Englands Selbsttäuschung

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Vorbemerkung
Der „Cant" als politisches Prinzip
Methodik des politischen „Cant"
Frühste Vertreter und satirische Kritiker des poli-
Selbsttäuschung in der englischen Außenpolitik
Schlußwort

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Pamphlet Binder Gaylord Bros., Inc. Stockton, Calif. T. M. Reg. U. S. Pat. Off.

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Reinald Hoops

ZENTRALVERLAG DER NSDAP. FRANZ EHER NACHFOLGER GMBH., BERLIN

Reinald Hoops

Englands Selbsttäuschung

Schriftenreihe der NSDA P. Gruppe V.

Das ist England !

Reinald Hoops

Englands Selbsttäuschung

21-35. Taufend

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41

Zentralverlag der NSDAP., Franz Eher Nachf., Berlin

Alle Nechte vorbehalten / Printed in Germany Drud : Theodor Abb Buchdruckerei

Verlin SW 68

DAIIS H65

Inhalt

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Vorbemerkung I. Der englische Volkscharakter

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II. Der „Cant" im englischen Volkscharakter . III. Der „ Cant" als politisches Prinzip .

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IV. Methodik des politischen „ Cant"

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1. Allgemeines .

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2. England als Vorkämpferin des Friedens +



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4. England als Verteidigerin der kleinen Nationen

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5. England als Vorkämpferin der Demokratie

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6. Sonstige Schlagwörter des politiſchen „ Cant“

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7. Englands doppelte Moral

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8. Selbsttäuschung und Heuchelei

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3. England als Vorkämpferin der Freiheit

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VI. Selbsttäuschung in der englischen Außenpolitik der Gegenwart

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Schlußwort

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V. Frühste Vertreter und satirische Kritiker des politischen „ Cant" . ·

Vorbemerkung Jedes Volk hat seine besonderen Eigenheiten, und jedes hat bestimmte Auffassungen über die andern Völker dieser Welt. Bei genauerem Zusehen kann man allerdings fest. stellen, daß diese Eigenheiten, wie auch die Auffassungen anderer über sie, keineswegs so eindeutig sind, wie man glau ben könnte. Betrachten wir das Bild , das sich der Deutsche vom Engländer macht, so erkennen wir wohl die Umrisse eines Bildes, das der Auffassung der Mehrzahl der Deutschen ent spricht; sobald wir aber in die Einzelheiten gehen, müſſen wir feststellen, daß es innerhalb Deutschlands doch erhebliche Unter schiede in der Vorstellung über den Engländer gibt . Wie groß diese Unterschiede sind , können wir schon daraus ermeſſen, daß es Deutsche gibt, die stets geneigt sind , den Engländer und alles Englische zu bewundern, und wieder andere, die den Engländer geradezu als den Erzfeind der Menschheit, als den großen Heuchler und falschen Lügner verdammen. Es wäre intereſſant, diese verschiedenen Auffassungen mit allen ihren Schattierungen zu untersuchen, um festzustellen, welche dem wahren Bild des Engländers am nächsten kommt. Unsere Aufgabe kann dies hier nicht sein. Wir wollen uns darauf beschränken, eine der wichtigsten und umstrittenſten Eigenarten des englischen Charakters, die Selbsttäuschung , hier einer Beleuchtung zu unterziehen, um uns wenigstens darüber eine möglichst weitgehende Klarheit zu schaffen. Es wäre ein Leichtes, gerade am Beispiel der Selbst. täuschung, ein einheitlich schwarzes Bild vom englischen Menschen zu entwerfen. Dies würde aber vorausseßen, daß wir uns auf das Gebiet der Tagesgefühle begeben. Und in der Tat, in Zeiten kriegerischen Konflikts ist die Versuchung dazu 7

nicht gering. Wir wählen diesen Weg jedoch nicht. Das Fest halten an der Wahrheit ist von jeher ein hervorstechender Charakterzug des Deutschen gewesen und wird es auch weiter. hin bleiben. Wir sind der Überzeugung, daß wir es nicht nötig haben, den Gegner in den Schmuß zu ziehen, um ihn zu besiegen, sondern daß am Ende ſich doch die Wahrheit durchſeßen wird . Wenn wir im folgenden daher von Englands Selbsttäuschung schreiben, so soll unser auf die Wahrheit gerichteter Blick durch gefühlsmäßige Dinge nicht behindert werden. Es ist vielmehr unser Ziel, den Engländer in dieser ſeiner wichtigsten Eigenart richtig kennenzulernen, um ſo ſein Verhalten im privaten Leben wie in der Politik besser zu verstehen. Wenn man von der Selbsttäuschung eines Volkes spricht, so denkt man wohl zunächst an die falschen Auffassungen, die sich dieses Volk, seinen eigenen Zielen und Wünschen folgend, vor allem in Zeiten der Krise, von anderen Völkern und von der politischen Lage macht. Spricht man dagegen von Englands Selbsttäuschung, so drängen ſich daneben in erster Linie Begriffe wie „ Cant“ und „ Heuchelei “ auf. So müſſen wir hier auch zweierlei Selbsttäuschung unterscheiden: die eine, die zu den typischsten Charaktereigenschaften des englischen Volkes gehört, und die andere, die sich teilweise aus dieser, teilweise aber auch aus anderen Dingen ergibt und die zu dem völligen Verkennen der geſchichtlichen und politiſchen Lage unserer Zeit durch England geführt hat. Um die erſte, wir können ſagen die innere, psychologiſche Selbsttäuschung des Engländers richtig verstehen zu können, müſſen wir zunächst auf einige der wichtigsten Erscheinungen des engliſchen Volkscharakters eingehen.

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1.

Der englische Volkscharakter Untersucht man den Charakter eines Volkes, so ist man immer zu Verallgemeinerungen gezwungen . Wir wieſen bereits darauf hin, daß es kein Bild vom Charakter eines Volkes gibt, dem jeder einzelne Angehörige dieſes Volkes ganz entſpricht; es wird viele Fälle geben, wo es sogar nur in sehr wenigen Punkten zutrifft. Troßdem gibt es aber ein solches Allgemeinbild. Es segt sich wie ein Mosaik aus den hervorstechenden Eigenschaften der vielen einzelnen Mitglieder der Volks, gemeinſchaft zuſammen. Das gilt auch vom engliſchen Volkscharakter. Wenn es auch unmöglich ist, den Typus eines Engländers herauszustellen, der auf jeden einzelnen Engländer voll und ganz zuträfe, ſo läßt sich doch ein Allgemeintyp aufstellen, der für die Mehrheit des englischen Volkes charakteri, stisch ist. Nur das Erfaſſen dieſes völkischen Gesamttyps ermöglicht es uns, das fremde Volk und ſeinePolitik richtig zu verstehen. Im Zuſammenhang unſerer Untersuchungen intereſ siert uns aber der englische Volkscharakter nur in soweit, als er für unsere Belange von Bedeutung ist. Wir werden daher bei unserer Schilderung des englischen Volkscharakters bewußt eine Reihe von teilweiſe wichtigen Zügen auslaſſen, inſofern, als ſie für das, was wir zeigen wollen, ohne Belang sind. Was dem Deutschen, der nach England kommt, zuerst wohl am meisten in die Augen springt, ist die eigenartige Vermischung von alt und neu. Er sieht in London eine große Anzahl in allerjüngster Zeit entstandener Gebäude, er gewahrt einen überwältigenden Automobil- und Omnibusverkehr ; wenn es aber der glückliche Zufall will, daß er an einem Tag in London ankommt, an dem der Oberbürgermeister ſeinen

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Umzug durch die Stadt hält oder an dem das Parlament eröffnet wird, so kann er Zeuge einer geradezu mittelalterlichen Schaustellung sein. Jahrhundertealte goldene Kutschen sieht er an sich vorbeigleiten, alte Bräuche sieht er wie auf dem Theater mit größtem Zeremoniell vorgeführt, und er sieht die Männer des 20. Jahrhunderts in Perücken und Gewändern längst vergangener Zeiten. Es ist, als wäre die Geschichte stehengeblieben, als hätte sich seit Generationen und Generationen nichts geändert. Ähnliches kann man überall in England sehen. Es ist dies der sprechendste Beweis für die Traditionsgebundenheit des Engländers. In wohl keinem anderen Land der Erde spielt die Überlieferung eine solche Rolle wie in Eng land. Mit einer geradezu erstaunlichen Zähigkeit hält man an allen Einrichtungen und Gewohnheiten des Lebens fest. Man vererbt sie weiter, auch wenn sie längst ihren eigentlichen Sinn verloren haben. Und der Engländer, der heute eine solch mittel alterliche Prozession vor seinen Augen vorbeiziehen sieht, empfindet sie keineswegs als komisch oder lächerlich, sondern betrachtet sie ehrfürchtig und erschauert vor der von den Vorfahren überkommenen Macht und Stärke des engliſchen Wesens und Volkstums, das sich in ihr offenbart. Es ist daher verständlich, daß der Engländer sich nur äußerst schwer zur Abänderung einer solchen Überlieferung entſchließen kann. Dies trifft nicht nur auf äußerliche Erscheinungen wie etwa die erwähnten Umzüge zu, ſondern auch auf das gesamte englische Staats- und Privatleben. Der Engländer S. L. Hughes sagte einmal in ſeinem Buch über den engliſchen Volkscharakter: „ Es gibt mehr Engländer, die vor dem Neuen zurückschrecken, die die Neuheit in jeder Form argwöhnisch betrachten und die der festen Überzeugung sind, daß alle diejenigen, die sich von ihnen in irgendeiner Weise unterscheiden, Schurken ſind, als es Engländer von jedem anderen Typus gibt. "

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In dieser Traditionsgebundenheit liegt eine der Stärken, aber auch der Schwächen des englischen Volkes . Aus ihr schöpft der einzelne Engländer immer wieder Kraft und Stärke; er fühlt sich als ein Glied dieser langen Kette von Überlieferungen, er empfindet vielleicht seine eigene Kleinheit und Bedeutungslosigkeit innerhalb dieser Kette, aber er leitet davon auch sein Selbstbewußtsein und seine sichere Geborgenheit ab; er ist stolz, Träger einer solchen Tradition zu sein, stolz, Mitglied eines Volkes zu sein, das auf eine so alte nationale Geschichte zurückblicken kann. Und gleichzeitig leitet er daraus auch einen Teil ſeiner Verachtung für alle anderen Völker ab, die solche Überlieferungen nicht aufweisen oder fie gar nicht verstehen können. Der Engländer bezeichnet sich gerne als Individualist und liebt es, verächtlich von der Uniformität, etwa in Deutschland, zu reden. Wie sieht es mit dieſem Individualis , mus aus? Ein bekanntes englisches Sprichwort besagt : " Mein Haus ist meine Burg “, d . h. in ihm bin ich unumschränkter Herr und kann tun und laſſen, was ich will. Aber nicht nur innerhalb seiner vier Wände genießt der Engländer diese Unabhängigkeit. Der Gedanke, der diesem Sprichwort unterliegt, ist finngemäß auf das gesamte englische Leben zu übertragen. Der Engländer ist stolz darauf, daß er als britischer Bürger tun und laſſen kann, was er will. Er widersezt sich aufs heftigste jeglicher Reglementierung. Dieser Individualismus ist aufs engste verbunden mit der englischen Freiheitsliebe. Unter Freiheit versteht der Engländer in erster Linie die persönliche Freiheit, wir können fast sagen. die egoistische Freiheit, die ihm erlaubt, uneingeschränkt und jederzeit zu tun und zu laſſen, was er will. An diesem Freiheitsideal scheitern immer wieder die verschiedensten Versuche, die Staatsführung straffer zu organisieren; aus ihm heraus ist der Widerstand gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu verstehen, ebenso wie der für England so bezeichnende

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Hang, alles treiben zu lassen. Man plant nicht voraus, sondern man läßt die Dinge auf sich zukommen und entschließt fich erst dann (und erst möglichst spät) zum Handeln. Es ist dies ein Zug, den wir immer wieder in der englischen Geschichte erkennen können, wobei jedoch keineswegs bestritten werden soll, daß es auch in England Männer gegeben hat, die ein sichtsvoll vorausgeschaut und geplant haben. Die Mehrheit des Volkes aber kennt und erkennt ein solches Planen nicht. Der Engländer ist mit seiner zügellosen Freiheit und seinem Sich-treiben-Lassen (laissez faire) bisher keines wegs schlecht gefahren. Unter diesen Voraussetzungen war es einem jeden einzelnen möglich, seinem Egoismus freien Lauf zu lassen, unter diesen Voraussetzungen konnte England aber auch seine wirtschaftliche Vormachtstellung im 19. Jahr, hundert erringen. Der privaten Initiative und Sucht waren keine Schranken geseßt, die Wirtschaft konnte sich nach ihren eigenen Gefeßen und den Intereſſen ihrer Führer entwickeln . Daß damit gleichzeitig die Vorherrschaft des Großkapitals begründet und eine. Wirtſchaftsstruktur geſchaffen wurde, die zu den schwersten Konflikten führen mußte und auch geführt hat, daran dachte man nicht; außerdem ändert es auch nichts an der Tatsache, daß England all dem seine Vormachtstellung in der Welt verdankt. Mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit hängt der Engländer auch heute noch stark an dieser Überlieferung der individuellen Freiheit und des laissez faire, und wenn in anderen Teilen der Welt neue Gedanken auf, gekommen sind und neue Grundsäße vorherrschen, so betrachtet er diese mit größtem Argwohn und sogar stärkstem Abſcheu. Bis zu einem gewissen Grad ist also der Individualismus, ist die Freiheit des Engländers unbeſchränkt, auch heute noch. Das wirkt sich sogar in der Rechtsprechung aus. Der Engländer kennt kein Bürgerliches Gesetzbuch, kein kodifiziertes Recht. Es gibt für ihn kaum ein allgemein gültiges Geseß. Der Richter hat nicht nach festen Paragraphen zu entſcheiden,

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sondern sich nach den individuellen Gegebenheiten zu richten, nach dem Einzelfall. Da es aber eine Rechtsprechung ohne gewisse Normen nicht gibt, so leitet man in England dieſe Normen wiederum aus der Tradition ab, d. h. hier also aus den Präzedenzfällen. Damit kommen wir aber auch gleich zur Kehrseite des Individualismus und der Freiheitsliebe des Engländers. In der Theorie ist man völlig frei und ungebunden, kann man tun und laſſen, was man will ; in der Praxis aber ist man an die Tradition, an Konvention und Sitte aufs stärkste gekettet. Dem Deutschen, der England nicht kennt, ist es nur schwer verständlich, wie stark diese Bindung durch Herkommen und Brauch ist; sie hat eine fast noch stärkere Kraft als irgendeine Bindung durch Geſeße. Um ihre Bedeutung ganz zu erkennen, müſſen wir uns vergegenwärtigen, daß es für den Engländer ein Ideal des Menschen gibt, dem er nachstrebt, das Ideal des Gentleman. Gentleman bedeutete ursprünglich einen Edelmann, Kavalier, einen Vornehmen, wie das französische gentilhomme. Die Lebensweise des Gentleman, des Edelmanns, und ſein Benehmen wurden tonangebend für die bürgerlichen Mittelklassen und später auch für die aufstrebenden Unterklaſſen. Der Begriff des Gentleman wurde dementsprechend allmählich erwei tert und auch auf diejenigen Vertreter der andern Klaſſen übertragen, die sich eine feinere Bildung und gutes Benehmen erworben hatten . Heute braucht man nicht mehr dem Adel anzugehören, um ein Gentleman zu ſein; aber die Hauptmerk male dieses Ideals sind aristokratisch-plutokratisch geblieben. Da nun das ganze Volk vom Adligen bis herab zum kleinsten Arbeiter diesem Ideal anhängt, ergibt sich hieraus begreiflicherweise eine starke Bindung im ganzen Leben. Jeder Engländer will in ſeiner Art und nach seinen Möglichkeiten ein Gentleman sein. Daraus erklärt es sich, daß gute äußerliche Formen und gutes Benehmen in England weiter verbreitet sind als anderswo. Andererseits aber ergibt sich daraus auch

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das gleichmachende Element im englischen Volksleben. Troß allem Individualismus ist der Engländer doch Her denmensch , und er ist es gerade wegen dieses für alle gültigen Gentlemanideals, das durch die Verknüpfung mit dem zähen Hängen an der Tradition, das wir bereits feststellen konnten, eine noch stärker bindende Verpflichtung erhält. Derselbe Engländer, der sich gegen jede Staatsgewalt wehrt, der immer wieder auf seine persönliche Freiheit und Ungebunden. heit pocht, unterwirft sich stillschweigend und selbstverständlich dem Zwang, der sich aus der Tradition und aus dieſem geſellschaftlichen Ideal ergibt. Er folgt seinen gesellschaftlichen Führern; er sucht sich möglichst dem Ideal anzugleichen, das die jahrhundertealte Überlieferung ihm als nachahmenswertes Vorbild hinstellt. Aus diesem Aufschauen nach dem gemein. samen Vorbild ergibt sich der gleichmachende Herdendrang, der die englische Gesellschaft auszeichnet. Allerdings gibt es hier Schattierungen nach den Ständen und Berufsklassen. Standesunterschiede spielen in England eine bedeutende Rolle. Für den Richter hat das Gentlemanideal ein anderes Aussehen als für den Handwerker. Aber innerhalb einer bestimmten Volksschicht ist das Ideal gleich. Dies geht so weit, daß man nach der Zeitung, die einer liest, nach dem Stadtteil, in dem einer wohnt, nach dem Sport, den einer betreibt, Schlüſſe auf seine Standeszugehörigkeit ziehen kann. Aber über all dem schwebt immer das allgemeine Gentlemanideal. Das gilt besonders für den Mittelstand , aber auch für das Arbeitertum. Der Engländer richtet sein Handeln nicht sowohl nach dem ein, was er selbst vielleicht für richtig oder für wünschenswert halten möchte, ſondern nach dem, was „man “ tut. „Man“ wohnt in einer beſtimmten Gegend, „man“ ißt zu einer bestimmten Stunde zu Abend, „man “ benimmt sich so oder so usw. usw. Das hat aber mit Individualismus nichts zu tun, ſondern iſt das Kennzeichen eines ausgesproche-

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nen Herdeninstinkts. Es geht so weit, daß mancher Engländer im Einfügen in eine solche Zwangsjacke der Konvention seine wichtigste moralische Stüße erhält. „ Das tut man nicht“ ist für den Engländer bindender, als für den Deutschen Geseze oder Vorschriften ſein können. Auf diese Weise erhält die eng lische Freiheit und der englische Individualismus ſeine scharf umriſſenen Einschränkungen. Der Engländer, der nach Deutſchland kommt, empfindet (vor allem auf Grund der Propaganda, die vor dem Weltkrieg in dieser Richtung gemacht wurde) es als unerträglich, immer wieder auf das Wort „verboten“ zu stoßen. Er merkt dabei nicht, daß erſtens in England sicherlich ebensoviel verboten ist, nur daß man das Verbot dort in schönere, wenn auch oft umständlichere Worte kleidet, und daß er zweitens durch seine Konvention viel weitgehenderen Verboten unterworfen ist. Um aber dem Verlangen nach Freiheit und Individualität nicht zuwiderzulaufen, iſt man immer bestrebt, bei notwendig gewordenen Einschränkungen dieſer Freiheit durch den Staat nach Möglichkeit die Fiktion der Freiwilligkeit aufrechtzuerhalten. Der Individualismus ist, vor allem wenn er kraß vertreten wird, nichts anderes als Egoismus ; und der Engländer ist daher in der ganzen Welt wegen seines Egoismus bekannt. Im persönlichen Leben ist dieser allerdings keineswegs schrankenlos. Auch hier wirken Herkommen und Brauch als Hemmschuh; und ebenso findet der Egoismus an den Intereffen der Mitmenschen seine Grenzen . „Leben und leben lassen" ist ein bekanntes englisches Sprichwort. Wir werden später noch sehen, wie hier das Verhalten des Engländers in der Politik in besonders schroffem Gegensatz zu dem im Privatleben steht. Ein anderer, wichtiger Zug des englischen Volkscharakters ist der Wirklichkeitssinn . Das ganze Streben des Engländers ist auf das Praktische eingestellt. Dies äußert sich vor allem in seiner Geschäftstüchtigkeit ; nicht ohne Grund hat

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Napoleon daher die Engländer als eine „Nation von Krämern" bezeichnet. Die Interessen des Handels und auch des Geldbeutels stehen für den Engländer immer im Vordergrund, wenn er auch in seinem Geſchäftsgebaren deswegen nicht kleinlich und engherzig ist; im Gegenteil ist er hier stets zu großzügigen Unternehmungen bereit. Sein Wirklichkeitssinn stößt den Engländer immer wieder auf die Probleme der Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft interessieren ihn weniger ; die Vergangenheit nur insofern, als sie als ererbte Tradition wirksam ist. Selbst auf die Philosophie des Engländers hat sich dieser Wirklichkeitssinn ausgewirkt. Im Gegensaß zu Deutschland, wo der Idealismus stets eine erhebliche Rolle gespielt hat, zieht man sich in England mit Vorliebe auf die tatsächlichen Dinge zurück. Der „gesunde Menschenverstand " wird gern als lezter Richter herbeigerufen und hat auch in der Philosophie nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Es ist kein Zu fall, daß die Aufklärung im 18. Jahrhundert vornehmlich von England ihren Ausgang nahm. So gibt sich der Engländer nicht gern Träumereien hin, sondern er bleibt stets auf dem Boden der harten Wirklichkeit. Auch hat er wenig für Theorien übrig; das überläßt er, wie oft genug betont wird, dem Deutschen. Er selbst beschäftigt sich lieber mit Tatsachen. In der Politik führt dies zu der Vorherrschaft der Realpolitik, die ja eines der typischsten Merkmale engliſcher Politik iſt. In enger Verbindung mit dem Egoismus des Engländers und mit ſeinem Wirklichkeitssinn ſteht sein Streben nach Besit , Wohlstand und bequemem Leben. Fast das ganze englische Volk ist von ihm erfüllt. Die Vertreter der unterſten wie der obersten Schichten ſehen darin ihr höchſtes Ziel, viele sogar ihr einziges. Vermögend zu sein, um das Leben eines " Gentleman“ führen zu können ; soviel Geld zu haben, um sich mindestens äußerlich, was die Wohnung und deren Einrichtung angeht, möglichst weit diesem Ideal zu nähern: ißt der Wunſchtraum aller. (Urſprünglich gehörte es 16

zum „Gentleman", daß er ein unabhängiges Einkommen besaß und ganz seinen persönlichen Liebhabereien nachhängen konnte; heute ist davon fast nur noch die Pflege der eigenen Lieb habereien verblieben.) Dieses allgemeine Trachten nach Wohlstand führt aber zu einer starken Verflachung des englischen Lebens ; die geistigen Dinge stehen sehr im Hintergrund, während die materielle Kultur tonangebend ist. Und die große Rolle, die das Materielle im englischen Leben spielt, tritt auch in der Philosophie des Utilitarismus , wie sie vor allem von John Stuart Mill vertreten wurde, zum Vorſchein. Nach ihm und nach den Äußerungen seiner Anhänger soll es das höchste Ziel menschlichen Strebens sein, das größtmögliche Glück für eine größt mögliche Anzahl von Menschen zu erreichen. Wenn auch Mill und seine Anhänger diesen Utilitarismus streng vom Egois mus zu trennen versuchten, ſo beſteht kein Zweifel, daß in der Praris späterer Zeiten diese Philosophie sehr oft zu einer krassen Nüglichkeitslehre geführt hat. Man darf allerdings auf der anderen Seite auch nicht übersehn, daß diese Lehre der Glückbringung einen nicht unerheblichen Teil zu den hohen Leistungen beigetragen hat, die in England, bei Fehlen einer staatlichen Initiative, von privater Seite her immer wieder zur Förderung des Allgemeinwohls vollbracht wurden. Wir sahen bereits, daß der Engländer kein Freund von Theorien ist; ebenso stark ist seine Abneigung gegen jede Organiſation und Syſtematik. Schon in seinem Denken ist der Engländer durchaus unsystematisch. Er geht auch hier nicht von Theorien oder Systemen, sondern von den Dingen des praktiſchen Alltags aus. Ihn intereſſieren weniger die Ideen irgendeiner Bewegung, als vielmehr ihre praktiſchen Auswirkungen. Jedem Deutschen fällt dieser Unterschied auf. In einer Diskussion wird der Engländer sich weniger mit grundsäßlichen Erörterungen, als mit praktischen Beiſpielen aus dem Alltagsleben befassen. Wenn er z. B. den National-

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sozialismus angreift, so wendet er sich nicht gegen dessen Grundgedanken, ſondern er führt eine große Anzahl von Beiſpielen an, insbesondere von ihm zugetragenen Greuellügen (die er dabei natürlich als die Wahrheit anſieht), um die Verwerflichkeit dieſes Syſtems zu beweisen. Nur selten findet man in England Männer, die in der Lage sind, sich wirklich ernsthaft und tiefgehend mit solchen Problemen auseinanderzusetzen. Selbstverständlich werden auch in England Theorien aufgestellt. Da man aber mit Vorliebe von der praktiſchen Erfahrung ausgeht, werden diese Theorien auch vielfach unsyste matisch und zusammenhangslos. Dasselbe trifft auf das gesamte englische Leben zu ; man kann sich kaum ein Staatswesen vorstellen, das ſyſtemloſer als das engliſche ist. Beſonders kennzeichnend dafür ist vielleicht die Rechtsprechung. Es gibt in England, wie wir sahen, kein Gesezbuch (bürgerliches oder anderes) ; statt dessen gibt es nur einige Grundgeſeße und dann eine ungeheure Anzahl von Präzedenzfällen. Je besser ein Richter sich in den Prozeßakten auskennt, je genauer er über die Urteile seiner Vorgänger nicht nur, ſondern auch früherer Jahrhunderte unterrichtet ist, desto größer ist sein Ansehen und desto durchschlagender seine Urteilsprechung. In Ermangelung fester Geseze ist es jederzeit mög lich, aus der Vergangenheit irgendeinen Fall auszugraben und in Anlehnung an dieſen die gegenwärtige Rechtsprechung zu formen. Das unsystematische Denken des Engländers bewirkt aber auch, daß er, durch das Festkleben an den tatsächlichen Begebenheiten des Augenblicks, nicht so leicht die großen Zusammenhänge sieht. Dies macht sich vor allem, wie wir noch sehen werden, in der Politik und der politischen Propaganda bemerkbar, wo dem einzelnen Engländer die großen Widersprüche und das Messen mit zweierlei Maß überhaupt nicht bewußt werden. 18

Es ist aber klar, daß der Engländer auf Grund seines Wirklichkeitsſinns ſowohl im privaten und beſonders geschäftlichen Leben als auch im politischen stets zur Realpolitik neigt. Er wägt die Dinge kühl ab und trifft dann vom Nüglichkeitsstandpunkt aus seine Entscheidungen. Diese Entscheidung fällt er aber - und das ist ein weiteres wich tiges Merkmal des englischen Charakters erst, wenn es wirklich so weit ist, daß er eine Entscheidung treffen muß. Viele seiner Erfolge in der Politik verdankte England dieſem Verhalten. Fast nie hat es seine Stellung frühzeitig und eindeutig festgelegt, sondern es hat es vorgezogen zu warten, bis an allen anderen Stellen die Entscheidung gefallen war; dann war es leichter, den allein vorteilhaften und richtigen Entschluß zu fassen. Wir werden später noch sehen, wie schwerwiegend das Abweichen von dieser Tradition der späten Entscheidung bei der Erteilung der Blankovollmacht an Polen für das Geschick nicht nur Englands, ſondern Europas ier, den sollte. Es ist begreiflich, daß ein Mann, der seine Entscheidungen nur langsam und erst spät fällt, der ganz auf Realpolitik im öffentlichen wie im privaten Leben eingestellt ist, wenn es sein muß, auch gern zu Kompromissen bereit ist. Diese Kompromißlust des Engländers ist mitverantwortlich für das Fortbestehen alter, längst bedeutungslos gewordener Überlieferungen; auf ihr beruht aber auch die Tatsache, daß das nationale Leben Englands verhältnismäßig frei von Spannungen ist, daß die politischen Gegensäße tros der parlamentarischen Verfaſſung längst nicht solche Formen an genommen haben wie etwa früher in Deutschland. Wenn man England troßdem häufig - und nicht zu Unrecht als das Land der Gegensäße bezeichnet, so ist dies kein Widerspruch. Denn die Gegenſäße, an die man dabei denkt, sind derart, daß sie einfach in geradezu erstaunlicher Weise nebeneinander her bestehen, ohne dauernden Anlaß zu Kon-

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flikten zu geben. Erst im Konfliktsfall aber betätigt sich die englische Kompromißlust. Daß sie nur dann in Aktion tritt, wenn es den nationalen oder persönlichen Interessen nicht ganz kraß entgegenläuft, versteht sich von selbst. Als nüchterner Realist neigt der Engländer leicht zur Rücksichtslosigkeit und selbst Brutalität. Der Engländer R. H. Sherrard sagt in seinem Buch über Oscar Wilde: Die Engländer haben eine gewisse Blutrünſtigkeit und eine gewiſſe instinktive Grausamkeit, die selbst Jahrhunderte von praktischem Protestantismus nicht abzuſchwächen vermochten. Diese nationalen Eigenarten sind der Grund da für, daß nicht nur unsere Strafgesetzgebung die strengste in der Welt ist, sondern auch, daß eine Verurteilung den unmittelbaren und unwiderruflichen sozialen Tod des Verurteilten einschließt." Ein noch deutlicheres Beispiel eng. lischer Grausamkeit liefert uns der bekannte Schriftsteller 5. G. Wells. Im November 1914 schrieb er einen Aufsatz für die „Times “, in dem er die Möglichkeit eines deutſchen Einfalls in England in Erwägung zog. In dieſem Aufſag lesen wir: „ Wir würden einen jeden Deutschen einfach maſſakrieren, die Offiziere würden wir hängen und jeden ſonſtigen Mann niederschießen. Die deutschen Eindringlinge in England würden tatsächlich nicht niedergefochten werden, ſondern man würde sie lynchen.“ Troß dieser Neigung zur Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit hat sich der Engländer aber eine ausgesprochen weiche Ader bewahrt. Obwohl er sich oft und gern über die Gefühls. duselei des Deutschen lustig macht, legt er mitunter ſelbſt eine ausgesprochene Sentimentalität an den Tag. Sie äußert sich bei ihm weniger in einer Rührſeligkeit, als in der Richtung des Wunſchtraums. Der Engländer liebt es, sich in ideale Zustände hineinzudenken, die er dann mit den grellſten Farben ausmalt, wobei er oft die Grenze des Kitsches weit überschreitet. Dies zeigt sich vor allem beim Durch-

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ſchnittsengländer. In der Großstadt tritt es im Film und vor allem in Operetten und Revuen immer wieder deutlich hervor. Diese Sentimentalität tritt in erster Linie dann in Erschei nung, wenn die Beziehungen zwischen Mann und Frau dargestellt werden oder aber wenn es sich um Kinder handelt. Da diese Eigenschaft der ganzen angelsächsischen Welt (außer dem britischen Weltreich ganz besonders auch Amerika) eigen ist, wird sie von der englischen Propaganda gerne und mit Erfolg ausgenügt. Eine tatsächliche oder angebliche Mißhandlung von Frauen und Kindern bringt die ganze angel sächsische Welt zur Empörung. Der Engländer ist sich aber seines sentimentalen Zuges durchaus bewußt, und er ſucht ihm immer entgegenzuwirken. So entsteht eine eigenartige Mischung von Härte und Weichheit und vor allem auch die Neigung, gefühlsvolle oder sentimentale Szenen plößlich durch einen Wig oder eine nüchterne Bemerkung abzubrechen und ins Lächerliche zu ziehen. Dies geht mitunter so weit, daß auf der Bühne wirklich ernste und tragische Szenen durch die Mimik und Aus sprache zur Komik verzerrt werden . Während der Deutsche vielleicht beim Anblick der Blauen Grotte auf Capri in über schwängliche Begeisterung ausbrechen würde, würde der Engländer seine Erregung beherrschen und nüchtern fragen: „Ich möchte gern wissen, wie tief das Waſſer hier ist.“ Die Selbstbeherrschung , die der Engländer sich hier auferlegt, tritt auch bei andern Gelegenheiten zutage. Sie ist eine wichtige Eigenart des Volkscharakters. Gerade wegen dieser Selbstbeherrschung erscheint der Engländer oft als kalt und gefühllos. In Wirklichkeit ist er kräftigen Gefühlsregungen durchaus nicht unzugänglich. Im Gegenteil, der Engländer beſißt eine Leidenschaftlichkeit , die mindestens ebenso ist wie die anderer Nationen; sie wird lediglich durch die Selbstbeherrschung unterdrückt. Mitunter dringt ſie aber doch an die Oberfläche hervor: etwa bei Maſſenzuſammenkünften 21

(bei Wettspielen aller Art), dann vor allem, wenn der Engländer im Ausland in größeren Maſſen auftritt und dort die Notwendigkeit zur Selbstbeherrschung nicht ſo zwingend empfindet als zu Hause; auch in der Liebe tritt sie immer wieder hervor, wenn z. B. Leute, denen man ein derartiges Verhalten am letzten zugemutet hätte, plöglich mit einer Tänzerin, einer Filmſchauſpielerin oder sogar mit der Frau eines anderen auf und davon gehen. Und sie äußert sich in Krisenzeiten besonders auch im Haß gegenüber anderen Nationen. Bricht diese Leidenschaftlichkeit einmal ganz an die Oberfläche, so schiebt sie die „ Fairneß “ , die Anständigkeit, auf die der Engländer Anspruch erhebt, rücksichtslos beiseite ; sie führt zur offenen Brutalität. Dies erkennen wir wohl am deutlichsten im Verhältnis des englischen Volks zu anderen Völkern. Im Privatleben und in normalen Zeiten jedoch ist Selbstbeherrschung und „Fairneß“ oberster Grundsaß. Dies gilt in erster Linie auch für die Beziehung zu Feinden und Gegnern aller Art, vor allem im Sport. Die Festigkeit des englischen Nationalgefühls beruht auch auf seiner religiösen Unterbauung. Der Puritanis mus des 17. Jahrhunderts hatte, wie wir noch ausführlich sehen werden, den Gedanken des Gottesstaats geschaffen. Seit jener Zeit hat sich manches geändert, und auch der Puri tanismus hat wesentliche Wandlungen durchgemacht. Aber die Idee des Gottesstaats hat sich doch in ihrer Art bis auf den heutigen Tag erhalten. Der Engländer betrachtet sich und sein Volk als von Gott besonders begnadet, als das „ aus , erwählte Volk", das von Gott zur Herrschaft über alle Völker berufen wurde. Ein Brite zu sein, ist daher eine ganz besondere Auszeichnung. Daraus erklärt sich auch die Über. heblichkeit , die der Engländer oft an den Tag legt. Für ihn sind die Völker der Erde nicht gleichberechtigt, sondern in der Form einer Pyramide angeordnet. An der Spitze dieser Pyramide steht das englische Volk, hoch erhaben über allen 22

übrigen Nationen der Erde, die erst unter ihm, in verschiede nen Rangstufen, kommen. " Man könnte ihn für einen Engländer halten" ist deshalb das höchste Lob, das einem Ausländer zuteil werden kann. So ist es auch zu verstehen, daß das Wort „ Ausländer" ( foreigner ) in England nicht einfach eine Bezeichnung für die nichtbritische Nationalität ist, sondern daß es gleichzeitig auch etwas Herabminderndes in ſich birgt. Eine Engländerin, die einmal in Deutschland gefragt wurde, wie es ihr als Ausländerin in dieſem Land gefiele, antwortete im Brustton der Überzeugung : „ Verzeihen Sie, ich bin keine Ausländerin, ich bin Britin." Der Gedanke, daß das englische Volk von Gott auserwählt sei, ist nicht nur ein allgemeines Gefühl, das der Engländer oft hat, sondern er wird sogar von einer Sekte als Glaubens. grundsa vertreten. Ihre Anhänger nennen sich „Britische Israeliten"; sie sind der Überzeugung, daß die Engländer einer der verlorenen Stämme der Juden ſeien, der auf vielen Umwegen den Weg nach England gefunden hätte. Von da leiten dieſe bibelfrommen Engländer ihr Gottesgnadentum her. Halfeld zitiert in seinem Buch „ England “ eine Anzeige, die von dieser Sekte in der „ Times “ veröffentlicht wurde und in der es u. a. heißt: Die Bundesakte der Bibel ist für uns als Raſſe von größerer Bedeutung als die Magna Charta oder irgendein anderes modernes Dokument. Sie enthält die Begründung unserer Raſſe und unseres Volkes auf das Geheiß des allmächtigen Gottes, während die Magna Charta nur den Akt des Königs Johann darstellte. Um das Jahr 1100 v. Chr. wurde das Haus David errichtet, um auf ewig über das Königreich des Herrn zu regieren, und es regiert auch in der Gegenwart noch durch das Haus Windſor in der Person Seiner gnädigen Majestät, des Königs Georg V. " . Die Anzeige, der diese Säße entnommen sind, füllte eine ganze Seite in der " Times" aus . Doch muß betont werden, daß die Sekte der „Britischen Iſraeliten“ als solche nur verhältnismäßig 23

klein ist. Von Interesse sind ihre Außerungen deshalb, weil sie das, wovon die meisten Engländer fest überzeugt sind, zu einem Dogma gemacht und ins Riesenhafte gesteigert haben. Wie ernst es dem Engländer mit der Überzeugung von der Gottessendung ist, geht auch aus der Bedeutung der Miſsionsidee im englischen Leben hervor ; denn Gott hat die Engländer nicht nur beauftragt, die Welt zu beherrschen, sondern auch sie zu bekehren und ihr die englische Kultur zu bringen. Aus dieser Überzeugung heraus erklärt sich die Schlagkraft der englischen Tätigkeit auf allen Gebieten in der ganzen Welt, aus ihr heraus auch die Selbstverständlichkeit, mit der der Engländer sich zwar jede Einmischung anderer Völker in seine Belange verbittet, aber im gleichen Augenblick sich rücksichtslos in die Dinge anderer Nationen einmischt. Aus der religiösen Unterbauung des Nationalgefühls und der englischen Missionsidee ergibt sich allerdings auch die für jenes Land so kennzeichnende doppelte Moral. Wenn zwei das gleiche tun, ſo iſt es für den engliſchen Beſchauer nicht das gleiche, jedenfalls dann nicht, wenn einer der beiden England ist. Denn England handelt, wie wir eben sahen, im Auftrag Gottes, und es kann daher nur richtig handeln. Da dieser Auftrag aber nur an England erteilt wurde, kann ebenso jedes andere Land, wenn deſſen Handeln mit den Zielen Englands nicht übereinstimmt, nicht richtig handeln. So etwa stellen sich die Dinge dar, wenn ſie auch nicht auf dieſe Weiſe ausgedrückt werden. Wir werden gleich darauf ausführlicher zurückzukommen haben. Mit die wichtigsten Vorwürfe, die gegen die Engländer erhoben werden, ſind die der Treulosigkeit und der Heuchelei. Die Anklage gegen das „perfide Albion" kann man in den Englandbüchern, in den Geschichtswerken oder Zeitungen aller Länder lesen. Wenn ein Vorwurf ſo allgemein erhoben wird, so besteht zumindest die Wahrscheinlichkeit, daß auch ein Grund dafür vorhanden ist.

24

II.

Der

Cant" im englischen Volkscharakter

Eine der kompliziertesten Erscheinungen des englischen Volkscharakters ist der Cant. Man bezeichnet ihn auf deutsch häufig als „Heuchelei“ , ein Ausdruck, der jedoch nicht zutreffend ist. Da über die Bedeutung des Cant ſehr oft Unklarheiten und Mißverſtändniſſe beſtehen, ist es wichtig, näher darauf einzugehen. Cant, das auf anglonormanniſch cant, lateiniſch cantus,

zurückgeht, bedeutet ursprünglich „ Geſang“ ; dann „ eine winselnde Sprechweise, besonders von Bettlern" ; so heißt es z . B. in einer politischen Ballade von 1640 : „ Durch Lügen und Geminsel (by lies and cants) wollen ſie uns glauben machen, daß sie Heilige seien. " Es bedeutet dann weiter „ die besondere Sprache oder den Jargon einer Klaſſe“, insbesondere „die Ausdrucksart einer religiösen Sekte". Daraus hat sich dann die gewöhnliche heutige Bedeutung des Worts entwickelt: „Die Verwendung religiöser oder moralisierender Phrasen zur Verhüllung egoistischer oder unedler Handlungen. " In diesem Sinn berührt sich der Sinn von Cant allerdings oftmals nahe mit dem Begriff der Heuchelei (hypocrisy) , ohne sich jedoch ganz damit zu decken. Seinen eigentlichen Aufschwung erlebte das Wort im 17. und 18. Jahrhundert, wo es besonders von der Sprache und dem Verhalten der Puritaner gebraucht wurde. Der eng lische Schriftsteller Addison sagte 1716 : ,,Jener Cant und jene Heuchelei (that cant and hypocrisy) , die von dem Geist des Volks in den Zeiten der großen (puritanischen) Revolution Besis ergriffen hatten. " Seitdem wurde es immer häufiger 25

gebraucht; vor allem im 20. Jahrhundert hat es eine starke Verbreitung, auch außerhalb Englands, erfahren, wo man den „Cant" den Engländern immer wieder als ihre wichtigste schlechte Eigenschaft vorwarf. So weit das Wort cant. Wie steht es nun mit der Eigenschaft, die es bezeichnet? Wir können die Dinge, um die es hier geht, nicht verstehen, ohne auf die englische Religiosität und insbesondere den Puritanismus einzugehen. Die Engländer gelten gemeinhin als eines der religiösesten Völker der Erde, und es besteht kein Zweifel, daß das kirchliche Leben wohl kaum noch sonst eine so große Rolle spielt als in England. Um aber die Bedeutung dieser Tatsache richtig einschäßen zu können, müssen wir einen Unterschied zwischen innerlicher und äußerer Religiosität machen. Sicherlich gibt es auch in England sehr viele Leute, die von einer echten, innerlichen Religiosität durchdrungen ſind. Bei der Mehrzahl des Volkes ist aber die Religiosität vorwiegend gewohnheitsmäßig bestimmt. Auf das Dogma legt man weniger Wert ; um ſo größer ist aber die Rolle der Tradition, auch in kirchlichen Dingen. Der Engländer ist nicht ſowohl deshalb religiös, weil er aus innerstem Antrieb davon überzeugt iſt, ſondern weil das kirchliche Leben ein fester, althergebrachter Bestandteil ſeines Lebens überhaupt ist. Es ist natürlich nicht so, daß der Engländer sich auf Grund einer bewußten Überlegung zu der gewohnten Tradition bekennt, ſondern er ist religiös und geht zur Kirche, weil es ihm von Kind auf beigebracht wurde und weil es zum guten Ton der anständigen Geſellſchaft gehört. So ist sowohl das englische Traditionsgefühl überhaupt als auch die Religiosität im beſonderen zu verstehen. Es handelt sich also mehr um eine anerzogene Gewohnheit, bei der man sich nichts denkt, als um ein überzeugtes Fortführen bewährter Einrichtungen. So kommt es, daß in England die Frömmig keit weniger eine innerste Angelegenheit des einzelnen Men-

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ſchen, als vielmehr eine geſellſchaftliche Erscheinung ist. Es gehört zum guten Ton, am Sonntag und womöglich auch noch am Mittwoch in die Kirche zu gehen, einen Plaß in der Kirche zu mieten und die Kirche auch auf andere Art und Weise zu unterſtüßen; aber weniger aus religiöser Überzeugung, als aus gesellschaftlichen Rücksichten; denn die Kirche ist in weitgehendem Maße, besonders bei den sogenannten Sekten, ein gesellschaftlicher Mittelpunkt. Daran hat sich in den leßten 20 oder 30 Jahren allerdings manches geändert ; es gibt viele, sehr viele Leute in den Großstädten, die heute nicht mehr am Sonntag zur Kirche gehen. Aber die Grundeinstellung ist bei der Masse des Volkes doch die gleiche geblieben: auch heute noch spielt die Religion in der Art, wie wir oben dargelegt haben, eine entscheidende Rolle im englischen Volks- und Staatsleben. Neben der Frömmigkeit ist in England ein hochentwickeltes Moralgefüh I festzustellen . Überall tritt es in Erscheinung: im gesellschaftlichen Leben, in der Familie, in der Literatur, der Philosophie. Wie groß seine Rolle im englischen Volksleben ist, charakterisierte der engliſche Historiker Macaulay treffend, wenn er sagte, er kenne „ kein lächerlicheres Schauspiel als das britische Publikum bei einer seiner periodischen Anwandlungen von Moralität." Dieser Moralis. mus versteigt sich nicht selten zur kleinlichsten Prüderie, und immer wieder haben sich hervorragende Engländer energiſch dagegen zur Wehr geseßt. Das Resultat war dann aber sehr häufig, daß sie selbst von diesem Moralismus zermalmt wurden. Dichter wie Byron oder Oscar Wilde, die lange Zeit hindurch von ganz England umjubelt wurden, versanken in die Vergessenheit und wurden totgeschwiegen in dem Augenblick, wo sie mit dem Moralkoder in Konflikt kamen. Und dieser ist, vor allem was die Ehe angeht, streng und rücksichtslos. Die englische Religiosität und das englische Moralgefühl haben beide ihre Wurzeln im Puritanismus ; ohne ihn 27

find sie undenkbar, und durch ihn erhielten sie ihre entscheidende, ihre typisch englische Färbung. Denn außer den bisher erwähn ten haben beide noch andere, großenteils weniger erfreuliche Seiten. Eine Kenntnis vom Puritanismus wird uns darüber hinaus das englische Nationalgefühl, die Missionsidee und die doppelte Moral in einem neuen Licht erscheinen lassen . Der Puritanismus ist eine religiöse Bewegung , die im 16. Jahrhundert, zur Zeit der Königin Eliſabeth, in England entstand, obschon ihre Wurzeln viel weiter zurückreichen. Man kann sagen, daß erst durch den Puritanismus die Reformation in England in die breiten Volksschichten getragen wurde ; der bis dahin vorherrschende Protestantismus war lediglich vom König (Heinrich VIII.) „gemacht “ worden. Die Puritaner wollten den Glauben und die Kirche reinigen (purify) ; daher ihr Name. Es würde zu weit führen, die verschiedenartigen Anregungen, die der Puritanismus von anderen Bewegungen, wie etwa vom Kalvinismus her, erhielt, hier aufzuzeigen. Fest steht, daß im 16. und dann besonders auch im 17. Jahrhundert sich auf Grund dieser Anregungen und aus dem englischen Volkscharakter heraus eine religiöse Weltanschauung entwickelte, die einzigartig in der Welt ist (die amerikaniſchen Puritaner sind bekanntlich nur ein Ableger der engliſchen) . Was aber sind die wichtigsten Erscheinungsformen des Puritanismus? Der Puritanismus ging von der Überzeugung aus , daß die bisherigen Religionsformen überlebt seien, daß sie sich im Lauf der Zeit immer mehr von der Wahrheit entfernt hätten . Und er sucht, auf die eigentliche Wahrheit zurückzukommen; dieſe findet er einzig und allein in der Bibel. So wird die Bibel in ihrer Gesamtheit zum obersten, aber auch zum einzigen Gesez erhoben. Was in ihr steht, hat abſolute Gültigkeit ; was nicht in ihr steht, ist ohne jede Daseinsberechtigung . Und der Puritaner nimmt es mit ſeinem Glauben an die Bibel durchaus wörtlich. Nicht auf den ungefähren Inhalt, sondern auf den

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Buchstaben des überlieferten Worts kommt es an. Allerdings ergaben sich bald Streitigkeiten um die richtige Ausdeutung dieses Buchstabens. Aber die ungeheure Macht und das Ansehen, das die Bibel auch heute noch in England hat, gehen auf jene Forderung des Puritanismus zurück ; und man kann nicht bezweifeln, daß diese buchstäbliche Anerkennung der Bibel auch einen maßgeblichen Einfluß auf das ganze eng lische Geistesleben gehabt hat, wie erst kürzlich H. Schöffler in seinem Buch „Abendland und Altes Testament" be wiesen hat. Die Puritaner rekrutierten ihre Anhänger in erster Linie aus dem englischen Bürgertum, das heißt für England aus den Kaufmannskreisen. Der englische Kaufmann ist in seiner Denkart äußerst nüchtern und real eingestellt. So kommt es, daß die puritanische Bibelverehrung nicht in ein Fahrwasser hinüberleitete, sondern daß sie bei der der Menschen in durchaus realem Rahmen blieb. nung dieser Welt ging den Puritaner an. Da aber

mystisches Mehrzahl Die OrdGott diese

Welt geschaffen hat, ist diese Ordnung eine göttliche. Es kann somit nur die Aufgabe des Menschen sein, diese von Gott gewollte Ordnung zu erhalten. Jeder, der sie umstoßen will, muß als Feind Gottes vernichtet werden. Auf diesem Wege kommt man von selbst zu jener Verbindung von Frömmigkeit und Geschäftstüchtigkeit, die für den Puritaner ſo kennzeichnend ist. Hier sind wir zur Wurzel des „ Cant“ vorgestoßen. Er äußert sich in dieser Verbindung von religiösen Motiven mit selbstsüchtigen Zielen. Ein weiterer wichtiger Bestandteil des puritanischen Glaubens ist die Überzeugung von der Sündhaftigkeit des Menschen. Der Mensch ist von Anbeginn an schlecht; er muß in ständiger Angst vor der Richterschaft Gottes leben. Die einzige Hoffnung, die ihm in seiner Sündhaftigkeit bleibt, ist die Gnade, die Gott ihm vielleicht zugewandt hat. Und diese Hoffnung auf Gn a de verbindet sich mit dem Gedanken 29

der Prädestination (Voraus beſt im mung ) zu dem Begriff der Gnadenwahl. Gott hat einzelne Menschen von vornherein zur Gnade beſtimmt und auserkoren. Das einzige Zeichen, an dem man aber die Auserwähltheit erkennen kann, ist das Glück , der Erfolg, während umgekehrt der Mißerfolg und das Unglück ſichere Kennzeichen der Ungnade Gottes sind. So sucht der Puritaner immer wieder nach den Anzeichen der Gnade Gottes in seinem Leben. Wir verstehen jezt, wie er zu der Überzeugung kommen mußte um ein historisches Beispiel zu bringen —, daß König Karl I. fallen mußte, weil Gott durch den glücklichen Ausgang der Feldzüge des Independentenheeres (d. i. des Heeres der Puritaner) Zeugnis wider Karl abgelegt hatte" (Schirmer, „Antike, Renaissance und Puritanismus “ ) . Bis auf den heutigen Tag wirken diese Gedanken nach. Und wie so manches, was in England sich nicht mehr in der vollen Schärfe erhalten hat, erkennen wir es in Amerika noch deutlicher. Bis in die Gegenwart hinein zeigte der Amerikaner eine starke Abneigung, den Arbeitslosen eine Unterstützung zu gewähren . Dies geschah nicht nur aus selbst, süchtigem Intereſſe, ſondern mit aus der heute allerdings unbewußt gewordenen - Überzeugung heraus, daß das Elend nichts anderes als die Strafe Gottes ist, und daß man geradezu sich gegen Gott wenden würde, wenn man hier tat kräftig (d. h. anders als mildtätig) eingreifen würde. Und umgekehrt ist der Erfolg, der ungeheure Reichtum einzelner Leute, nur der Ausdruck der Gunſt Gottes ; es wäre ein Frevel, sich gegen diese Ordnung Gottes aufzulehnen. Wir erkennen, wie machiavellistischer Machttrieb hier eine neue, religiöse Ausdeutung gefunden hat und wie auch der Gedanke der Prädeſtination und Gnadenwahl zu den wichtig, ſten Bestandteilen des Puritanismus gehört. Alles andere ergibt sich eigentlich von hier aus von selbst. Der Gedanke des Erwählt sein 8 führt zu einem grenzen30

loſen Ego is mus und zu einer ebenso ausgeprägten Überhebung und Unduldsamkeit. Von der Überzeugung des Erwähltseins der eigenen Person ist es nur ein kleiner Schritt zu der von der Auserwähltheit des eigenen Volkes. Wir erkennen, wie die später auftretende Überzeugung, das „auserwählte Volk " zu sein, auf einen der verlorenen Stämme Israels zurückzugehen, eigentlich nur eine jüngere Ausdeutung und Erklärung ist, während der Gedanke an ſich viel tiefer ſigt. Und dieſer Gedanke geht, auf dem Umweg über den Puritanismus, auf das Alte Testament zurück, wo die Juden als das auserwählte Volk Gottes erscheinen. Nicht nur die Religion im engeren Sinne ist es, die als Richtlinie für den Puritaner gilt, sondern vor allem auch die Moral. Religion und Moral zusammen sind die feste, stete Richtschnur für den puritanischen Menschen. Sie sagen ihm unfehlbar an, in welcher Richtung sich sein Handeln zu bewegen hat. Die für den Außenstehenden so offensichtliche Zweideutigkeit, der „ Cant" , ergibt sich aber erst aus der Verbindung dieser beiden mit dem praktischen Leben. Religion und Moral ſind ja nicht das abstrakte Ziel, nach dem der Mensch streben soll, sondern sind nur sein Rüstzeug. Der Erfolg im Leben, der den Beweis der Auserwähltheit durch Gott erbringt, besagt dem Puritaner, daß er religiös und moralisch richtig gehandelt hat. Er wird in seinem weiteren Handeln den Erfolg mehren und wird gleichzeitig immer ein religiös-moralisches Ziel finden, ja es ergibt sich eigentlich schon von selbst. Denn es ist klar, daß der von Gott Auserwählte nur in Gottes Sinn handeln kann ; er braucht also nur genau nachzusehen, und er wird schon das Ziel finden, das Gott bei seiner Förderung verfolgt. Auf diese Weise etwa erklären sich die wichtigsten Bestand, teile des Puritanismus und gleichzeitig des „ Cant “ . Für den Deutschen ist es äußerst schwierig, dieſen Gedankengängen zu

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folgen. Es muß aber betont werden, daß, wenn man einmal die erste Vorausseßung der Auserwähltheit durch Gott angenommen hat, sich alles andere von selbst einstellt. Und da es mit dieser Überzeugung dem echten Puritaner durchaus ernst war, so war er auch in seinem ganzen andern Denken ehrlich. Er kann den Widersinn seines eigenen Denkens nicht einmal erkennen. Es ist daher durchaus falsch, ein solches Verhalten mit Heuchelei zu bezeichnen. Auf drei Dinge ist jedoch in diesem Zusammenhang noch hinzuweisen. Das eine ist die Tatsache, daß sich so etwa, wie wir es darlegten, die Dinge dem Puritaner echter Prägung darstellten. Um gerecht zu ſein, müſſen wir noch hinzufügen, daß diese Überzeugung von der Auserwähltheit ihn keineswegs zum Schlemmerleben und Genuß verleiten konnte. Der wahre Puritaner ist ein Mensch, der äußerst einfach lebt. Für ihn gibt es nur Arbeit, und für ihn beſteht immer die drohende Gefahr der Sünde ; er muß sich immer neu seiner Auserwähltheit bewähren; er ist kein glücklicher, noch weniger ein sorgenloser Mensch. So sehr dies auf den echten Puritaner zutrifft, so sehr gibt es aber und gab es, schon in der frühen Puritanerzeit, Menschen, die sich diese Gedankengänge einfach zu eigen machen, da ſie ihrem Egoismus entgegenkommen, die alſo den Puritaner spielen. Bei ihnen haben wir es mit krassester Heuchelei zu tun . Zum dritten muß betont werden, daß das, was wir oben dargelegt haben, der Glaube des Puritaners des 17. Jahrhunderts ist. Seitdem sind über drei Jahrhunderte vergangen, und manches hat ſich geändert. Die heutigen Engländer find in ihrer Mehrheit keine Puritaner mehr. Aber unser Bild hat insofern noch seine Gültigkeit, als der englische Volkscharakter entscheidend vom Puritanismus beeinflußt und geformt wurde und in seiner traditionellen Auswirkung auch heute immer 32

noch geformt wird. Ohne den Puritanismus können wir uns den heutigen Engländer weder denken noch ihn verstehen. Wie sehr sich diese Dinge bis in die Gegenwart hinein erhalten haben, geht aus einem Gebet hervor, das in eng lischen Kirchen während des Weltkriegs im Anschluß an den Gottesdienst von dem Geistlichen gesprochen wurde und das etwa folgenden Wortlaut hatte : „ Herrgott, nun haben wir für die Unseren gebetet; aber getreu der christlichen Lehre wollen wir nun auch für unsere Feinde beten. Du hast den Geist des Deutschen Kaisers mit Wahnsinn umnachtet, du haft den Deutschen Kronprinzen veranlaßt, Selbstmord zu begehen; nun laß, o Herr, deines Zornes genug ſein und ſei ihnen wieder gnädig. “ Ein schöneres Beiſpiel für den englischen „ Cant" könnte man kaum finden. Wir haben die wichtigsten Züge des englischen Volks charakters dargelegt, um so das richtige Verständnis für das englische Volk zu erlangen, und wir haben den „ Cant“ in seiner wesentlichen Eigenart zu ergründen versucht. Wir kön nen feststellen, daß der „ Cant“ , wie ſo manche andere Eigenart des englischen Volkscharakters, die mit ihm im Zusammenhang steht, von außen geſehen eine ausgesprochene Selbsttäuschung darstellt. Der „ Cant“ , wie wir ihn im englischen Alltagsleben immer wieder finden, ist keine Heuchelei, kein wissentlicher Betrug, sondern eine Selbsttäuschung (und eine sehr angenehme) über den Zweck und die Bedeutung der eigenen Person und alles, was sich daraus ergibt. Wie wir allerdings schon betont haben, trifft dies nur auf den „Cant“ bei jenen Menschen zu (und das ist zweifellos die Mehrzahl der Engländer), die sich ihres Selbstbetrugs nicht bewußt ſind, ſondern die in ehrlicher Überzeugung handeln und reden. Daß es darüber hinaus auch im engliſchen Alltagsleben zahlreiche Leute gibt, die den „ Cant " nur als Mittel zum Zweck anwenden, darf nicht übergangen werden. 33 3 Hoops, Englands Selbsttäuschung

Bei ihnen kann man nicht mehr von Selbsttäuschung, ſondern nur noch von Heuchelei oder Betrug reden. In unseren bisherigen Ausführungen über den „ Cant“ haben wir uns auf seine Erscheinung im Alltagsleben beschränkt. Wie er sich auswirkt, wenn er mit engliſchem Eroberungsgeist und Machtſtreben zusammentrifft und vereint, wie er also das politiſche Leben formt, werden wir im folgenden zu untersuchen haben.

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III.

Der „Cant"

als politisches Prinzip

Wenn der „Cant ", soweit er im Privatleben der Eng. länder in Erscheinung tritt, vorwiegend als Selbsttäuſchung aufzufassen ist, so ist es oft außerordentlich schwierig festzustellen, ob der „ Cant“ im politiſchen Leben Selbsttäuschung oder glatte Heuchelei ist. In der Mehrzahl der Fälle —- soviel können wir vorwegnehmend schon hier sagen - ist letteres der Fall. Es wird sich aber sehr oft zeigen, daß es beinahe unmöglich ist, zu entscheiden, ob in einem Fall einfache Selbſttäuschung oder bewußte Heuchelei vorliegt. Da der nCant" eine entscheidende Eigenart des englischen Nationalcharakters ist, die sich nach allen Richtungen hin auf dieſen auswirkt, müſſen wir zunächſt verſuchen festzustellen, wie sich die Erschei-. nungen des Volkscharakters als solche ohne Annahme einer bewußten Heuchelei - in der Politik auswirken. Da begegnen wir als erstem der großen Überheblich . keit, die für den Engländer so kennzeichnend ist. Sie beruht einerseits zweifellos auf dem starken Nationalgefühl des Engländers. Andererseits aber ergibt sie sich vor allem aus den vom Puritanismus her vererbten Anschauungen. Wir sahen, welche Rolle der Gedanke der Auserwähltheit beim einzelnen Engländer der Puritanerzeit spielt. Im Privatleben ist heute nicht mehr viel von dieſer Überzeugung übriggeblieben; im Staatsleben dagegen um so mehr. Und während im Privatleben der einzelne Puritaner stets auch von Zweifeln über seine Auserwähltheit befallen wird, ist dies im Staatsleben anders. Hier ist es beinahe für jeden Engländer heute noch eine Selbst verständlichkeit, daß sein Volk von Gott besonders auserwählt wurde (vgl. oben Seite 31) . Er begründet dies sich selbst 35

gegenüber vielleicht nicht mehr auf die gleiche religiöſe Art wie der Puritaner, er stellt wahrscheinlich überhaupt keine Überlegung darüber an, aber irgendeinen Zweifel deswegen kennt er nicht. Wie im Privatleben, ergibt sich auch im Staatsleben unendlich vieles andere aus der einfachen Vorausseßung der Auserwähltheit durch Gott. Bekennt man sich erst einmal zu der Überzeugung, daß Gott das engliſche Volk ganz besonders begnadet und auserwählt hat, so ergibt sich daraus beinahe von selbst die Miſſionsidee : daß es nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht des englischen Volkes ist, ſeine gottgewollte englische Staatsform, ſeine Kultur, Zivilisation, seine Weltanschauung, kurzum alles, was engliſch iſt, möglichst an alle Völker der Welt weiterzugeben, um so auch dieſe an den von Gott gegebenen Früchten Anteil haben zu laſſen. Und wenn ein anderes Volk sich störrisch zeigen und nicht erkennen sollte, von woher sein Glück kommen muß, wenn es deshalb eigene Wege gehen sollte, so ist es zumindeſt die Pflicht Englands, dieſes Volk wohlmeinend auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen und ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Wir Deutsche sprechen dann von dem englischen Gouvernantenton, und der Engländer begreift nicht, warum wir seine wohlgemeinten Ratschläge so schroff ablehnen. Verfolgt man diese Gedanken bis zu Ende, so kann man daraus für England auch das Recht (und wiederum sogar die Pflicht) ableiten, der andern Welt, falls sie sich sträubt, die ihr von England so großmütig angebotenen Fortschritte und Ratschläge freiwillig anzunehmen, diese mit Gewalt aufzuzwingen. Denn man nötigt damit ja nur einen, der der Widersacher Gottes ist, zur Anerkennung der von Gott geschaffenen Ordnung. Aber nicht nur die englische Überheblichkeit und Miſſionsidee erhalten so ihre Erklärung . Auch die doppelte Moral, die Treulosigkeit, die Rücksichtslosigkeit und vieles andere können

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so leicht verstanden werden. Wer von Gott begnadet und be auftragt ist, kann nur richtig handeln. Alles, was der Engländer tut, ist daher grundsäßlich richtig . Und selbst dann, wenn er einmal etwas tut, was nach gewöhnlichen Moralbegriffen verwerflich ist, so tut er es ja nur, um den Widerfacher Gottes, der auf jeden Fall im Unrecht ist, zu vernichten ; und dazu ist jegliches Mittel heilig . . Wir wollen diese Gedanken hier nicht zu weit verfolgen, denn wir werden später in anderem Zusammenhang nochmals darauf zurückzukommen haben. An dieser Stelle muß außer dem betont werden, daß wir die Dinge hier der Klarheit halber einfacher dargestellt haben, als sie wirklich sind . Zunächst ist, wie wir später noch sehen werden, der Puritanismus nicht allein für diese Geisteshaltung verantwortlich. Und dann find die Dinge so, wie wir sie dargelegt haben, nicht dem Engländer bewußt, wenigstens nicht dem ehrlich denkenden Durchschnittsengländer. Noch einige andere Züge des englischen Volkscharakters, die nicht unbedingt mit der aus dem Puritanismus ererbten Weltanschauung zusammenhängen, müssen hier erwähnt wer den. So wird zum Beispiel das englische Moralgefühl bei der Beurteilung fremder Nationen immer eine erhebliche Rolle spielen. Und zwar wird dies sich weniger darin äußern, daß der Engländer einen Vergleich zwischen der eigenen und der fremden Moral anstellt, sondern darin, daß er die eigene Moral selbstverständlich als die Norm annimmt und von ihr aus das Verhalten des fremden Volkes beurteilt. In der Beurteilung der Handlungen des anderen Volkes, auch des feindlichen Gegenſpielers, wird aber auch die engliſche Fair . neß (Anſtändigkeit) nicht ohne Bedeutung sein; man wird stets bestrebt sein, auch am Gegner das Gute anzuerkennen - zumindest in der Theorie. Da der Engländer von Grund auf unsystematisch ist (vgl.

oben Seite 17), hegt er einen gewissen Argwohn oder auch 37

eine Verachtung gegen jedes andere Volk, das in seinem Handeln besonders systematisch ist. In einer überlegenen Organiſation ſieht er weniger etwas Bewundernswertes, das er nachahmen möchte, als häufig etwas, von dem er zwar fühlt, daß es der eigenen System losigkeit überlegen ist, das er aber doch nicht nachahmen kann, und demgegenüber er eine unbewußte Abneigung empfindet. In beſonders kraſſen Fällen kann er es sogar als direkte Bedrohung seiner eigenen Existenz auffassen. Und ähnlich ist es auch mit den Auswirkungen des engliſchen Individualismus und der englischen Freiheitsliebe. Für ein anderes Volk, das dieſe beiden Eigenschaften nicht in derselben Art wie das englische zu den Grundelementen seiner Weltanschauung zählt, das alſo z. B. andere Dinge für höher und erstrebenswerter hält als einen hemmungs, losen Individualismus, hegt der Engländer ebenfalls nur Verachtung oder aber eine gewiſſe feindliche Abneigung, ja ſogar Haß. Welches dieſer Gefühle im Vordergrund steht, hängt von der politischen Bedeutung des betreffenden Volkes ab. Ist es schwach und unbedeutend, so steht die Verachtung im Vordergrund, ist es stark und mächtig, so neigt sich die Emp findung mehr nach der Richtung des Haſſes hin. Aus diesen kurzen Andeutungen ergeben sich für uns Richtlinien für die Erkenntnis des Verhältniſſes Englands zu den andern Völkern. Wir verstehen schon jezt, wie das englische Volk in irgendwelchen möglichen Fällen reagieren wird, und vor allem - und das ist für unseren Zusammenhang das Wichtigere wie die Regierung dieses Fundament der englischen Eigenarten jederzeit, wenn sie dafür eine Notwendigkeit sieht, propagandiſtiſch ausnüßen kann ; wir erkennen, wie der Propaganda geradezu ihre Wege vorgezeichnet sind. Damit sind wir zu der Frage nach der Grenze zwischen „ Cant“ und Heuchele i zurückgekehrt. Wir erkennen jeßt deutlicher als vorher, daß es keineswegs immer leicht sein wird, zu entscheiden, ob es sich in einem gegebenen Fall um einfache 38

Selbsttäuschung oder um bewußte Heuchelei handelt. Und wir können hinzufügen, daß zweifellos in sehr vielen Fällen eine Mischung von beiden vorliegen wird, ein Umstand, der eine Klärung der Verhältniſſe und Motive noch erheblich erschwert. > Es ist eine erstaunliche Tatsache, daß eine Bewegung von der Bedeutung des Puritanismus in England nur sehr wenige wirklich hervorragende Männer hervorgebracht hat. Es ſind eigentlich nur zwei, die als wirklich erstklassige Genies anzusprechen sind : der Politiker Oliver Cromwell und sein Sekretär, der Dichter John Milton. Cromwell war der große politische Führer des Puritanismus ; wir dürfen daher mit Recht bei ihm nach Äußerungen des puritaniſchen „Cant“ suchen. Cromwell war der Mann, der die Iren unter das eng lische Joch zwang ; was den Römern und späteren Eroberern nicht oder nur teilweise gelungen war, das vollbrachte er. Aber auch für ihn war es nicht leicht, dies freiheitsliebende Volk zu unterdrücken. Brutalste Gewalt, Mord und Plünderung kenn zeichnen den Weg des Eroberers in Irland . Das Blutbad von Drogheda im Jahr 1649, ebenso wie die dieſem folgenden von Werford und anderen Orten in Irland sind unlösbar mit dem Namen Cromwells verknüpft. Die einzige Entschuldigung, die der moderne Historiker für diese Massenhinschlachtungen von Iren findet, ist die der militärischen Notwendigkeit, die jedoch von den meisten Forschern abgelehnt wird. Wie aber rechtfertigt Cromwell selbst sein Verhalten? „Wir kommen, um die Macht einer Bande von gesezeswidrigen Rebellen zubrechen , die , nachdem sie die eng lische Herrschaft abgeschüttelt haben , als Feinde der menschlichen Gesellschaft leben" ſo begründet er seinen Feldzug in Irland. Und in einem Brief vom 17. September 1649, in dem er davon berichtet, daß jeder zehnte Mann der irischen Soldaten getötet und der Rest nach Barbados verschickt worden sei, bemerkt er trocken: „Ich bin

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überzeugt, daß dies eine gerechte Strafe Gottes ist.“ Schon einige Jahre früher ( 1645) hatte er zu einem Bericht über eine blutige Schlacht bei der Erſtürmung von Briſtol bemerkt: Dies alles ist nichts anderes als das Werk Gottes. Wer das nicht anerkennt, muß ein rechter Atheist sein." Von den englischen Soldaten, die sich in dieser Schlacht durch ihre Tapferkeit ausgezeichnet haben, sagt er : „ Es ist eine Ehre für sie , daß Gott geruht hat , sie zu gebrauchen." Wir erkennen in diesen Äußerungen einige der frühsten Erscheinungen der Selbsttäuschung auf politischem Gebiet. Cromwell selbst war ein eifriger Puritaner, war aber auch ein kalt und nüchtern denkender Politiker. Aus leßterem Grunde könnte man wohl versucht sein, Cromwell hier der Heuchelei zu bezichtigen; es besteht jedoch, vor allem wenn man bedenkt, daß diese Bemerkungen in Briefen gemacht wurden, kein ernst hafter Grund, seine Ehrlichkeit zu bezweifeln. Wenn wir auch die Möglichkeit der Heuchelei nicht ausschließen wollen. Wir sehen an diesem Beispiel, wie es schon in jener frühen Zeit bei nahe unmöglich ist, die Grenze zwischen ehrlicher Selbsttäuschung und Heuchelei zu ziehen. Eindeutiger verhält es sich bei Cromwells großem Sekretär, dem Dichter John Milton . Er war bis ins Innerste von der göttlichen Sendung des englischen Volkes durchdrungen . Wenn er daher mit Bezug auf John Wycliff, den ersten eng lischen Bibelüberseher, sagt : „ England wurde von Gott die Gnade und Ehre zuteil, die erste Nation zu sein, die eine Richtschnur für die Wiedererlangung der verlorenen Wahrheit aufstellte, den Völkern den ersten evangelischen Trom petenstoß blies und wie von einem Hügel herab der ganzen Christenheit die neue Lampe rettenden Lichtes zeigte", so kann für uns kein Zweifel bestehen, daß hier ein ernſter Mensch aus echtester Überzeugung heraus spricht. Es muß allerdings her. vorgehoben werden, daß es ſich bei dieſem Beiſpiel auch nicht 40

um ausgesprochenen „ Cant “ handelt, da ein entſcheidendes Element desselben, nämlich die Verwendung religiös-morali. scher Motive zur Deckung unedler Gedanken oder Handlun gen, fehlt. Wenn wir troßdem dies Beiſpiel angeführt haben, so deswegen, weil es uns zeigt, aus welcher Geisteshaltung heraus sich der „Cant“ ohne weiteres ergibt. › Wenn wir im folgenden sehen werden, wie der „ Cant“ in der politischen Sphäre meist nicht mehr als Selbsttäuschung, sondern nur noch als eindeutige Heuchelei angesprochen werden kann, so muß jedoch schon hier hervorgehoben werden, daß auch solche Fälle, wo es sich um ehrliche Selbsttäuschung handelt, bis in die Gegenwart immer wieder vorkommen . Wir dürfen daher nicht in den Fehler verfallen, jedesmal, wenn ein Engländer die selbstsüchtigen Handlungen seiner Politik mit moralischen Motiven begründet, ihn der Heuchelei zu beschuldigen. Das Entscheidende ist vielmehr, daß gerade diejenigen Engländer, bei denen die Selbsttäuschung eine aufrichtige und daher gänzlich unbewußte ist, von den anderen, die wohlwiſſend heucheln, zu ihren Zwecken ausgenüßt und mißbraucht werden. Auf welche Art die engliſche Selbsttäuschung in den Dienst der Politik und Propaganda eingeſpannt wird, das heißt alſo, wie man sie zu unedlen Zwecken ausnüßt, ist aus der englischen Geschichte der Gegenwart zur Genüge bekannt. Um aber die Verbindung von der Zeit des Puritanismus bis heute herzustellen, ſeien kurz einige Beiſpiele aus den verſchiedenen Jahrhunderten angeführt. Uns allen ist heute die engliſche These vom Gleichgewicht der europäischen Kontinentalmächte geläufig . Sie entstand in ihrer modernen Ausprägung zuerst wohl in den Jahren, die dem Spanischen Erbfolgekrieg vorangingen, und zwar in Verbindung mit der Forderung der Unverleßlichkeit Belgiens und Hollands. Sieben Jahre vor Ausbruch dieses Krieges erschien (1694) in England ein Flugblatt, in dem es hieß: „ Es ist 41

das allgemeine Interesse der gesamten Christenheit , das Haus Österreich wieder in eine gewiſſe Gleichheit mit Frankreich zu bringen. Dies Equilibrium' iſt notwendig für die Sicherheit der Völker und ebenso für die der Fürsten. Das besondere Intereſſe Englands ist es, das Gleichgewicht wiederherzustellen, ſo daß es die Waage in der Hand haben und auf die von ihm gewünschte Seite wenden kann. Das iſt das einzig mögliche Mittel für uns, nicht nur das ,Empire of the Seas' aufrechtzuerhalten, ſondern uns auch zu befähigen, über den Erfolg des Krieges und über die Friedensbedingungen zu entſcheiden“ (zitiert nach F. Plümer, „ Das britische Weltreich “) . Der Schreiber dieſes Flugblattes ist nicht so vorsichtig wie seine ſpäteren Nachfolger gewesen, denn er hat die eigentlichen Kriegsziele Englands deutlich genug ausgesprochen. Das für uns Bedeutsame an diesem Zitat ist aber der erste Teil, in dem dem engliſchen Volk klargemacht wird, daß es für das Wohl „ der gesamten Christenheit“ und für „ die Sicherheit der Völker“ in den Krieg ziehen soll. Gerade durch die Vereinigung dieser schönklingenden Phraſen mit den offen ausgesprochenen Zielen der engliſchen Politik wird die Heuchelei dieses Traktates besonders deutlich. Hier kann von Selbsttäuschung nicht mehr die Rede sein. Die englische Literatur der lezten Jahrhunderte bietet zahlreiche Beispiele für die Verherrlichung der Größe Englands und seiner Weltherrschaft. Hier sei nur auf das Epos „ Liberty“ (1735—1736) des Dichters James Thomſon , und Verfaſſers des Liedes ,,Rule Britannia“ hingewieſen, in dem dieser England als den Wohltäter und Vorkämpfer der Menschheit hinstellt. Steht hier mehr das Nationalgefühl und die Miſſionsidee im Mittelpunkt, so laſſen die folgenden Beiſpiele aus der englischen Geschichte den politischen „ Cant" deutlich hervortreten. Warren Hastings war 1771 Gouverneur von Bengalen, später Generalstatthalter von Ostindien geworden, ein

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Posten, den er bis zum Jahre 1785 innehatte. Damals unterstand Indien noch der Leitung der Ostindischen Ge sellschaft (erst 1858 wurde die Verwaltung ganz in die Hände der Regierung übernommen) . Als Beauftragter der, Gesellschaft hatte Hastings einen nicht leichten Stand, denn während er einerseits die Anforderungen des Landes berücksichtigen mußte, verlangte auf der andern Seite die Gesellschaft von ihm, daß er möglichst viel Geld aus Indien herauswirtschaften solle. Auch hier mußte aber der Schein gewahrt bleiben, daß man den Indern nur Kultur, Zivilisation und Frieden bringe und daher nur zu ihrem eigenen Vorteil im Lande war. Wie die Ostindische Gesellschaft sich die Vereini gung der beiden Ziele dachte, geht aus einer Stelle in Macau lays Essay über Warren Hastings deutlich genug hervor: Regieren Sie mit Milde und schicken Sie mehr Geld ; üben Sie strenge Gerechtigkeit und Mäßigung gegen benachbarte Mächte und schicken Sie mehr Geld! Das ist die Summe ziem lich aller Instruktionen, die Hastings aus der Heimat zukamen ." Deutlicher, als die Ostindische Gesellschaft es bei Hastings tat, begründete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der englische Premierminister Gladstone das englische Recht auf die Herrschaft in Indien mit der Methode des „Cant", wenn er sagte : „ Unser Recht, in Indien zu ſein, hat zwei Voraussetzungen: die erste ist, daß unser Dortſein für die Völker Indiens von Nußen ist, die zweite, daß wir dieſe Völker einsehen und begreifen lehren, daß unsere Herrschaft für sie vorteilhaft iſt. “ Ein vielsagendes Beiſpiel liefert uns auch das engliſche Verhalten zur Zeit der Französischen Revolution von 1789. Die indirekte Beteiligung Englands an dieſem Ereignis intereſſiert uns hier weniger. Das englische Volk, vor allem die Intellektuellen, standen der Revolution und ihren Zielen zunächst vorwiegend freundlich, ja ſogar begeistert gegenüber. Als aber die Hinrichtungen zunahmen, wandte man sich all-

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mählich immer mehr von ihr ab ; auch Leute, die ursprünglich begeisterte Anhänger der Revolution waren, wurden zu ihren erbitterten Gegnern. Auf politiſchem Gebiet konnte man die Revolution allerdings zunächst mit Genugtuung beobachten, denn durch die innere Selbstzerfleischung wurde der alte Gegner Englands geschwächt. Aber die Sachlage änderte sich auch hier rasch, als man in Frankreich den König hinrichtete : die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich wurden abgebrochen. Der Grund dafür lag aber nicht in der Pariser Bluttat, sondern einerseits in der Tatsache, daß die Revolutionäre erklärt hatten, sie würden ähnliche Bewegungen gegen die Regierungen in allen Ländern unterſtüßen, worin man eine Gefahr für das eigene Land erkannte, in dem es auch zahlreiche Unzufriedene gab ; andererseits aber war der Grund vor allem der, daß die Franzosen die Schiffahrt auf der Schelde als für alle Nationen frei erklärt hatten. Jezt sah England die Unabhängigkeit der ihm gegenüberliegenden Festlandsküste bedroht, eine Gefahr, die schon etwa hundert Jahre früher in dem obenerwähnten Flugblatt als Kriegs, grund genannt worden war. Als Frankreich ſchließlich nach Holland übergriff, kam es auch tatsächlich zum Krieg mit ihm. Wir erkennen an diesem Beispiel deutlich das Wesen des "„ Cant" in der Politik. Angeblich empörte sich die englische Regierung über die Bluttaten in Frankreich, vor allem über die Hinrichtung des Königs ; in Wirklichkeit standen englische Interessen in Gefahr. Die führenden Männer erkannten die Lage nur zu klar ; das Volk allerdings empörte sich ehrlich über Frankreich und glühte vor moralischer Entrüstung. Und nicht viel anders war es einige Jahre später, als Napoleon zur Macht kam und England in einer Art be drohte, wie dies seit Jahrhunderten nicht mehr geschehen war. Durch die Kontinentalsperre war Englands Existenz gefährdet. England aber bekämpfte nicht nur den nationalen Gegner, sondern, in der Person Napoleons, geradezu den leibhaftigen

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Teufel. Man führte nicht nur einen Kampf um die eigene Existenz und für die eigene Freiheit, ſondern man kämpfte gleichzeitig für die gesamte Christenheit, gegen den Bedroher der Freiheit. Als um die Wende zum 19. Jahrhundert der engliſche Philanthrop Wilberforce sich für die Bekämpfung und Abschaffung des Sklavenhandels einſeßte, ergriffen englische Politiker begeistert diese Parole. Man sah hier die Möglichkeit, sich unbequemer Wettbewerber zu entledigen. Denn ein Verbot des Sklavenhandels konnte zu dieser Zeit für England keinen Schaden mehr bedeuten; es hatte an ihm genug verdient und konnte es sich leisten, der humanitären Bewegung freien Lauf zu laſſen, indem man sie gleichzeitig den politischen Zielen Englands dienstbar machte. Es gab noch schwächere Staaten, die auf die Sklavenarbeit zur Erhaltung ihrer Wirtschaft angewiesen waren. England machte sich nun in der Weltöffentlichkeit zum Vorkämpfer für die Abschaffung des Sklavenhandels. Wollte eines der schwächeren Länder sich den englischen Machtansprüchen nicht fügen, so konnte man ohne Schwierigkeit die ganze Anti- Sklavenbewegung gegen dies Land in Bewegung seßen, während man andere Länder, die den englischen Wünschen willfährig waren, im selben Augenblick die Ausnüßung der Sklavenarbeit ruhig weiter betreiben ließ. Noch auffälliger wurden diese Widersprüche, als es zum Bürgerkrieg in Amerika kam. Die aufstrebenden Nordstaaten bedeuteten für England eine ernstliche Gefahr; man zögerte daher keinen Augenblick, sich auf die Seite der Südstaaten zu stellen, in denen die Sklavenarbeit noch blühte. Trogdem brüstet man sich in England auch heute noch als Befreier der Sklaven. Wie hier beim Sklavenhandel, so hat es England auch ſonſt von jeher verstanden, humanitäre Bewegungen für seine eigenen machtpolitischen Zwecke auszunüzen . So ein Jahrhundert später, als 1899 auf Anregung des Zaren die

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erste Friedenskonferenz im Haag zusammentrat. England erkannte ſofort die Möglichkeiten, die sich hier boten, und setzte sich ganz für diese Bewegung ein, ja es wurde geradezu zu ihrem Vorkämpfer. Im selben Jahr, in dem durch das englisch-russische Abkommen die Einkreisung Deutschlands vollendet wurde (1907), gelang es England auf der zweiten Haager Friedenskonferenz, Deutschland als den ewigen Störenfried in der Welt hinzustellen. Das ist ein typisches Beispiel der Heuchelei in der Politik. Während man auf der einen Seite durch den Ruſſenpakt die Vorbereitungen zur Vernichtung Deutschlands abschloß, redete man vom Frieden und erreichte dadurch, daß man ſelbſt als das friedfertige Volk vor der Welt dastand, während man gleichzeitig Deutschland als ― auf proden Feind des Friedens brandmarkte und ſomit pagandistischem Gebiet — eine weitere Vorbereitung für den Krieg traf. Wir werden an dieſem Beiſpiel auf das lebhafteſte an die jüngsten Ereignisse erinnert : während die Tinte der Schriftzüge Chamberlains auf dem Vertrag von München, 1938, wodurch ein Krieg zwiſchen Deutſchland und England auf alle Zeiten unmöglich gemacht werden sollte, noch kaum getrocknet war, und während derselbe Chamberlain mit der Friedenspalme in der Hand nach London zurückkehrte, um sich dort und in der ganzen Welt als der Retter des Friedens (und damit auch der Zivilisation) feiern zu lassen, gab er schon die Anweisungen zu den gigantischen englischen Rüstungen, um durch sie die Vernichtung Deutschlands verſtärkt vorzutreiben. Und genau so, wie England die Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 für seine Zwecke ausnüßte, tat es dies mit den pazifistischen Strömungen der Nachkriegsze it. Immer wieder wurden diese von England auf das ener gischste unterstüßt ; der Völkerbund wurde geradezu zum Instru ment der britischen Politik. Aber es kam England dabei keineswegs darauf an, einen wahren Frieden zu schaffen, ſondern ausschließlich darauf, sich seine Machtstellung zu er46

halten. Insofern allerdings konnte es mit Recht vom Frieden reden, als es das oberste Intereſſe Englands ſein mußte, den Versailler Frieden zu erhalten. Nicht den Frieden überhaupt wollte man aber, sondern den britischen Frieden (die pax Britannica), den man in dieſem Fall zutreffend als die Er-. haltung des Status quo bezeichnen konnte. Man verſtand es also geschickt, die eigenen Intereſſen mit den allgemeinen Strebungen nach Frieden zu vereinen, und man tat dies, indem man diesen Friedenshoffnungen eine kleine, aber sehr wesentliche Neuausdeutung unterschob. Der Friede der Welt konnte von jezt ab nur der Friede ſein, den England der Welt zu belaſſen oder zu geben gewillt war. Wir werden später nochmals darauf zurückzukommen haben. Noch ein anderes Beiſpiel für die Ausnüßung von irgend, welchen Strömungen zu eigenen Zwecken sei hier gegeben. Als England im Weltkrieg durch die Türkei und Deutſchland ſeine Stellung im östlichen Mittelmeer und vor allem im Suezkanal bedroht sah, schuf es die arabische Freiheitsbewegung ; es versprach den Arabern als Lohn für ihre Beteiligung am Kriege ein großarabisches Reich mit Einschluß von Palästina. In demselben Kriege aber zeigte es sich auch, daß die Unterſtüßung der englischen Sache durch die Juden auf der ganzen Welt von allergrößtem Nußen sein würde. Es gab aber eine jüdische Weltbewegung, die ein machtpolitiſches Ziel hatte: den Zionis, mus. England erkannte auch hier seine Gelegenheit. Es machte sich kurzerhand zum Vorkämpfer des Zionismus und versprach den Juden die Errichtung eines jüdiſchen Nationalstaates in Palästina - in demselben Land also, dessen Gebiet es auch schon den Arabern versprochen hatte. Es dachte damals allerdings wohl nicht, daß ihm aus diesem doppelzüngigen Ver sprechen später große Schwierigkeiten erwachsen sollten. Wir erkennen an diesen Beispielen, wie England es immer wieder versteht, alle Bewegungen seinen Zwecken dienstbar zu machen. Es wäre aber grundfalsch, wenn wir ganz England, 47

das heißt alſo jeden einzelnen Engländer, hier wie auch sonst der Heuchelei bezichtigen wollten. Der einfache Mann, der Durchschnittsbürger, ist fest von der Aufrichtigkeit des englischen Handelns überzeugt. Er ist ehrlicher Pazifiſt und will den Frieden, und glaubt, daß auch seine Regierung einzig und allein auf einen wahren, echten (und nicht nur auf den englischen) Frieden hinarbeitet; er ist ebenso fest überzeugt, daß England den Juden, die immer wieder in der ganzen Welt verfolgt werden, endlich eine eigene Heimat aus ganz selbst. -losen Motiven gründen will; er ist ebenso fest überzeugt, daß um auf ein früheres Beispiel zurückzugreifen England bei der Abschaffung des Sklavenhandels ausschließlich von ſelbſt. losen Motiven getrieben war usw. usw. Wir wollen seine Ehrlichkeit nicht anzweifeln, wir können ihm höchstens Mangel an politischer Einsicht vorwerfen, weil er die wahren Motive seiner Regierung nicht durchschaut. Die regierenden Männer aber gaben und geben sich keinerlei idealistischen Schwärmereien hin. Sie haben nur das eine Ziel vor Augen: die Erhaltung und womöglich die Steigerung der englischen Macht. Für die Erreichung dieses Zieles ist kein Mittel zu schlecht. Wie es sich hier auf dem mehr ideellen Gebiet verhielt, genau so steht es auch auf der wirtschaftlichen Ebene. Dafür möge ein Beiſpiel genügen. Es ist bekannt, daß sich England zu Ende des 18. und im 19. Jahrhundert seine Vorherrschaft auf wirtschaftlichem Gebiet durch den Ausbau seines Industrialismus geschaffen hatte. Mit der wirtschaftlichen war aber auch die politische Vormachtstellung verbun den, und es kann nicht verwundern, daß man allen Wert dar auf legen mußte, den Vorsprung, den man hier hatte, zu erhalten und auszubauen. Aus diesen Gedankengängen heraus kam man zur Freihandelsthese. Wenn alle Länder ihre Zölle abschaffen würden, so würden nach der Freihandelstheorie sich in jedem Land nur solche Wirtschaftszweige erhalten können, die wirklich rentabel seien. Es würde 48

keinem Zweifel unterliegen, daß jedes Land irgendeine Ware am besten hervorbringen könnte und daher auf diesem Gebiet die Monopolstellung erhalten würde. Durch diese Methode des Freihandels würde aber nicht nur die Wirtschaft aller Länder gefördert, sondern würde gleichzeitig auch der Friede garan tiert werden; denn kein Land könne es wagen, einen Krieg her aufzubeschwören, da es ohne die Waren des anderen Volkes nicht existieren könnte. Wie richtig der leßte Saß ist, hat Deutschland nach dem Weltkrieg erfahren, als seine Wirtschaft und sein Handel daniederlagen und als beide nur durch ausländisches Kapital wieder in Gang gebracht wurden. In der Tat wäre für das damalige Deutschland ein Krieg nicht möglich gewesen. Ebenso klar ist aber auch, daß Deutschland damals nicht frei war, daß es sich vielmehr als der Sklave der Westmächte, insbesondere Englands fühlte und nichts tun konnte und durfte, was ihm von diesem nicht erlaubt wurde. Troßdem kann nicht bestritten werden, daß diese Freihandelsthese für die Welt vor hundert Jahren viel Anziehendes hatte; denn sie stellte der Menschheit nicht nur den Frieden, sondern auch Reichtum und Glück in Aussicht. Wie sah es aber in Wirklichkeit damit aus? Gleich, ob den Begründern dieser These aufrichtige Motive zugrunde lagen, es kann aber jedoch nicht bezweifelt werden, daß ihre späteren Verfechter genau wußten, worum es sich in Wirklichkeit drehte: England war das Land, deſſen Induſtrialiſierung am weitesten fortgeschritten war; durch die allgemeine Einführung des Freihandels wurde es instandgeseßt, ſeine Industrieartikel überall ungehindert abzusehen; es konnte daher nur noch ge winnen. Solange es Zölle gab, war der englischen Ausfuhr in vielen Ländern ein schweres Hindernis in den Weg gelegt, gab es sogar ernstzunehmende Konkurrenten. In dem Augenblick aber, wo ein allgemeines Freihandelssystem eingeführt worden wäre, hätte die engliſche Induſtrie und Wirtſchaft den endgültigen Weltsieg davongetragen. Die mühsam errichteten 49 4 Hoops, Englands Selbsttäuschung

Induſtrien anderer Länder, die noch auf keine lange Tradition und Erfahrung zurückblicken konnten, die noch unter erschwerten Bedingungen arbeiteten, wären zugrunde gerichtet gewesen, und die ganze Welt wäre in die Abhängigkeit Englands geraten. Die Welt hätte ihren Frieden gehabt, aber dieser Friede wäre wiederum nur der britische Friede geweſen, hätte in Wirklichkeit nichts anderes als eine Sklaverei bedeutet. So und nicht anders haben wir uns dieZiele der engliſchen Freihandelsbewegung zu erklären. Wie aber äußerten sich die maßgebenden Politiker, die für dieſe Theſe eintraten? Einer ihrer bedeutendsten Vorkämpfer in der Zeit vor dem Weltkrieg, Lloyd George, ſagte in einer Rede am 21. April 1908 über den Freihandel: „ Es ist nicht allein im Intereſſe des Handels, daß ich Sie zum Kampf aufrufe für die Freiheit unserer Märkte. Der Freihandel ist ein großer Friedensstifter ... Der Freihandel ſchlägt langſam, aber sicher einen Pfad durch das harte und düstere Dickicht der Rüstungen in das sonnige Land internationaler Verbrüderung ... Ich weiß nicht, wie viele Generationen, ja Jahrhunderte vergehen werden, ehe die Schwerter zu Pflugscharen, die Speere zu Gartenscheren werden. Deſſen aber bin ich sicher, daß, wenn dieſer Tag anbricht, es als eine der größten und edelſten Taten der Geſchichte, in der wundervollen Geschichte der Menschheit gelten wird, daß die Männer und Frauen auf dieser kleinen Insel allein gegen eine mit Zöllen bewaffnete Welt tapfer und siegreich den Weg verteidigten, der schließlich in das Reich des ewigen Friedens mündete." Mit diesem leßten, typischen Beispiel des „Cant" im eng lischen Staatsleben können wir die Reihe der Beispiele abschließen, die uns gezeigt haben, wie der „ Cant “ in der Politik zur Heuchelei wird und wie er sich in dieser Art fast unverändert von der Zeit des Puritanismus bis in die Gegenwart hinein erhalten hat. 50

IV.

Methodik des politischen „Cant“ Nachdem wir einen guten Eindruck über die Art, wie sich der „Cant“ in der Politik äußert, gewonnen haben, und nachdem wir gesehen haben, wie er geradezu als politisches Prin zip angewandt wird , müſſen wir nunmehr versuchen, die Me • thodik dieses Prinzips zu erkennen. Dies wird uns wichtige Grundzüge der engliſchen Politik verständlich machen.

1. Allgemeines Die Neigung des englischen Volks zur Selbsttäuschung kann nach den verschiedensten Richtungen hin ausgenüßt werden, und es ist an dieser Stelle nicht unsere Aufgabe, allen Möglichkeiten nachzuspüren ; unsere Untersuchung des „ Cant" gibt hierfür schon die notwendigen Fingerzeige. Wir können aber schon aus der Reihe der zulezt angeführten Beispiele ersehen, daß bestimmte Themen immer wiederkehren . Dieſe ſind fast alle angeschlagen in dem Aufruf, den König Georg Anfang November 1914 an das britische Weltreich richtete und in dem es hieß : „In den leßten Wochen haben sämtliche Völker meines Reiches, des Mutterlandes und der Kolonien, sich geeinigt, um einem Angriff ohne gleichen auf Kultur und Weltfrieden die Spiße zu bieten. Ich habe diesen unſeligen Kampf nicht gesucht, im Gegenteil, meine Stimme hat sich immer 3z ugunsten des Friedens erhoben. Meine Minister haben alles versucht, die Spannung zu vermindern und die Schwierigkeiten zu beseitigen. Konnte ich mich abseits halten, als Verträge , woran auch mein Reich beteiligt ist, vernichtet , belgisches Gebiet 51

verlegt , seine Städte zerstört und Frankreich mit dem Untergang bedroht wurde? Ich würde meine Ehre damit opfern, die Freiheit meines Reiches und der Menschheit dem Untergang geweiht haben. Es freut mich, daß alle Teile meines Reiches meinen Entschluß billigen. Großbritannien und mein ganzes Reich betrachten die absolute Respektierung des einmal gegebenen Wortes in Verträgen , die von den Fürsten der Völker unterschrieben werden, als gemeinſames Erbteil. Ich bin stolz darauf, der ganzen Welt zeigen zu können, daß meine Völker in den Kolonien ebenso fest entſchloſſen find als diejenigen in meinem Königreich, die gerechte Sache bis zum befriedigenden Ende zu verteidigen. Damit ist die Einmütigkeit des Reiches glänzend ins Licht getreten.“ In diesem Aufruf finden wir fast alle Grundbestandteile der englischen Propaganda der Vergangenheit und Gegenwart wieder. Hier ist die Rede von der Kultur, vom Frieden, von der Heiligkeit der Verträge, vom Schuß der kleinen Nationen und von der Freiheit (bezeichnenderweise ist auch hier die Freiheit Englands der Freiheit der Menschheit überhaupt gleichgeſeßt). Immerhin dürfen wir bei der Beurteilung dieſes Beispiels nicht übersehen, daß im Kriegsfalle von jeder Staatsführung alle Kräfte mobiliſiert werden, und daß wir ſicherlich auch anderswo ähnliche Äußerungen finden können. Das Ent scheidende aber ist, daß die genannten Motive hier nicht einmalig oder gelegentlich auftreten, sondern daß sie die Auswirkung eines P r i n z i p 8 ſind . Immer, wenn England einen Krieg führt, immer, wenn es irgendeine Aktion vorbereitet oder durchführt, kehren sie wieder. Sie stellen das Mäntelchen dar, mit dem jede machtpolitische Handlung umhüllt wird. Es sind im Grund vier Prinzipien, die für die Zwecke Eng. lands herhalten müssen ; sie sind so gewählt, daß sie dem englischen Volkscharakter und seiner Neigung zur Selbſttäuschung angepaßt ſind.

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2. England als Vorkämpferin des Friedens Das erste Schlagwort, das wir anführen können, ist das des Friedens. Immer tritt England für die Erhaltung des Friedens ein. Hierbei muß zunächst darauf hingewieſen werden, daß für ein großes Weltreich, das nur bestrebt ist, sich ſeinen Beſiß zu erhalten, der Frieden von vornherein von größter Wichtigkeit ist, wenigstens dann, wenn er gleichzeitig die Erhaltung der Herrschaft garantiert. Aber nicht dies ist das Maßgebende. Es gibt in der Geschichte Fälle genug, wo es der englischen Politik gar nicht auf die Erhaltung des Friedens ankam; troßdem aber redete sie davon. Sie spielte sich als Vorkämpferin des Friedens, der Gerechtigkeit, der Kultur und Zivilisation, des Christentums usw. auf. Daß diese Friedens liebe aber nicht nur unecht, sondern ganz offen heuchlerisch ist, geht aus den Taten hervor, die solche Reden begleiten. Ein schönes Beispiel dieser englischen Friedensliebe“ haben wir in folgendem Sendschreiben: Im Herbst 1914 veröffentlichten 42 Vertreter der englischen und schottischen Staatskirchen einen Aufruf, in dem sie mit Bezug auf die deutsche Geistlichkeit und den Weltkrieg sagen : ,,Gott weiß, was es für uns bedeutet, daß wir durch diesen Krieg von so vielen getrennt worden sind, mit denen wir den Vorzug hatten und mit denen, wie wir hoffen, wir noch einmal den Vorzug haben werden, für die Verbreitung des christlichen Glaubens unter den Menschen zu wirken. Wir vereinigen uns von ganzem Herzen mit unſeren deutſchen Brüdern, die unheilvollen Wolken des Kriegs zu bedauern, insbesondere dessen Rückwirkung, insofern er die Tätigkeit und Mittel der christlichen Völker von den großen schöpferischen Aufgaben ablenkt, zu denen die Vorsehung sie berufen hat, sowohl bei den Völkern Aſiens wie Afrikas. Allein es darf kein Mißverſtändnis über unsere Lage obwalten. Von dem eifrigen Wunsche nach Frieden befeelt, als solche, die in der ersten Reihe 53

für ihn gekämpft haben, insbesondere darauf bedacht, die enge Gemeinschaft von Deutſchland und England zu fördern, fühlen wir uns dennoch veranlaßt zu erklären, daß, wie teuer uns auch der Friede sein mag, die Grund fäße der Wahrhaf . tigkeit und der Ehre uns noch teurer sind . Hätten wir anders gehandelt, als wir tun, so hätten wir wissentlich eine Verpflichtung umgangen, an die wir uns feierlich gebunden haben, so wären wir unsern Verantwortun gen und Aufgaben im Hinblick auf die Erhal tung des öffentlichen Rechts in Europa aus . gewichen. Wir haben Stellung genommen für denguten Glaubenim internationalen Leben, für die Erhaltung der kleinen Nationali täten und für die Wahrung der wesentlichen Lebensbedingungen für die Brüderschaft unter den Völkern." Es sind dies Säße, wie ſie genau so gut 1939 hätten geschrieben sein können. Ihre ganze Heuchelei wird erst dann klar, wenn wir darauf hinweiſen, daß dieselben Kreiſe keinen Protest gegen die englischen Methoden in Irland, Indien oder anderen Teilen des britischen Weltreichs erhoben. Hätte man ſie darüber zur Rede gestellt, so hätte man zur Antwort bekommen, daß England dort nur im eigensten Intereſſe jener Völker für Frie den und Ruhe sorge. Besonders groteske Formen nimmt das englische Entreten für den Frieden dann an, wenn England, um der Welt den Frieden zu geben, wie im September 1939 mit dem ihm gefährlich erscheinenden Deutschland einen Krieg vom Zaune bricht!

3. England als Vorkämpferin der Freiheit Ein anderes Gebiet, auf dem die englische Heuchelei immer wieder in Erscheinung tritt, iſt das der Freiheit. Kein 54

Mensch wird es den Engländern verübeln, wenn ſie Wert darauf legen, sich ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erhalten; niemand würde ihnen sogar Vorwürfe machen, wenn ſie, aus Gründen der Selbſterhaltung und Machtsteigerung, auch einmal rücksichtslos vorgehen. Das anstoßerregende Verhalten Englands ist jedoch, daß es ſein selbst. süchtiges und rücksichtsloses Vorgehen als reine Nächstenliebe bezeichnet. ' Gewiß, es gibt auch in England Stimmen, die ehrlich die Ziele der englischen Politik darstellen; so lesen wir z. B. in einem Artikel der " Times" vom 8. März 1915 über Englands Ziele im Weltkrieg: „Warum haben wir Belgiens Neutralität verbürgt ? Überwiegend aus dem Grunde des Selbstinteresses, aus dem Grunde, der uns immer uns dem Aufkommen irgendeiner Großmacht widerseßen ließ, die unſerer Ostküste Gefahr bedeutete, aus demselben Grunde, der uns die Niederlande gegen Spanien verteidigen ließ und gegen das Frankreich der Bourbonen und Napoleons. Wir halten unser Wort, wenn wir es gegeben haben, aber wir geben es nicht ohne solide, praktiſche Gründe, und wir beabsichtigen nicht, internationale Don Quichottes zu sein, immer bereit, ein Unrecht wiedergutzumachen, das uns keinen Schaden tut ... Aber in erster Linie kämpft es (England) nicht für Belgien oder Serbien, für Frankreich oder Rußland. Diese Länder füllen einen großen Plaß in seinem Geist und in seinem Her zen aus, aber sie kommen an zweiter Stelle. Der erste Plas gehört, und das rechtmäßigerweise, ihm selbst." Wären alle englischen Stimmen stets von solcher Offenheit getragen, so würde man in der Welt vielleicht gegen die engliſchen Machtansprüche protestiert haben, es wäre aber keinem Menschen eingefallen, die Engländer deswegen der Heuchelei und des "Cant" zu bezichtigen. Meistens wird jedoch nicht dieser gerade Weg eingeschlagen. Der englische Politiker und Propagandist kennt die Seele sei55

nes Volkes ganz genau . Er weiß, daß die Engländer am leichtesten dann zur Tat anzustacheln sind, wenn sie glauben, für irgendeine moraliſche und selbstlose Sache zu kämpfen. Diese Neigung zur Selbsttäuschung wird daher restlos aus'genüßt. Dies geht aus einem Aufſaß hervor, den der engliſche Journalist Sidney Whitman 1914 in der Dezembernummer der Zeitschrift "Fortnightly Review " veröffentlichte : „ So wird es wieder sein: das Ende ist entweder der Triumph Deutschlands und die Strangulierung der Frei heit , wie sie das Ideal der angelsächsischen Rasse ist , oder die Befreiung Europas von unerträglichen Anmaßungen , die mit beiſpielloſen Betrügereien und Brutalitäten ins Werk gesetzt werden, und die Morgenröte einer neuen Ara der Ver . nunft und des Wohlwollens für unsere Mitmenschen." Wie diese neue Ara, die von Versailles heraufgeführt wurde, in der Praxis aussah, ist bekannt genug. Wir können jedoch gewichtigere Zeugen als diesen Journa listen für die englische Geisteshaltung anführen. Im Herbst 1914 hielt Lloyd George eine großangelegte Werberede, um die englischen Rekrutierungsbüros zu füllen. In dieser Rede heißt es über die englischen Kriegsziele : „Denn es ist der große Krieg für die Befreiung Europa s von der Knecht schaft einer militärischen Kaste, die ihre Schatten auf zwei Generationen geworfen hat und die nun die Welt in Blut taucht. " Und in einem Interview, das derselbe Politiker Ende Dezember 1914 einem Vertreter der französischen Zeitung "Humanité" gewährte, sagte er : „ Dem preußischen Militaris, mus in Europa muß ein Ende bereitet und damit auch dem deutschen Volk die Freiheit wiedergege ben werden." Dies ist der Gipfelpunkt der Heuchelei ; nicht nur für das Wohl Europas zieht England angeblich zu Felde, sondern sogar, um das deutsche Volk selbst zu befreien. Noch einen dritten Zeugen für diese englische Einstellung

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wollen wir hier anführen. Es ist kein anderer als der damalige Erste Lord der Admiralität und heutige Premierminister Winston Churchill. Anfang Februar 1915 gab er einem Vertreter der französischen Zeitung "I Matin“ ein Interview, in dem er sich mit der Macht der deutschen Flotte beschäftigte. Er wies dabei darauf hin, daß Deutschlands Schiffe es nicht mehr wagen könnten, das Meer zu befahren, daß mit Ausnahme von vier Kriegsschiffen, die in südameri kanischen Gewässern kreuzten, kein deutſches Schiff mehr aus dem Hafen könnte. Dann heißt es weiter : „ Der deutsche Überseehandel besteht zur Zeit nicht mehr. Das Meer ist frei! Es ist dies das erstemal in seiner ganzen Geschichte, daß England sagen kann : das Meer ist frei. “ So wie England für die Freiheit der Völker im allgemeinen kämpft, ſo tritt es auch für die Befreiung unterdrückter Völker im einzelnen ein. Die Verteidigung des Nationalitätenprinzips wurde zu einem Grundsay englischer Politik er hoben. Durch dies Prinzip sollte das Habsburgerreich untergraben und von innen heraus gesprengt werden. In einer großen Rede, die Winston Churchill am 11. September 1914 hielt, wies er darauf hin, daß es das Ziel Englands sei, nach Beendigung des Weltkriegs in großzügiger Art eine Gesun dung des politischen Systems Europas herbeizuführen. An erster Stelle habe hierbei das Nationalitätenprinzip zu stehen. Durch die Niederwerfung Deutschlands müßten die unterdrückten Völker befreit und ihre nationalen Wünsche befriedigt werden. Und fast zur gleichen Zeit schlug Churchill dasselbe Thema in einer Unterredung mit dem Londoner Vertreter einer italienischen Zeitung erneut an. Er sagte: „Der Krieg muß di e europäische Karte nach nationalen Linien regeln , die Rassen befreien , die Integrität der Nationen wieder aufrichten und eine dauernde Erleichterung der unerträglichen Rüstungslaſt bringen. “ Man erkannte in England damals noch nicht die Kurzsichtigkeit 57

dieser Propaganda und ahnte kaum, wie sie sich nach Beendigung des Krieges gegen England ſelbſt wenden würde, gegen jenes England, das immer von der Selbständigkeit und Freiheit der Völker sprach, seinen eigenen unterdrückten Völkern aber keinerlei Freiheit zu geben gewillt war. Troßdem war man in England im Weltkrieg so weit gegangen, die Inder auf den europäischen Kriegsschauplatz zu schicken, um für die Freiheit der unterdrückten Nationen, für die Kultur, für den Frieden zu kämpfen.

4. England als Verteidigerin der kleinen Nationen Eng verknüpft mit dieſem leßten Prinzip der englischen * Politik ist das der Verteidigung der Interessen der kleinen Rationen . Immer wieder und zu allen Zeiten hat England sich als der Beschüßer der kleinen Völker aufgespielt. Auch hierfür liegen uns aus dem Weltkrieg beſonders aufklärende Beiſpiele vor. Auf die immer wiederkehrende Frage, warum England in den Weltkrieg eingetreten ſei, antwortete Lloyd George in der oben bereits erwähnten Rede vom Herbst 1914 : „Warum ist unsere Ehre in diesen Krieg' verwickelt? Weil wir durch eine ehrenhafte Verpflichtung gebunden sind , die Freiheit , Unverleß lichkeit und Unabhängigkeit eines kleinen Nachbarn , der im Frieden lebte , zu verteidi . gen ; dazu zwingen konnte er uns nicht, weil er zu schwach war. Aber der Mann, der erklärt, daß ſeine Schuld gelöscht ist, weil sein Partner zu schwach ist, sie mit Gewalt einzutreiben, ist ein Lump. " Oder an einer späteren Stelle seiner Rede, an der Lloyd George sich mit der Frage befaßt, warum Deutschland den Eintritt Englands in den Krieg nicht begreifen könne, heißt es: „Das alles verstehen sie (die Deutschen) ; aber nicht, daß ein großes Reich seine Geldmittel , seine 58

Macht, das Leben seiner Kinder , seine ganze Existenz aufs Spiel sezt , um eine kleine Nation zu beschüßen , die nach ihrer Verteidigung ver langt. " Wir erkennen auch hier wieder die Heuchelei, die hinter diesen Worten steht. Mit keinem Wort wird auch nur ange deutet, daß England andere als selbstlose Gedanken bei seinem Eintreten in den Krieg gehabt haben könnte. Ihre richtige Bedeutung erhalten diese Ausführungen aber erst dann, wenn wir ihnen ein paar Säße aus dem Buch " Warum wir im Kriege sind " gegenüberstellen, ein Buch, das von englischen Historikern der Universität Orford verfaßt und im Herbst 1914 veröffentlicht wurde. In diesem Buch ist zu Anfang von der belgischen und luxemburgischen Neutralität die Rede. Es wird die Frage aufgeworfen, warum England nicht sofort in den Krieg eintrat, als Deutschland am 2. August 1914 Luremburg beseßte. Wir lesen: „Englands Haltung gegen Luremburg ist dieselbe, die es stets gegen solche euro, päische Kleinstaaten eingenommen hat, die außerhalb des Bereichs der Seemacht liegen. England hält sich für verpflichtet, seinen Einfluß dafür zu verwenden, daß die Kleinſtaaten Europas von ihren mächtigen Nachbarn eine gerechte Behandlung erfahren ; aber die gerechte Behandlung durchzusehen, fällt zu erst auf diejenigen Mächte , deren Lage sie befähigt , ihren Protest durch Zaten zu unterstüßen. “ Dies heißt aber mit andern Worten, daß England nur dann aktiv helfend eingreift, wenn das betreffende Land innerhalb „ des Bereichs der Seemacht“ , also innerhalb der britischen Intereſſenſphäre liegt. Ist dies nicht der Fall, so bleibt es ſeinem Schicksal überlaſſen. Noch deutlicher wird die englische Heuchelei um die „ Verteidigung Belgiens" von dem englischen Unterhausmitglied Arthur Ponsonby bloßgestellt. In seinem 1928 erſchienenen Buch „ Lügen im Weltkrieg" ſagt er über Englands angebliches Eintreten für Belgien : „ Was auch immer die 59

Ursachen für den Weltkrieg gewesen sein mögen, der Einfall Deutschlands in Belgien war sicherlich keine von ihnen. Er war eine der ersten Folgen des Kriegs. Und er war nicht einmal der Grund für unseren Eintritt in den Krieg. Aber die Regierung, die erkannte, wie zweifelhaft es war, ob sie die öffentliche Begeisterung für ein Geheimversprechen an Frankreich entflammen könnte, war auf Grund dieser verhängnisvollen Fehlhandlung Deutschlands in der Lage, den Einfall in Belgien und die Verlegung der Neutralitätsakte als den Grund zu unſerem Eintritt in den Krieg darzustellen.“ Es besteht kein Zweifel, daß England nicht nur im Falle Belgiens, sondern auch vorher und nachher sich stets als der Beschüßer der kleinen Nationen aufgespielt hat. Um die Haltung Englands in dieser Frage richtig beurteilen zu können, müſſen wir zunächst einmal unterſuchen, wie England selbst sich den kleinen Nationen gegenüber verhielt, auch in solchen Fällen, wo deren Unabhängigkeit von keinem andern Staat unmittel bar bedroht wurde. Wir werden sowohl Fälle anführen, in denen England direkt die Selbständigkeit kleiner Nationen verlegt hat, als auch solche, in denen es sich um das Schicksal der mit ihm verbündeten kleinen Staaten nicht kümmerte. Zur Zeit Karls V. wurde der Kampf zwischen Habsburg und den Bourbonen zum Austrag gebracht. Er endete damit, daß Frankreich seine Vormachtstellung über Spanien hinaus bis nach Portugal erstreckte. Eine französische Vorherrschaft in Portugal aber, jenem Land, das nicht nur an den Atlantischen Ozean angrenzte, sondern auch als Kolonialmacht eine Rolle spielte, wollte England nicht dulden. So nüşte es die Gelegenheit des Spanischen Erbfolgekriegs aus und schloß 1703 mit Portugal den Methuen- Vertrag (genannt nach dem Namen des englischen Unterhändlers) ab . Durch diesen Vertrag verpfändete Portugal auf über anderthalb Jahrhunderte seine Freiheit und Unabhängigkeit an England. Es wurde von diesem fyftematisch ausgenüßt; ſeine Landwirt60

schaft wurde, entsprechend den englischen Wünschen, zur Monokultur umgestellt (fast nur Weinbau ; in England trat an die Stelle französischer Rotweine der Portwein), seine Industrie wurde, soweit sie vorhanden war, vernichtet. Portugal sank beinahe in die Rolle einer englischen Kolonie herab. Doch dies genügte England noch nicht. 1872 und wieder 1889 verlangte es von Portugal die Auslieferung von Gebieten seines Kolonialreichs; nur durch den Spruch eines internationalen Schiedsgerichts wurde in beiden Fällen Portugal vor den englischen Zugriffen gerettet. Als Portugal dann 1890 den Versuch machte, seine kolonialen Besißungen in Ost- und Westafrika zu verbinden, trat ihm England gewaltsam in den Weg. Ein englisches Geſchwader erſchien im Hafen von Liſſa, bon; die Engländer verlangten durch ein Ultimatum die Aufgabe der portugiesischen Pläne. Man ſuchte sich in Liſſabon auch diesmal wieder durch einen Appell an die europäischen Großmächte zu retten; aber da in Portugal selbst innere Unruhen drohten, war die Regierung zu schwach und konnte sich nicht durchseßen. Portugal mußte der englischen Gewalt nach, geben. Bis auf den heutigen Tag haben sich die Spuren dieser Abhängigkeit Portugals von England erhalten. Als der Aufstieg Napoleons begonnen hatte, bestand für England die Gefahr, daß Napoleon, deſſen Flotte 1805 bei Trafalgar vernichtend geschlagen worden war, sich als Erſaß die dänische Flotte aneignen könnte. Diese war zwar keineswegs groß und hätte, selbst in den Händen Napoleons, England niemals gefährlich werden können. Aber man wollte jede nur denkbare Stärkung des Gegners von vornherein ausschließen. So erschien, mitten im Frieden, im September 1807 die englische Flotte vor Kopenhagen, schoß die Stadt kurzerhand in Trümmer und raubte die dänische Flotte. Die einzige Beschuldigung, die man gegen Dänemark vorbringen konnte, war die Tatsache, daß dieſes ſich, aus Empörung über 61

die englischen Übergriffe gegen seinen Handel, der bewaffneten Seeneutralität angeschlossen hatte. In seiner Rolle als Verteidiger der kleinen Nationen hatte England am 31. März 1939 Polen seine Blankovollmacht erteilt ; diese wurde am 25. August durch ein formelles gegen seitiges Hilfeleistungsabkommen vertraglich festgelegt. In diesem Vertrag heißt es : „Art. 1. Wenn sich die eine Vertragspartei mit einer europäischen Machtinfolge eines Angriffs derselben im Kriegszu stand befindet , wird die andere Vertragspartei dem Partner jede in ihrer Macht gelegene Unterstüßung und Hilfe gewähren. Art. 2 a. Dieſe Beſtimmung bezieht sich auch auf den Fall, daß irgendeine Aktion einer europäischen Macht offensichtlich direkt oder indirekt die Unabhängigkeit der einen Vertragspartei bedroht und so geartet ist, daß die fragliche Vertragspartei den Widerstand mit Waffengewalt als von lebenswichtiger Bedeutung betrachtet." Art. 2 b sieht vor, daß die Hilfeleistung auch dann eintreten muß, wenn einer der Vertragspartner mit einer anderen europäischen Macht in Krieg gerät, weil diese andere europäische Macht die Unab hängigkeit oder Neutralität einer dritten bedroht. Der Beistandspakt iſt alſo ausdrücklich nicht nur gegen Deutschland gerichtet, sondern ganz allgemein gegen „eine europäische Macht“ . Als Deutschland dann auf Grund der polnischen Provokationen am 1. September in Polen einmarschierte, erklärte England, entsprechend seinem Versprechen, Deutschland den Krieg. Als dann am 17. September auch die sowjetruſſiſchen Truppen in Polen einmarschierten, und als später die Aufteilung des polnischen Gebiets zwischen der deutschen und der sowjetrusfischen Regierung vollzogen wurde, dachte England nicht daran, nun auch ſeinerseits, wie es der Vertrag verlangte, Rußland den Krieg zu erklären, obwohl es auch damals ausdrücklich die Regierung und den Staat Polen als noch bestehend anerkannte. Anstatt

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also ihrem Vertrag entsprechend zu handeln, ließ die eng lische Regierung durch ihren Unterstaatssekretär Butler im Unterhaus erklären, der Beistandspakt mit Polen sei nur für den Fall eines deutschen Angriffs berechnet gewesen. Im Falle des deutschen "Angriffs" deckte sich Englands Pflicht als Vorkämpferin der Freiheit Polens mit seinen eigenen Intereſſen; es zögerte nicht, Deutschland den Krieg zu erklären, wenn auch die " Hilfe", die es Polen gewährte, fragwürdig erscheinen mag. Im Fall des ruſſiſchen Angriffs geriet jedoch Englands Pflicht als Beschüßerin der Freiheit und Unab hängigkeit Polens mit seinem eigenen Vorteil in Konflikt, und es zögerte daher keinen Augenblick, seine prahlend verkündete Befreierrolle und die Freiheit des verbündeten Landes auf dem Altar seines Vorteils zu opfern. Es ist dies einer der Fälle, die England den Namen „das perfide Albion" eingetragen haben. Die Frage, warum England die Beschüßerrolle für die kleinen Staaten spielt, beantwortet sich aus den gegebenen Beispielen fast von selbst. Es ist ausschließlich auf seinen eigenen Nußen und Vorteil bedacht ; würde es diese aber offen hervorkehren, so hätte es vermutlich wenig Erfolg. In der Rolle des Beschüßers aber gelingt es ihm, nicht nur die ande ren über seine eigenen Motive hinwegzutäuschen, sondern vor allem auch, sich in die Verhältnisse der kleinen Staaten einzumischen und sie für seine Zwecke zu benügen, alſo genau das zu tun, vor dem es angeblich diese Staaten beſchügen will. Diese Einmischung geschieht auf verschiedene Art und Weise. Im Kriege ist neuerdings die Blockade und das Syſtem der schwarzen Listen das beste Mittel, die kleinen Neutralen ge fügig zu machen. Nach einem Krieg - und es gab in der Geschichte Europas nur sehr wenige Kriege, bei denen England, zumindest auf der Friedenskonferenz , nicht irgendwie dabei war kommt es ihm bei den Friedensverhandlungen darauf an, nicht nur die alten Kleinſtaaten zu erhalten, ſon-

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dern nach Möglichkeit neue zu schaffen, die die europäischen Großmächte umgeben. Eine Aufteilung ganz Europas in kleine Länder dürfte dabei vielleicht das der englischen Politik vorschwebende Ideal sein. Solche kleine Länder können mit Hilfe der englischen Kapitalkraft und Diplomatie leicht in die völlige Abhängigkeit Englands gebracht werden. Der nächste Schritt ist dann, fie im Falle einer drohenden Gefahr als englische Stüßpunkte und als englische Hilfsvölker von möglichst vielen Seiten her gegen den in Frage kommenden mächtigen oder aufstrebenden Staat zu benüßen. Die Tschecho- Slowakei und Polen sind die bekanntesten Beispiele dieser Art aus der jüngsten Zeit. Daß es sich hierbei um eine bewußte Methodik der eng lischen Politik handelt, geht aus dem folgenden Beispiel hervor. Im Juli 1936 veröffentlichte der Engländer Harold Nicolson in der Zeitschrift "I Foreign Affairs" einen Aufsat mit dem Titel „Verfolgt England eine Politik?", in dem er an einer Stelle auch die Ausführungen des Leiters der Westabteilung im Londoner Auswärtigen Amt im Jahre 1907, Sir Eyre Crowe, über die englisch-deutschen Beziehungen bespricht. Nicolson sagt an dieser Stelle über die Anschauungen von Crowe: „ Die britische Politik muß daher die offene Tür und den Freihandel aufrechterhalten, und sie muß gleich zeitig ein direktes und aktives Intereſſe an der Unabhängig. keit der kleinen Völker an den Tag legen. Großbritannien muß sich daher als der natürliche Feind eines jeden Landes betrach ten, das die Unabhängigkeit der kleineren Länder bedroht. Die Lehre vom Gleichgewicht der Kräfte nahm so für Großbritannien eine feste Form an. Sie bedeutete, daß es sich der politiſchen Diktatur durch den stärksten einzelnen Staat oder durch eine Staatengruppe zu jeder Zeit entgegenſeßen muß. Diese Gegnerschaft definierte Crowe als ein Naturgeſeß." Wenn wir somit die Ziele der englischen Politik in ihrem Verhalten zu den kleinen Nationen verstehen, so haben wir

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damit noch nicht erklärt, wie es kommt, daß England mit diefer Politik immer wieder großen Erfolg gehabt hat. Dieser Erfolg beruht sicherlich nicht allein auf offenem Druck, auf der Macht der engliſchen Propaganda oder des engliſchen Geldes. So start diese und ähnliche Mittel in vielen Fällen zweifellos mitwirken, kommt dazu doch auch die Tatsache, daß England fast stets ohne Schwierigkeit in der Lage war, seine eigenen, rein egoistischen Intereſſen mit den Intereſſen der kleinen Völ ter in Einklang zu bringen. Zumindest konnten diese Staaten hoffen, daß eine Verbindung mit England ihnen einen Vorteil verschaffen könnte. Der Grund dafür ist ein doppelter. Die direkten Intereſſen Englands liegen in der weiten Welt. Seine Politik in Europa ist deshalb darauf ausgerichtet, nach Möglichkeit alle Mächte im Gleichgewicht zu halten, um so in Europa den „Frieden“ gesichert zu haben. Dieser Frieden aber ist kein Frieden der Gerechtigkeit, ſondern der typische britische Frieden, d . h. der Frieden, der es England ermöglichen soll, Europa den Rücken zu kehren und sich voll und ganz feinem überſeeiſchen Weltreich zu widmen ; in Europa will es nur Handel treiben. Das bedeutet aber, daß England (und das hat es durch eine jahrhundertelange Geschichte bewiesen) in Europa keine territorialen Ansprüche erhebt. Es besteht also für ein Land, das mit seinen Grenzen zufrieden ist und keinen Ehrgeiz auf Führung und Größe hat, keinerlei Anlaß zur Angst vor einem übermächtigen England ; denn dieses wird ihm seinen Landbesig nicht rauben. Darüber hinaus hat es aber und das ist der zweite entscheidende Punkt für den bisherigen Erfolg der englischen Politik — die Aussicht, durch ein enges, freundschaftliches Verhältnis mit England seinen Handel zu fördern und sich möglicherweise auch durch englische Anleihen seinen Staatshaushalt zu sanieren. Unter den gegebenen Umständen spielt dabei die Tatsache, daß es sich nur um eine rein kapitalistische Hilfe handelt, um deren Preis man sich auf Gnade oder Ungnade in die englische Hand be 8 Soops, Englands Selbsttäuschung

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gibt, keine Rolle ; denn in normalen, friedlichen Zeiten wird England seine Macht diesen Ländern gegenüber nicht oder nur wenig mißbrauchen. Daß die Dinge aber für ein großes Volk wie das deutſche, vor allem wenn es wie dieses durch einen Gewaltfrieden verstümmelt und entrechtet worden war, ganz anders liegen, ver steht sich von selbst; denn Großdeutſchland kann sich auf die Dauer niemals damit zufrieden geben, ganz im Schlepptau Englands zu segeln und eine Macht von minderer Bedeutung zu sein. Wenn die englische Politik also, wie wir fahen, tatsächlich sich mit den auf wirtſchaftlichen Austausch gerichteten Intereſſen der kleinen Völker sehr oft zu decken scheint, ſo ändert dies nichts an der Tatsache, daß England ſelbſt nur aus purem Eigennuß handelt, und daß es, wenn es die Umstände erfordern, jederzeit gewillt ist, das Schicksal eines kleinen Volkes ſeinen eigenen kapitaliſtiſchen Intereſſen zu opfern. Die Intereſſen des kleinen Volkes decken sich nur so lange mit den eng, lischen und England ist nur so lange gewillt, für sie einzutreten, als das betreffende Volk bereit ist, sein Leben und seine Wirtschaft dem engliſchen Kapitalismus anzugliedern. Das Eintreten Englands für die kleinen Nationen mit der Begründung, für deren Wohl allein besorgt zu ſein, iſt alſo ebenfalls eine ausgesprochene Heuchelei.

5. England als Vorkämpferin der Demokratie Das englische Eintreten für Frieden, Freiheit und für die kleinen Völker ist, wie wir schon verschiedentlich hervorhoben, nichts Neues; schon früh können wir es in der Geschichte feststellen. Zu diesen drei Motiven kam als viertes in verhältnis. mäßig später Zeit das Schlagwort von der Verteidigung der Demokratie. Es tauchte wohl zum erstenmal im Welt66

krieg auf und verdankte seine Entstehung sicherlich zum größ ten Teil dem Werben Englands um die Gunst der Vereinigten Staaten. Die Amerikaner konnten nur wenig Geschmack daran finden, in den Weltkrieg zu ziehen, um das britische Weltreich - einen ihrer größten Konkurrenten - zu vertei digen und sogar noch zu stärken. Da Amerika aber sehr viel auf seine demokratische Staatsform hält, so nüßte man dies aus. Die Söhne Amerikas zogen auf die Schlachtfelder in Frank reich, um der Welt die Demokratie zu bringen und zu sichern (,,to make the world safe for Democracy"). Nachdem dieses Schlagwort aber erst einmal geschaffen war , erwies es sich als überaus erfolgreich, und es kam so weit, daß auch die Engländer, über deren Demokratie die Meinungen recht ge teilt sind, für diese zu Felde zogen. Auch dies war eine der größten Selbsttäuschungen des englischen Soldaten und Bürgers.

6. Sonstige Schlagwörter des politischen „ Cant“ Man könnte die Reihe der englischen Heucheleien noch beliebig ausdehnen ; ihr Charakter ist aus den wenigen Beispielen aber schon deutlich genug geworden, und wir brauchen nicht länger bei ihnen zu verweilen. Nur auf ein paar kleine Heucheleien sei noch kurz hingewiesen, um zu zeigen , wie diese Methode im kleinen wie im großen angewandt wird. Ein wichtiger englischer Charakterzug ist die Anstän . digkeit (,,fairness ") . Auch von ihr wird in der englischen Politik ausgiebig Gebrauch gemacht, im Frieden. sowohl wie im Krieg . Wenn England sich z. B. weigert, den Indern ihre Freiheit zu geben, so begründet es dies damit, daß diese Unabhängigkeit ja nur von der indischen Kongreßpartei verlangt werde ; diese aber verkörpere nur einen Teil des Volkes,

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und es sei daher nicht fair, ihrem Verlangen nachzugeben, da man ſonſt alle übrigen Inder benachteilige. Dies Motiv der Gerechtigkeit dem fremden (selbst dem feindlichen) Volk gegenüber tritt in Verbindung mit einer ganzen Reihe anderer Motive (Friede, Freiheit, Moral usw.) auf verschiedene Art und Weiſe in Erscheinung. Wir wieſen bereits darauf hin, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Kampf gegen Frankreich ganz auf die Person Napoleons konzentriert wurde. Auch dies ist ein Prinzip, das immer wieder auftritt. Im Burenkrieg wurde so gegen den „Krügerismus“, im Weltkrieg gegen den Kaiserismus“, und seit etwa 1938 wird gegen den "Hitlerismus“ gekämpft. Das jeweilige Staatsoberhaupt wird dem englischen Volk als der leibhaftige Teufel, als ein brutales, herrschsüchtiges, gewalt. tätiges, kulturloses Scheusal dargestellt; er wird so verzerrt gezeichnet, daß jeder anständige Engländer es geradezu als seine Pflicht ansehen muß, die Welt von diesem Ungetüm zu befreien. Und mit dieser Methode wird gleichzeitig eine andere verbunden: der feindliche „ Despot“ ist nicht nur eine Schande der Menschheit, sondern er unterdrückt auch das eigene Volk mit roher Gewalt. Seine Vernichtung befreit daher nicht nur alle Nachbarn von der ihnen drohenden Gefahr, ſondern erlöſt auch sein eigenes Volk. Nach diesem Prinzip ſucht man die Zwietracht in die Reihen des Gegners zu tragen. Immer wieder ist man bestrebt, dem Volk des Gegners klarzumachen, daß man es ja nur von seiner Regierung befreien wolle, daß man nur gegen die Regierung, nicht gegen das Volk kämpfe. Und nicht selten hat England damit Erfolg gehabt, denn dieſe Einflüsterungen werden von den betörendsten Versprechungen für die Zukunft begleitet. Auch das deutsche Volk wurde 1918 schließlich durch diese Methode zum Erliegen gebracht; es hat eines Vertrags von Verſailles mit allen ſeinen Folgen bedurft, um es für immer davon zu heilen.

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7. Englands doppelte Moral Die legte Eigenart der englischen Selbsttäuschung, von der wir hier sprechen wollen, ist die der doppelten - vor allem in KrisenMoral. Jedes Volk ist geneigt oder Kriegszeiten —, die Handlungen des Gegners anders zu beurteilen als die eigenen Taten. Aber bei kaum einem anderen Volk tritt dies so stark in Erscheinung wie beim eng, lischen. Auch hier liegt der Grund dazu im engliſchen Volkscharakter. Wir sahen, wie auch im Privatleben des Engländers die doppelte Moral eine starke Rolle spielt. In der Politik ist dies noch deutlicher. Wenn Deutſchland aufrüſtet, so ist es ein verbrecherischer Angriff auf den Weltfrieden; wenn England dasselbe tut, so geschieht es nur zur Vertei digung dieses Friedens. Wenn Deutschland, eines anderen Einmarsch vorbeugend, in Belgien einmarschiert, so ist dies ein Grund zur Entfesselung des Weltkrieges ; wenn England in Griechenland einmarschiert, so ist dies die selbstver ständlichste Haltung in der Welt. Unzählige andere Beiſpiele ähnlicher Art ließen sich anführen. Immer sind die Handlungen Englands nicht etwa notwendig, sondern allein richtig gewesen (England handelt ja im Auftrag Gottes), und immer ſind die ganz entsprechenden Handlungen seines Gegners Sünden wider die Menschheit.

8. Selbsttäuschung und Heuchelei Es ist nicht unsere Aufgabe, die zahlreichen sonstigen Mög , lichkeiten, in denen sich der englische „ Cant “ auswirken kann, hier aufzuspüren und zu erschöpfen. Das engliſche Verhalten ist im Prinzip in allen Lagen das gleiche. Stets handelt es sich um eine Verknüpfung von Selbsttäuschung und Heuchelei . Wie wir es im Privatleben der Puritaner kennengelernt haben, so ist es im öffentlichen Leben des

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englischen Volks . Es wäre grundfalsch, wollten wir etwa alle Engländer der Heuchelei bezichtigen. Die Mehrzahl der Engländer sind von der Richtigkeit und Wahrheit ihrer Schlagwörter überzeugt ; ſie glauben ehrlich an das, was ſie als das angebliche Ziel hinstellen. Es gibt zahlreiche Enthu fiasten, einzigartige Idealisten, weltfremde Schwärmer und Apostel des Alltags, die die eigenartigsten Bewegungen ins Leben rufen und ihr ganzes Leben, ja sogar ihren ganzen Besiz dafür einsehen. Dem einen von ihnen folgen viele, dem anderen wenige, aber alle folgen sie aus innerster Überzeugung. Die Regierung läßt sie alle ihren Idealen nach hängen. Sie beobachtet jede dieser Strömungen innerhalb und auch außerhalb ihres Landes ; ergibt sich irgendeine Möglichkeit, eine solche Bewegung für politische Zwecke aus, zunügen, so wird sie aufs lebhafteste gefördert, während man sie sonst ihrem Schicksal überläßt. Werden solche Bewegungen für politische Ziele eingespannt, und bedient sich die Staatsführung allgemeiner menschlicher Ideale, so erhalten sie von den einzelnen Menschen im guten Glauben deren Unterstügung. Wir müssen daher in all diesen Fällen im wahrsten Sinne des Wortes von Selbsttäuschung reden. Bei den leitenden Männern aber, die diese Ideale für ihre Ziele ausnüßen, hört jede Selbsttäuschung auf; bei ihnen handelt es sich um ausgesprochene Heuchelei.

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V. Frühste Vertreter und satirische Kritiker des politischen „Cant“ Wir haben früher, bei der Behandlung des Volkscharakters, gezeigt, wie die engliſche Selbsttäuschung vor allem aus dem Puritanismus erwachſen iſt, weshalb man ihr im allgemeinen auch den Namen „Cant" gibt. Es bleibt noch zu klären, ob sie tatsächlich erst im Puritanismus entstanden ist, ob man erst seit dem 17. Jahrhundert in England sich als das von Gott be. gnadete Volk betrachtet und seine Handlungen entsprechend religiös und moralisch verklärt, und ob man erst seit dieser Zeit alle Strömungen und Motive in den Dienst der eigenen Politik einspannt. Zu diesem Zweck wenden wir uns kurz zu der Zeit, die vor der Entstehung des Puritanismus liegt. Sir Thomas More (1478-1535) ist zweifellos ein Mann, der noch nichts mit dem Puritanismus zu tun hat. Er schrieb 1515-1516 in lateinischer Sprache ein Buch, das den Titel " Utopia" trägt, und das 1516 im Druck erschien ; 1551 wurde die erste englische Übersetzung veröffentlicht. In diesem Werk legt er seine Gedanken über das Wesen des Staates dar; er fchildert einen Idealstaat, so wie er ihn sich vorstellt. Gegen Ende des zweiten Buchs kommt er auch auf die Kriegsführung zu sprechen. Die Utopier verabscheuen den Krieg als etwas Bestialisches ; aber sie kennen doch den Krieg in verschiedenen Formen. Über die Art ihrer Kriegsführung lesen wir folgendes: „ Sie bedauern es nicht nur, sondern schämen sich sogar, den Sieg durch Blutvergießen zu gewinnen, da sie es als eine große Dummheit ansehen , wertvolle Güter zu teuer zu erkaufen. " Sie suchen ihr Ziel womöglich durch List und Tücke zu erreichen. Gelingt ihnen 71

das nicht, dann „nehmen sie eine so grausame Rache an denen, die daran schuld find, daß sie sich für alle Zeiten hüten, etwas Ähnliches wieder zu tun ... Sobald daher der Krieg einmal feierlich erklärt ist, lassen sie viele Aufrufe , mit ihrem Siegel unterfertigt , heimlich zur gleichen Zeit im Land ihrer Feinde an viel besuchten Pläßen anschlagen. In diesen Aufrufen versprechen sie dem eine große Beloh . nung, der den Fürsten ihrer Feinde ermordet." Ähnliche, etwas kleinere Summen ſeßen sie auf den Kopf einer Reihe anderer Männer, die sie als ihre Hauptgegner betrachten. Wer den Gegner lebend aushändigt, erhält den doppelten Kopfpreis. Dieselbe Prämie mitſamt einer Verzeihung und Garantie ſeines Lebens wird auch dem Geächteten ſelbſt ausbezahlt, wenn er zu ihnen übergeht und sich freiwillig stellt. " So wird es erreicht, daß ihre Feinde sehr schnell alle anderen Männer im Verdacht haben und untreu werden , sich gegenseitig mißtrauen und in großer Angst leben." Weiter heißt es, daß sie ihre Versprechungen auf Belohnungen pünktlich einhalten. Diese Methode, ihre Gegner in anderen Völkern durch Ausseßung von Beloh. nungen zu beseitigen, mag als grausam und gemein angeſehen werden. „ Sie selbst halten sich in dieser Hinsicht für fehr lobenswert, da sie als weise Männer auf diese Art große Kriege ohne Schlacht oder Gefecht erledigen ... Wenn durch keines dieser Mittel die Dinge so vorwärtsgehen, wie sie es haben möchten, dann sorgen sie dafür, daß Auseinanderseßungen und Zwistig . keiten unter ihren Feinden entstehen ... Hilft auch dies nichts , dann stacheln sie die Völker , die die nächsten Grenznachbarn ihrer Feinde find , auf und heßen sie diesen auf den Hals unter dem Vorwandirgendeines alten Rechts, woran es Königen niemals fehlt. Denen ver. 72

sprechen sie ihre Hilfe und Unterſtüßung in dem Kriege. Geld geben sie ihnen im Überfluß. Aber von ihren eigenen Bürgern ſenden fie wenige oder keine ... Aber neben ihren eigenen Reichtümern, die sie zu Hause behalten, haben ſie auch unbeschränkte Summen im Ausland investiert , weil viele Völker in ihrer Schuld stehen. Deshalb mieten sie Soldaten aus allen Ländern und schicken ſie in die Schlacht." Dies sind die Rezepte, die der Engländer, der Heilige Thomas Morus, seinen Landsleuten als Ideale vorhält. Seine „Utopia" als Ganzes hatte einen weitgehenden Einfluß auf die Entwicklung des engliſchen Staatslebens ; von ihr ſkammt die Bezeichnung „Utopie“, die heute in der ganzen Welt für Darstellungen eines idealen Staatsgebildes gebraucht wird. Sie wurde Anregerin und Vorbild für eine große Anzahl ähnlicher Werke in der englischen Literatur. Der Einfluß dieses Buches auf die englische Literatur- und Geistesgeschichte ist oft genug erwiesen worden. Die politischen Methoden und die Auffassung von Kriegsführung, wie sie sich in der „ Utopia" finden, ziehen sich von Thomas More in fortlaufender Linie burch das politische Denken der Engländer bis in unsere Tage. Aus unserem Beiſpiel geht zugleich hervor, daß die Methodik der englischen Politik, wie wir sie bisher kennengelernt haben, in ihrer Verbindung mit Heuchelei und Selbsttäuschung nicht ausschließlich auf den Puritanismus zurückgeht. Thomas More hat als typischer Renaissancemensch mit größter Offenheit die rücksichtslose Einstellung der engliſchen Politik formuliert. Aber auch er sucht bereits nach ethischen, humanitären Begründungen für die Machtpolitik . Der Krieg an sich ist verabscheuenswert wegen des damit verbundenen Blutvergießens ; aber es gibt doch gerechte Kriege. Zur Vermeidung der Opferung der eigenen Landsleute ist die An wendung von List und Tücke, die Aufheßung des feindlichen 73

Volks zur Ermordung seines Herrschers, die Aufstachelung von Nachbarvölkern zum Kampf gegen den Feind durchaus erlaubt. Einen Schritt weiter in der Verbindung von Machtwillen mit ethischem Gebot geht der Philosoph Francis Bacon. Auch er stellt für den Staat den Machtanspruch in den Vordergrund; bei ihm finden wir schon den Gedanken des europäischen Gleichgewichts deutlich formuliert ; er hält schon den Präventivkrieg für berechtigt (in seinem Eſſay „ Über die Herrschaft": Of Empire) . Wichtiger für uns ist aber sein Essay „Über die wahre Größe von Königreichen und Staaten ". Wir finden in ihm, etwas mehr als hundert Jahre nach Thomas More, fast dieselben Gedanken wieder. Er hält den Krieg nicht nur für unvermeidlich, sondern auch für die Erhal tung der Spannkraft der Völker notwendig. Aber er ver und hierin unterscheidet er sich von More — die tritt haben Bräuche Auffassung, daß ein Staat solche Geseze und Kriegsvorgeschobene) nur auch (oder gerechte ihm sollte, die gründe liefern ; denn die Menschen besißen von Natur aus ein solches Rechtsgefühl, daß sie nicht in einen Krieg eintreten wollen (der so viel Elend hervorbringt), es sei denn aus wenigstens scheinbaren Ursachen und Anläſſen“ . Nicht nach Recht oder Unrecht fragt Bacon alſo, ſondern vor allem nach dem Schein. Man kann somit bei Bacon, zu dessen Lebzeiten der Puritanismus seinen Aufschwung nahm, die erſten Anfänge zu der Bemäntelung egoistischer politischer Ziele, zur offenen Heuchelei, erkennen. Der Puritanismus hat dann diese Methodik der Umkleidung machtpolitischer Ziele mit dem Mäntelchen der Religion, Humanität und Moral zur vollen Entfaltung gebracht. Wir können hier unsere Betrachtungen über den „ Cant“ als politiſches Prinzip abſchließen. Wir haben geſehen, wie es in der Politik noch schwieriger als im privaten Leben ist, zu unterſcheiden, ob es sich um Selbsttäuschung oder Heuchelei 74

handelt; aber wir haben erkannt, daß bei den führenden Leuten in sehr vielen, wohl in der Mehrzahl der Fälle ohne weiteres das letztere angenommen werden kann. Eine Selbst. täuschung kann nur bei solchen Perſonen vorliegen, denen die wirklichen Ziele der englischen Politik und die ganzen Strömungen des politischen Machtkampfes, besonders soweit er sich hinter den Kulissen abspielt, nicht bekannt sind. Bei einem Politiker ist dies aber nicht der Fall ; er muß über alles genau informiert sein, wenn er überhaupt den Anspruch auf den Namen eines Politikers erheben will. Ist er dies aber, so muß er auch über die politischen Ziele im Bilde sein; er kann sich über sie kaum einer Selbsttäuschung hingeben. Man könnte einwenden, daß bei allen Völkern die Nei gung besteht, die eigene Sache als die gerechte, die des Gegners als die falsche hinzustellen; daß die Regierungen aller Zeiten bestrebt waren, ihre wahren Ziele zu beschönigen usw. Das soll nicht bestritten werden. Der wesentliche Unterschied zwischen solchen Tendenzen und dem englischen Gebaren ist aber der, daß der Engländer sich immer und mit Vorliebe ganz auf moralische Ideen versteift. Wir brauchen, um dies deutlich zu machen, nur Deutschland und England einander gegenüberzustellen. Der Deutsche wird immer bereit sein, zuzugeben, daß auch er kein reiner Engel ist; wir Deutsche kämpfen für unsere Selbſterhaltung, für unseren Lebensraum, für unser Recht. Diese Dinge stehen auch dann im Vordergrund, wenn wir darauf hinweisen, daß damit gleichzeitig Europa geholfen wird. Ganz anders der Engländer. Er kämpft nie für sich, sondern stets nur für die Freiheit, die Demokratie, die Menschlichkeit, das Recht usw. Seine „Kriegsziele “ stehen außerhalb oder über der nationalen Interessensphäre, eine Tatsache, die mit den Grund dazu hergibt, warum die englische Propaganda in allen Ländern der Erde so leicht Erfolge erringen kann; denn das englische „Kriegsziel“ kann sich jede andere Nation ebenfalls zu eigen

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machen, kann mindestens mit ihm sympathisieren. Die deutschen Kriegsziele laſſen ſich jedoch nicht exportieren. Wir sahen aber immer wieder, daß sich zwar das englische Volk in seiner breiten Maſſe einer allgemeinen Selbsttäuschung über die englischen Ziele hingibt, daß seine Führer aber genau wissen, worum es geht. Und wir können hinzu fügen, daß es neben ihnen auch zahlreiche einzelne Engländer gibt, die das Spiel der großen Heuchler durchschauen, die entweder ehrlich genug sind, offen herauszusagen, was die wahren Ziele der englischen Politik sind, oder die von dem heuchlerischen Spiel sogar so angeekelt werden, daß sie es zum Mittelpunkt ihrer Angriffe machen. Gerade die letteren liefern uns den schlagendsten Beweis für die Richtigkeit unſerer Darlegungen und zeigen uns, daß wir nicht gewaltſam etwas in den engliſchen Volkscharakter hineingedeutet haben, was ihm nicht zugehört, ſondern daß es ſich um Dinge handelt, die sogar den eigenen Landsmann oft genug abstoßen. Wir führen daher einige dieſer Selbstzeugniſſe hier an. Jonathan Swift ist einer der bekanntesten Dichter und Satiriker der englischen Literaturgeschichte, ein Mann, der seine Engländer wie kaum ein anderer kannte. Sein Buch " Gullivers Reisen" (1726) ist in fast alle Sprachen der Erde übersetzt worden und auch bei uns bekannt genug. An mehreren Stellen in diesem Buch stellt Swift die englische Heuchelei bloß. So sagt er z . B.: „ Es gilt als gerechter Grund zum Krieg, ein Land zu überfallen, nachdem deſſen Bevölkerung durch Hungersnot ausgemergelt, durch Seuchen vernichtet oder durch inneren Zwiespalt zerriſſen ist. Es ist gerecht, mit unserem nächsten Verbündeten einen Krieg zu beginnen, wenn eine seiner Städte in bequem erreichbarer Nähe für uns liegt, oder wenn ein Landstreifen unseren Besig rund und vollständig machen würde. Wenn ein Fürst Streit kräfte in ein Land schickt, in dem die Bevölkerung arm und unwiſſend iſt, ſo darf er gerechterweise die Hälfte von ihr 76

umbringen und den Reft zu Sklaven machen, um sie zu zivilisieren und von ihrer barbarischen Lebensweise abzubringen. " An einer anderen Stelle desselben Buchs beschreibt Swift, wie Seeräuber durch Zufall ein neues Land entdecken, von den Eingeborenen freundlich aufgenommen werden, wie ſie im Namen ihres Königs offiziell Beſiß von dem Land ergreifen und ein paar Dußend Eingeborene als „ Warenprobe" in die Heimat mitnehmen, um nach ihrer Rückkehr gnädigste Verzeihung zu erhalten. Dann heißt es : „Damit beginnt eine neue Herrschaft , die durch göttliches Recht errichtet wurde. Bei der ersten Gelegenheit werden Schiffe ausgesandt, die Eingeborenen werden vertrieben oder vernichtet, ihre Fürsten werden gefoltert, damit man das Versteck ihres Goldes erfahre, alle Akte der Unmenschlichkeit und Luft werden frei geduldet, und die Erde trieft vom Blut ihrer Bewohner: und diese verkommene Bande von Schlächtern, die zu einem so frommen Zweck verwandt wurde, nennt man eine ,moderne Kolonie', die angeſeßt wurde, um ein barbarisches und ungläubiges Volk zu be kehren und zivilisieren. " Swift spricht hier allgemein und schließt seine Betrachtungen, um den Spott voll zu machen, sogar mit der Bemerkung, daß damit natürlich nicht seine Landsleute, die Engländer, gemeint ſeien; denn deren Kolonisationsmethoden zeichneten sich durch ihre große Milde und Gerechtigkeit aus. Noch schärfer und deutlicher in seinem Urteil ist der große Dramatiker George Bernard Shaw. In seinem Drama „Der Mann des Schicksals" (1895), das in Deutsch land auch unter dem Titel „ Der Schlachtenlenker" bekannt ist, lesen wir: „Die Engländer sind eine Rasse für sich. Kein Engländer steht zu niedrig, um Skrupeln zu haben; kein Engländer steht hoch genug, um frei von ihrer Tyrannei zu ſein. Aber jeder Engländer kommt mit einer eigenartigen, wunder77

baren Kraft zur Welt, die ihn zum Herrn der Erde macht. Wenn er etwas haben möchte, gesteht er sich nie ein, daß er es haben will. Er wartet geduldig, bis es ſeine moralische und religiöse Pflicht ist, diejenigen zu unterwerfen, die das beſißen, was er haben möchte. Dann wird er unwiderstehlich. Wie der Aristokrat, tut er, was er will, und grapſt, was ſein Herz begehrt; wie der Krämer verfolgt er ſein Ziel mit dem Fleiß und der Beharrlichkeit, die aus starker religiöser Überzeugung und einem tiefen Sinn für moralische Verantwortlichkeit entspringen. " „Er ist nie in Verlegenheit um eine wirksame moralische Geste. Als der große Vorkämpfer für Freiheit und nationale Unabhängigkeit erobert und annektiert er die halbe Welt und nennt das Kolonisation. Wenn er einen neuen Markt für seine verfälschten Manchesterwaren braucht, schickt er einen Misſionar aus, den Eingeborenen das Evangelium des Friedens zu predigen. Die Eingeborenen töten den Miſſionar ; er ergreift die Waffen zur Verteidigung des Christentums, kämpft dafür, siegt dafür und nimmt den Markt als eine Belohnung des Himmels. Zur Verteidigung seiner heimischen Gestade nimmt er einen Geistlichen an Bord seines Schiffes, nagelt eine Flagge mit einem Kreuz darauf an seinen Topmast, segelt bis ans Ende der Welt und versenkt, verbrennt und vernichtet alle, die ihm die Herrschaft der Meere streitig machen.“ "1Er prahlt damit, daß ein Sklave fkei ist in dem Augenblick, wo sein Fuß britischen Boden berührt; und er verkauft die Kinder seiner Armen im Alter von sechs Jahren, daß ſie unter der Fuchtel in seinen Fabriken sechzehn Stunden täglich arbeiten müssen. Er macht zwei Revolutionen und erklärt dann der Französischen Revolution den Krieg im Namen von Recht und Ordnung." „Nichts ist so schlecht oder so gut, daß man nicht Engländer fände, die es tun; aber man wird nie einen Engländer finden, der im Unrecht ist. Er tut alles aus Grundſaß. Er kämpft 78

gegen dich aus patriotischen Grundsäßen; er beraubt dich aus Geschäftsgrundsäßen ; er macht dich zum Sklaven aus imperialistischen Grundsäßen ; er tyrannisiert dich aus männlichen Grundsäßen; er hält treu zu ſeinem König aus loyalen Grund, fäßen und schlägt seinem König den Kopf ab aus republikaniſchen Grundsäßen . Sein Schlagwort ist immer Pflicht; und er vergißt nie, daß ein Volk, das seine Pflicht mit seinem Vorteil in Konflikt kommen läßt, verloren ist." Seit den Tagen von Swift hat sich wenig geändert ; es find immer wieder die gleichen Vorwürfe, die gegen die Engländer erhoben werden, weil auch die Gründe dafür ſtets dieſelben ſind.

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VI. Selbsttäuschung in der englischen Außenpolitik der Gegenwart Bei unseren bisherigen Ausführungen kam es darauf an, herauszustellen, wie die Selbsttäuschung eine Eigenheit des englischen Volkscharakters ist und wie ſich die Politiker der angestammten Neigung des Volkes zu religiöſer, humanitärer und moralischer Selbsttäuschung für ihre Zwecke bedienen. Um zu zeigen, daß es ſich dabei um eine dauernde Eigenheit handelt, und nicht um eine zufällige Augenblickserscheinung, haben wir uns vorwiegend auf die Vergangenheit bezogen, denn dadurch erst erhalten unsere Darſtellungen einen über die Gegenwart hinausgehenden Wert. Wenn wir uns nunmehr der Selbsttäuschung in der engliſchen Außenpolitik zuwenden, ſo treten wir in die Ereigniſſe der allerjüngsten Vergangenheit und Gegenwart ein. Die Selbsttäuschung, mit der wir es in der Außenpolitik zu tun haben, ist eine andere als die, von der bisher die Rede war. Wir unterschieden einleitend eine innere, psychologische und eine äußere, außenpolitische Selbsttäuschung. Während die innere auf dem Wesen des englischen Volkes begründet ist, hat die außenpolitische damit nicht unbedingt, oder doch nur mittelbar etwas zu tun ; mittelbar insofern, als gewiſſe Eigenheiten des englischen Charakters diese oder jene Selbsttäuschung auf außenpolitischem Gebiet veranlassen können. Im allgemeinen geht die Selbsttäuschung in der Außenpolitik weniger das englische Volk in seiner Gesamtheit als vielmehr nur die Staatsmänner an, die seine Außenpolitik leiten. Die englische Außenpolitik gilt noch heute weithin als das Muster und Vorbild einer guten und vor allem erfolgreichen 80

Politik. Wohl hat man oft genug an ihren Methoden Kritik geübt, an den Erfolgen jedoch kaum. Man hat immer wieder rühmend hervorgehoben, daß die englische Politik es ver standen hat, die zahlreichen Kräftezentren und Strömungen dieser Welt richtig zu erkennen und einzuschäßen und so ihr Handeln zum Vorteil des englischen Volkes rechtzeitig einzuſeßen und den jeweiligen Gegner an seiner schwächsten Seite zu treffen. Daß dies auch ein bewußtes und anerkanntes Ziel der englischen Politik war und ist, geht aus den Ausführungen des ehemaligen militärischen Beraters der englischen Regierung, Liddell Hart, in seinem Buch „Wenn England zu Felde zieht" deutlich genug hervor. Für den Erfolg dieser Politik liefert die Geschichte genügend Beispiele. Betrachten wir jedoch die englische Politik der lezten zehn bis fünfzehn Jahre, so können wir ein offensichtliches Absinken dieser Fähigkeiten, dieses außenpolitischen Weitblicks feftstellen. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß die führenden Männer Englands sich dessen noch nicht bewußt sind, daß sie vielmehr ihr ganzes Handeln ſo eingerichtet haben, als ob die alten Tatsachen auch heute noch ihre Gültigkeit hätten. Das Versagen der englischen Politik beruht nicht nur auf geringerer politiſcher Einsicht und Fähigkeit, ſondern großenteils auch auf Selbsttäuschung : auf der falschen Einschätzung der eigenen Stärke und Macht und auf der zu geringen Beachtung der Größe des Gegners . Um diese Dinge voll würdigen zu können, müſſen wir uns über eines im klaren ſein: England, das sein Weltreich vor allem im 19. Jahr, hundert aufgebaut hat (1776 war ja durch die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten das erste britiſche Weltreich zusammengebrochen), erreichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts und vor allem nach dem Weltkrieg eine Größe und Machtfülle, wie sie seit der Römerzeit nicht mehr in einem Reich vereint waren. Gewiß, schon 1920 gab es genügend Sprünge in dem Gefüge dieses Weltreichs ; aber sie 6 Hoops. Englands Selbſtäuschung

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waren im allgemeinen mehr Möglichkeiten zu einer gefährlichen Entwicklung als direkte Gefahren. Jedenfalls war die Macht Englands, vor allem was den Länderbesit anging, so groß geworden, daß an eine weitere Ausdehnung kaum noch zu denken war. Die Wahrscheinlichkeit einer Annexion portu giesischen Kolonialbesizes in Afrika ist nicht sehr groß; mit dem Gedanken eines Anschluſſes Argentiniens an das britische Weltreich spielten wohl nur Phantasten, und höchstens die Angliederung von Island als Flugzeug- und Flottenbaſis dürfte mit einigem Ernst ins Auge gefaßt worden sein. Im ganzen kann man also ruhig sagen, daß England gesättigt war und daß sein allererster Grundsaß die Erhaltung seines Besizes und seiner Macht sein mußte. Die Verteidigung des Status quo ist daher jezt das Hauptprinzip der englischen Außenpolitik . Von diesem Gesichtspunkt aus allein können wir die Ereigniſſe der leßten Jahre verstehen. Wir müſſen ferner noch darauf hinweiſen, daß die engliſche Politik nur zwei Wege kennt: Gewalt oder Kompromiß. Ist der Gegner schwach und England stark, ſo ſeßt es sich mit rücksichtsloser Gewalt durch; iſt England schwach und der Gegner stark, oder ist es überhaupt zweifelhaft, ob der Weg der Gewalt zum Erfolg führen kann, so wählt man den Kompromiß. Für diesen gibt es viele Möglichkeiten: die Staatsmänner der Gegenpartei können beſtochen werden, man kann den Gegner durch Versprechungen betören, man kann ihn als gleichberechtigten Partner anerkennen und mit ihm einen Vertrag abschließen usw. Stets wird das Verhalten Englands von seiner augenblicklichen Stärke und dem Kräfteverhältnis des Gegners bestimmt sein. „ Der Status quo iſt das eine Prinzip , das England nach, haltig verfolgt - mit nachhaltiger Erfolglosigkeit." Mit diesen Worten kennzeichnet der Amerikaner Quincy Howe in dem bereits erwähnten Buch*) die englische Politikder letzten *) „England erwartet, daß jeder Amerikaner seine Pflicht tut“ (1937) .

Jahre. Die Tatsachen erhärten diese Behauptung. Die Politik Englands während des leßten Jahrzehnts ist nichts als eine Kette von Mißerfolgen. Es kann hier nicht unsere Aufgabe ſein, die Gründe dafür aufzuspüren ; wir wollen uns auf die Erwähnung der Tatsachen beschränken. 1932 mußte England es mitanſehen, wie Japan nach Mandſchukuo übergriff, deſſen Unabhängigkeit ausrufen und es dann 1934 zum Kaiserreich unter japanischem Protektorat machen ließ. England tat nichts . Es weigerte sich zwar zu, nächst, Mandsch uku o anzuerkennen, mußte sich später aber doch dazu bequemen. Das englische Prestige hatte schwer gelitten. England, das früher den ganzen Fernen Often beherrschte, wurde durch dieses und durch andere Ereignisse zurückgedrängt. Heute hat es sich militärisch de facto auf Singapore zurückgezogen ; Hongkong ist nur noch ein schwer zu haltender Vorposten. Die englischen Verluste in China , die seitdem immer weitergehen, sind vielleicht weniger politiſch, als wirtschaftlich bedeutend, denn das Kapital, das England dort investiert hat, ist unschäßbar groß. Ein weiteres, bedeutsames Versagen der englischen Politik trat 1935 in Erscheinung. Die Bedeutung von Adolf Hitlers Angebot der Beschränkung der deutschen Flotte auf 35 v . H. von der des britischen Weltreichs wurde in England nicht erkannt. Man nahm das Angebot des Führers gerne an, aber man begriff nicht, daß ein derartig einzigartiges, freiwilliges Anerbieten doch nur unter der Vorausseßung erfolgen konnte, daß der Führer einen Krieg mit England ausschließen wollte. Er war bereit, England den Bestand seines Weltreichs zu garantieren (vgl . die Rede des Reichsaußenministers von Ribbentrop in Danzig am 24. Oktober 1939), unter der selbstverständlichen Vorausseßung, daß England ihm die Neuregelung seines Lebensraumes überließ. Die englische Regierung nahm das Geschenk an, ohne die Dringlichkeit der osteuropäischen Regelung zu 83

erkennen oder zumindest ohne es für notwendig zu halten, ihr nachzugeben. Noch im gleichen Jahr (1935) folgte der zweite Schlag für das englische Prestige in der Welt. Italien marschierte in Abessinien ein, nachdem die Regelung der Abessinienfrage im Völkerbund gescheitert war. England wandte ein alterprobtes Mittel an: Es veranstaltete im Mittelmeer eine große Flottendemonſtration, die Italien einschüchtern und von dem abeſſiniſchen Unternehmen zurücktreten laſſen sollte. Aber das alte Mittel wirkte nicht mehr; Italien ließ sich nicht beeindrucken und führte seine Eroberung Abessiniens sicher und entschlossen durch. Auch das andere Mittel, das England gegen Italien in Aktion sezte, die Blockade (in Form der Völkerbundsfanktionen), versagte völlig . Dieser zweite große Fehlschlag der englischen Politik innerhalb von ein paar Jahren war ſchon ſchwerwiegender, weil er ſich unter den Augen von ganz Europa nahe der Heimat vollzog. Schon ein Jahr darauf begann das dritte Schauspiel, der spanische Bürgerkrieg. Auch hier zeichnete sich England wiederum durch das Verkennen der Lage und die Über schäzung der eigenen Stärke und Fähigkeiten aus. Unter dem Deckmantel der Neutralität stellte man sich auf die Seite der Gegner Francos - und wieder verlor man. Noch blieb eine Hoffnung : Wo die Waffen versagten, hatte bisher fast immer das englische Geld triumphiert. Man hoffte, nachdem alle Einschüchterungsversuche mißlungen waren, General Franco durch Anleiheversprechungen bestechen zu können. Aber auch diesmal versagte das englische Mittel. Weniger offensichtlich spielten sich derweilen andere Dinge in Ägypten und Palästina ab. Die Erhaltung der engliſchen Herrschaft über Ägypten , das den Suezkanal und damit die Verbindung Englands nach Indien kontrolliert, war schon immer ein wichtiges Ziel der englischen Politik. Aber in Ägypten erwachte das Volk, und die nationale Bewegung 84

zwang England schließlich dazu, 1936 einen Vertrag mit Ägypten abzuschließen, der zwar die englische Herrschaft in Ägypten, und besonders in der Kanalzone auch weiterhin aufrechterhält, der aber die gesamte Stellung Englands in Ägypten im Vergleich mit früher doch wesentlich schwächt. In Palästina aber hatte England fortgesetzt gegen die freiheitsliebenden Araber zu kämpfen. Hier war und ist ein Unruheherd, der England die schwersten Sorgen bereiten muß. Der Höhepunkt wurde jedoch erst 1939 erreicht, als die englischen Vertreter und Generale zusammen mit ihren französischen Kollegen wochen- und monatelang in Moskau warteten, als immer wieder der unmittelbar bevorstehende Abschluß eines englisch-russischen Paktes vorausgesagt wurde, bis die englisch-französische Abordnung schließlich, nach Abschluß des deutsch-ruſſifchen Paktes, ſang, und klanglos aus Moskau abreisen mußte. Die angebahnte russisch-japanische

Verständigung untergrub dann noch das englische Ansehen im Fernen Often weiter. Erst im September 1939 schien England, durch die Kriegserklärung an Deutschland, den Willen zu zeigen, eine festere Haltung einzunehmen. Aber auch hier blieb es auf halbem Wege stehen: als Rußland in Polen einmarschierte, wagte England es nicht, auch ihm den Krieg zu erklären. Alle diese Prestigeverluste erlitt England aber nicht etwa deshalb, weil es, im Kampf um seine Lebensinteressen, sich übermächtigen Gegnern gegenüber gesehen hätte, sondern weil es sich ohne zwingende Notwendigkeit aus einem überlebten politischen Prinzip heraus immer wieder in die Angelegenheiten fremder Nationen eingemischt hatte, weil man nicht erkennen konnte, daß sich die Zeiten und mit ihnen die Welt geändert hatten, und daß auch auf anderen Wegen, 3. B. durch eine Verſtändigung mit Deutschland, eine Aufrechterhaltung der Größe des britiſchen Weltreichs durchaus möglich gewesen wäre. 85

Die bisher angeführten Beiſpiele waren rein politiſcher Art. Aber auch auf wirtschaftlichem Gebiet hat England seine Schlappen einstecken müſſen. Auf die großen Verluste im Fernen Osten haben wir bereits hingewieſen. Doch auch in Europa verhält es sich nicht viel anders. Aus politischen Gründen versuchte England in den letzten Jahren immer wieder, sich auf dem Balkan wirtschaftlichen Einfluß zu verschaffen, um so für seine antideutsche Politik ein Druckmittel auf diese Staaten zu beſißen. Die Bemühungen ſind bereits gescheitert oder sind, soweit sie noch im Gange sind, zum Scheitern verurteilt, schon aus dem einfachen Grund, weil die Beziehungen zu jenen Ländern nur einseitig sein. können: England möchte ihnen zwar verkaufen, kann von ihnen aber, wenn es nicht die Länder seines Weltreichs vor den Kopf stoßen will, kaum etwas abkaufen. Durch die Verhängung seiner Blockade verliert es außerdem im zunehmenden Maße seinen Handel mit den Staaten des Ostseeraums. Viel schwerwiegender ist allerdings ein anderes Problem, an das man in England wohl kaum dachte, als man den Krieg erklärte, das sich aber nach Beendigung dieses Krieges in seiner vollen Schärfe auswirken wird, genau so, wie dies nach dem Weltkrieg der Fall war. Damals veranlaßte England, da seine eigene Industrie nicht ausreichte, die Dominien (vor allem Kanada, Australien, Südafrika), eigene Kriegsindustrien aufzurichten, um England mit Waffen und Munition zu versorgen. Außerdem aber war England damals nicht in der Lage, wie früher diese Dominien mit ſeinen Induſtrieprodukten zu verſorgen, weshalb diese auch dafür eigene Fabriken anlegten. Nach dem Kriege arbeiteten dieſe weiter, während die Kriegsfabriken auf Friedensbedarf umgestellt wurden, mit dem Resultat, daß England einen erheblichen Teil seines Handels dorthin verlor. Die große englische Arbeitslosigkeit war eine Folge davon. Kanada aber rückte plöglich zum fünftgrößten Induſtrieland der Welt

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empor. Dasselbe wiederholt sich heute in noch schärferem Maße. Durch seinen Krieg fördert England die Industrien der Dominien (man braucht nur an die Riesenaufträge an Kanada zu denken), nicht zulegt aber auch die Industrie Indiens , die schon jezt im steten Anwachsen ist, noch weiter. Es gräbt sich damit sein eigenes Grab und wird nach Beendigung dieses Krieges (vor allem wenn er die von England erwünschte Länge haben wird) seine eigene Industrie aufs schwerste geschädigt sehen. Da in England auch die Landwirtschaft heute keine Lebensmöglichkeit bietet, wird die Arbeitslosigkeit ins unermeßliche anwachsen. Der englische Reichtum aber wird, soweit er nicht schon durch den Pfundsturz und Auslandskäufe von Waffen mit den vorhandenen Goldvorräten verringert worden ist, weiterhin stark dezimiert werden. So rennt das altersschwache England, aus blindem Haß gegen Deutschland und in der Hoffnung, durch dessen Vernichtung den eigenen Handel zu ſanieren und die deutschen Kolonien als „Mandatsbesig “ zu behalten, in sein eigenes Verderben, da es die gefahrvolle Lage nicht erkennt und sich einfach darüber hinwegtäuscht. * Diese Beispiele mögen genügen . Man könnte noch eine Reihe anderer Ereignisse anführen, aber wir erkennen schon jezt zur Genüge, wie völlig die Politik Englands in den leßten zehn Jahren versagt hat. Der Grund für dies Verſagen liegt zum Teil sicherlich in einer Selbsttäuschung, in der falschen Einschägung der eigenen Kraft und in der Unterschäßung des Gegners. Allerdings ist es fraglich, ob England überhaupt anders hätte handeln können, ohne genau ſo ſehr an Preſtige einzubüßen. Man darf annehmen, daß die maßgebenden politischen Führer sich der Schwäche Englands wohl bewußt waren, als sie z. B. die Flottendemonstration gegen Italien veranstalteten, daß sie aber hofften, Italien vielleicht doch zu beeindrucken, und daß sie außerdem das eigene Volk im Gefühl 87

der Überlegenheit Englands erhalten wollten. Denn genau so, wie wir es bei der inneren Selbsttäuschung gesehen haben, ist es auch hier: die Regierenden kennen die Wahrheit, das Volk darf sie aber nicht erfahren und sieht sie von selbst nicht. Handelte es sich bei diesen Dingen um rein machtpolitische Fragen, bei denen man eine Selbsttäuschung der Regierenden bezweifeln kann, so kann im folgenden nichts anderes als Selbsttäuschung vorliegen. Es wird oft hervorgehoben, daß die heutige englische Füh rung zum Teil schon den Weltkrieg an führender Stelle (im Falle Churchill sogar an entscheidender) mitgemacht habe, daß man es daher mit Männern zu tun habe, die in ihrem alten Denken steckengeblieben seien. Das ist richtig . Wir dürfen aber nicht übersehen, daß der englischen Führerschicht auch jüngere Männer (wie Anthony Eden) angehören, auf die jene Bemerkungen kaum zutreffen können . Gerade dieſe Tatsache aber führt uns das Verhängnisvolle der gegenwärtigen Lage besonders deutlich vor Augen. Nicht nur die alten Kriegsführer find in ihrer Anschauung haftengeblieben, ſondern auch die neuen Männer sind von dem gleichen Geist durchdrungen. Das bedeutet aber, daß zumindest eine gewisse, nicht allzu kleine Schicht des englischen Volkes heute noch genau so denkt wie 1914. Und das ist wohl die größte, schwerwiegendste Selbsttäuschung Englands in der heutigen Zeit. Man will nicht etwa, sondern man kann nicht erkennen, daß die Zeiten sich gewandelt haben, daß nicht nur Deutschland , sondern daß auch die Welt eine andere als damals ist. Wie wenig man zu einer solchen Erkenntnis fähig ist, beweisen am besten die Äußerungen des englischen Verhaltens. Das englische Kriegsziel ist das gleiche geblieben: die Ver nichtung und Zerstückelung Deutschlands in zahlreiche ohnmächtige Kleinftaaten, mit andern Worten : die Wiederherstellung des Gleichgewichts des kontinentalen Europas, eines Europas, in dem möglichst viele, möglichst schwache Staaten 88

fich gegenseitig beargwöhnen und die Stange halten. Wenn wir dieses erkennen, verstehen wir, warum England jede Annäherung Deutschlands kalt abgelehnt hat, warum es das große Friedensangebot des Führers vom 6. Oktober 1939 überhaupt kaum beachtete. Es kann aus seinem Denken nicht heraus, kann nicht einsehen, daß es überhaupt eine andere Möglichkeit als die des europäiſchen Gleichgewichts gibt, daß eine Zusammenarbeit mit einem ftarten Deutschland denkbar wäre , ohne daß deshalb das britische Weltreich an Macht verlöre. Auf den verschiedensten anderen Gebieten können wir die Zeichen dieser Selbsttäuschung über die europäischen Verhält nisse erkennen. So vor allem in der einfachen Wiederholung der Methoden des Weltkrieges. Was sich damals bewährt hat, so meint man, muß sich auch heute bewähren und man ſeßt dabei als selbstverständlich voraus, daß die Vorausſegungen für diese Bewährung genau die gleichen sind. Man wollte die Einkreisung Deutschlands wiederholen, man verhängte wie 1914 die Blockade, und zwar nicht nur im allgemeinen, sondern bis in die Einzelheiten nach dem gleichen Prinzip. Man ſegte die ganze Propagandamaſchine des Weltkriegs wieder in Bewegung und arbeitet mit den gleichen Methoden erdichteter Meldungen, mit den gleichen Schlagwörtern. Wieder ist es das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, die Beſchüßung der kleinen Völker, die Demokratie, die Freiheit, die Gerechtigkeit usw., wofür England zu Felde zieht, und wieder glaubt es, auf diese Weiſe die Welt für sich gewinnen zu können. Aber auch hierin liegt die große Selbsttäuschung Englands begründet: Man will oder kann nicht sehen, daß die anderen Völker nicht dumm sind, daß sie sich vielleicht einmal von England betören ließen, nicht aber ein zweites Mal. Es mutet geradezu komisch an, wie England den Indern heute genau die gleichen Versprechungen macht wie 1914, in dem Glauben, daß diese den englischen Wort89

bruch vergessen hätten. Das gleiche gilt aber mit Bezug auf andere Teile des britischen Weltreichs, und es gilt auch für das neutrale Ausland . Sogar Italien hofft England abermals durch Versprechungen betrügen zu können. Man wirft daher der englischen Propaganda von den verschiedensten Seiten her immer wieder ihre Ideenlosigkeit vor. Es ist aber weniger eine Ideenlosigkeit, an der die englische Propaganda leidet; im Gegenteil, sie erfindet immer wieder neue und andere Argumente und bewußte Falschmeldungen. Was ihr fehlt, ist die wahre Erkenntnis der Lage. Die englische Selbsttäuschung läßt diese aber nicht zu. Und sie verhindert es vor allem , daß man sich in England ein klares Bild über die Verhältnisse in Deutschland macht. Denn wohl nirgends verkennt England die Lage so sehr als in bezug auf Deutschland. Sicherlich spielt die Verhegung durch aus Deutschland emigrierte Elemente hierbei eine Rolle mit. Aber dies Verkennen der Lage in Deutschland geht so weit, daß man sich fragen muß, ob die diplomatischen Vertreter, die England bis Kriegsausbruch in Deutschland hatte, überhaupt Augen und Ohren besaßen. Denn nur aus dieser gänzlichen Unkenntnis heraus erklären sich die Versuche, durch Flugblattabwürfe und Hezreden das deutsche Volk von seinem Führer zu trennen. Um zu zeigen, wie groß diese Unkenntnis ist, müſſen wir einige Stellen aus diesen Flugblättern zitieren. Da heißt es Anfang September 1939: "I Warnung Großbritanniens an das deutsche Volk: Deutsche! Die Reichsregierung hat kaltblütig und in wohl überlegter Weise Großbritannien den Krieg aufgezwungen ... Der deutsche Boden und das deutsche Recht waren von keiner Seite bedroht. Niemand verhinderte die Wiederbesetzung des Rheinlandes, den Anschluß und die unblutige Rückkehr der Sudetendeutschen ins Reich ... Ihr, das deutsche Volk, habt das Recht, jezt und jederzeit den Frieden zu fordern. Auch wir wünschen den Frieden und sind bereit, ihn mit jeder deutschen Regierung, die in aufrichtiger 90

Weise pazifistisch ist, zu schließen. " Dasselbe England, das Deutschland zwei Tage zuvor den Krieg erklärt hat, das die Rheinlandbesehung, den Anschluß Österreichs usw. zwar nicht " „verhinderte“, aber lange genug hintertrieb und nur deshalb nicht mit Gewalt verhinderte, weil es nicht dazu in der Lage war, dasselbe England, das 1918 einer „pazifiſtiſchen“ deutschen Regierung den Vertrag von Versailles aufzwang, glaubt, mit solchen und ähnlichen Worten in Deutschland sich überhaupt nur Gehör verschaffen zu können. Und es wendet sich auf diese Weise nicht nur durch Flugblätter an das deutsche Volk, sondern auch durch den Mund ſeines Premierministers Reville Chamberlain. Am 5. September hielt dieser durch den Rundfunk eine Ansprache an das deutsche Volk in deutscher Sprache, in der er u. a. sagte : „ In diesem Kriege bekämpfen wir nicht das deutſche Volk, demgegenüber wir keine Bitternis empfinden, sondern wir kämpfen gegen ein tyrannisches und wortbrüchiges Regime, das nicht nur das eigene Volk verrät, sondern mit ihm die gesamte westliche Kultur und das, was uns und euch teuer ist. “ Wenn selbst der Leiter der englischen Politik mit solchen Worten in Deutschland wirken zu können glaubt, ſo erkennen wir, wie groß und tiefgehend die Selbsttäuschung über die gesamte Weltlage in England ist. Den Gründen für die außenpolitische Selbsttäuschung Englands nachzugehen, würde über den Rahmen dieser Schrift hinausführen. Sie sind sehr verschiedenartiger Natur. Eine wichtige Rolle dabei spielen sicherlich die tiefen, weltanschau lichen Unterschiede, die ein Verständnis des neuen Deutschlands einem Engländer beinahe unmöglich machen . Allein, dies genügt nicht, denn die Mißerfolge in der englischen Politik stehen nicht alle im Zusammenhang mit Deutschland . Die Traditionsgebundenheit des Engländers mag auch mit herein. spielen: sie veranlaßt ihn, erprobte Methoden immer wieder anzuwenden. Andererseits aber kann man die gegenwärtigen

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Fehlschläge zum Teil auch gerade darauf zurückführen, daß England in manchem sich von seiner Tradition freigemacht hat: Es hat im Gegenſaß zu ſeiner bisherigen Gewohnheit Entſcheidungen getroffen, bevor es unweigerlich dazu gezwungen war, und hat sich dadurch einseitig festgelegt. Dies geschah im Falle Abessinien, bei Spanien und vor allem auch bei Polen. Es hat sich voreilig geweigert, Neuerungen anzuerkennen (Mandſchukuo, Franco, die italienische Herrschaft in Abesſinien und später in Albanien), nur um sie später doch anerkennen zu müſſen, dann aber nicht ohne Prestigeverlust. Im wesentlichen beruht die Selbsttäuschung in der Politik jedenfalls auf der Unbeweglichkeit des Engländers, auf der mangelnden Fähigkeit, sich neuen Gegebenheiten, die den bisher gewohnten nicht entsprechen, anzupaſſen. Die äußere Selbsttäuschung Englands konnten wir nur am Rande streifen; sie gehört in ihren Hauptteilen auf das Gebiet der Politik. Trogdem rundet die Kenntnis von ihr unserBild ab.

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Schlußwort Wir haben gesehen, wie die Selbsttäuschung, das Glaubenmachen (make believe), im privaten wie im öffentlichen Leben Englands eine ungeheure Rolle spielt; wir haben geſehen, wie Selbsttäuschung und Heuchelei oft bunt durcheinandergehen, so daß eine Trennung beider kaum möglich ist. Neben die innere, psychologische Selbsttäuschung haben wir dann die äußere, außenpolitische gestellt, wie sie sich im Verkennen der politischen und auch weltanschaulichen Lage äußert. Wir betonten einleitend, daß es nicht unsere Aufgabe ſein kann, das englische Volk schlecht zu machen. Es war nicht immer leicht, besonders bei der Betrachtung des politischen Verhaltens Englands, die objektive Linie einzuhalten. Bei der Behandlung der Selbsttäuschung, wie sie sich aus dem Puritanismus entwickelt hat, wie auch bei der politischen Heuchelei, die jene ausnüßt, mag für den deutschen Leser viel leicht oft der Eindruck entstehen, als ob sie von einer einseitigen, schroffen Ablehnung des Engländers bestimmt sei; es muß aber darauf hingewiesen werden, daß wir versuchen müſſen, den Engländer nicht nur von unserem, sondern auch von seinem eigenen Standpunkt aus zu verstehen. Für den Engländer erscheint vieles, was für uns verabscheuenswert ist, in ganz anderem Licht. Wenn wir uns deſſen bewußt ſind, verstehen wir sein Handeln besser, verstehen wir auch, warum es der englischen Regierung immer wieder gelingt, das Volk hinter sich zu bekommen, ohne daß deshalb das engliſche Volk dieselbe Verurteilung wie seine Regierung verdiente. Das richtige Verständnis der englischen Denkweise aber, so unsympathisch sie uns sein mag, ermöglicht es uns, die eigene politische Lage in unserem Verhältnis zu England deutlicher zu erkennen.

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Schriftenreihe der NSDAP.

Diese Schriftenreihe, unter deren Mitarbeitern sich zahl. reiche führende Persönlichkeiten der Bewegung und des Staates befinden, hat die wichtige Aufgabe, die geistig seelische Widerstandskraft des deutschen Volkes, die unlös bar mit seiner weltanschaulichen Sicherheit verbunden ist, festigen und steigern zu helfen. Sie will den Wünschen von Millionen deutscher Volksgenossen entgegenkommen, die das Bedürfnis haben, sich über viele durch den Krieg aufgewor. fene Fragen Rechenschaft abzulegen. Ihnen soll die Reihe in dieser Zeit die notwendigen Wiſſensgrundlagen vermitteln, die ein selbständiges und politisch sicheres Urteil über die tieferen Ursachen unseres gegenwärtigen Lebenskampfes sowie über die Hintergründe der heutigen weltpolitischen Lage ermöglichen. Hierzu gehört nicht allein eine klare Kennzeich nung des Wesens unserer Gegner, sondern auch eine Unterrichtung über die vordringlichsten Lebensfragen des deutschen Volkes an seiner inneren Front. Die einzelnen Bände, die von Sachkennern in politisch. wissenschaftlicher, aber durchaus allgemeinverständlicher Weise abgefaßt werden, sollen auch nach Beendigung des Krieges noch wirksam bleiben und ihre Gültigkeit beibehalten. Der Preis der Bände ist so niedrig gehalten, daß kein Volksgenosse aus wirtſchaftlichen Gründen als Käufer ausscheiden muß.

Die Schriftenreihe der NSDAP. wird in folgende Gruppen gegliedert : I Deutsche Wehrkraft

II

Deutsche Arbeit III

Volkwerdung und Glaube IV Europäische Politik Ꮩ

Das ist England VI

Erlebter Krieg VII Der Often Europas

VIII Kontinent und Überſee

Ferner sind in derselben Gruppe erschienen : Seibert : Wie sieht uns der Engländer? RM 0,80 Kunze : Söldner für Albion RM 1,Brachmann : Das auserwählte Volk RM 0,80 Thost : England wollte keinen Frieden! RM 1,50 Bähr : Britische Propaganda RM 0,90 Trautmann : Weltwirtschaft England RM 0,90 Schulz : Englisches Mitleid - englische Sozialpolitik RM 1,Pahl : Britische Machtpolitik RM 1,20 Hoops : Irland und England RM 0,90 Ruttle : Geld erseht nicht Blut RM 0,90

Zentralverlag der NSDAP., Frz. Gher Nachf. GmbH., Berlin

THEODOR

SEIBERT

Das

amerikanische

Rätsel

Die Kriegspolitik der USA. unter Roosevelt

Diese neue Schrift von Theodor Seibert, der durch seine außenpolitischen Veröffentlichungen über England und Rußland seit Jahren in weiten Leserkreisen bekannt ist, bringt die erste in Deutschland veröffentlichte fortlaufende Schilderung der Außenpolitik Roosevelts von 1933 bis 1941. Die hier in nüchterner Offenheit mitgeteilten Vorgänge hinter den Kulissen Washingtons waren zum Teil der deutschen Oeffentlichkeit bisher völlig unbekannt.

64 Seiten Text . 24 Seiten Bilder

Zweifarb. Umschlag

Preis kartoniert RM. 1,—

Zentralverlag der NSDAP., Franz Eher Nachf. GmbH., Berlin

R. Hoops , Englands selbsttäuschung

M286954

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