der Rückgang der Sterbekosten führt bei einer alternden Bevölkerung zu einem Rückgang der Gesundheitsausgaben und der Morbiditätseffekt zu einem Anstieg. Da jedoch die Zahl der Überlebenden in der jeweiligen Alterskohorte weit höher ist als die Zahl der jährlich Sterbenden, nehmen die Ausgaben mit steigendem Alter zu, wie Abbildung 10 zeigt (vgl. Schmeinck [2006], S. 231).8

7 8

32

Vorausgesetzt, dass sie mindestens drei Monate alt wird. Einzige Ausnahme ist die Alterskohorte der 95jährigen und Älteren. Die durchschnittlichen Gesamtausgaben für diese Altersgruppe liegt leicht unter jene der Alterskohorte der 90 – 94jährigen.

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen

50000

4404

45276

45000

4000

3612

3500

2786 2469

3000

29965

25000

2500

23040

20000

2000

18019 14087

15000

1500

10276

10000 1851

1931

2054

5000 4500

3165

35000

5000

4520

4054 38912

40000

30000

4575

2215

2387

2560

5735 3962 2883

1000 500 0

0 60 - 64 65 - 69 70 - 74 75 - 79 80 - 84 85 - 89 90 - 94 95 - 99 Gesundheitsausgaben für Gestorbene Gesundheitsausgaben für Überlebende Gesamtausgaben

Abb. 10: Entwicklung der GKV-Ausgaben in Abhängigkeit vom Alter (in Euro) Quelle: Schmeinck [2007], S. 231 sowie eigene Darstellung.9 Es wird auch oft übersehen, dass der Effekt des Rückgangs der Sterbekosten dadurch abgeschwächt wird, dass in einer alternden Gesellschaft die Zahl der Sterbefälle zunimmt (vgl. Henke/Reimers [2007], S. 742). Die prognostizierte Entwicklung der Sterbefälle für Deutschland gibt Schaubild 11 wieder. Nach der mittleren Variante der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes nimmt die Zahl der Sterbefälle von 2006 bis 2050 zwischen 26 % (Obergrenze) und 32 % (Untergrenze) zu. Der Grund hierfür ist, dass die „Babyboomers“ in den nächsten Jahrzehnten älter werden und sterben.

9

Schmeinck nennt als Quelle für die Daten: Boroch, W.: Deutschland altert – Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die GKV, in: Gesellschaftspolitische Kommentare, 11/2005, S. 14.

33

Manfred Erbsland Medikalisierungs- und Kompressionseffekt können auch gemeinsam in dem Sinne auftreten, dass ein Teil der Bevölkerung die zusätzlich gewonnenen Lebensjahre in Krankheit verbringt und der andere Teil in Gesundheit (vgl. Kuhlmey, A. [2007], S. 804). Dies ist die sogenannte Bi-Modalitätsthese (Rothgang [2006], Abb. 11). Aufgrund der oben vorliegenden Krankheitskosten- bzw. Leistungsausgabenprofile (vgl. Abb. 3 und 6) kann zwischen Medikalisierungs- und Kompressionsthese bzw. zwischen Lebensalters- und Restlebenszeiteffekt nicht diskriminiert werden. Ob überhaupt bzw. wie stark eine steigende Lebenserwartung der Bevölkerung die Gesundheitsausgaben ansteigen lässt, ist aufgrund der mangelhaften Datenlage für Längsschnittsbetrachtungen empirisch noch nicht endgültig geklärt (vgl. Henke / Reimers [2007], S. 743, Schmeinck [2006], S. 231).

135 130

Index

125 120 115 110 105 100 2006

2050 Jahr Untergrenze

Obergrenze

Abb. 11: Entwicklung der Gestorbenen, mittleren Variante der 11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes (2006 = 100) Quelle: Statistisches Bundesamt [2006a].

34

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen Die Abbildungen 12 und 13 verdeutlichen nochmals schematisch die Unterschiede zwischen Medikalisierungs- und Kompressionsthese bzw. zwischen Lebensalters- und Restlebenszeiteffekt. Die beschriebenen Thesen bezogen sich ursprünglich auf die Krankenversicherung. Inwieweit sind sie auch für die Pflegeversicherung von Relevanz?

Ausgangslage

Jahre in guter Gesundheit

Medikalisierungsthese

Jahre in guter Gesundheit

Kompressionsthese

Bi-Modalitätsthese

Jahre in schlechter Gesundheit Jahre in schlechter Gesundheit

Jahre in guter Gesundheit

Jahre in schlechter Gesundheit

Jahre in guter

Jahre in

Gesundheit

schlechter Gesundheit

Lebenserwartung Abb. 12: Schematische Darstellung des Zusammenhangs zwischen Mortalität und Morbidität. Quelle: Rothgang [2006] Folie 11 sowie eigene Darstellung.

35

Manfred Erbsland

Restlebenszeiteffekt

(Lebens-)Alterseffekt

Geburt

heute

Tod

Abb. 13: Schematische Darstellung des (Lebens-)Altersund Restlebenszeiteffekts. Quelle: Eigene Darstellung Der Anteil der Pflegebedürftigen nimmt mit dem Alter zu (siehe Abb. 5 und Tab. 2). Dies spricht zunächst einmal für eine Abhängigkeit der Pflegehäufigkeit vom Alter im Sinne des Lebensalterseffekts. Rothgang [2006] beschreibt anhand von Daten der Gmünder Ersatzkasse, dass es durchaus auch in der Pflege eine Art Restlebenszeiteffekt geben könnte. So zeigt er, dass die Pflegehäufigkeit von im Jahr 2004 Verstorbener mit der Nähe zum Tod zunimmt (vgl. Rothgang [2006], siehe Abb. 14). 50%

47%

40% 32%

30% 20%

23% 17% 13%

10% 0% 2000

2001

2002

2003

Jahr

Abb. 14: Pflegehäufigkeit der 2004 Verstorbenen Quelle: Rothgang [2006], Abb. 14.

36

2004

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen Die folgenden Modellrechnungen bzw. Simulationen beruhen auf den oben beschrieben Krankheitskosten- und Gesundheitsausgabenprofilen (siehe Abb. 3 u. 6) sowie den Pflegequoten (siehe Abb. 5), die reine Querschnittsdaten sind. Die Auswirkungen des technischen Fortschritts können aber im Querschnitt nicht erfasst werden. Die folgenden Berechnungen erfassen daher nur den (Lebens-) Alterseffekt und schreiben alle anderen Einflussgrößen auf dem heutigen Niveau fest. Die Simulationen beantworten beispielsweise die spezifische Fragestellung, welche Höhe die Behandlungsausgaben der GKV im Jahr 2050 erreichen würden, wenn die zukünftige Bevölkerung mit den heutigen technischen Möglichkeiten behandelt würde. Sie ermöglicht aber noch keine Aussagen über das tatsächliche Ausmaß des zukünftigen Handlungsbedarfs. Hierzu müssten die ausgeklammerten Effekte berücksichtigt werden (vgl. Erbsland/Ried/Ulrich [1999], S. 179 f.).

3 Modellrechnungen zu den demographischen Effekten auf das Gesundheitswesen 3.1 Bevölkerungsentwicklung in Deutschland Die folgenden Modellrechnungen greifen auf die 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zurück (vgl. Statistisches Bundesamt [2006a, 2006b, 2006c]. Diese Prognose bis zum Jahr 2050 bildet in Verbindung mit den Krankheitskosten- und Gesundheitsausgabenprofilen sowie den Pflegequoten (vgl. Abb. 3, 5, 6) die Berechnungsgrundlagen für die Ermittlung jener Effekte, die im Prognosezeitraum von der demographischen Entwicklung als isolierter Einflussgröße auf die Krankheitskosten und die Gesundheitsausgaben sowie die Zahl der Pflegebedürftigen ausgehen. Eine zusätzliche Status-quoPrognose der demographischen Effekte auf die Einnahmen der GKV bietet schließlich die Möglichkeit, auch die rein demographische verursachte Entwicklung des Beitragssatzes der GKV bis zum Jahr 2050 abzuschätzen. Die 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung basiert auf dem nach Geschlecht und nach den Altersjahren bis 100 gegliederten Ergebnis der Bevölkerungsfortschreibung mit Stand vom 31.12.2005. Mit Hilfe altersspezifischer Geburten- und Sterbeziffern und unter Berücksichtigung von Wanderungssalden für

37

Manfred Erbsland die einzelnen Altersjahre erfolgt eine jahrgangsweise Fortschreibung des Ausgangsbestandes bis zum Jahr 2050. Aufgrund unterschiedlicher Annahmen bezüglich Geburtenziffer, Lebenserwartung und Wanderungssaldo stellt das Statistische Bundesamt 12 Szenarien vor. Die Annahmen, die den einzelnen Szenarien zugrunde liegen, fasst Tab. 4 zusammen. Den folgenden Berechnungen liegt die „mittlere“ Bevölkerung zugrunde, die von einer Geburtenhäufigkeit von annähernd 1,4 ausgeht, eine Lebenserwartung im Jahr 2050 für Männer von 83,5 und für Frauen von 88 Jahren unterstellt sowie von einem Wanderungssaldo von 100000 (Untergrenze) bzw. 200000 (Obergrenze) pro Jahr ausgeht (siehe Tab. 4 sowie Statistisches Bundesamt [2006b], S. 42). Die Bevölkerung wird von heute 82,4 Millionen auf 74 Millionen (Obergrenze) bzw. auf knapp 69 Millionen (Untergrenze) schrumpfen. Tabelle 5 gibt den Altenquotienten bei verschiedenen Altersabgrenzungen für die „mittlere“ Bevölkerung wieder. Der Altenquotient (für 65 Jahre), d.h. die Anzahl der 65jährigen und älter je 100 Personen im Alter von 20 bis unter 65 Jahre, liegt im Jahr 2005 bei 32 und wird sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln. Variante

Geburtenhäufigkeit (Kinder je Frau)

„Mittlere“ Bevölkerung, Untergrenze „Mittlere“ Bevölkerung, Obergrenze „Relativ junge“ Bevölkerung „Relativ alte“ Bevölkerung

annähernd konstant bei 1,4 leicht steigend auf 1,6 leicht fallend auf 1,2

Annahmen zu: Lebenserwartung bei Geburt in 2050

Wanderungssaldo (Personen/ Jahr)

Basisannahme: Anstieg bei Jungen um 7,6 und bei Mädchen um 6,5 Jahre Basisannahme Hoher Anstieg: bei Jungen um 9,5 und bei Mädchen um 8,3 Jahre

Tab. 4: Varianten der 11. Bevölkerungsvorausberechnung Quelle: Statistisches Bundesamt[2006b], S. 13

38

100 000 200 000 200 000

100 000

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen

Jahr

Altenquotienten für: 60 Jahre

65 Jahre

67 Jahre

2005

45

32

26

2050 Untergrenze

91

64

56

2050 Obergrenze 85 60 52 Tab. 5: Altenquotienten für die „mittlere“ Bevölkerung bei verschiedenen Altersabgrenzungen. Quelle: Statistisches Bundesamt [2006b], S. 25.

3.2

Rein demographischer Effekt auf die Krankheitskosten und die Zahl der Pflegebedürftigen

Um den rein demographischen Effekt auf die Krankheitskosten zu ermitteln, wird unterstellt, dass die altersgruppenspezifischen Krankheitskosten des Jahres 2004 unverändert für den gesamten Prognosezeitraum gelten (zur Vorgehensweise siehe Erbsland [1994], S. 8). Alle anderen Einflussgrößen werden auf dem Niveau des Jahres 2004 festgeschrieben, d.h. wir abstrahieren u.a. vom medizinisch-technischen Fortschritt, vom Preisstruktureffekt sowie von Veränderungen im Morbiditätsspektrum (vgl. Erbsland/Wille [1995], S. 670). Schaubild 15 zeigt die Entwicklung der Krankheitskosten für den Prognosezeitraum 2006 – 2050. Zwei Effekte wirken auf die Entwicklung der Krankheitskosten. Zum einen führt die Alterung der Bevölkerung zu einem Anstieg der Gesundheits- und Pflegeausgaben, während auf der anderen Seite die Schrumpfung der Einwohnerzahl eine geringere Nachfrage nach Gesundheitsleistungen erwarten lässt, was zu einer Entlastung auf der Ausgabenseite führt. Solange der erste Effekt größer ist als der zweite Effekt, steigen die Krankheitskosten rein demographisch bedingt an. Ist hingegen der zweite Effekt größer als der erste Effekt, dann gehen die Krankheitskosten zurück (vgl. Erbsland [1994], S. 11). Die Krankheitskosten insgesamt steigen um 16,6 % (Untergrenze) bzw. um 22 % (Obergrenze) an. Die bei der „mittleren“ Bevölkerung (Obergrenze) unterstellte höhere Nettozuwanderung und die hieraus resultierende relativ höhere Bevölkerungszahl, lässt die Krankheitskosten stärker ansteigen. Bei den Krankheitskosten pro Einwohner ist es gerade umgekehrt. Im Modell mit der geringeren (Netto-)Zuwanderung nehmen die Krankheitskosten pro Kopf um 39,6 % zu, während die höhere Zuwanderung nur zu einem Anstieg von 35,8 % führt. Hier macht sich bemerkbar, dass aufgrund der Zuwanderung die Bevölkerung etwas jünger ist.

39

Manfred Erbsland

220 200

Index

180

Obergrenze

160 140 120 100 2006

2050 Jahr

Krankheitskosten

in Pflegeeinrichtungen

ohne Pflegeeinrichtungen 220 200 Index

180 160

Untergrenze

140 120 100 2006

2050 Jahr

Krankheitskosten

in Pflegeeinrichtungen

ohne Pflegeeinrichtungen

Abb. 15: Entwicklung der Krankheitskosten nach Arten, rein demographischer Effekt (2006 – 2050, Index zur Basis 2006). Quelle: Eigene Berechnungen.

40

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen Schaubild 15 zeigt auch, dass vor allem die Krankheitskosten im Bereich der Pflegeeinrichtungen demographiebedingt stark zulegen. Sie steigen um mehr als das Doppelte im Prognosezeitraum an. Ursächlich hierfür ist, dass die Zahl der Hochbetagten enorm wächst und somit auch die Zahl der Pflegebedürftigen. Bis zum Jahr 2050 wird sich rein demographisch bedingt die Zahl der Pflegebedürftigen verdoppeln, wie Abbildung 16 veranschaulicht. Die Krankheitskosten außerhalb von Pflegeeinrichtungen nehmen bis zum Jahr 2035 um 9,6 % (Untergrenze) bzw. bis zum Jahr 2036 um 12,8 % (Obergrenze) zu und sinken danach wieder. Sie liegen im Jahr 2050 aber noch 4,9 % (Obergrenze) bzw. 10,6 % (Untergrenze) über dem Ausgangsniveau von 2006. 220 200

Index

180 160 140 120 100 2006

2050 Jahr Untergrenze

Obergrenze

Abb. 16: Entwicklung der Pflegebedürftigen, rein demographischer Effekt, mittlere Variante der 11. Bevölkerungsvorausberechnung (2006 – 2050, Index zur Basis 2006) Quelle: Statistisches Bundesamt [2006a, 2007b] sowie eigene Berechnungen.

41

Manfred Erbsland

3.3

Rein demographischer Effekt auf Ausgaben, Einnahmen und Beitragssatz der gesetzlichen Krankenversicherung

Die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Prognosezeitraum bei im ganzen Zeitraum unverändertem Ausgabenprofil des Jahres 2005 (vgl. Abb. 7) spiegeln die Schaubilder 17 und 18 wider. Hierbei wird unterstellt, dass die Altersstruktur der Versicherten in der GKV jener der Gesamtbevölkerung gleicht. Die Leistungsausgaben steigen demographiebedingt bis zum Jahr 2040 um 12,8 % (Untergrenze) bzw. bis zum Jahr 2042 um 14,8 % (Obergrenze) an. Danach gehen sie bis 2050 auf das Indexniveau 110 (Untergrenze) bzw. 112,5 (Obergrenze) zurück. Eine höhere (Netto-)Zuwanderung und die hieraus resultierende höhere Bevölkerungszahl lässt die Gesundheitsausgaben stärker ansteigen. 120 115

Index

110 105 100 95 90 85 80 2006

2050 Jahr Ausgaben (Untergrenze) Ausgaben (Obergrenze)

Beitragspfl. Einkommen (Untergrenze) Beitragspfl. Einkommen (Obergrenze)

Abb. 17: Entwicklung der GKV-Leistungsausgabe und beitragspflichtigen Einkommen, rein demographischer Effekt, mittlere Variante der 11. Bevölkerungsvorausberechnung (2006-2050, Index zur Basis 2006). Quelle: Eigene Berechnungen aus Bundesversicherungsamt [2006a] und Statistisches Bundesamt [2006a].

42

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen Die Pro-Kopf-Ausgaben nehmen über den gesamten Prognosezeitraum kontinuierlich zu, wobei der Zuwachs 31,8 % (Untergrenze) bzw. 25,6 % beträgt (siehe Abb. 18). Hier spiegelt sich der durch die Alterung der Bevölkerung verursachte Zuwachs an Ausgaben für medizinische Leistungen wider. Diese Zunahme überkompensiert zunächst den Rückgang der Behandlungsausgaben aufgrund der Schrumpfung der Bevölkerungszahl, so dass die Ausgaben zunächst ansteigen. Erst ab dem Jahr 2041 (Untergrenze) bzw. 2043 (Obergrenze) reicht dieser Zuwachs nicht mehr zur Kompensation aus, und die Ausgaben fangen an zu sinken.

135 130

Index

125 120 115 110 105 100 2006

2050 Jahr Untergrenze

Obergrenze

Abb. 18: Entwicklung der GKV-Leistungsausgaben pro Kopf, rein demographischer Effekt, mittlere Variante der 11. Bevölkerungsvorausberechnung (2006-2050, Index zur Basis 2006). Quelle: Eigene Berechnungen aus Bundesversicherungsamt [2006a] und Statistisches Bundesamt [2006a].

43

Manfred Erbsland Die zukünftigen Einnahmen der GKV hängen vor allem von der Entwicklung der Bruttolohn- und -gehaltssumme, vom Wachstum der Beschäftigtenzahl, d.h. der jeweiligen Anzahl von Arbeitslosen und beitragsfrei (mit-)versicherten Familienmitgliedern und von der Veränderung des Rentenniveaus ab. Auf die zukünftigen Einnahmen der GKV stellt die demographische Entwicklung offensichtlich nur eine unter zahlreichen Einflussgrößen dar, zwischen denen auch noch zahlreiche Wechselwirkungen existieren. Um die demographischen Effekte auf die Einnahmen der GKV zu separieren, unterstellt die folgende Modellrechnung im Sinne einer Status-pro Prognose die Konstanz aller anderen Einflussfaktoren (vgl. Erbsland/Wille [1995], S. 674 f.). Aufgrund der obigen Überlegungen liegen der Schätzung der demographischen Effekte auf die zukünftigen Einnahmen und den Beitragssatz der GKV folgende Annahmen zugrunde (vgl. Erbsland [1995], S. 20 ff.): x

Konstante beitragspflichtige Einkommen pro (erwerbstätiges) Mitglied und konstante beitragspflichtige Rente pro Rentner über den gesamten Prognosezeitraum 2006 – 2050. Für das Jahr 2005 erhält man für Mitglieder 23021,02 Euro und für die Rentner 13912 Euro (Ulrich/Schneider [2007], S. 786, Fn. 10).

x

Konstanter Anteil der 61jährigen und Ältere in der Krankenversicherung der Rentner versichert. Als Anteil ergibt sich: 0,8555.10 Alternativrechnung ab dem Jahr 2030: gleicher Anteil der 65jährigen und älter in der Krankenversicherung der Rentner versichert.11

x

Konstanter Anteil der (erwerbstätigen) Mitglieder an der Bevölkerung zwischen 20 bis unter 61 Jahren. Als Anteil ergibt sich 0,7202. Alternativrechnung ab dem Jahr 2030: gleicher Anteil der (erwerbstätigen) Mitglieder an der Bevölkerung zwischen 20 und unter 65 Jahren.12

10

Das durchschnittliche Rentenzugangsalter liegt im Jahr 2006 bei 60,9 Jahren (Deutsche Rentenversicherung Bund [2007], S. 70). Aus diesem Grund nehmen wir an, dass alle ab dem Alter 61 als Rentner anzusehen sind. Die 20 bis unter 61jährigen sehen wir als potenziell Erwerbstätige an (vgl. Erbsland [1995], S. 21). Zu den Mitgliederzahlen siehe Bundesministerium für Gesundheit [2006]. 11 Hier wird simuliert, dass das tatsächliche Renteneintrittsalters sich von 61 Jahren auf 65 Jahre erhöht. Wobei unterstellt wird, dass weiterhin 85,55 % der Rentner als Mitglied in der Krankenversicherung der Rentner versichert sind. 12 Hier wird angenommen, dass die Erhöhung des Renteneintrittsalters von 61 auf 65 Jahre an dem Anteil der (erwerbstätigen) Mitglieder in der GKV an den Bevölkerungsgruppe 20 bis unter 65 Jahre sich nicht verändert.

44

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen

x

90 % der Bevölkerung sind in der GKV versichert.

x

Die Verwaltungsausgaben betragen 5 % der Leistungsausgaben.

Die Entwicklung der beitragspflichtigen Einkommen im Prognosezeitraum bei einem Rentenzugangsalter von 61 Jahren zeigt Abbildung 17. Aufgrund der Schrumpfung der Bevölkerungszahl sinkt die Zahl der Beitragszahler. Der Anstieg des Altenquotienten senkt die durchschnittlichen beitragspflichtigen Einkommen, da das Durchschnittseinkommen der Rentner niedriger ist als das der (erwerbstätigen) Mitglieder. Die beitragspflichtigen Einkommen steigen bis zum Jahr 2013 (Obergrenze) bzw. 2011 (Untergrenze) an und betragen am Ende des Prognosezeitraums nur noch 90 % (Obergrenze) bzw. 84 % (Untergrenze) des Basisjahres (siehe Abb. 17). Der geringere Rückgang der Bevölkerungszahl aufgrund der höheren (Netto-)Zuwanderung lässt die beitragspflichtigen Einkommen weniger sinken. Da sich zwischen den Leistungsausgaben und den beitragspflichtigen Einkommen im Zeitablauf eine immer größere Lücke aufreißt, muss der Beitragssatz zwangsläufig ansteigen (siehe Abb. 19). Der Beitragssatz steigt bei einem Rentenzugangsalter von 61 Jahren (RZA 61) von 14,28 % auf 17,81 % (Obergrenze) bzw. 18,71 % (Untergrenze) an. Eine höhere (Netto-)Zuwanderung führt zu einem geringeren Anstieg des Beitragssatzes. Bis zum Ende des Prognosezeitraums wächst die Differenz zwischen den Beitragssätzen bis auf 0,9 Prozentpunkte an (siehe Abb. 19). Geht man ab dem Jahr 2030 von einem Rentenzugangsalter von 65 Jahren (RZA 65) aus, dann ergibt sich rein demographisch bedingt im Jahr 2050 ein Beitragssatz von 18,31 % (Untergrenze) bzw. 17,43 % (Obergrenze) (siehe Abb. 19). Der beitragssenkende Effekt einer vermehrten Zuwanderung fällt bei höheren Rentenzugangsalter leicht geringer aus (0,88 Prozentpunkte). Eine Erhöhung des Rentenzugangsalters führt zu einem geringeren Anstieg des Beitragssatzes. Die Differenz am Ende des Prognosezeitraums liegt bei 0,38 Prozentpunkten (Obergrenze) bzw. 0,4 Prozentpunkten (Untergrenze) (siehe Abb. 19). Eine vermehrte Zuwanderung und eine Erhöhung des Rentenzugangsalters führen rein demographisch bedingt zu einer Beitragssatzdifferenz im Jahr 2050 von 1,28 Prozentpunkten (siehe Abb. 19).

45

Manfred Erbsland

19.00% 18.50% 18.00% 17.50%

Index

17.00% 16.50% 16.00% 15.50% 15.00% 14.50% 14.00% 2006

2050 Jahr Un tergren ze ( RZA 61)

Obergren ze ( RZA 61)

Un tergren ze ( RZA 65)

Obergren ze ( RZA 65)

Abb. 19: Beitragssatzentwicklung , rein demographischer Effekt, mittlere Varianten der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (2006 – 2050). Quelle: Eigene Berechnungen.

46

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen

4

Schlussbemerkungen

Die Hochrechnungen der rein demographischen Effekte führen in der Tendenz zu einer Beitragssatzsteigerung in der GKV in einer Bandbreite zwischen 3,2 und 4,4 Prozentpunkten bis zum Jahr 2050. Dies erscheint auf den ersten Blick wenig dramatisch. Man darf aber nicht übersehen, dass diese Schätzungen zum einen auf sehr restriktiven Annahmen beruhen und zum anderen nur die isolierten Effekte einer einzigen Einflussgröße von Ausgaben- und Einnahmen der GKV berücksichtigen (vgl. Erbsland/Wille [1995], S. 677). Neben der Alterung der Bevölkerung wird vor allem der medizinisch-technische Fortschritt als ausgabensteigernder Faktor gesehen (vgl. Henke/Reimers [2007], S. 745). So zeigen empirische Untersuchungen für die Jahre 1970 bis 1995, dass der medizinischtechnische Fortschritt im Mittel die Ausgaben der GKV um 1 % stärker ansteigen ließ als die realen Einkommen (vgl. Ulrich/Schneider [2004], S. 790). Folgt man der Vorgehensweise von Ulrich/Scheider ([2007], S. 789 ff.) und berücksichtigt den medizinisch-technischen Fortschritt in der Analyse, indem die beitragspflichtigen Einkommen mit 2 % und die Ausgabenprofile mit 3 % pro Jahr fortgeschrieben werden, so steigt bei einem Rentenzugangalter von 61 Jahren der Beitragssatz bis 2050 auf 28,8 % (Untergrenze) bzw. 27,4 % (Obergrenze) an (siehe Abb. 20). Andere Berechnungen, die ebenfalls den medizinischtechnischen Fortschritt mit einbeziehen, kommen zu Beitragssätzen zwischen 20 % bis unter 40 % (vgl. Ulrich/Schneider [2007], S. 792 f.). Inwieweit der medizinische Fortschritt die Morbidität im Sinne der Kompressionsthese senkt und ob diese Senkung der Morbidität den Trend zu steigenden Beitragssätzen zu dämpfen vermag, ist noch nicht endgültig geklärt (siehe hierzu Kapitel 2.3).

47

Manfred Erbsland

30.00% 28.00% 26.00%

Ind ex

24.00% 22.00% 20.00% 18.00% 16.00% 14.00% 2006

2050 Jah r

Untergrenze (R ZA 61)

Ob erg renze (RZ A 61)

Abb. 20: Beitragssatzentwicklung, technischer Fortschritt und Demographie, mittlere Varianten der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (2006 – 2050). Quelle: Eigene Berechnungen. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird zukünftig stark zunehmen. Bei konstanten Pflegefallhäufigkeiten wird die Zahl der Pflegefälle sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln (siehe Abb. 14). Heute werden etwa 70% der Pflegebedürftigen zu Hause betreut (vgl. Statistisches Bundesamt [2004], S. 3 und 8). Der Trend zu mehr Singlehaushalten, eine steigende Frauenerwerbsquote sowie die zurückgehenden Kinderzahlen werden zu einer Professionalisierung der Pflege und zu vermehrter Heimunterbringung führen. Dies wird als „Heimsog-Effekt“ bezeichnet (Häcker, J./Raffelhüschen, B. [2006]). Der professionale Pflegemarkt wird sich daher mit einer jährlichen Wachstumsrate von etwa 3 % ausdehnen. Hält die Marktent-

48

Alternde Bevölkerung und ökonomische Konsequenzen wicklung mit der Nachfrage mit, dann kann im Jahr 2050 fast jeder zehnte Arbeitsplatz im Bereich der Pflege liegen (vgl. Schnabel [2007], S. 19 ff.). Aufgrund der steigenden Pflegezahlen birgt auch die gesetzliche Pflegeversicherung erheblichen – demographisch bedingten – „fiskalischen Sprengstoff“ (Erbsland/Wille [1995], S. 679). Schnabel ([2007], S. 27) prognostiziert für das Jahr 2050 je nach Szenario einen Beitragssatz zwischen 3 % und 5,5 %, wenn das heutige Leistungsniveau aufrechterhalten werden soll. Raffelhüschen rechnet bis zum Jahr 2045 mit einem Beitragssatz von 7 % in der gesetzlichen Pflegeversicherung, wenn die Leistungen an die Kostensteigerungen angepasst werden, die steigende Zahl von Pflegebedürftigen in Heimen berücksichtigt und die Demenz in den Leistungskatalog aufgenommen wird. Wird der Status-quo beibehalten, kommt er zu einem Beitragssatz von knapp über 4 % (vgl. FAZ.NET [2007]). Sofern die Beitragssätze zur gesetzlichen Sozialversicherung in den nächsten Jahrzehnten wie prognostiziert stark ansteigen, bürden sie der erwerbstätigen Bevölkerung aus intertemporaler bzw. intergenerativer Sicht eine ungleich hohe Finanzierungslast auf. Summiert sich die Beitragsbelastung der Arbeitnehmer in Verbindung mit dem Grenzsteuersatz schon bei relativ niedrigen Löhnen und Gehältern auf eine Grenzabgabensatz von 50 % und mehr, „dann läuft die Sozialpolitik Gefahr, bei den Arbeitnehmern Strategien zur Abgabenvermeidung zu induzieren und die Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Unternehmen nachhaltig zu schwächen“ (Erbsland/Wille [1995], S. 679).

49

Manfred Erbsland

5

Literaturverzeichnis

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53

Dr. Bernhard Langer

Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzierungsreformen: eine kritische Analyse

1

Einleitung

2

Die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung

3

Die Finanzreform im Rahmen des GKV-WSG

4

Fazit

5

Literatur

*

Der folgende Beitrag stellt eine überarbeitete Fassung meines am 20. Oktober 2006 gehaltenen Vortrags bei den 4. Gesundheitsökonomischen Gesprächen an der Fachhochschule Ludwigshafen dar.

55

1

Einleitung

Seit vielen Jahren führen die im Verhältnis zur allgemeinen Grundlohnentwicklung überproportional ansteigenden Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu Bemühungen, die Kostenentwicklung und somit die für Arbeitgeber und Arbeitnehmer kontinuierlich ansteigende Beitragsbelastung zu bremsen. Deshalb wurde in den zurückliegenden drei Jahrzehnten eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedet, die vor allem auf Kostendämpfung ausgerichtet waren und somit auf das Leistungs- und weniger auf das Finanzierungsgeschehen Einfluss nahmen. Trotz dieser gesetzgeberischen Bemühungen konnten weiterhin ansteigende Beitragssätze nicht verhindert werden. Insgesamt kann festgestellt werden, dass sich die GKV unter Status-quo-Bedingungen in einem Dilemma aus tendenziell ansteigenden Ausgaben und tendenziell sinkenden Einnahmen in Verbindung mit der politischen Forderung nach der Stabilität bzw. sogar der Reduzierung der Beitragssätze befindet. Zur Überwindung dieses Zielkonflikts wurden daher in der Vergangenheit aus Politik, Selbstverwaltung, Interessensvertretungen und Wissenschaft vielfältige Vorschläge zur Umgestaltung der Finanzierungsgrundlagen des gesetzlichen Krankenversicherungssystems unterbreitet. Die Frage nach Finanzierungsalternativen für die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund des demographischen Wandels von zentraler Bedeutung, denn demographische Veränderungen und die damit einhergehende zunehmende Alterung der Gesellschaft bedrohen umlagefinanzierte Sozialversicherungssysteme wie die gesetzliche Krankenversicherung. Im Folgenden soll ein Überblick über die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung unter Status-quo-Bedingungen sowie deren Schwächen gegeben werden. Anschließend wird der im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG)1 zustande gekommene Kompromiss einer GKV-Finanzreform dargestellt und – vor dem Hintergrund zukünftiger demographischer Veränderungen – einer kritischen Analyse unterzogen.

1

Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKVWettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) vom 26. März 2007 (BGBl. I S. 378)

57

Bernhard Langer

2

Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung

Die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgt grundsätzlich im Umlageverfahren orientiert an einkommensproportionalen Beiträgen (Leistungsfähigkeitsprinzip), die bis zur Beitragsbemessungsgrenze (2007: 42.750 EUR jährlich) erhoben werden. Allerdings werden unterschiedliche Einkommen bei verschiedenen Mitgliedergruppen durchaus unterschiedlich behandelt. So werden die Beitragszahlungen der berufstätigen Pflichtmitglieder und der versicherungspflichtigen Rentner vollständig an deren Arbeitseinkommen bzw. deren Rente als Bruttoeinkommensgröße bemessen. Sonderregelungen im Hinblick auf die Beitragsbemessung von Arbeitern und Angestellten existieren für geringfügig Beschäftige und in einer Gleitzone zwischen 400,01 EUR bis 800,00 EUR. So ist das im Bereich der geringfügigen Beschäftigung entstehende Einkommen für die Versicherten beitragsfrei, der Arbeitgeber zahlt einen Pauschalbeitrag zur GKV in Höhe von 13 % (Privathaushalt 5 %), ohne dass damit ein Leistungsanspruch für den Versicherten begründet wäre. Für die Einkommen in der Gleitzone erfolgt die Beitragsbemessung nach einer komplexen Sonderregelung.2 Für die Versicherten ist damit ein vollwertiger Krankenversicherungsschutz in der GKV verbunden, der aber für die GKV mit einem Beitragsausfall verbunden ist. Die Tragung der Beiträge erfolgt bei sozialversicherungspflichtig Beschäftigten grundsätzlich durch den Arbeitnehmer und den Arbeitgeber bzw. bei den Rentnern durch die Rentner und den Rentenversicherungsträger. Allerdings wurde die bis Juli 2005 geltende paritätische Finanzierung durch einen alleine von den Versicherten zu tragenden Sonderbeitrag i.H.v. 0,9 Beitragssatzpunkten ausgehöhlt. Dies führt im Ergebnis dazu, dass die Arbeitgeber nur mehr 47 % und die Arbeitnehmer im Gegenzug 53 % der Gesamtbeitragslast zu tragen haben. Bei freiwillig Versicherten wird die Beitragspflicht durch die Satzung der jeweiligen Krankenkassen geregelt, wobei diese satzungsmäßige Regelung die Beiträge derart festsetzen soll, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der freiwilligen Mitglieder sich möglichst umfassend in der Beitragsschuld widerspiegelt und 2

58

Für eine ausführliche Darstellung vgl. VDR 2005

Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzreformen zumindest jene Einkommen des freiwilligen Mitglieds erfasst werden, die auch bei den Pflichtversicherten erfasst werden. Für die Praxis bedeutet dies, dass bei den freiwillig Versicherten nicht allein die Einkommen aus Erwerbstätigkeit verbeitragt werden, sondern bis zur Beitragsbemessungsgrenze auch andere Einnahmen wie etwa Kapitaleinkünfte berücksichtigt werden. Freiwillig Versicherte müssen ihre Beiträge zur GKV selbst tragen, allerdings erhalten jene freiwillig versicherten Arbeiter und Angestellten, die lediglich aufgrund der Höhe ihres Einkommens den Status eines freiwillig GKV-Versicherten haben, einen Beitragszuschuss in der Höhe des Betrages, den der Arbeitgeber zu tragen hätte, wenn der betroffene Arbeitnehmer den Status eines Pflichtversicherten hätte. Unterhaltsberechtigte Angehörige (Ehepartner und Kinder) ohne eigenes, mehr als geringfügiges Einkommen sind beim jeweiligen Mitglied gratis mitversichert. Für Arbeiter und Angestellte mit Einkommen unter der allgemeinen3 Versicherungspflichtgrenze (2007: 47.700 EUR jährlich) besteht Versicherungspflicht in der GKV. Für einen kleineren Teil der Bevölkerung, namentlich die Angestellten und Arbeiter mit Einkommen über der Versicherungspflichtgrenze, die Beamten und Pensionäre sowie die Selbständigen besteht ein Wahlrecht zwischen GKV und PKV. In der GKV gilt Kontrahierungszwang, d.h. die Krankenkassen sind zur Aufnahme neuer Mitglieder unabhängig von deren Gesundheitsstatus oder finanzieller Leistungskraft verpflichtet. Nach Verlassen der GKV müssen für eine freiwillige Rückkehr in die GKV aber bestimmte Vorversicherungszeiten erfüllt werden.4 Das früher vorwiegend berufsständisch organisierte GKV-Kassensystem wurde seit 1994 weitestgehend durch die freie Kassenwahl ersetzt. Ein seit 1996 existierender Risikostrukturausgleich (RSA) nach Alter, Geschlecht, Erwerbsunfähigkeitsrentnerstatus und beitragspflichtigem Einkommen sollte helfen, die Risikoselektion abzumildern, was jedoch nur bedingt gelang.5 In der GKV ergeben sich aus der Ausgestaltung von Versichertenkreis, Beitragsbemessung und Beitragsbasis in Verbindung mit dem bis zur Beitragsbemes3

4 5

Die besondere Versicherungspflichtgrenze gilt für Arbeitnehmer, die am 31. Dezember 2002 wegen Überschreitens der an diesem Tag geltenden Versicherungspflichtgrenze versicherungsfrei und bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen vollversichert waren. Auch diese Rechengröße unterliegt der jährlichen Anpassung durch die Bundesregierung. Sie knüpft an das Niveau der bis zum 31. Dezember 2002 maßgebenden Grenze an und beträgt für das Jahr 2007 42.750 EUR Vgl. dazu § 9 SGB V Vgl. Jacobs et al. 2001

59

Bernhard Langer sungsgrenze geltenden prozentualen Beitragssatz (Juni 2007: durchschnittlicher allgemeiner Beitragssatz 13,89 % zusätzl. 0,9 % Sonderbeitrag der Mitglieder) und den Prinzipien der Leistungsgewährung (Bedarfsprinzip) verteilungspolitische Wirkungen zwischen folgenden sozialen Gruppen:6 x

Von gesunden zu kranken Versicherten (Risikoausgleich)

x

Von hohen zu niedrigen Einkommen (sozialer Ausgleich)

x

Von Alleinstehenden und Kinderlosen zu Familien (Familienlastenausgleich)

x

Von jungen zu alten Versicherten (Generationenausgleich)

Demgegenüber sieht die private Krankenversicherung (PKV) weitestgehend nur eine systemimmanente Umverteilung zwischen (aktuell) Gesunden und Kranken vor. Dieser Umstand führt zu einer Kumulation der „schlechten Risiken“ in der GKV.7 Die derzeitige Finanzierung der GKV steht von vielen Seiten in der Kritik. Wesentliche Ansatzpunkte sind dabei u.a.: Lohnnebenkostensteigernde Wirkung der Krankenversicherungsbeiträge und damit verbunden negative Anreize auf dem Arbeitsmarkt. Als Lösungsweg wird manchmal eine Veränderung der paritätischen Finanzierung bzw. eine Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags zur GKV gefordert.8 Allerdings beträgt der Arbeitgeberanteil zur GKV nur lediglich 4,1 % der gesamten Arbeitskosten, so dass eine Reduzierung der GKV-Beiträge mit dem Ziel der Arbeitskostensenkung einer gewissen Höhe bedarf, um sich überhaupt bei den Arbeitskosten und somit am Arbeitsmarkt bemerkbar zu machen.9 Zudem gilt es zu beachten, dass eine Festschreibung des GKV-Arbeitgeberanteils mit höheren Lohnforderungen von Arbeitnehmerseite verbunden sein könnte, was wiederum Einfluss auf den Nettoeffekt hätte.10 Starke Abhängigkeit der GKV-Einnahmen von der Entwicklung der Lohnund Lohnersatzeinkommen. Zur Lösung dieser Probleme existiert sowohl von politischer als auch von wissenschaftlicher Seite eine ganze Reihe an Vorschlägen. So wird u.a. eine Ausweitung 6 7 8 9 10

60

Vgl. Grabka 2004 Vgl. Lüngen et al. 2005 Vgl. Knappe/Arnold 2002; BDA 2001 Vgl. Ecker et al. 2004 Vgl. Langer et al. 2006

Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzreformen der Beitragsbasis auf andere Einkunftsarten für alle GKV-Mitglieder gefordert, wobei aber das generelle Prinzip der einkommensabhängigen Beitragserhebung beibehalten werden soll.11 Andere Reformvorschläge sehen die Umstellung auf risikoäquivalente Prämien12 bzw. einkommensunabhängige Kopfpauschalen vor.13 Eine weitere Reformmöglichkeit liegt in einer (Teil-)Finanzierung der GKV-Ausgaben über Steuern. Ausnahmen ganzer Berufsgruppen von der Versicherungspflicht, wodurch die GKV „eine Solidarität unter Schwachen“14 darstellt. Zur Behebung dieser Problematik bietet sich als direkter Weg eine (teilweise) Ausweitung des Versichertenkreises auf bislang nicht in der GKV versicherte Personengruppen an.15 Einen indirekten Weg dazu stellt die von einigen geforderte Einbeziehung der privaten Krankenversicherung in den Risikostrukturausgleich der gesetzlichen Krankenversicherung dar.16 Das umlagefinanzierte und einkommensorientierte GKV-System gilt als anfällig für demographische Veränderungen. 17 Als Reformmaßnahmen, die auf die Behebung dieses Problems abzielen, gelten höhere GKV-Beiträge für Rentner18 oder eine (teilweise) Umstellung der GKVFinanzierung auf ein Kapitaldeckungsverfahren.19

11 12 13 14 15 16 17

Vgl. Lauterbach et al. 2004 Vgl. Zweifel/Breuer 2002 Vgl. Rürup/Wille 2004; Knappe/Arnold 2002; Wagner 2003 Lauterbach o.J. Vgl. Langer et al. 2004 ; Knappe/Arnold 2002; SVR 2004 Vgl. Jacobs et al. 2001; Wasem/Greß 2004 Zu den demographischen Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Finanzierung der GKV siehe den Beitrag von Erbsland, Manfred in diesem Band 18 Vgl. Cassel 2003. Höhere Rentnerbeiträge vermindern allerdings den Generationenausgleich und höhlen das Solidarprinzip der GKV weiter aus 19 Vgl. Fetzer/Raffelhüschen 2002. Auf die Probleme der Kapitaldeckung wird in den nächsten Kapiteln noch näher eingegangen

61

Bernhard Langer

3

Die Finanzreform im Rahmen des GKV-WSG

3.1

Genese der Reform

Wie schon weiter oben angesprochen, wird im Zuge der demographischen Veränderungen immer wieder eine Reduzierung der Umlagefinanzierung durch die Einführung einer Kapitaldeckung in die GKV gefordert.20 Allerdings war dies im letzten Bundestagswahlkampf nicht das beherrschende Thema, ist doch die konkrete Umsetzung einer derartigen Reformmaßnahme mit so weit reichenden Problemen verbunden,21 dass die etablierten Parteien bis auf eine Ausnahme22 nicht dafür eingetreten sind. Stattdessen standen mit den Konzepten der Bürgerversicherung und der Kopfpauschale zwei sehr unterschiedliche Ansätze einer GKVFinanzreform auf der politischen Agenda. Während die SPD mit dem Modell der Bürgerversicherung eine (schrittweise) Ausweitung der einkommensbezogenen Finanzierung auf weitere Personengruppen und weitere Einkunftsarten bevorzugte,23 favorisierte die CDU/CSU das Modell einer einkommensunabhängigen Kopfpauschale unter Beibehaltung getrennter Versichertenkreise von gesetzlicher und privater Krankenversicherung.24 Inhaltlich wurde dabei zwar auch die Frage der Demographiefestigkeit der Modelle diskutiert, deutlich im Vordergrund standen aber Aspekte wie Lohnnebenkosten, Beschäftigung, Lohnabhängigkeit oder Gerechtigkeit. Die unterschiedlichen Ausgangspositionen waren aber so festgefahren, dass es für beide Parteien schwierig war, ohne Gesichtsverlust einen Kompromiss einzugehen. Schließlich kam es doch noch zu einer Einigung, die in das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) mündete. Im Folgenden werden die wichtigsten Regelungen des GKV-WSG, die sich mit Finanzierungsfragen beschäftigen, vorgestellt und – auch vor dem Hintergrund demographischer Veränderungen – einer kritischen Analyse unterzogen.

20 21 22 23 24

62

Vgl. SVR 2004 Vgl. Pfaff et al. 2006 Vgl. FDP 2005 Vgl. SPD 2004 Vgl. CDU/CSU 2004

Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzreformen

3.2

Grundzüge

Die zentrale Maßnahme des GKV-WSG auf der Finanzierungsseite ist die Einführung eines Gesundheitsfonds (vgl. Abb. 1). Der Fonds wird zum einen aus Beiträgen der Versicherten sowie der Arbeitgeber bzw. der gesetzlichen Rentenversicherung gespeist. Die Mittelaufbringung erfolgt auf der Grundlage eines von der Bundesregierung ohne Zustimmung des Bundesrates zentral festgelegten einheitlichen Beitragssatzes. Die Bundesregierung hat den Bundestag über beabsichtigte Veränderungen des allgemeinen Beitragssatzes so rechtzeitig zu unterrichten, dass diesem die Möglichkeit zur Befassung mit der beabsichtigten Festsetzung oder Anpassung gegeben wird. "Rechtzeitig" soll mindestens drei Wochen vor Beschlussfassung der Bundesregierung bedeuten. Zur fachlichen Unterstützung der Entscheidungen über die Höhe des erforderlichen allgemeinen Beitragssatzes stützt sich die Bundesregierung auf die Expertise eines neu einzurichtenden Schätzerkreises. Kursorisch sei noch angemerkt, dass der allgemeine Beitragssatz in § 241 SGB V zukünftig auch den zusätzlichen Beitragssatz nach § 241a SGB V (Sonderbeitrag der Mitglieder in Höhe von 0,9 Prozentpunkten) enthält (§ 241a SGB V entfällt damit). Da aber die bisherige Beitragstragung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht verändert werden soll, erfolgt auch eine Neufassung von § 249 Abs. 1 SGB V, die klarstellt, dass der Arbeitgeber nur die Hälfte des um 0,9 Beitragssatzpunkte geminderten allgemeinen Beitragssatzes zu tragen hat, der Arbeitnehmer den Rest. Die Lasten der GKV-Mitglieder betragen dadurch – wie schon seit Juli 2005 – rund 53 % des Beitrages, wohingegen Arbeitgeber bzw. gesetzliche Rentenversicherung nur rund 47 % tragen. Da die Einnahmen des Fonds aus Beiträgen unterjährig differieren können, ist zur Nivellierung dieses Effekts die Bildung einer Schwankungsreserve vorgesehen. Dieses finanzielle Polster soll gewährleisten, dass der Gesundheitsfonds immer ausreichend Liquidität zur Deckung der den Kassen monatlich zustehenden Zuweisungen aufweist. Reicht die Schwankungsreserve nicht aus, um alle Zuweisungen zu erfüllen, soll der Bund dem Gesundheitsfonds eine rückzahlbare Liquiditätshilfe in Höhe der fehlenden Mittel leisten.

63

Bernhard Langer

Versicherte

Arbeitgeber / GRV 47% des zentral festgelegten einheitlichen Beitragssatzes

53% des zentral festgelegten einheitlichen Beitragssatzes

Gesundheitsfonds Versicherungsfremde Leistungen (schrittweise ansteigend)

Kassenindividuelle Zusatzprämie der Versicherten

Grundpauschale

Kassenindividueller Bonus

Krankenkassen

Risikoadjustierte Zuweisungen

Bundeshaushalt

Abb. 1: Gesundheitsfondsmodell im Rahmen des GKV-WSG25 Neben Beitragsmitteln erhält der Fonds aber auch Steuermittel für versicherungsfremde Leistungen. Diese sollen in den Jahren 2007 und 2008 jeweils 2,5 Mrd. EUR betragen und dann jährlich um 1,5 Mrd. EUR ansteigen, bis sie im Jahr 2016 14,5 Mrd. EUR betragen. Über die konkrete Ausgestaltung der Steuerfinanzierung – insbesondere deren Gegenfinanzierung – soll allerdings erst in der nächsten Legislaturperiode entschieden werden. Im Startjahr 2009 erfolgt eine 100%-ige Ausgabendeckung der GKV, das heißt der Beitragssatz wird so festgesetzt, dass mit den daraus resultierenden Einnahmen die voraussichtlichen Ausgaben der GKV gedeckt werden können. Das heißt aber nicht, dass alle Ausgaben aus den Mitteln des Gesundheitsfonds gezahlt werden, weil die Kassen mit unterdurchschnittlichen Ausgaben mehr aus dem Fonds bekommen als sie ausgeben und die Differenz in Form von Bonuszahlungen ausschütten. Entsprechend müssen die Kassen, die überdurchschnittliche Ausgaben haben, Zusatzprämien erheben. Im weiteren zeitlichen Verlauf müssen in der Regel insgesamt mindestens 95 % der GKV-Ausgaben durch den Fonds gedeckt werden. Bei Ausgabenerhöhungen und dementsprechenden Unterschreiten der 95%-Quote sind Beitragssatzsteige-

25

Eigene Darstellung

64

Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzreformen rungen zur Deckung der 95%-Quote aber erst möglich, wenn die 95%-Quote zwei Jahre lang unterschritten wurde. Im Hinblick auf die Weiterleitung der Finanzmittel des Gesundheitsfonds an die Krankenkassen sieht das GKV-WSG eine Weiterentwicklung des bestehenden Risikostrukturausgleichs in Richtung einer stärkeren Morbiditätsorientierung vor. Sobald diese umgesetzt worden ist (aktuell ist dafür der 01.01.2009 avisiert), soll die solidarische Finanzierung aufwendiger Leistungsfälle im Rahmen des Risikopools gänzlich entfallen. Auf die bisherigen Bestandteile des RSA den Finanzkraftausgleich betreffend kann aufgrund der geplanten Ausgestaltung des Gesundheitsfonds zukünftig verzichtet werden. Dadurch steigt im Startjahr 2009 bei einer 100%-igen Ausgabendeckung der GKV aus Fondsmitteln der Grundlohnsummenausgleich von 92 % auf 100 % an. Aufgrund des fehlenden Grundlohnsummenausgleichs bei den Zusatzprämien kann er allerdings im weiteren Verlauf analog zur sinkenden Ausgabendeckung der GKV aus Fondsmitteln auch unter 100 % fallen. Die Krankenkassen erhalten zukünftig als Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds unabhängig von der Krankenkassenzugehörigkeit der Versicherten eine einheitliche Versichertenpauschale, alters-, geschlechts- und risikoadjustierte Zuund Abschläge zum Ausgleich unterschiedlicher Risikostrukturen und Zuweisungen für sonstige Ausgaben (Mehr- und Satzungsleistungen, Programmkosten DMP-Programme, Verwaltungskosten). Für die Risikoadjustierung sollen 50 bis 80 schwerwiegende Krankheiten berücksichtigt werden, bei denen die durchschnittlichen Leistungsausgaben je Versichertem die GKV-weiten durchschnittlichen Leistungsausgaben je Versicherten um mindestens 50 % übersteigen. Die Auswahl der Krankheiten erfolgt durch ein Gutachten des wissenschaftlichen Beirates beim Bundesversicherungsamt (BVA). Falls eine Krankenkasse mit diesen Zuweisungen nicht auskommt, kann sie eine kassenindividuelle Zusatzprämie entweder prozentual oder pauschal von den Versicherten erheben. Insgesamt dürfen längerfristig höchstens 5 % der GKV-Ausgaben über die Zusatzprämie finanziert werden, kurzfristig sind aufgrund des Zwei-Jahres-Kriteriums für Beitragssatzsteigerungen aber auch höhere Anteile der Zusatzprämie möglich. Eine Überforderungsklausel soll übermäßige Belastungen der Mitglieder vermeiden. Dabei ist die Zusatzprämie auf 1 % der beitragspflichtigen Einkommen begrenzt, sofern sie höher als 8 EUR liegt. Krankenkassen mit einer Zusatzprämie von bis zu 8 EUR erheben diese ohne Einkommensprüfung von allen Mitgliedern. Unter Wettbewerbsaspekten führt dies aber bei Geringverdienern im Vergleich

65

Bernhard Langer von zwei Krankenkassen mit Zusatzprämien über und unter der 8 EUR Grenze zu absurden Verwerfungen (vgl. Abb. 2). So würde bei Krankenkasse 2 mit einer Zusatzprämie von 8 EUR ein Mitglied mit beitragspflichtigem Einkommen i.H.v. 500 EUR die volle rechnerische Zusatzprämie i.H.v. 8 EUR zahlen, da die Überforderungsklausel nicht zum Tragen kommt. Bei Krankenkasse 3 mit einer rechnerischen Zusatzprämie von 15 EUR würde die zu zahlende Zusatzprämie desselben Mitglieds auf 1 %, d.h. auf 5 EUR begrenzt sein. Ebenfalls 5 EUR Zusatzprämie würde dieses Mitglied zahlen, falls es bei Krankenkasse 1 versichert ist, da die rechnerische Zusatzprämie dieser Krankenkasse bei 5 EUR liegt und die Überforderungsklausel hier analog zu Krankenkasse 2 nicht zum Tragen kommt. Dadurch entsteht einerseits ein Anreiz in Krankenkassen mit niedrigeren Zusatzprämien zu wechseln. Andererseits entsteht für Geringverdiener auch ein Anreiz in Krankenkassen mit höheren Zusatzprämien zu wechseln, wodurch die intendierten Wettbewerbswirkungen für diesen Personenkreis konterkariert werden. Beitragspflichtiges Einkommen in EUR

KK1 (5 EUR)*

KK2 (8 EUR)*

KK3 (15 EUR)*

500

5

8

5

800

5

8

8

1000

5

8

10

1500

5

8

15

2000

5

8

15

*KK1: rechnerische Zusatzprämie 5 EUR *KK2: rechnerische Zusatzprämie 8 EUR *KK3: rechnerische Zusatzprämie 15 EUR

Abb. 2: Höhe der tatsächlichen Zusatzprämie in Abhängigkeit von rechnerischer Zusatzprämie und beitragspflichtigem Einkommen26

26

Vgl. Eigene Darstellung

66

Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzreformen Unter Berücksichtigung der hohen Korrelation von Einkommen und Morbidität27 haben damit gerade besonders Kranke theoretisch einen besonders hohen Anreiz sowohl in Krankenkassen mit niedrigen als auch mit hohen Zusatzbeiträgen zu wechseln. Praktisch hat sich allerdings in der Vergangenheit gezeigt, dass gerade diese Versichertengruppe besonders selten gewechselt hat.28 Erhält eine Krankenkasse aus dem Gesundheitsfonds höhere Zuweisungen als sie zur Deckung der Ausgaben benötigt, sind Bonuszahlungen an die Mitglieder möglich. Allerdings dürfen diese erst erfolgen, wenn die Rücklagen der Krankenkassen entsprechend den gesetzlichen Vorschriften29 vorhanden sind, d.h. mindestens 25 Prozent einer durchschnittlichen Monatsausgabe umfassen. Eine umstrittene Konvergenzklausel soll außerdem Zusatzbelastungen der einzelnen Bundesländer bei der Einführung des Gesundheitsfonds beschränken. Dazu stellt das Bundesversicherungsamt für jedes Ausgleichsjahr und für jedes Land die Höhe der Ausgleichsansprüche und -verpflichtungen der Krankenkassen für die in einem Land wohnhaften Versicherten, die sich ohne Einführung des Gesundheitsfonds ergeben hätten, der Belastung nach Einführung des Gesundheitsfonds gegenüber. Den Versicherten wird ein Sonderkündigungsrecht bei erstmaliger Erhebung der Zusatzprämie durch die Krankenkasse, bei Erhöhung der Zusatzprämie oder bei Absenkung der Bonuszahlung eingeräumt. Die jeweilige Krankenkasse ist verpflichtet, die Versicherten über die Kündigungsmöglichkeit zu informieren. Bei Wahrnehmung des Sonderkündigungsrechts ist im Kündigungszeitraum keine Zusatzprämie zu zahlen. Ein Wechsel von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung ist künftig nur möglich, wenn in drei aufeinander folgenden Jahren die Versicherungspflichtgrenze überschritten wird. Es gilt eine Besitzstandsregelung für Arbeitnehmer, die am 02.02.2007 (Tag der dritten Lesung) bereits privat versichert waren oder vor dem 02.02.2007 ihre Mitgliedschaft bei der Krankenkasse gekündigt hatten.

27 28 29

Vgl. Langer 2005; Mielck 2000 Vgl. Lauterbach/Wille 2000 Vgl. dazu § 261 SGB V

67

Bernhard Langer

3.3

Kritische Analyse

Der Gesundheitsfonds weist in seiner derzeitigen Ausgestaltung erhebliche Mängel auf. Durch die zukünftige zentrale Beitragsfestsetzung verlieren die Krankenkassen ihre Finanzautonomie, was gerade vor dem Hintergrund eines gewünschten stärkeren Wettbewerbs fragwürdig erscheint. Da die Beitragsfestsetzung durch die Bundesregierung stärker zum Politikum wird, sind zukünftig ständige Diskussionen über Beitragssatzerhöhungen, Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen vorprogrammiert. Durch die Zusatzprämie erfolgt eine einseitige Belastung der Versicherten, da Arbeitgeber an deren Aufbringung nicht beteiligt sind. Unter den gegebenen Bedingungen stellt die Zusatzprämie keinen Indikator für Unwirtschaftlichkeit der Krankenkassen dar, da die fehlende Risikoadjustierung bzw. der fehlende Einkommensausgleich bei der Zusatzprämie für verzerrte Preissignale sorgt. Die absurde Ausgestaltung der Überforderungsklausel schafft für Geringverdiener sogar Anreize zum Wechsel in Krankenkassen mit höheren Zusatzbeiträgen. Mit dem Gesundheitsfonds sind auch steigende Bürokratiekosten bei den Krankenkassen z.B. durch die Administrierung der Zusatzprämie, der Bonuszahlungen und der Überforderungsklausel verbunden. Bei den Krankenkassen wird die Vermeidung der "kleinen" Kopfpauschale im Vordergrund stehen, damit droht eine Verstärkung der Risikoselektion und ein Abbau von Leistungen, die nicht verbindlich vorgeschrieben sind. Die Neuregelungen zur Versicherungspflichtgrenze können zwar kurzfristig die Abwanderung freiwillig Versicherter in die PKV vermindern. Ihr langfristiger Effekt liegt in der Erhöhung des Eintrittsalters in die PKV. Dies führt dort tendenziell zu höheren Prämien, weil dadurch weniger Zeit für die Aufbringung der Alterungsrückstellungen verbleibt. Inwieweit dies die Wettbewerbsposition der GKV gegenüber der PKV nachhaltig stärken kann, bleibt abzuwarten. Die zukünftigen demographischen Herausforderungen werden durch die Finanzreform des GKV-WSG kaum gelöst. Es erfolgt weder ein direkter Einbezug weiterer Personengruppen in die GKV noch eine Verbreiterung der GKVBeitragsbasis. Lediglich durch den schrittweise anwachsenden Steuerzuschuss werden indirekt bislang nicht in der GKV versicherte Personenkreise in die GKVFinanzierung miteinbezogen. In der Endstufe wäre der Steuerzuschuss mit 14,5 Mrd. EUR zwar nicht unerheblich. Er weist aber das Problem der Verlässlichkeit

68

Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzreformen auf, wie die Anhebungen und Absenkungen in der Vergangenheit gezeigt haben.30 Zum anderen gilt es in diesem Zusammenhang zu klären, ob die Bezieher höherer Einkommen tatsächlich Steuern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zahlen oder ihre Einkommen in bestimmtem Umfang durch Vergünstigungstatbestände „schönrechnen“ und damit ihre Einkommensteuerbelastung reduzieren.31 Der häufig diskutierte Vorschlag eines Umstiegs auf ein individuelles oder kohortenspezifisches Kapitaldeckungsverfahren32 stellt keine wirkliche Alternative dar. Denn auch ein Kapitaldeckungsverfahren ist nicht unabhängig von demographischen Veränderungen33 und weist zusätzliche Probleme wie z.B. enorme Umstiegskosten34 auf, wodurch die politische Umsetzbarkeit leidet. Zudem stellt die Demographie nicht den größten Einflussfaktor auf den Beitragssatz der GKV dar. So kommen Prognosen zum rein demographiebedingten Beitragssatzanstieg bis zum Jahr 2050 auf Werte zwischen 17 % und 21 %.35 Wesentlich stärkere Einflüsse auf den zukünftigen Beitragssatz der GKV hat hingegen der medizinisch-technische Fortschritt. So liegen die Beitragssatzprognosen unter Berücksichtigung demographischer Veränderungen und des medizinischtechnischen Fortschritts für das Jahr 2050 zwischen 27 % und 34 %.36 Daher wird zukünftig eine sehr viel stärkere Ausrichtung medizinisch-technischer Innovationen an ihrem Kosten-Nutzen-Verhältnis notwendig sein. Neben den demographischen Veränderungen und dem medizinisch-technischen Fortschritt wirken aber noch weitere Einflussfaktoren auf die GKV-Beitragssätze wie der Umfang des Leistungskatalogs, das Renteneintrittsalter, die Zuwanderung sowie die Entwicklung der Einkommen, der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, der Arbeitslosigkeit und des Steueranteils, daher ist die tatsächliche 30 31

32 33 34

35 36

Vgl. Gasche 2007 Ob die von allen Parteien bekundete Absicht, das Steuerrecht einfacher machen, Vergünstigungstatbestände zu streichen und nominal den Steuertarif reduzieren zu wollen, tatsächlich realisiert wird, scheint angesichts vergangener Erfahrungen mit dem Gesetzgebungsprozess eher fraglich. Vgl. SVR 2004 Vgl. Siebert 2001; Pfaff et al. 2006 Da die Versicherten für ihre eigene Krankenversorgung im Alter sparen sollen, zum anderen aber das bestehende Umlageverfahren „abgewickelt“ wird, ergibt sich für einen bestimmten Übergangszeitraum eine nicht unerhebliche Doppelbelastung der Versicherten. Die dabei notwendigen Transferleistungen hängen von der Dauer des Übergangszeitraums, dem Alter der Versicherten, der Bemessungsgrundlage und von der unterstellten Belastungsobergrenze ab (vgl. Grabka 2004) und können von bis zu knapp 22 Mrd. EUR jährlich bei einem schnellen Übergang bis zu 51 Mrd. EUR jährlich bei einem langsamen Übergang schwanken (vgl. Hof 2001b). Vgl. z.B. Hof 2001a; Postler 2003; Pfaff et al. 2006 Vgl. z.B. Breyer/Ulrich 2000; Hof 2001a; Pfaff et al. 2006

69

Bernhard Langer zukünftige Beitragssatzentwicklung grundsätzlich von großer Unsicherheit geprägt. Das heißt auch niedrigere Beitragssätze als die oben erwähnten wären plausibel. Zudem stellt die Zunahme der Lebenserwartung – bei Gültigkeit der Kompressionsthese – nicht zwingend einen relevanten Einflussfaktor auf die GKVBeitragssätze dar.

4

Fazit

Das Reformwerk verfehlt das Ziel, für eine nachhaltige finanzielle Stabilisierung der GKV zu sorgen. Der ab 2009 zu erhebende staatliche Einheitsbeitrag und die zeitgleiche Einführung der Zusatzprämie birgt die Gefahr, dass Kostensteigerungen in bestimmtem Umfang allein zu Lasten der Versicherten gehen. Auch wird künftig der Preiswettbewerb unter den Krankenkassen nicht mehr wie heute über den gesamten Krankenversicherungsbeitrag, sondern nur noch über die Zusatzprämie geführt. Gleichzeitig kommt es zu einer Zentralisierung der Selbstverwaltungsstrukturen in der GKV, durch die sich für die Politik noch größere Einflussmöglichkeiten als bisher auf die Gestaltung der medizinischen Versorgung ergeben. Eine Stärkung des Wettbewerbs, wie es durch den Gesetzestitel suggeriert wird, ist in der konkreten Ausgestaltung des Gesetzes damit kaum zu erkennen. Teilweise werden sogar Chancen für wettbewerbliche Lösungen leichtfertig vergeben. So müssen Krankenkassen künftig flächendeckend allen ihren Versicherten die Möglichkeit anbieten, einen Hausarzttarifvertrag zu wählen. Die Teilnahme der Versicherten bleibt dabei weiterhin freiwillig. Da allerdings nach wie vor – auch im internationalen Kontext – der Nachweis fehlt,37 dass eine hausarztzentrierte Versorgung zu relevanten Einsparungen oder Qualitätsverbesserungen führt, ist die Verpflichtung der Krankenkassen, in jedem Fall eine hausarztzentrierte Versorgung anzubieten, nicht sachgerecht. Über dieses Angebot sollte vielmehr im Wettbewerb entschieden werden.

37

Vgl. Wasem/Greß 2003

70

Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzreformen

5

Literatur

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Bernhard Langer Hof, Bernd: Auswirkungen und Konsequenzen der demographischen Entwicklung für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, PKVDokumentation 24, Köln 2001a Hof, Bernd: Zum Transferbedarf eines Systemwechsels vom Umlage- auf das Anwartschaftsdeckungsverfahren in der Krankenversicherung, Gutachten im Auftrag des PKV-Verbandes, Köln 2001b Jacobs, Klaus/Reschke, Peter/Cassel, Dieter/Wasem, Jürgen: Zur Wirkung des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung. Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, Bonn 2001 Knappe, Eckhard/Arnold, Robert: Pauschalprämie in der Krankenversicherung, Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (Hrsg.), München 2002 Langer, Bernhard/Mamberer, Florian/Pfaff, Anita B./Rindsfüßer, Christian: Beitragssatzwirkungen einer schrittweisen Einführung einer Bürgerversicherung in Deutschland, in: Zeitschrift für Sozialreform, Nr. 1, S. 53-72, 2006 Langer, Bernhard/Mamberger, Florian/Pfaff, Anita B./ Pfaff, Martin/Freund, Florian/Rindsfüßer, Christian: Beitragssatzeffekte bei sofortiger Einführung einer Bürgerversicherung, in: Gesundheits- und Sozialpolitik, Nr. 9-10, S. 44-50, 2004 Langer, Bernhard: Steuerungsmöglichkeiten des GKV-Arzneimittelmarktes – Selbstbeteiligungen unter besonderer Berücksichtigung von Härtefallregelungen, Berlin 2005 Lauterbach, Karl W./Gerber, Andreas/Klever-Deichert, Gabriele/Stollenwerk, Björn/Lüngen, Markus: Entlastungswirkungen der Bürgerversicherung, in: Die Ersatzkasse, Nr. 10, S. 397-401, 2004 Lauterbach, Karl W./Wille, Eberhard: Modell eines fairen Wettbewerbs durch den Risikostrukturausgleich, Sofortprogramm „Wechslerkomponente und solidarische Rückversicherung“ unter Berücksichtigung der Morbidität, Untersuchung im Auftrag des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen e.V. (VdAK), des Arbeiter-Ersatzkassen-Verbandes e.V. (AEV), des AOKBundesverbandes (AOK-BV) und des IKK-Bundesverbandes (IKK-BV), Abschlussbericht, Köln u.a. 2001 Lauterbach, Karl W.: Die Bürgerversicherung, Internet-Ressource, Zugriff am 12.11.2005, http://www.medizin.unikoeln.de/kai/igmg/Buergerversicherung.pdf, Köln o.J.

72

Demographiefestigkeit aktueller GKV-Finanzreformen Lüngen, Markus/Potthoff, Peter/Wendland, Guido/Klever-Deichert, Gabriele/Lauterbach, Karl W.: Unterschiede in der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und der Morbidität zwischen Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung und der privaten Krankenversicherung – Eine Auswertung des Infratest Access Panels, in: Gesundheits- und Sozialpolitik, Nr. 3-4, S. 25-30, 2005 Mielck, Andreas: Soziale Ungleichheit und Gesundheit: empirische Ergebnisse, Erklärungsansätze, Interventionsmöglichkeiten, Bern u.a. 2000 Pfaff, Anita B./Langer, Bernhard/Mamberer, Florian/Pfaff, Martin/Freund, Florian/Holl, Nauka: Finanzierungsalternativen der gesetzlichen Krankenversicherung: Einflussfaktoren und Optionen zur Weiterentwicklung, Berlin 2006 Postler, Andreas: Modellrechnungen zur Beitragssatzentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung: Auswirkungen von demographischem Wandel und medizinisch-technischem Fortschritt, Diskussionsbeiträge der Fakultät Wirtschaftswissenschaft der Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg, Nr. 298, 2003 Rürup, Bert/Wille, Eberhard: Finanzierungsreform in der Krankenversicherung, o.O. 2004 Siebert, Horst: Wirtschaftliche Perspektiven für alternde Gesellschaften, überarbeitete Fassung des einleitenden Problemaufrisses der Kieler Woche Konferenz „Economic Policy for Aging Societies“ vom 18.-19. Juni 2001, Kiel 2001 SPD: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (Hrsg.): Modell einer solidarischen Bürgerversicherung, Bericht der Projektgruppe Bürgerversicherung des SPD-Parteivorstandes, Berlin 2004 SVR: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland, Gutachten 2004/2005, Wiesbaden 2004 VDR: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (Hrsg.): Geringfügig Beschäftigte (400-Euro-Jobs) und Niedriglohn-Jobs (bis 800 Euro), 8. Auflage, Frankfurt a. M. 2005 Wagner, Gert G.: Pauschalprämien setzen das Konzept der Bürgerversicherung am besten um, in: ifo Schnelldienst, Nr. 17, S. 3-6, 2003 Wasem, Jürgen/Greß, Stefan: Hausarztmodelle in der GKV – Effekte und Perspektiven vor dem Hintergrund nationaler und internationaler Erfahrungen,

73

Bernhard Langer Diskussionsbeiträge aus dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Nr. 130, 2003 Wasem, Jürgen/Greß, Stefan: Zur Integration der privaten Krankenversicherung in den Risikostrukturausgleich der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Ursula Engelen-Kefer (Hrsg.): Reformoption Bürgerversicherung, S. 78-84, Hamburg 2004 Zweifel, Peter/Breuer, Michael: Weiterentwicklung des deutschen Gesundheitssystems, Gutachten im Auftrag des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller e.V. (VFA), Zürich 2002

74

Prof. Kurt Witterstätter

Alternde Bevölkerung und ihre Versorgung – Ansprüche und Möglichkeiten

1

Grundlegung

2

Fragen zur Entwicklung der Altenhilfe-Landschaft

3

Angebotsmix aus Staat, Markt, Selbsthilfe und Bürgerschaftlichem Engagement

4

Veränderungen der Altenhilfe-Landschaft

5

Literatur

*

Vortrag bei den 4. Gesundheitsökonomischen Gesprächen an der Fachhochschule Ludwigshafen am 20. Oktober 2006.

75

1

Grundlegung

Die zunehmende Zahl Älterer bei weniger Nachwachsenden muss bei allgemein besserer Gesundheit der Gesamtbevölkerung nicht unbedingt zu einem unlösbaren Problem werden. Dennoch: Die letzten Lebensjahre eines Menschen sind in Behandlung und Pflege die aufwändigsten – ob sie nun zwischen dem 77. und 80. oder zwischen dem 87. und 90. Lebensjahr liegen. Es ist die Rede von „hinausgeschobener Morbidität“1. Insofern wird die Zahl der Pflegebedürftigen, die gegenwärtig in Deutschland bei etwa 2 Millionen Menschen liegt, nicht abnehmen. Sie wird durch die absolute Zunahme Älterer sogar zunehmen. Man rechnet im Jahre 2040 mit zwischen 2,3 und 2,8 Millionen Pflegebedürftiger.2 Andererseits wäre es jedoch ein Fehler, die Steigerung der Zahl Hochaltriger einfach direkt proportional mit den Raten der Pflegebedürftigkeit im sehr hohen Alter auf die Jahre 2030 oder 2040 hochzurechnen. Denn auch für die sehr Alten dürfen im Vergleich zu heute Effekte der Besserung ihres Gesundheits- und Kompetenzzustandes durch Prävention, Rehabilitation und gesündere Lebensweise erwartet werden (sog. Kompression3). Denn es galt bisher, dass spätere Kohorten sich eines besseren Gesundheitszustandes im Alter erfreuen, als frühere Kohorten.4 Das dürfte auch für die Kohorten gelten, die um die Jahrhundertmitte im Alter stehen.

1 2 3 4

Vgl. Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 505 Vgl. Dritter Altenbericht 2001, S. 87; Wahl/Heyl 2004, S. 25 Zum Begriff der Kompression vgl. Dritter Pflegebericht 2004, S. 76 Vgl. Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 400

77

Kurt Witterstätter

2

Fragen zur Entwicklung der AltenhilfeLandschaft

Der künftigen Versorgung der Altenpopulation soll anhand von vier Fragen nachgegangen werden: x

Wo kommen wir her?

Hier können wir davon ausgehen, dass die „Familie der größte Pflegedienst der Nation ist“5. Das wird noch eine Weile so gelten. x

Wo gehen wir hin?

Diese familiale pflegerische Abstützung der alten Pflegebedürftigen wird vom Jahre 2030 an stark zurückgehen. Allein schon deswegen, weil weniger Nachwachsende als potentielle familiale Pfleger(innen) zur Verfügung stehen. Denn die Alten nehmen auch relativ zu.6 x

Was brauchen wir?

Ein Alten-Pflegenotstand zieht also spätestens von 2030 an herauf. Wir sollten ihn als zu lösende Gemeinschaftsaufgabe begreifen – siehe auch § 8 SGB XI – und uns rechtzeitig darauf einstellen.7 x

Was muss sich ändern?

Wir müssen die Brüche und Parzellierungen unseres Versorgungssystems überwinden. Diese entstehen durch die verschiedenen Sichten und Paradigmen unterschiedlicher Berufsträger auf die Pflegebedürftigen. Wir brauchen mittels Kooperation und Vernetzung flexiblere und sensiblere Dienste und Akteure der Altenhilfe.8

5 6 7 8

78

Witterstätter 2003, S. 98 Vgl. Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 512 ff. Vgl. Klie 2001, S. 55; Schneekloth/Wahl 2006, S. 90 Vgl. Vierter Altenbericht 2002, S. 303 ff.

Alternde Bevölkerung und ihre Versorgung Bis 2030 agieren Staat und Familie Dadurch, dass die jetzt dem Alter entgegen gehenden Zugehörigen der Geburtskohorten der NS- und der frühen Nachkriegszeit noch zu den „Babyboomern“ gehören, können sie in ihrem hohen Alter um die Jahrzehnte von 2010 und 2020 noch auf Nachwachsende zurückgreifen. Bis etwa zum Jahre 2030 ist daher zumindest quantitativ noch familialer Pflegebeistand in heutigen Relationen von etwa 70 % der Fälle zu erwarten.9 Man spricht von der vormodern-familialen Pflegesituation. Mit Pflegegeld wird sie mäßig unterstützt. Die familiale Pflege vollzieht sich vor dem 80. Lebensjahr der Pflegebedürftigen überwiegend, d.h. zu fast Zweidrittel, intragenerativ als Gatten- bzw. Partnerpflege. Nach dem 80. Lebensjahr der Pflegebedürftigen kehrt sie sich dann um. Jetzt dominiert die intergenerative Pflege durch Töchter, Schwiegertöchter und Söhne in etwa zwei Drittel der Fälle. Die Gattenpflege sinkt vor allem durch Verwitwung auf 20 %.10 Zum Bild dieser vormodern-familialen Pflegesituation gehört ein noch moderates Trennungs- und Scheidungsverhalten. Nach 2030 dominiert der individuell-moderne Pflegebedürftige Die Alten der Jahre 2030 und später rekrutieren sich aus Jahrgängen, die in ihren mittleren Jahren bereits zu 20 % bis 40 % kinderlos blieben. Sie werden in ihrem hohen Alter weit weniger Nachwachsende zur Seite haben als die heutigen Alten. Ursula Lehr sprach in diesem Zusammenhang von „Unterjüngung“ dieser künftigen Altenpopulation.11 Das Potenzial der für die intergenerative Pflege vor allem infrage kommenden 30- bis 60jährigen nimmt von heute auf 2050 von 36 Millionen auf 25 Millionen Personen um 30 % ab.12 Der Pflegebedürftige der Jahrhundertmitte ist damit eher der Typ des modern-singularisierten Pflegebedürftigen. Durch höhere Trennungs- und Scheidungsraten bei geringerer Wiederverheiratungs-Neigung, aber auch durch höhere Raten von Alleinlebenden von Anfang an nimmt auch die Singularisierung im Alter zu.13 Und das, obwohl unter der 9 10 11 12 13

Vgl. Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 516 Vgl. Witterstätter 2003, S. 99 Vgl. Lehr 2006, S. 16 Vgl. Blinkert/Klie in Klie et al. 2005, S. 298 Vgl. Schneekloth/Wahl 2006, S. 71

79

Kurt Witterstätter künftigen Altenpopulation keine Kriegswitwen mehr sein werden. Lebten 2000 nur 17 % alte Männer allein, werden es 2040 bereits doppelt so viele, nämlich 35 %, allein lebende alte Männer sein.14 Und bei den wenigen vorhandenen, als intergenerativ Pflegenden infrage Kommenden wird auch noch die Pflegeneigung zurückgehen: Durch gewandelte Verhaltensmuster und alternative Interessen in Selbstverwirklichung, Emanzipation sowie freizeitweltliche und kulturelle Interessen.15 Auch ist die noch steigende Neigung der jüngeren Frauen zu Erwerbstätigkeit und zum Verbleib in ihr ihrer innerfamilialen Pflegetätigkeit abträglich. So werden sowohl die häusliche Pflege mit Fremdhilfe als auch die stationäre Fremdpflege im Vergleich zu heute zunehmen: Erstere von 20 % auf 26 %, letztere von 30 % auf 60 %. Die innerfamiliale Pflege ohne Fremdhilfe, also die Pflegegeld-Situation, wird hingegen von 50 % auf 14 % zurückgehen.

Familiale Selberpflege ausschließliche Fremdpflege

2004

2040

ohne Fremdhilfe

50 %

14 %

mit Fremdhilfe

20 %

26 %

30 %

60 %

Abb. 1: Innenfamiliale Pflegebereitschaft; Quelle: nach Klie 2001, S. 53 f

14 15

80

Vgl. Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 513 Vgl. Blinkert/Klie in Klie et al. 2005, S. 305

Alternde Bevölkerung und ihre Versorgung

3

Angebotsmix aus Staat, Markt, Selbsthilfe und Bürgerschaftlichem Engagement

Würden wir 2040 von den dann schätzungsweise 2,5 Millionen Pflegebedürftigen 60 % stationär versorgen, hätten wir 1,5 Millionen Menschen in Pflegeheimen (gegenüber derzeit 600.000 Heimbewohner/-innen). Das erscheint wenig wünschenswert, wo teilweise die „Auflösung“ der Heime fantasiert wird.16 Zudem werden hohe finanzielle Ressourcen erforderlich: Allein bei den Pflegekassen für die Heimpflege statt derzeit 9 Mrd. € im Jahr 2040 rd. 22,5 Mrd. € jährlich bei Steigerung des Gesamtvolumens der Pflegeversicherung von heute 18 Mrd. € auf dann rd. 30 Mrd. € jährlich. Das „magische Pflege-Viereck“, das dem „magischen Viereck“ der Krankenhilfe nachempfunden ist,17 sucht die vier Ziele Partizipation, Vermeidung von Verwahrlosung, Leistungen für alle und relativ stabile Pflegeversicherungs-Beiträge in Einklang zu bringen. Wobei für 2040 Beiträge zur Pflegeversicherung von zwischen 3,6 % und 3,9 % befürchtet werden.18 Partizipation

Zugang für alle

Vermeidung von Verwahrlosung

stabile Beiträge

Abb. 2: Magisches Viereck der Pflege; Quelle: Eigene Darstellung

16 17 18

Vgl. Dörner et al. 2001, S. 36 Vgl. Witterstätter 2006, S. 111 Vgl. Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 535

81

Kurt Witterstätter Eine annähernde Lösung der gestellten Aufgabe wird nur mit der Vereinigung von Kräften des Staates, des Marktes, des bürgerschaftlichen Engagements/Ehrenamtes und der Selbsthilfe von Familie/Nahestehenden im sog. Pflegemix möglich sein.19 Die Lehre vom Pflegemix folgt jener des Wohlfahrtsmix, die ebenfalls ein Zusammenwerfen formeller und informeller Ressourcen empfiehlt.20 Eine familiale Mithilfe zur Lösung der Pflegeaufgaben wird auch für die Zeit nach 2030 noch angenommen.21 Nur ist zu beachten, dass sich dieser familiale Beistand von gegenwärtig 70 % auf dann 30 % der Fälle reduzieren wird.22 Wegen zunehmender Singularisierung der hochbetagt Pflegebedürftigen (viertes Alter) wird hier eher auf die nächste Generation (drittes Alter) – also selbst bereits zumeist berentete Töchter/Söhne (mit steigender Tendenz bei Söhnen23) – zurückgegriffen werden.24 Lösungen der Altenpflege-Problematik in 30 Jahren werden zum einen in einer besseren gesundheitlichen Verfassung der Altenpopulation bestehen. Gesundheitsvorsorge auch im Hinblick auf das eigene Alter mit Primär-, Sekundär- und Tertiär-Prävention ist zu stärken und wird auch intensiviert.25 Zu erwarten sind Fortschritte in der medikamentösen Bekämpfung von Altersleiden wie der Alzheimer-Demenz. Aus solchen Erfolgen schöpft die Kompressionstheorie ihre Hoffnungen. Die Selbsthilfe der alten Menschen selbst kann durch Ausbau des technischen Supports gestärkt werden. Die Sicherheits- und Servicetechnik für AltenHaushalte ist noch weiter entwickelbar.26 Zu nennen ist das Forschungsprojekt „Sentha“ (Seniorengerechte Technik im häuslichen Alltag) der Technischen Universität Berlin.

19 20 21 22 23 24 25 26

82

Vgl. Klie 2001, S. 55 Vgl. Handbuch kommunale Altenplanung 2002, S. 72 ff.; Witterstätter 2006, S. 246 Vgl. Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 518 Vgl. Blinkert/Klie in Klie et al. 2005, S. 300 Vgl. Schneekloth/Wahl 2006, S. 233 Vgl. Schneekloth/Wahl 2006, S. 92 Vgl. Dritter Altenbericht 2001, S. 89 Vgl. Mollenkopf et al., in Klie et al. 2005, S. 355 ff.

Alternde Bevölkerung und ihre Versorgung Schließlich wird allenthalben die nachbarschaftliche, ehrenamtliche Hilfe ausgebaut: Sei es kommunal organisiert27, sei es im Wohnquartier als Sorgearbeit von jüngeren Alten für pflegebedürftige Alte ansetzend.28

4

Veränderungen der Altenhilfe-Landschaft

Die Altenhilfe-Landschaft wird sich insgesamt ändern müssen. Und sie ändert sich bereits. Durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 wurde die Gewährung von Präventions- und Rehabilitationsleistungen an der Schnittstelle von Krankenund Pflegeversicherung verbessert, um Pflegebedürftigkeit im Alter so lange als möglich zu vermeiden, sie zu überwinden, zu mindern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten.29 Das leidige Verweisen der Pflegekassen auf die Leistungen der Krankenkassen dürfte damit ein Ende haben.30 Leider muss dafür zum Ausgleich nun auf Dauer aus dem Pflegekassen-Budget für den pflegebedingten Aufwand auch die Behandlungspflege bestritten werden, was wiederum die Mittel für die Grundpflege und die soziale Betreuung reduziert. Ursprünglich sollte die Behandlungspflege nur noch bis zum 30.6.2007 von den Pflegekassen getragen werden und danach von den Krankenkassen bezahlt werden.31 Das Verbleiben Pflegebedürftiger in der selbst gewählten Umgebung wird sich durch neue technische und mikroelektronische Hilfen wie Rauch-, Bewegungs-, Wasser- und Licht-Melder, automatische Strom-, Herd- und WasserAbschaltanlagen sowie persönlich programmiere PC-Bildschirmoberflächen erhöhen. Die Datenfernübertragung wird die Kommunikationsmöglichkeiten auch Alleinlebender verbessern.32

27 28 29

Vgl. Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 519 Vgl. Dörner 2005, S. 10 Vgl. Begründung zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2006, § 40 a SGB V; jetzt § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB V 30 Vgl. Nr. 9 unter www.die-gesundheitsreform.de 31 Vgl. Sozialbericht 2005, S. 91 32 Vgl. Mollenkopf et al. in Klie et al. 2005, S. 360 ff.

83

Kurt Witterstätter Die Wohnformen für alte Menschen werden sich durch innovative Ansätze erweitern.33 Die duale Altenhilfe aus lediglich ambulanten Hilfen und stationärer Versorgung im Heim wird vielgestaltiger; der seitherige Dualismus der Altenhilfe wird aufgelöst.34 Es verbreiten sich Muster unterstützten, aber dennoch individuellen Lebens wie Selbstbestimmtes Wohnen im Alter, Betreutes Wohnen (jüngst mit der Absicherungsmöglichkeit von DIN 77800), Wohnanpassungen, Pflegewohnungen und Hausgemeinschaften. Die Möglichkeiten, auch bei Kompetenzverlusten in der selbstgewählten Umgebung verbleiben zu können, haben sich durch diese neuen Möglichkeiten in den letzten Jahrzehnten stark vergrößert.35 Die bisherigen Erfahrungen zeigen, „dass auch im Falle schwerster Pflegebedürftigkeit eine Versorgung und Betreuung im häuslichen Rahmen grundsätzlich möglich ist“.36 Individuelle Lebensgestaltung im Alter und fix etabliere Dienste werden in Zukunft neue Bündnisse einzugehen haben, und zwar durch: x

Abstellen von Personal;37

x

funktionales Entlassungsmanagement ggfs. mit Überleitungspflege;38

x

Zusammenführung von Hilfen in den noch immer zu fragmentarisierten Altenhilfssystemen.39

Künftig wird es durch Pflegemix zu einem noch stärkeren Miteinander von Professionellen, Semiprofessionellen und Laien im Sinne geteilter Verantwortung kommen müssen, die dann durch Vernetzung und Kooperation zusammenzubinden ist:40 „Was die Art der Leistungen anbelangt, ist bei wachsender Zahl allein stehender Pflegebedürftiger von einem Trend zum Pflegemix auszugehen, bei dem sich die Anteile von informellen und formellen Hilfen in etwa die Waage halten. Nur ein auf Komplementarität ausgehendes Angebot an Pflegedienstleistungen ist geeignet, die von Unsicherheiten über die künftige Versorgungssituation geprägte Le-

33 34 35 36 37 38 39 40

84

Vgl. Witterstätter 2003, S. 190 ff Vgl. Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 546 Vgl. Narten in Klie et al. 2005, S. 371 Schneekloth/Wahl 2006, S. 73 Vgl. für Pflegewohnungen in Vierter Altenbericht 2002, S. 258 f. Vgl. Kraus in Zippel/Kraus 2003, S. 68 ff. Vgl. Vierter Altenbericht 2002, S. 258 f. und S. 307; Schneekloth/Wahl 2006, S. 85 Schneekloth/Wahl 2006, S. 90 ff.; Enquêtekommission Demographischer Wandel 2002, S. 530

Alternde Bevölkerung und ihre Versorgung benslage alleinstehender Pflegebedürftiger soweit zu stabilisieren, dass ein vorzeitiger Übergang ins Heim verhindert werden kann.“ Die Heime, die die wachsenden Bedürfnisse nach Partizipation und Privatheit schwerlich erfüllen können41, sind durch Mitwirkung von Außenstehenden zu entlasten und zu variantenreicheren Abläufen zu öffnen im Sinne von offenen Hausgemeinschaften.42

41 42

Vgl. Koch-Straube in Schroeter/Rosenthal 2005, S. 211 ff.; Dritter Altenbericht 2001, S. 124 ff. Vgl. Dritter Altenbericht 2001, S. 140 f.; Vierter Altenbericht 2002, S. 265 f.

85

Kurt Witterstätter

5

Literaturverzeichnis

Begründung zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (2006): Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz), BundestagsDrucksache 16/3100 vom 24. Oktober 2006 Dörner, Klaus (2005): Reise in die Zukunft: Brauchen wir soziale Bildung?, in: Forum aktuell 17/2005 des Forums Gemeinschaftliches Wohnen. Hannover: FGW, 7 ff. Dörner, Klaus/Hopfmüller, Elisabeth/Röttger-Liepmann, Beate (2001): Für eine Auflösung der Heime, in: Dr. Med. Mabuse, 26. Jg. 9-10/2001, 29 ff. Dritter Altenbericht (2001): Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Alter und Gesellschaft. Hg. Bundesminister für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin: BMFSFJ Dritter Pflegebericht (2004): Dritter Bericht über die Pflegeversicherung. BTDrucksache 15/4125. Köln: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft Enquêtekommission Demographischer Wandel (2002): Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik. Hg. Deutscher Bundestag. Berlin: Deutscher BT Handbuch kommunale Altenplanung (2002): Grundlagen – Prinzipien – Methoden. Hg. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. Frankfurt: DV Klie, Thomas/Buhl, Anke/Entzian, Hildegard/Hedtke-Becker, Astrid/Wallrafen-Dreisow, Helmut Hg. (2005): Die Zukunft der gesundheitlichen, sozialen und pflegerischen Versorgung älterer Menschen. Frankfurt: Mabuse Klie, Thomas (2001): Die Zukunft der Pflege. Zwischen Mythos und Modernisierung, in: Dr. med. Mabuse, 26. Jg. 3-4/2001, 51 ff. Lehr, Ursula (2006): „Gierige Greise“ als willkommene Helfer. Vortrag „Alt und Jung in Zeiten des demographischen Wandels“ bei der Jahrestagung des Evangelischen Seniorenwerks ESW am 5.9.2006 in Nürnberg, in: ESWInformationsbrief Nr. 50 Heft 4/2006, 11 ff.

86

Alternde Bevölkerung und ihre Versorgung Schneekloth, Ulrich/Wahl, Hans-Werner Hg. (2006): Selbständigkeit und Hilfebedarf bei älteren Menschen in Privathaushalten. Pflegearrangements, Demenz, Versorgungsangebote. Stuttgart: Kohlhammer Schroeter, Klaus R./Rosenthal, Thomas Hg. (2005): Soziologie der Pflege. Grundlagen, Wissensbestände und Perspektiven. Weinheim und München: Juventa Sozialbericht 2005 (2005). Hg. Bundesminister für Gesundheit und Soziale Sicherung. Bonn: BMGS Vierter Altenbericht (2002): Vierter Bericht zur Lage der älteren Generation. Risiken, Lebensqualität und Versorgung Hochaltriger unter besonderer Berücksichtigung demenzieller Erkrankungen. Hg. Bundesminister für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin: BMFSFJ Wahl, Hans-Werner/Heyl, Vera (2004): Gerontologie. Einführung und Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer Witterstätter, Kurt (2006): Soziale Sicherung. Eine Einführung mit dem Schwerpunkt Grundsicherung. 7. Auflage. München: Wolters Kluwer Luchterhand Witterstätter, Kurt (2003): Soziologie für die Altenarbeit. Soziale Gerontologie. 13. Auflage. Freiburg: Lambertus

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Dr. Werner Schwartz

Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck

1

Einführung

2

Altenhilfeeinrichtungen der Ev. Diakonissenanstalt Speyer-Mannheim

3

Demographische Prognosen

4

Trends in den Rahmenbedingungen diakonischen Handelns

5

Aufgaben und Herausforderungen

6

Fazit

7

Literatur

*

Der folgende Beitrag stellt eine überarbeitete Fassung meines am 20. Oktober 2006 gehaltenen Vortrags bei den 4. Gesundheitsökonomischen Gesprächen an der Fachhochschule Ludwigshafen dar.

89

1

Einführung

Die demographische Entwicklung scheint dafür zu sprechen, dass künftig Einrichtungen der stationären Altenpflege neben den ambulanten und teilstationären Angeboten in deutlich größerer Zahl erforderlich sind, als sie heute vorgehalten werden. Unter dem Druck der Demographie, so die Annahme, werde sich die Altenhilfelandschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten deutlich verändern. Die Zahl der Pflegeplätze werde drastisch ansteigen. Viele zusätzliche neue Altenpflegeheime würden gebraucht. Aus Sicht eines diakonischen Unternehmens, das einige Altenhilfeeinrichtungen betreibt, möchte dieser Vortrag diese These kritisch hinterfragen und einen Einblick in die derzeitige strategische Orientierung des Unternehmens geben.

2

Altenhilfeeinrichtungen der Ev. Diakonissenanstalt Speyer-Mannheim

Die Ev. Diakonissenanstalt Speyer-Mannheim betreibt seit 1859 in der Tradition der Diakonissen soziale Arbeit im Bereich der Pfalz, dem Saarland und in Baden. Schwerpunkte der Arbeit waren traditionell die Gemeindekrankenpflege, die Kindergartenarbeit, der Betrieb von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen für alte und behinderte Menschen sowie von Kinderheimen und anderen Einrichtungen der Jugendhilfe. Bis in die siebziger Jahre hat sich die Diakonissenanstalt aus denjenigen Feldern ihrer Arbeit zurückgezogen, die nicht mehr durch Diakonissen besetzt werden konnten. Spätestens seit Mitte der siebziger Jahre hat man sich, wie in zahlreichen anderen Mutterhäusern der Diakonissentradition auch, entschieden, die dann noch verbliebenen Arbeitsfelder mit angestellten Mitarbeitenden weiter zu betreiben. Seither hat man die Arbeit in allen verbleibenden Feldern zielorientiert weiterentwickelt und behutsam ausgebaut. Derzeit stellt sich die Diakonissenanstalt als ein traditioneller Komplexträger dar, der eine Fülle unterschiedlicher Arbeitsfelder umfasst. Insgesamt arbeiten in der Diakonissenanstalt und den Gesellschaften, an denen sie maßgeblich beteiligt ist,

91

Werner Schwartz rund 3300 Mitarbeitende. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Arbeitsfelder: Krankenhäuser in Speyer und Mannheim mit insgesamt 947 Betten, Altenund Pflegezentren in Speyer, Landau, Homburg, Kirchheimbolanden und Mannheim mit 658 Plätzen und 394 angeschlossenen betreuten Wohnungen, Einrichtungen für Menschen mit Assistenzbedarf in Landau (Wohnen) und Ludwigshafen (Werkstatt für behinderte Menschen) mit insgesamt 260 Plätzen, Einrichtungen der stationären, teilstationären und ambulanten Jugendhilfe in Speyer, Neustadt und dem Bereich Westpfalz-Haardt mit 150 Plätzen, Kindertagesstätten in Speyer mit 255 Plätzen, ein Hospiz in Speyer mit 7 Plätzen und Fachschulen für Sozialwesen, Krankenpflege, Kinderkrankenpflege, Hebammen und Altenpflege in Speyer und Landau mit insgesamt 540 Plätzen. Bei den Altenpflegeeinrichtungen handelt es sich um das Haus am Germansberg in Speyer mit 90 Pflegeplätzen und 77 Wohnungen, das Seniorenstift Bürgerhospital in Speyer mit 111 Pflegeplätzen und 121 Wohnungen (in Trägerschaft der GeWo Speyer), um das Diakoniezentrum Bethesda in Landau mit 170 Pflegeplätzen und 30 Wohnungen, um das Wolffstift in Kirchheimbolanden mit 93 Pflegeplätzen und 8 Wohnungen, um das Haus am Schloßberg in Homburg mit 132 Pflegeplätzen und 48 Wohnungen und um die Seniorenresidenz Niederfeld in Mannheim-Lindenhof mit 82 Pflegeplätzen und 110 Wohnungen (gemeinsam mit der Fliednerstiftung Mannheim). Auffällig ist, dass an allen Standorten betreute Wohnungen mit den Pflegeheimen verbunden sind. Dies ermöglicht im Bedarfsfall die Vermittlung pflegerischer oder hauswirtschaftlicher Einsätze. Die sozialen Einrichtungen des Pflegeheims können mitgenutzt werden. Das Veranstaltungsprogramm steht zur Teilnahme offen.

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Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck

3

Demographische Prognosen

Die 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung bis 2050 des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 20031 geht davon aus, dass bei einer NettoZuwanderung von 200.000 Menschen im Jahr, einer konstant niedrigen Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau und einer ansteigenden Lebenserwartung die Bevölkerungszahl insgesamt schrumpft. Die Zahl der Gestorbenen wird größer sein als die Zahl der Geborenen. Schrumpfen wird auch der Anteil junger Menschen unter 20 Jahren, 2001 etwa ein Fünftel der Bevölkerung, 2050 etwa ein Sechstel. Die Zahl der über 60Jährigen wird deutlich ansteigen, 2001 etwa ein Viertel der Bevölkerung, 2050 etwa ein Drittel. Der Anteil der über 80-Jährigen wird sich auf das Jahr 2050 hin verdreifachen und dann 12 % der Bevölkerung betragen. Der Altersquotient, das Verhältnis zwischen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und den Senioren, wird sich verändern. Während jetzt 44 über 60-Jährige auf 100 20- bis 59-Jährige kommen, werden es im Jahr 2050 71 sein. Diese demographische Entwicklung lässt erwarten, dass ein Umbau des Sozialstaates notwendig ist. Die sozialen Sicherungssysteme werden sich als zukunftsuntauglich erweisen. Das betrifft das Rentensystem wie die Systeme der Pflegeund Kranken- bzw. Gesundheitsversicherung. Immer weniger jüngere Menschen sollen im Umlageverfahren die Renten von immer mehr älteren Menschen bezahlen. Um die Systeme finanzierbar zu halten, zeichnet sich die Tendenz ab, die Leistungen auf die Grundsicherung zu reduzieren. Diese Entwicklung gilt unter der Einschränkung, dass auf der Einnahmeseite der Versicherungssysteme keine zusätzlichen Einkünfte generiert werden können. Letztlich entscheiden nicht die Bevölkerungsverhältnisse über die Belastungen des erwerbstätigen Teils der Bevölkerung, sondern das Wachstum des Sozialprodukts, die Produktivität, die Entwicklung des Reallohns, die Beschäftigungshöhe, die Besteuerung von Kapital und Arbeit sowie die Verteilung des Sozialprodukts. Das Problem ist also nicht der steigende Altersdurchschnitt. Zum Problem wird dies erst dann, wenn keine Kompensationsmöglichkeiten durch eine Steigerung der Wirtschaftskraft entstehen. 1

Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Die Bevölkerung Deutschlands bis 2050. Ergebnisse der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2003

93

Werner Schwartz

4

Trends in den Rahmenbedingungen diakonischen Handelns

4.1

Von der Subsidiarität und dem Selbstkostendeckungsprinzip zum Wohlfahrtsmarkt

Die Gründer- und Anfangsjahre der Diakonissenanstalt waren dadurch geprägt, dass neben den Entgelten, die für die Leistungen der Schwestern von den Krankenpflegevereinen, Kinderschulvereinen, Kirchengemeinden und Kommunen bezahlt wurden, zusätzliche hohe Einnahmen durch Spenden vereinnahmt werden konnten. Der umfangreiche Gebäudebestand wurde im Wesentlichen durch viele kleine Spenden und einige große Dotationen reicher Freunde finanziert. Zudem hat das System der Diakonissen, die auf der Basis von Haushaltsgeld, Taschengeld und Versorgungszusage gearbeitet haben, die Kosten niedrig gehalten. Ein großer Teil der Einrichtungen, die sich in der Diakonissenanstalt bis heute erhalten haben, wurden aus diesen Quellen finanziert. Seit den Tagen der Weimarer Republik hat sich ein Dualismus von öffentlicher und freigemeinnütziger Wohlfahrtspflege entwickelt. Nach dem Prinzip der Subsidiarität hat der Staat den Wohlfahrtsverbänden eine Vorrangstellung gegenüber sozialen Aktivitäten eingeräumt, die durch staatliche Organe, private kommerzielle Unternehmen oder Selbsthilfegruppen im Bereich sozialer Dienstleistungen betrieben werden. Bis in die neunziger Jahre finanzierten sich die dergestalt vom Staat geförderten freigemeinnützigen Einrichtungen nach dem Selbstkostendeckungsprinzip. Aus den staatlichen und nichtstaatlichen Sozialsystemen wurden Leistungen aufgrund des Nachweises entstandener Kosten gefördert. Ein finanzielles Risiko war so gut wie nicht vorhanden. Es bestand andererseits auch kaum ein Anreiz zu wirtschaftlichem Handeln. Die Notwendigkeit der Finanzierung durch Spenden und ehrenamtliche Arbeit erodierte. In den neunziger Jahren wurde das Selbstkostendeckungsprinzip abgeschafft und die Finanzierung der sozialen Dienstleistungen auf leistungsbezogene Entgelte umgestellt. Von den Kostenträgern werden nur noch solche Leistungen finanziert, über deren Erstellung eine vertragliche Vereinbarung abgeschlossen wird. Freiwillige Leistungen, die über den vertraglichen Rahmen hinausgehen, müssen die Wohlfahrtsunternehmen in voller Höhe durch Eigenmittel abdecken.

94

Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck Der einst gesetzlich verankerte und mit dem Subsidiaritätsprinzip legitimierte Vorrang der Wohlfahrtsverbände vor anderen Leistungsanbietern ist inzwischen teilweise aufgehoben, eingeschränkt oder durch andere Kriterien wie Preis – Leistung – Qualität übersteuert. In Folge dieser Liberalisierung des Wohlfahrtsmarktes ist privatgewerblichen Anbietern der Zugang zum Sozialmarkt erleichtert worden. Sie stellen eine Konkurrenz für die etablierten Wohlfahrtsverbände dar. Die Entwicklung zu einem Wohlfahrtsmarkt bzw. zum Wettbewerb unter den Leistungsanbietern ist bewusst gewollt, um aus effizienzorientierten Überlegungen zu Kosteneinsparungen im Sozialwesen zu kommen. Der Staat zieht sich somit zunehmend auf eine reine Gewährleistungsverantwortung zurück und überlässt die Leistungsverantwortung einer Vielzahl von Anbietern, die im Wettbewerb zueinander stehen. Die Dienstleistungserbringer bewegen sich immer weniger in politisch geordneten Bahnen und immer mehr auf dynamischen Wohlfahrtsmärkten. Die Anbieter haben als reine Dienstleistungserbringer ihre Aufgaben möglichst effizient und transparent zu erfüllen. Die Steuerungskompetenz liegt bei den Kostenträgern, im Bereich der Altenhilfe vor allem bei den Pflegekassen, die aus Kostengesichtspunkten einen Wettbewerb mit dem Ergebnis initiieren, dass nur noch über Kosten verhandelt wird. Möglicherweise wird letztlich der kostengünstigste Anbieter mit seinem Angebot einen deutlichen Vorteil am Markt haben.

4.2

Rückwirkung auf traditionelle diakonische Einrichtungen

Im Blick auf die Organisationen traditioneller Diakonie bedeutet diese Entwicklung, dass sie ihr Selbstverständnis verändern müssen. Aus ursprünglich religiös und sozial begründeter diakonischer Aktivität in überkommenen anstaltsähnlichen Strukturen wird eine Unternehmensdiakonie, die sich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten orientiert. An Professionalisierung und Ökonomisierung führt kein Weg vorbei. Die früher von Diakonissen getragene Arbeit ist durch spezifisches Fachpersonal übernommen. Die Rahmenbedingungen, die durch Politik, Gesellschaft und Wirtschaft vorgegeben werden, haben es für die Diakonissenanstalt und ihre Einrichtungen längst notwendig gemacht, sich von der klassischen NonprofitOrganisation mit teilweise ehrenamtlicher Geschäftsführung zu einem sozialwirtschaftlichen Unternehmen zu entwickeln, das sich am Markt behauptet. Sie

95

Werner Schwartz ist nun ein Anbieter unter vielen. Auf dem regional begrenzten Markt sieht sie sich zunehmender Konkurrenz ausgesetzt.

4.3

Altenpflege unter den Bedingungen des demographischgesellschaftlichen Wandels

Betrachtet man die zu erwartenden Trends im Einzelnen, dann lässt sich im Zusammenhang mit der demographischen Entwicklung feststellen, dass die Lebenserwartung ansteigt und eine „Überalterung“ der Gesellschaft ansteht. Im Zusammenhang damit wird die Zahl der Pflegebedürftigen mittel- und langfristig absolut ansteigen. Die Morbidität verändert sich allerdings. Es gibt gesündere Ältere und gebrechliche Älteste. Personal, das zur Pflege zur Verfügung steht, so ist zu erwarten, wird schwerer zu gewinnen sein. Die Altenpflegeschulen bilden derzeit eine ganze Reihe Umschüler aus. Die durchschnittliche Verweildauer im Beruf liegt bei sieben Jahren. Bei günstiger Entwicklung der Konjunktur wird es ggf. eher weniger als mehr Menschen geben, die die Altenpflege erlernen und ausüben. Die Vergütungen, die bezahlt werden, sind im Blick auf die Arbeit, die getan wird, und die Bedingungen, unter denen sie getan wird (Schichtbetrieb), eher ungünstig. Nimmt man den gesellschaftlichen Wandel in den Blick, dann ist davon auszugehen, dass die Anzahl von Single-Haushalten ansteigen wird. Damit geht ein Rückgang der Familienunterstützung einher. Dies hat nicht nur mit dem gelegentlich beschriebenen Wertewandel oder dem beklagten Traditionsverlust zu tun. Die Lebens- und Wohnformen vervielfältigen sich. Die Bedürfnisse der nächsten Generationen der Alten- und Pflegeheimbewohner werden immer individueller. Die Bewohner begreifen sich als Kunden, die ihr Angebot suchen, weniger als Menschen, die in einem bestehenden System der Altenvorsorge ihren Platz finden. Hinzu kommt, dass die Marktmacht der Senioren ansteigt. Die Betreuung alter und pflegebedürftiger Menschen ist in den nächsten Jahren sicher ein Wachstumsmarkt. Er funktioniert allerdings unter Marktgesichtspunkten, d.h. Menschen kaufen sich die von ihnen gewünschte Leistung ein. Mit dem zusammenwachsenden Europa ergeben sich Veränderung für die Anbieterseite. Eine große Zahl an Menschen aus osteuropäischen Ländern ist hier vorübergehend als Pflegekraft tätig (derzeit vermutlich 120.000). Der größte Teil dieses Marktes ist noch durch Schwarzarbeit geprägt. Erste Anzeichen der Lega-

96

Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck lisierung dieser Arbeitsverhältnisse sind jedoch wahrzunehmen. Der Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern, etwa mit Italien mit rd. 300.000 derartigen Arbeitsverhältnissen, lässt vermuten, dass auch dieser Bereich sich in den nächsten Jahren als Wachstumsmarkt erweisen wird. Die Finanzschwäche der öffentlichen Hand, die in den letzten Jahren durch die schwache Konjunktur bedingt war, führt ebenso wie die Liberalisierungs- und Ökonomisierungsbestrebungen der Politik dazu, dass der Subsidiaritätsgedanke abflacht. Der Altenhilfemarkt wird dem Wettbewerb überlassen. Die frühere Gesellschaftsvorsorge für das Alter wird in Zukunft nicht mehr in der gleichen Weise fortgeführt. Die Eigenvorsorge tritt an ihre Stelle.

4.4

Bau und Betrieb von Altenpflegeeinrichtungen

Der Übergang von der Objektförderung, d.h. von der Förderung von Altenpflegeheimen durch Zuschüsse, zur Subjektförderung, d.h. zur Unterstützung der Pflegebedürftigen im Bedarfsfall bei der Finanzierung der Mietkosten im Altenpflegeheim, hat die Planung, den Bau und den Betrieb der Altenpflegeeinrichtungen in freigemeinnütziger Hand grundlegend verändert. Konnten bisher Altenpflegeheime mit staatlicher Unterstützung errichtet werden, die in der Regel auch einen gewissen großzügigen Standard hatten, so müssen jetzt die Altenpflegeeinrichtungen so beschaffen und finanziert sein, dass sie ihren Platz auf dem Markt finden. Das führt zu einer Differenzierung der Standards. Es gibt den Druck, auch aus der Politik, einerseits einfache Pflegeheime mit Mehrbettzimmern zu errichten und andererseits Pflegeeinrichtungen mit großzügigem Ambiente und hohem Standard zu schaffen. Der Staat zieht sich jedoch nicht völlig aus der Regulierung der Altenpflege zurück. Preise können nicht frei gestaltet und am Markt angeboten werden. Ein bestimmtes Maß an Qualität soll gesichert werden und durch sogenannte Leistungsund Qualitätsvereinbarungen zwischen den Betreibern und den Krankenkassen, die stellvertretend für die Pflegeversicherung die Verhandlungen über die Pflegesatzgestaltung führen, festgeschrieben werden. Im Zusammenhang mit diesen Leistungen und Qualitätsvereinbarungen wird dann auch der Pflegesatz festgelegt. Merkwürdigkeiten entstehen darin, dass die Betreiber zunächst eine Leistungs- und Qualitätsvereinbarung unterzeichnen müssen, in der sie versichern, dass mit den später ausgehandelten Tarifen die Leistungen umfassend abgedeckt sind und das Haus wirtschaftlich betrieben werden kann. Der steuernde Eingriff der Kassen und des Staates ist an dieser Stelle deutlich zu spüren.

97

Werner Schwartz All dies führt zu einem zunehmenden Kostendruck auf die Altenpflege und die Betreiber von Altenpflegeeinrichtungen. Der Wegfall der Zuschüsse erfordert das Einbringen von Eigenkapital. Freigemeinnützige Einrichtungen haben jedoch in der Vergangenheit keine Eigenkapitalreserven aufgebaut, weil sie davon ausgehen konnten, dass die laufenden Kosten jeweils durch entsprechende Vereinbarungen über die Pflegesätze gedeckt werden können. Als Komplexeinrichtungen betreiben sie in der Regel auch Unternehmensteile, die nicht rentabel arbeiten (Kindergärten, Hospize, Schulen), und sind somit nicht in der Lage, ihre Kreditwürdigkeit in gleicher Weise darzustellen, wie dies private Betreiber können. Die Kreditvergaberichtlinien der Banken nach Basel II benachteiligen Unternehmen, die sich aus Gründen der Tradition weniger profitable Einrichtungen leisten. Daraus ergibt sich ein Wettbewerbsnachteil gegenüber privaten Trägern. Nachdem die staatliche Bedarfsplanung abgelöst ist durch eine Nachfrageorientierung, geht die Vorhersehbarkeit des marktlichen Umfeldes zurück. Die freigemeinnützigen Betreiber haben sich darauf noch nicht in jedem Fall eingestellt. Beim laufenden Betrieb der Pflegeeinrichtung ist der Druck auf die Wirtschaftlichkeit spürbar angestiegen. Zunehmend wird die Belegung, zumindest für diejenigen, die als Selbstzahler die Entgelte (teilweise) selbst zu finanzieren haben, über den Preis gesteuert. Es entsteht in Ansätzen ein Wettbewerb über den Preis, bei dem insbesondere Einrichtungen, die in wirtschaftlich schwierige Situationen kommen, durch Unterbieten des Preises der Konkurrenten sich Wettbewerbsvorteile zu schaffen versuchen. Inzwischen ist auch festzustellen, dass es in Ballungsgebieten bereits ein Überangebot an Pflegeplätzen und demzufolge einen Leerstand gibt. Ältere Einrichtungen, die den Kapitaldienst für Darlehen nicht zu bedienen haben, da sie bezuschusst wurden, kommen damit leichter zurecht als Einrichtungen, die ohne Investitionszuschüsse neu gebaut werden. Wenn die Gesellschaft künftig Prävention und Rehabilitation den Vorrang gibt vor Pflege, dann wird dies den Markt der Altenpflegeeinrichtungen ebenfalls beeinflussen. Es ist das erklärte Ziel der Reform der Pflegeversicherung, den Vorrang „ambulant vor stationär“ auch in der Finanzierung der Leistung darzustellen. Die nachfolgende Tabelle2 zeigt, dass die relativ bescheidenen Sachleistungen, die in der ambulanten Pflege, insbesondere in der Pflegestufe I, finanziert wer2

98

Die Tabelle gibt den Diskussionsstand zum Zeitpunkt ders Vortrags wieder. Vgl. o.V., Vorentwurf für Eckpunkte für ein Gesetz zur nachhaltigen Reform der Pflegeversicherung-Pfle-

Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck den, deutlich angehoben werden sollten. Im Gegenzug wären die Leistungen aus der Pflegeversicherung im stationären Bereich in den Stufen I und II deutlich abgesenkt und der ambulanten Pflege annähernd angeglichen worden.

Ambulant

bisher

2007

2009

2011

in €

in €

in €

in €

Vollstationär

bisher

2007

2009

2011

in €

in €

in €

in €

1.023

900

800

700

1.279

1.200

1.100

1.000

1.432

1.450

1.475

1.500

348

450

525

600

Stufe

Stufe II

921

950

975

1.000

Stufe

Stufe III

1.432

1.450

1.475

1.500

Stufe III

Stufe I

I

II

Tab. 1: Ursprünglicher Vorschlag zur Entwicklung der Leistungen der Pflegeversicherung. Quelle: Vorentwurf für Eckpunkte für ein Gesetz zur nachhaltigen Reform der Pflegeversicherung – Pflegereformgesetz, Stand: 15.06.2006 Auch wenn sich zwischenzeitlich eine moderatere Verschiebung des Verhältnisses zwischen ambulanten und stationären Sätzen abzeichnet (vgl. Tabelle 2), dürfte diese Veränderung dazu führen, dass ambulante Pflege aufgrund des finanziellen Anreizes verstärkt nachgefragt und stationäre Pflege, zumindest in der Pflegestufe I und II, an Attraktivität verliert.

gereformgesetz, Stand: 15.06.2006, S. 2. Inzwischen haben die Spitzen der Koalititonsparteien in Eckpunkten zur Reform der Pflegeversicherung andere Sätze vorgesehen. Vgl. BMG, Reform zur nachhaltigen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, Eckpunktepapier, Stand: 19. Juni 2007

99

Werner Schwartz

Ambulant Stufe

bisher

2008

2010

2012

in €

in €

in €

in €

348

420

450

450

I

Vollstationär

bisher

2008

2010

2012

in €

in €

in €

in €

Stufe

1.023

1.023

1.023

1.023

1.279

1.279

1.279

1.279

1.432

1.470

1.510

1.550

I

Stufe II

921

Stufe III

1.432

980

1.040

1.100

Stufe II

1.470

1.510

1.550

Stufe III

Tab. 2: Entwicklung der Leistungen der Pflegeversicherung Quelle: BMG, Reform zur nachhaltigen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, Eckpunktepapier, Stand: 19.06.2007 Den Prozess der Verlagerung in den ambulanten Bereich konnte man in den letzten Jahren schon beobachten. Das klassische Altenheim mit vielen Bewohnern der sogenannten Pflegestufe 0 gibt es kaum mehr. Menschen kommen immer später ins Heim, d.h. auch immer pflegebedürftiger. Die Heime selbst haben ein Interesse daran, möglichst Menschen mit hoher Pflegeeinstufung aufzunehmen. Finanzielle Anreize für eine mobilisierende Pflege, die dann wieder zur Zurückstufung in den Pflegestufen führen kann, gibt es derzeit nicht.3 Häuser, die sich darin besonders hervortun, auch deshalb, weil das von ihnen vertretene Menschenbild dies befördert, tun dies ggf. auf Kosten der Rentabilität ihrer Einrichtung. Aufgrund dieser Tatsachen sieht die Diakonissenanstalt Speyer-Mannheim keinen gesteigerten Bedarf an einer Vielzahl neuer Pflegeeinrichtungen in der allernächsten Zukunft. Die Menschen, die in den nächsten fünf bis fünfzehn Jahren stationäre Altenpflege in Anspruch nehmen, können annähernd in den jetzt schon vorhandenen Einrichtungen versorgt werden. Derzeit werden in großem Umfang finanzielle Mittel auf den Markt zum Bau von Altenpflegeeinrichtungen gelenkt. Dabei wird, so scheint es, gelegentlich der kurzfristige Bedarf überschätzt. Dies 3

Im Zusammenhang der Reform der Pflegeversicherung wurden erste Ansätze zur Verbesserung dieser Situation diskutiert. In dem Fall, dass ein Bewohner durch erfolgreiche Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen in eine niedrigere Pflegestufe zurückgestuft werden kann, soll das Heim durch eine Pauschale von 1.536 € einen finanziellen Ausgleich erhalten.

100

Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck wird den Wettbewerb zwischen den bestehenden und neu gebauten Einrichtungen zusätzlich verschärfen. Erst ein deutlicher Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen nach den Jahren 2020 bzw. 2030 wird an dieser Stelle eine Änderung mit sich bringen. Zudem werden verstärkt Angebote ambulanter Betreuung nachgefragt. Seitens der Betreiber von Pflegeeinrichtungen gibt es den Druck, auch in diesem Segment des Marktes tätig zu sein. Zumindest für den Bereich des betreuten Wohnens und bezogen auf weitere betreute Wohnungen im Quartier rings um die Pflegeeinrichtungen ist eine solche Ausweitung des Angebots sinnvoll. Dass dabei Konflikte etwa mit den vorhandenen Sozialstationen entstehen können, liegt auf der Hand. Künftig führt aufgrund der steigenden Zahl der Pflegebedürftigen wohl kein Weg daran vorbei, Selbsthilfepotenziale möglichst lang und möglichst umfassend zu nutzen und Angehörige und Ehrenamtliche in die Pflege mit einzubeziehen, in der ambulanten Versorgung in der angestammten Wohnung wie im Fall der stationären Unterbringung.

5

Aufgaben und Herausforderungen

5.1

Betriebswirtschaftliche Steuerung

Altenpflegeeinrichtungen werden nicht mehr ohne den Einsatz betriebswirtschaftlicher Methoden zu führen sein. Zumindest für größere Einrichtungen wird es notwendig sein, eine strategische Planung vorzunehmen, um die Entwicklungsrichtung angemessen steuern zu können. Die Ressourcen des Unternehmens sind mit den Möglichkeiten der Umwelt abzugleichen. Dazu werden zunächst im Rahmen einer Entwicklung von strategischen Zielen die Umweltbedingungen mit ihren Chancen und Risiken analysiert, etwa die politisch-rechtliche, die makro-ökonomische, die soziokulturelle und die technologische Umwelt sowie das Aufgabenfeld um Kunden, Lieferanten und Wettbewerber in der Branche. Entsprechend werden die Stärken und Schwächen des Unternehmens untersucht. Aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren lassen sich strategische Entscheidungen ableiten, wie man das Unternehmen und seine Entwicklung steuern kann (SWOT-Gegenüberstellung: StrengthsWeaknesses, Oppertunities-Threats).

101

Werner Schwartz Im Blick auf die sich ständig ändernden externen Bedingungen und die Verbesserung interner Abläufe ist es notwendig, einen bewussten Umgang mit Veränderungen in Altenhilfeeinrichtungen zu etablieren (Change-Management) und Innovationsfähigkeit zu entwickeln. Es muss ein Finanzmanagement etabliert sein, das die Führung des Unternehmens unter ökonomischen Gesichtspunkten gewährleistet. Nach der Abkehr vom Selbstkostendeckungsprinzip und in Anbetracht der eingeschränkten finanziellen Situation bedarf es einer kontinuierlichen Finanzplanung. Das Rechnungswesen gibt in regelmäßigen Intervallen eine exakte Darstellung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens, was die Beurteilung des Unternehmens unter finanziellen Gesichtspunkten ermöglicht. Daraus ergeben sich Maßnahmen zur Sicherung der Ertragsorientierung, damit das Dienstleistungsangebot zukunftsfähig fortgeführt werden kann. Gemeinnützige Unternehmen werden auch prüfen müssen, wie sie Spenden zur Unterstützung ihrer Arbeit künftig gezielt einwerben können. Zur langfristigen Existenzsicherung von Unternehmen trägt das Controlling mit der Beschaffung, Aufbereitung und Analyse sowie Kommunikation von Daten zur Vorbereitung zielsetzungsgerechter Entscheidungen bei. Der Prozess von Planung, Kontrolle, Steuerung und Information muss standardisiert werden. Ggf. müssen einzelne Bereiche budgetiert, Investitionen und Instandhaltungen langfristig geplant, Verbräuche und Belegung zeitnah gesteuert werden. Dazu dient ein ausgearbeitetes Berichtswesen. Im Rahmen des Risikomanagements werden die mit der Ungewissheit der Zukunft begründeten und mit Störungen verursachten Gefahren, geplante Ziele zu verfehlen, benannt. Risiken werden identifiziert. Risikowirkungen werden bewertet. Das schafft die Voraussetzungen zur Bewältigung von Risikosituationen.

5.2

Mitarbeitermotivation und Qualitätsmanagement

In der Personalentwicklung steht die Gewinnung und Pflege von teamfähigen, eigenverantwortlichen und qualifizierten Mitarbeitenden im Mittelpunkt. Im Rahmen diakonischer Unternehmen geht es dabei auch um die Motivation diakonisch-sozialer Arbeit und die Frage danach, wie Mitarbeitende gestärkt werden können, ihre Arbeit als Teil einer Dienstgemeinschaft und als Ausfluss ihres Wertesystems zu sehen. Dazu ist eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildung erforderlich.

102

Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck Das Qualitätsmanagement zielt auf die Optimierung von Arbeitsabläufen und Geschäftsprozessen. Systemziel ist die dauerhafte Einführung von Qualität durch fortwährend aufzeichnende, sichtende, organisierende und kontrollierende Tätigkeit in allen Bereichen einer Organisation. Durch die Unterstützung aller Mitarbeitenden wird ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess angestoßen. Die eigenen Qualitätsstandards werden unabhängig von Überprüfungen der Altenpflegeeinrichtungen durch die Heimaufsicht und den Medizinischen Dienst der Krankenkassen einer laufenden internen und externen Kontrolle unterzogen. Die Zertifizierungsverfahren bilden dies ab. Sie erlauben es, die Abläufe zu dokumentieren, gegenüber Kostenträgern, Lieferanten und Kunden Rechnung abzulegen, bestimmte Handlungs- und Arbeitsprozesse zu standardisieren und dadurch zu erleichtern sowie ein Benchmarking einzuführen unter Altenpflegeeinrichtungen entweder eines Unternehmens oder über Unternehmensgrenzen hinweg.

5.3

Diakonisches Profil, Markenbildung, Marketing

Auch wenn streng genommen eine Preisbildung über den Markt durch Angebot und Nachfrage nicht erfolgt, sondern durch Verhandlung zwischen Kostenträgern und Leistungserbringer, auch wenn keine direkte Austauschbeziehung zwischen Kunden und Anbietern besteht, sondern sich die Austauschbeziehung in der Sozialwirtschaft in einem Dreiecksverhältnis zwischen Leistungserbringer, Kunden und Kostenträger vollzieht, auch wenn Markteintrittsbarrieren für Angebotsweiterentwicklungen durch die Regulierung der öffentlichen Hand existieren und nur eine eingeschränkte Wahlmöglichkeit des Kunden vorhanden ist – dennoch ist die Marken- und Profilbildung ein dringendes Erfordernis. Um annähernd kostendeckend zu arbeiten, muss eine Altenpflegeeinrichtung in der Regel zu mehr als 95 % ausgelastet sein. Standen bisher eher weniger Plätze als Nachfragende zur Verfügung, so kehrt sich das Verhältnis inzwischen um. Mit dem Trend „ambulant vor stationär“ verschärft sich diese Situation. Immer mehr unterschiedliche Anbieter stehen in Konkurrenz um die Gunst des Kunden. Deshalb ist das Marketing eine wichtige Aufgabe. Die Ansprüche potentieller Kunden müssen erkannt und durch entsprechende Angebote befriedigt werden. Erfolg am Markt hat derjenige, der die Wünsche und Vorlieben potentieller Kunden kennt, ihre Interessen und Präferenzen bei der Erstellung eigener Angebote berücksichtigt und folglich alle Entscheidungen vom Markt her trifft. Dazu ist es erforderlich, den Markt zu beobachten und ein ethisch qualifiziertes und diakonisch motiviertes Angebot zu platzieren. Nach wie vor haben konfessi-

103

Werner Schwartz onell geprägte Häuser in der Wahrnehmung der Bevölkerung (und hoffentlich auch in der Realität ihrer Leistungserbringung) einen Vorzug: Es wird erwartet, dass dort Pflege mit einer Orientierung auf den ganzen Menschen und seine Bedürfnisse und ggf. einem religiös motivierten Mehr an Einsatz für den Nächsten geleistet wird. Diesen Vorzug gilt es dauerhaft zu sichern. Es ist umso dringlicher, das Markenprofil einer diakonischen Altenpflegeeinrichtung herauszustellen, da private Anbieter sehr deutlich entsprechende Bedürfnisse wahrnehmen und befriedigen. Neuerdings nennen sich Altenpflegeeinrichtungen privater Anbieter St. Sebastian oder St. Johannes, um vom Markenimage der Caritas oder der Diakonie zu profitieren. Sie fragen auch bereits bei den Kirchen nach der Überlassung von Pfarrern gegen Entgelt für die Pflegeeinrichtungen. Es wird notwendig sein, das eigene Angebot in seiner Profilierung deutlich zu machen und durch Differenzierung von konkurrierenden Angeboten abzuheben. Die Chance diakonischer und karitativer Altenpflegeeinrichtungen liegt darin, dass in ihnen traditionell eine deutlich vom christlichen Glauben geprägte Unternehmenskultur herrscht, die das beruflichen Handeln und den Umgang miteinander bestimmt. Die Begründung der Arbeit im christlichen Glauben, vermittelt durch die Geschichte, ist eine der deutlichen Stärken dieser Institutionen. Es ist allerdings nötig, neu und immer wieder neu herauszustellen, dass das Angebot und die Leistungserbringung aus der christlich diakonischen Begründung heraus geschehen. Der diakonische Charakter des Unternehmens muss in der Leistungserbringung erkennbar sein. Die Pflege der eigenen Tradition ist zur dauerhaften Orientierung der Mitarbeitenden vordringlich. Im säkularen Kontext wird man dies als Wertemanagement bezeichnen. In der Geschichte der diakonisch-karitativen Einrichtungen ist dies seit Beginn ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer Arbeit. Dazu müssen die Mitarbeitenden, in unterschiedlicher Abstufung, auch für künftige Zeiten gewonnen werden.

5.4

Flexibilisierung der Altenpflege

Im Blick auf die stationäre Altenhilfe wird eine Flexibilisierung des Angebots erforderlich sein, eine Ergänzung der klassischen stationären Wohnformen im Pflegeheim durch familienähnliche Wohnformen im Haus wie auch entsprechende Formen in der Nachbarschaft zum Haus. Es wird sorgsam zu prüfen sein, welche Angebote finanzierbar sind und wie sie finanziert werden können. Möglicherweise werden aus Marketinggründen weni-

104

Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck ger profitable Zweige der Arbeit zumindest vorübergehend weiter betrieben werden müssen. Gerade am Beispiel der Verschränkung von stationärem und ambulantem Altenhilfebereich tut sich derzeit ein neues Feld auf, das sorgsamer Beachtung bedarf. Möglicherweise ist dies auch ein Feld für Modellprojekte, gerade für freigemeinnützige Anbieter. Zusammenfassend heißt dies für die Entwicklung der Altenpflege in einer Einrichtung wie der Ev. Diakonissenanstalt Speyer-Mannheim: Es kann derzeit allenfalls um ein maßvolles Wachstum der Altenhilfeeinrichtungen gehen. Nach sorgsamer Standortanalyse bei Neugründungen im Blick auf x

das zu erwartende Einzugsgebiet, das sich unterschiedlich darstellt im städtischen wie im ländlichen Bereich,

x

auf die regionale demographische Entwicklung,

x

auf die Gewohnheiten der Bevölkerung, Menschen im Pflegeheim pflegen zu lassen,

x

auf die Konkurrenzsituation vor Ort und in der näheren Nachbarschaft

ist zu entscheiden, ob das eigene Angebot ausgeweitet wird. Trotz positiver demographischer Prognosen hinsichtlich der Populationsentwicklung älterer Menschen scheint ein maßvolles Wachstum zumindest für die nächsten fünf bis 15 Jahre angezeigt. Die Errichtung und die Vorhaltung von Altenpflegeeinrichtungen für eine Nachfrage, die sich jenseits des Jahres 2020 deutlich ausweiten wird, sind derzeit eher kontraindiziert. Zusammenfassend ist festzuhalten: Es wird eine Verschiebung von der stationären zur ambulanten Pflege geben. Die stationäre Pflege muss ihr Profil schärfen und nach Möglichkeit Kooperationsmodelle mit ambulanter Pflege entwickeln. Der Vorrang der Pflege vor der sozialen Betreuung wird sich nicht durchhalten lassen. Die soziale Betreuung vom Menschen wird im Mittelpunkt stehen. Die pflegerischen Leistungen werden hinzugezogen. Das Altenpflegeheim der Zukunft hat vielleicht einen Pflegestützpunkt im Haus, von dem pflegerische Leistungen von Betreuungspersonal, auch hauswirtschaftlichem Personal, in einzelnen Wohngruppen angefordert werden können. Der gleiche Pflegestützpunkt kann ggf. auch Wohnungen in der Nachbarschaft zum Pflegeheim mit versorgen. Es wird sinnvoll, vielleicht auch notwendig sein, die Angebote der Sorge um alte Menschen zu vernetzen. In Unternehmen der Diakonissenanstalt kann dies die Vernetzung zwischen Altenpflegeheim, ambulanter Pflegestation, Geriatrie im Krankenhaus, geriatrischer Tagesklinik und dem Hospiz bedeuten. Über die ein-

105

Werner Schwartz zelnen Einrichtungen hinaus kann es zu einer Vernetzung zwischen karitativdiakonischen Einrichtungen und zu einer Kooperation mit anderen Anbietern kommen.

6

Fazit

Im Spannungsfeld von Demographie und Kostendruck lässt sich sagen: Nur solche Altenhilfeeinrichtungen werden überleben, deren Profil sich am Markt orientiert und die wirtschaftlich eine gesunde Struktur vorweisen können. Auch unter veränderten ökonomischen Bedingungen bleibt für diakonische und karitative Einrichtungen die Aufgabe gleich: In der Tradition diakonisch Handelnder früherer Zeiten (Diakonissen) und dem Bewusstsein des eigenen christlichen Glaubens durch die eigene Berufsarbeit Zeugnis von der Menschenfreundlichkeit Gottes zu geben. Der Hausspruch der Diakonissenanstalt formuliert dies seit 1859 so: Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan (Matthäus 25,40).

106

Altenhilfeeinrichtungen zwischen Demographie und Kostendruck

7

Literaturverzeichnis

Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Reform zur nachhaltigen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, Eckpunktepapier, Stand: 19. Juni 2007 o.V., Vorentwurf für Eckpunkte für ein Gesetz zur nachhaltigen Reform der Pflegeversicherung – Pflegereformgesetz, Stand: 15.06.2006 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Die Bevölkerung Deutschlands bis 2050. Ergebnisse der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2003

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Prof. Dr. jur. Heinrich Hanika

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung: Stand und zukünftige Potentiale© 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Einleitung Bilanz in Zahlen und Beispiele Ziele der Integrierten Versorgung Medizinisches und ökonomisches Modell am Beispiel Brustkrebs Verschiedene Finanzierungsmodelle mit Vergütung aus der Anschubfinanzierung Vertragspartner der Krankenkassen in der Integrierten Versorgung Rechtsanspruch auf Abschluss eines Integrationsvertrages Vergaberecht Inhalt der Integrationsversorgung, Vertragsgegenstand Vertragsfreiheit und ihre Grenzen Der Kooperationsvertrag Ärztliche Berufsordnung Organisationsmodelle Haftpflichtversicherungsschutz Haftung in der Integrierten Versorgung Steuerliche Aspekte in der Integrierten Versorgung Investitionskosten Regelungsbedarf Resümee Literatur

109

1

Einleitung

Die Integrierte Versorgung beginnt sich im deutschen Gesundheitswesen durchzusetzen und einiges spricht dafür, dass die Zukunftsprognose der Ernst & Young Studie „Gesundheitsversorgung 2020“ Realität wird: „Den Kern der Leistungen stellen große Netze von Leistungsanbietern dar“, und „die Anbieter von Versorgungsnetzen verfügen über strategische Plattformen, die Visionen, Werte sowie messbare strategische Zielsetzungen transparent machen und sicher stellen, dass alle operativen Entscheidungen die definierten Ziele erfüllen.“1 In Zeiten knapper werdender finanzieller Mittel haben sich die Koordinaten im deutschen Gesundheitswesen aufgrund des Wettbewerbsdrucks schon jetzt verändert. Viele Akteure versuchen die Effizienz der verwendeten Gelder zu steigern, um so eine Kostenreduzierung zu erreichen. Insbesondere große Krankenhäuser, private Krankenhauskonzerne, Krankenkassen, hier auch die privaten Krankenversicherungsträger sowie die Unternehmen aus der Pharmaindustrie haben die Zeichen der Zeit sehr schnell erkannt und sehen einen Weg, das Verhältnis von Kosten und Nutzen zu verbessern u. a. in der Integrierten Versorgung. Aktuell loten diese Akteure die neugeschaffenen Möglichkeiten aus und stellen sich strategisch auf. Letztendlich steht das deutsche Gesundheitswesen vor der Frage, wer in unserem Gesundheitswesen die entscheidenden Positionen besetzen und damit die Steuerung – sowohl die der Patienten als auch der Versorgung insgesamt – übernehmen wird. In Ansehung des Wettbewerbsdrucks könnten in den nächsten 10 Jahren bis zu 25 Prozent der Arztpraxen wegen der Neugestaltung der Vergütung im ambulanten Bereich (EBM 2000 plus, RLV, morbiditätsbezogene Vergütung ab 2009) abgebaut werden müssen. Ebenso dürften sich mit dem Ende der Konvergenzphase 2009 die Bettenkapazitätslandschaft der Krankenhäuser dramatisch verändert haben (Bettenabbau bis zu 30 %). Regionale Versorgungsnetze und medizinische Versorgungszentren sowie überregional wirkende Unternehmen könnten in den

1

Vgl. Ernst & Young, Konzentriert. Marktorientiert. Saniert – Gesundheitsversorgung 2020, Studie 2007; www.ey.com/

111

Heinrich Hanika nächsten 10 Jahren die klassische Versorgung insbesondere durch Modelle der Integrierten Versorgung übernehmen.2

2

Bilanz in Zahlen und Beispiele

Die vom Gesetzgeber bis zum 31.12.2003 an die Integrierte Versorgung gehegten Erwartungen, durch eine Verzahnung von ambulanten und stationären Sektoren eine wirtschaftlichere und zugleich qualitativ verbesserte Versorgung der Versicherten zu gewährleisten, wurden durch die Akteure im deutschen Gesundheitswesen zunächst nicht erfüllt. Ein Grund hierfür waren u. a. strukturelle Defizite, die keinen Anreiz schufen, die Entwicklung von integrierten Versorgungs- und Behandlungsprogrammen voranzutreiben. So waren bis zum 31.12.2003 bundesweit nur wenige Integrationsverträge zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen zu verzeichnen.3 Durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003 (GKV-Modernisierungsgesetz-GMG)4 wurden die Rahmenbedingungen für die Integrierte Versorgung mit Wirkung ab dem 01.01.2004 neu gefasst, da die bisher geltenden Regelungen den Abschluss von Integrationsverträgen mehr hinderten als beförderten. Mit dieser Gesetzesänderung gewinnt der Zug in Richtung Integrierter Versorgung deutlich an Fahrt. Seit Beginn des Jahres 2004 steigt die Zahl der Vertragsabschlüsse kontinuierlich an. So war zum Jahresende 2004 von über 300 Integrationsverträgen auszugehen. Im April 2005 veröffentlichte die BundesGeschäftsstelle Qualitätssicherung (BQS) erstmals Zahlen über dort vorliegende Meldungen. Danach waren Ende des ersten Halbjahres 2005 841 Integrationsverträge registriert. Die Anzahl der Verträge betrug zum 30.09.2005 bereits 1.346.5 2

Vgl. Wambach, Lindenthal, Frommelt, Einführung, in: Hellmann (Hrsg.), Integrierte Versorgung – Zukunftssicherung für niedergelassene Ärzte – Praktische Tipps und Anregungen aus dem Praxisnetz Nürnberg – Nord 2005, S. 9 f. 3 Vgl. Bosenius, Juric, Wallhäuser, Rechtsgrundlagen lt. SGB V, in: Rheinische Fachhochschule Köln (RFH), Leitfaden zur Integrierten Versorgung aus der Praxis vom 22.03.2005, S. IV-1 ff. 4 Vgl. BGBl I, S. 2190 bis 2258. 5 Vgl. Hildebrandt, Bischoff-Everding, Stüve, Der Fortschritt ist eine Schnecke – Integrierte Versorgung zwischen enttäuschten Erwartungen und Konsolidierung, in: Ku-Sonderheft, Integrierte Versorgung 2005, S. 6 ff.

112

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Zum Stichtag 3.03.2007 wurden bereits 3.671 Verträge abgeschlossen.6 Die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und Spitzenverbände der Krankenkassen haben die Einrichtung einer gemeinsamen Registrierungsstelle zur Unterstützung der Umsetzung des § 140 a SGB V vereinbart. Mit der Einrichtung und dem Betrieb der Registrierungsstelle wurde die Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung gGmbH (BQS) beauftragt.7 Aufgabe der Registrierungsstelle ist die Erfassung der Meldungen der Krankenkassen über abgeschlossene Verträge zur Integrierten Versorgung nach § 140 a SGB V und die Erteilung von Auskünften über abgeschlossene Verträge an Krankenhäuser und Kassenärztliche Vereinigungen. Die Registrierungsstelle gibt keine allgemeinen Auskünfte zur Integrierten Versorgung oder zum Stand der Umsetzung des § 140 a SGB V. Die seit April 2005 quartalsweise erfolgenden Informationen tragen zu mehr Transparenz des Vertragsgeschehens bei. Gleichwohl ist die Forderung nach inhaltlicher Transparenz der Integrationsverträge ein Diskussionspunkt. Die Ursachen und Interessen sind dabei vielschichtig.8 Eine Sichtung der Mehrzahl der bis dato abgeschlossenen IV-Verträge lässt allerdings eine gewisse Ernüchterung aufkommen. Nach wie vor beherrschten die Endoprothetik-Verträge mit einfach konstruierten Komplexpauschalen über Akut- und Reha-Teil jedenfalls bis Ende 2004 zu etwa 40 Prozent das Feld und würden ihren Nutzen für die Krankenkassen vorwiegend aus Marketing-Effekten sowie kleinen Variationen an den Budgetgrenzen der Akuthäuser und besserer Transparenz des Ablaufs für die Patienten ziehen. 9 Das zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und Leistungserbringer vereinbarte Meldeverfahren zu Verträgen der Integrierten Versorgung kann insgesamt als eine richtige Entscheidung bewertet werden, da die seit April 2005 quartalsweise erfolgenden Informationen zu mehr Transparenz des Vertragsge-

6 7 8 9

www.bqs-online.de www.bqs-online.de. Vgl. Renzewitz, Wohin geht der Kurs in der Integrationsversorgung?, in: Ku-Sonderheft – Integrierte Versorgung 2005, S. 10 ff. Vgl. Jakobs, Wettbewerbsperspektive der Integrierten Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Gesundheitsökonomische Beiträge 22, Baden-Baden 2004, S. 1 ff.

113

Heinrich Hanika schehens beitragen. Damit werden einzelne aufwendige Auskunftsersuchen an die Krankenkassen vermindert. Im Folgenden wird die Anzahl der Vertragsmeldungen GKV zur Integrierten Versorgung nach Versorgungsregionen zum Stichtag 31.03.2007 gezeigt:

Abb.1: Verträge zur integrierten Versorgung nach Regionen zum 31.03.2007 Quelle: www.bqs-online.de

114

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Dank der gemeinsamen Registrierungsstelle zur Unterstützung der Umsetzung des § 140 d SGB V können die Anteile der Vertragspartner – Kombinationen an gemeldeten Verträgen zur Integrierten Versorgung – Leistungserbringer Seite – ausgewertet werden.

Abb.2: Verträge zur integrierten Versorgung nach Vertragspartnern zum 31.03.2007. Quelle: www.bqs-online.de Die Auswertung ergibt zum einen eine Pluralität der direkten Vertragspartner der gemeldeten Verträge zur Integrierten Versorgung und zeigt, dass Krankenhäuser in rund 75 Prozent der gemeldeten Verträge einer der Vertragspartner auf Seiten 115

Heinrich Hanika der Leistungsanbieter sind. Ein knappes Drittel der gemeldeten Verträge sind ausschließlich mit Krankenhäusern geschlossen worden. Zum einen kann es sich dabei um Verträge mit einem interdisziplinär-fachübergreifenden Versorgungsangebot handeln. Denkbar ist aber auch, dass das Krankenhaus als „Generalunternehmer“ das vereinbarte Behandlungsspektrum in Kooperation mit anderen, an das Krankenhaus vertraglich gebundene Leistungserbringer abdeckt. Ein weiterer Trend auf der Kostenträgerseite zeigt sich darin, dass in nahezu 50 % der Fälle der Integrationsvertrag von mehreren Krankenkassen geschlossen wurde. Hieraus wird deutlich, dass einzelne Kassen sich anderen guten IV-Modellen anschließen, auch um ausreichende Patientenzahlen für die Integrierte Versorgung zu generieren. Da auch auf Kassenseite somit Vertragsgemeinschaften entstehen, werden die Fallzahlen zunehmen. Während die Kassen die ersten Verträge häufig noch aus Marketinggründen mit Alleinvertretungsanspruch abgeschlossen haben, werden diejenigen Versorgungskonzepte, die sich durchsetzen, von Nachfolgern übernommen und Versicherte anderer Kassen aufgenommen. Von den vertraglichen Vereinbarungen profitieren am Ende aber auch die Patienten.10 Der Trend in der Integrierten Versorgung geht zu anspruchsvolleren und komplexeren Systemen. Erste Krankenkassen haben Verträge der ersten Generation wieder gekündigt. Bereits seit einiger Zeit zeigt sich insgesamt ein Trend zu einerseits größeren Verträgen (z. B. das Barmer-Haushaltsmodell) und zum anderen zu komplexeren Verträgen, die mehrere Sektoren überspannen, schwierigere Indikationen zum Anlass nehmen und ganze Versorgungslandschaften entwickeln. So existieren z. B. im Bereich IV-Verträge zur interventionellen Kardiologie eine Reihe von Beispielen, wie Innovationen in der Medizin, hier vor allem beschichtete Stands, mit garantierter geringerer Häufigkeit von Re-Stenosen in intelligenter Zusammenarbeit zwischen Industrie, Krankenhäuser und Krankenkassen umgesetzt werden.11 Weiterhin wird zur Zeit an der Entwicklung von Integrationsverträgen zu Schlaganfall gearbeitet, wobei die beteiligten Leistungserbringer und Kassen besonderen Wert legen auf die Vermeidung des Schlaganfalls (gute Aufklärung, frühzeitige 10 11

Vgl. Gardain, Wir kommen zu komplexeren Systemen, in: Ku-Sonderheft Integrierte Versorgung 2005, S. 2 ff Vgl. Hildebrandt, Bischoff-Everding, Stüve, a.a.O., S. 8.

116

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Intervention bei einem höheren Risikoscore), aber auch an der Verkürzung der Rettungswege im Notfall. Weitere aufwendigere Verträge sind in letzter Zeit für die Rheumatologie, die Schmerztherapie, die Brachütherapie, die Demenz, die Sucht und verschiedene psychiatrische Indikationen sowie für die Behandlung von definierten Karzinomen ausgehandelt und geschlossen worden. (Vertrag zur Integrierten Versorgung in der Gynäkologie betreffend Mamakarzinom abgeschlossen; zunehmend Verträge mit komplexeren Versorgungsinhalten z. B. in den Bereichen Kardiologie, Onkologie oder Paillitativmedizin). Der Bundesverband Managed Care12 beschreibt eine Vielzahl gelungener Leuchtturmprojekte. An beispielhaften Projekten sind zu nennen: x

Volkskrankheit Migräne – ein Projekt der KKH in Essen

x

Das Krebsvorsorgeprogramm der Deutschen BKK in Wolfsburg und Umgebung

x

Telemedizin für chronisch Herzkranke mit der Techniker Krankenkasse Hamburg

x

Neue Versorgungsformen für Patienten mit rheumatuider Arthritis, Kiel

x

Das Projekt zur Integrierten Versorgung Endoprothetik, Münster

x

Integrierte Versorgung Kardiologie – das Norddeutsche Herznetz

x

Lebensqualität und würdevolles Sterben – das Dresdner Brückenkonzept in der Pallitativversorgung

x

IDA – Initiative Demenzverordnung in der Allgemeinmedizin, Region Mittelfranken

x

„Psychiatrisch-Psychotherapeutisches Netzwerk“ – ein Projekt der TK Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern

x

„Rund-um-Versorgung aus einer Hand“ – ein Projekt der TK NordrheinWestfalen

x

Integrierte Schwangerschaftsversorgung der BKKen in Nordrhein-Westfalen

x

CLARIDENTIS, Grünewald.

12

Vgl. Weatherly, Seiler, Meyer-Lutterloh, Schmid, Lägel, Amelung; Leuchtturmprojekte Integrierter Versorgung und Medizinscher Versorgungszentren 2007, Bundesverband managed care e.V., S. 29 ff., m.w.N.

117

Heinrich Hanika An populationsorientierten Modellen der Integrierten Versorgung können beispielhaft genannt werden: x

Das Verbundsystem Knappschaft, Bochum

x

Die Schwarzwaldformel – das Modell „Gesundes Kinzigtal“

x

UGOM Unternehmen Gesundheit Oberpfalz Mitte

x

MQMH – Vom Ärztenetzwerk mit Krankenhaus zu einem regionalen Vollversorger, Herdecke

x

Die GMZ- GmbH und der Patient-Partner-Verbund, Greifenberg

x

Medizin und Mehr (MuM), Bünde

x

Das Praxisnetz Nürnberg Nord e.V. und die Qualität und Effizienz – QuE eG.

3

Ziele der Integrierten Versorgung

Aus Sicht der Krankenkassen ergeben sich bei der Integrierten Versorgung positive Entwicklungen aus Kundensicht und für alle Vertragspartner:13

3.1

Aus Sicht der Versicherten:

x

Steigerung der Servicequalität (z. B. Wartezeiten, Servicezeiten, besondere Leistungen, Versorgung aus einer Hand, Transparenz der Abläufe, Reduzierung des Verwaltungsaufwandes, Vermeidung von Doppeluntersuchungen)

x

Abgestimmte Versorgung nach anerkannten Qualitätsstandards/externe Evaluation

x

Förderung der sprechenden Medizin mit Zeit für persönliche Zuwendung

x

Überwindung der Systemgrenzen, ambulant und stationär

13

Vgl. Sjuts, Integrierte Versorgung – Konzepte und Wirklichkeit aus Sicht der Deutschen BKK, in: Integrierte Versorgung: Konzepte und Wirklichkeit, dfg-Dienst für Gesellschaftspolitik v. 03.06.2004, S. 11.

118

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

x

Einbindung von Informationssystemen für Versicherte (z. B. als Wegweiser zu Expertenwissen)

x

Einbindung der Komfortkrankenversicherung/Überwindung der Systemgrenzen GKV und BKV.

3.2

Aus Sicht der Vertragspartner:

x

Steuerung komplexer Einzelfälle von Beginn an

x

Erprobung neuer Vergütungsformen werden möglich/Sicherheit über Vergütung

x

Verringerung von Verwaltungsaufwand (z. B. bei Kostenzusagen)

x

Lenkung des Finanzströme in Richtung der regionalen Partner

x

Beteiligungs-/Bonus-Modelle an Effizienz-Gewinnen (Kunde, Leistungsanbieter).

x

Weiterhin darf die „Grenze“ zur privaten Krankenversicherung oder sog. IGEL-Leistungen durch weiteren Service und Produkte überschritten werden z. B. durch

x

Einbindung von Bonusmodellen

x

Einbindung von Service und Qualität

x

Einbindung e-Card und e-File

x

Integration von Zusatzversicherungen

x

Integration von Best Doctor/Best Care.14

Weitere Kassen formulieren ihre Ziele im Zusammenhang mit der Einführung der Integrierten Versorgung wie folgt:15 x

Intensivierung des Qualitätswettbewerbs

x

Prozessoptimierung

x

Abbau von Unwirtschaftlichkeit (Zusammenführung medizinischen Sachverstandes vermeidet Doppeluntersuchungen und unnötige Leistungen)

14

Vgl. Sjuts. a.a.O., S. 14. Vgl. Beyrle, Techniker Krankenkasse, Qualität und Innovation durch Integrierte Versorgung, in: dfg-Dienst für Gesellschaftspolitik, Integrierte Versorgung: Konzepte und Wirklichkeit v. 03.06.2004, S. 15.

15

119

Heinrich Hanika

x

Organisation des kompletten Behandlungsprozesses bei bestimmten Patienten und Diagnosengruppen aus einem Guss/ohne Versorgungsbrüche, z. B. für Schwangere oder bei psychiatrischen Erkrankungen, dadurch Qualitätsverbesserungen und Risikominimierung

x

Intensivierung der Arzt-Patienten-Beziehung (intensivierte Gesprächsleistungen, Aufzeigen von Behandlungsalternativen)

x

Hohe Servicequalität auch im Rahmen der Leistungserbringung (vergleichbar mit der hohen Servicequalität in der Versichertenbetreuung), z. B. gute telefonische Erreichbarkeit der Leistungserbringer sowie schnelle Terminvergabe bei Behandlung.

3.3

Anforderungen

Weiterhin werden folgende Anforderungen an Projekte der Integrationsversorgung genannt:16 x

Erkennbarer Mehrwert gegenüber der konventionellen Versorgung: Überlegenheit in medizinischen, betriebswirtschaftlichen und Serviceaspekten

x

Verkürzung der gesamten Behandlungsdauer durch Verzahnung bisheriger Schnittstellen (z. B. der TK-Vertrag mit dem Landesbetrieb Krankenhäuser in Hamburg über eine Integrierte Versorgung in der Hüftendoprotethik)

x

Definition von Versorgungskomplexen und Behandlungspfaden

x

Vereinbarungen mit ausgewählten und besonders qualifizierten Leistungsanbietern (z. B. Vertrag über Interdisziplinäre Schmerzkonferenzen mit der deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e. V.)

x

Erkennbare Nutzen für den Versicherten für die Inanspruchnahme und Akzeptanz Integrierter Versorgungsformen

x

Orientierung am Bedarf der Versicherten

x

Intensivierte Information und Beratung der Patienten

x

Teilnahme für den Versicherten freiwillig, daher entwickeln die Kassen entsprechende Anreizsysteme

x

Messbare Qualitätsanforderungen (z. B. messbare Optimierung der Behandlungsqualität, Evaluation der Qualität und Wirtschaftlichkeit einschließlich

16

Vgl. Beyrle, a.a.O., S. 15 f.

120

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung der Patientenzufriedenheit, messbare Verbesserung der Servicequalität der medizinischen Versorgung)17 x

Wirtschaftlichkeit: die Integrationsversorgung sollte so angelegt sein, dass sie auch nach Auslaufen der Anschubfinanzierung ökonomisch tragfähig ist. Das heißt nicht additiv (on-top), sondern substitutiv, insbesondere durch Vermeidung unnötiger Krankenhausaufenthalte, Verkürzung von Verweildauern im Krankenhaus, Vermeidung von Doppeluntersuchungen, Vermeidung von Komplikationen.

Gem. § 140 b Abs. 3 S. 3 SGB V haben die Leistungserbringer die Gewähr zu übernehmen für: x

Die Erfüllung der organisatorischen, betriebswirtschaftlichen sowie medizinischen und medizinisch-technischen Voraussetzungen für die vereinbarte Integrierte Versorgung entsprechend dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und des medizinischen Fortschritts.

x

Eine an dem Versorgungsbedarf der Versicherten orientierten Zusammenarbeit zwischen allen innerhalb der Integrationsversorgung an der Versorgung Beteiligten, einschließlich

x

Der Koordination zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen innerhalb der Integrationsversorgung und

x

Einer ausreichenden Dokumentation, die allen an der Integrierten Versorgung Beteiligten im jeweils erforderlichen Umfang zugänglich sein muss.18

Das Leistungsspektrum der Integrationsversorgung darf den Beschlüssen des gemeinsamen Bundesausschusses gem. § 140 b Abs. 3 S. 4 SGB V nicht widersprechen.

17

18

Vgl. SG Saarland, Beschl. V. 22.01.2004, - S 24 ER 68/03 KN-KR: Zur Zulässigkeit der Bonusgewährung einer Krankenkasse durch Erlass der Zuzahlung in Form der „Praxisgebühr“ im Rahmen der Integrierten Versorgung, MedR 2004, 279 ff. Vgl. Kuhlmann, Vertragliche Regelungen und Strukturen bei der Integrierten Versorgung, das Krankenhaus 2004, S. 420.

121

Heinrich Hanika

4

Medizinisches und ökonomisches Modell am Beispiel Brustkrebs

Die neue Integrationsversorgung kann nur dann Erfolg haben, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind. Hierfür ist nach Kassensicht19 mindestens ein „medizinisches Modell“ und ein „ökonomisches Modell“ zu hinterlegen, das den Status quo des Versorgungsproblems mit der Möglichkeiten der „neuen“ Integrationsversorgung abgleicht. Am Beispiel Brustkrebs ist ein solches medizinisches Modell dargestellt:

Abb. 3: Medizinisches Modell der Integrierten Versorgung; Quelle: Nach Rebscher, brennpunkt-gesundheitswesen.de., 4/2004, S. 16

19

Vgl. Rebscher, Integrierte Versorgung, in : Der Onkologe 2003, S. 368 ff.

122

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Im „medizinischen Modell“ ist insbesondere die Überwindung der verstreuten sektoralen Zuständigkeiten in einen gestuften und vom interdisziplinären Kompetenzzentrum gesteuerten Versorgungsablauf mit klaren Zuständigkeiten, Schnittstellen und Kommunikationsprozessen der Akteure zu klären. Das „ökonomische Modell“20 muss darlegen, welche neuen ökonomischen Anreize – speziell der Vergütung – auf die Akteure wirken und welche medizinisch definierten Endpunkte Vergütungskonsequenzen auslösen. In einem solchen Modell wird auch zu klären sein, wie die Verantwortlichkeit für die Beschaffung aller Produkte der Integrationsversorgung – also inklusive der Beteiligung Dritter – und die Beschaffung z. B. von Arznei-, Heil- und Hilfsmittel geregelt sind.

Abb. 4: Ökonomisches Modell der Integrierten Versorgung; Quelle: Nach Rebscher, brennpunkt-gesundheitswesen.de., 4/2004, S. 17 20

Vgl. Rebscher, Alte Rhetorik oder neues ordnungspolitisches Konzept? – Mangelnde Integration – mangelnde Wirtschaftlichkeit, in: brennpunkt-gesundheitswesen.de 2004, S. 16 f.

123

Heinrich Hanika Das ökonomische Modell der Integrierten Versorgung muss spezifisch herausarbeiten, welche Einzelelemente der Vergütung im Status quo zu Gunsten einer komplexen, outputorientierten und auf medizinischen Endpunkten bezogenen Vergütung abgelöst werden und es hat dazustellen, inwieweit auch Patienten materiell entlastet werden können. In der Praxis ist auch der Abschluss von Integrationsverträgen über DiseaseManagement-Programme (DMPs) zu beobachten, obwohl dafür, den ambulanten Bereich betreffend, auch Verträge nach § 116 b SGB V (Ambulante Behandlung im Krankenhaus) möglich wären.21

5

Verschiedene Finanzierungsmodelle mit Vergütung aus der Anschubfinanzierung

5.1

Finanzierungsvolumina

Für die Umsetzung von geschlossenen Verträgen zur Integrierten Versorgung können die gesetzlichen Krankenkassen in den Jahren 2004 bis 2008 grundsätzlich 1 Prozent von der an die Kassenärztliche Vereinigungen zu entrichtende Gesamtvergütung sowie 1 Prozent von den Rechnungen der einzelnen Krankenhäuser für voll- und teilstationäre Versorgung einbehalten. Ausgehend von den Ausgaben für vertragsärztliche Behandlung und Krankenhausleistungen im Jahre 2003 stehen den gesetzlichen Krankenkassen in dem Zeitraum 2004 bis 2006 für die Umsetzung der Integrierten Versorgung insgesamt rund 2,13 Milliarden Euro zur Verfügung.22 Der Bereich der Integrierten Versorgung scheint somit eine Möglichkeit zu bieten, in Zeiten immer knapper werdenden Mittel im deutschen Gesundheitswesen neue Einnahmequellen zu erschließen bzw. Einnahmen nicht zu verlieren. Zur Finanzierung der Integrierten Versorgungsverträge stehen nach § 140 d SGB V in den Jahren 2004 – 2006 jährlich insgesamt maximal 680 Millionen Euro zur 21

22

Vgl. Kuhlmann, a.a.O., S. 419 Vgl. http:/www.bmgs.bund.de/deu/gra/themen/gesundheit/index_4926.cfm-schröder: Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung 2003 geringer als erwartet. Vorzieheffekte beeinflussen Finanzergebnisse.

124

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Verfügung, wovon 220 Millionen aus der vertragsärztlichen Gesamtvergütung und 460 Millionen aus der stationären Versorgung kommen. Im Bericht der BQS wird die Summe der Vertragsvolumina zum Stichtag 30.09.2005 mit ca. 347 Millionen Euro angegeben. Somit besteht noch finanzieller Spielraum für die Ausweitung von Modellen der Integrierten Versorgung und Entwicklung von Finanzierungsmodellen aus der Anschubfinanzierung. Nach § 140c SGB V legen die Verträge zur Integrierten Versorgung die Vergütung fest. Hiernach sind verschiedene Finanzierungsmodelle vorstellbar:

5.2

EBM bleibt EBM und DRG bleibt DRG

Im Modell 1 wird nach dem Grundsatz „EBM bleibt EBM und DRG bleibt DRG“ verfahren. Nur der in der Integrierten Versorgung anfallende zusätzliche Aufwand wird über den Abzug nach § 140d SGB V finanziert. Hierdurch werden Doppelabrechnungen im ambulanten Bereich (Inhalt der Gesamtvergütung und Abrechnung über Integrierte Versorgungsleistungen) und Mengenausweitungen im stationären Bereich vermieden.

Abb. 5: EBM bleibt EBM und DRG bleibt DRG Quelle: Eigene Darstellung nach Rheinische Fachhochschule Köln

125

Heinrich Hanika

5.3

Vergütung mittels Komplexpauschalen

Das zweite hier vorgestellte Finanzierungsmodell soll bei den abgeschlossenen Integrationsverträgen von den Vertragspartnern überwiegend genutzt worden sein. Ziel dieses 2. Modells ist es, über die Vereinbarung von Rabatten eine Einsparung der Gesamtkosten für die vertragsschließenden Krankenkassen zu erreichen. Basis für die Kalkulation der zu vereinbarenden Rabatte kann das Volumen der möglichen Einsparpotentiale (z. B. Vereinbarung von Positivlisten bei Arzneimitteln, Rabatte durch den kooperativen Einkauf von Hilfsmitteln) sein. Denkbar ist in diesem Zusammenhang die Vereinbarung einer Vergütung in Abhängigkeit von erreichten vorgegebenen Ergebniswerten.

Abb. 6: Vergütung mittels Komplexpauschalen Quelle: Eigene Darstellung

126

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

5.4

Vergütung mittels fallzahlunabhängigem Gesamtbetrag

Die Idee des dritten Finanzierungsmodells ist die Vereinbarung einer Budgetgarantie. Die Krankenkasse garantiert in diesem Modell die Bezahlung eines Gesamtbetrages und überträgt das Mengenrisiko den Leistungserbringern. Von den Leistungserbringern erwirtschaftete Einsparpotentiale bei den Sektoren übergreifenden Gesamtkosten der Versorgung werden in einem jeweils definierten Verhältnis geteilt bzw. stehen den Leistungserbringern als Bonus vollständig zur Verfügung. Dies stellt ein hohes unternehmerisches Risiko für die Leistungserbringer dar.

Abb. 7: Vergütung mittels fallzahlunabhängigem Gesamtbetrag Quelle: Eigene Darstellung Die drei genannten Vergütungssysteme können vertraglich kombiniert werden. Auch andere Vergütungssysteme sind vorstellbar.

127

Heinrich Hanika

6

Vertragspartner der Krankenkassen in der Integrierten Versorgung

An Vertragspartnern der Krankenkassen in der Integrierten Versorgung sind zu nennen:23

Leistungserbringer etc. 24

Vertragsärzte (Ärzte/Zahnärzte ) Sonstige zur vertragsärztlichen Versorgung berechtigte Leistungsbringer, insbesondere x Zugelassene oder ermächtige Psychotherapeuten, § 95 Abs. 10,11 SGB V x Ermächtigte Ärzte, ermächtige ärztlich geleitete Einrichtungen, § 95 Abs. 1 SGB V x Einrichtungen des Müttergenesungswerks, Einrichtungen für Vater-KindMaßnahmen, § 111a SGB V x Hochschulambulanzen, § 117 SGB V x Psychiatrische Institutionsambulanzen, § 118 SGB V x Sozialpädiatrische Zentren, § 119 SGB V x Heilmittelerbringer, § 124 SGB V x Hilfsmittelerbringer, § 126 SGB V x Einrichtungen der Haushaltshilfe, § 132 SGB V 23

Vertragspartner gem. § 140b Nr. 1 SGB V § 140b Nr. 1 SGB V

Beteiligung gem.

Vgl. Hellmann, Handbuch Integrierte Versorgung, Gesetzliche und vertragliche Regelungen 2005, S. 16. Nicht jedoch Zahntechniker, für die das SGB V keine Zulassungsvorschriften enthält; ihre Leistungen werden vom Zahnarzt gegenüber der KZVK abgerechnet, § 30 Abs. 1, Abs. 4 Satz 6 SGB V. 25 Zweifelhaft; Hebammen nehmen an der Versorgung der Versicherten der GKV auf Grund der staatlichen Anerkennung gem. §§ 1-3 HebG und der eigenen Entscheidung zur freiberuflichen Tätigkeit teil, BSG SozR 3-5595 § 2 Nr. 1; § 134 SGB V i.V.m. der HebGV regelt an sich nur die Höhe der Vergütung. Das Leistungsrecht regeln die §§ 195, 196 RVO. 24

128

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

Leistungserbringer etc.

Vertragspartner gem.

Beteiligung gem.

Einrichtungen der häuslichen Krankenpflege, § 132a SGB V x Einrichtungen der Soziotherapie, § 132b SGB V x Einrichtungen und Unternehmen für Krankentransporte, § 133 SGB V x Eigeneinrichtungen der Krankenkassen, § 139 SGB V x Eigeneinrichtungen (Fachambulanzen mit Dispensaireauftrag etc.) nach § 311 SGB V x Hebammen, § 134 SGB V25 Hochschulkliniken, Plankrankenhäuser und Krankenhäuser mit Versorgungsver§140b Nr. 2 SGB V trag nach § 109 SGB V Stationäre Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen mit Versorgungsvertrag § 140b Nr. 2 SGB V nach § 111 SGB V x

Ambulante/teilstationäre Rehabilitationseinrichtungen26

§ 140b Nr. 2 SGB V

Medizinische Versorgungszentren, § 95 Abs. 1 Satz 2 SGB V

§ 140b Nr. 3 SGB V

Managementgesellschaften

§ 140b Nr. 4 SGB V

Gemeinschaften der o.g. Leistungserbringer und deren Gemeinschaften

§ 140b Nr. 5 SGB V

Apotheken

§ 129 Abs. 5b SGB V

Ein Hindernis für die Krankenhäuser im Leistungswettbewerb stellt die Auffassung des BMGS dar, wonach anders als bei der Ausgestaltung des § 116 b SGB V allein der Abschluss eine Integrationsvertrages beispielsweise ein Krankenhaus nicht dazu berechtigen soll, ambulante Leistungen selbst erbringen zu können. 26

Die Zulassung ambulanter/teilstationärer Reha-Einrichtungen hat bedarfsunabhängig durch Verwaltungsakt zu erfolgen, wenn die personellen und sachlichen Voraussetzungen des § 107 Abs. 2 Nr.2 SGB V erfüllt sind, BSG SozR 3-2500 § 40 SGB V Nr. 3.

129

Heinrich Hanika Das Versorgungsspektrum des Krankenhauses bleibt im ambulanten Bereich folglich auf Ermächtigungsleistungen und Leistungen nach § 115 b SGB V beschränkt. Besonders ärgerlich sei, so die Auffassung der Deutschen Krankenhausgesellschaft, die Auffassung des BMGS, dass die Integrationsversorgung nicht den Sicherstellungsauftrag der KVen in Frage stellen solle, dieser mithin „in die Integrationsversorgung abstrahlt“. Die DKG fordert dringend eine gesetzliche Klarstellung im § 140 a Abs. 4 Satz 3 SGB V, dass die Integrationsversorgung eine ambulante Zulassung bereits durch den Vertragsabschluss ermögliche.27

7

Rechtsanspruch auf Abschluss eines Integrationsvertrages

§§ 140 a – d SGB V regeln keinen Rechtsanspruch auf Abschluss von Integrationsverträgen. In Ansehung bisheriger Rechtsprechung28 bleiben die Krankenkassen auch bei der Frage, ob und mit wem Integrationsverträge abgeschlossen werden sollen, an die Grundrechte, insbesondere die Art. 12 Abs. 1 GG und 3 Abs. 1 GG, gebunden. Betrachtet man beispielsweise die stationäre Akutversorgung, stellt die Weigerung einer Krankenkasse, einen Integrationsvertrag abzuschließen, für das betroffene Krankenhaus nichts anderes als eine neue Zulassungsbeschränkung in dem durch § 8 Abs. 2 Satz 1 KHG und § 109 Abs. 2 Satz 1 SGB V vorgegebenen Rahmen dar. Die Weigerung bedeutet deshalb einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit, abhängig vom Ausmaß und der sich hieraus ergebenden wirtschaftlichen Beeinträchtigungen ggf. sogar einen Eingriff in die Freiheit der Berufswahl. Die Weigerung bedürfte deshalb, bei unterstellter gesetzlicher Voraussetzungen der §§ 140 a ff. SGB V für einen Vertragsschluss, der Rechtfertigung durch vernünftige Erwägung des Gemeinwohls, ggf. sogar durch besonders wich-

27

Vgl. Robbers, in: Broll, Ambulante Behandlung: „Eine gigantische Mogelpackung“, Das Krankenhaus 10/2004, S. 785; Rentzewitz, a.a.O., S. 12. 28 Siehe Bohle, Gesetzliche Regelungen – Integrierte Versorgung – Aktuelle Rechtsfragen der Umsetzung, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch Integrierte Versorgung 2005, Kap.3, S. 27 m. w. N.

130

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung tige Gemeinschaftsgüter. Diesen Anforderungen würde eine Auswahl der Leistungserbringer nach "Gutsherrenart" nicht gerecht.29 Da der Abschluss von Integrationsverträgen für die von der Anschubfinanzierung untereinander gleichermaßen betroffenen Leistungserbringer die einzige Möglichkeit darstellt, die insoweit entstehenden finanziellen Nachteile – jedenfalls zum Teil auszugleichen, müssen die Krankenkassen ihnen zumindest gleiche Chancen auf Abschluss von Integrationsverträgen einräumen und allein danach entscheiden, ob mit der vorgesehenen Leistungsstruktur die Ziele der §§ 140 a Abs. 1, 140 b Abs. 3 SGB V in sinnvoller Weise vorangebracht werden. Eine Differenzierung zwischen verschiedenen Leistungserbringern ist auf sachliche Gründe zu beziehen, da sich ansonsten die Schere zwischen der nach § 1 Abs. 1 KHG erforderlichen und von den Krankenkassen tatsächlich gewährten Finanzierung zu einer mit Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 GG nicht mehr in Einklang stehenden Benachteiligung der Betroffenen Krankenhäusern öffnet.30 Angesichts der freiwilligen Teilnahme der Versicherten können Bedarfsgesichtspunkte, d. h. Argumente, weitere gleichartige Integrationsmodelle seien nicht notwendig, keine Rolle spielen. Das Gesetz sieht im Rahmen der Integrierten Versorgung auch keine Bedarfsprüfung vor. Finanzielle Interessen der Krankenkassen sprechen ebenfalls nicht für eine Konzentration auf bestimmte Vertragspartner, da die Regelungen in § 140 d Abs. 1 – 3 SGB V für die Aufwendungen im Rahmen der Integrierten Versorgung für die Kostenträger lediglich eine durchlaufende Position, nicht aber einen zusätzlichen Aufwand bilden. Weiterhin sind die Krankenkassen gem. § 2 Abs. 3 Satz 1 SGB V bei der Auswahl der Leistungserbringer auf das Gebot der Vielfalt verpflichtet, um die Wahlfreiheit der Versicherten zu sichern.31

29

Vgl. Ucing, Probleme der Verzahnung von ambulanter und stationärer Krankenbehandlung, NZS 2003, S. 411 ff. 30 Vgl. Bohle, a.a.O., S. 28 f. 31 Vgl. Bohle, a.a.O., S. 29 m. w. N.

131

Heinrich Hanika

8

Vergaberecht

Gem. § 129 Abs. 5 b Satz 1 2. Halbsatz SGB V hat das GMG zwar eine Verpflichtung geschaffen, Angebote gegenüber Apotheken zur Beteiligung an vertraglich vereinbarten Versorgungsformen im Interesse der Gleichbehandlung öffentlich auszuschreiben. Gleichwohl kennt das SGB V eine entsprechende Verpflichtung der Krankenkassen zur Ausschreibung von Angeboten auf Abschlüssen von Integrationsverträgen nicht. Dennoch wird bisweilen die Meinung vertreten, die Ausschreibungsverpflichtung ergäbe sich aus den §§ 97 ff. des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB).32 Das überrascht, weil sich die Rechtsbeziehungen der Krankenkassen zu den Leistungserbringern seit dem 01.01.2000 abschließend nach dem 4. Kapitel und den §§ 63, 64 des SGB V sowie dem KHG, dem KHEntgG und den hiernach erlassenen Rechtsverordnungen richten.33 Gem. § 69 SGB V gilt dies auch, soweit durch diese Rechtsbeziehungen Rechte Dritter betroffen werden. Das nationale Wettbewerbsrecht (GWB und UWG) ist gemäß der Rechtsprechung des BSG auf diese Rechtsbeziehungen seither nicht mehr anwendbar.34 Stellt man dieses Ergebnis gleichwohl in Frage, muss geprüft werden, ob Krankenkassen beim Abschluss von Integrationsverträgen als "öffentliche Auftraggeber" gem. § 98 GWB handeln und ob insoweit überhaupt ein "öffentlicher Auftrag" i. S. v. § 99 GWB vorliegt. Ausschließlich dann kommt es noch darauf an, ob der "Schwellenwert" nach § 100 Abs. 1 GWB i. V. m. § 2 Nr. 3 der Vergabeverordnung (VGV) erreicht oder überschritten ist. Krankenkassen unterfallen als Körperschaften des öffentlichen Rechts zwar voraussichtlich § 98 S. 1 Nr. 2 GWB. Bei den Integrationsverträgen geht es aber entgegen § 100 Abs. 1, 2 GWB nicht um die Beschaffung von Waren oder Dienstleistungen durch die Krankenkasse. Nicht die Krankenkasse, sondern der Versicherte soll Begünstigter der medizinischen Versorgung sein. Weiterhin belegt die Freiheit des Versicherten, an der Integrationsversorgung teilzunehmen oder es zu lassen gem. § 140 a Abs. 2 Satz 1 SGB V, dass der Abschluss von Integrationsverträgen in der Regel keinen "Beschaffungsvorgang" i. S. v. § 100 GWB dar32

Vgl. Kuhlmann, Neue Versorgungsmöglichkeiten für Krankenhäuser durch das GMG, das Krankenhaus 2004, S. 13 ff.; gegen die Anwendung des Vergaberechts beim Abschluss von Versorgungsverträgen nach § 109 SGB V (ausschließlich Dienstleistungskonzession), Zuck, Ausschreibungspflicht der Zulassung zur Krankenhausbehandlung?, f & w 2002, S. 534 ff. 33 Vgl. Bohle, a.a.O., S. 26. 34 Vgl. BSG-Urteil v. 25.09.2001, SozR 3-2500, § 69 SGB V Nr. 1; BGH-Urteil v. 02.10.2003, GesR 2004, S. 151.

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Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung stellt.35 Anderes mag im Ergebnis nur dann gelten, wenn die Krankenkasse die Freiheit des Versicherten, sich gegen die Integrationsversorgung zu entscheiden, tatsächlich durch z. B. außerordentlich hohe Boni einschränkt und durch die nicht objektiv gebotene Konzentration von Integrationsverträgen auf einen oder einige wenige Vertragspartner, den Versicherten zwingt, gerade diese(n) in Anspruch zu nehmen.36 Derartige Gefahren lassen sich aber einerseits durch Vorteile, die sich auf Ermäßigungen von Zuzahlungen gem. § 65 a Abs. 2 SGB V beschränken und andererseits durch eine entsprechende Vertragspraxis, die auf Konkurrenzschutzregelungen zugunsten bestimmter Leistungserbringer verzichtet, vermeiden.37 In jüngster Zeit hat das Bundeskartellamt hier strengere Maßstäbe angelegt.38 Bundesweit tätige Krankenkassen unterliegen für ihre Beschaffungs- und Bauaufträge den Vergabevorschriften öffentlicher Auftraggeber. Das hat das Bundeskartellamt entschieden. Zur Begründung verwiesen die Wettbewerbshüter darauf, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen aus öffentlichen Mitteln finanziert würden. Für die vergaberechtliche Abgrenzung reiche es bereits aus, dass die Zahlungen an die Kassen kraft Gesetzes über Beitragszahlungen der Bürger und der Arbeitgeber garantiert würden. Die Entscheidung gilt unmittelbar für die rund 150 dem zuzurechnenden gesetzlichen Kassen. Sie dürfte aber auch Präzedenzwirkung für die von den Landesbehörden beaufsichtigten regionalen Versicherungen entfalten. Die betroffenen Kassen müssen nun Liefer- und Dienstleistungsaufträge im Regelfall ausschreiben, wenn der Auftragswert mindestens 211.000 Euro erreicht. Bei Bauaufträgen liegt die Schwelle bei 5,278 Millionen Euro. „Das Einkaufsverhalten der gesetzlichen Krankenkassen unterliegt damit einer vergaberechtlichen Kontrolle“, teilte das Kartellamt mit. Eine freihändige Auftragsvergabe sei oberhalb der Schwellenwerte nur noch in Ausnahmefällen zulässig, etwa bei besonderer Eilbedürftigkeit, sagte ein Sprecher. Die gesetzlichen Krankenkassen, die wegen der unklaren Rechtlage Aufträge nicht mehr öffentlich ausgeschrieben haben, werden dies nun wieder tun müssen. Noch vor wenigen Jahren vertraten die Ge35 36

Vgl. Bohle, a.a.O., S. 27. Vgl. König, Engelmann, Hentschel, Die Anwendung des Vergaberechts auf die Leistungserbringung im Gesundheitswesen, MedR 2003, S. 562 ff.; Desgleichen für die Auswahl bei DMPVerträgen, Vollmöller, Rechtsfragen bei der Umsetzung von Disease-Management-Programmen, NZS 2004, S. 63 ff.; Siehe auch Kinggreen, Wettbewerbsrechtliche Aspekte des GKVModernisierungsgesetzes, MedR 2004, S. 188 ff., 196 ff. 37 Vgl. Bohle, a.a.O., S. 27. 38 Vgl. o.Verf., Kassen müssen Auftrag ausschreiben, FAZ v. 12.05.07, S. 13.

133

Heinrich Hanika richte die Auffassung, die Krankenkassen seien nicht dem Vergaberecht unterworfen, weil sie nicht direkt staatlich beherrscht und finanziert würden, sondern Selbstverwaltungskörperschaften seien. Der Bundesverband der Innungskrankenkassen nahm die Entscheidung gelassen. „Die Auffassung des Kartellamtes entspricht der generellen Vergabepraxis unserer Mitglieder“, sagte ein Sprecher. Bei der Beschaffung von Heilmitteln schreckten manche Kassen wegen der komplizierten Bedingungen aber noch vor Ausschreibungsverfahren zurück. Auch nach der jüngsten Auffassung des Gesetzgebers im GKV-WSG wird in der Begründung zum § 140 a Abs. 1 SGB V unter Bezugnahme auf die Neuregelung des § 130 a Abs. 8 SGB V und der geltenden Vorschrift des § 129 Abs. 5 b SGB V ausgeführt, dass bei den Ausschreibungen für die Verträge mit pharmazeutischen Unternehmern über Preisnachlässe (Herstellerrabatte) auf ihre Produkte die jeweils gültigen Vorschriften des Vergaberechts anzuwenden sind.

9

Inhalt der Integrationsversorgung, Vertragsgegenstand

Wegen der weitreichenden Befugnisse der Vertragsparteien nach § 140b Abs. 1 SGB V, von den vom Parlament beschlossenen gesetzlichen Bestimmungen abzuweichen, war es an sich zu erwarten, dass der Gesetzgeber den Gegenstand der Integrierten Versorgung gegenüber den sonstigen, weiterhin den Gesetzen unterliegenden Versorgungsformen inhaltlich abgrenzt.39 § 140a SGB V Abs. 1 Satz 1 SGB V gibt allerdings lediglich eine Beschreibung der Integrierten Versorgung als Behandlungsprozess. Die Integrierte Versorgung stellt demnach entweder eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung der Versicherten oder eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung dar. Das ist zwar konsequent, weil die Integrierte Versorgung in der GKV-Gesundheitsreform 2000 angetreten war, die starre Aufgabenverteilung zwischen der ambulanten und stationären Versorgung gezielt zu durchbrechen, „um die Voraussetzungen für eine stärker an 39

Zu Abgrenzungsfragen der (bisherigen) Integrierten Versorgung von Modellvorhaben (§§ 63-65 SGB V) und Strukturverträgen (§ 73a SGB V) siehe vertiefend: Beule, Rechtsfragen der Integrierten Versorgung 2003, S. 169 ff.; Dierks, Auf dem Weg zur Integrierten Versorgung – Wichtige Rechtsaspekte , in: Hellmann (Hrsg.) Management von Gesundheitsnetzen 2001, S. 104 ff.

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Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung den Versorgungsbedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientierten Behandlung zu verbessern“.40 Ziel des Gesetzes war es, nicht abgestimmte Behandlungsabläufe und vermeidbare Doppeluntersuchungen aus dem Mängelkatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu eliminieren.41 Das GMG hat diese Zielsetzung der Integrierten Versorgung weiterentwickelt: Sinn einer Integrierten Versorgung ist vor allem, die bisherige Abschottung der einzelnen Leistungsbereiche zu überwinden, Substitutionsmöglichkeiten über verschiedene Leistungssektoren hinweg zu nutzen und Schnittstellenprobleme so besser in den Griff zu bekommen. Die medizinische Orientierung des Leistungsgeschehens hat Priorität. Anstrengungen zur Qualitätssicherung und zur optimierten, die Leistungssektoren übergreifende Arbeitsteilung und der Wirtschaftlichkeit – und Qualitätsgesichtspunkten sollen gefördert und nicht durch bestehende Zulassungsschranken behindert werden.42 Die Behandlungsprozess-orientierte Beschreibung der Integrierten Versorgung im SGB V gibt den Versicherten, Krankenkassen und Leistungserbringern jedoch keine Antwort auf die Frage nach Inhalt und Grenzen des Begriff der „Leistungssektoren“. Das GMG setzt die Antwort als bekannt voraus. Auf die genaue Definition kommt es aber maßgeblich an, da § 140 a Abs. 1 Satz 1 SGB V eine „verschiedene“ – d. h. zwei oder mehr – Leistungssektoren übergreifende Versorgung fordert. Nur dann steht das Leistungserbringungsrecht zur Disposition der Vertragsparteien, § 140 b Abs. 4 SGB V.43 Grundsätzlich stehen für die Integrierte Versorgung sämtliche Rechts- und Gesellschaftsformen zur Verfügung, insbesondere Personengesellschaften, juristische Person des Privatrechts einschließlich Kapitalgesellschaften und Vereine. Das GMG verzichtet auf eine beschreibende Darstellung der Integrierten Versorgung und legt in einer sehr offenen Formulierung lediglich fest, dass die Krankenkassen mit den in § 140b I SGB V genannten Vertragspartnern „abweichend von den übrigen Regelungen“ des 4. Kap. SGB V eine „leistungssektoren- oder eine interdisziplinärfachübergreifende“ Versorgung der Versicherten vereinbaren 40 41 42 43

Vgl. BT-Drucksache 14/1245, S. 91. Vgl. BT-Drucksache 14/1245, S. 55; BT-Drucksache 14/1977, S. 154. Vgl. BT-Drucksache 15/1525, S. 130. Vgl. Vertiefend siehe Hellmann, Handbuch Integrierte Versorgung – gesetzliche und vertragliche Regelungen, Kapitel 3.1.1., S. 4 f.

135

Heinrich Hanika können. Abgewichen kann daher im Grundsatz vom gesamten Recht der Leistungserbringung, soweit es vom SGB V erfasst wird, einschließlich der Beitragssatzstabilität nach § 71 Abs. 1 SGB V. Der Sicherstellungsauftrag der KV wird eingeschränkt und ihr – wie auch der KBV – jeglicher Einfluss auf die Vertragsgestaltung genommen. Im Ergebnis bedeutet dies eine Entkoppelung von vertragsärztlicher und Integrierter Versorgung. Die Sicherstellung der Versorgung der Versicherten wird von den Vertragsparteien im vereinbarten Umfang übernommen. So kann z. B. die kardiologische Versorgung von Versicherten einer Krankenkasse in einer Region durch eine Integrationsversorgung mit Vertragsärzten und Krankenkassen sichergestellt werden. Die Vertragsärzte unterliegen nicht mehr den kollektivvertraglichen Vorgaben. Die Krankenkassen werden so in die sehr komfortable Lage versetzt, im selbst bestimmten Umfang Verträge zu schließen, ohne dass damit die Verpflichtung verbunden wäre, dauerhaft und flächendeckend die Versorgung der Versicherten sicherzustellen. Insoweit handelt es sich bei der Integrativen Versorgung um eine „alternative Regelversorgung“, die ihrem Inhalt nach im Wesentlichen vertraglich vorgegeben ist und lediglich durch die Merkmale einer leistungssektoren- oder interdisziplinärfachübergreifenden Versorgung begrenzt wird. 44 Bei der Integrierten Versorgung müssen zwingend Eigentums- und Besitzverhältnisse, Organisation der Geschäftsführung, Haftung, Steuerrecht, Gemeinnützigkeitserwägungen sowie Sozial- und Berufsrecht beachtet werden. Bei der vertraglichen Regelung und der Strukturen zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern ist zu beachten, dass das Rechtsverhältnis durch Vertrag, nicht durch Gesetz begründet wird. Der Pflichtinhalt des Integrationsvertrages x

definiert sich aus dem Charakter des Vertrages als Versorgungsvertrages im Sinne des § 140 b SGB V

x

bestimmt die Vertragspartner

x

vereinbart einen Versorgungsauftrag

x

enthält den gesetzlichen Mindestinhalt nach § 140 b SGB V (z. B. Qualitätssicherung, Versorgungsbedarf, Koordination, Dokumentation, etc.)

x

regelt die Person des Leistungserbringers und seiner Leistungsberechtigung (Reichweite) und

44

Vgl. Quaas, Zuck, Medizinrecht 2005, S. 174 ff. m. w. N.

136

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

x

formuliert die Vergütung der Leistungserbringer.

Fakultativ sinnvoll ist die Regelung folgender Tatbestände in den Integrationsverträgen: x

Persönlicher und räumlicher Geltungsbereich des Versorgungsauftrages

x

Haftung der Leistungserbringer

x

Einhaltung von Standards, Richtlinien, etc.

x

Evaluation

x

Teilnahmevoraussetzung für Versicherte

x

Versorgungskoordination und

x

Koordinator

x

Ort und Umfang der Datenübermittlung

x

Einhaltung des Datenschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht

x

Vertragslaufzeit

x

Teilnahme weiterer Leistungserbringer

x

Austritt bisheriger Mitglieder

x

Schriftformklausel

x

Salvatorische Klausel

x

Kündbarkeit des Vertrages

In der Literatur45 existieren Checklisten und Musterverträge zum Integrationsvertrag Krankenkassen – Krankenhäuser/Arzt sowie Krankenkasse – Managementgesellschaft und Leistungsverträge Managementgesellschaft – Krankenhaus, Managementgesellschaft – Arzt sowie Integrationsvertrag Krankenkasse – Ärztenetz sowie Beteiligungsvertrag Krankenkasse – Apotheker und Checklisten zur Gewährleistung und Ablaufschema öffentlicher Ausschreibung.

45

Vgl. Wernick, Bohle, Münnch, Grau, Vertragliche Regelungen, in: Hellmann, Handbuch Integrierte Versorgung 2005, Kap. 3.2., S. 1 ff.; Wallhäuser, Verträge der Integrierten Versorgung 2005, S. 1 ff.

137

Heinrich Hanika

10 Vertragsfreiheit und ihre Grenzen Die Vertragsparteien können „Abweichendes“ von den Vorschriften des 4. Kapitels des SGB V, des KHG, des KHEntgG sowie die nach diesen Vorschriften getroffenen Regelungen vereinbaren. Folgende Elemente des 4. Kapitels sind hervorzuheben, die zur grundsätzlichen Disposition der Vertragspartner stehen: x

Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V)

x

Sicherstellungsauftrag (§ 72 SGB V)

x

Grundsätze der vertragsärztlichen Versorgung (§§ 73 SGB V)

x

Verträge nach §§ 82 ff. SGB V

x

Richtlinien nach § 92 SGB V

x

Zulassungsrecht zur vertragsärztlichen Versorgung (§§ 95 ff. SGB V)

x

Bedarfsplanungsrecht nach §§ 99 ff. SGB V

x

Prüfverfahren nach §§ 106 ff. SGB V

x

Heilmittelleistungen (§§ 124 ff. SGB V)

x

Hilfsmittelleistungen (§§ 126 ff. SGB V)

x

Rahmenverträge über die Arzneimittelversorgung (§§ 129 ff. SGB V)

x

Sonstige Versorgungsformen (§§ 132 ff. SGB V)

x

Qualitätssicherungsregelungen nach §§ 135 ff. SGB V

Abweichungen vom 4. Kapitel des SGB V sind allerdings nur insoweit zulässig, als die abweichende Regelung dem Sinn und der Eigenart der Integrierten Versorgung entspricht, die Qualität, die Wirksamkeit und die Wirtschaftlichkeit der Integrierten Versorgung verbessert oder aus sonstigen Gründen zu ihrer Durchführung erforderlich ist (§ 140 b IV 1 SGB V). Die Einhaltung dieser Ansammlung von „unbestimmten Rechtsbegriffen“ führt zu einer erheblichen Erschwerung des als flexibel gedachten Vertragsinstruments. Welche Regelungen in Integrationsversorgungsverträgen in Abweichung zu den sonstigen gesetzlichen Bestimmungen getroffen werden können, da sie „dem Sinn und der Eigenart der Integrierten Versorgung“ entsprechen, wird zudem weder im Gesetz erläutert, noch kann dies dem Gesetz entnommen werden. Die Vorschrift birgt deshalb die Gefahr einer unkontrollierten und unausgewogenen Öffnung aller Versorgungsbereiche zum Nachteil der betroffenen Leistungserbringer und Versicherten in sich. 138

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Es hätte nahe gelegen, angesichts der Vielzahl der gesetzlichen Regelungen in diesem Bereich einheitliche Vorgaben für die Integrierte Versorgung zu machen oder soweit dies nicht möglich ist, die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen weiterhin für verbindlich zu erklären. So sind im Vertragsarztrecht zum Beispiel folgende Vorgaben von Bedeutung, auf die auch in Integrationsverträgen nicht ohne weiteres verzichtet werden kann:46 x x x x x

Gebot der eigenverantwortlichen, freiberuflichen Tätigkeit (§ 98 II Nr. 13 SGB V, §§ 27, 32, 20 Ärzte-ZV) Freie Arztwahl (§ 76 SGB V, § 29 MBO) Verbot der Zuweisung gegen Entgelt (§ 31 MBO) Beachtung der Fachgebietsgrenzen Grundsatz der persönlichen Leistungserbringung (§ 613 BGB, § 19 MBO, § 4 II GOÄ, § 15 I SGB V, § 22 BPflV, § 15 BMV-Ä, § 14 EKV-Ä)

11 Der Kooperationsvertrag Aus Gründen des Übereilungsschutzes, der Warnfunktion sowie der Dokumentation empfiehlt es sich, die Grundsätze einer Kooperation zu fixieren. Für die rechtliche Ausgestaltung einer Kooperationsbeziehung gibt es zwei unterschiedliche Herangehensweisen, nämlich die des Schuldrechts oder die des Gesellschaftsrechts. Auch wenn diese auf unterschiedlichen rechtlichen Grundsätzen basieren, so können sie durchaus miteinander kombiniert werden. Eine Fülle von Gestaltungsvarianten ist denkbar:

11.1 Schuldrechtliche Gestaltung Eine Kooperation kann sich zunächst auf einen bloßen Leistungsaustausch in Form von rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnissen gem. § 241 BGB beschränken. Die Gegenstände dieses Leistungsaustausches können kauf-, miet-, dienstund werkvertraglicher Natur sein.47 46 47

Vgl. Quaas, Zuck, a.a.O., S. 177 f. Vertiefend: Wernick Vertragliche Regelungen – Krankenhauskooperationen – Was zu beachten ist und wie vorgegangen werden kann, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch Integrierte Versorgung 2005, Kap. 3.2., S. 2 ff.

139

Heinrich Hanika

11.2 Gesellschaftsrechtliche Gestaltung Verpflichten sich mehrere Kooperationspartner in einem Vertrag gegenseitig, die Erreichung eines gemeinsamen Zwecks in einer bestimmten Weise zu fördern, insbesondere dazu, die vereinbarten Beiträge zu leisten, so liegt gem. § 705 BGB eine gesellschaftsrechtliche Gestaltung vor. Die Abgrenzung zu Schuldrechtsbeziehungen kann im Einzelfall schwierig sein. Dies kann insbesondere bei der gemeinschaftlichen Nutzung von Geräten, Räumen etc. von erheblicher Bedeutung sein. Ist ein Kooperationsvertrag nach den darin enthaltenen Bestimmungen als gesellschaftsrechtliches Rechtsverhältnis auszulegen, so finden damit insbesondere auch die sonstigen gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen Anwendung. Die Partner wären damit etwa im Falle des § 735 BGB verpflichtet, Schulden der Gesellschaft in unbeschränkter Höhe auszugleichen. Kann von einem der Gesellschafter der auf ihn entfallende Betrag nicht erlangt werden, so haben die übrigen Gesellschafter dafür einzustehen. Durch eine gesellschaftsrechtliche Ausgestaltung wird somit im Ergebnis eine "Risikogemeinschaft" der Kooperationspartner gebildet, die auf die einzelnen Partner weit über die eigentliche Kooperation hinausgehende Auswirkungen haben kann. Im Endergebnis werden bei der gesellschaftsrechtlichen Gestaltung mit der Errichtung einer BGB-Gesellschaft, welche auch grundsätzlich formlos errichtet werden kann, erhebliche Haftungsrisiken begründet. Im Ergebnis tritt eine gesamtschuldnerische, unbegrenzte und persönliche Haftung der Kooperationspartner ein, die nur sehr schwer zu begrenzen ist.48

12 Ärztliche Berufsordnung Die Muster-Berufsordnung i. d. F. des 107. Deutschen Ärztetages (MBO-Ä) kennt als Organisationsgemeinschaften: x Berufsausübungsgemeinschaften x Organisationsgemeinschaften x Medizinische Kooperationsgemeinschaften und x Praxisverbünde. 48

Vgl. Wernick, a.a.O., S. 6 ff.; Derselbe ebenso zu Inhalten, Geschäftsgrundlagen, steuerlichen Aspekten, Qualitätsmanagement, Anpassung, Kündigung und Abwicklung von Kooperationen in der Integrierten Versorgung.

140

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Für die echte Integrationsversorgung sind die ersten drei genannten Organisationsgemeinschaften nicht geeignet, weil Krankenhäuser und/oder Reha-Kliniken nach ärztlichem Berufsrecht nicht an Gemeinschaftspraxen oder/und Ärztepartnerschaften beteiligt werden dürfen. In diesen Fällen bestehen lediglich Kooperationsmöglichkeiten. In Praxisverbünden allerdings können sich Ärzte auch mit Krankenhäusern, Vorsorge- und Reha-Kliniken und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe (nach Abschnitt D II Nr. 9 Abs. 2) zusammenschließen, wenn bestimmte Grundsätze (nach Abschnitt D II Nr. 9 Abs.1) gewahrt sind. Als Rechtsform eines derartigen Zusammenschlusses kommen grundsätzlich die Partnerschaftsgesellschaft und die Gesellschaft bürgerlichen Rechts in Betracht (Kapitel D II Nr. 9 Abs. 1 Satz 1 MBO („MBO-Ä“)). Im Rahmen einer Partnerschaftsgesellschaft können sich jedoch lediglich „Freie Berufe“ zusammenschließen. Krankenhäuser und/oder Reha-Kliniken sind keine „Freien Berufe“ im Sinne des Partnerschaftsgesellschaftsgesetzes, so dass die Rechtsform der Partnerschaftsgesellschaft für einen Praxisverbund nicht in Betracht kommt. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist mithin für einen Praxisverbund eine zulässige Gesellschaftsform. Ein Problem stellt allerdings der Grundsatz: „keine Zuweisung gegen Entgelt“ dar. Die vom 107. Deutschen Ärztetag in § 23 a der MBO-Ä eingeführten Ärztegesellschaften, wonach Ärzte auch in der Rechtsform der juristischen Person des Privatrechts ärztlich tätig sein können, sind in der Praxis kaum umsetzbar, da insbesondere folgende Anforderungen erfüllt sein müssten: Gesellschaft wird verantwortlich von einem Arzt geführt, Geschäftsführer müssen mehrheitlich Ärzte sein, die Mehrheit der Gesellschaftsanteile und der Stimmrechte muss Ärzten zustehen und Dritte sind nicht am Gewinn der Gesellschaft zu beteiligen. Es bleibt zu hoffen, dass die Landesärztekammern, die für die Umsetzung in Landesrecht zuständig sind, diese einschränkenden Empfehlungen der Bundesärztekammer nicht übernehmen. Dann nämlich wäre eine gleichberechtigte Beteiligung von Partnern aus der ambulanten und stationären Versorgung, auch in den Formen der juristischen Person des Privatrechts (GmbH, AG) möglich.

141

Heinrich Hanika

13 Organisationsmodelle 13.1 Kooperationsmodell

Abb. 8: Kooperationsmodell. Quelle: Eigene Darstellung Bei diesem Modell schließt eine Krankenkasse mit verschiedenen Leistungserbringern IV-Verträge ab. Die Leistungserbringer stehen den Krankenkassen als einzelne Vertragspartner eines mehrseitigen Vertrages gegenüber. Bei diesem Modell entsteht ein Bündel von Einzelverträgen (partiarische Rechtsverhältnisse). Die Leistungserbringer können ihr „Innenverhältnis“ entweder ausschließlich einem Kooperationsvertrag vorbehalten oder aber ihrerseits sich in eine Gesellschaft zusammenschließen. Die Teilnehmer selbst begründen keine Gesellschaft, sondern sie treten zwar als Gesamtheit gegenüber der Krankenkasse auf, es wird aber durch jeden einzelnen eine Vereinbarung mit der Krankenkasse geschlossen. Dies führt dazu, dass jeder Teilnehmer entsprechend seiner eigenen Rechtsform besteuert wird.

142

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

13.2 Gesellschaftsmodelle

Abb. 9: Gesellschaftsmodell; Quelle: Eigene Darstellung Der IV-Vertrag wird zwischen einer Krankenkasse und einer „reinen“ Leistungserbringergesellschaft abgeschlossen. Diese Leistungserbringergesellschaft erbringt die IV-Leistungen nach Maßgabe des IV-Vertrages. Die für eine solche „reine“ Leistungserbringergesellschaft zulässige Rechtsform ist abhängig von der Berufszugehörigkeit ihrer Gesellschafter.

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Heinrich Hanika

13.3 Einkaufsmodell I

Abb. 10: Einkaufsmodell I Quelle: Eigene Darstellung nach Rheinische Fachhochschule Köln

Schließt eine Krankenkasse einen IV-Vertrag mit einer „reinen“ Managementgesellschaft ab, so kann für diese Managementgesellschaft jede Rechtsform gewählt werden, da eine solche Managementgesellschaft keine IV-Leistung, sondern lediglich andere Dienstleistungen, insbesondere Managementaufgaben wahrnimmt. In einer solchen Managementgesellschaft können sich Kapitalgeber als Gesellschafter beteiligen. Diese Managementgesellschaft wiederum kauft IV-Leistungen bei Leistungserbringern ein und reicht diese Leistungen an die Krankenkasse durch.

144

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

13.4 Einkaufsmodell II

Abb. 11: Einkaufsmodell II Quelle: Eigene Darstellung nach Rheinische Fachhochschule Köln Bei diesem Modell schließt eine Krankenkasse einen IV-Vertrag mit einer „gemischten“ Management- und Leistungserbringergesellschaft ab. Eine solche Gesellschaft erbringt sowohl Managementleistungen wie auch GKV-Leistungen selbst. Zusätzlich kauft eine solche Gesellschaft GKV-Leistungen bei GKVLeistungserbringern ein. Diese Gesellschaft schließt mit Leistungserbringern einen Vertrag über den „Einkauf“ von GKV-Leistungen ab.

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Heinrich Hanika

14 Haftpflichtversicherungsschutz Die neuen Versorgungsformen werfen neue Versicherungsschutzfragen auf. Versichert ist die gesetzliche Haftpflicht des im Versicherungsschein beschriebenen Risikos (Arzt, Krankenhaus, Reha-Klinik, Pflegedienst, etc.) Mitversichert ist in der Regel die persönliche gesetzliche Haftpflicht der Beschäftigten für Schäden, die sie in Ausübung ihrer Dienstaufgaben für das versicherte Risiko (z.B. Krankenhaus) verursachen. Ohne besondere weitere Vereinbarung gewährt der Versicherer somit keinen Versicherungsschutz für die gesamte Versorgungskette bzw. die gesamte Leistungserbringergesellschaft. Bei Abschluss IV-Vertrages ist zwingend zu prüfen, ob die HaftpflichtVersicherung überhaupt die Leistung berücksichtigt, die Vertragsgegenstand ist. Übernimmt z. B. ein Krankenhaus im Namen IV-Vertrages eine orthopädische Leistung und die Orthopädie ist bislang nicht beim Versicherer angemeldet, wird es im Schadensfall zu Deckungsproblemen kommen. Des weiteren übernehmen z. B. die Krankenhäuser im Rahmen eines IVVertrages regelmäßig auf Vertragsbasis Garantieleistungen, die über die gesetzlichen Haftpflichtbestimmungen hinaus gehen. Diese Haftung im Zivilrecht gründet sich grundsätzlich aus einem Vertrag (vertragliche Haftung gem. §§ 276 ff. BGB). Für diese vertragliche Haftung besteht kein Versicherungsschutz innerhalb der Haftpflichtversicherung, da es sich um eine vertragliche Zusage des Krankenhauses handelt. Der Haftpflichtversicherer hingegen befasst sich ausschließlich mit gesetzlichen Haftpflichtansprüchen privatrechtlichen Inhaltes aufgrund gesetzlicher Haftpflichtbestimmungen (deliktische Haftung, insbesondere §§ 823 ff. BGB). Zu einer Deckungserweiterung sind die Versicherer ausnahmslos nicht bereit.49 Abgeleitet aus den oben beschrieben Integrierten Versorgungsmodellen (Gesellschaftsmodell, Kooperationsmodell, Einkaufsmodell 2, Einkaufsmodell 1) sind folgende Vertragsbeziehungen zwischen den Patienten und den Leistungserbringern denkbar.50

49 50

Vgl. Hingst, Neue Risiken anders absichern – Versicherungs- und Haftungsprobleme bei Integrierten Versorgungsformen, in: Ku-Sonderheft Integrierte Versorgung 2005, S. 30 ff. Siehe Hingst, a.a.O., S. 31 f.

146

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung a)

Die Leistungserbringer schließen jeweils eigene Verträge mit den Patienten. Diese Fallkonstellation ist in versicherungstechnischer Hinsicht unproblematisch. Versicherungsschutz für die gesetzliche Haftpflicht des Leistungserbringers besteht in diesem Fall im vereinbarten Umfang über die sicherlich vorhandene Haftpflichtversicherung des Leistungserbringers (Krankenhaus, Vertragsarzt, MVZ, Reha-Einrichtung, etc.). Vertraglich gegebene Zusagen (z.B. Garantieleistungen, s.o.) sind regelmäßig nicht Gegenstand der Haftpflichtversicherung.

b) Ein Leistungserbringer (z.B. Krankenhaus) ist alleiniger Vertragspartner des Patienten für die gesamte „Versorgungskette“. Tritt ein Leistungserbringer oder die Leistungserbringergesellschaft (z.B. GbR) gewollt oder ungewollt als alleiniger Vertragspartner des Patienten für die gesamte Versorgungskette auf, ist im Hinblick auf den Haftpflichtversicherungsschutz unmittelbarer Handlungsbedarf gegeben. In diesem Fall würde der Leistungserbringer oder die GbR (Vertragspartner des Patienten) für die gesamte Versorgungskette haften, Versicherungsschutz ist aber nur für das im Versicherungsschein beschriebene Risiko (z.B. Arztrisiko, Krankenhausbetrieb, Reha-Klinik) gegeben. Haftung und Deckung im Rahmen des vorhandenen Versicherungsschutzes klaffen damit gefährlich weit auseinander – es besteht unmittelbarer Handlungsbedarf für die beteiligten Leistungserbringer. Haben sich diese, wie im Beispiel, als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) aufgestellt, kommt eine gesamtschuldnerische Haftung zum Tragen, sofern der einzelne Gesellschafter nicht ausdrücklich ein Handeln für die Gesellschaft ausgeschlossen hat. Wird ein Gesellschafter (z.B. Krankenhaus) aufgrund dieser Konstellation vom Patienten für einen Schaden in Anspruch genommen, den aber tatsächlich ein anderer Gesellschafter /z.B. RehaKlinik) schuldhaft verursacht hat, wird der eigene Haftpflichtversicherer nicht leisten können, da der eingetretene Schaden nicht dem versicherten Betrieb zuzurechnen ist. Über den bei einer GbR im Innenverhältnis zwischen den Gesellschaftern möglichen Ausgleichsanspruch gemäß § 426 BGB kann sich der betroffene Gesellschafter schadlos halten, was aber im Einzelfall mühsam ist und eine bis dahin partnerschaftliche Zusammenarbeit der Leistungserbringer schwierig bis unmöglich machen kann. 147

Heinrich Hanika Die Leistungserbringer sollten daher von Beginn an eindeutig regeln, wie und in welcher Weise sie im Außenverhältnis, gegenüber den Patienten auftreten wollen. In diesem Sinne muss der Haftpflichtversicherungsschutz gestaltet und aufeinander abgestimmt werden. Sofern ein Rechtsträger ausgegründet wird (Gründung einer IntegrationsGmbH) und gegenüber den Patienten als Vertragspartner auftritt, muss die Haftpflichtversicherung individuell für diesen neuen Rechtsträger abgeschlossen und gestaltet werden. Die Haftpflichtversicherung der einzelnen Gesellschafter kann in diesem Fall i.d.R. nicht herangezogen werden. Die Leistungserbringer dürften über ganz unterschiedliche Versicherungssummen verfügen. Während die Krankenhäuser heute regelmäßig auf Versicherungssummen zwischen 5 und 15 Mio. Euro pro Personenschäden zurückgreifen können, haben die weiteren Leistungserbringer meist wesentlich geringere Summen vereinbart (1 bis max. 3 Mio. Euro). Je nach Sach- und Haftungslage kann es empfehlenswert sein, höhere Versicherungssummen zu vereinbaren. Zur Beurteilung des Versicherungsschutzes und der Haftungssituation benötigt der Versicherungsbetreuer mindestens folgende Unterlagen: x

Integrationsversorgungsvertrag mit der/den Krankenkassen,

x

Anlage zum Vertrag über evtl. zugesagte Garantieleistungen,

x

Vertragliche Regelungen zwischen den einzelnen Leistungserbringern,

x

Aufnahmevereinbarungen/-verträge mit den Patienten.

15 Haftung in der Integrierten Versorgung Der Gesetzgeber wollte mit der Integrierten Versorgung eine weitergehende Verzahnung des ambulanten und stationären Sektors erreichen. Der Patient soll durch die intensivere Zusammenarbeit verschiedener Leistungserbringer eine Versorgung „aus einem Guss“ erhalten. Kommt der Patient dabei jedoch wegen eines Fehlverhaltens zu Schaden, stellt sich die Frage, ob dementsprechend auch die

148

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Haftung „aus einem Guss“ besteht.51 Aus rechtlicher Sicht sind dabei folgende Fragenkomplexe zu unterscheiden: An wen kann sich der Patient wenden, wenn er während seiner Behandlung in der Integrierten Versorgung zu Schaden kommt? Muss er sich an den Schadensverursacher richten, oder kann er sich mit seinem vertraglichen Anspruch gegen alle Leistungserbringer wenden, die an dem konkreten Integrationsmodell beteiligt sind? Welche Rolle spielen dabei die Krankenkassen? Diese Fragen betreffen das Außenverhältnis zwischen dem Patienten und den Teilnehmern der Integrierten Versorgung. Das Innenverhältnis hingegen betrifft den Schadensausgleich unter den Leistungserbringern. Kann sich der Patient zur Befriedigung seiner Ansprüche einen Leistungserbringer aussuchen, so wird er sich den Zahlungskräftigsten, im Zweifel das Krankenhaus wählen. Fallen dabei die Person des Schadensverursachers und des Zahlenden auseinander, so stellt sich die Frage, wie sich der zahlende Leistungserbringer schadlos halten kann. Nimmt z.B. ein Krankenhaus neben anderen Leistungserbringern an einem bestimmten Modell der Integrierten Versorgung gemäß §§ 140 a ff SGB V teil, gewinnt die Frage an Bedeutung, wer im Falle eines Behandlungsfehlers gegenüber dem Patienten haftet. Im folgenden geht es dabei „nur“ um die vertraglichen Ansprüche, da die im Fall eines Behandlungsfehlers den Patienten zu zustehenden deliktischen Ansprüche (§§ 823 ff. BGB) ohnehin gegenüber dem fehlerhaft handelnden Arzt geltend gemacht werden können. In der Integrierten Versorgung wird die Zusammenarbeit des Niedergelassenen und des Krankenhauses deutlich nach außen getragen. Bereits aus Werbezwecken präsentieren sich die Leistungserbringer gegenüber dem Patienten als Anbietergemeinschaft. Dieser Eindruck wird auch durch die Krankenkasse mit entsprechenden Informationen an die Versicherten vermittelt. Der Patient soll ja gerade davon überzeugt werden, dass die neue Versorgungsform, bei der er in den ambulanten und stationären Behandlungsablauf besser integriert wird, für ihn vorteilhaft ist. In diesen Fällen ist die Interessenlage dann mit der einer Gemeinschaftspraxis zu vergleichen. Der Patient will in diesem Fall nur einen Behandlungsver51

Vertiefend Koller, Wer haftet in der Integrierten Versorgung?, in: Ku-Sonderheft Integrierte Versorgung 2005, S. 34 ff.

149

Heinrich Hanika trag mit der Anbietergemeinschaft schließen. Die Konsequenz ist das Entstehen einer gesamtschuldnerischen Haftung. Damit kann z.B. auch das Krankenhaus trotz einer beanstandungsfreien Versorgung seinerseits vom Patienten wegen Schmerzensgeld und Schadensersatz in Anspruch genommen werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Frage, ob die Krankenkasse der gesamtschuldnerischen Haftung unterliegen kann. Schließlich ist die Krankenkasse nicht Vertragspartner des Behandlungsvertrages zwischen den ärztlichen Leistungserbringern und den Patienten. Daher scheidet eine Einbeziehung in die kollektive, gesamtschuldnerische Haftung aus. Der Patient kann allerdings Haftungsansprüche aus dem zwischen ihm und der Kasse bestehenden Versichertenverhältnis ableiten. Denkbar sind vertragliche Ansprüche, wenn der Krankenkasse eine fehlerhafte Auswahl oder eine mangelnde Qualitätskontrolle der Leistungserbringer vorgeworfen werden kann. Kommt es im Außenverhältnis zur in Anspruchnahme eine Leistungserbringers, der nicht der Schadensverursacher war, so muss im Innenverhältnis der Schadensausgleich geregelt werden.52 Dies geschieht vertraglich und muss (Empfängerhorizont!) auch dann vereinbart werden, wenn keine Anbietergemeinschaft beabsichtigt ist. Nicht zuletzt beurteilt sich die Frage, ob eine Anbietergemeinschaft vorliegt, nicht nach dem Willen der Vertragspartner der Integrierten Versorgung, sondern einzig und allein nach dem objektiven Empfängerhorizont des oder der Patienten. In einem solchen Schadensausgleich sollte ausdrücklich festgestellt werden, x

dass die einzelnen Vertragspartner die vollständige Haftung jeweils zu ihren eigenen Leistungen übernehmen

x

dass die einzelnen Vertragspartner nicht für Leistungen des jeweiligen anderen Vertragspartners haften sowie

x

dass ein Vertragspartner der wegen Leistungen des anderen Vertragspartners haftbar gemacht wird, von diesem hiervon freigestellt wird bzw. Ersatz erhält.

Dieser Schadensausgleich im Innenverhältnis kann je nach Gestaltung bereits im Gesellschaftsvertrag oder im Dienstvertrag zwischen dem Krankenhaus und den niedergelassenen Leistungserbringern oder unmittelbar im Integrationsvertrag geregelt werden. 52

Vgl. Koller, a.a.O., S. 36.

150

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Zur Vermeidung von Fehlern an der ambulant – stationären Schnittstelle ist eine genaue Zuordnung der ärztlichen Zuständigkeiten unabdingbar. Z.B. kann dies durch die Erstellung von Behandlungspfaden, in denen die eigentlichen Behandlungsabläufe genau definiert werden geschehen. Je differenzierter das Leistungsverzeichnis beschrieben wird, um so eher kann eine Zuordnung der „Zuständigkeit“ des jeweiligen Leistungserbringers und damit der Schadensursächlichkeit erfolgen. Allerdings muss vor einer schablonenhaften Medizin gewarnt werden. Ein unreflektiertes Festhalten an Behandlungspfaden kann wiederum zu ärztlichen Fehlern führen. Die Leistungserbringer müssen daher Möglichkeiten haben im medizinisch begründeten Einzelfall von den Behandlungspfaden abzuweichen. Nicht zuletzt sollte im Vertrag die Verpflichtung geregelt werden, dass die einzelnen Leistungserbringer hinsichtlich der Leistungen der Integrierten Versorgung, eine ausreichende Haftpflichtversicherung abschließen um über eine entsprechende Haftpflichtdeckung zu verfügen.

16 Steuerliche Aspekte in der Integrierten Versorgung 16.1 Allgemeine Grundsätze Das GMG eröffnet Krankenkassen und verschiedenen Leistungserbringern, z.B. Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten die Möglichkeit, die ambulante und stationäre Versorgung im Rahmen von Verträgen zur Integrierten Versorgung miteinander auf verschiede Weise zu verzahnen. Das Spektrum vertraglicher Regelungen der Leistungserbringer untereinander reicht von der bloßen Kooperation ohne gesellschaftsrechtliche Bindung, der ausdrücklichen oder stillschweigenden Gründung einer Gesellschaft (gleich welcher Rechtsreform53) bis hin zur Gründung und Einschaltung von Managementgesellschaften, die eine Integrierte Ver-

53

Sämtliche Rechts- und Gesellschaftsformen stehen zur Verfügung, vgl. Dalichau-Schiwy, Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar zum SGB V, Loseblattsammlung, Band 2, 96. Ergänzungslieferung, Stand: 1. April 2004, § 140 b, S. 14 ff.; zu beachten sind allerdings weiterhin berufsrechtliche Vorgaben.

151

Heinrich Hanika sorgung über Leistungserbringer anbieten.54 Aus steuerlicher Sicht ergeben sich aus der von Gesetzes wegen vorgesehenen Verzahnung der Leistungsbereiche und der damit verbundenen Dienstleistungen Problemfelder, die im Bereich der Ertragsteuern und insbesondere im Bereich der Umsatzsteuer zu verorten sind. Die Beteiligung von gemeinnützigen Leistungserbringern, z.B. gemeinnütziger Krankenhäuser oder Vereine an der Integrierten Versorgung, wirft zusätzliche steuerliche Fragen auf, deren Beantwortung zwingend geboten ist, da Verstöße gegen Gebote des Gemeinnützigkeitsrechts für die Körperschaft regelmäßig gravierende Folgen haben können.55 Die Regelungen in den §§ 140a ff. SGB V zur Integrierten Versorgung sind gesetzlich vorgegeben und eröffnen neue Möglichkeiten von Kooperationsformen. Die steuerrechtliche Beurteilung der neuen Kooperationsformen und der damit einhergehenden Leistungsbeziehungen ist jedoch mangels spezieller Regelungen auf allgemeine Grundsätze angewiesen. Umso mehr ist es erforderlich, steuerlichen Gesichtspunkten bei dem Entwurf Integrierter Versorgungskonzepte besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn eine gesellschaftsrechtlich und/oder medizinisch sinnvolle Gestaltung kann durch negative steuerliche Auswirkungen schnell wirtschaftlich entwertet werden. Die steuerliche Prüfung sollte sehr sorgfältig und in jedem Fall vor dem Vertragsschluss erfolgen, um negativen steuerliche Folgen, z.B. bei der Managementgesellschaft und bei den einzelnen beteiligten Leistungserbringern vorzubeugen. Da sich die Prüfungstätigkeit der Finanzverwaltung zunehmend auf Ärzte und Krankenhäuser fokussiert56 und gerade im Bereich der Umsatzsteuer restriktive Tendenzen erkennbar sind57, ist mit stetigen Veränderungen der steuerlichen Prüfungsmaßstäbe zu rechnen. 54

Vgl. die Übersicht bei Kuhlmann, Vertragliche Regelung und Strukturen bei der Integrierten Versorgung, a.a.O., S. 417 ff. 55 Vgl. hierzu die Vorschrift des § 63 AO i.V.m. W 59 AO. Nach § 59 AO wird ein Verstoß der tatsächlichen Geschäftsführung gegen gemeinnützigkeitsrechtliche Vorschriften mit dem Verlust der Steuerbefreiung sanktioniert. Die Körperschaft verliert in dem entsprechenden Veranlagungsjahr (dies kann auch mehrere Geschäftsjahre umfassen, wenn der Verstoß bspw. erst im Rahmen einer späteren Betriebsprüfung aufgedeckt wird) die Steuerbefreiung und wird mit ihrem erzielten Gewinn im Sinne des § 8 Abs. 1 KStG körperschaftsteuerpflichtig. 56 Gerade im Bereich der gemeinnützigen Krankenhäuser und der Finanzierung von Krankenhäusern, die in der Rechtsform von Eigenbetrieben oder Gesellschaften mit beschränkter Haftung geführt werden, sind in den letzten Jahren durch Finanzverwaltung und Rechtsprechung zahlreiche Konkretisierungen und Verschärfungen bisher eher großzügig ausgelegter Vorschriften vorgenommen worden. 57 Vgl. für die Umsatzsteuer bei Krankenhausleistungen im Sinne des § 4 Nr. 16 UstG. Nach § 4 Nr. 16 sind eng mit dem Krankenhaus verbundene Umsätze von der Umsatzsteuer befreit. Was solche Umsätze sind, besagt beispielhaft Abschnitt 100 der Umsatzsteuerrichtlinie. Die Neufassung der

152

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

16.2 Drei Grundmodelle Grundsätzlich werden für den Abschluss von IV-Verträgen drei Grundmodelle unterschieden: -

Kooperationsmodell

-

Gesellschaftsmodell

-

Einkaufsmodell 1 und 2

Bei allen Modellen sind unterschiedliche Varianten für die Zusammenschlüsse der in den IV-Vertrag eingebundenen Leistungserbringer denkbar. Daher können allgemein gültige Aussagen zur steuerlichen Vorteilhaftigkeit der verschiedenen IV-Modelle nicht getroffen werden. Eine entscheidungsrelevante Beurteilung der Alternativen setzt voraus, dass konkrete Kenntnisse über die steuerlichen Verhältnisse der beteiligten Leistungserbringer sowie die IVVertragsgestaltung vorliegen.58 Krankenkassen sollten sich der wesentlichen steuerlichen Grundlagen vergewissern. Kooperationsmodell Ärzte, Gemeinschaftspraxen und Praxisgemeinschaften müssen einkommensteuerrechtliche, gewerbesteuerrechtliche und umsatzsteuerrechtliche Fragestellungen beantworten. Krankenhäuser und Reha-Kliniken müssen Fragestellung der Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, steuerbegünstigte Zweckbetriebe sowie Umsatzsteuer beachten. Gesellschaftsmodell Schließen sich die Leistungserbringer in einer Gesellschaft des Bürgerlichen Rechts (GbR) zusammen, so muss zunächst geklärt werden, ob die GbR eine reine Innengesellschaft ist oder ob sie im Außenverhältnis als Leistungserbringer im Rahmen eines Behandlungsvertrages mit dem Patienten auftritt. Bei der reinen Innengesellschaft, die ggf. nur die Koordinations- und Administrationsaufgaben

Umsatzsteuerrichtlinie 2005, die das Bundesfinanzministerium formuliert hat, liegt bereits im Entwurf vor, (Bundesratsdrucksache Nr. 696/04 vom 15.09.2004); Hesselmann, Umsatzsteuerpflicht für IV-Leistungen? in: Ku-Sonderheft Integrierte Versorgung 2005, S. 27 ff. 58 Siehe vertiefend: Kage, Integrierte Versorgung – steuerliche Problemfelder und Lösungen, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch Integrierte Versorgung 2005, Kap. 3.3.2. S. 1 ff.; Schiefer, Wehner, Hefner, Riedel, Steuerliche Auswirkungen von IV-Verträgen in: Riedel, Schmidt, Hefner (Hrsg.), Leitfaden zur Integrierten Versorgung aus der Praxis 22.03.2005, S. VII-1 ff.; Hesselmann, a.a.O., S. 27 ff.

153

Heinrich Hanika im Rahmen des IV-Vertrages übernimmt, treten die Gesellschafter in unmittelbare Rechtsbeziehungen zu dem Patienten. Tritt die GbR im Außenverhältnis als Leistungserbringer auf, so ergeben sich steuerliche Folgen. Je nach Fallkonstellation bei Einkünften aus Gewerbetrieb, steuerbegünstigter Zweckbetrieb, Gewerbesteuer, Umsatzsteuer. Einkaufsmodell Bei Beteiligung einer Managementgesellschaft sind Fragen der Gewerbesteuer und der Umsatzsteuer zu beachten.

16.3 Sonderproblem der Abfärbung Auf das Sonderproblem der Abfärbung durch Beteiligung einer gewerblichen GmbH ist hinzuweisen, da dies unter Umständen zu einer insgesamt gewerblichen Tätigkeit einer Gesellschaft führen kann, auch wenn sie andere Einkünfte erzielt. Die Frage der Abfärbung gewinnt insbesondere dann Relevanz, wenn die Parteien eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (Managementgesellschaft) zu gründen und sich an dieser eine GmbH (Krankenhausträger), die kraft Rechtsform (§ 8 Abs. 2 KStG.) gewerbliche Einkünfte erzielt, beteiligt. In einem solchen Fall könnten Einkünfte der GbR insgesamt als gewerblich im Sinne des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG zu qualifizieren sein. Die Qualifizierung als gewerblich gilt selbst dann, wenn die Körperschaft gemeinnützig im Sinne der §§ 51 ff. AO ist und damit gemäß § 5 Abs.1 Nr. 9 KStG und § 3 Nr. 20b GewStG von der Körperschaftsund Gewerbesteuer befreit ist.59 Aus den gemeinnützigkeitsrechtlichen Vorschriften der §§ 52, 55, 56 und 57 AO ergibt sich darüber hinaus die Verpflichtung, jede Tätigkeit des Krankenhauses streng danach zu untersuchen, ob diese noch zu den satzgemäßen – also steuerbefreiten – Tätigkeiten gehört oder aber schon beispielsweise eine wirtschaftliche und damit partiell steuerpflichtige Tätigkeit darstellt. Zur Meidung gemeinnützlichkeitsrechtlicher Risiken muss jeder Kooperationsvertrag auf gemeinnützigkeitsrechtliche Risiken beurteilt werden.

59

Vgl. Kage, a.a.O., S. 8 ff.; Von Boehmer, Steuerliche Aspekte der Integrierten Versorgung, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch Integrierte Versorgung 2005, Kap. 3.3.1., S. 1 ff.

154

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

16.4 Verbindliche Auskunft Für alle an der Integrierten Versorgung beteiligten Personen und Einrichtungen stellt sich die Frage nach Rechtssicherheit. Hierfür bedarf es der lediglich unter engen Voraussetzungen vom zuständigen Finanzamt zu erteilenden sogenannten „verbindlichen Auskunft“. Eine verbindliche Auskunft vermittelt unter bestimmten Voraussetzungen Rechtssicherheit im Zusammenhang mit den aufgeworfenen steuerlichen Fragen, in dem sie den abgefragten Zustand und die sich daraus ergebende Rechtsauffassung der Finanzverwaltung aus steuerlicher Sicht konserviert.60

17 Investitionskosten Laut GMG-Begründung61 bedingt der Abschluss eines Vertrages zur Integrierten Versorgung erhebliche Investitionskosten insbesondere für x

Konzeption und Ausarbeitung

x

Rechtsfragen der Gemeinschaften im Modell der IV

x

Organisation von Binnenstrukturen

x

Vergütungsanforderungen

x

Entwicklung des internen Vergütungssystems für alle an der Integrierten Versorgung Beteiligten

x

Vertragliche Leistungsbeschreibung

x

Arbeitsteilige Behandlungskonzepte, ggf. unter Beteiligung vertraglich angebundener externer Leistungsbringer

x

Betriebs-, Qualitäts- und Leistungsmanagement

x

Datensicherungs- und Datenschutzsystem

x

Sektorenübergreifenden Gestaltung der Versorgungsprozesse,

weswegen der Grundsatz der Beitragsstabilität durchbrochen würde. 60 61

Vgl. BMF-Schreiben v. 29.12.2003, BStBl. I S. 742. Vgl. BT-DRS. 15/1525, S. 130.

155

Heinrich Hanika

18 Regelungsbedarf Es existieren eine Vielzahl von rechtlichen, ökonomischen und strukturellen Fragestellungen. Insbesondere müssen in der Zukunft folgende Fragestellungen beantwortet werden: x

Welche Vorschriften sollen ab 2009 zur Finanzierung der Integrierten Versorgung gelten? Planungssicherheit?

x

Neue Funktion der Kassen(zahn-)ärztlichen Vereinigungen aufgrund gesetzlicher Ermächtigung in „Consult-Gesellschaften“ (§ 77 a SGB V).

x

Wie kann Qualitätssicherung in den Versorgungsnetzen sinnvoll praktiziert werden?

x

Wohin entwickelt sich der Sicherstellungsauftrag, wenn Einkaufsmodelle und Einzelverträge an Bedeutung gewinnen?

x

Welchen Stellenwert wird die Gesundheitskarte und elektronische Patientenakte als zentrales Kommunikationsmedium für die Versorgungsnetze haben?

x

Die Vergütung der Integrationsversorgungsleistungen kann zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern frei verhandelt werden. Allerdings spricht viel dafür, dass sich die Vertragspartner zunächst an die bestehenden Vergütungssysteme (z.B. EBM, DRG) anlehnen werden, auch wenn dies nicht erforderlich ist. Denkbar sind beispielsweise Einzelpreise bis Komplexpauschalen, Mengenrabatte, leistungsabhängige Vergütung (mengenund qualitätsabhängige Vergütung, Zielvereinbarungen), Beteiligung an Kostenersparnis sowie Bonus-/Malus-Regelungen.

Im Vorfeld konkreter Vertragsverhandlungen ist eine genaue Potential-, Prozessund Kostenanalyse sowie eine konkrete Preiskalkulation dringend anzuraten.

156

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

19 Resümee Die Integrierte Versorgung stellt sich somit als äußerst komplex und arbeitsaufwendig dar. Eine Fülle von Fragen, wie die nach den gesetzlichen und vertraglichen Regelungen, der Strategie, Planung und Umsetzung, des Kosten-, Erlös- und Finanzierungsmanagements, der Kommunikation, Kooperation und Koordination, des Qualitätsmanagements und der Qualitätssicherung, der klinischen Pfade, des Informationsmanagements und der Datenverarbeitung, des Case-Managements sowie des Disease-Managements müssen bearbeitet und gelöst werden.62 Rund 4 Millionen Versicherte sind derzeit in 3.500 Integrierte Versorgungsverträge eingebettet. Dies stellt durchaus einen starken Impuls für Wettbewerb- und Systemveränderung in der gesetzlichen Krankenversicherung dar. Bei den DMPVerträgen im niedergelassenen Sektor ist innerhalb eines Jahres die Zahl der Eingeschriebenen von zwei auf drei Millionen angewachsen. Die Instrumente der Integrierten Versorgung als Vertragsmodell werden fassettenreicher. Da sind die populationsbezogenen Integrationsmodelle, die den Versicherten im Visier haben, und die indikationsbezogenen Modelle, die den Patienten in den Focus nehmen. Die meisten Integrationsverträge beschäftigen sich mit der Durchgängigkeit der Sektoren, einige versuchten, die Versorgungskette zu verlängern. In Zukunft werde sich ein „breites Spektrum unterschiedlicher Versorgungsformen nebeneinander halten.“63 Eine Vielzahl innovativer Leistungserbringer haben die Zeichen der Zeit erkannt, loten die neugeschaffenen Möglichkeiten aus, positionieren sich strategisch. Allerdings dürfen die großen Hoffnungen, die mit der Integrierten Versorgung verbunden werden, nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese neue Versorgungsform das gesamte Recht der Leistungserbringung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zum Aufweichen und zur Erosion bringen können. Integrierte Versorgungsformen sind ernstzunehmende Zukunftsoptionen für das Deutsche Gesundheitswesen mit seinen Ausgestaltungen und Vernetzungen. Es bedarf zukünftig verstärkt den „Schweiß der Edlen“ um die vielfältigen medizinischen, ökonomischen und juristischen Herausforderungen zu bewältigen und 62 63

Siehe hierzu Hellmann, Handbuch Integrierte Versorgung, 2004. Knappe, Es ist unheimlich schwer, innovative Verträge zu schließen, KrankenhausUmschau 5/2007, S. 416.

157

Heinrich Hanika auch die Beteiligten in Kommunikation und Motivation für den IV-Vertrag zu gewinnen.64 Nicht zuletzt müssen auch die Patienten für die Integrierte Versorgung gewonnen werden. Was helfen die „schönsten“ Populationsmodelle, wenn die Einschreibequoten der Patienten bei wenigen Prozent liegen. Schließlich ist die Teilnahme der Versicherten an der Integrierten Versorgung freiwillig. Die Patienten und Versicherten haben ein Wahlrecht ob sie sich in der Integrierten Versorgung einschreiben oder nicht. Da die Patienten einen Informationsanspruch gegenüber der Krankenkassen haben, wäre eine echte Stärkung der Patientenautonomie möglich in dem die Krankenkassen Transparenz schaffen, in dem sie die Qualität ihrer Angebote sichtbar machen.

64

Siehe z.B. Quaas, Ungelöste Rechtsfragen der Vergütung in der Integrierten Versorgung, Das Krankenhaus 11/2005, S. 967 ff.

158

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung

20 Literaturverzeichnis Beule, Rechtsfragen der Integrierten Versorgung 2003 Beyrle, Techniker Krankenkasse, Qualität und Innovation durch Integrierte Versorgung, in: dfg-Dienst für Gesellschaftspolitik, Integrierte Versorgung: Konzepte und Wirklichkeit vom 03.06.2004 BMG – Bundesministerium für Gesundheit, www.bmg.bund.de/ Boehmer, von, Steuerliche Aspekte der Integrierten Versorgung, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch Integrierte Versorgung 2005, Kap. 3.3.1 Bohle, Gesetzliche Regelungen – Integrierte Versorgung – Aktuelle Rechtsfragen der Umsetzung, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch Integrierte Versorgung 2005, Kap.3 Bosenius/Juric/Wallhäuser, Rechtsgrundlagen lt. SGB V, in: Rheinische Fachhochschule Köln (RFH), Leitfaden zur Integrierten Versorgung aus der Praxis vom 22.03.2005 BQS - Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung, www.bqs-online.de Dalichau-Schiwy, Gesetzliche Krankenversicherung, Kommentar zum SGB V, Loseblattsammlung, Band 2, 96, Ergänzungslieferung, Stand: 1. April 2004 Dierks, Auf dem Weg zur Integrierten Versorgung – Wichtige Rechtsaspekte, in: Hellmann (Hrsg.), Management von Gesundheitsnetzen, 2001 Ernst & Young, Konzentriert. Marktorientiert. Saniert - Gesundheitsversorgung 2020, Studie 2007 Gardain, Wir kommen zu komplexeren Systemen, in: Ku-Sonderheft Integrierte Versorgung, 2005 Hellmann, Handbuch Integrierte Versorgung, Gesetzliche und vertragliche Regelungen, 2005 Hesselmann, Umsatzsteuerpflicht für IV-Leistungen? in: Ku-Sonderheft Integrierte Versorgung, 2005 Hildebrandt/Bischoff-Everding/Stüve, Der Fortschritt ist eine Schnecke – Integrierte Versorgung zwischen enttäuschten Erwartungen und Konsolidierung, in: Ku-Sonderheft Integrierte Versorgung, 2005

159

Heinrich Hanika Hingst, Neue Risiken anders absichern – Versicherungs- und Haftungsprobleme bei Integrierten Versorgungsformen, in: Ku-Sonderheft Integrierte Versorgung, 2005 Jakobs, Wettbewerbsperspektive der Integrierten Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung, Gesundheitsökonomische Beiträge 22, Baden-Baden 2004 Kage, Integrierte Versorgung – steuerliche Problemfelder und Lösungen, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch Integrierte Versorgung, 2005, Kap. 3.3.2. Kinggreen, Wettbewerbsrechtliche Aspekte des GKV-Modernisierungsgesetzes, in: MedR 2004 Knappe, Es ist unheimlich schwer, innovative Verträge zu schließen, in: KrankenhausUmschau 5/2007 König/Engelmann/Hentschel, Die Anwendung des Vergaberechts auf die Leistungserbringung im Gesundheitswesen, MedR 2003 Koller, Wer haftet in der Integrierten Versorgung?, in: Ku-Sonderheft Integrierte Versorgung, 2005 Kuhlmann, Vertragliche Regelungen und Strukturen bei der Integrierten Versorgung, in: Das Krankenhaus 2004 Kuhlmann, Neue Versorgungsmöglichkeiten für Krankenhäuser durch das GMG, in: Das Krankenhaus 2004 o. Verf., Kassen müssen Auftrag ausschreiben, FAZ v. 12.05.07, S. 13. Quaas/Zuck, Medizinrecht 2005 Quaas, Ungelöste Rechtsfragen der Vergütung in der Integrierten Versorgung, in: Das Krankenhaus 11/2005 Rebscher, Integrierte Versorgung, in: Der Onkologe 2003 Rebscher, Alte Rhetorik oder neues ordnungspolitisches Konzept? Mangelnde Integration mangelnde Wirtschaftlichkeit, in: brennpunktgesundheitswesen.de, 04/2004 Renzewitz, Wohin geht der Kurs in der Integrationsversorgung?, in: KuSonderheft Integrierte Versorgung, 2005 Rheinische Fachhochschule Köln, Integrierte Versorgung, Script zum Workshop, 2004.

160

Rechtliche Aspekte der Integrierten Versorgung Robbers, Ambulante Behandlung: „Eine gigantische Mogelpackung“, in: Das Krankenhaus 10/2004 Schiefer/Wehner/Hefner/Riedel, Steuerliche Auswirkungen von IV-Verträgen in: Riedel/Schmidt/Hefner (Hrsg.), Leitfaden zur Integrierten Versorgung aus der Praxis vom 22.03.2005 Sjuts, Integrierte Versorgung - Konzepte und Wirklichkeit.aus Sicht der Deutschen BKK, in: Integrierte Versorgung: Konzepte und Wirklichkeit, dfgDienst für Gesellschaftspolitik vom 03.06.2004 Ucing, Probleme der Verzahnung von ambulanter und stationärer Krankenbehandlung, in: NZS 2003 Vollmöller, Rechtsfragen bei der Umsetzung von Disease-ManagementProgrammen, in: NZS 2004 Wallhäuser, Verträge der Integrierten Versorgung 2005 Wambach/Lindenthal/Frommelt, Einführung, in: Hellmann (Hrsg.), Integrierte Versorgung – Zukunftssicherung für niedergelassene Ärzte – Praktische Tipps und Anregungen aus dem Praxisnetz Nürnberg – Nord, 2005 Weatherly/Seiler/Meyer-Lutterloh/Schmid/Lägel/Amelung; Leuchtturmprojekte Integrierter Versorgung und Medizinscher Versorgungszentren 2007, Bundesverband managed care e.V. Wernick, Vertragliche Regelungen – Krankenhauskooperationen – Was zu beachten ist und wie vorgegangen werden kann, in: Hellmann (Hrsg.), Handbuch Integrierte Versorgung, 2005, Kap. 3.2. Wernick/Bohle/Münnch/Grau, Vertragliche Regelungen, in: Hellmann, Handbuch Integrierte Versorgung, 2005, Kap. 3.2. Zuck, Ausschreibungspflicht der Zulassung zur Krankenhausbehandlung?, in: f&w, 2002

161

Doreen Bruhnke

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen

1

Einführung

2

Integrierte Versorgung als Instrument der strategischen Positionierung

3

Organisationsstruktur und Netzmanagement

4

Qualitätsmanagement und medizinische Qualitätssicherung

5

Thesenartige Zusammenfassung

6

Literatur

163

1

Einführung

Die Integrierte Versorgung ist zu einem wesentlichen Bestandteil gesundheitspolitischer Diskussionen geworden. Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Mit der Integrierten Versorgung haben Krankenkassen und Leistungserbringer die Möglichkeit, miteinander individuelle Direktverträge, in einem bislang auf Kollektivverträgen basierenden Gesundheitssystem, abzuschließen. Die Integrierte Versorgung lässt sich als eine umfassende patientenbezogene medizinische Versorgung definieren. Sie beinhaltet alle Bereiche der Gesundheitsversorgung, beginnend mit der Prävention und der Gesundheitsförderung über die hausärztliche, fachärztliche und stationäre Behandlung, hin zur Versorgung mit Rehabilitationsleistungen sowie mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln. Diesem Ideal wird die medizinische Versorgung im deutschen Gesundheitswesen insofern nicht gerecht, als dass die verschiedenen Versorgungsbereiche sehr stark segmentiert sind. Die Heterogenität der für die Patientenversorgung zuständigen Leistungserbringer resultiert aus den unterschiedlichen organisatorischen, kulturellen und finanziellen Ausprägungen der einzelnen Sektoren. Sie erschweren die umfassende Behandlung der Patienten. Die Sektorengrenzen führen zu Ineffektivität, einer unzureichenden patientenbezogenen Steuerung und einer fehlenden Gesamtverantwortung der Leistungserbringer für den sektorenübergreifenden und ergebnisorientierten Mitteleinsatz.1 Der Brockhaus definiert „Integration“ als Wiederherstellung eines Ganzen.2 Die Integrierte Versorgung kann demnach als Zusammenführung der verschiedenen, sektoral zergliederten Versorgungsbereiche verstanden werden. Um dem gerecht zu werden, hat die Bundesregierung erstmalig im Jahr 2000 die Voraussetzungen für die Integrierte Versorgung geschaffen. Der rechtliche Rahmen wird durch die Regelungen der Paragraphen 140 a-d SGB V vorgegeben.3 Verträge zur Integrierten Versorgung sollen eine bevölkerungsbezogene flächendeckende Versorgung ermöglichen.4 Im Rahmen der Integrierten Versorgung 1 2 3 4

Vgl. Meyer-Lutterloh, K., (2001), S. 301 Vgl. Brockhaus, Stand: 11.05.2007 Zu den rechtlichen Regelungen siehe ausführlich den Beitrag von Hanika, Heinrich in diesem Band. Vgl. § 140 a Abs. 1 Satz 2 SBG V

165

Doreen Bruhnke werden an die Vertragspartner der Krankenkassen neben den leistungsbezogenen auch strukturelle Anforderungen gestellt. Die Leistungserbringer müssen bei der Umsetzung integrierter Versorgungsverträge die „organisatorischen, betriebswirtschaftlichen sowie die medizinischen und medizinisch-technischen Voraussetzungen“, welche die vertraglich vereinbarte Versorgung erfordert, sicherstellen. Dabei haben sie sich am „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und des medizinischen Fortschritts“5 zu orientieren. Darüber hinaus sind sie verpflichtet, die Zusammenarbeit, der am Behandlungsprozess beteiligten Leistungserbringer, auch über Sektorengrenzen hinweg zu koordinieren und eine hinreichende Dokumentation der Behandlungsdaten sicherzustellen und diese den beteiligten Leistungserbringern im notwendigen Umfang zur Verfügung zu stellen. Dadurch soll die Kooperation der verschiedenen Leistungserbringer im Rahmen der Integrierten Versorgung über Fachdisziplinen und Versorgungsgrenzen hinweg verbessert werden.6 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das maßgebliche Prinzip der Integrierten Versorgung die Gewährleistung einer patientenbezogenen medizinischen Leistungserbringung ist, die von den an der Behandlung beteiligten Leistungserbringern sektoren- bzw. fachdisziplinenübergreifend koordiniert wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das deutsche Gesundheitswesen ein über lange Zeit gewachsenes, sektoral organisiertes System ist, in dem die Akteure vergleichbare Ziele anstreben, diese aber nicht gemeinsam verfolgen. Das kann zu Problemen und Widerständen bei der Ausgestaltung von Integrationsverträgen führen.7 Umso wichtiger ist der Blick in die Länder, die bereits auf fundierte Erfahrungen bei der Umsetzung integrierter Versorgungsstrukturen zurückblicken können, wie die USA und die Schweiz. Im internationalen Kontext sind integrierte Versorgungsstrukturen als „Managed Care Organisationen“ bekannt. Die Einführung von Managed Care Instrumenten in Deutschland ist einer Vielzahl von beeinflussenden Faktoren unterworfen, von denen sich einige als entscheidend für eine erfolgreiche Umsetzung herausstellen können. Dazu zählen unter anderem: x

Aufbau eines kostensteuernden Anreizsystems,

x

Erzielung signifikanter Einsparungen,

5 6 7

§ 140 b Abs. 3 Satz 3 SGB V Vgl. Bosenius, M., Juric, A., Wallhäuser, M., (2004), S. IV-11 Vgl. Preuß, K.-J., Räbiger, J., Sommer, J., (2002), S. 4

166

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen

x

Erhalt bzw. Verbesserung der Qualität durch die Implementierung von Qualitätsparametern8,

x

Einrichtung eines professionellen Managements9.

Ziel dieses Beitrags ist es, zwei dieser Erfolgsfaktoren: Optimierung der Versorgungsqualität und professionelles Netzmanagement zu beleuchten und ausgehend davon Anwendungsmöglichkeiten für ein IGV-Netz in Erlangen, welches dieser Arbeit als Praxisbeispiel dient, zu erarbeiten. Der Aufbau dieser Untersuchung gestaltet sich wie folgt: Zu Beginn werden die strategischen Überlegungen, die Krankenkassen und Leistungserbringer zum Abschluss von integrierten Versorgungsverträgen bewegen, erläutert. Die Ausführungen werden durch die Ergebnisse einer Befragung der Vertragspartner des integrierten Versorgungsnetzes Erlangen zur Durchführung ambulanter Operationen (Praxisbeispiel) ergänzt.10 Der dritte Abschnitt zeigt zunächst auf, wie sich ein theoretisches Organisationsmodell, dasjenige von Mintzberg, auf integrierte Versorgungsnetze anwenden lässt. Anschließend wird die Bedeutung eines professionellen Netzmanagements für integrierte Versorgungsnetze und dessen organisatorische Einordnung erläutert. Abschließend folgt eine Analyse des Beispielvertrags aus Erlangen in Bezug auf seine Organisationsstruktur und die Umsetzung eines netzinternen Managements. Der vierte Abschnitt befasst sich mit Qualitätssicherungsmaßnahmen und zeigt das Entwicklungspotential des Beispielvertrags auf. Im fünften Abschnitt werden die wichtigsten Ergebnisse des Beitrags zusammengefasst. Das IGV-Netz zur Durchführung ambulanter Operationen, welches diesem Beitrag als Praxisbeispiel dient, wurde von einer anästhesiologischen Gemeinschaftspraxis mit Praxisklinik, nachfolgend als Ambulantes Operationszentrum (AOZ) Erlangen11 bezeichnet, und drei orthopädischen Praxen sowie der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK) und fünf weiteren Krankenkassen zum 01.10.2004 begründet. Der indikationsbezogene Versorgungsauftrag umfasste zum damaligen Zeitpunkt orthopädische ambulant durchführbare bzw. stations8 9 10

Vgl. Lankers, C., (1997), S. 147 Vgl. Lankers, C., (1997), S. 141 Die am Vertragsabschluss beteiligten Vertragspartner wurden mittels eines eigens entwickelten Fragebogens für die Ärzte bzw. die Krankenkassen befragt. Von sechs angeschriebenen Kassen antworteten fünf. Bei den Ärzten beantworteten acht von neuen den Fragenbogen. 11 Das Ambulante Operationszentrum wurde im Jahr 1989 gegründet. Seitdem wurden über 100.000 Patienten in 15 verschiedenen Fachrichtungen operiert, vgl. AOZ Erlangen, (2007): http://www.polymed-klinik.de/fachbereiche.php, Stand: 11.05.2007

167

Doreen Bruhnke ersetzende Operationen, wie beispielsweise Meniskusresektion, offene und arthroskopische Eingriffe am und im Schultergelenk, inklusive der damit verbundenen Anästhesien sowie prä- und postoperativen Behandlungen einschließlich einer eventuell erforderlichen Nachbetreuung. Seitdem hat sich der Kreis der Vertragspartner um einen Leistungserbringer und eine Krankenkasse vergrößert. Darüber hinaus wurden in den Versorgungsauftrag gynäkologische Eingriffe aufgenommen. Für die Zukunft ist eine weitere Ausdehnung des Versorgungsauftrags auf die Behandlung von Varizen mittels Lasertherapie geplant.

2

Integrierte Versorgung als Instrument der strategischen Positionierung

2.1

Strategische Überlegungen der Krankenkassen

2.1.1 Qualitativ hochwertige Versorgungsleistungen Im Zeitalter der selektiven Vertragsabschlüsse ist der Beitragssatz nicht mehr das allein ausschlaggebende Kriterium im Wettbewerb der Krankenkassen. Die Qualität der medizinischen Versorgungsleistungen wird mehr und mehr über die Attraktivität einer Krankenkasse entscheiden.12 Krankenkassen haben mit dem Abschluss von Integrationsverträgen die Möglichkeit die Versorgungsqualität, durch verbesserte organisatorische Abstimmungen der Versorgungsabläufe und Informationsprozesse zwischen den Vertragspartnern, positiv zu beeinflussen.13 So hat beispielsweise die Siemens Betriebskrankenkasse präzise Qualitätsanforderungen an die beteiligten Leistungserbringer von Integrationsverträgen zur Durchführung ambulanter Operationen definiert. Diese umfassen unter anderem eine überdurchschnittliche Qualitätssicherung und Ausstattung sowie die Einbindung einer kurzzeitpflegerischen Versorgung. Darüber hinaus werden in den IGV-Verträgen Qualitätsstandards, wie eine gesonderte Terminvergabe für IGVPatienten und indikationsspezifische Voraussetzungen für die Teilnahme der Ärzte, z.B. Facharztstandard und der Nachweis jährlicher Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, verankert. 12 13

Vgl. Nolting, H.-D., (2004), S. 47 Vgl. Rebscher, H., (2004), S. 26

168

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen Für die Patienten tragen neben einem aus ihrer Sicht guten Behandlungsergebnis vorrangig Serviceleistungen, wie geringe Wartezeiten und die telefonische Erreichbarkeit des Operateurs, zu einer positiven Qualitätsbewertung der medizinischen Leistung bei.14 Den Krankenkassen ist zu empfehlen, ihre Versicherten über die gesetzliche Informationspflicht15 hinaus auf gute Behandlungsergebnisse, Serviceangebote und innovative Behandlungsmethoden aufmerksam zu machen.16 2.1.2 Schaffung neuer Versorgungsstrukturen Die Integrierte Versorgung steht vor der großen Herausforderung neue, effizientere und patientengerechtere Versorgungsstrukturen in einem historisch gewachsenen und sektoral zergliederten Gesundheitssystem, zu implementieren. Diesbezüglich sehen sich die Vertragsparteien einem großen Potential an inhaltlichen und versorgungstypischen Umsetzungsmöglichkeiten gegenüber.17 Die Hildebrandt GesundheitsConsult GmbH hat eine Kategorisierung der bisher geschlossenen IGV-Verträge vorgenommen und kommt zu dem Ergebnis, dass in der Integrierten Versorgung zwischen vier Vertragstypen unterschieden werden kann. Typ 1: Umgewandelte Strukturverträge Strukturverträge können seit 1997 zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Landesverbänden der Krankenkassen abgeschlossen werden.18 Sie bieten den Vertragsparteien die Möglichkeit spezifische Versorgungs- und Vergütungsstrukturen, ergänzend zu den obligatorisch abzuschließenden Gesamtverträgen nach § 83 SGB V, zu vereinbaren.19 Obwohl Integrationsverträge und Strukturverträge nebeneinander existieren können, wurden Strukturverträge oft in integrierte Versorgungsverträge umgewandelt, um deren spezifische Vorteile, wie die Möglichkeit zum Budgetabzug, auszuschöpfen. Die Hildebrandt GesundheitsConsult GmbH hat als Prototyp einer derartigen Umwandlung integrierte Versorgungsverträge identifiziert, die mit ei14 15 16 17 18 19

Vgl. Marburger Bund, Symposium Integration, Stand: 08.05.2005 Vgl. § 140 a Abs. 3 SGB V Vgl. Windthorst, K., (2002), S. 31 Vgl. Hildebrandt, H., Bischoff-Everding, C., u. a., (2004), S. 4 Vgl. § 73 a SGB V Vgl. Windthorst, K., (2002), S. 31

169

Doreen Bruhnke ner Praxis oder Tagesklinik zur Förderung des ambulanten Operierens geschlossen wurden. Diese Verträge dienen den Krankenkassen in erster Linie als Instrument zur Erprobung von Vertragsabschlüssen auf einzelvertraglicher Ebene.20 Typ 2: Komplexpauschalen (zum Teil mit Gewährleistung) Integrationsverträge mit Komplexpauschalen weisen in der Regel einen indikationsbezogen Versorgungsauftrag auf und erstrecken sich über mindestens zwei Sektoren bzw. Fachdisziplinen. Die Krankenkassen vergüten über die Komplexpauschale alle im Versorgungsauftrag vereinbarten Leistungen, insbesondere die Kosten der Akutbehandlung im ambulanten und stationären Bereich und die der Rehabilitation. Darüber hinaus werden qualitätsrelevante Gewährleistungen in Bezug auf die Primärleistung, z.B. eine Gewährleistung von bis zu zehn Jahren bei Endoprothesen vereinbart. Auch diese Verträge können als Vorstufe einer umfassenden Integrationsversorgung angesehen werden.21 Typ 3: Case Management Verträge Gewährleisten integrierte Versorgungsverträge die Behandlung bestimmter Bevölkerungs- bzw. Patientengruppen, können sie als Case Management Verträge bezeichnet werden. Hierzu zählen beispielsweise integrierte Versorgungsmodelle, welche die hausärztliche Akutbetreuung älterer Menschen oder eine verbesserte Prostataversorgung in einer Region sicherstellen. Im Gegensatz zu den Integrationsverträgen der Typen 1 und 2 knüpfen Case Management Verträge nicht an das Vorhandensein bestimmter Diagnosen an, sondern sichern die umfassende krankheitsbezogene Versorgung der Patienten im Sinne eines Fallmanagements.22 Der Case Manager koordiniert als Ansprechpartner des Patienten dessen komplette Versorgung. Typ 4: Verträge mit Budgetverantwortung Verträge, die die Übernahme der Budgetverantwortung durch die Leistungserbringer regeln, stellen den Idealtyp einer Integrierten Versorgung dar. Sie gewährleisten eine umfassende Versorgung der Versicherten einer Region mit allen Gesundheitsleistungen, unabhängig davon welche Krankheitsbilder bzw. welche 20 21 22

Vgl. Hildebrandt, H., Bischoff-Everding, C., u. a., (2004), S. 5 Vgl. Hildebrandt, H., Bischoff-Everding, C., u. a., (2004), S. 6 Vgl. Hildebrandt, H., Bischoff-Everding, C., u. a., (2004), S. 8

170

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen Indikationen vorliegen. Die Krankenkassen stellen den beteiligten Leistungserbringern ein vereinbartes Budget zur Verfügung, mit dem diese in Eigenregie alle anfallenden Kosten für die ärztliche und pflegerische Betreuung sowie die Versorgung mit Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln bestreiten. Die Budgetverantwortung kann sich in einem risikobegrenzten Maße auch auf die stationäre Versorgung erstrecken. Die von den Leistungserbringern erwirkten Einsparungen, stehen ihnen als Bonus zur Verfügung.23 Die Ergebnisse der Befragung der beteiligten Krankenkassen des Beispielvertrages bezüglich der Umsetzung der vier Vertragstypen zeigen, dass alle fünf Krankenkassen zum Zeitpunkt der Befragung IGV-Verträge der Vertragstypen 1-3 geschlossen hatten. Allein eine Krankenkasse hatte einen IGV-Vertrag mit Übernahme der Budgetverantwortung durch die Leistungserbringer vereinbart. Eine weitere Kasse plante zum damaligen Zeitpunkt den Abschluss umfassender Integrationsverträge. Drei von fünf Krankenkassen gaben an, dass derartige Verträge, die das Potential der IGV voll ausschöpfen, bisher nicht abgeschlossen wurden bzw. deren Abschluss nicht geplant war (vgl. Abb. 1). Das lässt vermuten, dass sich die Krankenkassen noch in einer Phase des Ausprobierens und der Erfahrungssuche in Bezug auf die Umsetzung der neuen Versorgungsformen befinden.

Anzahl der Krankenkassen

5 4

geplant

3

nein

2

ja

1 0 Vertragstyp 1

Vertragstyp 2

Vertragstyp 3

Vertragstyp 4

Abb. 1: Vertragsabschlüsse der Krankenkassen Quelle: Eigene Darstellung

23

Vgl. Hildebrandt, H., Bischoff-Everding, C., u. a., (2004), S. 9

171

Doreen Bruhnke

2.1.3 Finanzielle Motive Die Regelung zur Anschubfinanzierung verhilft den Krankenkassen zu zusätzlichen finanziellen Mittel für den Abschluss von Integrationsverträgen. In den Jahren 2004 bis 2008 können sie die Vergütung ihrer Integrationsverträge durch einen Budgetabzug in Höhe von einem Prozent der Gesamtvergütung im ambulanten Bereich und einer einprozentigen Kürzung von Krankenhausrechnungen finanzieren.24 Das birgt jedoch die Gefahr, dass Krankenkassen in erster Linie volumenintensive Verträge abschließen, um die Anschubfinanzierung auszuschöpfen und weniger um die Patientenversorgung zu optimieren. Derartige Verträge werden den grundlegenden Zielen der Integrierten Versorgung nicht gerecht und zeichnen sich durch wenig Innovationskraft aus (vgl. Gliederungspunkt 2.1.2 Vertragstypen 1 und 2). Drei der fünf befragten Krankenkassen streben langfristige Einspareffekte im Rahmen der Integrationsverträge an. Demzufolge sollten sie beim Vertragsabschluss darauf achten, dass die Verträge auch nach Ablauf der Anschubfinanzierung finanziell attraktiv bleiben. Eine weitere Möglichkeit zur Realisierung von Einsparungen bietet die einzelvertragliche Preisgestaltung. Die finanziellen Vorteile, die sich durch die Möglichkeit zur individuellen Preisbildung für IGV-Leistungen erzielen lassen, machen sich für die Krankenkassen sofort bemerkbar. So können z.B. Integrationsverträge zur Durchführung ambulanter stationsersetzender Operationen eine geringere Vergütung vereinbaren als die, die im Rahmen einer stationären Behandlung aufzubringen wäre. Kurz- bis mittelfristige Einsparungen lassen sich jedoch nur dann realisieren, wenn sich die Versicherten für die Teilnahme an der Integrierten Versorgung entscheiden und entsprechende Angebote in Anspruch nehmen. Darüber hinaus muss sich die Inanspruchnahme von IGV-Leistungen durch die Versicherten auf die Nutzung der bisherigen Versorgungsangebote auswirken.25 So lassen sich speziell im Bereich der ambulanten Operationen finanzielle Vorteile erst dann realisieren, wenn eine nachhaltige Umsteuerung von Operationsleistungen aus dem kostenintensiveren stationären Bereich in den ambulanten Bereich erfolgt ist. Die Vertragsparteien des Beispielvertrages konnten bereits nach einer Ver-

24

25

Vgl. § 140 d Abs. 1 Satz 1 SGB V Vgl. Renzewitz, S., (2000), S. 8

172

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen tragslaufzeit von 10 Monaten eine Leitungsverlagerung von 17 Prozent aus dem stationären in den ambulanten Sektor feststellen. 2.1.4 Wettbewerbsvorteil Krankenkassen können die Integrierte Versorgung darüber hinaus als Instrument zur Positionierung am Markt einsetzen. Ein Großteil des Leistungskatalogs der Gesetzlichen Krankenversicherungen ist im SGB V festgelegt. Insofern ist der Spielraum, der einer gesetzlichen Krankenkasse zur Abgrenzung von anderen zur Verfügung steht, klein aber umso bedeutender für die Versicherten. Dabei kommt es den Kunden nicht darauf an, alle Versorgungsangebote in Anspruch zu nehmen. Entscheidend ist die Option, auf ein breites und vielfältiges Angebot an Versorgungsleistungen zurückgreifen zu können. Neben dem Ergebnis der medizinischen Leistungen spielen für die Versicherten insbesondere kostenlose Service- und Zusatzangebote z.B. Telefon und Fernseher auf dem Zimmer sowie die Bereitstellung eines Zweibettzimmers eine entscheidende Rolle. 26 Umso wichtiger wird es für die Krankenkassen, sich durch spezielle Versorgungsangebote ein Alleinstellungsmerkmal zu verschaffen, z.B. indem sie Angebote für alle Kundengruppen bereithalten. Darüber hinaus sollten sie den hohen Qualitätsstandard der einzelvertraglich vereinbarten Leistungen werbewirksam den Kunden gegenüber kommunizieren. Alle befragten Krankenkassen sehen in der Integrierten Versorgung ein großes bis sehr großes Potential zur Positionierung am Markt. Zur Bündelung der Marktmacht gehen die Krankenkassen auch Kooperationen ein. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Integrierte Versorgung einen entscheidenden Wettbewerbsfaktor für Krankenkassen darstellen kann.

2.2

Strategische Überlegungen der Leistungserbringer

2.2.1 Mitgestaltung neuer Versorgungsstrukturen Die Befragung der niedergelassenen Ärzte, als Partner des Integrationsvertrags zur Durchführung ambulanter Operationen, hat gezeigt, dass alle Befragten der Integrierten Versorgung als Instrument zur Gestaltung der Versorgungsstrukturen eine große bzw. sehr große Bedeutung beimessen. Für die Leistungserbringer bringt die Gestaltung der Versorgungskonzepte zahlreiche konzeptionelle Frei26

Vgl. Marburger Bund, Symposium Integration, Stand: 08.05.2005

173

Doreen Bruhnke heiten mit sich. Sie können beispielsweise eine Verbesserung des gesamten Versorgungsprozesses durch die Einbindung aller beteiligten Leistungserbringer herbeiführen oder den Einsatz innovativer Diagnose- und Behandlungsmethoden forcieren. Unter dem Begriff innovative Therapieverfahren können im Bereich der Orthopädie beispielsweise stationsersetzende operative Eingriffe, endoskopische Operationsmethoden und Knorpeltransplantationen subsumiert werden. Sieben von acht befragten Ärzten sehen einen großen bzw. sehr großen Zusammenhang zwischen dem Einsatz innovativer Verfahren und der Höhe der Vergütung. Das zeigt, dass die Leistungserbringer nur dann innovative Methoden anwenden, wenn die Vergütung im Rahmen der IGV die kollektivvertragliche übersteigt. Zur Erzielung von Synergieeffekten im Rahmen einer netzbezogenen Zusammenarbeit müssen die Leistungserbringer miteinander kommunizieren, Erfahrungen austauschen und ihre Kollegen an ihrem Wissen teilhaben lassen.27 Für die befragten Ärzte stellen sich die Vorteile einer intensiven Zusammenarbeit mit den Kollegen wie folgt dar: x

Die Patienten profitieren von den kurzen Wegen, die durch eine zeitnahe Versorgung ermöglicht werden und zudem die Durchführung unnötiger Behandlungen verhindern.

x

Die Ärzte profitieren von der gemeinsamen Nutzung personeller, räumlicher und medizintechnischer Ressourcen und sie haben die Möglichkeit, sich weitergehend zu spezialisieren.

Sieben der acht befragten Ärzte maßen der Möglichkeit, dass sie sich im Rahmen der Kooperation gemeinsam auf die für den Patienten geeignete Behandlungsform verständigen können, eine große bzw. sehr große Bedeutung bei. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Leistungserbringer als Anbieter von integrierten Gesundheitsleistungen die Versorgungsstrukturen entscheidend mitgestalten können. Dies ist möglich durch eine patientengerechtere Ausgestaltung der Versorgungsprozesse, eine schnellere Etablierung fortschrittlicher diagnostischer und therapeutischer Methoden und durch Leistungsverlagerungen.

27

Vgl. Westebbe, P., (1999), S. 83 f.

174

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen

2.2.2 Finanzielle Motive Die Verankerung der Anschubfinanzierung im SGB V setzt niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser unter einen ökonomischen Zugzwang zum Abschluss von Integrationsverträgen. Krankenhäuser sehen sich sinkenden Budgets und sich ändernden gesetzlichen Vorgaben gegenüber. Um sich im Wettbewerb behaupten zu können, müssen sie ihr Leistungsprogramm zukunftsorientiert und wirtschaftlich ausrichten. Zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz ist es erforderlich, dass sie sich zusätzliche Einnahmequellen neben der budgetierten Krankenhausvergütung erschließen. Die Integrierte Versorgung stellt eine solche Einnahmequelle dar. Krankenhäuser können darüber hinaus durch die Einbindung integrierter Versorgungsleistungen in ihren Leistungskatalog kostenintensive Infrastrukturen wie Operationssäle und medizinische Geräte effizienter nutzen. Dadurch kann das Krankenhaus weitere Deckungsbeiträge im Fixkostenbereich erwirtschaften.28 Auch die ärztliche Gesamtvergütung ist festgelegt. Bei Budgetüberschreitungen müssen niedergelassene Ärzte damit rechnen, dass erbrachte Leistungen nicht vergütet werden. Die Ärzte befinden sich in einem Zielkonflikt zwischen dem eigenen Anspruch an eine qualitativ hochwertige, individuelle Betreuung der Patienten und ihren Vorstellungen über ein angemessenes Einkommen.29 Verträge zur Integrierten Versorgung können diesen „Zielkonflikt“ entspannen, indem sie dem Punktwertverfall entgegenwirken und so die Einkommen der niedergelassenen Ärzte stabilisieren.30 Darüber hinaus können sich die Ärzte durch die einzelvertraglichen Vergütungsverhandlungen eine zusätzliche Einnahmequelle zur Gesamtvergütung erschließen und gleichzeitig die Vergütungsmodalitäten und somit auch das Zahlungsziel autonom mit den Krankenkassen vereinbaren. Dies kann den Ärzten, im Vergleich zu den innerhalb des kollektivvertraglichen Rahmens erbrachten Leistungen, einen Liquiditätsvorteil von 3-6 Monaten verschaffen. Die befragten Ärzte beurteilen die finanziellen Vorteilen der IGV wie folgt: Der Möglichkeit zur individuellen Vergütungsvereinbarung wurde die größte Bedeutung beigemessen. IGV als zusätzliche Einnahmequelle war für den Großteil der Ärzte von mittlerer Bedeutung. Dem Liquiditätsvorteil wurde von drei Ärzten 28 29 30

Vgl. Schnettger, K., Henze, H., (2004), S. X-2 f. Vgl. Westebbe, P., (1999), S. 76 Vgl. Hartwig, R., (2000), S. 27

175

Doreen Bruhnke eine große bzw. sehr große Bedeutung beigemessen. Für die restlichen fünf war der Liquiditätsvorteil von mittlerer Bedeutung. Die Kompensation des Budgetabzugs war für vier Ärzte von geringer, für drei von mittlerer und lediglich für einen Arzt von sehr große Bedeutung.

8

Anzahl der Ärzte

7 6 5 4 3 2 1 0

Liquiditätsvorteil

Kompensation Budgetabzug

sehr große Bedeutung geringe Bedeutung

Zusätzlich Einnahmequelle

große Bedeutung keine Bedeutung

Individuelle Vergütungsvereinbarung

mittlere Bedeutung

Abb. 2: Finanzielle Vorteile aus Sicht der Ärzte Quelle: Eigene Darstellung 2.2.3 Selbstbestimmung Die Integrierte Versorgung verhilft den niedergelassenen Ärzte zu mehr Selbstbestimmung. Das zeigt sich schon in der Tatsache, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen, die im Rahmen der kollektivvertraglichen Versorgungsverträge stellvertretend für die Ärzteschaft die Modalitäten der medizinischen Versorgung und der Vergütung aushandeln, nicht als Vertragspartner integrierter Versorgungsverträge zugelassen sind. Der einzelne Arzt verhandelt mit den Krankenkassen autonom Leistungsinhalte, Vergütungsregeln und Vergütungshöhe. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber die Regelungen zum Zulassungs- und Ermächtigungsstatus der Leistungserbringer für die Integrierte Versorgung gelockert. Demnach können die Vertragspartner losgelöst von der ärztlichen Bedarfsplanung bestimmen, welche Leistungen von wem und wo erbracht werden.

176

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen

keine Bedeutung

8

Anzahl der Ärzte

7

geringe Bedeutung

6

mittlere Bedeutung

5 4

große Bedeutung

3 2

sehr große Bedeutung

1 0 Mehr Verrringerung des Verringerung des Selbstbestimmung ökonomischen Drucks administrativen Aufw ands

Abb.3: Selbstbestimmung Quelle: Eigene Darstellung Die Netzverwaltung kann die Netzteilnehmer zudem durch die Wahrnehmung kaufmännischer und administrativer Tätigkeiten, wie durch das Schreiben von Rechnungen, entlasten. Eine derartige Entlastung der Ärzte kommt nicht zuletzt den Patienten zugute. Den Ärzten steht mehr Zeit für ihre eigentliche Aufgabe, die Behandlung der Patienten, zur Verfügung.31 Diese Auffassung wurde auch von den befragten Ärzten geteilt (vgl. Abb. 3). Den Vorstellungen eines Arztes entsprechend, sollten die Leistungserbringer eines IGV-Netzes die Behandlung der Patienten unter rein medizinischen Gesichtspunkten vornehmen können, losgelöst von bürokratischen und verwaltungstechnischen „Gängeleien“. Ein anderer Arzt des IGV-Netzes formulierte es im Rahmen der Befragung so: „Die integrierte Versorgung bietet den Leistungserbringern die Möglichkeit ihre Arbeitskraft auf die Kernkompetenzen zu konzentrieren.“ 2.2.4 Wettbewerbsvorteile Zur Sicherung ihrer Existenz in einem zunehmend wettbewerbsorientieren Gesundheitswesen entwickeln immer mehr Leistungserbringer Strategien, wie sie entweder eine höhere Marktdurchdringung erreichen beziehungsweise neue Marktanteile gewinnen oder zumindest den Verlust von Marktanteilen kompensieren können. Die „Integrierte Versorgung bietet die umfassendste Möglichkeit 31

Vgl. Westebbe, P., (1999), S. 83

177

Doreen Bruhnke außerhalb des Kollektivvertragssystems Versorgungsangebote auf Einzelvertragsebene zu konzipieren bei ansonsten gesättigtem bzw. sich noch verdichtendem Markt.“32 Insbesondere in Ballungsgebieten führt die Nichtteilnahme an Integrationsverträgen zu Verlusten von Marktanteilen zugunsten anderer Leistungsanbieter.33 Das gilt für Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte gleichermaßen.

8 Anzahl der Ärzte

7 6 5 4 3 2 1 0

Höhere Bessere Hohe Marktdurch- Positionierung Kundenbindung am Markt dringung

Imageaufbau durch Qualität

sehr große Bedeutung

große Bedeutung

geringe Bedeutung

keine Bedeutung

mittlere Bedeutung

Abb. 4: Wettbewerbsvorteile aus Sicht der Ärzte Quelle: Eigene Darstellung Die Anbieter von Gesundheitsleistungen können nicht zuletzt von dem positiven Image eines erfolgreichen Versorgungsnetzes profitieren. Die Integrierte Versorgung bietet den Leistungserbringern die Möglichkeit, eine Marke aufzubauen, die Patienten anzieht und an das Netz bindet sowie den Leistungserbringern darüber hinaus zu einer guten Positionierung am Markt verhilft. Diese Auffassung vertreten auch die befragten Ärzte (vgl. Abb. 4).

32 33

Katholischer Krankenhausverband Deutschlands, Integrierte Versorgung, Bedeutung und Chancen für katholische Krankenhäuser; Stand: 11.05.2007 Vgl. Hartwig, R., (2000), S. 27

178

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen

2.3

Gegenüberstellung der Überlegungen der Vertragsparteien des Beispielvertrags

Die Befragung der Vertragspartner des Integrationsvertrages zur Durchführung ambulanter Operationen hat gezeigt, dass Motive und Strategien, die Krankenkassen und Leistungserbringer zum Abschluss von integrierten Versorgungsverträgen bewegen, sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten aufweisen (vgl. Abb. 5). Sehr große Übereinstimmungen zwischen den Krankenkassen und den Ärzten gibt es vor allem hinsichtlich der Qualitätsanforderungen an integrierte Versorgungsleistungen.

Ärzte Krankenkassen Intensivere Zusammenarbeit zwischen Kollegen

Mitgestaltung neuer Versorgungsstrukturen

Hohe Versorgungsqualität Schaffung neuer Versorgungsstrukturen Innovative Behandlungsmethoden

Finanzielle Vorteile Wettbewerbsvorteile Finanzielle Vorteile Selbstbestimmung

Abb. 5: Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Motive der Vertragsparteien Quelle: Eigene Darstellung Darüber hinaus sehen sowohl Krankenkassen als auch Ärzte im Abschluss von Integrationsverträgen eine Möglichkeit, Einfluss auf die Versorgungsstrukturen zu nehmen. Die Krankenkassen sind eher in der Rolle der „Gestalter“ neuer Versorgungsstrukturen zu sehen, da sie durch die Wahl der Vertragstypen (Typ 1: umgewandelte Strukturverträge, Typ 2: Verträge mit Komplexpauschalen, Typ 3: Case Management Verträge, Typ 4: Verträge mit Budgetverantwortung) neue Versorgungsansätze schaffen können. Anbieter von Gesundheitsleistungen

179

Doreen Bruhnke können als „Mitgestalter“ neuer Versorgungsstrukturen bezeichnet werden. Sie bringen sich durch den Abschluss von Integrationsverträgen in das Versorgungsgeschehen ein und können dieses im Rahmen ihres Leistungsspektrums aktiv mitgestalten. Eine weitere Gemeinsamkeit kann dahingehend festgestellt werden, dass beide Parteien den Abschluss von Integrationsverträgen als Wettbewerbsvorteil ansehen. Übereinstimmung gibt es auch darüber, dass sowohl Krankenkassen als auch Ärzte einen finanziellen Nutzen aus dem Abschluss von Integrationsverträgen ziehen wollen. Dabei muss jedoch gesagt werden, dass die Forderungen der beiden Parteien, speziell was die Preisverhandlungen betrifft, im Gegensatz zueinander stehen. Deshalb ist es für einen erfolgreichen Vertragsabschluss wichtig, dass gerade im finanziellen Bereich eine Annäherung stattfindet. Ausgehend von der gemeinsamen Vision, der Optimierung der Versorgungsqualität, mussten die Vertragsparteien des Integrationsvertrags in Erlangen zur Durchführung ambulanter Operationen in den strittigen Punkten eine Übereinkunft finden. Strategien zur Integrierten Versorgung lassen sich nur dann erfolgreich umsetzen, wenn alle Vertragsparteien profitieren. Das bedeutet, es musste eine „Win-Win-Situation“ geschaffen werden. Ein Vertragsabschluss setzt immer eine Annäherung der Vertragsparteien voraus.

3 Organisationsstruktur und Netzmanagement 3.1 Organisationsstruktur-Modell nach Mintzberg und Anwendungsmöglichkeiten für integrierte Versorgungsnetze Henry Mintzberg hat Ende der 70er Jahre ein Schema zur Beschreibung der Aufbauorganisation von Unternehmen entwickelt. Seine Erkenntnisse hat er in dem Buch „The Structure of Organizations – A Synthesis Research“, das 1979 veröffentlicht wurde, zusammengefasst.34 Mintzberg gründet sein Modell auf der Annahme, dass sich alle real vorkommenden Organisationen in ein Schema von sechs Organisationstypen einordnen lassen. Sein Modell basiert auf dem Grundgedanken, dass sich alle Organisationen aus sechs wesentlichen Komponenten,

34

Vgl. Mintzberg, H., (1992), S. 11

180

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen den Teilbereichen, zusammensetzen.35 Die sechs Teilbereiche stellen in ihrer Gesamtheit die grundsätzliche strukturelle Organisationsgestaltung (Konfiguration) nach Mintzberg (vgl. Abb.6) dar.

Abb. 6: Konfiguration nach Mintzberg Quelle: Mintzberg, H., (1989), S. 98 Mintzberg geht zudem davon aus, dass grundsätzlich einer der Teilbereiche eine übergeordnete Position innerhalb der Organisation einnimmt.36 Die Gestaltung der fünf anderen Bereiche orientiert sich an der Grundhaltung des dominierenden Teilbereichs. Ausgehend von dem Zusammenwirken der sechs Komponenten bildet sich ein spezifischer Organisationstyp heraus.37 Das Organisationsstruktur-Modell nach Mintzberg ermöglicht es, die spezifischen Strukturen von integrierten Versorgungsnetzen zu analysieren und abzubilden. Die Ausführungen dieses Abschnitts dienen dazu, die potentiellen Organe eines integrierten Versorgungsnetzes den von Mintzberg definierten Organisationsbereichen zuzuordnen. 35 36 37

Vgl. Mintzberg, H., (1989), S. 98 Vgl. Mintzberg, H., (1989), S. 110 Vgl. Mühlbacher, A., (2002), S. 115

181

Doreen Bruhnke Die sechs Teilbereiche der Organisation 1.

Strategische Spitze (Strategic Apex)

Die Strategische Spitze ist die oberste Führungsebene einer Organisation.38 In einem integrierten Versorgungsnetz ist sie mit der Netzleitung und der Entwicklung grundlegender Ziele und Strategien betraut. Zudem überwacht sie die ihr nach geordneten Instanzen.39 Diese Aufgaben können je nach Größe des Netzes von einer Vollversammlung, einem Vorstand und einem Leitungsbeirat wahrgenommen werden. Die Vollversammlung wird durch die Summe der Vertragspartner gebildet. Sie sind alle mit einem Stimmrecht ausgestattet, von dem sie bei elementaren Entscheidungen Gebrauch machen können.40 Dem Netzvorstand wird für die Mandatszeit die Entscheidungskompetenz übertragen. Er kann mit Ausnahme von weit reichenden Grundsatzentscheidungen autonom bestimmen und ist verantwortlich für die Strategiefindung und die grundlegende Organisation und Koordination von Qualitätszirkeln, Arbeitsgruppen und der Vollversammlung. Der Leitungsbeirat ist ein Expertenstab, der sich paritätisch aus den Vertragspartnern zusammensetzt. Er nimmt eine beratende Funktion ein und dient als Kommunikationsplattform für den Informationsaustausch zwischen Qualitätszirkeln und Arbeitgruppen.41 2.

Operativer Kern (Operating Core)

Der Betriebliche Kern ist direkt an der Leistungserstellung beteiligt.42 In einem integrierten Versorgungsnetz sind das die beteiligten Ärzte und Krankenhäuser, gemeinsame Labors, die Leitstelle, die Anlaufpraxis und alle anderen beteiligten Anbieter. Der Betriebliche Kern erbringt primär die Aktivitäten, die dem Kunden einen unmittelbaren Nutzen stiften, wie ärztliche Behandlung, Operationen, Versorgung mit Arzneimitteln usw.43 Seine Aufgaben sind letztendlich abhängig vom Versorgungsauftrag und den Prozessbeschreibungen.

38 39 40 41 42 43

Vgl. Bea, F., Göbel, E., (1999), S. 279 Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 366 f. Vgl. Rüschmann, H.-H., Roth, A., Krauss C., (2000), S. 21 Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 370 Vgl. Mintzberg, H., (1992), S. 29 Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 367

182

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen 3.

Mittellinie (Middle Line)

Die Mittellinie kann auch als Mittleres Management bezeichnet werden.44 Sie ist vor allem in großen Unternehmen ein wichtiger Organisationsbestandteil, da sie zwischen der Strategischen Spitze und dem Betrieblichen Kern angesiedelt ist.45 In einem integrierten Versorgungsnetz nimmt die Mittellinie eine nachrangige Position ein. Sie ist für die Entwicklung spezifischer Bereichsziele und Strategien sowie für die Überwachung des Betrieblichen Kerns verantwortlich. Diese Tätigkeiten ließen sich am ehesten den einzelnen Vertragspartnern zuordnen.46 Die Integrierte Versorgung soll jedoch nicht Bereichsinteressen sondern gemeinsame Zielsetzungen und Strategien fördern. 4.

Technostruktur (Technostructure)

Mit fortschreitender Komplexität der Arbeitsabläufe wird eine Organisation verstärkt auf Standardisierung als Instrument zur Koordinierung der Arbeitsabläufe zurückgreifen. Die Mitarbeiter der Technostruktur sind Analytiker.47 Sie haben in der Regel keine Weisungsbefugnisse und gehören nicht dem Kreis der Führungskräfte an. Der Aufgabenbereich der Technostruktur kann sowohl die Vorbereitung von Entscheidungen der Führungsebenen, Controlling als auch die Erstellung von Standards umfassen.48 Dies soll eine Effizienzsteigerung im Bereich der primären Aktivitäten des Betrieblichen Kerns herbeiführen und somit einen Beitrag zur Optimierung der Wertschöpfung leisten.49 In einem integrierten Versorgungsnetz lassen sich der Netzmanager, Qualitätszirkel und Arbeitsgruppen dem Bereich der Technostruktur zuordnen. Der Netzmanager ist für die Organisation und Koordination innerhalb der Technostruktur zuständig. Er trägt die Verantwortung für die Erstellung von standardisierten Prozessbeschreibungen und ihre Umsetzung durch den Betrieblichen Kern und die Mittellinie. Darüber hinaus nimmt er die Funktion eines Beraters bei Entscheidungen der Strategischen Spitze ein und informiert diese über Entwicklungen innerhalb der verschiedenen Bereiche des Netzes.50 44 45 46 47 48 49 50

Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 367 Vgl. Mühlbacher, A., (2002), S. 116 Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 367 Vgl. Mintzberg, H., (1992), S. 32 f. Vgl. Mühlbacher, A., (2002), S. 116 Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 367 Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 367

183

Doreen Bruhnke Die Mitglieder von Qualitätszirkel erarbeiten medizinische Leitlinien, die in die Prozessdefinitionen einfließen. Außerdem obliegt ihnen die inhaltliche Gestaltung von netzinternen Schulungen und Weiterbildungen.51 Im Gegensatz zu Qualitätszirkeln, erstellen Arbeitsgruppen Leitlinien, die den organisatorischen Ablauf des Hauptprozesses effizienter gestalten, z.B. für den Einkauf, EDV und Personal. Diese Leitlinien fließen ebenfalls in die Prozessdefinition ein.52 5.

Hilfsstab (Support Staff)

Hilfsstäbe sind unterstützende Einheiten, die anders als die Technostruktur keine Standards erarbeiten und auch keine Beratungsfunktion wahrnehmen. Zu ihnen zählen unter anderem die Gebäudeverwaltung und die Kantine. Hilfsstäbe stellen in sich kleine unabhängige Organisationseinheiten dar, die nicht dem betrieblichen Kernbereich einer Organisation zuzuordnen sind. Sie greifen auf Ressourcen der übergeordneten Organisation zurück und erstellen für diese im Gegenzug bestimmte Dienstleistungen, wie die Versorgung der Belegschaft mit warmen Mahlzeiten. Diese Dienstleistungen gehen als mittelbar wertschöpfende Aktivitäten in den Leistungserstellungsprozess ein.53 In einem integrierten Versorgungsnetz können Arbeitsgruppen und der Netzmanager diese Funktionen wahrnehmen.54 Die Mitglieder der Arbeitsgruppen unterstützen die Kernorganisation beispielsweise in Form von Justiziariat, Public Relations und durch die Koordination der Zusammenarbeit mit netzexternen Partnern.55 Der Netzmanager wiederum organisiert und koordiniert die Abläufe innerhalb der Hilfsstäbe. 6.

Unternehmenskultur (Ideologie)

Die Unternehmenskultur, als sechster Teilbereich einer Organisation nach Mintzberg, umfasst die Gesamtheit aller Traditionen, Überzeugungen, Mythen und Normen, die eine Organisation auszeichnen und somit von anderen unterscheiden. Sie füllen die formale Organisationsstruktur mit Leben.56 Die gemein-

51 52 53 54 55 56

Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 370 Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 370 Vgl. Mintzberg, H., (1992), S. 34 f. Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 367 Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 370 Vgl. Mintzberg, H., (1989), S. 98

184

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen samen Werte und Normen sollen das Versorgungsnetz in seinen Grundfesten zusammenhalten und die Einstellungen der Netzmitglieder prägen.57 Die Strategische Spitze und der Netzkodex können diese Aufgaben am ehesten in einem integrierten Versorgungsnetz übernehmen. Die Strategische Spitze hat den größten Einfluss auf die Netzkultur. Sie ist permanent an ihrer Gestaltung und Umsetzung beteiligt, indem sie den Mitarbeitern Visionen vermitteln.58 Der Netzkodex stellt ein maßgebliches Instrument zur Steuerung der Vertragspartner dar, indem er Verhaltensweisen verbindlich regelt.59 Die, aus den sechs Teilbereichen nach Mintzberg, abgeleiteten potenziellen Organe für IGV-Netze können den Rahmen für die strukturelle Ausgestaltung integrierter Versorgungsnetze bilden. In welchem Umfang sie bei der spezifischen Ausgestaltung einzelner Netze zum Einsatz kommen, liegt in erster Linie im Ermessen der Vertragspartner und hängt zudem unmittelbar von dem Umfang des Versorgungsauftrags ab. Integrierte Versorgungsverträge können die Behandlung bestimmter Indikationen regeln oder die umfassende Versorgung eines bestimmten Patientenkreises sicherstellen. Netze mit einem indikationsbezogenen Versorgungsauftrag umfassen zum Beispiel gynäkologische oder orthopädische Eingriffe. Die Beschränkung auf ausgewählte Indikationen begrenzt zum einen die Zahl der Versorgungsprozesse, zum anderen können diese durch eindeutige Absprachen einfacher koordiniert werden. Außerdem übernehmen Netze dieser Art lediglich die ökonomische Verantwortung für die fallbezogene Patientenversorgung. Demzufolge sind die strukturellen Anforderungen an diese Netze vergleichsweise gering.60 Ein umfassender Versorgungsauftrag kann beispielsweise die Versorgung multimorbider Menschen aber auch die Versorgung einer regional begrenzten Bevölkerungsgruppe gewährleisten. Die Vielschichtigkeit der multiplen, nebeneinander ablaufenden Versorgungsprozesse macht ein hohes Maß an Koordination, ein weit reichendes Qualitätsmanagement sowie eine Überwachung des wirtschaftlichen Erfolgs unerlässlich.61 Übernimmt ein solches Netz die komplette Budgetverantwortung, dann bestreitet es eigenverantwortlich alle notwendigen 57 58 59 60 61

Vgl. Mühlbacher, A., (2002), S. 239 Vgl. Mühlbacher, A., (2002), S. 250 Vgl. Lindenthal, J., Sohn, S., Schöffski, O., (2004), S. 69 f. Vgl. Tophoven, C., (2003), S. 241 f. Vgl. Tophoven, C., (2003), S. 242

185

Doreen Bruhnke Behandlungskosten über das ihm zur Verfügung stehende Budget. Das schließt Arzneimittelkosten, Kosten für Krankengymnastik, Heil- und Hilfsmittel, Logopädie usw. ein. Die Übernahme der ökonomischen Verantwortung stellt eine große Herausforderung für ein Netz dar.62 Der Umfang des Versorgungsauftrags bedingt wiederum die Art und Anzahl der Vertragspartner eines Netzes. Als Vertragspartner der Krankenkassen kommen Medizinische Versorgungszentren, Krankenhäuser und selbständige Leistungserbringer in Betracht.63 Diese Organisationsformen stellen unterschiedliche Anforderungen an den strukturellen Organisationsaufbau. Medizinische Versorgungszentren und Krankenhäusern können neben freiberuflichen Ärzten auch angestellte Ärzte beschäftigen. Es gibt hierarchische Autoritätsketten mit Überund Unterordnungsbeziehungen und verankerte Kompetenzen. Netze mit selbständigen Leistungserbringern lassen sich nicht über Hierarchieebenen steuern. Vielmehr dienen ihnen Kommunikation und Koordination als grundlegende Führungsinstrumente.64 Im Folgenden wird der Versuch unternommen, integrierte Versorgungsnetze in das Organisationstypenmodell nach Mintzberg einzuordnen. Mintzberg gibt an, alle Organisationen anhand seines Modells klassifizieren zu können. Dabei geht er von sechs Organisationstypen65 aus, innerhalb derer jeweils einer der oben erläuterten Teilbereiche die gesamte Organisation dominiert. In integrierten Versorgungsnetzen bilden die Leistungserbringer mit ihrem umfangreichen Expertenwissen den Betrieblichen Kern. Ihr Wissen stellt die Grundvoraussetzung für die Erfüllung des Versorgungsauftrags dar. Zumeist finden sich selbständige Leistungserbringer zusammen. Die Netze sind daher demokratisch organisiert und weisen keine streng hierarchischen Strukturen auf. Darüber hinaus sind sie zahlreichen gesetzlichen Regelungen unterworfen. Lösungskonzepte, die diesen Anforderungen gerecht werden, müssen innovativ und kreativ sein und dürfen keine hohe Verhaltensformalisierung aufweisen.66 Integrierte Versorgungsnetze können demzufolge nach Mintzberg als Adhokratien be-

62 63 64 65

Vgl. Hildebrandt, H., Bischoff-Everding, C., Döring, R., u. a., (2004), S. 9 Vgl. § 140 b Abs.1 Nr. 1-5 SGB V i. V. m. § 95 SGB V Vgl. Tophoven, C., (2003), S. 239 Die sechs Organisationstypen nach Mintzberg sind: Einfachstruktur, Maschinenbürokratie, Spartenstruktur, Adhokratie, Profibürokratie und Missionstruktur 66 Vgl. Mühlbacher, A., (2002), S. 124

186

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen zeichnet werden.67 Dafür spricht, dass Adhokratien den geeigneten Organisationstyp für Unternehmen darstellen, die sich in einer komplexen Umwelt behaupten müssen und zu einer starken Demokratisierung tendieren.68 Mintzberg spricht den Adhokratien allerdings keine unbegrenzte Lebensdauer zu. Mit zunehmendem Alter werden Adhokratien eine wachsende Bürokratisierung erfahren. Integrierte Versorgungsnetze werden dazu tendieren, ihren Erfolg zu wiederholen, indem sie sich die angewandten Verfahren und Methoden auch zukünftig zunutze machen. Dies geht einher mit einer zunehmenden Spezialisierung auf standardisierte Produkte. Mit der Zeit durchlaufen die Adhokratien eine Entwicklung hin zu einer Profibürokratie. Dadurch wird die Organisation auch dem Bedürfnis der Mitarbeiter nach mehr Stabilität gerecht.69

3.2

Netzmanager

3.2.1 Gründe für die Implementierung eines professionellen Netzmanagers Der Erfolg eines Integrationsnetzes hängt von einem leistungsfähigen Management ab.70 Die Erfahrungen mit Praxisnetzen zeigen, dass die Vernetzungsschwierigkeiten nicht im Bereich der ärztlichen Tätigkeit, sondern im betriebswirtschaftlichen, organisatorischen und technischen Aufbau und Betrieb eines Netzes zu finden sind. Bei der Gründung vieler Netze wurden diese Aspekte der Netztätigkeit nicht im erforderlichen Umfang berücksichtigt, mit der Folge, dass sich einige engagierte Ärzte als „Manager nach Feierabend“ betätigen und sich mit unbekannten Zusatzaufgaben konfrontiert sehen. Ihnen fehlt nicht selten das entsprechende Fachwissen und darüber hinaus stellt diese Aufgabe eine zusätzliche Belastung dar, der die Leistungserbringer oft nicht ohne weiteres gewachsen sind.71 Die Gründer von integrierten Versorgungsnetzen können aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, indem sie die notwendigen Managementstrukturen aufbauen und die erforderlichen Kompetenzen an einen Netzmanager übertragen.

67 68 69 70 71

Vgl. Mühlbacher, A., (2002), S. 124 Vgl. Mintzberg, H., (1992), S. 363 Vgl. Mintzberg, H., (1992), S. 359 f. Vgl. Lindenthal, J., Sohn, S., Schöffski, O., (2004), S. 52 Vgl. Kreft, M., Baur, S., Schmelzer, R., (2002), S. 11

187

Doreen Bruhnke Das Wort „Management“ hat seinen Ursprung im Lateinischen „manus“, was zu Deutsch „Hand“ heißt. Demzufolge kann Netzmanagement als Handhabung eines integrierten Versorgungsnetzes verstanden werden.72 Die weiteren Ausführungen befassen sich mit dem operativen Management, das in Abgrenzung zum strategischen Management für die Umsetzung der vereinbarten strategischen Maßnahmen und Ziele verantwortlich ist. Ein integriertes Versorgungsnetz stellt, vergleichbar mit einem Unternehmen, zahlreiche Anforderungen an das operative Management. Zu nennen sind unter anderem Kosten- und Erlösmanagement, Qualitäts- und Prozessmanagement sowie Öffentlichkeitsarbeit.73 Um diesen Anforderungen gerecht werden zu können, wird ein neues Berufsbild, das des Netzmanagers, entstehen.74 Für die beteiligten Leistungserbringer bedeutet die Übertragung von Managementkompetenzen auf einen Netzmanager Arbeitserleichterung und Entlastung. Sie können sich vermehrt auf den Kernbereich ihrer Tätigkeit, die Behandlung ihrer Patienten konzentrieren.75 Für eine Zusammenarbeit von Ärzten, Krankenhäusern und anderen Leistungserbringer, wie Krankengymnasten, Rehabilitationseinrichtungen usw., ist der Aufbau gemeinsamer Managementstrukturen erforderlich.76 Das zusätzliche Engagement einiger Ärzte zur Wahrnehmung dieser Aufgaben ist oft nicht ausreichend.77 Krankenhäuser weisen als Vertragspartner einer integrierten Versorgung komplexe Managementstrukturen auf. Sie haben Erfahrungen mit der Gestaltung vielschichtiger betrieblicher Abläufe. Dennoch wird es für eine Zusammenarbeit im Rahmen der Integrierten Versorgung nicht ausreichen, die bereits vorhandenen Managementstrukturen auszubauen. Integrierte Versorgungsmodelle bewegen sich in einem komplexen Handlungsfeld, das von sektoralen Grenzen durchzogen ist. Diese Gräben zwischen ambulanter und stationärer Versorgung und der Rehabilitation müssen überbrückt werden. Nur ein Netzmanager kann durch die Neugestaltung der Versorgungsprozesse die Schnittstellen zwischen den am Behandlungsprozess beteiligten Leistungserbringern überwinden und die komplexen betriebswirtschaftlichen Ab72 73 74 75 76 77

Vgl. www.brockhaus.de, Stand: 11.05.2007 Vgl. Meissner, W., (2003), S. 23 Vgl. Gerresheim, W., (2001), S. 218 Vgl. Rummler, M., (2001), S. 249 Vgl. Lohmann, H., (2003), S. 187 Vgl. Kreft, M., Baur, S., Schmelzer, R., (2002), S. 13

188

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen läufe steuern.78 Er nimmt bei der Gestaltung lokaler Versorgungsstrukturen eine Schlüsselrolle ein.79 3.2.2 Aufgaben des Netzmanagers Der Aufgabenbereich eines Netzmanagers ist sehr weit gefasst. Er übernimmt Kommunikations-, Organisations- und betriebswirtschaftliche Aufgaben.80 Zur Steuerung der netzinternen Kommunikations-, Koordinations- und Kooperationsstrukturen ist die Festlegung verbindlicher Verfahrens- und Arbeitsanweisungen unumgänglich.81 Darüber hinaus überwacht er die Einhaltung der vereinbarten netzinternen Zielparameter, die im Rahmen von Zielvereinbarungen getroffen werden können. Diese leisten einen entscheidenden Beitrag zu einer zielorientierten Verhaltenssteuerung der Vertragspartner und somit zur Sicherung des Netzerfolgs.82 Die Kompetenzen eines Netzmanagers erstrecken sich im heutigen Entwicklungsstadium von integrierten Versorgungsnetzen auf folgende drei Tätigkeitsfelder, die Rückschlüsse auf sein Aufgabengebiet zulassen. Steuerung und Sicherstellung einer professionellen, kooperativen Leistungserbringung durch die Schaffung effektiver Kommunikations- und Kooperationsformen: x

Identifizierung und Nutzung von Rationalisierungspotentialen und Synergieeffekten zwischen allen beteiligten Vertragspartnern,

x

Steuerung von netzinternen Kommunikationsprozessen,

x

Erschließung neuer Kooperationsbeziehungen zu netzexternen Gesundheitsanbietern (Apotheken, Krankenhäusern, Physiotherapeuten usw.),

x

Schaffung von Kooperationsbeziehungen für einen gemeinsamen Einkauf von Gütern oder Dienstleistungen,

78 79 80 81 82

Vgl. Lohmann, H., (2003), S. 187 Vgl. Gerresheim, W., (2001), S. 218 Vgl. Meyer-Lutterloh, K., (2001), S. 310 Vgl. Lindenthal, J., Sohn, S., Schöffski, O., (2004), S. 53 f. Vgl. Lindenthal, J., Sohn, S., Schöffski, O., (2004), S. 53 f.

189

Doreen Bruhnke

x

Steuerung der Übernahme der Finanzhoheit durch das Netz für ärztliche Leistungen (medizinische Behandlung), veranlasste Leistungen (Krankenhauseinweisung) und verordnete Leistungen (Medikamente, Krankengymnastik)83,

x

Betriebswirtschaftliches Controlling84.

Organisation der neuen Versorgungsprozesse: x

Aufbau einer netzinternen Ablauforganisation,

x

Aufbau und Betreuung der Entwicklung von Leitlinien85,

x

Erstellung der Dienstpläne,

x

Rechnungsstellung,

x

Honorarverteilung86.

Gestaltung des Netzes in Form einer lernenden Organisation und Implementierung erforderlicher logistischer sowie kommunikations- und informationstechnischer Instrumente: x

Permanente Weiterentwicklung und Überprüfung der Umsetzung der Netzziele,

x

Initialisierung und Steuerung einer zukunftsweisenden Weiterentwicklung der Netzorganisation durch innovative Maßnahmen und Methoden,

x

Aufbau und Entwicklung einer Qualitätssicherung im Sinne von EvidenceBased Medicine,

x

Aufbau einer netzinternen elektronischen Vernetzung87,

x

Kontrolle des Datenaustausches, der Datenauswertung und des Datenschutzes88.

Der Netzmanager bedarf neben einem umfangreichen Fachwissen auch spezifischer Fähigkeiten, wie Organisationsgeschick, Durchsetzungsfähigkeit, Konflikt-

83 84 85 86 87 88

Vgl. Rummler, M., (2001), S. 249 f. Vgl. Meyer-Lutterloh, K., (2001), S. 310 Vgl. Rummler, M., (2001), S. 249 f. Vgl. Meyer-Lutterloh, K., (2001), S. 310 Vgl. Rummler, M., (2001), S. 249 f. Vgl. Meyer-Lutterloh, K., (2001), S. 310

190

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen lösungskompetenz, Kommunikations- und Teamfähigkeit, Führungskompetenz, Kreativität und Innovationskraft. Damit er seine Aufgaben eigenverantwortlich wahrnehmen kann, müssen ihm entsprechende Entscheidungs- und Handlungsbefugnisse übertragen werden. Hierzu müssen dem Netzmanager feste Aufgaben, Funktionen und Kompetenzen zugesprochen werden.89 3.2.3 Organisatorische Einordnung des Netzmanagers Im Folgenden werden zwei Möglichkeiten für die Einordnung des Netzmanagers in die Organisationsstruktur integrierter Versorgungsnetze diskutiert: x

Netzmanager in der Funktion einer Stabsstelle,

x

Netzmanager in der Funktion einer Führungskraft.

Netzmanager als Stabsstellenfunktion Stäbe sind in der Regel nicht entscheidungs- oder weisungsbefugt. Ihnen obliegt vielmehr die Entscheidungsvorbereitung für die Linienführungskräfte.90 Diese Unterstützung führt zu einer quantitativen und qualitativen Entlastung der Führungskraft. Eine rein quantitative Entlastung erfolgt durch Stabsgeneralisten beispielsweise Assistenten, die die Führungskräfte im Sinne eines „Mädchen für alles“ unterstützen. Stabsspezialisten hingegen unterstützen die Führungskräfte auf fachlicher Ebene. Diese Funktion wird von Fachleuten wahrgenommen, beispielsweise einem der Unternehmensleitung zugeordnetem Justiziar.91 Der Netzmanager, der seine Aufgaben in der Funktion einer Stabsstelle wahrnimmt, wird für die strategische Spitze des Versorgungsnetzes arbeiten. Sie weist ihm klar definierte Aufgabenbereiche zu, innerhalb derer er befugt ist, Entscheidungen zu treffen.92 Als Aufgabenbereiche können an dieser Stelle die Abrechnung und Honorarverteilung, die Entwicklung standardisierter Prozesse und der Aufbau eines netzinternen Kommunikations- und Informationssystems genannt werden. Seine Führungsverantwortung beschränkt sich auf die Personen, die ihn innerhalb seines Kompetenzbereichs bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützen. Er setzt lediglich die Anweisungen der Strategischen Spitze um und hat 89 90 91 92

Vgl. Lindenthal, J., Sohn, S., Schöffski, O., (2004), S. 54 Vgl. Bea, F., Göbel, E., (1999), S. 238 Vgl. Kieser, A., Kubicek, H., (1992), S. 136 Vgl. Oldenburg, J., (2001), S. 38

191

Doreen Bruhnke keinerlei Weisungsbefugnisse gegenüber den Vertragspartnern.93 Dennoch nimmt der Netzmanager als Stabsspezialist in Belangen der Motivation zur Erreichung der Netzziele eine Schlüsselrolle ein. Er kann und soll seine Erwartungen gegenüber den Vertragspartnern formulieren und die Beteiligten zum vollen Einsatz ihrer Kompetenzen und Fähigkeiten animieren.94 Nimmt der Netzmanager seine Aufgaben in der Funktion einer Stabsstelle wahr, kommt dies einer Einordnung in die Technostruktur gleich. Vor- und Nachteile Wie sich zeigt, ist die Einrichtung von Stabsstellen in integrierten Versorgungsnetzen durchaus von Vorteil. Die Stäbe sind der Strategischen Spitze direkt zugeordnet und entlasten diese sowohl fachlich als auch mengenmäßig. Losgelöst von anderen Zuständigkeiten, kann sich der Netzmanager in der Funktion einer Stabsstelle voll und ganz auf seine koordinierenden und beratenden Aufgaben konzentrieren. Stabsstellen erhalten ihre Anweisungen lediglich von der Führungskraft, der sie zugeteilt sind und stehen dieser mit ihrem umfangreichen Expertenwissen vollständig zur Verfügung. Diese Konstellation führt jedoch oft auch zu Spannungsverhältnissen zwischen Stab und Linie, zumal der Stabsstelleninhaber den Linieninstanzen in der Regel auf deren Gebiet fachlich überlegen ist. Der Netzmanager in der Funktion der Stabsstelle kann diesen Wissensvorsprung nicht umsetzen, da er nicht weisungsbefugt ist.95 Zudem ist der Handlungsspielraum des Netzmanagers stark eingegrenzt. Er muss selbst bei fachlichen Gesprächen immer erst Rücksprache mit den Verantwortlichen halten, bevor er Entscheidungen treffen kann. Dies schwächt seine Position und kann zu Demotivation führen.96 Netzmanager als Führungskraft Führungskräfte haben zum einen fachliche Leitungsbefugnisse, das bedeutet, sie sind sowohl mit Entscheidungs- als auch mit Weisungsbefugnissen ausgestattet. Zum anderen haben Führungskräfte in der Regel disziplinarische Leitungsbefug-

93 94 95 96

Vgl. Oldenburg, J., (2001), S. 38 Vgl. Oldenburg, J., (2001), S. 44 Vgl. Bea, F., Göbel, E., (1999), S. 239 Vgl. Oldenburg, J., (2001), S. 39

192

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen nisse, das heißt, sie können ihre Untergebenen kontrollieren, beurteilen, belohnen und auch bestrafen.97 Der Netzmanager als Führungskraft wäre dem Vorstand unterstellt und setzt dessen Anweisungen um. Um netzinterne Konflikte zu vermeiden, sollte der Netzmanager Anweisungen nur von einer Person, beispielsweise dem Vorstandsvorsitzenden bekommen. Zur Erfüllung seiner Aufgaben ist er mit festgelegten Entscheidungsbefugnissen ausgestattet. Er hat als Führungskraft darüber hinaus Weisungsbefugnisse gegenüber den Vertragspartnern. Der Netzmanager kontrolliert die Einhaltung der verbindlich getroffenen Vereinbarungen, mit Ausnahme von patientenbezogenen Maßnahmen. In diesem Bereich kann er lediglich beratend zur Seite stehen. Um die Einhaltung der Vereinbarungen zu gewährleisten, kann er von Mahnungen und Tadel Gebrauch machen.98 Einem Netzmanager, dem dieser weit reichende Verantwortungsbereich übertragen wird, muss zahlreiche Führungseigenschaften vorweisen und zur Wahrnehmung der disziplinarischen Leitungsbefugnisse über soziale Kompetenz verfügen. Bei der Wahrnehmung fachlicher Leitungsbefugnisse muss er zudem auch konzeptionelle Fähigkeiten besitzen.99 In den Aufgabenbereich des Netzmanagers als Führungskraft fallen neben den administrativen und standardisierenden Aufgaben auch folgende Tätigkeiten: x

Er überwacht die Einhaltung verbindlich getroffener Vereinbarungen durch die Vertragspartner, mit Ausnahme von patientenbezogenen Maßnahmen.

x

Er ist die treibende Kraft bei der Aufnahme neuer Partner und baut vielschichtige Beziehungsgeflechte im Interesse des Netzes auf.

x

Er ist verantwortlich für die Budgetkontrolle, das bedeutet er implementiert Kontrollsysteme, die ein medizinisches und betriebswirtschaftliches Controlling sicherstellen.

x

Er führt Verhandlungen mit netzexternen Kooperationspartnern und mit den Krankenkassen.100

97 Vgl. 98 Vgl. 99 Vgl. 100

Bea, F., Göbel, E., (1999), S. 237 Oldenburg, J., (2001), S. 38 f. Bea, F., Göbel, E., (1999), S. 237 Vgl. Oldenburg, J., (2001), S. 39

193

Doreen Bruhnke Vor- und Nachteile Die Übertragung von Führungsaufgaben auf einen Netzmanager bringt vor allem für große integrierte Versorgungsnetze eine Reihe von Vorteilen mit sich. In Netzen mit vielen Vertragspartnern besteht die Gefahr, dass diese schnell handlungsunfähig werden, wenn es versäumt wurde, klar definierte Weisungs- und Entscheidungskompetenzen auf Gremien oder einen Netzmanager zu übertragen.101 Losgelöst von eigenen Interessen übernimmt der Netzmanager die Verantwortung für die Umsetzung der Netzziele und trägt so zum Erfolg des Netzes bei. Er kann, vorausgesetzt ihm wurde die Führungsverantwortung für die Mitarbeiter des Netzbüros übertragen, eine Entlastung der Leistungserbringer von administrativen Aufgaben herbeiführen.102 Der Netzmanager wird sich in einem netzinternen Spannungsfeld bewegen, da er von den Vertragspartnern für die Wahrnehmung verantwortungsvoller Aufgaben angestellt und bezahlt wird und gleichzeitig dem Gesamtwohl des Netzes verpflichtet ist. Das bedeutet, er muss gegebenenfalls, aus Sicht der Vertragspartner, unpopuläre Entscheidungen treffen und durchsetzen.103 Bewertung der Optionen Mit zunehmender Netzgröße und einem wachsendem Repertoire an fachspezifischen Versorgungsangeboten wächst auch die Komplexität der zu koordinierenden Aufgaben.104 Mit der Präferenz auf koordinierende und entscheidungsvorbereitende Aufgabenbereiche des Netzmanagers sollte der Einrichtung einer Stabsstelle Vorzug gegeben werden. Eine derartige Einordnung des Netzmanagers in die Organisationsstruktur werden sich vor allem integrierte Versorgungsnetze zunutze machen, die sich im Aufbau befinden und jene, welche eine streng hierarchische, von Ärzten dominierte, Organisationsstruktur aufweisen. Große, sektorenübergreifende Netze werden zur Umsetzung ihrer Ziele auf einen Netzmanager mit Führungsverantwortung angewiesen sein. Soll der Netzmanager seinem Namen gerecht werden, muss er in jedem Fall auch mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattet sein. Die Übertragung von Handlungskompetenzen auf den Netzmanager stärkt seine Position deutlich, zumal er bei Gesprächen 101 Vgl. 102 Vgl. 103 Vgl. 104

Oldenburg, J., (2001), S. 37 Oldenburg, J., (2001), S. 44 Oldenburg, J., (2001), S. 40 Vgl. Rummler, M., (2001), S. 249

194

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen und Verhandlungen Entscheidungen autonom, im Interesse des Netzes treffen kann. Erstreckt sich der Aufgabenschwerpunkt eines Netzmanagers neben den administrativen Aufgaben auch auf den Bereich der Geschäftsführung, ist eine Einordnung des Netzmanagers in die Organisationsstruktur als Führungskraft zu präferieren.105

3.3

Organisatorischer Aufbau des integrierten Versorgungsnetzes für ambulante Operationen

3.3.1 Ist-Analyse Externe Organisationsstruktur Die externe Organisationsstruktur beschreibt den wirtschaftlichen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmen eines integrierten Versorgungsnetzes. Sie lässt sich über den Versorgungsauftrag, die Finanzierung und die Rechtsform definieren.106 Der Versorgungsauftrag des integrierten Versorgungsnetzes Erlangen erstreckt sich auf die Durchführung ambulanter orthopädischer und gynäkologischer Operationen im Rahmen einer Integrierten Versorgung nach § 140 b SGB V. Die Vergütung der medizinischen Leistungen, die im Rahmen der Integrierten Versorgung erbracht werden, erfolgt über Fallpauschalen. Die Rechtsform des IGV-Netzes ist eine Gesellschaft des Bürgerlichen Rechts (BGB-Gesellschaft). Die fünf beteiligten Praxen sind ebenfalls jede für sich BGB-Gesellschaften. Die Gesellschafter der fünf Praxen sind gleichzeitig auch Gesellschafter des integrierten Versorgungsnetzes. Demnach setzt sich das IGVNetz auf Leistungserbringerseite aus einem Kreis von elf gleichberechtigten Gesellschaftern, neun operierenden Orthopäden und zwei Anästhesisten zusammen. Interne Organisationsstruktur Die strategischen Entscheidungen werden von allen Vertragspartnern gleichberechtigt getroffen. Demnach bilden Sie in ihrer Gesamtheit die Strategische Spitze des Versorgungsnetzes.

105 Vgl. 106

Oldenburg, J., (2001), S. 36 f. Vgl. Sohn, S., Schöffski, O., (2002), S. 369

195

Doreen Bruhnke Sowohl die Krankenkassen als auch die Ärzte haben die Vertretung ihrer Interessen auf jeweils einen Vertragspartner aus ihrem Kreis übertragen. Auf der Seite der Krankenkassen ist die Interessenvertretung durch eine IGVKooperation, die auf der Abstimmung gemeinsamer Strategien bei Vertragsabschlüssen beruht, geregelt. Diese ermöglicht es den Krankenkassen ihre Marktmacht bei Vertragsverhandlungen zu bündeln und die administrativen Aufgaben, die einzelvertragliche Versorgungsangebote mit sich bringen, zu reduzieren. Jede der beteiligten Krankenkassen kann den Integrationsverträgen der anderen beitreten. Bei bevorstehenden Vertragsverhandlungen tritt in der Regel nur die Krankenkasse auf, die mit der Wahrnehmung der Vertragsverhandlungen beauftragt wurde. Das Mandat zur Vertretung der Krankenkassen wurde für den Integrationsvertrag zur Durchführung ambulanter Operationen in Erlangen der Siemens Betriebskrankenkasse übertragen. Auf Seiten der Leistungserbringer hat ein Arzt des AOZ die Vertretung der Ärzte übernommen und fungiert seither als Ansprechpartner für die Krankenkassen. Die Vertragsparteien haben bisher auf die Benennung von Netzvorstand, Leitungsbeirat und der Einberufung einer Vollversammlung verzichtet. Die Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf einen Netzvorstand kann für das Versorgungsnetz von Vorteil sein. Hingegen ist die Einrichtung eines Leitungsbeirates aufgrund der vergleichsweise geringen Netzgröße nicht zweckmäßig. Der Betriebliche Kern des integrierten Versorgungsnetzes besteht aus den Operateuren, die die gynäkologischen und orthopädischen Eingriffe vornehmen, den Anästhesisten sowie den OP-Krankenschwestern. Die Ärzte bilden somit den Operativen Kern des Versorgungsnetzes. Ein Teil der Ärzte, die Orthopäden und Anästhesisten, sind gleichzeitig auch als Vertragspartner in der Führungsverantwortung. Eine Mittlere Führungsebene in Sinne einer Mittellinie, die zwischen der Strategischen Spitze und dem Betrieblichen Kern vermittelt, ist nicht notwendig, da sich die Ärzte unmittelbar abstimmen. Das integrierte Versorgungsnetz weist ansatzweise eine Technostruktur auf. Eine Mitarbeiterin des Ambulanten Operationszentrums nimmt neben ihrer Tätigkeit für das AOZ, stellvertretend für alle beteiligten Ärzte, einige der administrativen Tätigkeiten, die in Zusammenhang mit der Integrierten Versorgung anfallen, wahr. Bei den Aufgaben handelt es sich unter anderem um die elektronische Datenerhebung, die Rechnungsstellung und die Honorarverteilung.

196

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen Das AOZ übernimmt neben den anästhesiologischen Leistungen einen Großteil der organisatorischen Aufgaben. Es ist für das gesamte OP-Management, wie Terminvergabe, Organisation der OP-Abläufe, und Zusammensetzung des OPTeams verantwortlich. Darüber hinaus wurde durch das AOZ ein Hygienebeauftragter benannt, der die Umsetzung des Hygieneplans überwacht. Die einzelnen Fachgebiete haben jeweils eine Praxis mit der Beschaffung und Logistik, der für die Erfüllung des Versorgungsauftrags, erforderlichen Materialien beauftragt. Bezug nehmend auf das Organisationsstrukturmodell nach Mintzberg kann das integrierte Versorgungsnetz zur Durchführung ambulanter Operationen als Profibürokratie bezeichnet werden. 3.3.2 Entwicklungspotenzial Im Folgenden werden Vorschläge für die weitere organisatorische Ausgestaltung des IGV-Netzes Erlangen gemacht. Benennung eines Vorstandes Das IGV-Netz Erlangen weist keine klar definierte Strategische Spitze auf. Die Krankenkassen und die Ärzte haben einem Vertreter aus ihrem Kreis die Wahrnehmung strategischer Aufgaben übertragen. Die logische Folge könnte die offizielle Benennung eines Netzvorstandes sein. Dieser Schritt wäre für das IGVNetz Erlangen von Vorteil. Zum einen würde die klare Regelung von Verantwortlichkeiten die Kooperation nach innen festigen. Zum anderen könnte sich dadurch die Netztransparenz erhöhen, was wiederum zu einer größeren Akzeptanz des Netzes in der Öffentlichkeit beitragen kann. Das Netz könnte schneller auf sich ändernde Umweltbedingungen reagieren, da der Vorstand, mit Ausnahme von weit reichenden Grundsatzentscheidungen, autonom bestimmt. Darüber hinaus würde der Vorstand das Netz nach außen repräsentiert und könnte ihm so zu einer unverwechselbaren Identität verhelfen. Der Vorstand des IGV-Netzes Erlangen könnte sich paritätisch aus einem Vertreter der Ärzteschaft und einem Vertreter der Krankenkassen zusammensetzen. Übertragung administrativer und koordinierender Aufgaben auf einen Netzmanager Die Vorteile, die sich aus der Übertragung administrativer und koordinierender Tätigkeiten in den Kompetenzbereich eines Netzmanagers ergeben, wurden aus-

197

Doreen Bruhnke führlich unter den Gliederungspunkten 3.2.1 – 3.2.3 dargestellt. Im Rahmen des IGV-Vertrages zur Durchführung ambulanter Operationen wurde bisher kein Netzmanager benannt. Der Großteil der anfallenden organisatorischen Aufgaben, wie OP-Management, Rechnungsstellung und Honorarverteilung, werden vom AOZ wahrgenommen. Mit einer sukzessiven Erweiterung des Versorgungsauftrages auf andere Fachgebiete und Versorgungsstrukturen, würden neben den administrativen Tätigkeiten auch koordinierende und steuernde Aufgaben zunehmen. In diesem Fall ist eine Übertragung administrativer und organisatorischer Aufgaben auf einen Netzmanager zu empfehlen. Dies kann sich daneben auch positiv auf die Patientenbetreuung auswirken, da diese dann noch zielgerichteter, effizienter und integrativer erfolgen kann. Der Netzmanager des IGV-Netzes Erlangen könnte darüber hinaus in der Verantwortung stehen, eine netzinterne Kommunikationsplattform aufzubauen und die Umsetzung der Netzziele zu überwachen. Des Weiteren könnte er die Versorgungsprozesse auf ihre Effizienz und Patientenbezogenheit hin überprüfen und gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge unterbreiten. Eine wesentliche Aufgabe des Netzmanagers ist in dem Aufbau von Beziehungen und Netzwerken zu anderen Einrichtungen und Institutionen des Gesundheitswesens zu sehen. Damit verschafft er dem Netz die Informationsbasis, die notwendig ist, um rechtzeitig auf gesundheitspolitische Veränderungen reagieren zu können und das Versorgungsnetz im Sinne einer lernenden Organisation weiterzuentwickeln. Der Netzmanager kann zudem die Funktion eines Vermittlers zwischen den Vertragsparteien einnehmen. Wie sich zeigt, ist der mögliche Aufgabenbereich eines Netzmanagers des IGVNetzes Erlangen sehr umfangreich. Die Vertragsparteien werden letztendlich entscheiden müssen, inwieweit sie die Wahrnehmung dieser Aufgaben für notwendig erachten.

198

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen

4

Qualitätsmanagement und medizinische Qualitätssicherung

4.1

Rechtliche Anforderungen an die medizinische Qualitätssicherung ambulant durchgeführter Operationen

Qualität ist ein weiter Begriff. Die folgende Definition ist bewusst kurz gefasst, um das Wesentliche herauszustellen. Unter Qualität wird die „realisierte Beschaffenheit einer Einheit bezüglich der Qualitätsanforderungen“107 verstanden. Es gibt zahlreiche rechtlichen Anforderungen, die die Qualität und Sicherheit von Produkten und Dienstleistungen in Deutschland gewährleisten sollen. Hart und Franke haben die vielfältigen rechtlichen Aspekte des Qualitätsmanagements zusammengetragen und einen Regelungszusammenhang hergestellt. Demnach wird das Qualitätsmanagement in Deutschland von folgenden rechtlichen Regelungen determiniert: Vertragsrecht Das Vertragsrecht befasst sich mit der zwischen den Vertragsparteien vereinbarten Qualität der medizinischen Leistungen.108 Sozialrecht Das Sozialrecht definiert im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung Anforderungen an Produkte und Dienstleistungen und begründet gleichzeitig die Leistungsansprüche der Versicherten.109 Es weist konkrete landes- und bundesrechtliche Regelungen zur Qualitätssicherung auf. Auf Landesebene regelt das Heilberuferecht der Länder über die Kammergesetze und die Satzungen der Ärztekammern die Berufsausübung der Ärzte. Auf Bundesebene ergänzt das Sozialgesetzbuch V (SGB V) die landesrechtlichen Vorschriften.110

107 Bruhn, M., (2003), S. 54 108 Vgl. Hart, D., Franke, R., 109 Vgl. Hart, D., Franke, R., 110

(2001), S. 129 (2001), S. 129 Vgl. Hart, D., Franke, R., (2001), S. 135

199

Doreen Bruhnke Wichtige qualitätsbezogene Paragraphen des SGB V in Bezug auf die Durchführung ambulanter Operationen im Rahmen einer Integrierten Versorgung sind: Paragraph

Inhalt

§ 2 SGB V - Leistungen

Die medizinischen Leistungen müssen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und dem medizinischen Fortschritt entsprechen.

§ 70 SGB V - Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit

§ 95 d SGB V Pflicht zur fachlichen Fortbildung § 135 a SGB V Verpflichtung zur Qualitätssicherung

§ 136 a SGB V Qualitätssicherung in der vertragsärztlichen Versorgung

200

Leistungserbringer und Krankenkassen müssen den Versicherten eine bedarfsgerechte, gleichmäßige und dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung gewährleisten. Die Versorgung soll zugleich ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich sein und in der gebotenen fachlichen Qualität erbracht werden. Die Vertragsärzte müssen sich zur Durchführung der vertragsärztlichen Versorgung fachlich fortbilden. Die Fortbildungen sind alle fünf Jahre gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung nachzuweisen. Die Leistungserbringer müssen die Qualität, der von ihnen erbrachten Leistungen sichern und weiterentwickeln. Des Weiteren müssen sich die Vertragsärzte an einrichtungsübergreifenden Qualitätssicherungsmaßnahmen beteiligen und ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement einführen und weiterentwickeln. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) legt in Richtlinien die Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement und verpflichtende Qualitätssicherungsmaßnahmen gemäß § 135 a SGB V fest.

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen

§ 137 a SGB V – Umsetzung der Qualitätssicherung und Darstellung der Qualität

§ 137 b SGB V Förderung der Qualitätssicherung in der Medizin

§ 139 a SGB V - Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen § 140 b (Abs. 3) SGB V - Verträge zu integrierten Versorgungsformen

Der G-BA beauftragt, zur Sicherung der einrichtungsbzw. sektorenübergreifenden Qualität, eine unabhängige Institution mit der Entwicklung eines Verfahrens zur Messung und Abbildung der Versorgungsqualität. Diese Institution soll sich auch an der Durchführung der einrichtungsübergreifenden Qualitätssicherung beteiligen. Der G-BA dokumentiert sektorenübergreifend den aktuellen Stand der Qualitätssicherung in einem regelmäßigen Bericht. Zudem müssen die Wirksamkeit der eingeführten Qualitätssicherungsmaßnahmen beurteilt, Perspektiven zur Weiterentwicklung benannt und Empfehlungen für eine sektoren- und berufsgruppenübergreifende Qualitätssicherung erarbeiten werden. Der G-BA gründet ein fachlich unabhängiges, rechtsfähiges wissenschaftliches Institut, das wissenschaftliche Ausarbeitungen, Gutachten und Stellungnahmen bezüglich der Qualität und Wirtschaftlichkeit von Leistungen, die im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden, erstellt. Die Leistungserbringer integrierter Versorgungsnetze sind zu einer qualitätsgesicherten, wirksamen, ausreichenden, wirtschaftlichen und zweckmäßigen Versorgung der Versicherten verpflichtet. Die Vertragspartner müssen für die vertraglich geregelte Versorgung organisatorische, betriebswirtschaftliche, medizinische und medizinisch-technische Voraussetzungen schaffen, die dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen.

Haftungsrecht Das Haftungsrecht begründet Schadensersatzansprüche der Patienten. Der zu Schaden gekommene Patient hat, gesetzt den Fall, dass die zu erwartende bzw. aufgrund der erforderlichen Sorgfalt zu gewährleistende Qualität der medizinischen Dienstleitung, nicht gewährleistet wurde, einen Anspruch auf Schadenser-

201

Doreen Bruhnke satz.111 Das Haftungsrecht umfasst sowohl die klassische Arzthaftung z.B. im Falle einer Pflichtverletzung durch die Injektion eines falschen Medikaments als auch die unternehmerische Organisationshaftung. Die Einrichtung eines geeigneten Qualitätsmanagement- oder Qualitätssicherungssystems kann den Praxisleiter von der unternehmerischen Organisationshaftung nicht aber von der klassischen Arzthaftung entlasten.112 Sicherheitsrecht Das Sicherheitsrecht stellt als öffentliches Recht, z.B. Arzneimittelgesetz (AMG), Qualitätsanforderungen an Produkte und Anlagen und macht von deren Einhaltung die Inbetriebnahme oder Verkehrsfähigkeit abhängig.113 Im Sicherheitsrecht wird bisher kein explizites Qualitätsmanagementsystem verbindlich vorgeschrieben. Die Wahl eines Systems wird den Unternehmern überlassen.114 Berufsrecht Das Berufsrecht verpflichtet die Ärzte zur Fortbildung, zur Qualitätssicherung und zur gewissenhaften Versorgung der Patienten mit geeigneten Behandlungsmethoden. Die Berufsordnungen konkretisieren die gesetzlichen Vorgaben für die Ärzte. Berufsordnungen werden auf der Grundlage der HeilberufeKammergesetze der einzelnen Bundesländer von den Ärztekammern beschlossen. Neben den zahlreichen rechtlichen Anforderungen, die die Qualität und Sicherheit von Produkten und Dienstleistungen in Deutschland gewährleisten sollen, können integrierte Versorgungsnetze eigene Qualitätsanforderungen definieren. Aus dem vielfältigen Angebot an Qualitätssicherungsmaßnahmen werden fünf Instrumente zur Wahrung und Verbesserung der Qualität herausgegriffen und detaillierter beschrieben.

111 Vgl. 112 Vgl. 113 Vgl. 114

Hart, D., Franke, R., (2001), S. 129 Hart, D., Franke, R., (2001), S. 132 f. Hart, D., Franke, R., (2001), S. 129 Vgl. Hart, D., Franke, R., (2001), S. 134

202

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen

4.2

Zertifizierung

Mit Inkrafttreten des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes am 01.01.2004 wurde die Einführung und Weiterentwicklung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements für die niedergelassenen Ärzte verpflichtend.115 Gängige Modelle zur Verbesserung der Qualitätsmaßnahmen im Sinne eines internen Qualitätsmanagements sind das EFQM116 (European Foundation for Quality Management)-Modell, Zertifizierungen nach den ISO-Normen 9000ff.117 und KTQ118 (Kooperation für Transparenz und Qualität im Krankenhaus). Der Integrationsvertrag zur Durchführung ambulanter Operationen fordert, im Gegensatz zum Gesetzgeber, von den Leistungserbringern eine Zertifizierung nach einem der bekannten Qualitätsmanagementsysteme ein. „Die Zertifizierung ist eine Maßnahme durch einen unparteiischen Dritten, die aufzeigt, dass angemessenes Vertrauen besteht, dass ein ordnungsgemäß bezeichnetes Erzeugnis, Verfahren oder eine ordnungsgemäß bezeichnete Dienstleistung in Übereinstimmung mit einer bestimmten Norm oder einem bestimmten anderen normativen Dokument ist.“119 Das Ambulante Operationszentrum sowie alle Operateure, die im Rahmen der Integrierten Versorgung die Versicherten der beteiligten Krankenkassen behandeln, sind nach DIN EN ISO 9001:2000 zertifiziert. Die Abkürzungen in der Bezeichnung der Norm stehen für „Deutsches Institut für Normung“120 (DIN), „Europäische Norm“121 (EN) und „International Standards Organization“122 (ISO). Sie sagen aus, dass die Norm sowohl in Deutschland als auch in Europa und weltweit in dieser Form Anwendung findet. Zum Erhalt eines Zertifikats werden die Anforderungen der Norm dahingehend überprüft, ob sie mit der tatsächlichen Vorgehensweise übereinstimmen. Die Ärzte dokumentieren in einem Qualitätsmanagementhandbuch alle Informationen, welche die Planung, Umsetzung und kontinuierlichen Verbesserung des Qualitätsmanagementsystems betreffen. Eine externe Zertifizierungsstelle über115 Vgl. § 135 a Abs. 2 SGB V 116 Vgl. www.quality.de/lexikon/efqm.htm, Stand: 07.06.2007 117 Vgl. www.quality.de/lexikon/zertifizierung.htm, Stand: 07.06.2007 118 Vgl. www.quality.de/lexikon/ktq.htm, Stand: 07.06.2007 119 www.quality.de/lexikon/zertifizierung.htm, Stand: 07.06.2007 120 www.quality.de/lexikon/din.htm, Stand: 07.06.2007 121 www.quality.de/lexikon/en_iso.htm, Stand: 07.06.2007 122

www.quality.de/lexikon/iso.htm, Stand: 07.06.2007

203

Doreen Bruhnke prüft in regelmäßigen Abständen die Einhaltung der Vorgaben. Diese Überprüfungen werden als Audits bezeichnet.123 Die Zertifizierung selbst stiftet dem Netz sowohl extern als auch intern einen Nutzen. Die externe Nutzenwirkung lässt sich wie folgt darlegen: Ein Zertifikat stellt nicht zwingend die Einhaltung der Qualitätsstandards durch die zertifizierte Praxis sicher, aber es kann die Unsicherheit der Patienten bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen minimieren. Das Zertifikat hat einen hohen Informationsgehalt für die Kunden. Es sagt aus, dass eine unabhängige Zertifizierungsstelle die Einführung und Umsetzung des Qualitätsmanagements in der betreffenden Praxis überprüft und für normgerecht befunden hat. Dadurch wird die Transparenz des medizinischen Leistungsangebots erhöht. Zudem kann die Zertifizierung die Versorgungsqualität in einem von Konkurrenz geprägten Markt werbewirksam nach außen sichtbar machen.124 Die interne Nutzenwirkung, die von einer Zertifizierung ausgeht, kann wie folgt beschrieben werden: Eine Zertifizierung trägt zur Verbesserung der KostenNutzen-Relation und zu einer Effizienzsteigerung bei. Diese werden vor allem durch die Minimierung von Verlusten, Gewährleistungen und Behandlungsfehlern als auch durch eine Steigerung der Produktivität realisiert. Außerdem kann eine Zertifizierung dazu beitragen die Mitarbeitermotivation und das Qualitätsbewusstsein zu erhöhen.125 Die beteiligten Krankenkassen des IGV-Netzes wollen mit der Forderung nach einer Zertifizierung die Einhaltung bestimmter Mindeststandards durch die Leistungserbringer sicherstellen.

4.3

Leitlinien und Leistungsbeschreibungen

Die Versorgungsqualität eines integrierten Versorgungsnetzes kann durch die Implementierung medizinischer Leitlinien erhöht werden. Daher sollte die Einhaltung von Leitlinien verbindlich geregelt werden. Medizinische Leitlinien können als Standards für die Behandlung bestimmter Diagnosen verstanden werden, die in einem festgelegten Verfahren, basierend 123 Vgl. 124 Vgl. 125

Schlick, S., (2004), S. 28 Courte-Wienecke, S., (2002), S. 55 Vgl. Bruhn, M., (2003), S. 292 f.

204

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen von mehreren Experten aus unterschiedlichen Fachbereichen und Arbeitsgruppen, entwickelt wurden und regelmäßig aktualisiert werden. Dabei stellen Leitlinien keine für den Arzt verpflichtende Behandlungsmaxime dar, vielmehr sind sie als richtungweisende Empfehlung zu verstehen, von der in begründeten Einzelfällen abgewichen werden kann.126 Aufgrund der Vielzahl an nationalen und internationalen Leitlinien zu den verschiedensten Themengebieten wurde im Jahr 1999 die Schaffung eines deutschen Leitlinien-Clearingverfahrens beschlossen. Ziel dieses Verfahrens, dessen Träger die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung sind, ist es Leitlinien qualitativ zu bewerten und die Bewertungsmaßstäbe transparent zu machen.127 Trotz der dadurch geschaffenen Transparenz bei der Auswahl qualitativ hochwertiger Leitlinien, weisen diese noch einen entscheidenden Nachteil für die Versorgung von Patienten innerhalb eines integrierten Versorgungsnetzes auf. Leitlinien lassen sich in der Regel nur auf einen Teilbereich der komplexen Patientenversorgung anwenden.128 Die zentrale Gestaltungsaufgabe des Qualitätsmanagements in der Integrierten Versorgung ist jedoch in der Koordination der facharzt- bzw. sektorenübergreifenden Versorgung der Patienten zu sehen. Bei der Umsetzung des Integrationsvertrages zur Durchführung ambulanter Operationen in Erlangen ist vor allem eine Abstimmung der prä-, peri- und postoperativen Leistungen hinsichtlich der Verantwortungsbereiche Orthopädie bzw. Gynäkologie und Anästhesie erforderlich. Zu diesem Zweck haben sich die Vertragsparteien neben der verpflichtenden Einhaltung von ausgewählten Leitlinien auf das Instrument der Leistungsbeschreibung verständigt. Diese wurden für alle Indikationsbereiche des Versorgungsauftrags erstellt und deren Anwendung vertraglich verankert. Die Leistungsbeschreibung ist ein strukturiertes Gestaltungsinstrument, welches die Aufgabenverteilung zwischen den beteiligten Partnern abbildet. Das bedeutet, dass mittels der Leistungsbeschreibung die Antwort auf die Frage, wer welche Leistungen wann zu erbringen hat, gegeben wird. Sie tragen somit entscheidend zur Erhöhung der Transparenz bei.

126 Vgl. 127 Vgl. 128

Kirchner, H., Ollenschläger, G.,(2003), S. 67 Kirchner, H., Ollenschläger, G.,(2003), S. 95 Vgl. Kirchner, H., Ollenschläger, G.,(2003), S. 103

205

Doreen Bruhnke Ein ähnliches Ziel wird mit der Implementierung klinischer Pfade in Krankenhäusern verfolgt. „Ein Klinischer Pfad ist ein im Behandlungsteam selbst gefundener, berufsgruppen- und institutionsübergreifender Konsens für die beste Durchführung der gesamten stationären Behandlung unter Wahrung festgelegter Behandlungsqualität, sowie unter Berücksichtigung der notwendigen und verfügbaren Ressourcen, ebenso unter Festlegung der Aufgaben sowie der Durchführungs- und Ergebnisverantwortlichkeiten“129 Orientieren sich integrierte Versorgungsnetze bei der Erstellung von Behandlungspfaden an dieser Definition, so könnte das Ergebnis ein berufsgruppenübergreifender, Verantwortlichkeiten und Ressourcen abbildender Prozess sein, der alle Behandlungsschritte nachzeichnet, die unter Einhaltung eines Qualitätsstandards erforderlich sind, um den Versorgungsauftrag zu erfüllen. Derartige Pfade bzw. Leistungsbeschreibungen können den Leistungserbringern darüber hinaus einen großen Nutzen bei der Verhandlung von Integrationsverträgen stiften. Die abschließende und detailliert Beschreibung des Behandlungsprozesses kann Differenzen zwischen den Vertragsparteien vorbeugen und den Kostenträgern zu mehr Transparenz und einem besseren Verständnis der Leistungsinhalte verhelfen. Außerdem können die Leistungserbringer anhand der Pfade die Vergütung der Leistungskomplexe indikationsbezogen kalkulieren und haben somit eine solide Grundlage für die Vergütungsverhandlung.130 Die Vertragsparteien des Integrationsvertrages zur Durchführung ambulanter Operationen haben sich diese Vorteile durch die Definition der Leistungsbeschreibungen zu Nutze gemacht.

4.4

Externe vergleichende Evaluation und Benchmarking

Neben den internen Qualitätsverbesserungsmaßnahmen zu denen die Zertifizierung, Leistungsbeschreibungen und die regelmäßigen Qualitätstreffen gezählt werden können, spielt die externe Qualitätsmessung bei der Gewährleistung der Netzqualität eine entscheidende Rolle. Dabei sollten sich Qualitätsmessung und Qualitätsverbesserungsmaßnahmen wechselseitig bedingen.131

129 Roeder, N., Hindle, D., Loskamp, N., u.a., (2003), S. 21 130 Vgl. Liebsch, B., Henze, H., Schmidt, J., u.a., (2004), S. VII-8 131

Vgl. Courte-Wienecke, S., (2002), S. 53

206

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen Im IGV-Netz Erlangen haben sich die Vertragspartner auf Leistungserbringerseite zum Einsatz eines wissenschaftlich anerkannten Qualitätssicherungssystems mit dem Namen AQS1 (Ambulantes Qualitätssicherungssystem 1) verpflichtet. Mit AQS1 können Behandlungsdaten und Daten aus der Patientenbefragung für ambulante Operationen evaluiert werden. Eine unabhängige Auswertungsstelle, Medical Tex, erfasst die Daten aller Praxiskliniken die AQS1 verwenden und erstellt in regelmäßigen Abständen Qualitätsberichte. Am 13.06.2007 umfasste die AQS1-Datenbank laut Medical Tex bundesweit über 400 Praxiskliniken. Diese Zahl gibt Aufschluss über die beteiligten Praxen jedoch nicht über die tatsächliche Anzahl der einzelnen Ärzte, die innerhalb der Praxiskliniken AQS1 anwenden. Die Qualitätssicherung nach AQS1 basiert auf einer einrichtungsvergleichenden Qualitätsmessung. Diese erfolgt anhand von Qualitätsindikatoren, die den Qualitätsdimensionen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität entsprechen.132 Die Evaluation stützt sich auf die prä-, intra-, und postoperativen Behandlungsdaten, die mit Hilfe eines zweigeteilten Fragebogens erhoben werden. Dadurch ist eine kombinierte Befragung von Arzt und Patient möglich.133 Im Arzt-Modul erfassen die Ärzte des IGV-Netzes differenziert nach den Fachbereichen Anästhesiologie, Orthopädie bzw. Gynäkologie die wichtigsten Behandlungsdaten. Die Operateure dokumentieren unter anderem Diagnose, Therapie, medizinische Risikofaktoren sowie die Einleitungs- und Schnitt-Naht-Zeit. Die Anästhesisten erfassen die Art der Anästhesie, die Medikation und intraoperative Komplikationen.134 Die Ärzte des IGV-Netzes Erlangen erheben über den AQS1-Bogen nicht nur die Behandlungsdaten der IGV-Patienten sondern auch die von Patienten der Regelversorgung. Eine gesonderte Kennzeichnung der IGV-Bögen findet nicht statt. Die ausgefüllten Dokumentationsbögen werden seitens der Ärzte an die neutrale und unabhängige Auswertungsstelle, Medical Tex, weitergeleitet. In dem Patientenfragebogen bewerten die Patienten den gesamten Behandlungsverlauf. Er gibt somit Aufschluss über die Patientenzufriedenheit. Die Patienten erhalten nach Abschluss der Operation den Fragebogen mit der Bitte, diesen innerhalb von zwei Wochen nach der Operation auszufüllen und an Medical Tex zu senden. Mit Hilfe einer Identifikationsnummer, die sowohl auf dem Arzt- als 132 Vgl. 133 Vgl. 134

Medical Tex, (2003), S. 4 Medical Tex, (2007b), Stand: 11.05.2007 Vgl. Medical Tex, (2007a), Stand: 11.05.2007

207

Doreen Bruhnke auch dem Patientenfragebogen vermerkt ist, kann Medical Tex eine eindeutige Zuordnung der beiden Bestandteile zu der jeweiligen Praxis vornehmen. Anschließend werden die Daten von Medical Tex streng anonymisiert erfasst.135 Alle an der Evaluation beteiligten Praxen erhalten jeweils nach Ablauf eines Quartals einen umfassenden, standardisierten Qualitätsbericht. Dieser Standardqualitätsbericht setzt sich aus fünf Bereichen zusammen: x

Allgemeine Daten zu den Patienten (wie Alter, Geschlecht, allgemeiner Gesundheitszustand).

x

Allgemeine Daten zu den Operationen (wie Medizinische Risikofaktoren, perioperative Medikation).

x

Komplikationen und Beschwerden (wie intraoperative und postoperative Komplikationen und Beschwerden zu Hause und im Aufwachraum).

x

Patientenzufriedenheit (mit dem Operateur, dem Anästhesisten und dem Service).

x

Individuelle Auswertung (jede Praxis kann sich aus einem Katalog vorgegebener Fragestellungen einzelne auswählen)136.

Der Qualitätsbericht bildet, basierend auf den letzten Erhebungen, die praxiseigenen Mittelwerte im zeitlichen Verlauf ab. Darüber hinaus kann jede Praxis ihre Mittelwerte mit den durchschnittlichen Ergebnissen des Gesamtkollektivs vergleichen. Der Durchschnittswert des Gesamtkollektivs dient als Referenzwert. Positive Abweichungen des praxiseigenen Mittelwertes vom Referenzwert werden als überdurchschnittliches Ergebnis (vgl. grauer Balken, Abb. 7) gewertet. Negative Abweichungen stellen demzufolge ein unterdurchschnittliches Ergebnis (vgl. gestrichelter Balken, Abb. 7) und keine Abweichung ein neutrales, durchschnittliches Ergebnis dar. Das einzelne Operationszentrum bzw. der einzelne Arzt kann seine Position innerhalb des Gesamtkollektivs erkennen und zudem individuelle Stärken und Schwachpunkte ausmachen. Dies gibt ihm die Möglichkeit Maßnahmen zur Überwindung der Schwachpunkte und zur Forcierung der Stärken zu entwickeln und umzusetzen. Der Erfolg oder Misserfolg dieser Maßnahme kann dann wiederum in den Qualitätsberichten der folgenden Quartale abgelesen werden.137 135 Vgl. 136 Vgl. 137

Medical Tex, (2005), Stand: 05.04.2005 Medical Tex, (2003), S. 8 Vgl. Medical Tex, (2003), S. 8

208

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen

M W

Ausstattung der Praxis

1,4 7

Organisation und Terminplanung

Vergleich

Verlauf

1,73

1-2

4-5

- 1,66 - 1,47

97 %

0%

1,34

1,54

1,4 5

1,36

1,54

1,72

- 1,62 - 1,44

96 %

0%

Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft

1,2 6

1,19

1,36

1,53

- 1,40 - 1,23

99 %

0%

Erklärung des organisatorischen Ablaufs

1,6 0

1,39

1,58

1,76

- 1,67 - 1,49

93 %

0%

Q2

Q3

Q4

Q1/2005

Abb. 7: Patientenzufriedenheit mit der Praxis und dem Praxisteam Das Qualitätssicherungssystem AQS1 kann somit als Instrument zur Evaluierung und vergleichenden Analyse der Behandlungsdaten im Sinne eines evaluierenden Benchmarking verschiedener ambulant tätiger Operationszentren bezeichnet werden. Evaluierendes Benchmarking ist definiert als „…Prozess des vergleichenden Messens eigener Leistungsmerkmale mit den Leistungseigenschaften anderer. Unterschiede in der Ausprägung der Merkmale werden zum Anlasse genommen, um eine schrittweise Annäherung an und Identifizierung von denjenigen Schwachstellen zu erreichen, deren Änderung ein bedeutsames Verbesserungspotential besitzt. Kennzeichen des evaluativen Benchmarking ist die Heranziehung quantifizierbarer Leistungsmerkmale.“138 In Abgrenzung zum evaluierenden Benchmarking kann das adaptive Benchmarking genannt werden. Bei 138

Bornemeier, O., (2002), S. 67 f.

209

Doreen Bruhnke dem adaptiven Benchmarking werden „anstatt für erkannte Probleme eine eigenständige Lösungen zu entwickeln, [...] als besser bewertete Lösungen anderer nachgeahmt und adaptiert.“139 Die Krankenkassen des IGV-Netzes Erlangen erhalten innerhalb von zwei Monaten nach Ablauf eines jeden Quartals den Standardqualitätsbericht des AOZ Erlangen. Damit sind die Voraussetzungen für eine gemeinsame Analyse und Bewertung der Berichte hinsichtlich der Erreichung der Netzziele durch die am IGV-Netz beteiligten Krankenkassen und Ärzte gegeben. Für die Ableitung relevanter Maßnahmen sollte sichergestellt werden, dass die Berichte unmittelbar die Qualität des IGV-Netzes abbilden. Dies ist zu erreichen indem die Evaluation nur für IGV-Patienten vorgenommen wird oder differenzierte Berichte für die Behandlungsergebnisse des IGV-Netzes bzw. der Regelversorgung erstellt werden. Darüber hinaus können einzelne Krankenkassen bzw. Kooperationen von Krankenkassen die Standardqualitätsberichte ihrer IGV-Leistungserbringer als Basis für Institutionsvergleiche heranziehen. Auf diese Weise ließen sich Qualitätsunterschiede zwischen den betrachteten Einrichtungen feststellen. Bei der Auswahl der Einrichtungen ist zu beachten, dass nur Institutionen miteinander verglichen werden, mit denen ein gleiches Indikationsspektrum vereinbart wurde. In einen weiteren Schritt ist es denkbar, dass im Sinne eines adaptiven Benchmarking einzelne Kriterien gesondert aufgegriffen werden. So kann beispielsweise die Leistungsbeurteilung des Operateurs durch die Patienten ein Kriterium des Benchmarks sein. Die Einrichtung, die in dem jeweiligen Bereich die besten Ergebnisse erzielt hat, kann dahingehend befragt werden, wie sie die Prozesse und deren Umsetzung innerhalb der Praxis gestaltet hat. Ausgehend davon haben andere Praxen die Möglichkeit, ihre Prozesse zu optimieren. Die Möglichkeiten der Umsetzung eines adaptiven Benchmarking als Instrument zur Verbesserung der Versorgungsqualität sind jedoch kritisch zu hinterfragen. Ein adaptives Benchmarking erfordert die aktive Mitwirkung aller beteiligten Einrichtungen. Zum einen muss sich jede Einrichtung dazu bereit erklären, ihre praxisinternen Abläufe offen zu legen. Zum anderen müssen die Einrichtungen bereit sein, mögliche Umstrukturierungen für die Erreichung einer verbesserten Versorgungsqualität vorzunehmen. Die Initiative zur Durchführung eines adapti-

139

Bornemeier, O., (2002), S. 68

210

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen ven Benchmarking kann demzufolge nur von den Einrichtungen selbst ergriffen werden. Anders verhält es sich mit der vergleichenden Gegenüberstellung einzelvertraglich gebundener Einrichtungen, die im Rahmen von Integrationenverträgen ambulante Operationen durchführen. Die Krankenkassen können Qualitätsunterschiede zwischen den Einrichtungen identifizieren und ausgehend davon Qualitätsprofile für die einzelnen Institutionen erstellen. Diese können den Krankenkassen als Entscheidungshilfe bei vertragspolitischen Fragen dienen. Weist eine Einrichtung ein sehr gutes Qualitätsprofil auf, werden die Krankenkassen bestrebt sein, mit dieser Einrichtung auch zukünftig zusammenzuarbeiten und gegebenenfalls den Versorgungsauftrag auf weitere Indikationen anderer Fachbereiche auszudehnen.

4.5

Regelmäßige Qualitätstreffen

In dem Vertrag zur Durchführung ambulanter Operationen sind wirksame Qualitätsaspekte, wie die Zertifizierung der Leistungserbringer, externe Evaluation und die Anwendung von Leistungsbeschreibungen, verbindlich geregelt. Damit wurde die Grundlage für einen hohen Qualitätsstandard geschaffen. Qualitätsmanagement ist jedoch nicht statisch, sondern muss permanent weiterentwickelt werden. Hierzu bieten sich für das integrierte Versorgungsnetz Erlangen verschiedene Instrumente an. Insbesondere sind regelmäßige Qualitätstreffen zu nennen, an denen sich idealerweise alle Vertragsparteien beteiligen. Folgende Aspekte sind als Tagesordnungspunkte von Qualitätstreffen innerhalb des IGVNetzes Erlangen denkbar: x

Gemeinsame Bewertung der Standardqualitätsberichte, und der Infektionsstatistiken.

x

Erkennen von Stärken und Schwachpunkten in der täglichen Arbeit.

x

Entwicklung von Verbesserungsvorschlägen und Delegation dieser zur weiteren praxisbezogenen Ausarbeitung an Qualitätszirkel.

Die Standardqualitätsberichte bewerten vierteljährlich die dokumentierten medizinischen Daten des AOZ und die Daten aus der Patientenbefragung. Sie können als Grundlage für Qualitätsdiskussionen im Rahmen jährlicher bzw. halbjährlicher Qualitätstreffen herangezogen werden. Als Voraussetzung dafür ist eben-

211

Doreen Bruhnke falls eine Anpassungen bei der Datenerhebung zu nennen, so dass die Berichte unmittelbar die Qualität des IGV-Netzes abbilden. Neben den medizinischen Daten können vor allem die Ergebnisse der Patientenbefragung von Interesse für die Vertragsparteien sein. Die Patienten, die sich für die Behandlung in einem integrierten Versorgungsnetz entscheiden, stellen sich die Frage, welchen höheren Nutzen ihnen die Behandlung in einem Netz im Vergleich zur konventionellen Behandlung verschafft. Sie werden letztendlich darüber bestimmen, welchen Qualitätsanforderungen das Netz gerecht werden muss.140 Das Versorgungsnetz Erlangen hat die Patientenbefragung mit dem Einsatz der AQS1-Bögen unmittelbar in die Versorgungsprozesse integriert. Die Standardqualitätsberichte geben regelmäßig Auskunft über die Qualitätsbeurteilungen des Netzes durch die Patienten und damit auch Ansatzpunkte für Verbesserungsmaßnahmen. Regelmäßige Qualitätstreffen können für das Versorgungsnetz Erlangen von Vorteil sein, da sie eine Kommunikationsplattform schaffen, auf der sich Ärzte und Krankenkassen über die gewonnenen Informationen austauschen und die richtigen Schlüsse für eine Optimierung der Patientenversorgung ziehen können.

4.6

Definition medizinischer Qualitätsindikatoren

„Qualitätsindikatoren sind Maße, deren Ausprägungen eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter Qualität von Strukturen, Prozessen und/oder Ergebnissen der Versorgung ermöglichen sollen. Qualitätsindikatoren sind Hilfsgrößen, die die Qualität einer Einheit durch Zahlen bzw. Zahlenverhältnisse indirekt abbilden. Man könnte sie auch als qualitätsbezogene Kennzahlen bezeichnen.“141 Eine Sammlung spezifischer klinischer Messgrößen für das deutsche Gesundheitswesen existiert nicht. Es besteht jedoch die Möglichkeit auf international definierte Messgrößen zurückzugreifen.142 Für das integrierte Versorgungsnetz Erlangen kann der Standardqualitätsbericht als Grundlage für die Festlegung klinischer Messgrößen dienen. Die Vertragsparteien sollten sich gemeinsam auf Qualitätsindikatoren und deren Referenzbereiche verständigen. „Der Referenzbereich ist dasjenige Intervall, innerhalb dessen 140 Vgl. Hildebrand, R., (2001), S. 145 f. 141 Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung, 142

(2001), S. 8 Vgl. Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung, (2001), S. 8

212

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen die Ausprägung eines Qualitätsindikators als gut oder unauffällig definiert wird.“143 Die Evaluation medizinischer Behandlungsdaten in Form des Standardqualitätsberichts liefert zahlreiche Ansatzpunkte für die Definition netzinterner klinischer Qualitätsindikatoren. Ein Beispiel für einen Qualitätsindikator ist der Anteil behandelter postoperativer Komplikationen, differenziert nach: x

Entzündung

x

Thrombose

x

Bluterguss/Nachblutung

Auf die beispielhafte Festlegung eines Referenzbereichs wird an dieser Stelle verzichtet, da hierzu medizinische Fachkenntnisse erforderlich sind. Nachdem sich die Vertragsparteien auf die Einführung von Qualitätsindikatoren verständigt haben, sollten sie diese gemeinsam definieren und deren Einhaltung verbindlich festgelegt. Hierzu empfiehlt sich die Aufnahme der netzinternen Qualitätsindikatoren und ihrer Referenzbereiche in die Leistungsbeschreibungen. Die Festlegung und Überwachung der Einhaltung von Qualitätsindikatoren können zur zielorientierten Umsetzung der Behandlungskomplexe beitragen.

5

Thesenartige Zusammenfassung

Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die wesentlichen Ergebnisse des Beitrags. These 1: In Bezug auf die Integrierte Versorgung können Gemeinsamkeiten zwischen Krankenkassen und Ärzten hinsichtlich der Zielsetzungen festgestellt werden. Die Befragung der Vertragsparteien des Integrationsnetzes zur Durchführung ambulanter Operationen im Raum Erlangen hat gezeigt, dass es bei den Zielen der Ärzte und Krankenkassen, in Bezug auf die Ausgestaltung integrierter Versorgungsstrukturen, viele Übereinstimmung gibt. Gemein ist beiden Vertragsparteien, dass sie eine Verbesserung der Versorgungsqualität anstreben und gestaltend Einfluss auf die neuen Versorgungsstrukturen nehmen wollen. Sowohl Ärz143

Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung, (2001), S. 8

213

Doreen Bruhnke te als auch Krankenkassen sehen in der Integrierten Versorgung ein Instrument zur strategischen Positionierung. Damit ist eine sehr gute Ausgangsbasis für die Umsetzung innovativer Versorgungsmodelle geschaffen. These 2: Integrierte Versorgungsnetze brauchen ein professionelles Management. Mit dem Abschluss und der Umsetzung von Direktverträgen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern ergeben sich für die Vertragsparteien zusätzliche organisatorische Aufgaben. Neben verwaltungstechnischen Tätigkeiten sind vor allem die Zusammenarbeit der beteiligten Leistungserbringer und eine verbesserte datenbasierte Kommunikation sicherzustellen. Werden diese zusätzlichen Aufgaben nicht in den Verantwortungsbereich eines Netzmanagers übertragen, besteht die Gefahr, dass das Netz handlungsunfähig wird und auf äußere Veränderungen nicht rechtzeitig reagieren kann. In Abhängigkeit von der Größe eines Netzes und dem Umfang des Versorgungsauftrages hat jedes Versorgungsnetz für sich individuell zu entscheiden, ob die Aufgaben einem professionellen Netzmanager oder einem Partner übertragen werden. In beiden Fällen sind die Verantwortlichen mit den entsprechenden Handlungs- und Entscheidungsbefugnissen auszustatten. These 3: Die Implementierung qualitätssichernder Aspekte ist für integrierte Versorgungsnetze von entscheidender Bedeutung. Integrierte Versorgungsnetze sollen sich durch eine hohe Qualität und Effizienz der medizinischen Leistungserbringung auszeichnen. Zu diesem Zweck ist er erforderlich, Qualitätsstandards beispielsweise in Form von Behandlungspfaden, Leitlinien und Prozessbeschreibungen verbindlich festzulegen. Die Einhaltung der Standards ist regelmäßig zu überprüfen. Darüber hinaus können netzintern Qualitätszirkel organisiert werden, die Verbesserungsvorschläge aufgreifen und im Sinne einer Qualitätssicherung weiterentwickeln.

214

Netzmanagement und Qualitätssicherung in Integrierten Versorgungsnetzen These 4 Leistungstransparenz erhöht die Akzeptanz der Integrierten Versorgung bei den Patienten. Letztendlich werden die Patienten „mit den Füßen“ entscheiden, ob sich die IGV als Versorgungsmodell der Zukunft bewährt. Sie können zwischen der Behandlung im Rahmen einer Integrierten Versorgung und der konventionellen Versorgung frei wählen und werden nur dann die IGV präferieren, wenn damit Vorteile für sie verbunden sind. Es ist deshalb für jedes Versorgungsnetz von großer Bedeutung, den Patienten die Entscheidung für eine Behandlung im Rahmen der IGV durch Leistungs- und Qualitätstransparenz zu erleichtern. Die Offenlegung von Leistungs- und Qualitätsdaten liefert den Patienten die erforderliche Informationsbasis, die sie für die gezielte und individuelle Nutzung der neuen Versorgungsstrukturen benötigen. Darüber hinaus kann durch die geschaffene Vergleichbarkeit im Zuge der Veröffentlichung qualitätsrelevanter Aspekte die Anwendung einheitlicher Qualitätsstandards begünstigt werden.

215

Doreen Bruhnke

6

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Managementschriften Fachhochschule Ludwigshafen am Rhein Hochschule für Wirtschaft HERAUSGEGEBEN VON BEATE KREMIN-BUCH, FRITZ UNGER, HARTMUT WALZ Band 1: Band 2: Band 3: Band 4: Band 5: Band 6: Band 7: Band 8: Band 9:

Lernende Organisation, 3. Aufl., 2008 EDV-gestütztes Controlling, 1999 Die Zukunft der Banken – die Banken der Zukunft, 2002 Internationale Rechnungslegung. Aspekte und Entwicklungstendenzen, 2003 CFROI of Customer Relationship Management. Empirical Evidence from mySAP CRM Users, 2. Aufl. 2005 Wissen – das neue Kapital, 2004 Gesundheitsökonomie – Eine Langfristorientierung, 2005 Existenzgründung, 2005 Entwicklungslinien im Gesundheitswesen: Demographie und Integrierte Versorgung, 2008

Sonderbände: – Lernen durch Wandel – Wandel durch Lernen, 2004 – Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Modeerscheinung oder ökonomische Notwendigkeit? 2008