Emotionen und Antisemitismus. Geschichte – Literatur – Theorie [1. ed.] 9783835346314

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Emotionen und Antisemitismus. Geschichte – Literatur – Theorie [1. ed.]
 9783835346314

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Emotionswissenschaftliche Perspektivenauf den Antisemitismus im 19. Jahrhundert
Birgit Aschmann: Emotionen und Antisemitismus – von der Relevanz komplexer Konzepte
Jan Süselbeck: Schöne Augen. Emotionalisierende Figurationen des »Ewigen Juden« in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann
Theorien zur Emotionalität des Antisemitismus
Hans-Joachim Hahn: Die geteilten Gefühle des Antisemitismus. Prolegomena zu einer Reflexionsgeschichte antijüdischer Emotionen
Irmela von der Lühe: Affekttheoretische Elemente und emotionsgeschichtliche Ursprünge in Hannah Arendts Theorie des Antisemitismus
Samuel Salzborn: Emotionen und Antisemitismus. Ein Streifzug durch die Geschichte der Antisemitismustheorien
Julijana Ranc: Zum Sucht- und Lustcharakter interpersonaler Ressentiment-Kommunikation
Fallstudien zu den Affekten des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert
Uffa Jensen: Häme als Ressentimentverbindung. Wie und warum man im frühen 19. Jahrhundert Juden verlachte
Kristoff Kerl: »The detestable Sodomite«. Sexualität und antisemitische Gefühlswelten im »Leo Frank Case«
Stefanie Schüler-Springorum: Geschlecht und Gewalt. Zur Emotionsgeschichte des Antisemitismus
Zoltán Kékesi: Eine »entsetzliche Einsicht«. Zur Emotionsgeschichte des »besiegten Selbst« im ungarischen Antisemitismus
Autorinnen und Autoren

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Emotionen und Antisemitismus Geschichte – Literatur – Theorie

ST U DI EN Z U R E S SEN T I M EN TS IN GESCHICHTE UND GEGENWART

Herausgegeben vom Zentrum für Antisemitismusforschung Band 5

Emotionen und Antisemitismus Geschichte – Literatur – Theorie Herausgegeben von Stefanie Schüler-Springorum und Jan Süselbeck

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen  www.wallstein-verlag.de Lektorat: Adina Stern Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf Umschlagbild: Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald ISBN (Print) ---- ISBN (E-Book, pdf ) ----

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Emotionswissenschaftliche Perspektiven auf den Antisemitismus im 19. Jahrhundert Birgit Aschmann Emotionen und Antisemitismus – von der Relevanz komplexer Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Jan Süselbeck Schöne Augen. Emotionalisierende Figurationen des »Ewigen Juden« in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann . . . . . . . . . . . 42

Theorien zur Emotionalität des Antisemitismus Hans-Joachim Hahn Die geteilten Gefühle des Antisemitismus. Prolegomena zu einer Reflexionsgeschichte antijüdischer Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Irmela von der Lühe Affekttheoretische Elemente und emotionsgeschichtliche Ursprünge in Hannah Arendts Theorie des Antisemitismus . . . . . 107 Samuel Salzborn Emotionen und Antisemitismus. Ein Streifzug durch die Geschichte der Antisemitismustheorien . . . 120 Julijana Ranc Zum Sucht- und Lustcharakter interpersonaler Ressentiment-Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Fallstudien zu den Affekten des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert Uffa Jensen Häme als Ressentimentverbindung. Wie und warum man im frühen . Jahrhundert Juden verlachte . . 167 Kristoff Kerl »The detestable Sodomite«. Sexualität und antisemitische Gefühlswelten im »Leo Frank Case« 190 Stefanie Schüler-Springorum Geschlecht und Gewalt. Zur Emotionsgeschichte des Antisemitismus . . . . . . . . . . . . 212 Zoltán Kékesi Eine »entsetzliche Einsicht«. Zur Emotionsgeschichte des »besiegten Selbst« im ungarischen Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Einleitung Was hat es zu bedeuten, wenn die Hälfte der Texte eines Sammelbandes denselben Autor als Kronzeugen der Argumentation aufrufen? Jean-Paul Sartre, so lesen wir in diesem Buch mehr als einmal, hatte schon in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die affektive, emotionale Qualität des Antisemitismus betont und ihn als das charakterisiert, als das wir ihn heute, wiederentdeckend und neu theoretisierend, beschreiben – als »Leidenschaft und Weltanschauung« zugleich. Es ist vermutlich kein Zufall, dass dieser heute so einflussreiche Essay im Herbst  verfasst wurde, also gleich nach der Befreiung von Paris von den nationalsozialistischen Besatzern – und vor dem absehbaren Ende eines Regimes, das den Antisemitismus wie keines davor und keines danach in die Praxis des Massenmords überführt hatte. Das, was wir heute »Holocaust« nennen, markiert damit aus aktueller Perspektive einen Wendepunkt in der Geschichte der Antisemitismusforschung, einen Einschnitt, dessen Folgen bis heute nicht völlig überwunden sind. Denn wie wir in dem von Hans-Joachim Hahn und Olaf Kistenmacher im Jahre  herausgegebenen Band über die frühen »Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft« nachlesen (aber schon viel früher hätten wissen) können, zeichnete sich die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Antisemitismus vor dem Holocaust durch genau das aus, was auch Sartres Essay so plastisch vor Augen führt: durch das Wissen um dessen emotionale Qualität. Die zentrale Frage, die sich die Antisemitismusforschung daher zunächst einmal stellen muss, ist die nach den Gründen für den Verlust dieses Wissens, nach den Ursachen für die »Verschiebung des Erkenntnisinteresses weg von einer Analyse der starken Affekte der modernen Judenfeindschaft hin zu ihrer Semantik«. Aus Sicht der Geschichtswissenschaft scheint die Antwort einigermaßen eindeutig: Die historische Forschung befasste sich nach dem Zweiten Weltkrieg, wenn anfangs auch nur zögerlich, mit den Gründen für den Aufstieg der NSDAP und dem Funktionieren des NS -Staates  Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek bei Hamburg  (Paris ), S.  ff.  Vgl. Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hrsg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor  (= Europäisch-jüdische Studien Beiträge, Bd. ), Berlin u. a. ; Franziska Krah: »Ewig Feuerspritze sein, wo ein Weltfeuer doch nicht gelöscht werden kann …«. Abwehr und Deutung des Antisemitismus während der Weimarer Republik, in: ebd., S. .  Vgl. den Beitrag von Hans-Joachim Hahn in diesem Band, S.  .



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samt seiner mörderischen Politik. Dabei fragte man zunächst nach den historischen Vorläufern, also nach der Entwicklung des politischen Antisemitismus und seiner Ideologie vor allem im Kaiserreich und in der Weimarer Republik sowie nach der Gegnerschaft zur Judenemanzipation in den Jahrzehnten zuvor. Anders ausgedrückt: Man konzentrierte sich auf die Erklärung der Angebotsgenese, weniger auf eine Erhellung der Nachfrage. In der Literaturwissenschaft wiederum ist die philologische und kulturwissenschaftliche Untersuchung des literarischen Antisemitismus überhaupt noch kaum in Gang gekommen. Dieses Versäumnis hing nicht zuletzt mit einer methodischen Ausblendung der Tatsache zusammen, dass auch Philologen Literatur emotional lesen und bewerten. Das führte insbesondere dort zu hagiografisch bedingten blinden Flecken in der wissenschaftlichen Untersuchung des literarischen Antisemitismus, wo es um die Notwendigkeit einer kritischen Interpretation judenfeindlicher Konstruktionen des Fremden in oftmals kanonischen Texten ging. Eine uneingestandene emotionale Befangenheit gegenüber solchen liebgewonnenen bzw. im Fach als geradezu unantastbar geltenden Werken führte zu einer Verweigerung dringend notwendiger Perspektivwechsel. So war es kaum Zufall, dass erste Überlegungen zum Charakter und der Funktion des literarischen Antisemitismus nicht in der deutschsprachigen Germanistik angestellt wurden, sondern von einem amerikanischisraelischen Spezialisten für Jüdische Studien kamen. Mark H. Gelber versuchte  eine erste Definition des literarischen Antisemitismus. Er betonte das Potenzial oder die Kapazität eines Textes, antisemitische Einstellungen oder Verhaltensweisen positiv zu bewerten oder den Leser selbst zu diesen zu ermutigen. Literaturwissenschaftler*innen müssten zu verstehen versuchen, wie genau sich antisemitische Haltungen in der

 Werner Jochmann: Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland  (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Band ), Hamburg ; Reinhard Rürup: Emanzipation und Antisemitismus: Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen ; Reinhard Rürup/Thomas Nipperdey: Antisemitismus, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe , A–D, Stuttgart -.  Mark H. Gelber: What is Literary Antisemitism?, in: Jewish Social Studies / (), S. -, hier S. .  Wir haben den Autor*innen dieses Bandes die Entscheidung überlassen, wie sie in ihren Beiträgen mit der Frage des Genderns umgehen möchten. Aus diesem Grund wurden die betreffenden Schreibweisen in den hier versammelten Aufsätzen nicht vereinheitlicht.



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Literatur manifestieren bzw. wie ›antisemitisch aufgeladene Elemente‹ in einem Text funktionieren und interagieren. Es dauerte jedoch noch einmal mehr als ein Jahrzehnt, bis Gelbers Überlegungen in Deutschland weitergeführt wurden. Nach meist biografisch orientierten Studien der er Jahre, in denen die Frage der nachträglichen Bestimmbarkeit des möglichen persönlichen Antisemitismus von Autoren wie Gustav Freytag und Wilhelm Raabe beispielhaft erörtert wurde, um diese Schriftsteller vor diesem vielfach erhobenen Vorwurf teils mittels abenteuerlicher interpretatorischer Verrenkungen in Schutz zu nehmen, setzte die dezidierte Untersuchung des literarischen Antisemitismus in der deutschsprachigen Forschung erst mit Martin Gubsers Pionierstudie von  ein, die maßgeblich dabei half, die vorrangig sprachliche und also textuell funktionierende Seite des Phänomens in den Blick zu rücken. Gubsers Versuch einer Schematisierung der Analyse bestimmter narrativer Darstellungsmodi wurde seither allerdings mehrfach diskutiert und problematisiert. Symptomatisch ist dabei, dass die Mehrzahl dieser Studien aus einem einzigen Sammelband stammen, der bis dato immer noch wichtigsten Veröffentlichung zum  Gelber (Anm. ), S. .  Vgl. Hartmut Steinecke: Soll und Haben (). Weltbild und Wirkung eines deutschen Bestsellers, in: Horst Denkler (Hrsg.): Romane und Erzählungen des bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 138-152; Hans Otto Horch: Judenbilder in der realistischen Erzählliteratur. Jüdische Figuren bei Gustav Freytag, Fritz Reuter, Berthold Auerbach und Wilhelm Raabe, in: Herbert A. Strauss/Christhard Hoffmann (Hrsg.): Juden und Judentum in der Literatur, München 19, S. -; Horst Denkler: Verantwortungsethik. Zu Wilhelm Raabes Umgang mit Juden und Judentum, in: Ders./Hans-Otto Horch (Hrsg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom . Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, . Teil, Tübingen 1989, S. 148-168; Klaus Christian Köhnke: Ein antisemitischer Autor wider Willen. Zu Gustav Freytags Roman Soll und Haben, in: ebd., S. -.  Martin Gubser: Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des . Jahrhunderts, Göttingen 1998.  Vgl. dazu u. a. Jan Süselbeck: Tertium non datur. Gustav Freytags »Soll und Haben«, Wilhelm Raabes »Hungerpastor« und das Problem des Literarischen Antisemitismus – eine Diskussion im Wandel, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft  (Juli ), S. -; Torben Fischer: Judenbilder und ›Literarischer Antisemitismus‹. Bemerkungen zur Forschungsgeschichte, in: Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Juden. Bilder. Text + Kritik, Heft , September , S. -; Klaus-Michael Bogdal: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Perspektiven der Forschung, in: Ders./Klaus Holz/Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Stuttgart , S. -; Mona Körte: »Juden und deutsche Literatur«. Die Erzeugungsregeln von Grenzziehungen in der Germanistik, in: Dies./Werner Bergmann (Hrsg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin , S. -.



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Thema Literarischer Antisemitismus nach Gubsers Monografie. Von einer breiten Erforschung des literarischen Antisemitismus kann also nach wie vor keine Rede sein, und auch ein Konsens der Forschung hinsichtlich des Wirkungspotenzials antisemitischer Darstellungen in literarischen Texten ist noch lange nicht in Sicht. Zuletzt wurde sogar argumentiert, der literarische Antisemitismus sei aufgrund seiner genuinen Latenz überhaupt nicht definierbar. Nähme man diese Einschätzung ernst, so wäre man mit der Analyse eines kaum greifbaren textuellen Phantoms konfrontiert. Anstatt die konkrete historische Wandelbarkeit des literarischen Antisemitismus anhand der behandelten Texte und auf Grundlage einer klaren Definition des Problems genauer nachzuzeichnen und zu bestimmen, setzen sich Interpretationen wie die Martha B. Helfers dem Vorwurf der Willkür aus: Jede noch so vage literarische Spur kann hier theoretisch zum Beleg eines ›latenten‹ Antisemitismus angeführt werden. Stattdessen waren es die Sozialwissenschaften, die sich in der Nachkriegszeit zur Leitwissenschaft der Antisemitismusforschung entwickelten. Dies hatte in Westdeutschland zunächst einmal recht banal mit der US -amerikanischen Besatzung zu tun, der aus nachvollziehbaren Gründen daran gelegen war, die Haltung der deutschen Bevölkerung zu Nationalsozialismus, Antisemitismus und Demokratie möglichst exakt zu erfassen, um etwaige faschistische »Ausbrüche« im Keim ersticken zu können. So begann man gleich nach Kriegsende mit regelmäßigen Surveys, die den Antisemitismus mittels wiederkehrender abgefragter Items zu messen versuchten und die später von deutschen Forschungsinstituten weitergeführt wurden. Es ist diese Form der Umfrageforschung, die ausgefeilt, verfeinert und differenziert bis heute den öffentlichen Blick auf Antisemitismus maßgeblich prägt. Der theoretische, marxistisch wie psychoanalytisch inspirierte Zugriff der aus den USA zurückkehrenden Kritischen Theorie dagegen erfreute sich vor allem in den er und er Jahren großer Beliebtheit, wobei es dabei jedoch eher um das Verständnis »des Faschismus« ging als um die dort durchaus thematisierten emotionalen Dynamiken von Hass und Ausgrenzung. Allerdings wurden die frühen Ansätze der Kritischen Theorie kaum fortgesetzt und zu Bogdal/Holz/Lorenz (Anm. ).  Martha B. Helfer: Das unerhörte Wort: Antisemitismus in Literatur und Kultur, Göttingen 2013, S. 13 f.  Dies ist nicht zuletzt an einigen Stellen im Kapitel »Elemente des Antisemitismus« in der Dialektik der Aufklärung sichtbar. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam , S. -.

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dem nicht in Richtung auf die Erforschung von Emotionen erweitert. Zugleich herrschte in der Sozialpsychologie der letzten Jahrzehnte eine kognitivistische Ausrichtung vor. In gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Konzepten wie der »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« wiederum ist Emotionalität zwar enthalten, bleibt dabei aber ein undifferenziertes Grundgefühl der Feindlichkeit, das selbst nicht näher erforscht wird. So blieben Emotionen in der historischen wie sozialwissenschaftlichen Vorurteilsforschung seltsam unbestimmt: Einerseits waren sie immer mitgedacht, zugleich aber schaute man selten genau hin. Hatte man es mit Hass, Zorn oder mit Ressentiment, mit Angst, Neid oder gar mit Ekel zu tun? Auf diese Weise wurden Begriffe wie Hass oder Feindlichkeit zu Containern, die als Vorurteilssyndrome gegen bestimmte Gruppen zugeordnet wurden. Auch in der aktuellen Antisemitismusforschung ist diese Tendenz bis heute häufig anzutreffen. Zugleich aber lässt sich in den letzten Jahren ein wachsendes Interesse an emotionalen Aspekten der Judenfeindschaft konstatieren. Dies mag zum einen mit einer gewissen Renaissance der Kritischen Theorie zu tun haben, durch deren psychoanalytische Interpretationsangebote auch die Affekte wieder in den Blick geraten. Zum anderen lässt sich vermuten, dass das Erstarken des sicht- und messbaren Antisemitismus in den letzten Jahren nicht zuletzt eine Reflexion über den Zusammenhang von Erinnerungskultur und angeblicher »Immunität« der deutschen Bevölkerung gegenüber der Judenfeindlichkeit angestoßen hat bzw. ganz konkret über die Effektivität der zahlreichen pädagogischen Programme zu deren Bekämpfung. Hinzu kommen bei diesen aktuelleren Entwicklungen zunächst einmal unabhängige Perspektivwechsel in den anderen Fachdisziplinen: In der Literatur- und Kulturwissenschaft gab es in den letzten zwei Jahrzehnten einen von Thomas Anz versuchsweise so ge-

 In der Antisemitismusforschung lässt sich ganz generell ein Desinteresse an theoretischen Weiterentwicklungen konstatieren. Vgl. Werner Bergmann: Starker Auftakt – Schwach im Abgang. Antisemitismusforschung in den Sozialwissenschaften, in: Körte/Bergmann (Anm. ), S. -.  Vgl. Wilhelm Heitmeyer: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die theoretische Konzeption und erste empirische Ergebnisse, in: Ders. (Hrsg.): Deutsche Zustände, Bd. , Frankfurt am Main , S. -. Für erste Versuche, dies bei den Studien zur »Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« zu ändern, vgl. Frank Asbrock u. a.: Das Gefühl macht den Unterschied. Emotionen gegenüber »Ausländern« in Ost- und Westdeutschland, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsch-deutsche Zustände.  Jahre nach dem Mauerfall, Frankfurt am Main , S. -.  Vgl. z. B. Robert S. Wistrich: Antisemitism: The Longest Hatred, London .

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nannten Emotional Turn. Mit den damit verbundenen Fragestellungen eröffnete sich die Möglichkeit, die bisherigen Überlegungen zum literarischen Antisemitismus tatsächlich wieder mit Ansätzen zu verbinden, wie sie viele der hier versammelten Beiträge bei Sartre und anderen frühen Antisemitismusforscher*innen aufgreifen. Doch auch die neuere literaturwissenschaftliche Emotionsforschung hat das Thema Antisemitismus bislang kaum behandelt. Immerhin sind mittlerweile eine Reihe interdisziplinärer Handbücher erschienen, die einen systematischen Überblick über existierende Themen und Ansätze der kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung zu geben versuchen, wobei es jedoch abermals in keiner dieser Publikationen Artikel gibt, die sich dezidiert mit Fragen der Emotionalität des literarischen Antisemitismus auseinandersetzen würden. In der Geschichtswissenschaft hat sich die Emotionsforschung, die von einem historischen und damit wandelbaren Konzept von Emotionen ausgeht, im letzten Jahrzehnt zu einem zwar nicht unumstrittenen, aber enorm produktiven Zweig entwickelt, auf dessen Chancen und Risiken, Schwerpunkte und Probleme Birgit Aschmann im einleitenden Beitrag dieses Bandes eingeht. Auch die Holocaust-Forschung, die bis in die er Jahre unter dem Bann der »Banalität des Bösen« stand, beschäftigt sich seit den bahnbrechenden Studien von Christopher Browning und Daniel Goldhagen mit dem emotionalen Überschuss, ja mit der Lust an Hass, Ausgrenzung und Mord. Dabei waren es vor allem die Arbeiten  Thomas Anz: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung, in: literaturkritik.de , Dezember . Siehe auch: http://www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id= (letzter Zugriff: ..).  Bislang ein Einzelfall geblieben ist der Aufsatz von Oliver Lubrich: Gegenläufige Affektsteuerung und paradoxaler Antisemitismus, in: Zeno Ackermann/Sabine Schülting (Hrsg.): Shylock nach dem Holocaust. Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur, Berlin/New York , S. -.  So etwa: Lars Koch: Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar ; Martin von Koppenfels/Cornelia Zumbusch (Hrsg.): Handbuch Literatur & Emotionen, Berlin/Boston  sowie Hermann Kappelhoff /Jan-Hendrik Bakels/ Hauke Lehmann/Christina Schmitt (Hrsg.): Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart .  Vgl. auch Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München .  Christopher Browning: Ordinary Men: Reserve Police Battalion  and the Final Solution in Poland, New York ; Daniel Goldhagen: Hitler’s Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust, New York ; Julius H. Schoeps (Hrsg.): Rudolf Augstein: Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg ; Omer Bartov/Michael Parrish: The Eastern Front, -: German Troops and the Barbarisation of Warfare, in: Military Affairs  (), S. .

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von Wolf Gruner und dann der erste Band von Saul Friedländers großer Studie Das Dritte Reich und die Juden, die den Blick auf die antisemitischen Affekte in der deutschen Bevölkerung vor Krieg und Holocaust lenkten. Angeregt durch diesen Perspektivwechsel in der Forschung (und zum Teil aktiv daran beteiligt) organisierten Uffa Jensen, damals am Bereich »Geschichte der Gefühle« des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, und Stefanie Schüler-Springorum als neue Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung im April  eine gemeinsame Tagung ihrer beiden Institutionen, um die Potenziale dieser Entwicklungen für die theoretische Neuausrichtung der historischen Antisemitismusforschung fruchtbar zu machen. Auf dieser Konferenz wurden jedoch sogleich zwei Leerstellen deutlich sichtbar, die für ein Verständnis der Transmission der aversiven Gefühle von fundamentaler Bedeutung sind: die visuelle und die narrative/narratologische Dimension des Antisemitismus. Ein erster interdisziplinärer Brückenschlag zwischen der Geschichts- und der Literaturwissenschaft auf diesem Feld wurde durch den Forschungsaufenthalt Jan Süselbecks am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald ermöglicht, wo im Juli  jene Tagung stattfand, deren Beiträge hier präsentiert werden. Der emotionswissenschaftliche Fokus ermöglicht dabei, dies machen die Texte in ihrer Zusammenschau deutlich, ein echtes Zusammen-Denken der Vertreter*innen beider Disziplinen, ein gemeinsames Lesen und Interpretieren sowohl historischer als auch literarischer Quellen, aber auch und vor allem eine gemeinsame theoretische Reflexion. Den Anfang macht, wie erwähnt, Birgit Aschmann, die auf die Relevanz, aber auch die Komplexität der emotionshistorischen Forschung  Wolf Gruner: Öffentliche Wohlfahrt und Judenverfolgung: Wechselwirkungen lokaler und zentraler Politik im NS -Staat (-) (= Studien zur Zeitgeschichte, Bd. ), München ; Ders.: New Perspectives on Kristallnacht: After  Years, the Nazi Pogrom in Global Comparison, West Lafayette ; Ders.: Das Dogma der »Volksgemeinschaft« und die Mikrogeschichte der NS -Gesellschaft, in: Detlef Schmiechen-Ackermann/Marlis Buchholz/Bianca Roitsch/Christiane Schröder (Hrsg.): Der Ort der »Volksgemeinschaft« in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn ; Ders.: Die Verfolgung der Juden und die Reaktionen der Berliner, in: Michael Wildt/Christoph Kreutzmüller (Hrsg.): Berlin -, München ; Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, Bd. , Die Jahre der Verfolgung: -, München ; vgl. auch den Beitrag von SchülerSpringorum in diesem Band.  Uffa Jensen/Stefanie Schüler-Springorum: Einführung: Gefühle gegen Juden. Die Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. -.



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allgemein verweist und dies dann am Beispiel des antisemitisch aufgeladenen Angstdiskurses des . Jahrhunderts entfaltet. Nachdrücklich mahnt sie dabei die genaue historische Kontextualisierung sowie die selbstkritische Reflexion der eigenen Emotionalität und des eigenen Wertekanons an, um zu verhindern, dass aktuelle politische wie individuelle Befindlichkeiten anachronistisch rückprojiziert werden. Genau dies versucht auch Jan Süselbeck, wenn er die emotionalisierenden Figurationen des »Ewigen Juden« in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann einer akribischen Analyse unterzieht und dabei jene narrativen Muster herausarbeitet, die an das zeitgenössische judenfeindliche Wissen und Bildreservoir des frühen . Jahrhunderts potenziell anschlussfähig waren, ohne dass der untersuchte Text dies im Einzelnen immer explizit machen musste. Die Wirkung komplexer literarischer Texte dieser Art besteht gerade in ihrem hohen Emotionalisierungspotenzial, das literarischen Genuss in vielfältiger Weise ermöglicht und antisemitische Weltdeutungen zugleich unterschwellig suggerieren kann. Dass den Zeitgenoss*innen – im Gegensatz zu zahlreichen späteren Wissenschaftler*innen – genau diese Wirkung nicht verborgen blieb, haben die schon erwähnten »Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft« aus dem . und frühen . Jahrhundert eindrucksvoll belegt. Einer der Herausgeber, Hans-Joachim Hahn, nimmt hier diesen Faden noch einmal auf und zeichnet am Beispiel von vier zwischen  und  veröffentlichten Schriften eine frühe Reflexionsgeschichte antijüdischer Emotionen nach. In der Hochzeit dessen, was wir modernen Antisemitismus nennen, rekurrieren alle vier der hier behandelten Autoren, so das beeindruckende Ergebnis seiner Lektüre, bei aller Unterschiedlichkeit auf ein gemeinsames Motiv: den althergebrachten christlichen Judenhass als zentrale emotionale Grundlage für eben diesen, angeblich so modernen Antisemitismus. Es ist dies ein Pfad, den die Antisemitismusforschung – nicht zuletzt angeregt durch die Holocaustforschung – erst in jüngster Zeit wieder aufgenommen hat. Vor diesem Zusammenhang ist es in Irmela von der Lühes Beitrag umso faszinierender nachzulesen, wie einer von Hahns – wie gesagt vor  schreibenden – Autoren, Arnold Zweig, und die Idee des »Differenzaffekts« wiederum Hannah Arendt dazu diente, nach dem Massenmord an den europäischen Juden eine Theorie des VernichtungsAntisemitismus zu entwickeln, die genau das Gegenteil zum Kern hatte: Die Ausschaltung jedweden Gefühls zugunsten der reinen Funktion sei das Kennzeichen des modernen Massenmenschen und bilde damit die Grundlage für das Funktionieren totalitärer Regime. Dass dabei der affektiven Täter-Opfer-Umkehr eine zentrale Rolle zukommt, verbindet 

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Hannah Arendts Überlegungen mit denen ihrer nicht sehr geliebten Kollegen aus der Kritischen Theorie, denen Samuel Salzborn auf seinem Streifzug durch die Geschichte der Antisemitismustheorien begegnet. Sowohl Sartre als auch Adorno und Horkheimer sowie in ihrer Folge verschiedene Psychoanalytiker, allen voran Béla Grunberger, betonen die Vertauschung von Affekt und Ratio im Antisemitismus, was, so Salzborns Schlussfolgerung, impliziert, dass Emotion und Kognition im Antisemitismus nicht einfach additiv, sondern integrativ verstanden werden müssen. Diese Erkenntnis aufnehmend, plädiert Julijana Ranc für die analytische Kategorie des Ressentiments, durch die sich antijüdische Affekte und antisemitische Kognition zusammen erfassen und konkret untersuchen lassen. Auf der Grundlage ihrer großen qualitativen Studie zur Ressentiment-Kommunikation kann sie aufzeigen, dass es zum einen die interne Gruppendynamik und zum anderen die geteilte Lust am gemeinschaftlich verhandelten Ressentiment ist, die es erlaubt, auch eher ambivalente oder gleichgültige Individuen in diesen Gruppen Schritt für Schritt in feindselige Deutungs- und Erregungsgemeinschaften hinüberzuziehen. Diese besondere, nämlich bewegliche Qualität des Ressentiments, wie es in den von ihr untersuchten Diskussionsgruppen zum Ausdruck kommt, unterscheidet diese Form der antisemitischen Kommunikation von der des feindseligen Witzes, den Uffa Jensens Fallstudie für die Zeit des frühen . Jahrhunderts untersucht. Dementsprechend deutet er den antisemitischen Gruppenhumor der Christlich-deutschen Tischgesellschaft von  als spezifische Ressentiment-Verbindung, die sich im gemeinsamen hämischen Verlachen äußerte, sei es über Gedichte, Witze oder Possen. Auch er betont, wie Julijana Ranc, die zuvörderst gemeinschaftsstiftende Funktion dieser Häme, die zugleich mächtige Gefühle wie Ekel, Hass oder Neid bündelte. Jensens Text behandelt eines von vier historischen Fallbeispielen, die in diesem Band vor dem Hintergrund der langen Geschichte des Nachdenkens über die Rolle von Gefühlen im Antisemitismus schon bekannte historische Phänomene neu interpretieren. Den Anfang macht Kristoff Kerl mit seiner Analyse des Falls Leo Frank, eines jüdischen Fabrikleiters in Atlanta, der  als angeblicher Vergewaltiger und Mörder eines christlichen Mädchens gelyncht wurde. Der hier ausagierte Hass beruhte zum einen auf lange gehegten spezifisch südstaatlichen Ressentiments gegenüber Juden und zum anderen auf der seit dem Mittelalter vertrauten Konstellation eines reinen, kindlichen Opfers und eines grausamen und in diesem modernen Fall auch noch angeblich sexuell »perversen« 

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Täters. Es war das permanente Zurschaustellen der »jüdischen« Sexualität und schließlich des toten Körpers Leo Franks, der dem Fall eine erhebliche pornografische Dimension verlieh, die wiederum für die Vehemenz und die tödliche Wucht des Mordens mitverantwortlich war. Und es sind genau diese Komponenten, die diesen Fall zum eindrucksvollen Vorläufer jener Rassenschande-Prozessionen im nationalsozialistischen Deutschland macht, die Stefanie Schüler-Springorum untersucht. Die Fokussierung auf Sexualität im allgemeinen und auf eine angeblich »abartige« und somit geheimnisvolle jüdische Sexualität im Besonderen kreierte eine ambivalente, lustvolle wie angstbesetzte Attraktion, welche die Prozessionen im Umfeld der Rassenschande-Prozesse auszeichnete und so die jüdische Differenz fest im Bewusstsein der Zuschauer*innen verankerte. Das NS -Regime wusste um diese Wirkung und nutzte zu Kriegsbeginn ähnliche, de facto brutalere öffentliche Demütigungsrituale, um Kontakte zu und Empathie mit Zwangsarbeiter*innen zu verhindern. Zoltán Kékesi schließlich untersucht am Beispiel der Texte des ungarischen Journalisten Lajos Marschalkó die beeindruckende Persistenz des antisemitischen Ressentiments, dessen spezifische Emotionalisierungsstrategien es erlaubten, über mehrere Regimebrüche, Mord und Exil hinweg eine gleichbleibende Wirkung zu entfalten: Es war, so Kékesi, gerade das komplexe Angebot an Gefühlen – Nüchternheit, Begeisterung, Empörung, Angst, Freude und Feierlichkeit, um nur einige zu nennen –, die Marschalkós Betrachtungen sowohl des ungarischen als auch seines eigenen Schicksals für eine breite Leserschaft so attraktiv machte, da sie den antijüdischen Affekt zwar immer mit transportierten, ohne sich dabei jedoch notwendigerweise auf negative Gefühle wie Hass oder Ablehnung beziehen zu müssen. Nimmt man die hier versammelten, aus einer Periode von über  Jahren stammenden Fälle, Darstellungen und Reflexionen der affektiven Dimension des Antisemitismus zusammen, so wird zweierlei deutlich: Zum einen die Breite des Spektrums an Emotionen, die mit Antisemitismus verknüpft sind und verknüpft werden, und zum anderen die offenbare hohe Attraktivität derselben. Das eine ergibt sich aus dem anderen: Antijüdische Ressentiments zu pflegen, ist aus Sicht der Akteur*innen nicht nur etwas Dunkles und Negatives, also etwas, das man heimlich im stillen Kämmerlein bei der Lektüre bösartiger, trivialer ›Schmutz- und Schund‹-Texte betreibt. Wie etwa das Beispiel von E. T. A. Hoffmanns Sandmann zeigt, können auch hochkomplexe und innovative literarische Texte mit paradigmatischen Pathosszenen arbeiten, die antisemitische Lesarten nahelegen. Antisemitische Affekte können dabei offenbar auch 

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ausgesprochen amüsant und gesellig wirken. Wer sich ihnen überlässt, empfindet sie als lustvoll und erregend. Der Antisemitismus wirkt wie ein affektives Bindemittel, das Menschen im strikten Ausschluss anderer zusammenführt – jedoch nicht nur als dumpfe, fehlgeleitete Masse in Zeiten von Krieg und Revolution, sondern durchaus auch im feinsinnig sich gebenden Lesezirkel, im Theater oder im Kaffeehaus. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Judenhass auf dem dringenden Wunsch nach starken, als befreiend empfundenen Emotionen beruht und dass er in Gemeinschaft genossen und geteilt werden will. »Man schwelgt in diesem Gefühle«, stellte schon vor fast  Jahren der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr fest, seinerzeit in der Annahme, dass der sinkende religiöse Glaube oder der Mangel anderer Surrogate wie Drogen die Menschen unweigerlich in die Arme dieser schwelgerischen Emotion treibe: »Wer Antisemit ist, ist es aus der Begierde nach dem Taumel und dem Rausche einer Leidenschaft.« Antisemiten hätten keine große Idee, kein sittliches Pathos, die die Wonnen der Begeisterung erwecken könnten. Und weil ihnen die Wollust der Liebe fehlt, versuchen sie es mit der Wollust des Hasses. Man muß nur selber einmal von ihr mit den eigenen Sinnen und Nerven gekostet haben, um ihr verführerisches Gift zu kennen. Es gilt also, die emotional positiv besetzten Komponenten dieses Ressentiments genauso in den Blick zu nehmen wie seine Tradierungsformen und transnationalen Aspekte. Nur so lässt sich die Wandelbarkeit und Dauer des Antisemitismus von der Moderne bis zur Gegenwart verstehen. Zugleich aber sei davor gewarnt, ein vertieftes Verständnis des Antisemitismus mit seiner Kontrolle zu verwechseln. Dass der Judenhass durch seine aufklärerische Konterkarierung nicht einfach zum Verschwinden zu bringen ist, weil sich seine Anhänger nur schwer von seinem Genuss abhalten lassen, wussten auch schon viele jener Vordenker der Antisemitismusforschung, auf die mehrere Beiträge in diesem Band rekurrieren. Die Überlegungen Hermann Bahrs und manch andere frühe Analyse legen nicht nur den Herausgeber*innen, sondern auch allen Autor*innen dieses Bandes und im Grunde allen weiteren Kolleg*innen unseres Feldes eine gewisse Demut nahe, was die Originalität und Innovativität der eigenen Forschung angeht. Zugleich sollten sie zur Erwägung mögli Hermann Bahr: Der Antisemitismus. Ein internationales Interview (), in: Hermann Bahr. Kritische Schriften in Einzelausgaben, hrsg. von Claus Pias, Weimar , S.  f.

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cher Maßnahmen zur Bekämpfung oder wenigstens Zurückdrängung des antisemitischen Syndroms anregen, denn, so noch einmal Bahr, der Antisemit (und die Antisemitin) nehme schlicht die »Argumente, die ihm gerade die nächsten sind. Wenn man sie ihm widerlegt, wird er sich andere suchen. Wenn er keine findet, wird es ihn auch nicht bekehren. Er mag den Rausch nicht entbehren.« Stefanie Schüler-Springorum und Jan Süselbeck Berlin und Calgary Juli 

 Ebd., S. .

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Emotionswissenschaftliche Perspektiven auf den Antisemitismus im . Jahrhundert

Emotionen und Antisemitismus – von der Relevanz komplexer Konzepte Birgit Aschmann Milo Yiannopoulos machte im Jahr  für den republikanischen Präsidentschaftsbewerber Donald Trump Wahlkampf. Die Auftritte des seinerzeit leitenden Redakteurs von Breitbart News wurden weithin beachtet. Anfang November , wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl, zog er sein Publikum mit einer bemerkenswerten, von bitterer Ironie durchsetzten Rede in den Bann. Plötzlich wechselte er in den Modus pathetischen Ernstes: »Daddy wird Amerika Stärke, Tapferkeit und Männlichkeit zurückgeben«, denn, so fuhr er fort: »Wir haben genug von dem ganzen Gerede über Sicherheit, genug von verletzten Gefühlen, genug von der Rumheulerei. Diese Wahl ist ein Aufstand gegen die politische Maschinerie, gegen das Establishment. Das ist eine wunderbare Sache.« Jetzt konnte der Saal wieder jubeln. »Und erst dann«, so beobachtete der FAZ -Korrespondent Oliver Georgi, »mit viel Vorlauf, säte Yiannopoulos die Saat, die vielleicht die wichtigste seines ganzen Abends war: ›Maybe it’s time to make America hate again.‹« Die neue »Hasskultur« der Gegenwart lässt sich kaum einprägsamer illustrieren: Hass ist nicht nur ein allerorten erkennbares Übel, sondern eine Emotion, zu der geradezu eingeladen wird. Diese neue Einstellung dem Hass gegenüber dürfte einer der Gründe dafür sein, dass Äußerungen florieren, die als »Hate speech« bezeichnet werden. Politiker*innen sind erschrocken über die unzähligen Hassmails, die sie erreichen; der anonyme Raum des Internets trägt dazu bei, die Hemmschwellen zu senken, Hass zu artikulieren. Schon die Gegenmaßnahmen sind vielsagende Indizien für die Präsenz solcher Emotionen: Seien es die Versuche des deutschen Justizministeriums, den Auswüchsen durch das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz vom September  Einhalt zu gebieten, oder die Bemühungen deutscher Publizist*innen, öffentlich dagegenzuhalten. So ist es die erklärte Intention der Friedenspreisträgerin Carolin Emcke, in ihrem Essay Gegen den Hass zu Gegenstrategien zu ermuntern. Dafür gelte es – wie es auf dem Schutzumschlag der Publikation heißt –

 Oliver Georgi: Zeremonienmeister des Hasses, FAZ .net, .., http://www.faz. net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/milo-yiannopoulos-zeremonienmeis ter-des-hasses--p.htmlpageIndex_ (letzter Zugriff: ..).

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»zu mobilisieren, was den Hassenden abgeht: genaues Beobachten, nicht nachlassendes Differenzieren und Selbstzweifel«. Dieses genaue Hinsehen ist aber nicht nur erforderlich, um die Mechanismen des Hasses in der Gegenwart zu verstehen, sondern auch bei der Auseinandersetzung mit den Hassmanifestationen der Vergangenheit. Zu diesen zählt in besonderer Weise die emotionale Dimension des Antisemitismus, dem schon deshalb immer eine spezifische Rolle zukommt, weil er erstens so fatale Folgen hatte, weil zweitens ungeachtet dieser Vergangenheit auch die gegenwärtigen Debatten nicht frei von antisemitischen Ressentiments sind und weil drittens zu fragen ist, ob ähnliche Emotionen aktuell auch auf andere Gruppen übertragen werden. Im Folgenden soll es darum gehen, kurz in die historiografische Auseinandersetzung mit Emotionen einzuführen und dabei die Potenziale, aber auch die Schwachpunkte eines solchen Zugangs zu benennen. Danach sollen die Chancen einer Konzentration der Emotionsforschung auf die Geschichte des Antisemitismus aufgezeigt werden, und schließlich gilt es, den Zusammenhang von Ängsten und Antisemitismus in den Blick zu nehmen. Einführung in Chancen und Risiken, Schwerpunkte und Probleme des wissenschaftlichen Umgangs mit Emotionen Wissenschaftliche Forschungen zu Emotionen kreisen üblicherweise um Versuche, sechs W-Fragen zu beantworten: Es geht um das »Was«, das »Wo«, das »Wann«, »Wessen«, »Welche« und das »Warum«. Im Fokus stehen damit Definitionsfragen, die räumliche und zeitliche Verortung von Gefühlen bzw. von Gefühlskonjunkturen, es geht darum, welche Gruppen welche Gefühle haben und welche einzelnen Gefühle eine besondere Rolle spielen, und schließlich um die alles entscheidende Frage, welchen Sinn diese Beschäftigung überhaupt hat bzw. welchen Ertrag die Auseinandersetzung mit dieser Thematik erwarten lässt. Schon das Bestreben, den Forschungsgegenstand näher zu umreißen, führt zu Problemen. Die Frage: »Was ist eine Emotion?« ist, seitdem sie das erste Mal gestellt wurde, bis auf den heutigen Tag nicht befriedigend beantwortet worden. Vor rund  Jahren versuchte der Psychologe

 Carolin Emcke: Gegen den Hass, Frankfurt am Main .  Diese Ausführungen basieren nicht zuletzt auf Birgit Aschmann: Heterogene Gefühle. Beiträge zur Geschichte der Emotionen, in: NPL  (), S. -.

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William James Klarheit zu schaffen, indem er  einen Beitrag in einer Fachzeitschrift unter dem Titel: »What is an Emotion?« veröffentlichte. Doch bis heute gibt es keinen interdisziplinären Konsens zur Definition von Emotionen. Während Lebenswissenschaftler*innen oder Biolog*innen in der Übernahme von William James’ Ansatz der schlichten Ansicht sind, dass Emotionen »messbare physiologische Veränderungen« seien, tun sich Kulturwissenschaftler*innen und Historiker*innen mit einer schlüssigen Definition noch viel schwerer. Symptomatisch dafür ist das Vorgehen von Jan Plamper, der in seinem Standardwerk Geschichte und Gefühl die »Grundlagen der Emotionsgeschichte« abstecken will. Das gesamte Einführungskapitel kreist dabei um die Frage: »Was ist Emotion?« Dass eine »Arbeitsdefinition« wichtig sei, streitet Plamper nicht ab. Das ist schon deshalb bedeutsam, weil es Ansätze gibt, die wegen der Ungreif barkeit des Objekts von vornherein dazu raten, auf Definitionsvorschläge lieber ganz zu verzichten. Allerdings umschifft Plamper seinerseits geschickt jede Festlegung auf eine Definition und bietet als Ausflucht letztlich das gesamte Buch als »Navigationshilfe für die Suche nach einer solchen Arbeitsdefinition« an. Dieser Verzicht auf eine eigene klare Definition ist misslich, aber verständlich in Anbetracht des Umstandes, dass auch allen früheren Versuchen nicht geglückt war, eine Begriffsklärung zu präsentieren, die allgemein akzeptiert worden wäre. Im Jahr  hatte sich jemand die Mühe gemacht, die bis dahin vorgeschlagenen Begriffsbestimmungen zu zählen, und kam dabei auf rund  Versuche. Diese Vielzahl an Zugriffen, die allesamt nicht vollends überzeugen, verdeutlicht, mit welch problematischem Gegenstand die Emotionsgeschichte es zu tun hat. Emotionen seien, so der Philosoph Joel Krueger, nicht nur unklar und vage, sondern »much messier«: flüchtig, wandelbar, komplex. Selbst wer sich mit nur einer einzigen Emotion, etwa dem Schmerzempfinden, beschäftige, musste schließlich eingestehen, dass man umso mehr deren Flüchtigkeit konstatieren müsse, je intensiver man sich mit ihr ausein-

 William James: What Is an Emotion?, in: Mind  (), S. -.  Vgl. u. a. Claudia Wassmann: Die Macht der Emotionen. Wie Gefühle unser Denken und Handeln beeinflussen, Darmstadt .  Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München , S. .  Ebd. S. .  Vgl. Joel Krueger: Emotions and Other Minds; in: Rüdiger Campe/Julia Weber (Hrsg.): Rethinking Emotion. Interiority and Exteriority in Premodern, Modern, and Contemporary Thought, Berlin , S. -, S. .

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andersetze. »The topic is slippery«, hatte schon  Alon Confino den Gegenstand der Emotionsforschung zusammenfassend charakterisiert. Doch ist nicht nur der Gegenstand vage, auch die Zugänge entbehren jeglicher Verbindlichkeit. Neben einer schlüssigen Definition, auf die sich die Disziplinen hätten einigen können, fehlt es auch an einem Konsens mit Blick auf die Brauchbarkeit theoretischer Schlüsseltexte oder methodischer Zugänge. Diese Heterogenität dürfte nicht zuletzt dadurch bedingt sein, dass schon die Frage nach der Lokalisierung von Emotionen nicht einheitlich beantwortet wird. Nicht einig sind sich die Forscher*innen darüber, ob sich Emotionen im »Inneren« des Menschen, also seiner »Psyche«, seiner »Seele« bzw. seinem »Denken«, oder im »Äußeren«, d. h. in seinem Körper abspielen. Für Lebenswissenschaftler*innen ist es evident, dass die Physiologie des Menschen der Raum ist, in dem Emotionen entstehen und sich manifestieren. In den Sozialwissenschaften trat im Rahmen des cultural turn zunächst die vom Konstruktivismus inspirierte Annahme in den Vordergrund, wonach wertende Wahrnehmungen oder Diskurse entscheidend für das Empfinden von Gefühlen seien. Doch in der Historiografie hat sich inzwischen der Fokus verschoben: Über den Zusammenhang mit Praktiken trat erneut der Körper ins Zentrum des Interesses. Möglicherweise spielt auch der jüngere material turn bei der Akzentverschiebung hin zur materiell-physischen Dimension des Menschen eine Rolle. Allerdings sind zwei Dinge zu bedenken: Zum einen geht die Mehrheit der Emotionsforscher*innen heute davon aus, dass es gerade das Zusammenspiel von »inneren« und »äußeren«, kognitiven und körperlichen Faktoren ist, die das Empfinden von Gefühlen ausmachen. Emotionen sind, so die Philosophin Rebekka Hufendiek, »embodied, embedded,  »Taken together, the chapters in this book demonstrate that the more we zero in on pain, the more its slipperiness is revealed.« Rob Boddice: Introduction: Hurt Feelings?, in: Ders. (Hrsg.): Pain and Emotion in Modern History, New York , S. -, hier S. .  Alon Confino in: Forum: History of Emotions; in: German History  (), H. , S. -, hier S. .  Siehe Monique Scheer: Topografien des Gefühls, in: Ute Frevert u. a.: Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt am Main , S. -.  Vgl. Pascal Eitler/Monique Scheer: Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im . und . Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft  (), H. , S. -; Monique Scheer: Are Emotions a Kind of Practice (and Is That What Makes Them Have a History?). A Bourdieuian Approach to Understanding Emotion, in: History and Theory  (), H. , S. -.  Vgl. Boddice (Anm. ).

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and enactive«, also in den Körper sowie in einen soziokulturellen Kontext eingebunden, und interagieren in vielfacher Hinsicht im Zuge komplexer Rückkoppelungsmechanismen mit dem gesellschaftlichen Umfeld. Zum anderen gibt es Zwänge der akademischen Disziplin: Anders als Ethnolog*innen oder Psycholog*innen haben Historiker*innen in der Regel keinen unmittelbaren Zugang zu den Körpern ihrer Protagonist*innen. Vielmehr können sie sich den körperlichen Verhaltensmustern zumeist nur über Texte oder visuelle Quellen annähern. Aber zwischen Körpern und Texten bzw. Bildern bleibt eine Kluft, in der sich willentliche oder unwillkürliche Fehlinterpretationen entwickeln können. Insofern müssen Historiker*innen immer wieder akribisch danach fragen, ob bzw. inwiefern ihre Quellen, also in der Regel Texte oder Bilder, auf Emotionen schließen lassen, die das Agieren historischer Personen bestimmt haben bzw. lenken sollten. Besonders groß ist dabei die Gefahr, den soziokulturellen Kontext der Historiker*innen anachronistisch zurück zu projizieren, d. h. die aktuelle Wertschätzung von Emotionen zur Grundlage der Bewertung von Emotionsaussagen in früheren Zeiten zu machen. Es ist daher zwingend notwendig, den emotionalen Kontext zu rekonstruieren, dessen Kenntnis es erst ermöglicht, das Spezifische zu erkennen und vom Regelfall zu trennen. Das jeweils individuell wie gesellschaftlich Regelhafte und Normative herauszuarbeiten, ist Teil der unabdingbaren Kontextualisierung. Dafür wiederum ist es wichtig, die Frage »wann« zu klären. Das heißt: Emotionsaussagen sind in den Kontext der allgemeinen Konjunktur von Emotionen einzubetten. Schließlich haben Emotionen nicht zu allen Zeiten die gleiche Bedeutung gehabt. Das . Jahrhundert gilt dabei grundsätzlich als Hochzeit der Gefühle, habe es doch – wie Ute Frevert nachwies – weder vorher noch nachher eine solche Vielfalt an Gefühlsbegriffen gegeben wie in diesem Säkulum. Zugleich stellt das . Jahrhundert kein emotionales Kontinuum dar, sondern lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen, in denen jeweils sehr verschiedene emotionale Konstellationen vorherrschten: Unterschiedliche Gefühle wurden verschieden bewertet und entsprechend erwartet oder verurteilt. Geht man von einem langen . Jahrhundert aus, das schon weit vor dem Kalenderjahr  begann, so muss zunächst  Vgl. Rebekka Hufendiek: Whereabouts. Locating Emotions between Body, Mind, and World, in: Campe/Weber (Anm. ), S. -, hier S. .  Ebd., S. .  Ute Frevert: Gefühle definieren. Begriffe und Debatten aus drei Jahrhunderten; in: Dies. u. a.: (Anm. ), S. -, hier S. .

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die Zeit der Aufklärung in den Blick genommen werden. Sie war nicht – wie oftmals angenommen – nur eine Zeit reiner Rationalität, sondern auch durch intensive Wertschätzung von Emotionen geprägt, was sich in der Kennzeichnung dieser Epoche als Zeitalter der Empfindsamkeit niederschlug. Auf Descartes’ »Cogito ergo sum« reagierte Johann Gottfried Herder mit einer Bestimmung des Menschen, der sich nicht als denkendes, sondern vor allem als fühlendes Wesen auszeichne: »Ich fühle mich ! Ich bin!« Die Epoche der Französischen Revolution gilt aus vielerlei Gründen als eine Zeit besonders intensiver Gefühle. William Reddy, einer der bedeutendsten Theoretiker der Emotionshistoriografie, hat in einer empirischen Studie herausgearbeitet, wie sehr die Revolutionszeit in Frankreich einerseits von Angst und andererseits von der Notwendigkeit geprägt war, diese Angst zu verbergen. Anhand dieser Erkenntnisse entwickelte Reddy seine Konzepte vom »emotional regime« und des »navigation of feeling« als Fähigkeit, die emotionalen Zwänge des Regimes individuell zu umgehen, um »emotional suffering« zu vermeiden. Nach der Revolution setzte sich eine weitgehende Skepsis gegenüber extremen Emotionen durch, wurden diese doch als mitverantwortlich für die revolutionären Entgleisungen angesehen. Diese Ernüchterung hat Reddy für Frankreich nachgewiesen, ebenso findet sie sich aber auch bei Kant, der von einer vormaligen Wertschätzung von Leidenschaften als Handlungsstimulatoren zu ihrer grundsätzlichen Verurteilung wechselte. Auch bei den Briten findet sich dieser Ernüchterungsprozess. Die Encyclopedia Britannica etwa ging im Jahr  auf Distanz zu den »ridiculous affectations« oder einer »excessive sensibility«, die es wegen ihrer destruktiven Tendenzen zu trennen gelte von den »real sensibilities«. Nach Phasen romantischer Innerlichkeit kam es im Vormärz wiederum kurz zu Appellen an politische Gefühle, bis sich nach der gescheiterten Revolution  wiederum eine bürgerliche Domestizierung von  Johann Gottfried Herder: Zum Sinn des Gefühls (), in: Ders.: Schriften zu Philosophie, Bd. , hrsg. v. Jürgen Brummack u. a., Frankfurt am Main , S. .  Vgl. dazu Guillaume Mazeau: Émotions politiques: la Révolution française, in: Alain Corbin (Hrsg.): Des Lumières à la fin du XIX e siècle (Histoire des Émotions, Bd. ), Paris , S. -.  Vgl. William R. Reddy: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge . Zur zentralen Begrifflichkeit von Reddys Konzepten vgl. ebd., S.  f.  »Sensibility«, in: Enzyklopedia Britannica, . Auflage, Bd. , , S. , zitiert in Frevert (Anm. ), S. . Zu Frankreich vgl. William M. Reddy: The Invisible Code: Honor and Sentiment in Postrevolutionary France, Berkeley .

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Gefühlen durchsetzte. Wer etwas auf sich hielt, der pflegte – vor allem als Mann – einen Kult der Rationalität, bis Nietzsche und Schopenhauer wieder ein neues Loblied der Emotionalität anstimmten. Nunmehr geriet gerade die nüchterne Rationalität in die Kritik, was in der zweiten Sattelzeit am Übergang vom . zum . Jahrhundert in eine neue Wertschätzung von Leidenschaftlichkeit mündete. Diese – sehr grob und vereinfachend dargestellten – Konjunkturen der Emotionen prägen das Verhalten von Einzelnen und Gruppen und müssen daher als Hintergrund bei der Beurteilung von konkreten Emotionsaussagen in Rechnung gestellt werden. Gerade der Zusammenhalt von Gruppen speist sich nicht zuletzt aus geteilten Emotionen. Emotionen sind daher Teil einer sozialen und politischen Geschichte, weil sie starke integrative und exkludierende Effekte haben. Entsprechend ist von besonderer Relevanz zu fragen, um »wessen« Emotionen es sich handelt. Dass sich entlang geteilter Gefühle »emotional communities« ausbilden, gehört seit den Publikationen von Barbara Rosenwein zum Standardwissen. Dabei diente die Zuschreibung von Emotionen der Markierung von Hierarchien und der Zuweisung von Status. Das gilt nicht zuletzt für die Gender-Dimension: Wenn Frauen gerade in Zeiten, in denen die Rationalität als oberste Maxime galt, als besonders emotional skizziert wurden, ging mit dieser Kennzeichnung eine soziale Diskreditierung einher. Zugleich lassen sich eklatante Inkohärenzen bei der Zuschreibung von Gefühlen bei Männern nachweisen: So wurden ihnen zu bestimmten Zeiten besonders intensive Gefühle, zu anderen Zeiten gar keine zugesprochen. Das ist nur vor dem Hintergrund wechselnder Konjunkturen der Wertschätzung von Emotionen zu verstehen: In Zeiten, in denen die Rationalität gleichsam sakralisiert wurde, galten Männer als emotionslos. Wenn aber Emotionen hochgelobt wurden und nur diejenigen Menschen als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft galten, die besonders stark empfinden konnten, wurde der Mann als höchstsensibles, tief empfindendes

 Unterbrochen von der Weimarer Republik, in der Hartmut Lethen eine Hegemonie der Kälte beobachtete, dauerte diese Wertschätzung des Emotionalen bis in den Nationalsozialismus. Vgl. Ders.: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main .  Barbara H. Rosenwein: Worrying about Emotions in History, in: The American Historical Review  (), H. , S. -; Dies.: Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca/London .  Vgl. Manuel Borutta/Nina Verheyen (Hrsg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld .

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Wesen stilisiert – in Kontrast zu der vermeintlich nur oberflächlich erregbaren Frau. Gerade dieses Beispiel verdeutlicht die Funktionen emotionaler Zuschreibungen: Es geht um die Zuweisung eines Status und um die Begründung von Hierarchien, um auf diese Weise Macht auszuüben. So ist es alles andere als ein Zufall, dass das bürgerliche Publikum Frauen, Aristokraten und die Unterschichten über den Emotionsdiskurs auf Distanz hielt. Niemand sonst, so das Credo der bürgerlichen Männer des . Jahrhunderts, vermochte so rational zu denken und zugleich so aufrichtig und tief zu empfinden wie sie selbst. Darüber hinaus ist nicht unwichtig zu wissen, um welche Emotionen es sich jeweils handelt, welche Gefühle Konjunktur haben und welchen Emotionen die Forschung nachgeht. Zunächst ist in Rechnung zu stellen, dass Emotionen selten in Reinform auftreten, sondern miteinander verflochten sind und ineinander übergehen. Daher ist jeder Ansatz, dem Einfluss oder der Geschichte nur einer Emotion nachzuspüren, eine heuristische Komplexitätsreduktion, die dazu dient, das fluide Feld der Emotionen analytisch besser in den Griff zu bekommen. Die Einzelstudien, die bislang über »Vertrauen«, »Treue«, »Angst« oder »Schmerz« vorgelegt wurden, verdeutlichen vor allem eines: die Unterschiedlichkeit der Emotionen. Schmerz und Treue beispielsweise liegen schon deshalb nicht auf derselben Ebene, weil die Anteile von unwillkürlichen Körperreaktionen und der Einfluss bewusster Kognitionsleistung sehr verschieden sind. So ist die physische Reaktion bei Schmerz sehr viel evidenter als bei jenem Vertrauen, das z. B. notwendig ist, um die Verkehrsmittel des öffentlichen Nahverkehrs zu benutzen. Natürlich weiß man inzwischen, dass für das Schmerzempfinden auch das Bewusstsein eine Rolle spielt. Nadelkissenfakire können dieses ausschalten, womöglich gingen frühe Christen auf diese Weise in den Märtyrertod. Der Glaube an den Sinn von Therapien hilft, diese mit mehr Gleichmütigkeit zu ertragen als ohne ihn. Gleichwohl gibt es eine universale Logik anthropologischen Schmerzempfindens, worauf nicht zuletzt die Wirkung von Folter beruht. Dabei zeigt sich bei Letzterer in besonders eklatanter Form die Machtdimension von Gefühlen. Für Historiker*innen sind dabei jene Formen gesellschaftlicher Machtausübung von besonderem Interesse, die weniger evident verlaufen. Gerade Emotionen, die weniger zur anthropologisch-evolutionären Grundausstattung als etwa der Schmerz gehören, stehen im Fokus kulturgeschicht Siehe dazu die Beiträge in Rob Boddies (Hrsg.): Pain and Emotion in Modern History, Basingstoke/New York .

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licher Studien. Diese sind von der Frage geprägt, warum welche Emotionen wann in welchen Gruppen besonders relevant werden und welche Folge das für die Gruppe, für einzelne Gruppenmitglieder oder auch für Nichtzugehörige hat. Kaum eine Emotion ist so intensiv erforscht worden wie Angst. Diese Privilegierung von Angst liegt jedoch vorrangig an der Grammatik anderer Disziplinen: So ist die Vielzahl von Untersuchungen einerseits der therapeutischen Relevanz von Angststörungen in der Psychoanalyse bzw. Psychiatrie geschuldet. Zum anderen ermöglicht Angst eine besondere Möglichkeit, die Ergebnisse unter Laborbedingungen zu überprüfen. Allerdings beziehen sich derartige Untersuchungen in der Regel nur auf einen Teil des Angstempfindens, der seit Kierkegaard als »Furcht« beschrieben wird: Es geht um die konkrete Angst vor einem benennbaren, spezifischen Objekt. »Angst« als objektlose Unruhe lässt sich hingegen viel schlechter messen. Gleichwohl ist sie als Emotion, in der sich Weltzugänge und Deutungsmuster spiegeln, für kulturhistorisch arbeitende Emotionshistoriker*innen von besonderem Reiz. Darin liegt auch ein Teil der Antwort auf die Frage nach dem »warum« bzw. nach dem Sinn der Auseinandersetzung mit Emotionen: Die Relevanz unterscheidet sich allerdings je nach Zugang der Emotionshistoriografie. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, sich aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft Emotionen zu widmen: Entweder man konzentriert sich auf die Historizität von Emotionen und verfolgt ihren Wandel im Laufe der Zeit. Dann wäre zu fragen, welche politischen, sozialen oder mentalen Kontexte Einfluss auf die Entwicklung von Emotionen genommen haben und nehmen. Der andere Weg wäre, nach dem Anteil von Emotionen bei spezifischen Phänomenen bzw. Ereignissen oder Handlungen zu fragen. Emotionen wird dabei »agency« bei der Gestaltung von Machtbeziehungen zugesprochen. Insbesondere Joanna Bourke wies in ihren Studien zur Angst immer wieder auf diese Dimension hin: Emotionen »do not only belong to individuals or social groups: they mediate between the individual and the social. They are about power relations.«

 Vgl. dazu Aschmann (Anm. ), S. -; Bettina Hitzer: Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen, hier Kapitel : Die Geschichte eines Gefühls: Angst; in: H-Soz-Kult, .., http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte- (letzter Zugriff: ..); Lars Koch (Hrsg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart .  Joanna Bourke: Fear and Anxiety: Writing Emotion in Modern History, in: History Workshop Journal  (), S. -, hier S. .

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Es leuchtet unmittelbar ein, dass Emotionen soziale Beziehungen beeinflussen, indem sie die Einstellungen zu Dingen und Menschen verändern und Handlungen auslösen. Schwierig allerdings bleibt es, den genauen Zusammenhang zwischen Emotionen und Handlungen wirklich nachzuweisen. Von Uffa Jensen und Stefanie Schüler-Springorum wurde das »Verhältnis von Emotion und Handlung« als »der entscheidende Zusammenhang« ausgemacht, nach dem es zu fragen gelte. Nur: Die Beweislage für diesen Zusammenhang bleibt prekär. Wie sehr die Annahme solcher Zusammenhänge ins Spekulative entgleiten kann, zeigt sich an der vollmundigen Behauptung von Luc Ciompi, einem Sozialpsychiater, und Elke Endert, einer als Sozialpädagogin tätigen Soziologin, vermeintlichen »Gesetzmäßigkeiten« auf die Spur gekommen zu sein. In ihrem Buch Gefühle machen Geschichte behaupten sie, die Ursachen für »Kippvorgänge« aufzeigen zu können, die belegen, wie eine »Logik des Friedens« zu einer »Logik des Krieges« werde. Entscheidend seien energetische Spannungen, die sich nach übermäßigem Anstau eruptiv entladen und dadurch Energien plötzlich auf neue »Fühl- und Denk-Bahnen« lenken würden. Der »Fraktalhypothese der Affektlogik« folgend, behaupten sie dann, diese Phänomene nicht nur bei Individuen, sondern auch in Gesellschaften beobachten zu können – und erklären damit »Hitler und den Nationalsozialismus«. Dabei wird allerdings nahezu die gesamte Fachliteratur zur Entstehung des Nationalsozialismus ignoriert. Letztlich ist dieses Buch daher ein veritabler Beleg dafür, dass sich einfache Gesetzmäßigkeiten nur dann finden lassen, wenn man zugunsten simplifizierender Annahmen alles beiseitelässt, was der Komplexität von historischen Entwicklungen Rechnung trägt. So lässt sich gerade an diesem Beispiel aufzeigen, dass Bedingungsfaktoren in der Regel viel komplexer und damit Zwangsläufigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten eben nicht aufzufinden sind. Gerade dies wiederum ist ein Spezifikum der Emotionsgeschichtsschreibung: den Variantenreichtum an Entwicklungsmöglichkeiten in Rechnung zu stellen. Zumindest steht das Konzept der »emotives« im Zentrum von William Reddys Emotionstheorie: Emotionsaussagen haben einen performativen Charakter und können die Wirklichkeit verän Uffa Jensen/Stefanie Schüler-Springorum: Einführung: Gefühle gegen Juden. Die Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. -, hier S. .  Luc Ciompi/Elke Endert: Gefühle machen Geschichte. Die Wirkung kollektiver Emotionen von Hitler bis Obama, Göttingen .  Nach einer Klärung dessen, was unter »Affektlogik« verstanden wird, lautet das zweite Kapitel des Buches: »Hitler und der Nationalsozialismus«, vgl. ebd. S. -.

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dern, indem sie auf Emotionen desjenigen rückwirken, der sie geäußert hatte, oder den Gefühlshaushalt derjenigen verändern, die die Adressaten der Emotionsaussage waren. Erstaunlich ist dabei, dass Richtung und Intensität der Veränderungen nicht prognostizierbar sind. Damit implodieren alle simplen Annahmen von vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten gerade im Bereich der Emotionshistoriografie. Eine prognostische Kraft hat diese Disziplin daher nicht. Nun ist es zum Glück das ureigene Geschäft der Historiker*innen, nicht die Zukunft vorauszusagen, sondern retrospektiv Entwicklungen nachzuzeichnen und Entscheidungsverläufe zu plausibilisieren. Doch auch dabei sind Historiker*innen gut beraten, stets in Rechnung zu stellen, dass emotionale Reaktionsweisen oftmals um Haaresbreite auch ganz anders hätten ausfallen können. Es ist meistens kein Zufall, wie Menschen – auch emotional – reagieren. Ausschlaggebend sind dabei oftmals hochkomplexe Konstellationen, in denen individuelle Dispositionen, gesellschaftliche Strukturen und ereignisgeschichtliche Dimensionen miteinander verknüpft sind. Emotionsgeschichte ist daher gleichbedeutend mit dem Appell, noch genauer hinzusehen, um möglichst viele Dimensionen zu berücksichtigen, die menschliches Verhalten beeinflussen. Genau dies ist nicht zuletzt nötig, wenn es um den Zusammenhang von Emotionsforschung und Antisemitismus geht, für den im Folgenden eher Fragen aufgeworfen als Antworten gefunden werden. Schließlich gilt es, Forschungsfelder auszumachen, die für eine weitere Auseinandersetzung fruchtbar sein könnten. Der Zusammenhang von Emotionsforschung und Antisemitismus Obwohl schon Jean-Paul Sartre in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Aufmerksamkeit auf den Antisemitismus als »Leidenschaft« gelenkt hatte, ist die emotionale Dimension des Antisemitismus erstaunlicherweise lange nicht wahrgenommen worden. Erst vor wenigen Jahren setzte eine systematischere Auseinandersetzung mit diesen Zusammenhängen ein. Uffa Jensen und Stefanie Schüler-Springorum gaben   Vgl. William M. Reddy: Against Constructionism: The Historical Ethnography of Emotions; in: Current Anthropology  (), S. -; zu seinen Konzepten vgl. das Kapitel IV in Plamper (Anm. ), S. -.  Jean-Paul Sartre: Betrachtungen zur Judenfrage, Zürich , S.  f.

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einige Aufsätze heraus, mit denen sie das bisherige Übergewicht von konzeptionell-theoretischen Zugängen zum Antisemitismus kritisierten. Diese würden dazu tendieren, den Antisemitismus aus seinen zeitlichen Bezügen herauszunehmen und zur überzeitlichen Konstante zu machen. Demgegenüber fordern Jensen und Schüler-Springorum eine Herangehensweise, die das Situative betont: Antisemitismus wird definiert als »soziale Praxis«. Unklar bleibt dabei allerdings, ob mit der sozialen Praxis nicht doch indirekt wieder Diskurse in den Fokus treten, weil auch Praktiken der vergangenen Zeit vielfach nur sprachlich überliefert und damit in Diskurse eingebettet sind. Schließlich gerät bei der Analyse von Praktiken abermals die Problematik des Zusammenhangs von Emotionen und Handeln in den Blick. Inwiefern sind es die Praktiken, die Emotionen erst auslösen, oder nicht doch die Gefühle, die zu Handlungen führen? Gibt es begründete Vermutungen, in welche Richtung sich Emotionen durch Praktiken verändern? In welchem Interdependenzverhältnis stehen Handlungen und Emotionen? Inwiefern sind antisemitische Gefühle »enactive« bzw. agieren als »emotives«, die auf Akteure und Adressaten (zurück-)wirken? Welche Rückkoppelungseffekte ergeben sich? Verstärken z. B. Gewalttaten negative Emotionen oder wirken sie als Ventil, sodass negative Emotionen nach Gewaltakten eher an Intensität verlieren? Bezüglich der Frage, wo Emotionen verortet werden können, folgen Schüler-Springorum und Jensen der aktuellen Emotionsgeschichte, die körperliche Phänomene in den Vordergrund rückt. Sie können nachweisen, wie die »Gefühle gegen Juden« an den Körper zurückgebunden wurden: Bilder von jüdischen Körper(teile)n sollten aversive Gefühle evozieren, die unmittelbar mit körperlichen Reaktionen der Rezipienten einhergehen würden. Der emotionale Antisemitismus erfuhr so eine »zweifache Materialisierung« als »Marker am Körper der Juden und als Emotion im Körper des Antisemiten«. Diesen Zusammenhängen geht Uffa Jensen in seiner Publikation zur »Zornpolitik« weiter nach, in der er unter anderem die Funktionen antisemitischer Bildlichkeit am Ende des . Jahrhunderts analysiert. So verweisen beispielsweise überdimensioniert groß gezeichnete Nasen und Lippen auf Körpersekrete, die Ekel auslösen und damit anhaltende, extrem negative »Verneinungsgefühle« gegenüber Juden bedingen sollten.     

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Vgl. Jensen/Schüler-Springorum (Anm. ), S.  f. Ebd., S. . Ebd., S. . Uffa Jensen: Zornpolitik, Berlin . Vgl. ebd., S. -.

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Es ist diese Bandbreite an Verneinungsgefühlen, die bei Analysen des Antisemitismus eine Rolle spielen: Hass, Ärger, Empörung, Wut, Abscheu, Ekel, Neid, Angst. Selten liegen diese Emotionen in Reinform vor, sondern zumeist in komplexen Mischungsverhältnissen. Es ist das Verdienst von Uffa Jensen, auf den Zusammenhang von Ressentiment und Hass bzw. Zorn aufmerksam gemacht zu haben. Die allgemeine Disposition durch unbestimmte Gefühle des Grolls könne in bestimmten Situationen erst in Verachtung, dann in Hass oder Zorn umschlagen – Gefühle, die deshalb als befreiend erlebt werden, weil sie aus der Ohnmacht des Grolls hinaus in Emotionen der Selbstermächtigung führen. Dabei ist die Verbindung von Groll bzw. Rachegelüsten und Hass seit Langem im Fokus des Interesses. Schon Nietzsche hatte das Ressentiment für das Resultat einer Unterdrückung von Racheimpulsen gehalten: Rache zu üben gleiche einem »heftigen Fieberanfall«, der kurz und heftig sei, aber vorübergehe. Wer jedoch zu schwach und mutlos sei, diesen Racheakt zu realisieren, habe eine dauerhafte »Vergiftung an Leib und Seele« zu gewärtigen. Diese Konzeption folgt einem impliziten Hydraulikmodell der Emotionen, deren natürliche Entwicklung die momentane Eruption als Druckentlastung ist, während ihr Stau zu längerfristigen Schäden führt. All dies zeigt erstens die Fluidität und den Konglomeratcharakter von Emotionen bzw. die Fähigkeit eines Gefühls, in bestimmten Situationen in andere überzugehen. Zweitens zeigt das Beispiel Nietzsches, wie sehr in den emotionstheoretischen Vorstellungen Deutungsmuster aus anderen Disziplinen eingewandert sind, die wiederum Vorannahmen über die Wirkungsweise von Emotionen begründen, ohne sie wirklich zu beweisen. Drittens wird immer wieder deutlich, dass Emotionen mit Blick auf die Dauer ihrer Wirksamkeit differenziert werden. So ist es wichtig, das komplexe Zusammenspiel von einerseits anthropologisch-evolutionären  Vgl. ebd., u. a. S. .  Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen, . Aphorismus (Kritische Studienausgabe, Bd. ), München , S. .  Hydraulikmodelle, die von Barbara Rosenwein kritisiert worden sind, haben im Bereich der Emotionsforschung eine lange Tradition. Dies ist selbst noch zu erkennen an der These von Werner Bergmann, wonach sich die Disposition der Bildungsbürger im Nationalsozialismus, sich am Radauantisemitismus zu beteiligen, infolge des langjährigen Druckes erklären lasse, die Gefühle gegenüber Juden rationalisieren zu müssen. Vgl. Werner Bergmann: »Nicht aus den Niederungen des Hasses und des Aberglaubens«. Die Negation von Emotionen im Antisemitismus des deutschen Kaiserreichs, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. -, S. .

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Dispositionen, langfristig wirksamen gesellschaftlich-kulturellen Orientierungsmustern, Werthaltungen und Moralvorstellungen, mittelfristig wirksamen »feeling rules« sowie von kurzfristig wirksamen emotionalen Ereignissen in Rechnung zu stellen. Dabei ist es u. a. die Aufgabe einer kulturgeschichtlich arbeitenden Emotionshistoriografie, die Funktionsweisen und den Konstruktcharakter von Stereotypen durch das Aufdecken von Inkohärenzen aufzuzeigen. Ebenso hilft andererseits die sorgsame Kontextualisierung dabei, vermeintliche Widersprüche zu erklären. So kommen die Beiträge von Anthony D. Kauders und Werner Bergmann in dem  veröffentlichten Schwerpunktheft über »Gefühle gegen Juden« zu widersprüchlichen Ergebnissen: Konnte Bergmann nachweisen, wie sehr sich die Vertreter des »Deutschen« im Kaiserreich als Repräsentanten der Rationalität gegenüber den irrationalen Juden priesen, so zeigte Kauders, wie negativ das Rationale im Nationalsozialismus gesehen wurde, weshalb es jetzt die Juden waren, denen Rationalität zugesprochen wurde, während die »Deutschen« mit »Trieben« in Verbindung gebracht wurden. Erklärt wird dieser Wandel mit dem oben beschriebenen Rückgriff auf physikalische Denkmuster, wonach der Rationalisierungszwang im Kaiserreich zu einem Stau geführt habe, der sich nach dem Dammbruch des Ersten Weltkriegs Bahn brach. Diese Hypothese ist ebenso fraglich wie die zugrunde liegende Annahme, wonach es eine Kontinuitätslinie vom Ersten Weltkrieg bis zum Nationalsozialismus gibt. Schließlich wäre zu prüfen, ob nicht nach dem Ersten Weltkrieg zunächst eine Ernüchterung einsetzte. Das neue Pathos und die Wiederkehr der Leidenschaftlichkeit im Nationalsozialismus machten dann eine komplexere Erklärung erforderlich. Hilfreicher für die Deutung der erwähnten Widersprüchlichkeiten dürfte die Einbettung dieser Ergebnisse in die Konjunkturen allgemeiner Wertschätzung von Emotionen sein. Die Verlaufskurve zeigt, dass sich schon am Ende des . Jahrhunderts ein Paradigmenwechsel ankündigte: Nach der hohen Bedeutung des Rationalen für die Selbstbeschreibung des Bürgertums kehrte mit dem Vitalismus die Wertschätzung der Leidenschaftlichkeit zurück. Entsprechend erklärte der österreichische Publizist Hermann Bahr  den Antisemitismus »aus der Begierde  Zu Bergmann vgl. ebd.; zu Kauders siehe Anthony D. Kauders: Antisemitismus als Selbsthingebung, oder: Der Kampf gegen den »jüdischen Rationalismus«, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. -.  Vgl. Bergmann (Anm. ), S.  und Jensen/Schüler-Springorum (Anm. ), S. .

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nach dem Taumel und dem Rausche einer Leidenschaft«. »Begierde«, »Taumel«, »Rausch« und »Leidenschaft« waren in bestimmten Kreisen positiv aufgeladen – schon lange vor dem angeblichen Dammbruch des Ersten Weltkriegs. Fraglich ist allerdings, welche »emotionalen Regimes« dominierten, d. h. welche Emotionsmuster sich hegemonial in bestimmten politischen Systemen durchsetzten. Bei der Wahl von Zitaten ist daher immer auf die Repräsentativität und die gesellschaftliche Durchdringungstiefe der jeweiligen Aussagen zu achten. Einschlägige Zitate müssen noch keine Diskurshoheit dokumentieren. So wäre es spannend zu analysieren, welche Gruppen sich für welche Argumentationsmuster und emotionale Verhaltensweisen empfänglich zeigten. Möglicherweise konnte sich der Antisemitismus auch gerade deshalb so stark verbreiten, weil er derart unterschiedlich (d. h. insgesamt widersprüchlich) vermittelt wurde, dass divergente gesellschaftliche Kreise daran anknüpfen konnten. Womöglich war es gerade die Passförmigkeit der so inkohärenten antisemitischen Agitation mit den Gefühlsregeln (»feeling rules«) verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, die zur allgemeinen Akzeptanz beitrug. Das aber würde erfordern, diese verschiedenen »feeling rules« erst einmal zu untersuchen und entsprechend nach ihrer Anschlussfähigkeit an die verschiedenen Strömungen des Antisemitismus zu fragen. Hier liegt insofern noch erheblicher Forschungsbedarf vor, als die meisten Studien nahezu ausschließlich den männlichen, protestantischen Bildungsbürger im Blick haben. Welche Emotionen z. B. die katholische Landfrau prägten, gehört zu den Desideraten der Emotionsgeschichte. Ein letztes Problem, das es im Zusammenhang mit Emotionen und Antisemitismus anzusprechen gilt, ist die Darstellung von antisemitischen Gefühlen in der Kunst bzw. Literatur. Wer nicht wie Paul Ekman von der Existenz von Basisemotionen ausgeht, die sich überall auf der Welt in identischer Mimik artikulieren, sondern wer annimmt, dass Emotionen in einem komplexen Zusammenspiel von Körper, Geist und kulturellem Umfeld entstehen, der wird erhebliche Übersetzungs Vgl. Hermann Bahr: Der Antisemitismus. Ein internationales Interview, Berlin , S. .  Zu dem Konzept der »feeling rules« vgl. Arlie Russel Hochschild: Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure; in: American Journal of Sociology  (), No. , S. - sowie Dies.: Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle, Frankfurt am Main .  Vgl. auch Andrea Hopp: Antisemitismus und Emotionen im Europa des . Jahrhunderts. Ein Kommentar, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung  (), S. -, hier S.  f.

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probleme bei jeder Interpretation von Gefühlen in Rechnung stellen müssen. Erste Schwierigkeiten stellen sich schon dann ein, wenn man versucht, die eigenen Emotionen zu erklären. Sie potenzieren sich, wenn andere Personen die eigenen Emotionen wahrnehmen und deuten. In der Kunst bzw. der Literatur geht es nun in besonderer Weise darum, durch geschickte Arrangements Emotionen zu erzeugen oder zu lenken, was ohne Nutzung des Emotionswissens der jeweiligen Zeit kaum möglich wäre. Dabei wäre danach zu fragen, inwiefern die durch diese ästhetische Rezeption ausgelösten Emotionen sich von denjenigen unterscheiden, die Zeitgenossen außerhalb des Kunstbereiches erleben. Sind sie schwächer oder stärker? Bleiben die Emotionen gebunden an den Ort der Rezeption oder transformieren sie emotionale Dispositionen dauerhaft? Dass sorgfältig zwischen einer Lektüre- und einer Lebenserfahrung unterschieden werden muss, zeigt die Angstforschung. Diese geht davon aus, dass die Erlebnisqualität von Angst in fiktionaler Literatur oder im Film eine andere ist als in der »Realität«. Weniger die Angst, als vielmehr die Angstlust dominiere die Wahrnehmung der Zuschauer*innen bzw. Leser*innen. Dieses charakteristische Vergnügen an einer Angst, die vom Wissen um eine tatsächliche Sicherheit eingehegt ist, sollte nicht mit einer wirklichen Angsterfahrung verwechselt werden. Die Angstlust verdeutlicht beispielhaft, dass die medial vermittelten Emotionen wegen des spezifischen Produktions- und Rezeptionskontextes eine andere Interpretation erfordern und nicht einfach mit nichtfiktionalen Emotionserfahrungen gleichgesetzt werden dürfen. Antisemitismus im Kontext von Angstdiskursen im . Jahrhundert Uffa Jensen und Stefanie Schüler-Springorum weisen in ihrem Einführungsaufsatz zu Gefühle gegen Juden auf den »Moment der Verunsicherung« hin, dem eine »erhebliche dynamisierende Funktion« zukomme. Eine solche Verunsicherung korreliert in der Regel mit der Emotion Angst. Diesem Zusammenhang wird in der Gegenwart große Aufmerksamkeit gewidmet, was dazu führen kann, dass wegen allge Zu Ekmans Theorie der Basisemotionen vgl. Paul Ekman: An argument for basic emotions, in: Cognition and Emotion  (), H. /, S. -.  Vgl. Thomas Anz: Angstlust, in: Koch (Anm. ), S. -, hier S. .  Jensen/Schüler-Springorum (Anm. ), S. .

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meiner Statusverunsicherungen die gegenwärtige Gesellschaftsformation als »Gesellschaft der Angst« charakterisiert wurde. Dass das . und . Jahrhundert Zeiten der Angst waren und sind, scheint evident. Bemerkenswerterweise wird dabei jedoch die Angst übersehen, die schon im . Jahrhundert eine Rolle spielte, war doch die damalige Gesellschaft nicht weniger von Unsicherheitserfahrungen geprägt. Insofern ist es ein Desiderat, die Ängste des . Jahrhunderts stärker zu untersuchen und sie in einen Zusammenhang mit Sicherheitsvorstellungen zu bringen. Während es zum Konzept »Sicherheit« inzwischen zahlreiche Forschungsansätze gibt, bleibt die Relevanz von Angst für die Produktion von Sicherheitsdiskursen und -praktiken bislang unterbelichtet. Dabei liegt meinen eigenen künftigen Forschungsvorhaben die These zugrunde, dass Art und Weise bzw. das Ausmaß von Angst Folgen haben für die Forderung nach Sicherheit und für die Offenheit bzw. Geschlossenheit von Kommunikationssituationen und Handlungsoptionen. Dabei wird der Angst gemeinhin ein hohes »Ansteckungspotential« zugeschrieben, was wiederum Auswirkungen hat auf die Beziehungen zwischen Individuen, Gesellschaft und Staat. Es liegt auf der Hand, dass zwischen Ängsten und politischen Maßnahmen ein Wirkungsverhältnis besteht, das für das . Jahrhundert erst systematisch in den Blick genommen werden muss. Im Folgenden sollen noch einige Aspekte dieser Thematik herausgearbeitet werden, die mit Blick auf eine Emotionsgeschichte des Antisemitismus von Relevanz sein könnten. Es gehört seit der Publikation Der Begriff Angst von Søren Kierkegaard aus dem Jahr  zum Standardwissen, dass »Angst« von »Furcht« zu unterscheiden sei. Beziehe sich »Furcht« auf die (reflexartige) Reaktion vor einem konkreten Gegenstand, steht »Angst« für das abstraktere  Vgl. u. a. Heinz Bude: Gesellschaft der Angst, Hamburg .  Dass das . Jahrhundert ein Säkulum der Angst war, betonen z. B. Bauman und Bourke, vgl. Zygmunt Bauman: Liquid Fear, London ; Joanna Bourke: Fear. A Cultural History, London .  Vgl. u. a. Birgit Aschmann: L’importanza del presunto irrazionale: le emozioni nel »moderno«, in: Christof Dipper/Paolo Pombeni (Hrsg.): Le ragioni del moderno [Annali dell’ Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, ], Bologna , S. - und Dies.: Der Traum der Vernunft und seine Monster. Goyas Perspektiven auf das . Jahrhundert, Berlin .  Vgl. u. a. Christopher Daase/Philipp Offermann/Valentin Rauer (Hrsg.): Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt am Main ; Eckart Conze: Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. -.  Vgl. Olaf Briese: Ansteckung; in: Koch (Anm. ), S. -.  Søren Kierkegaard: Der Begriff Angst, Gütersloh .

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Phänomen einer objektlosen Unruhe. Beide Begriffe stehen dabei repräsentativ für verschiedene Pole von Angst, wobei die Grenze zwischen beiden Phänomenen fließend ist. So kann mit »Angst« einerseits ein philosophisches Unbehagen in Anbetracht der Einsicht des Menschen in seine transzendentale Obdachlosigkeit gemeint sein, aber auch die Unruhe durch das Ahnen möglicher Unsicherheiten im beruflichen oder familiären Umfeld. Grundsätzlich aber fällt es dem Menschen schwer, die objektlose Angst zu ertragen, weshalb er dazu tendiert, diese zu konkretisieren, d. h. sie in konkrete Furcht zu verwandeln, indem Institutionen, Personen, Gruppen zu Furcht-Objekten stilisiert werden. Auf diese Weise können »Angst« und »Furcht« ineinander transformiert werden: »Anxiety«, schrieb Joanna Bourke, »is easily converted into fear, and vice versa.« Mit diesem Prozess ist das umschrieben, was sonst mit der Konstruktion von »Sündenböcken« gemeint ist, wovon die Juden so oft betroffen waren. Das kollektive Gedächtnis europäischer Gesellschaften wusste um die Traditionen, mit denen dieser Gruppe Schuld aufgebürdet und sie zum Opfer gemacht wurde. Diese Prozesse illustrieren den Zusammenhang von Angst und Machtpolitik. »Fear is a social enaction«, führte Joanna Bourke aus: »It is about the distribution of power.« Angst ist mit hoher Wahrscheinlichkeit dort zu erwarten, wo Verunsicherungen herrschen, wo Fronten in Bewegung geraten und klare Ordnungen infrage gestellt werden, wo vermeintlich Sicheres verflüssigt wird. Angst kann dann als Alarmierungsvorgang wirken, der in Gefahr geratene Grenzen markiert und neue emotionale Grenzregime etabliert. Als emotionale Markierung der territorialen Grenze zu Frankreich forderte Ernst Moritz Arndt zu Beginn des . Jahrhunderts den Hass. So entspricht der Hass, den die Trump-Berater beschwören, einer nicht unähnlichen Emotionspolitik wie der vor  Jahren. Der Hass wurde seinerzeit von Arndt gepriesen als bewährte »Schutzwehr« gegen »das Eindringen des Fremden oder Ungleichen«. Es sei eine unumstößliche Wahrheit, »daß alles, was Leben und Bestand haben soll, eine bestimmte Abneigung, einen Gegensatz, einen Haß haben muß«, denn andernfalls drohe »Nichtigkeit und Erbärmlichkeit« und zuletzt »Unterjochung«. Entsprechend forderte Arndt, den Hass zu schüren und zu pflegen als »die Religion des teutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen«, der die Deutschen

 Bourke (Anm. ), S. -, hier S. .  Ebd., S. .  Dazu die Publikationen von Zygmunt Bauman: Liquid modernity, Cambridge  und Ders. (Anm. ).

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in ihrer »Treue, Redlichkeit und Tapferkeit« erhalte, denn »dann werden Teutschlands Grenzen auch ohne künstliche Wehren sicher sein«. Gerade dass »das Teutsche« bis »in den innersten Kern vergiftet« gewesen sei, löste offenbar diese starke Angst und Verunsicherung aus, was in Forderungen mündete, den Hass zum zentralen Bestandteil eines neuen emotionalen Grenzregimes zu machen. Die »Zwitterei«, die die deutsche »Herrlichkeit entartet und verstümpert« habe, verweist auf diese Provokation der aufgelösten Grenze. Es ist offenbar die gleiche Angst, die Heinrich von Treitschke  das Schreckbild einer »deutsch-jüdischen Mischkultur« entwerfen ließ, die die Jahrtausende währende »germanische Gesittung« zu beenden drohe. Auch Treitschke ging von einem außenpolitisch motivierten »Gefühl der Unsicherheit« aus, welches es erforderlich mache, die Gesellschaft innenpolitisch zusammenzuschließen. Gerade aber vor diesem Hintergrund problematisierte Treitschke die ungesicherte Ostgrenze, über welche »Jahr für Jahr […] eine Schaar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge« hereinströme, deren Nachkommen dereinst die deutsche Wirtschaft und Presse beherrschen würden. Um diese Juden, die dem »germanischen Wesen« so fremd seien, in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, helfe nur eines: »Sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen.« Das »richtige Gefühl« wird damit – neben den richtigen »Sitten und Gedanken« – zum zentralen Kriterium für eine Integrationsfähigkeit. Entscheidend ist dabei die »Energie des Nationalstolzes«. Und so mündete Treitschkes Aufsatz in die Beschwörung: »Gebe Gott, daß wir aus der Gährung und dem Unmuth dieser ruhelosen Jahre […] ein gekräftigtes Nationalgefühl davontragen.« Gelinge es nicht, den Einfluss der Fremden abzuwehren, so bekräftigte der Hofprediger Adolf Stoecker einige Jahre später, so drohe der Untergang. Es gehe um »Sein oder Nichtsein! […] Kein Volk kann die Übermacht eines fremden Geistes dulden, ohne zu entarten und zu Grunde zu gehen.« Aus diesem Grund sei es auch notwendig, die Juden zwar nicht als Einzelpersonen, aber in ihrem »System« zu hassen: »Wir hassen die Juden nicht«, beteu Alle Zitate aus Ernst Moritz Arndt: Über Volkshass und über den Gebrauch einer fremden Sprache (), in: Michael Jeismann/Henning Ritter (Hrsg.): Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig , S. -.  Ebd.  Heinrich von Treitschke: Unsere Aussichten; in: Preußische Jahrbücher  (), S. -, hier S. ,  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Ebd., S. .

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erte Stöcker. »Aber ihr System, als verderbenbringend für unser deutschchristliches Volkstum, hassen wir aus ganzer Seele.« Dabei setzte sich im deutschen Antisemitismus schließlich ein Denken durch, wonach gerade die Assimilation als Bedrohung galt, konnte doch – so die Unterstellung – gerade durch die fortschreitende Ununterscheidbarkeit von jüdischen und christlichen Deutschen das jüdisch »Fremde« die deutsche Gesellschaft umso ungehinderter unterwandern und das »deutsche Wesen« umso nachhaltiger bedrohen. Juden wurden im . Jahrhundert in dreifacher Hinsicht zu Opfern dieser Verunsicherungen und Ängste. Erstens waren sie die Opfer von Übertragungsphänomenen, im Rahmen derer sie als »Sündenböcke« zu konkreten Furchtobjekten wurden. Diese Prozesse waren Gesellschaften in Konfliktsituationen umso willkommener, als sie einfache Erklärungen boten und sie der Notwendigkeit enthoben, sich mit den wahren Ursachen unkonkreter Ängste auseinandersetzen zu müssen. Zweitens waren die Juden diejenigen, von deren Präsenz im späten . Jahrhundert angeblich eine besondere Gefahr für das »deutsche Wesen« ausging. Schon weil die Juden zu »gleich« geworden waren, bedurfte es neuer Grenzmarkierungen, für deren Legitimation und anhaltende Sicherung aversive Gefühle beschworen wurden. Drittens wurde der Antisemitismus von denjenigen als Ablenkungsstrategie forciert, die ihrerseits Gründe hatten, sich zu fürchten, nicht als vollgültige Mitglieder der nationalen Gemeinschaft zu gelten. So traten Homosexuelle aus dem Kreis um den Männerbundtheoretiker Hans Blüher durch eine auffällig antisemitische Rhetorik hervor, die sich nicht zuletzt aus dem Wunsch speiste, über die Diskreditierung der »effeminisierten Juden« am Maskulinismus der Kaiserreichgesellschaft teilhaben zu können.

 Adolf Stoecker: Christlich-sozial. Reden und Aufsätze, Bielefeld , S.  f.  Vgl. dazu einschlägig Uffa Jensen: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im . Jahrhundert, Göttingen , S. -; Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland -, Berlin , S. -.  Vgl. Claudia Bruns: Politik des Eros: Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (-), Köln ; Dies.: The Politics of Masculinity in the (Homo-)Sexual Discourse (-), in: German History  (), H. , S. , hier S. -. Zum Antisemitismus von Homosexuellen, die sich nicht zuletzt deshalb von Magnus Hirschfeld distanzierten, vgl. auch Kevin Dubout: Eine nüchterne Agitation. Eugen Wilhelm alias Numa Praetorius (-). Jurist, WhK-Aktivist, Sexualwissenschaftler, Diss., masch. (HU Berlin) , S.  f. Zur Diskreditierung der Homosexualität als »undeutsch« vgl. Norman Domeier: Der

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Für die künftige Forschung im Zusammenhang von Emotionen und Antisemitismus wäre noch Folgendes zu bemerken: Zum einen müsste in den Blick genommen werden, inwiefern es eine Rolle spielt, welche Gruppen zusammen mit den Juden über den Emotionsdiskurs diskreditiert wurden und welche Konsequenzen dies hatte. In welchem Verhältnis stehen der Hass auf Franzosen und die Verachtung von Juden bei Arndt? Zum Ende des . Jahrhunderts ist zudem auffällig, wie die antisemitische Kampagne mit dem Antifeminismus einherging. Welche Folgen haben solche Hass-Verbindungen? Als zweites ist darauf hinzuweisen, dass es nicht zwangsläufig war, dass die Juden nach Unglücken zu Sündenböcken gemacht wurden. Bemerkenswert ist hier die Wahrnehmung der Cholera-Epidemie von . Angesichts dieser ungeheuren Bedrohung, deren Ursache und Wirkungsmechanismen unbekannt waren, hatten Ängste ein leichtes Spiel. Diese wurden nicht zuletzt von Behörden geschürt, um die gewaltigen Gegenmaßnahmen, etwa die Errichtung eines riesigen Grenzwalles, zu legitimieren. Dabei aber zeigte sich nun die Eigendynamik emotionalisierender Rede bzw. von »emotives«: Die Emotionsappelle schürten Angst und Unmut unter der Bevölkerung, doch zu Sündenböcken wurden dieses Mal nicht Juden, sondern Polizisten, Ärzte und Krankenhauspersonal. Das zeigt erneut, dass von Gesetzmäßigkeiten keine Rede sein kann, sondern dass es immer gilt, genau hinzusehen und den Kontext zu eruieren, in dem einzelne Verhaltensweisen plausibel und wahrscheinlich waren. Es ist unabdingbar, theoretische Grundannahmen immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen, womit am Ende das gilt, was Carolin Emcke einfordert: genaues Beobachten, nicht nachlassendes Differenzieren und Selbstzweifel.

Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs, Frankfurt am Main , S.  f.  Vgl. v. a. Olaf Briese: Angst in den Zeiten der Cholera. Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums. Seuchen-Cordon I, Berlin .  Ebd., S.  f.

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Schöne Augen Emotionalisierende Figurationen des »Ewigen Juden« in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann Jan Süselbeck Sleep with one eye open Gripping your pillow tight Metallica

Zur Forschungsgeschichte und zum historischen Kontext Heinrich Heine schrieb über die Werke des Romantikers E. T. A. Hoffmann, diese seien »nichts anderes als ein entsetzlicher Angstschrei in  Bänden«. Dieser »Angstschrei«, so Marcel Reich-Ranicki in seinem Hoffmann-Porträt, habe ab der Mitte des . Jahrhunderts »beinahe die ganze lesende Welt erregt, erschüttert und entzückt«. Doch was, wenn diese Angstlust in signifikanten Fällen auf dem Genuss von Erzählmustern des literarischen Antisemitismus beruhte? Interpretationen, die dieser These folgen, sind bislang rar und vermögen methodologisch kaum zu überzeugen. Wolf-Daniel Hartwich argumentiert in seiner Studie zum romantischen Antisemitismus vor allem aufgrund biografischer Nachforschungen zu der Bamberger Zeit Hoffmanns, das Judentum habe in dessen Werk ein »konstitutives Element« gebildet. Das Besondere bei diesem Autor sei es, dass seine »Auseinandersetzung mit dem Jüdischen durch bildkräftige Motive und Figuren« transportiert werde, die auf »unterschiedlichen Ebenen der poetischen Verschlüsselung« auftauchten. Negative Haltungen gegenüber Juden äußerten sich hier vor allem durch »verfremdende Darstellungen, die von komischen Überzeichnungen bis zu Visionen des Grausig-Grotesken reichen«.  Hier zitiert nach Marcel Reich-Ranicki: E. T. A. Hoffmann. Ein Porträt, in: Ders.: Meine Geschichte der deutschen Literatur, hrsg. von Thomas Anz, München , S. -, hier S. .  Ebd.  Wolf-Daniel Hartwich: Romantischer Antisemitismus. Von Klopstock bis Richard Wagner, Göttingen , S. .

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Diese Beobachtung ist treffend, bisher aber noch nicht dezidiert für die Analyse der vertrackten Erzählstruktur von E. T. A. Hoffmanns berühmter und vielinterpretierter Erzählung Der Sandmann () angewandt worden. Die Geschichte hat Generationen von Lesern fasziniert und ist nach wie vor Hoffmanns bekanntester Text im Genre der romantischen Schauerliteratur. Der langsam dem Wahnsinn verfallende, grüblerische Protagonist Nathanael sieht sich darin als Student in Italien mit der Schreckensfigur seiner Kindheitstage, dem Sandmann alias Coppelius, konfrontiert. Jedenfalls glaubt Nathanael, in dem Mechaniker Giuseppe Coppola seinen alten Peiniger wiederzuerkennen. Doch ist, fragen sich die Leser dieses Textes seit nunmehr über  Jahren, Nathanaels Eindrücken überhaupt zu trauen? Hoffmann nährt solche Zweifel u. a. dadurch, dass auch Nathanael sich nicht sicher zu sein scheint und sich zwischenzeitlich damit zu beruhigen versucht, dass Coppola ein Piemonteser sei, Coppelius aber Deutscher. Es könnte sich also – wie im Text auch aus der Sicht von Nathanaels Briefpartnern Lothar und Clara – doch nur um eine Verwechslung handeln, um albtraumhafte Visionen als Folgen von Nathanaels neurotischer Überspanntheit. Nathanael wandelt sich gleichwohl immer mehr zu einem hitzköpfigen Verschwörungsfantasten, wenn er auch zu phasenweisen Selbstzweifeln neigt. Solche Paradoxa gibt es tatsächlich nur in der Literatur. In dieser Ambivalenz kann die verspiegelte Geschichte vom Publikum dennoch nur dann in effektiver Weise als unheimlich erfahren werden, wenn die Leser Nathanaels Wahrnehmungen bis zu einem bestimmten Grad Glauben schenken und seine Furcht vor dem Sandmann zu ihrer eigenen machen. Die Auslassungen und erzählperspektivisch hergestellten Irritationen im Text sind zentrale Instrumente von Hoffmanns Affektpoetik: Auch das Publikum soll einen wohlig-schaurigen Geschmack an den schrecklichen Verdachtsmomenten und Verschwörungsfantasien Nathanaels finden, die der Plot sukzessive entfaltet und deren Wahrheitsgehalt der Text zugleich in der Schwebe lässt. Diese Ambivalenz wird bereits durch die einleitende Erzählsituation unterstützt: Nathanaels briefliche Mitteilungen an Lothar gewähren dem Publikum intime Einblicke in komplexe zwischenmenschliche Konstellationen und erzeu So auch Ulrich Hohoff: E. T. A. Hoffmann. Der Sandmann. Textkritik, Edition, Kommentar, Berlin/New York , S. : Der Leser solle in die Lage versetzt werden, selbst an Nathanaels Erlebnis des »Wunderlichen« teilzuhaben, zu sehen, was nicht real zu sehen sei. Hohoff spricht hier von dem »Lektürevorgang« als »wirkungsorientiertes Experiment« (S. ) bzw. der »Funktionsbestimmung des Lesens als Erkenntnisakt« (S. ).

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gen eine private Vertrautheit, die eine emotionale Anteilnahme der Leser an den Ängsten Nathanaels zumindest nicht abwegig erscheinen lässt. Wenn die Erzählung in diesem Verwirrspiel jedoch mit Schreckensszenarien hantiert, die, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, sich teils mit dem uralten Arsenal antijüdischer Mythen und Vorurteile überschneiden, so verbirgt sich dahinter eine affektive und potenziell Hass erzeugende Botschaft, welche zumindest den Rezipienten des . Jahrhunderts noch sehr viel selbstverständlicher erschienen sein dürfte als dies gegenwärtig der Fall ist. Heute können solche sublimen Andeutungen von durchschnittlich informierten Lesern mangels historischen Kontextwissens oft sogar überhaupt nicht mehr erkannt werden. Von hagiografisch denkenden literaturwissenschaftlichen Gralshütern des Werks E. T. A. Hoffmanns wiederum musste eine solche antisemitische Bedeutungsebene wohl oder übel verdrängt oder sogar bewusst ausgeblendet werden, um den kanonischen Autor nicht in Misskredit zu bringen. Doch auch seriösen Studien ist der verstörende Aspekt des potenziellen literarischen Antisemitismus von Hoffmanns Erzählung bislang nicht aufgefallen. Dafür muss man den Autoren keinen bösen Willen unterstellen: Es kann sich auch um schlichte Ahnungslosigkeit und Unbedarftheit selbst von Spezialisten gehandelt haben, die noch niemand hinreichend für das Thema Antisemitismus sensibilisiert hatte, als sie ihre Texte schrieben. Auffällig ist jedenfalls, dass selbst ein jüngerer emotionswissenschaftlicher Beitrag, der nebenbei auf das Thema potenzieller Affektwirkungen von Hoffmanns Sandmann eingeht, in narratologischen Detailbetrachtungen zu bestimmten Reizkonfigurationen und  Vgl. Gideon Stiening: Hermeneutik. Über die Grenzen des Verstehens und die Gefahren ihrer Missachtung, in: Oliver Jahraus (Hrsg.): Zugänge zur Literaturtheorie.  Modellanalysen zu E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann, Stuttgart , S. -, hier S. . »Die Logik der kranken Seele produziert eben keine semantische Nichtigkeit, also Unsinn, sondern durchaus wahrscheinliche Annahmen, die die Gefahren, die in ihnen schlummern, allererst sichtbar werden lassen. Nathanaels Angst vor dem alchemistischen Kinderquäler bleibt bis zum Schluss legitim und daher seine Befürchtung in Bezug auf die prägende Rolle dieser Figur für sein Verhängnis zumindest nachvollziehbar.«  So erstaunt etwa besonders, dass Michael Rohrwasser in einer vielschichtigen Studie über politische Aspekte von Hoffmanns Sandmann und verschiedener verwandter Texte aus dem Gesamtwerk des Romantikers zwar die Figur des Zauberers oder Magnetiseurs, den historischen Hintergrund von Geheimbünden und der Manipulationen des Verschwörers Cagliostro ins Zentrum seiner Betrachtungen stellt, aber an keiner Stelle den Beginn moderner antisemitischer Fantasien erwähnt, die um  mit solchen Konspirateuren und Phänomenen zunehmend verknüpft wurden. Siehe Michael Rohrwasser: Coppelius, Cagliostro und Napoleon. Der verborgene politische Blick E. T. A. Hoffmanns. Ein Essay, Basel/Frankfurt am Main .

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narrativen Formen der Empathie- oder Furcht-Evokation verharrt. Den historischen Kontext einer möglichen antisemitisch inspirierten Charakterisierung des ›Bösen‹ in dieser Erzählung Hoffmanns fasst der Aufsatz aber nach wie vor nicht ins Auge, obwohl typische judenfeindliche Vorstellungen und Diskurse zur Zeit der Niederschrift von Hoffmanns Erzählung einen solchen impliziten Verständnishorizont dringend nahelegen. Selbst in der konzisen, von Oliver Jahraus  herausgegebenen Sammlung von  Modellstudien zu Hoffmanns Sandmann wird das Thema Antisemitismus an keiner Stelle berührt. Doch was rechtfertigt nun den vorliegenden Versuch, dies erstmals offensiv zu versuchen? Zunächst muss erklärt werden, warum hier im Blick auf eine Erzählung des frühen . Jahrhunderts überhaupt von Antisemitismus und nicht von christlichem Antijudaismus die Rede sein soll. Warum wird hier, mit anderen Worten, ein Begriff verwendet, der erst im späten . Jahrhundert auftauchte und in der Forschung lange für modernen Judenhass reserviert blieb, weil dieser auf nationalistische, biologistische und rassistische Annahmen rekurrierte und deshalb um  so noch nicht gegeben war? Eine verkürzte kapitalismuskritische Botschaft verschwörungsmythischer Couleur, wie sie Nathanaels falsches Bewusstsein nahezulegen scheint, das hinter allem Unbill in seinem Leben den Einfluss des betrügerischen und skrupellosen Sandmanns vermutet, deutet eine Weltsicht an, die für strukturellen Antisemitismus typisch ist. Damit ist eine sublime Form des Judenhasses bzw. antisemitischer Angstkommunikation gemeint, die ihr Feindbild nicht explizit benennt, in ihrer Struktur jedoch implizit die Annahme nahelegt, dass die schlechten Seiten der Moderne der geheimen Manipulation durch jüdische Strippenzieher geschuldet seien. Diese implizite, kapitalismuskritisch gefärbte Spielart des Judenhasses, die wir in jener Zeit unter anderem auch bei dem Romantiker Achim von Arnim finden, ist genuin modern. Sie ist eine Folge der Aufklärung und nicht mehr mit dem religiösen Antijudaismus gleichzusetzen.  Vgl. Katja Mellmanns Ausführungen über die Erzeugung von Empathie, Furcht und Empörung im Sandmann, in: Dies.: Vorschlag zu einer emotionspsychologischen Bestimmung von »Spannung«, in: Karl Eibl/Katja Mellmann/Rüdiger Zymner (Hrsg.): Im Rücken der Kulturen, Paderborn , S. -, hier S. -.  Am stärksten nähert sich hier noch Mario Griselj dem Thema, wenn er in seinem von den Postcolonial Studies und der Ethnografie geprägten Beitrag über Identitäten und Fremdheitskonzepte im Sandmann schreibt. Doch als bestehe hier ein unbewusstes Denkverbot, kommt auch er nicht explizit auf die Möglichkeit des literarischen Antisemitismus in diesem Kontext zu sprechen. Siehe Mario Griselj: Alterität als Medienspektakel in Der Sandmann, in: Jahraus (Anm. ), S. -.

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Jan Weyand hat in seiner historischen Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus belegt, dass die Chronologie der früheren Antisemitismusforschung nicht mehr zu halten ist. Laut Weyand setzte der Prozess der Genese eines modernen antisemitischen Wissens bereits um  ein, und zwar mit einer zunehmenden Ersetzung der Dichotomie von Christen und Juden durch diejenige von Deutschen und Juden. Aus der praktischen Überwindbarkeit der religiösen Trennung zwischen Juden und Christen durch die Konversion wurde damit bereits um  die Forderung des kompletten Ausschlusses der Juden aus der sich als werdende Nation neu entwerfenden Gemeinschaft der Deutschen. Die Fremdheit der Juden, die durch ihre bloße Abstammung und nicht mehr nur durch ihre Religion konstruiert wurde, erschien plötzlich unhintergehbar. Die Juden wurden damit bereits zu Beginn des . Jahrhunderts zusehends von ihren deutschen Feinden als eine viel größere Bedrohung imaginiert als zuvor im christlichen Kontext, da sie gerade durch ihre Assimilation unsichtbar zu werden und die Mehrheitsgesellschaft zu ›zersetzen‹ drohten, solange sie nicht wieder radikal getthoisiert oder endgültig deportiert oder vernichtet wurden. Wenn man nun die Poetik der Unheimlichkeit von Hoffmanns Erzählung in ihrem Zeitkontext richtig verstehen möchte, ist dieser frühere Umschwung von Vorstellungen des christlichen Antijudaismus hin zu einer weit grundsätzlicheren Bedrohung durch ›den Juden‹ im Weltbild des modernen Antisemitismus zu berücksichtigen. Gewiss, im Sandmann geht es überhaupt nicht explizit um nationalistische Ideen. Die Angst vor dem Bösen wird hier jedoch durch eine zentrale Figur ausgelöst, die äußerst mobil ist und wie aus dem Nichts immer wieder neu auftauchen kann, um die Identität des Protagonisten schleichend zu beschädigen und schließlich auszulöschen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Es soll hier anhand dieser Erzählung nicht um eine Demontage der komplexen Literatur E. T. A. Hoffmanns gehen, deren ästhetische moderne Finessen ihren kanonischen Ort in der deutschsprachigen Literaturgeschichte verdient haben und behaupten werden. Ebenso wenig ist es die Intention, den Autor als Antisemiten zu entlarven. Jeder Versuch einer Beantwortung der Frage, ob der empirische Autor Hoffmann Juden nun persönlich mochte oder nicht, muss mangels eindeutiger Dokumente zu haltlosen Spekulationen  Jan Weyand: Historische Wissensoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses, Göttingen , S. .  Ebd., S.  f.  Ebd., S. .

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führen. Es kann nicht einmal darum gehen, klar zu entscheiden, ob ein hochkomplexer literarischer Text wie Der Sandmann zweifelsfrei antisemitisch ist, da die vertrackte Struktur des Werks derartige monokausale Schlüsse verhindert. Thema des vorliegenden Beitrags ist vielmehr eine genauere Befragung des Potenzials von Hoffmanns Erzählung, im historischen Zusammenhang des Entstehungsprozesses des modernen literarischen Antisemitismus gelesen und gedeutet zu werden. Ein solches Verständnis hängt vor allem von den kognitiven Voraussetzungen und dem anzunehmenden kollektiven Kontextwissen der Leser ab: Gab es antisemitische Annahmen über das ›Wesen‹ der Juden, die zur Zeit der Erstpublikation des Textes Allgemeingut waren und seine Lektüre so maßgeblich mitbestimmen mussten? Aus dieser Perspektive wäre es zugleich möglich, dass solch antisemitische Lesarten mittels impliziter textueller Anspielungen auf kulturelle Codes provoziert wurden, die noch nicht einmal der Autor selbst bewusst intendierte, wie Thorbjörn Ferber festgestellt hat. Was hier allein zählt, ist das soziokulturell beeinflusste Bewusstsein der Leser, das die Charakterisierung bestimmter Figuren oder die Reaktionen anderer im Text auftretender Personen auf diese Gestalten autark ausdeutet, um in bestimmter Weise emotional darauf zu reagieren. Ferbers Überlegungen sind grundlegend für die hier folgende Interpretation: Insbesondere bezüglich der Rezeption und Wirkungsgeschichte von Antisemitismus muss ein Verständnis für die Mechanismen der Perpetuierung von antisemitischen Vorurteilen vermittelt werden. Die Figurenzeichnung ermöglicht dem Leser (oder auch einer der handelnden Figuren), die Figuren als ›jüdisch‹ zu demaskieren, wenn sie nicht vom Autor explizit als solche ausgewiesen beziehungsweise eingeführt worden sind. Aus den Indizien lässt sich die ›wahre Identität‹ des Juden erschließen und in textuelle Leerstellen einfügen. Dass dies so funktionieren kann, hängt u. a. mit der erzählerischen und emotionalisierungsstrategischen Polyphonie solcher schauerliterarischer Darstellungen zusammen. Die Gothic-Literatur vermischte nicht nur von Anbeginn so unterschiedliche Genres wie frühe Science-Fiction und Horror-Geschichten, sondern vermochte es auch gerade durch diese Variabilität, sehr unterschiedliche Gefühle im Publikum zu evozieren. In letzter Konsequenz ist also die Frage zweitrangig, ob ein Schriftsteller wie E. T. A. Hoffmann selbst Antisemit war oder sich dezidiert  Thorbjörn Ferber: Nationaler Antisemitismus im literarischen Realismus, Berlin , S.  f.

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als solcher verstand. Schließlich ist es theoretisch auch möglich, dass ein solcher Autor Aspekte eines antisemitischen Weltbildes unreflektiert oder unbewusst in einem Text spiegelt, die sein Werk aus der Sicht seines Publikums mit judenfeindlichem Wirkungspotenzial aufladen. Aus textkritischer Sicht mindert dies jedoch nicht das diagnostizierte Problem möglicher antisemitischer Lesarten. Die Literatur nimmt nach Thorbjörn Ferbers Formulierung »kulturelle Selbstbeschreibungen vor«, die aufgrund eines – den Autoren literarischer Texte teils unbewussten – und wegen ihrer gesellschaftlichen Eingebundenheit »unüberschaubaren Bedeutungsüberschusses gleichzeitig immer über den intendierten Sinn hinausweisen« können. Die Autoren des . Jahrhunderts müssen demnach nicht unbedingt selbst »Antisemiten gewesen sein, um antisemitisches Gedankengut zu transportieren«, wie Ferber feststellt. »Als Teil der Gesellschaft wirken sie jedoch mit ihren Textkompositionen auf den kulturellen Diskurs, genauso wie sie von ihm beeinflusst werden.« Interessanter als »biografische Detektivarbeit« sei es deshalb, die »Bedingungen der Möglichkeiten antisemitischer Strukturen innerhalb der Literatur des . Jahrhunderts zu klären, anstatt sich in Mutmaßungen über Autorpositionen zu ergießen«. Kurz: »Die Sinnebene ist also das entscheidende Kriterium, ob ein Werk als antisemitisch klassifizierbar ist. Das können immer auch Rezeptionsvarianten sein, die der vermeintlichen Autorintention zuwiderlaufen, aber ebenso Sinn ergeben.«

 Was wiederum zugleich heißt, dass man den Autor aus seiner Verantwortung für publizierte und damit öffentlich wirksam gewordene Texte auch nicht einfach nachträglich vollkommen entlassen kann. Grundsätzlich sind sowohl die Untersuchung des literarischen Antisemitismus wie auch die Emotionswissenschaft Disziplinen, die mit der Idee des Todes des Autors nicht besonders weit kommen. Bloß sollte eben nicht zuerst die Biografie eines Autors betrachtet werden, um von dort auf die Bedeutung seiner Texte zu schließen. Primäres Analyseobjekt der Literaturwissenschaft sind nun einmal zunächst die Texte als kulturelle Artefakte, die unter dem Einfluss früherer (nicht nur literarischer) Kunstwerke bzw. historisch-politischer Diskurse entstanden und nicht unabhängig davon verstehbar sind, wobei der Kontext der Autorvita allerdings nur einen kleinen Teil des Materials ausmacht, das dabei zu berücksichtigen ist. Siehe dazu auch Ferber (Anm. ), S.  f., hier S. : »Der Autor ist auf diesem Wege als Produkt des kulturwissenschaftlichen Diskurses bestimmbar, über seine Position werden aber nicht die von ihm verfassten Texte zu erklären versucht.«  Ebd.  Ebd., S. .  Ebd.  Ebd., S. .

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Dies alles gilt selbstverständlich auch für E. T. A. Hoffmann. Die metaleptischen Erzählformen, also die logisch nicht konsistenten Vermischungen getrennter extra- und intradiegetischer Erzählebenen, wie wir sie in der Erzählung Der Sandmann vorfinden, sind mit Wolfgang Iser bereits als Methoden einer »Irrealisierung des Realen« und eines »Realwerden[s] von Imaginärem« beschrieben worden. Mit dieser paradoxen Denkfigur kann man die mutmaßlichen Verpuppungen des märchenhaften Sandmanns zum zwielichtigen Alchimisten Coppelius und seine von dem Protagonisten Nathanael angenommene unheimliche Wiederkehr in der Person des dubiosen Brillenhändlers Coppola in Italien gut umschreiben. Hoffmanns »Nachtstück« gilt damit als klassische romantische Erzählung, in der Traum, Wirklichkeit und Wahnsinn zusehends verschwimmen. Stellt man sich die vertrackte Schauergestalt des Sandmanns jedoch einmal versuchsweise als implizite Judenfigur vor, so fällt zunächst einmal auf, dass die besagte Ambivalenz zwischen Fiktion, Wahn und Wirklichkeit auch in antisemitischen Projektionen auf das Judentum stets zwischen einer »Irrealisierung des Realen« und dem »Realwerden von Imaginärem« oszillierte. Das auf die Spitze getriebene erzählerische Irisieren im Sandmann eignet antisemitischen Phantasmen in verblüffend ähnlicher Weise: Die ungute, beängstigende Verwirrung, die Hoffmanns Text nicht nur bei seinem Protagonisten beschreibt, sondern die sich offensichtlich auch auf die Leser übertragen soll, kann somit als ein Grundgefühl verstanden werden, aus dem heraus sich antisemitische Weltbilder bis heute speisen. Es ist zudem keinesfalls so, dass sich im Werk E. T. A. Hoffmanns nicht auch explizitere Narrative des literarischen Antisemitismus finden ließen. Das opake Wiedergängertum Coppolas, die Multiplikation einer Figur durch ihre Aufspaltung in mehrere beunruhigende Revenants, erinnert z. B. frappierend an vergleichbare Konstellationen in Hoffmanns Erzählung Die Brautwahl. Eine Geschichte in der mehrere ganz unwahrscheinliche Abenteuer vorkommen (), die bereits als Paradebeispiel für den literarischen Antisemitismus gedeutet worden ist.  Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main , S. . Hier zitiert nach Britta Herrmann: Der Sandmann (), in: Christine Lubkoll/Harald Neumeyer (Hrsg.): E. T. A. Hoffmann Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart , S. -, hier S. .  Ebd., S. .  Vgl. Gunnar Och: Literarischer Antisemitismus am Beispiel von E. T. A. Hoffmans Erzählung Die Brautwahl, in: Mark H. Gelber u. a. (Hrsg.): Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte

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Hier soll nun anhand weiterer Werkkontexte und emotionswissenschaftlichen Instrumentariums gezeigt werden, dass sich Hoffmann in seinen fantastischen Geschichten und bei der affektiven Modellierung seiner geisterhaften Bösewichte offenbar auch gerne explizit auf das antisemitische Urmotiv des »Ewigen Juden« bezog. Dabei wird erhellt, inwiefern dieser Befund das (historische) Verständnis der Figur des Sandmanns beinflussen konnte. Denn auch bei diesem seltsamen Hybrid von einem Optiker, Techniker, Chemiker, Anatomen und Hausierer handelt es sich um eine literarische Gestalt, die wie der »Ewige Jude« zu allererst heimatlos zu sein scheint.

von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum . Geburtstag, Tübingen , S. -. Harald Neumeyer, der Och in seinem Handbuchartikel zu dieser Erzählung zustimmt, macht in Hoffmanns Brautwahl zudem auf die expliziten Fortschreibungen von Shakespeares Shylock-Figur und auf einen modernisierten Ahasver-Mythos aufmerksam, der eine »Kontinuität jüdischer Verdammnis bis in die Gegenwart der erzählten Zeit« behauptet: »Der damit den Juden unterstellte Sündenfall besteht um  indes nicht mehr in einem religiösen Vergehen, gleich dem des ›ersten Ahasverus‹, Christi [sic] zu verspotten, sondern in einem ökonomischen Profitstreben, das sich aus selbstsüchtiger Habgier speist.« Siehe Lubkoll/Harald Neumeyer (Anm. ), S. -, hier S. . Die Frage ist, was diese Diagnose moderner antisemitischer Botschaften in Hoffmanns Brautwahl für den einige Jahre vorher entstandenen Paralleltext Der Sandmann bedeutet, in dem für entsprechend sensibilisierte Leser sowohl die unheimliche Vervielfältigung einer (verkappten) Ahasver-Judenfigur als auch deren böswillige Habgier bereits angelegt sein können. Ist hier nicht ein wesentlicher Werkkontext als Brücke zwischen Hoffmanns »Nachtstücken« und dem »Serapionsbrüder«-Zyklus übersehen worden, der genauer zu spezifizieren wäre? In dem  erschienenen E. T. A. Hoffmann Handbuch wird diese auffällige poetische Querverbindung zwischen den beiden Texten jedoch nach wie vor nirgends thematisiert.  Siehe zum Ahasver-Mythos allgemein den Artikel von Mona Körte: Ahasverus, in: Brigitte Mihok (Bearbeiterin): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. : Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin/Boston , S. -, hier S. : »Ahasverus ist die im christlichen Mittelalter verbreitete, noch namenlose Gestalt eines Mannes aus Jerusalem, der den Heiland auf seinem Weg nach Golgatha nicht ruhen lässt und daraufhin von diesem zu ewiger Wanderschaft verdammt wird. Die an die alttestamentliche Kainsgeschichte erinnernde Struktur der Legende, Blasphemie und Verdammung, hat ihren geografischen und historischen Ursprung vermutlich in der Nähe von Jerusalem wenige Jahrhunderte nach Christus. […] Ihre fixierte Gestalt als jüdischer Schuster mit Namen Ahasverus erhält die Figur in der anonym verfassten Schrift ›Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus‹ (), die den jüdischen Schuster als Zeugen christlichen Heilsgeschehens popularisiert. Die ›Kurtze Beschreibung‹ erschien  anonym ›zu Leyden bei Christoff Creuzer‹. Dem Erstdruck folgen über  Nachdrucke in leicht variierenden Fassungen und mit unterschiedlichen Druckort und Verlegerangaben.«

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Genauso wie Nathanael müssen den Lesern des Sandmanns zudem ungute charakterliche Übereinstimmungen zwischen den im Text auftretenden dämonischen Figuren auffallen, die dem Protagonisten allesamt nachzustellen scheinen und womöglich ein und dieselbe Person sind. Sowohl der hausierende Verkäufer optischer Instrumente Coppola als auch der Alchemist Coppelius und der mythische Sandmann werden uns als teuflische Charaktere vorgestellt. Wer weitere Erzählungen Hoffmanns wie Die Brautwahl (oder auch ähnliche romantische Texte von Achim von Arnim oder Clemens Brentano) kennt, die mit vergleichbaren Verdopplungen von explizit jüdischen Gespensterfiguren spielen, vermag dieses Narrativ im Sandmann stillschweigend wiederzuerkennen und eigenständig in sein Verständnis der Geschichte zu integrieren, es also in seiner kognitiven Komplettierung und Verdeutlichung der überaus erläuterungsbedürftigen Textwelt um Nathanael zu nutzen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass noch nicht besonders viele Leser im . Jahrhundert intime Kenner des Gesamtwerks Hoffmanns der er und er Jahre waren und stattdessen auf alternatives, vergleichbares Kontextwissen zurückgriffen, das ihnen aus dem Umkreis des Mythos des »Ewigen Juden« oder in Form anderer affektiver Standardszenarien des literarischen Antisemitismus bereits reichhaltig zur Verfügung stand. Dazu gehörte etwa auch die metaphorische Identifikation von künstlich hergestellten Menschen, wie sie im Sandmann als unheimliches Motiv zentral ist, oder auch ihrer Produzenten, mit Figurationen des einsam um die Welt ziehenden »Ewigen Juden«. Cathy S. Gelbins lesenswerte Studie The Golem Returns macht jedenfalls deutlich, dass die sich überlappenden Figurenkonstruktionen des »Wandering Jew« und des ebenso heimatlosen, ausgestoßenen, seelenlosen und gefährlichen  Gerhard R. Kaisers Einschätzung, Hoffmanns in der Rezeptionsgeschichte teils ebenfalls antisemitisch rezipierte Erzählung Klein Zaches genannt Zinnober und die Brautwahl stünden »vielfach in einem Verhältnis von Schema und antisemitischer Konkretion zueinander«, würde damit auch auf den Sandmann zutreffen. Siehe Ders.: Illustration zwischen Interpretation und Ideologie. József von Divékys antisemitische Lesart zu E. T. A. Hoffmanns Klein Zaches genannt Zinnober, in: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft  (), S. -, hier S. . In diesem Zusammenhang wäre auch zu überdenken, inwiefern der Sandmann, bei aller Unheimlichkeit des Themas, nicht doch auch ähnlich wie die Brautwahl an die »Tradition der literarischen und karikaturistischen Judensatire« anknüpft (ebd., S. ).  Generell vermitteln bisherige Forschungshinweise zur frühen Hoffmann-Rezeption im . Jahrhundert eher den Eindruck, als hätte die Kritik damals nur sehr spärlich und zurückhaltend auf die Werke des Autors reagiert, vor allem aber ohne »eine antisemitische Grundierung« zu erspüren, wie Kaiser zum Fall des Klein Zaches bemerkt, siehe ebd., S. .

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Golems eine genuine Wiederentdeckung der deutschsprachigen Romantiker war. Der ursprünglich jüdische Mythos des mittels eines kabbalistischen Zauberspruchs aus Lehm zum Leben erweckten Golems als eine »story of flawed creation was seized upon by German romantic writers to construct the corrupt nature of the Jews and their artistic creations«, erinnert Gelbin. Beide Mythen, der des »Ewigen Juden« und der des Golems, waren also zu Beginn des . Jahrhunderts weit verbreitet und spielen für die Deutung von Hoffmanns Erzählung eine wichtige Rolle. Weiterführende empirische Studien zu dieser Hypothese über eine mögliche antisemitische zeitgenössische Hoffmann-Rezeption vor diesem Hintergrund (etwa auf der Basis der statistischen Analyse historischer Quellen und Rezensionen) wären wünschenswert. Doch wieso ist dies bislang nicht geschehen? Wie sah die jüngere Rezeption Hoffmanns seit  aus? Hier verblüfft, dass trotz mehrfacher kritischer Interpretationen von Werken wie der Brautwahl bis dato noch kaum auf die auffälligen Konvergenzen der dortigen Beschreibungen explizit jüdischer Bösewichte mit der Figur des Sandmanns aufmerksam gemacht worden ist. Wenn etwa Britta Herrmann in einem  erschienenen Handbuchartikel feststellt, fahrende Optiker und Brillenverkäufer wie Coppola im Sandmann seien im . Jahrhundert »nicht selten Betrüger« gewesen, »mit Gläsern von miserabler Qualität und voller Darstellungsfehler«, und wenn die Germanistin in diesem Kontext auf die Konnotationen der medialen Täuschung, der Manipulation des Sehsinns, der epistemischen Verwirrung und des Realitätsverlustes in Hoffmanns Sandmann hinweist, so verschweigt sie unverständlicherweise dennoch die naheliegenden Parallelen zu verzerrten zeitgenössischen Wahrnehmungen ›mauschelnder‹ jüdischer Hausierer und ihrer angeblichen windigen Geschäftsmodelle. »Schnorrer« war eine gängige Chif-

 Cathy S. Gelbin: The Golem Returns. From German Romantic Literature to Global Jewish Culture, -, Ann Arbor , S. .  Siehe zu diesem Ansatz der historischen Rezeptionsanalyse die Modellstudie von Katja Mellmann: »Detoured reading«. Understanding literature through the eyes of its contemporaries (A case study on anti-Semitism in Gustav Freytag’s Soll und Haben), in: Matt Erlin/Lynne Tatlock (Hrsg.): Distant Readings. Topologies of German Culture in the Long Nineteenth Century, Rochester , S. -.  Herrmann (Anm. ), S. . Ähnlich auch Peter Brandes: Optische Täuschungen. Zur Odnung von Wissen und Nicht-Wissen in Der Sandmann, in: Jahraus (Anm. ), S. -, hier S. : »Ein Wetterglashändler war im . Jahrhundert ein fliegender Händler, der neben Wettergläsern auch Brillen verkaufte. Diese Sehhilfen waren – ebenso wie die damaligen Mikroskope und Fernrohre – aufgrund der noch wenig entwickelten Glastechnologien zumeinst von geringer Qualität.

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fre für ›den Ostjuden‹ schlechthin. Derartige offensichtliche Kontexte aus der Geschichte des Antisemitismus einfach auszublenden, ist für literaturwissenschaftliche Interpretationen kanonischer Texte aus dem . Jahrhundert nach wie vor nicht untypisch. Damit wird allerdings ein zum Verständnis des Textes unabdingbarer zeitgenössischer antisemitischer und auch emotionsgeschichtlich relevanter Code unberücksichtigt gelassen. Dieser historische Kontext antisemitischer Bilder und Vorstellungen, der die frühe Rezeption von Hoffmanns Text im . Jahrhundert stark beeinflusst haben dürfte, muss heutigen Lesern also offenbar erst einmal neu vergegenwärtigt werden. Auch wenn sie noch so arm waren, wähnte man handelnde und feilschende Juden zu Beginn des . Jahrhunderts geradezu wahnhaft in Verbindung mit Hehlerei, Wucher und Verschwörungen. Als Hoffmann seine Erzählung Der Sandmann schrieb, ging in seinem gesellschaftlichen Umfeld ein Großteil der Juden noch einer Tätigkeit als Kleinhändler und Hausierer nach. Die Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit spricht von einem »Heer jüdischer Hausierer«, die auch im frühen . Jahrhundert noch nicht verschwunden waren. Eher führte die Rücknahme der napoleonischen Emanzipationsdekrete für Juden in Preußen erneut zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Juden. Zugleich wurden sie von der Mehrheitsbevölkerung als wandelnde »Träger physiognomischer und emotionsauslösender Zeichen« wahrgenommen, indem man sie in humoristischen Zeitschriften oder Bilderbogen mit antisemitischen Witzen und Geschichten verspottete. Ernst Moritz Arndt etwa, der in dieser Zeit von dem schäd-

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Wetterglashändler, die mit solchen minderwertigen optischen Instrumenten handelten, wurden daher oftmals als Betrüger und Scharlatane angesehen.« Vgl. Michael Rohrwasser: Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler, Gießen , S. . Vgl. dazu: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, im Auftrag des Leo Baeck Instituts hrsg. von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner, Band I: Tradition und Aufklärung -, hrsg. von Mordechai Breuer und Michael Graetz, München , S. : Seit dem . Jahrhundert waren Juden aufgrund von Berufsverboten dazu gezwungen, sich als Bettel- und Wanderjuden zu verdingen. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs nahm diese Erscheinung des Wirtschaftslebens »ungeahnte Ausmaße an«. Kam doch auch noch die »Einwanderung einer ganzen Schicht heimatloser und mittelloser Juden aus Polen nach den Pogromen des Jahres « hinzu. Die Autoren zitieren u. a. einen Rabbiner aus dem . Jahrhundert: »Die Armen sind zahllos, Hunderte, Tausende, treiben sich in allen Ecken herum.« (S. ) Ebd., S. . Michaela Haibl: Zerrbild als Stereotyp. Visuelle Darstellungen von Juden zwischen  und , Berlin , S. .

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lichen Einfluss der Juden auf die deutsche Nationsbildung überzeugt war, behauptet im Jahr  abfällig, die Juden seien »die Krämer, Wechsler und Geldmäkler, häufig auch die Gaukler und Possenspieler der Welt«. Offenbar erregten jüdische Hausierer sogar auch noch im letzten Drittel des . Jahrhunderts, als sie aufgrund der veränderten wirtschaftlichen Lage in Preußen und der vorangeschrittenen jüdischen Assimilation seltener geworden waren, weniger Mitleid denn Gefühle tiefer Fremdheit in der deutschen Bevölkerung. Michaela Haibl zitiert dazu eine sozialund wirtschaftsgeschichtliche Studie aus den er Jahren, die zu dem Resultat kommt, Hausierer seien den Bürgern zu dieser Zeit »wie eine dämonisch fremdartige Version des ›Ewigen Juden‹« erschienen. Wie Coppola im Sandmann bedienten jüdische Händler, die keine Läden führen durften, zu Hoffmanns Zeiten zugleich aber auch ein wichtiges Segment des Kleinhandels, indem sie Marktlücken nutzten und Dinge wie Uhren und andere selten zu bekommende Manufakturwaren selbst in entlegene Landesgegenden brachten und dort feilboten – ganz genauso wie der hausierende Optiker Coppola im Sandmann. Eine der ältesten, mittelalterlichen Vorstellungen ›des Juden‹ als Gefahr für die christliche Mehrheitskultur ist zudem die des (Brunnen-) Vergifters. Juden wurden als Verbreiter und Auslöser von Seuchen imaginiert. Es sei daran erinnert, dass auch Nathanael von Coppola durch den Kauf seines Fernglases buchstäblich mit einer Art Krankheit zum Tode angesteckt wird. Hier verbinden sich gleich mehrere emotionalisierende paradigm scenarios (Ronald de Sousa): Der Protagonist vermutet zunächst, beim Kauf des Taschenperspektivs von Coppola übers Ohr gehauen worden zu sein. Die konkrete Darstellung des linkischen und schließlich äußerst dämonischen Verhaltens Coppolas erinnert dabei an vergleichbar tendenziöse Beschreibungen ungeschickter und leicht als Betrüger durchschaubarer jüdischer Figuren in der Prosa des . Jahrhunderts, wie etwa in Gustav Freytags Soll und Haben (). Doch zugleich resultiert für Nathanael aus der Begegnung mit dem schmierigen Händler eine auffallende Todesahnung:  Ernst Moritz Arndt: Blick aus der Zeit auf die Zeit, in: Ders.: Schriften. Germanien [i. e. Frankfurt am Main] , S. .  Haibl (Anm. ), S. . Haibl bezieht sich an der Stelle auf Arthur Prinz: Juden im deutschen Wirtschaftsleben. Soziale und wirtschaftliche Struktur im Wandel.  (bearbeitet und herausgegeben von Avraham Barkai), Tübingen , S. .  Siehe dazu Breuer/Graetz (Anm. ), S.  und S. . Siehe dazu außerdem Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek bei Hamburg , S. - sowie S. .

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Coppola verließ nicht ohne viele seltsame Seitenblicke auf Nathanael, [sic!] das Zimmer. Er hörte ihn auf der Treppe laut lachen. »Nun ja, meinte Nathanael, er lacht mich aus, weil ich ihm das kleine Perspektiv gewiß viel zu teuer bezahlt habe – zu teuer bezahlt !« – Indem er diese Worte sprach, war es, als halle ein tiefer Todesseufzer grauenvoll durch das Zimmer, Nathanael’s Atem stockte vor innerer Angst. – Er hatte ja aber selbst so aufgeseufzt, das merkte er wohl. Die zeitgenössischen Assoziationen anhand dieser Textstelle liegen auf der Hand: Wer bei Juden einkaufte oder Geschäfte mit ihnen machte, das war in der Mitte des . Jahrhunderts auch noch die zentrale Botschaft in Freytags Soll und Haben, verlor nicht nur Geld. Er spielte mit seiner Gesundheit und seinem Leben. Emotionswissenschaftlich kann man die implizite literarische Funktionsweise solcher antipathischer Vorstellungskomplexe und ihrer potenziellen Wirkung auf das Publikum damit erklären, dass (negative) Figuren in Texten oder Filmen generell oftmals als leicht verständliche Symbole und als Symptome fungieren. Die spezifische Symptomatik, für die solche Charaktere in erzählerischen (oder auch audiovisuellen) Darstellungen stehen können, vermag laut Jens Eder »Aufschluss über die Mentalität einer Kultur oder soziokulturelle Folgen« bestimmter Texte (oder Filme) zu geben. Charaktere wie der Sandmann oder sein angeblicher Doppelgänger Coppola sind geradezu dazu prädestiniert, sogenannte thematische Emotionen zu triggern, also Gefühle, die sich »auf indirekt generierte Bedeutungen, Assoziationen und höherstufige Bewertungsprozesse beziehen«. Zumindest liegt dies dann nahe, wenn man mittels Rekonstruktion historischer Kontexte nachweisen kann, dass es zu der Zeit der Publikation eines solchen Textes einen gesellschaftlichen Diskurs gab, der dem Leser nahelegte, sich eine literarische Gestalt wie Coppola anhand antisemitischer Vorurteile auszumalen. Es dürfte zumindest unstrittig sein, dass auch im vorliegenden Fall »Körperlichkeit, Psyche, Sozialität und Verhalten« des Sandmanns bzw. von Coppelius und Coppola eine  E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann, in: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. : Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke -, hrsg. von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Ursula Segebrecht, Frankfurt am Main , S. -, hier S. .  Vgl. Jens Eder: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse, Marburg , S. -.  Ebd., S. .  Vgl. Claudia Hillebrandt: Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel, Berlin , S. .  Eder (Anm. ), S. .

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wesentliche Rolle bei seiner Bewertung dieser Figuren durch die Leser spielen. Dass die negativen Charaktereigenschaften solcher dubioser Personen im . Jahrhundert mit bestehenden Vorurteilen gegenüber jüdischen Hausierern verknüpft wurden, ist angesichts des oben skizzierten historischen und literaturgeschichtlichen Verständnishorizontes sehr wahrscheinlich. Hinzu kommen affektive Publikumsreaktionen, die auf naheliegendes intertextuelles Wissen zurückgehen konnten. Das Perspektiv etwa, das Nathanael von Coppola kauft, erinnert an das Teleskop des Teufels in John Miltons Paradise Regained (), mit dem dieser Jesus in Versuchung bringen möchte. Auch Adelbert von Chamissos zeitgenössischer (und Hoffmann selbst bestens bekannter, weil in seinem Abenteuer der Sylvester-Nacht als Nebenfigur auftretender) Peter Schlemihl (), der dem Teufel seinen Schatten verkauft und nicht nur aufgrund seines jiddischen Nachnamens als deutliche Allegorie auf einen identitätslosen »Ewigen Juden« gelesen werden kann, der am Ende mit seinen Siebenmeilenstiefeln ziellos durch die Welt taumelt, zieht an einer Stelle ein Fernrohr aus der Tasche. Dass seinerzeit angeblich vor allem hausierende Juden mit solchen oft fragwürdigen optischen Instrumenten Geld machten und, um eine mit Blick auf den hier untersuchten Text passende Metapher zu benutzen, damit unbescholtenen Bürgern Sand in die Augen zu streuen versuchten, ist ein klassisches modernefeindliches und antisemitisches Motiv, das zugleich mit dem Topos des »Ewigen Juden« und also mit kollektiven Angstgefühlen verknüpft war. Umso bezeichnender ist es, dass auch Hoffmanns komplexer Text seine polyperspektivischen Erzählfunktionen laut Britta Herrmanns zitierter These vor allem dazu nutzte, bei den Leser eine generelle »Unsicherheit der Wahrnehmung und die Verwischung der Grenzen zwischen Realem und Irrealem« auszulösen.

 Siehe zu diesen Prätexten auch Herrmann (Anm. ), S. .  Siehe dazu Breuer/Graetz (Anm. ), S. : »Die Legende vom Ewigen Juden, den man in allen Gegenden Deutschlands plötzlich in den Gassen auftauchen sah, war damals besonders weit verbreitet und gab der seit jeher bestehenden Angst vor den Juden bei vielen Menschen neue Nahrung. Wie im . und . Jahrhundert die Hexen waren die Juden eine Randgruppe, die man aus der Gesellschaft ausschloß, auf die man seine Ängste und seinen Haß projizierte.«  Herrmann (Anm. ), S. .

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Weitere Kontexte und Methoden der Erzeugung von Angstlust in Hoffmanns Sandmann An dieser Stelle lohnt sich ein grundsätzlicher Blick auf die historische Affektpoetik des von Hoffmann gewälten Genres. In der Tradition der Schauerliteratur sollte bei den Rezipienten Angst oder auch Angstlust ausgelöst werden, ein mehr oder weniger wohliges und unterhaltsames Grauen also, das insbesonders durch affektpoetische Kippfiguren wie den Sandmann ausgelöst werden kann. Bei den betreffenden Emotionen dreht es sich laut Thomas Anz vor allem um – u. a. bei Friedrich Schiller so genannte – gemischte Gefühle. Die Angstlust sei ein »Beispiel dafür, dass es sich dabei eigentlich nicht um eine Lust, sondern um je unterschiedliche und phasenverschobene Mischungen aus verschiedenen Lüsten handelt«. In der affektiven Gemengelage, die aus diesem komplexen Begehren resultiert, liegt nach  ein Zusammenhang mit Effekten nahe, die vor allem der literarische Antisemitismus als ästhetische Form der Angstkommunikation auszulösen versucht. Auch wenn Hass auf Juden provoziert werden sollte, ging es in solchen Texten stets um die effektvolle Verquickung starker emotionaler Gegensätze, die auf Furcht gegründet sind und zugleich eine befreiende Katharsis in Aussicht stellen. Die gemischten Gefühle, um die es hier geht, haben also stets etwas an sich, das von den Rezipienten auch genossen werden kann. »Neben Traurigkeit, Ekel oder auch Ärger gehört vor allem Angst zu jenen Emotionen, die einerseits gemieden werden, andererseits unter bestimmten Bedingungen Vergnügen bereiten, denen man sich daher gerne freiwillig aussetzt und die man zuweilen sogar suchtartig genießt«, beschreibt Anz ein Gefallen, das auch heute noch jeder Horrorfilm-Fan gerne bestätigen wird. Doch auch wer antisemitischen Verschwörungsfantasien anhängt, genießt insgeheim die Empörung über ein beunruhigendes Netz von Intrigen, die er auf Schritt und Tritt erkennen und entlarven zu können glaubt. Dazu passt insbesondere die Tatsache, dass Hoffmanns Text eben keine explizite Judenfigur einführt: Dass der okkult anmutende Sandmann alias Coppelius unter Pseudonymen als international agierender, betrügerischer Tausendsassa unterwegs sein könnte, der auf Schritt und Tritt Kinder quält, treu sorgende Familienväter heimlich erpresst und bei alchemistischen Experimenten zwecks Erzeugung von Gold mitleidlos  Thomas Anz: Angstlust, in: Lars Koch (Hrsg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar , S. -, hier S. .  Ebd., S. .

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umkommen lässt, um danach ungestraft wieder von der Bildfläche zu verschwinden, hat zeitgenössische Leser vermutlich schon genug an teuflische Judenbilder aus dem Arsenal des mittelalterlichen Antijudaismus erinnert. Gerade die unheimliche Wandelbarkeit der Figur jedoch, die danach in Gestalt Coppolas in Italien wieder aufzutauchen scheint, dürfte es gewesen sein, die sie den Lesern umso furchterregender und verdächtiger erscheinen ließ. Wie angedeutet, baute Hoffmann dieses doppelbödige Angst- und Hass-Skript in seinem späteren Text Die Brautwahl noch einmal weiter aus. In diesem Text geht es um mehrere untote, im Mittelalter (beinahe) grausam hingerichtete ›Münzjuden‹ mit alchemistischen Ambitionen, die sich alle irgendwie ähnlich sind und im Textverständnis der Leser auf beängstigende Weise ineinander verschwimmen. Wohl kaum zufälligerweise schrieb Hoffmann diesen vor antisemitischen Fantasien nur so strotzenden Text im Jahr , als die Hep-Hep-Pogrome gegen die jüdische Minderheit begannen, um sich von Würzburg aus über weitere Städte des Deutschen Bundes durch das ganze Land und bis nach Nordeuropa auszubreiten. Neutral formuliert, ist kaum anzunehmen, dass der Autor von diesen damaligen spektakulären Ereignissen vollkommen unbeeindruckt blieb. Wobei hier wie gesagt nicht darüber spekuliert werden soll, inwiefern er sie selbst gutgeheißen haben mag oder bewusst in seinen zeitgenössischen Werken spiegelte. Anhand der Genese von Hoffmanns Gesamtwerk kann man hier jedoch nachvollziehen, wie zeittypisch dieser Autor betreffende Pathosszenen der Hass-Erzeugung in ähnlichen Konstellationen wiederholte und, aus welchen persönlichen Gründen oder Wahnvorstellungen auch immer, in seinen einzelnen Texten mal deutlicher, mal weniger deutlich ausformulierte. Sieht man sich die vorliegenden Quellen zur Entstehung des einige Jahre zuvor geschriebenen Sandmanns genauer an, so fällt zudem auf, dass es im Epitext – also, nach dem Begriff von Gérard Genette, unter den außerhalb des gedruckten Werks veröffentlichten Kommentaren oder Illustrationen – eine mittlerweile vielfach in Editionen abgebildete Blei Kaisers Erörterungen zu Hoffmanns privatem Verhältnis zu Juden sind, wie für Beiträge der er Jahre typisch, von dem befangenen biografistischen Versuch geprägt, den Autor so weit wie möglich von jedweder bewusster persönlicher Schuld zu entlasten. Wie so oft in solchen Fällen verstrickt sich Kaiser dabei in die abstrusesten Verrenkungen. So etwa der, eine antisemitische Karikatur Hoffmanns von Wilhelm d’Elpons, einem Judenhasser, habe den Autor persönlich so getroffen, dass er darüber umgehend selbst habe judenfeindliche Ressentiments entwickeln müssen, obwohl er sich mit d’Elpons in der Folge sogar näher anfreundete. Siehe Kaiser (Anm. ), S. -.

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stiftzeichnung E. T. A. Hoffmanns gibt. Aus emotionswissenschaftlicher Sicht sticht zunächst einmal das Gesicht des kindlichen Protagonisten Nathanael hervor, das auf dieser Zeichnung zu sehen ist. Hoffmann hat das Entsetzen und die Angst des Knaben in seiner Skizze überdeutlich porträtiert. Der Überlieferung nach machte Hoffmann diese Zeichnung, die sein Verleger Hitzig in seiner Hoffmann-Biografie von  erstmals veröffentlichte, um zu zeigen, wie er »die Gestalten, die er auftreten ließ, lebendig vor sich stehen sah. Er erzählte dem Herausgeber den Inhalt des Sandmanns […] und warf, während des Sprechens, die Scene […] auf ein vor ihm liegendes Stück Aktenpapier.« Der Autor demonstrierte seinem späteren Biografen Hitzig damit aber auch die Emotionalisierungsstrategie seiner Szene – in einer Art Sneak Preview. Hoffmann dürfte dabei angenommen haben, dass sich die in diesem gezeichneten Buch-Trailer avant la lettre so plakativ betonte Angst der fiktiven Kinderfigur auch ohne derartige zeichnerische Verdeutlichungen in entsprechender Weise auf die Rezipienten seiner Geschichte übertragen würde. Heute,  Jahre später, frappiert an Hoffmanns Illustration seiner Affektstrategie aber noch etwas ganz anderes: Es ist der Umstand, dass das Multitalent seinen Sandmann auf der Zeichnung als Kinderschreck mit dunklen Haaren karikierte, mit einem auffallend zerfurchten Gesicht, seltsam stechenden dunklen Augen und vor allem einer langen, über die Oberlippe gezogenen Nase. Die gebleckten Zähne der Figur sehen abstoßend aus und das linke Auge wie eine eingesetzte Attrappe. Der Sandmann erobert den Raum geradezu,  So im editorischen Kommentar zum ersten Auftritt des Sandmanns im Text, in E. T. A. Hoffmann (Anm. ), S. .  Derartige Emotionalisierungsstrategien sind für die internationale Schauerliteratur der Zeit typisch. Siehe dazu etwa auch die Analyse von Edgar Allan Poes Geschichte The Fall of the House of Usher () von Pirjo Lyytikäinen: How to Study Emotion Effects in Literature. Writing Emotions in Edgar Allan Poe’s »The Fall of the House of Usher«, in: Ingeborg Jandl/Susanne Knaller/Sabine Schönfellner/Gudrun Tockner (Hrsg.): Writing Emotions. Theoretical Concepts and Selected Case Studies in Literature, Bielefeld , S. -, hier S. . Auch in diesem Fall soll das Publikum die Emotionen nachfühlen, die der Protagonist in der erzählten Welt stellvertretend für die Rezipienten empfindet: »Poe’s narrator in his character-role also functions as a proxy for the audience by seeing the objects that affect the audience. The audience feels the (vicarious) awe and horror mainly via the objects witnessed by the experiencing protagonist. What the protagonist fears and loathes is supposed to have a similar effect on the audience.« Lyytikäinen bezeichnet diese suggestive Erzählweise zu Recht als »important strategy in horror narratives«.  Vgl. dazu die unpaginierte Abbildung im Kommentar-Anhang zu E. T. A. Hoffmann (Anm. ).

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mit seinem Gehstock forsch voranschreitend. Dieser Eindruck herrischer Überlegenheit wird nicht nur durch sein überlegenes, aasiges Lächeln unterstützt, genauso wie durch seine übertrieben aristokratisch, geradezu papageienhaft wirkende Kleidung, die mit dem einfachen Hausmantel des passiven Vaters kontrastiert. Coppelius gibt dem Gastgeber nicht einmal die Hand, sondern packt Nathanaels Vater, der mit traurigem Blick und ausgestreckten Händen eher hilflos dasteht, energisch am rechten Oberarm, als wollte er ihn von unterwürfigen Grußformeln abhalten und gleich zur Sache kommen. Handelt es sich bei dieser Abbildung, den erwähnten Stereotypen nach zu urteilen, etwa um eine Judenkarikatur? Das wäre zu jener Zeit jedenfalls nichts Außergewöhnliches gewesen. Im Gegenteil: In seiner Studie Zornpolitik vergleicht der Historiker Uffa Jensen die rassistischen und antisemitischen Formen der Emotionalisierung im aktuellen Populismus von Parteien wie der »Alternative für Deutschland« mit entsprechenden Traditionen im . Jahrhundert. In einem Kapitel über den Ekel weist er in diesem Kontext darauf hin, dass man Karikaturen von Begegnungen zwischen aufrechten nichtjüdischen Personen und abstoßenden, gestikulierenden und übergriffigen Juden  Siehe zum Stereotyp der jüdischen Hakennase u. a. Sander L. Gilman: Zwölftes Bild: Der »Jüdische Körper«. Gedanken zum physischen Anderssein der Juden, in: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hrsg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München/Zürich , S. -, hier S.  f.

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in den Quellen relativ häufig finde. Jensen macht zudem darauf aufmerksam, dass die Judenfiguren auf diesen antisemitischen Karikaturen des . Jahrhunderts so gestaltet seien, dass sie durch ihr Aussehen und ihre unpassend erscheinende Kleidung in der sinnlichen Imagination des Betrachters geradezu abstoßende Gerüche evozierten: »Für den zeitgenössischen Betrachter sollen Gestalt und Gestik signalisieren: Der riecht bestimmt streng.« Die schwer zu beantwortende Frage, was sich der empirische Autor Hoffmann bei alledem zu seiner Zeit genau gedacht haben mag, ändert nichts am konkreten Textbefund jener literarischen Attribute, mit denen auch die literarische Figur des Sandmanns den Lesern vorgestellt wird und die den unguten visuellen Eindruck der historischen Privatzeichnung explizit bestätigen. Genauso wenig wie bei der seinerzeit nicht für das Publikum bestimmten Illustration handelt es sich bei diesen Charakterisierungen um bloße arbiträre Details. Es sind zentrale Bausteine der hier herauszuarbeitenden Affektpoetologie von Hoffmanns Erzählung, zumal sie am Anfang des Textes eine wichtige Scharnierfunktion in der Entfaltung der furchterregenden Textwelt übernehmen. Laut Jens Eder sind solche einführenden Figurenbeschreibungen zentral für die emotionale Leserhaltung ihnen gegenüber, also zum Beispiel für die spontane Entwicklung von Sympathie oder Antipathie: »Wir bewerten Körperlichkeit, Persönlichkeit, Sozialität und Verhalten der Figuren nach moralischen und anderen wertenden Gefühlen.« Sehen wir uns also diesen ersten Auftritt von Coppelius bzw. des Sandmanns im Text im Vergleich zur beschriebenen Handzeichnung einmal genauer an. Auffällig sind in Hoffmanns Präsentation des Sandmanns vor allem a) die Erwähnung fremdartiger und kränklich anmutender Hautfärbungen und der üppig wuchernden Augenbrauen, b) die für antisemitische Judendarstellungen der Zeit typische Tier- bzw. Katzenmetaphorik, c) die besondere Nasenform, und d) das abstoßende Lachen und die zischende, später auch noch einmal lispelnde Aussprache der Figur. Nathanael beschreibt seine erste Begegnung mit seinem teuflischen Widersacher aus der Erinnerung wie folgt:    

Uffa Jensen: Zornpolitik, Berlin , S. . Ebd., S. . Eder (Anm. ), S. . Darauf verweist auch Jensen in seiner Analyse von Judenkarikaturen des . Jahrhunderts, wobei er Fallbeispiele präsentiert, in denen die Juden als stinkende Schweine und aasfressende Geier dargestellt werden. Siehe Jensen (Anm. ), S. .  Hoffmann (Anm. ), S. : »So zischte und lispelte Coppelius.«

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Aber die gräßlichste Gestalt hätte mir nicht tieferes Entsetzen erregen können, als eben dieser Coppelius. – Denke Dir einen großen breitschultrigen Mann mit einem unförmlich dicken Kopf, erdgelbem Gesicht, buschigen grauen Augenbrauen, unter denen ein paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln, großer, starker, über die Oberlippe gezogener Nase. Das schiefe Maul verzieht sich oft zum hämischen Lachen; dann werden auf den Backen ein paar dunkelrote Flecke sichtbar und ein seltsam zischender Ton fährt durch die zusammengekniffenen Zähne. Hier kommt wiederholt das im literarischen Antisemitismus gebräuchliche Stilmittel des Epitheton ornans zum Einsatz, also die entbehrliche und forcierte attributive Herabsetzung ›des Juden‹ durch pejorative Adjektive, die Ekel oder auch Empörung bei den Lesern auslösen sollen – das Lachen der Figur ist im obigen Zitat z. B. »hämisch«. Unter anderem ist bei der zuvor bereits als »widrig und abscheulich« beschriebenen Gestalt später im Text auch noch von »großen roten Ohren« die Rede; den Geschwistern Nathanaels missfallen bei den mittäglichen Besuchen des furchterregenden Mannes insbesondere seine »großen knotigten, haarigten Fäuste« und seine »blauen Lippen«. Dass Coppelius schließ Ebd., S. .  Ebd., S. .  Ebd., S. . Sowohl die Katzenvergleiche als auch die blauen Lippen kehren in der negativen Darstellung von E. T. A. Hoffmanns verhexter Behindertenfigur Klein Zaches genannt Zinnober (/) wieder, die nicht nur damit in Verdacht gerät, eine weitere verkappte jüdische Figur dieser Werkphase des Romantikers zu sein. Der stets äußerst abwertend beschriebene Klein Zaches, ein winziger, verwachsener Mensch, wird in einer mit Schauerelementen verfremdeten Szene, die den Lesern wie dem Protagonisten Balthasar grausig und ekelhaft erscheinen muss, von der offenbar durch einen rätselhaften Zauber verwirrten Angebeteten Balthasars, Candida, auf den Mund geküsst. Dies geschieht befremdlicherweise als Belohnung für ein Gedicht, das tatsächlich Balthasar geschrieben und der Salongesellschaft vorgetragen hat. Dieser irritierende und als abstoßend beschriebene Vorfall soll zweifelsohne auch die Rezipienten erstaunen und empören: »Da stand Candida auf, nahete sich, volle Glut auf den Wangen, dem Kleinen, kniete nieder und küßte ihn auf den garstigen Mund mit blauen Lippen.« Siehe E. T. A. Hoffmann: Klein Zaches genannt Zinnober, in: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. : Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke -, hrsg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen, München , S. -. Damit nicht genug: Durch den besagten Zauber nimmt die erwähnte Abendgesellschaft einen Katzenschrei Zinnobers als Entgleisung Balthasars wahr, wobei aufhorchen lässt, dass die anwesenden Frauen Katzen anders als in unserer heutigen Zeit generell zu fürchten und zu verabscheuen scheinen: »Katze – Katze – weg mit der Katze!‹ rief eine nervenschwache Dame und fiel sofort in Ohnmacht« (ebd., S. ). Die Liste vergleichbarer Fundstellen der Assoziation von Juden mit

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lich auch noch Nathanaels Kinderaugen ausreißen möchte, erinnert an grausige Ritualmordszenarien des Mittelalters, mit denen die Juden in Analogie zu Hoffmanns szenischen Andeutungen besonders gerne beschuldigt wurden, Kinder zu entführen und grausam zu schlachten. Die Sandmann-Legende, welche die Mutter Nathanaels ihrem Sohn erzählt, weist zudem eine erneute Tiermetaphorik in der Beschreibung des grausamen Dämons und seiner hungrigen »Kinderchen« auf, deren Schnäbel an Hakennasen denken lassen: Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett’ gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig aus dem Kopf herausspringen, die wirft er dann in einen Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf. Auch wenn Nathanaels furchtbare Begegnung mit dem Sandmann am Ende nur ein Albtraum gewesen zu sein scheint, fühlt er sich doch von Coppelius »gemißhandelt« und zieht sich daraufhin ein »hitziges Fieber« zu, mit dem er »mehrere Wochen krank« im Bett liegt. Bereits an dieser gefährlichen oder unangenehmen Katzen ließe sich auch mit Blick auf Texte Clemens Brentanos oder auch Wilhelm Raabes fortführen.  Vgl. Hoffmann (Anm. ), S. . Siehe zur mittelalterlichen Symbolik des kindermordenden Judentums u. a. die Abbildung in Werner Bergmann: Antisemitismus. Erscheinungen und Motive der Judenfeindschaft, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Der Hass gegen die Juden. Dimensionen und Formen des Antisemitismus, Berlin , S. : Das Fensterbild aus dem Straßburger Münster von ca.  zeigt ausgerechnet ein löwenartiges Untier mit zeittypischer Judenmütze, aus dessen zähnefletschendem Maul ein Kinderbein ragt. Vgl. dazu auch die zitierte Katzenmetapher in der Beschreibung des Sandmanns und dessen grausige Manipulationen an Nathanaels Gliedmaßen. Siehe zudem die Stelle bei Hoffmann (Anm. ), S.  f., an welcher der Sandmann ausruft, als er den kleinen Nathanael in seiner Gewalt hat, nun wolle er »›doch den Mechanismus der Hände und der Füße recht observieren‹. Und damit faßte er mich gewaltig, daß die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein.«  Ebd., S. . Siehe zum Eulenvergleich auch die bei Jensen (Anm. ), S.  abgebildete Postkarten-Karikatur »Vom Geier zum Meier«, die im . Jahrhundert die schleichende Verwandlung eines Geiers in eine jüdische Witzfigur im Frack zeigt. Der Schnabel des Geiers wandelt sich zur Nase des Juden. Dass mit dem Namen Meier ein an Gewöhnlichkeit kaum zu überbietender deutscher Nachname gewählt wurde, flankiert diese Metamorphose mit der Andeutung, mit der Assimilation der Juden werde ein Unsichtbarwerden in der deutschen Mehrheitsbevölkerung angestrebt, wobei dieses Ansinnen in der Karikatur aufgrund der grotesken physiognomischen Eigenheiten der Figur gerade in seiner Lächerlichkeit ausgestellt wird, um damit Erheiterung und Abscheu im Betrachter zu erzeugen.  Hoffmann (Anm. ), S. .



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Textstelle werden Furcht und Schrecken also mittels der Beschreibung einer schweren Infektion durch den Kontakt mit einem Mann erhöht, der aufgrund seines Verhaltens und seiner Physiognomie an eine typische Judenfigur des literarischen Antisemitismus erinnert. Offenbar, so muss das Publikum annehmen, reicht es im Zweifelsfalle sogar aus, von solch einer furchtbaren Person nur zu träumen, um schwer zu erkranken. Hinzu kommen weitere Klischees, die oben bereits angedeutet wurden, jedoch noch eingehenderer und kritischerer Betrachtung im Sinne eines Close Readings harren. Nach dem laut Clara »entsetzlichen, gewaltsamen« Tod von Nathanaels Vater durch Coppelius’ obskure chemische Experimente – oder, wie die Forschung teils auch vermutet, einer versuchten Homunculus-Produktion – ist der Delinquent sofort »spurlos vom Orte verschwunden«. Coppelius/Coppola taucht aus Sicht des Protagonisten jedoch ebenso plötzlich an dessen Studienort in Italien wieder auf, um erneut nichts als Verwirrung zu stiften, abermals an ruchlosen wissenschaftlichen Experimenten – diesmal ganz explizit der Erschaffung eines künstlichen Menschen – teilzunehmen und Nathanael damit endgültig in den Wahnsinn und den Selbstmord zu treiben. Coppelius alias Coppola agiert also offenbar nicht nur in Preußen, sondern international: Er ist ein unheimlicher Kosmopolit. Ähnlich wie einige der furchterregenden, dämonischen und abstoßenden Judenfiguren in Hoffmanns offen antisemitischer Erzählung Die Brautwahl ist Coppelius zudem mit der satanischen Kunst der alchemistischen Goldoder Menschenherstellung befasst bzw. geldgierig – hier zunächst mit katastrophalen Folgen für seinen Handlanger wider Willen, Nathanaels Vater. Sowohl Coppelius als auch Coppola fungieren damit, ebenso wie Manasse als Wiedergänger des mittelalterlichen ›Münzjuden‹ Lippold, Leonhard als untoter Alchemist Thurnheisser zum Thurn und der geldgierige Freier mit dem sprechenden Namen Dümmer in der Brautwahl, als negative Sinnbilder einer verkürzten Moderne- und Kapitalismuskritik. Diese speist sich aus der genuinen Vorstellungswelt des Antisemitis Ebd., S. .  Vgl. Claudia Liebrand: Automaten/Künstliche Menschen, in: Lubkoll/Neumeyer (Anm. ), S. -, hier S. .  Hoffmann (Anm. ), S. .  So lautet übrigens auch Wolf-Dieter Hartwichs Sandmann-Deutung, allerdings im Blick auf Jacques Offenbachs (Musik) und Jules Barbiers (Libretto) Adaption, die Oper Les contes d’Hoffmann und die kapitalistische bzw. teuflische Spekulation Coppolas und Spalanzanis mit der Roboterfrau Olimpia: »Das Hoffmannsche Motiv der ›verkauften Braut‹ figuriert bei Barbier und Offenbach innerhalb einer Konspiration, welche die Ökonomisierung aller menschlicher Lebenszusammenhänge betreibt und das Individuum so seiner selbst entfremdet. Das Kunstwerk als

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mus, in der Juden stets als (›undeutsche‹) Agenten des raffenden Kapitals agieren, niemals aber ehrlich für ihr Geld arbeiten wollen. Hoffmanns nationalistischer Zeitgenosse Ernst Moritz Arndt etwa, genauso wie der Romantiker Hoffmann zumindest Sympathisant der von Achim von Arnim und Adam Heinrich Müller  gegründeten antisemitischen »Deutschen Tischgesellschaft«, schreibt  unter typischer zusätzlicher Verwendung ekelerregender Insektenmetaphern, die mehr als ein Jahrhundert vor der Zeit des »Dritten Reiches« bereits an die Sprache in Julius Streichers Stürmer erinnern, ›der Jude‹ hungere lieber, als zu arbeiten und treibe sich eher in ungewisser Hoffnung auf die Beute des Augenblicks herum, als daß er im Schweiße seines Angesichts sein Geld verdiene. Unstät an Sinn und Trieb, umherschweifend, auflauernd, listig, gaunerisch und knechtisch duldet er allen Schimpf und alles Elend lieber als die stätige und schwere Arbeit, welche die Furchen bricht, welche den Wald rodet, die Steine haut, oder in der stätigen Werkstatt schwitzt; wie Fliegen und Mücken und anderes Ungeziefer flattert er umher, und lauert und hascht immer nach dem leichten und flüchtigen Gewinn, und hält ihn, wann immer er ihn erschnappt hat, mit blutigen und unbarmherzigen Klauen fest. Fasst man also die Ensemblewirkung jener romantischen Erzählungen Hoffmanns aus der zweiten Hälfte der er Jahre auf zeitgenössische Ware entspricht aufgrund seines irrealen, simulativen Charakters den ungedeckten Schecks des kapitalistischen Wirtschaftslebens, dessen dubioser Charakter mit dem Judentum verbunden wird.« Siehe Hartwich (Anm. ), S. .  Siehe Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen , S. . Nienhaus gibt zumindest an, dass E. T. A. Hoffmann am . Januar  »wahrscheinlich« zu Gast bei einer Festveranstaltung der »Deutschen Tischgesellschaft« war. Kaiser (Anm. ) ist sich dagegen sicher, dass die in Hoffmanns Tagebuch am . Januar  erwähnte »deutsche Gesellschaft die antisemitisch geprägte Christlich-deutsche Tischgesellschaft Achim von Arnims war« (S. ).  Vgl. Samuel Salzborn: Symbole kollektiver Eindeutigkeit. Zum antisemitischen Gehalt von Ungeziefer-Metaphern, in: Ders.: Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie, Baden-Baden , S. -, hier S. : »Die Assoziationen, Gefühle und Affekte, die diese Bilder auslösen, sind vielfältig. In den meisten Fällen werden sie aber ablehnender Art sein: Ekel und Abscheu werden ausgelöst, vielleicht Angst geweckt, ein Gefühl von Unannehmlichkeit entsteht, die Lästigkeit der Tiere tritt ins Bewusstsein, und mit ihr das Wissen darum, dass einige von ihnen Krankheiten übertragen können, zum Teil folgenschwere.« Und weiter, auf S. : Die Ungeziefer-Metaphorik zaubere »Eindeutigkeit in eine widersprüchliche und ambivalente, nicht verstandene Welt. Sie sorgt für Klärung und verspricht das Verschwinden von Angst, Verunsicherung, Kontrollverlust und Ohnmacht. Aus Surrogat für Aufklärung fordert sie dafür die Vernichtung.«  Arndt (Anm. ), S. .

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Leser ins Auge, so muss man feststellen, dass der Sandmann bzw. Coppelius/Coppola die Judendarstellungen in der Brautwahl mindestens durch korrelierbare negative Assoziationen spiegelt. Die Beschreibung der unheimlichen Figuren im Sandmann befindet sich zudem in auffallendem Einklang mit weit verbreiteten antisemitischen Stereotypen der Zeit, auch wenn die teuflische Dreifaltigkeit im Sandmann niemals explizit als jüdisch gekennzeichnet ist und es nicht einmal klar aus dem Text hervorgeht, ob es sich bei diesen drei Charakteren tatsächlich um ein und dieselbe Person handelt. Durch die skizzierten motivischen Querverbindungen zwischen Hoffmanns Texten aus dieser Werkphase entpuppen sie sich jedoch als Teil einer größeren, übergreifenden Figurengruppe, die beim Publikum als Ensemble für besondere Effekte des Unheimlichen zu sorgen vermag. Diese Figuren akkumulieren unabhängig von ihrer jeweiligen genauen Kennzeichnung und Benennung sinistre Charaktereigenschaften, die unter Antisemiten im frühen . Jahrhundert als Symbole der Verdammnis und der Gefährlichkeit des Judentums festgeschrieben worden waren: Geldgierigkeit, alchemistisches Geheimwissen, Organdiebstahl, Handel mit überteuerten, zweifelhaften Waren und ein allgemein verschwörerisches Gebaren. Mit solchen metonymischen Charaktereigenschaften eines Figurenclusters als Symptom kann laut Jens Eder vom Publikum stets viel mehr assoziiert werden als tatsächlich explizit repräsentiert wird, etwa »soziale Typen und Gruppen, allgemeine Tugenden und Laster, latente Bedeutungen, mythische und religiöse Figuren oder historische Personen«. Sprich: Die Auslassung bestimmter Informationen verhindert derartige kognitive und affektive Verknüpfungen keineswegs. Im Gegenteil, sie ist insbesondere im Horror- oder Suspense-Genre effektiv und erreicht erfahrungsgemäß ein Massenpublikum. Die Linguistin, Emotions- und Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel hat für derartige emotionale Rezeptionsphänomene den Terminus der E-Implikatur eingeführt, womit eine Unterspezifikation gemeint ist, bei der »implizite Evaluationen […] mittels Implikaturen inferiert werden, die  Die Ubiquität antisemitischer Vorstellungen um  ist heute vielen Literaturwissenschaftlern nicht mehr präsent. Bereits allein im Jahr  waren in Preußen über  Kampfschriften gegen die Juden erschienen, sodass die Regierung Unruhen befürchtete und im September des Jahres alle derartigen Publikationen mit Zensur belegte. Siehe Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, im Auftrag des Leo Baeck Instituts hrsg. von Michael A. Meyer unter Mitwirkung von Michael Brenner, Band II : Emanzipation und Akkulturation -, hrsg. von Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel und Michael A. Meyer, München , S. .  Eder (Anm. ), S. .

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auf Kenntnissen des emotionalen Bewertungssystems basieren«. Demnach enthalten Äußerungen »generell fast nie alle Informationen, die zum Aufbau des Textweltmodells und zum Verständnis des Textsinns notwendig wären und sind daher in der Regel unterspezifiziert«. Durch diese »referenzielle Unterspezifikation« – etwa in Kriminalromanen oder eben auch der Schauerliteratur – könnten »Gefühle und Urteile indirekt vermittelt werden. Die affektiv geprägte Einstellung des Sprachproduzenten zu Personen, Objekten oder Situationen kommt in diesen Fällen allein über referenzielle Sachverhaltsdarstellungen zum Ausdruck.« Angst wird also nicht nur erzeugt, indem sie im Text explizit beschrieben wird. Sie entsteht vor allem dadurch, dass die Leser anhand weniger Andeutungen und unter Rückgriff auf ihr zuvor soziokulturell erworbenes Vorwissen selbständig nachvollziehen müssen, was bestimmten sympathischen Figuren geschieht oder geschehen (sein) könnte bzw. was Charaktere, die ihnen auf Anhieb böse erscheinen, den positiven Figuren im Text antun könnten. Stilmittel wie gezielte Auslassungen, Schemenhaftigkeit, Unbestimmtheit und Ungewissheit evozieren bei den Rezipienten Furcht. Umgekehrt ließe sich sogar zuspitzen, dass Angst und Horror durch explizite Beschreibungen im Text kaum zu erzeugen sind. Vielmehr entstehen diese Emotionen vor allem dann, wenn die Leser aktiv werden und sich das Furchtbare selbst ausmalen müssen. Neben der Sorge um lieb gewonnene Figuren und das, was diesen zustoßen könnte, gehört zu den hier relevanten Emotionalisierungsfaktoren auch die Projektion verfügbarer Kontexte des Bösen auf bedrohlich anmutende, geheimnisvolle Charaktere wie den Sandmann. Heutigen Lesern mag dieser Charakter womöglich schlicht gespenstisch erscheinen. Zu Beginn des . Jahrhunderts aber war das ungreif barste, gefährlichste und unheimlichste Fremde insbesondere unter Intellektuellen und Schriftstellern, die politisch wirken wollten und sich etwa in der »Deutschen Tischgesellschaft« trafen, unweigerlich jüdisch konnotiert. Die romantische Elite sehnte sich nach einer deutschen Nation, die endlich feste Grenzen haben bzw. damit für Stärke und Kontinuität stehen sollte. Das Andere dieses Diskurses, seine tiefste Gefährdung, waren die angeblich nicht Sesshaften, die nur schwer erkennbaren Trickster als ›Staat im Staate‹. Dies erklärt die damalige Beliebtheit des oszillierenden Topos des »Ewigen Juden«, der es erlaubte, diese Unstetheit auf einen externalisierten, nur schwer fassbaren, geisterhaften Feind zu verschieben.

 Monika Schwarz-Friesel: Sprache und Emotion. Zweite, aktualisierte und erweiterte Auflage, Tübingen/Basel , S.  f.

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Interpretatorische Eiertänze um antisemitische Codes des . Jahrhunderts Mit ihrer Codierung und impliziten Nahelegung derartiger stereotyper Vorstellungen war E. T. A. Hoffmanns Literatur im . Jahrhundert also keineswegs ein Einzelfall. Sie lag vielmehr voll im Trend. Ulrich Drüner etwa betont in einem Beitrag über die ebenso wenig deutlich markierten Judenkarikaturen im Werk Richard Wagners, bei dieser Art dezenter und verschwiegener ästhetischer Kommunikation habe es sich sogar um ein »Hauptmerkmal des kulturellen Antisemitismus im . und . Jahrhundert« gehandelt. Die Verborgenheit und das Dezente der Darstellung gehörte laut Drüner jenseits des aggressiven Spotts von Karikatur und Satire geradezu »wesentlich zu antisemitischer Kunst«. Zugleich macht Drüner auf die Ambivalenz des Künstlers Wagner aufmerksam, der einerseits einräumte, sich selbst nicht immer voll der kompletten Bedeutung seiner Figureneinfälle bewusst gewesen zu sein. Andererseits habe der Komponist aber auch selbst mit der Undeutlichkeit seiner Werke gehadert, weil das Publikum seine Botschaften nicht so aufnahm, wie er es sich ursprünglich gewünscht hatte. Die Ambivalenz zwischen dem Ver- und Enthüllen einer insgeheimen Ineinssetzung von »Judenfeindschaft und Sozialkritik« im Ring des Nibelungen etwa führte laut Drüner zu bemerkenswerten familieninternen Klarstellungen, wie sie Wagners Ehefrau Cosima am . März  in ihrem Tagebuch referierte: »Er bedauert es, daß seine Dichtungen nicht in einem etwas weiteren Sinne besprochen worden sind, z. B. der Ring nach der Bedeutung des Goldes und des Unterganges einer Rasse daran.« Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet irritiert hier die Beobachtung, dass der Kunstgriff besonders effektvoll emotionalisierender Auslassun Ulrich Drüner: Judenfiguren bei Richard Wagner, in: Hans-Peter Bayersdörfer/ Jens Malte Fischer unter Mitarbeit von Frank Halbach (Hrsg.): Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von Restauration bis zur Zwischenkriegszeit, Tübingen , S. -, hier S. .  Ebd., S. : »Wagners Schöpfungsprozesse liefen nur teilweise bewusst ab, weshalb er oft unbewusst rezipiertes Kulturgut assimilierte und ebenso unbewusst in das entstehende Kunstwerk projizierte. In der Praxis bedeutete dies, dass er den Schöpfungsprozess nur teilweise unter Kontrolle hatte und gelegentlich im Kunstwerk selbst spürte, dass es nicht seinen Anfangsintentionen entsprach.«  Zitiert nach ebd., S.  f. Siehe zur raunenden Untergangsmotivik bei Wagner, in der die Apokalypse der Deutschen gerne vieldeutig mit der des Judentums verwoben wurde, auch Jan Süselbeck: Apocalypse now. Der ewige Streit um Richard Wagners Pamphlet »Das Judentum in der Musik« (/), in: literaturkritik.de /: http://literaturkritik.de/id/ (letzter Zugriff: ..).

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gen (oder von E-Implikaturen) im literarischen Antisemitismus innerhalb der Wagner-Forschung nach  jedoch plötzlich als wohlfeiles Argument für die angebliche Harmlosigkeit der ehemals vom Publikum durchaus entzifferbaren Hass-Botschaften herhalten musste. Was nicht wörtlich im Primärtext vorkam, konnte jetzt auf keinen Fall mehr gemeint sein, jedenfalls dann nicht, wenn es um das Thema Judentum ging. Fragwürdige Feindbilder oder Witze, die in Texten, die nach  ganz neu gedeutet werden mussten, wenn diese nicht in moralischen Misskredit gelangen sollten, nicht explizit genug in einem als jüdisch markierten Kontext standen, galten nun vorschnell als unbedenklich. Tatsächlich an den Haaren herbeigezogen waren dagegen viele der interpretatorischen Verrenkungen, die manche der Romantikforscher anstellten, um das offensichtlich Angedeutete zu relativieren. Der Sandmann als »Ahasver«-Figur – ein vergleichender Blick auf die Angsterzeugung in Hoffmanns Elixieren des Teufels Aus dieser Perspektive erlauben auch kritische Relektüren weiterer Texte E. T. A. Hoffmanns erhellende Einsichten. Mal werden seine dämonischen Figuren explizit als jüdisch identifiziert, mal nicht. Das erinnert an Richard Wagners Ambivalenz zwischen Verhüllen und Enthüllen. Besonders schillernd nimmt sich in diesem Kontext Hoffmanns fiktiver Memoiren-Roman Die Elixiere des Teufels (/) aus, in dem ein ge Vgl. Drüner (Anm. ), S. .  Siehe dazu u. a. auch den forschungsgeschichtlichen Abriss zum Wechsel der Wertungskriterien im Umgang mit dem literarischen Antisemitismus in Jan Süselbeck: Tertium non datur. Gustav Freytags »Soll und Haben«, Wilhelm Raabes »Hungerpastor« und das Problem des Literarischen Antisemitismus – eine Diskussion im Wandel, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft , Heft Juli , S. -; hier vor allem: S. -.  Als eines der bizarrsten Beispiele muss wohl die Editorin Achim von Arnims, Gisela Henckmann, gelten. Vgl. dazu: Das Problem des »Antisemitismus« bei Achim von Arnim, in: Aurora  (), S. - und Nachwort, in: Achim von Arnim, Erzählungen, hrsg. von Gisela Henckmann, Stuttgart , S. -. Zur Kritik an Gisela Henckmann siehe auch den scharfsinnigen Beitrag von Nike Thurn: Antisemitisch »in herkömmlicher Weise«? Achim von Arnims »Die Majorats-Herren«, in: literaturkritik.de /: http://www.literaturkritik.de/public/rezension. php?rez_id= (letzter Zugriff: ..). Thurns ausführliche Interpretation der Erzählung in ihrer Dissertation gehört zum Besten, was bisher über die »Majorats-Herren« publiziert worden ist. Siehe Dies.: »Falsche Juden«. Performative Identitäten in der deutschsprachigen Literatur von Lessing bis Walser, Göttingen , S. -.

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heimnisvoller, namenloser Maler auftritt, der sich als geisterhafter Ahne und Doppelgänger der Hauptfigur, des Mönchs Medardus, entpuppt. Aufgrund der expliziten Charakterisierung dieses Malers als »Ahasverus« durch eine der Romanfiguren ist das Werk von Mona Körte bereits dezidiert im Kontext dieses gängigen Topos der Gothic-Literatur des . Jahrhunderts interpretiert worden, also des »Ewigen Juden«. Die pikareske Nebenfigur Pietro Belcampo alias Peter Schönfeld, die ebenfalls entfernt an eine Judenkarikatur erinnert – wobei Belcampo allerdings die Aufgabe übernimmt, erheiternde Komödien-Elemente in die Handlung einzubringen und dem Protagonisten Medardus teils hilfreiche Tipps zu geben oder ihm in einer peinlichen Notlage zu helfen – beschreibt den unheimlichen Maler ohne Umschweife als »Revenant«, der dem »Orkus schon gehörte«. Er sei »Ahasverus, der Ewige Jude, oder Bertram de Bornis oder Mephistopheles oder Benvenuto Cellini oder der heilige Peter«. Bei seinem ersten verstörenden Auftritt während einer Predigt von Medardus im Kapuzinerkloster zu B. wird die erwähnte Teufelsfigur des (angeblichen) »Ewigen Juden« vom Protagonisten in bewährter stereotyper Weise eingeführt, wobei nicht nur die üblichen schauerliterarischen  Siehe Mona Körte: Die chimärische Genealogie. E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels, in: Dies.: Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik, Frankfurt am Main/New York , S. -.  Vgl. E. T. A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels. Nachgelassene Papiere des Bruders Medardus, eines Kapuziners. Herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier. Textrevision und Anmerkungen von Hans-Joachim Kruse, Redaktion Rudolf Mingau, Berlin/Weimar , S.  f.: Belcampo hat eine »spitze rote Nase«, schneidet Grimassen und gestikuliert wild, während seine mit zwei übertriebenen Uhrketten behängte Kleidung ihm nirgends passt. Woher weiß Belcampo stets so gut Bescheid und wieso taucht auch er an den unterschiedlichsten Orten plötzlich auf, mögen sich die Leser nach etlichen seiner KomikerAuftritte im Roman fragen. Am Ende des Textes wird er ins Kapuzinerkloster aufgenommen, wobei er bei seiner Ankunft an eine wandernde ›Ahasver‹-Gestalt erinnert, als ein »zerlumpter, sehr elend aussehender Bettler«, siehe ebd., S. . Peter Schönfeld agiert im Roman als schelmischer Agent des Unbewussten, tritt also ähnlich wie andere (krypto-)jüdische Figuren bei Hoffmann wie ein abgespaltener Anteil des Eigenen auf, und wir verdanken ihm eine literarische Vorwegnahme von Freuds Idee des Über-Ich, ebd., S. : »›Ei, ehrwürdiger Herr!‹, fuhr Schönfeld fort, ›was haben Sie denn nun davon! ich [sic!] meine von der besonderen Geistesfunktion, die man Bewußtsein nennt und die nichts anderes ist als die verfluchte Tätigkeit eines verdammten Toreinnehmers – Akziseoffizianten – Oberkontrollassistenten, der sein heilloses Comptoir im Oberstübchen aufgeschlagen hat und zu aller Ware, die hinaus will, sagt: ›Hei …hei …die Ausfuhr ist verboten …im Lande, im Lande bleibt’s.‹«  Ebd., S. .

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Attribute auffallen, sondern auch, wie ausführlich der autodiegetische Erzähler seine eigenen Angstgefühle beschreibt, die sich wiederum auf die Leser übertragen sollen. Ein mysteriöser, bedrohlich wirkender Mann unter den Kirchgängern, der den Priester Medardus durch sein bloßes Erscheinen während seiner Predigt aus dem Konzept bringt, hat etwas »Furchtbares – Entsetzliches«, der erschrockene Redner fühlt sich »wie von eiskalten grausigen Fäusten gepackt«, während plötzlich »Tropfen des Angstschweißes« auf seiner Stirn stehen und seine Ansprache immer verworrener wird, bis hin zur Ohnmacht auf der Kanzel, in »der Höllenangst wahnsinniger Verzweiflung«. Wie im Sandmann werden in den Elixieren alle nur erdenklichen Register des Horror-Genres gezogen. Es ist erhellend, sich die ersten Auftritte der jeweiligen Ahasver-Figuren und die in diesen Textpassagen benutzte Sprache vergleichend anzusehen. Bereits mit den einführenden Sätzen häuft die Charakterisierung des unheimlichen Malers in den Elixieren kolportagehafte Adjektive aus dem motivischen Arsenal von Vampirgeschichten an (man beachte den dunkelvioletten Mantel und das leichenblasse Gesicht des bedrohlichen Zuhörers), die im Kontext als pejorative Attribute des literarischen Antisemitismus funktionieren können: Da fiel mein in der Kirche umherschweifender Blick auf einen langen hageren Mann, der, mir schrägüber auf eine Bank gestiegen, sich an einen Eckpfeiler lehnte. Er hatte auf eine seltsam fremde Weise einen dunkelvioletten Mantel umgeworfen und die übereinandergeschlagenen Arme darin gewickelt. Sein Gesicht war leichenblaß, aber der Blick der großen schwarzen stieren Augen fuhr wie ein glühender Dolchstich durch meine Brust. Mich durchbebte ein unheimliches grauenhaftes Gefühl, schnell wandte ich mein Auge ab und sprach, alle meine Kraft zusammennehmend, weiter. Aber wie von einer fremden zauberischen Gewalt getrieben, mußte ich immer wieder hinschauen, und immer starr und bewegungslos stand der Mann da, den gespenstischen Blick auf mich gerichtet. So wie bittrer Hohn –

 Ebd., S. . Die unheimliche Begegnung mit Ahasver als einem auffälligen Zuhörer einer christlichen Predigt in der Kirche findet sich bereits schon in dem historischen Text Kurtze Beschreibung und Erzählung von einem Juden mit Namen Ahasverus von , scheint also von Hoffmann daher übernommen worden zu sein. Siehe den Abdruck des Textes in Mona Körte/Robert Stockhammer (Hrsg.): Ahasvers Spur. Dichtungen und Dokumente vom Ewigen Juden, Leipzig , S. -, hier S.  f.

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verachtender Haß lag es auf der hohen gefurchten Stirn, in dem herabgezogenen Munde. Der hier zunächst als Teufelsfigur auftretende »Ewige Jude« vermag es, selbst einen glänzenden theologischen Rhetor wie Medardus so zu verwirren, dass dieser schließlich nicht mehr sprechen kann. Das bloße Auftauchen »Ahasvers« wirkt hier abermals wie eine ansteckende Krankheit auf den Redner, der plötzlich keinen zusammenhängenden Satz mehr hervorbringen und bald überhaupt keine Predigten mehr halten kann. Wie der Sandmann auf Nathanael hat auch dieser unheimliche Gast einen nachhaltigen und negativen Einfluss auf Medardus. Andererseits stellt sich später heraus, dass der verstörte Mönch mit dem Maler verwandt ist. Die Figur des »Ewigen Juden« weist also widersprüchlicherweise Anteile des Eigenen von Medardus auf, was sie für die Leser jedoch erst so besonders beunruhigend und unheimlich erscheinen lässt. Der mysteriöse Maler findet in Medardus nicht nur ein Opfer, sondern auch einen Schüler. Ähnlich verhält es sich mit Coppola, der Nathanael durch den Verkauf eines symbolischen Fernglases genau wie dessen Vater zu seinem unfreiwilligen Adepten macht. Claudia Liebrand argumentiert sogar, dass Nathanael bereits in der ersten traumatischen Begegnung mit dem Sandmann und durch die Dekomposition und neuerliche Verschraubung seiner Glieder »selbst zu einer Automate gemacht« werde und in all seinen Handlungen determiniert sei. Ihr entgeht allerdings, dass die Unheimlichkeit, die dadurch erzeugt wird, auch als eine symbolische Usurpierung durch die ›jüdische Seelenlosigkeit‹, also eine roboterhafte ›Judaisierung‹ gelesen werden könnte.

 Hoffmann (Anm. ), S. . Siehe dazu auch die Parallelen in der von Körte und Stockhammer edierten Kurtzen Beschreibung und Erzählung von einem Juden mit Namen Ahasverus (Anm. ), S. : Dort ist die Ahasverfigur gegenüber der Kanzel »ein sehr lang [sic!] Person« und trägt einen langen Mantel, wobei dieser farblich nicht genauer beschrieben wird. Auch in Hoffmanns Brautwahl wird dieses stereotype Erscheinungsbild wieder aufgegriffen, als der mutmaßliche Ahasver-Charakter Leonhard das erste Mal auftritt und als »lange hagere, in einen dunklen Mantel gehüllte Gestalt« beschrieben wird. Siehe E. T. A. Hoffmann: Die Brautwahl, in: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. : Die Serapionsbrüder, hrsg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht, Frankfurt am Main , S. -, hier S. .  Liebrand (Anm. ), S. . Genauso unterstreicht Michael Rohrwasser »jene Erinnerung Nathanaels, in der seine Glieder von Coppelius abgeschraubt und neu zusammengesetzt werden: auch Nathanael ein Automat, eine Marionette, dem die eigenen Augen fehlen und dem wie Olimpia ein zerstörerisches Ende beschieden ist«. Siehe Rohrwasser (Anm. ), S.  f.

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Bereits Detlef Kremer hat festgehalten, dass der Wetterglashändler Coppola nicht »als etwas ganz Fremdes in Nathanaels Alltag« auftauche, »sondern als etwas Bekanntes, das in ungewohnter Weise und Umgebung auftritt«. Nathanael trägt sogar einen hebräischen Namen, der als »Geschenk Gottes« übersetzbar ist und zugleich für einen der ersten Jünger Jesu steht, was die Janusköpfigkeit auch seines Charakters zwischen christlichen Identifikationsangeboten und Kontaminierungen durch das furchterregende (jüdische) Fremd-Vertraute schon andeutet. Thomas Anz hat in seinem Versuch, mit Aristoteles nach einer grundlegenden Poetik der Emotionalisierung zu fragen, folgende Regel formuliert, die Licht auf eine potenzielle empathische Anteilnahme der Hoffmann-Leser an den Erlebnissen und Emotionen Nathanaels in seinen Begegnungen mit Coppelius und Coppola wirft: »Literarische Texte evozieren Furcht, Scham oder Schuld, wenn sie Antipathieträger mit Merkmalen kennzeichnen, in denen ihre Adressaten eigene Merkmale wiedererkennen.« Die negativ gezeichneten Ahasver-Figuren bei Hoffmann bzw. die mit ihnen verbundenen Attribute (wie die Sphäre des künstlichen Menschen, des Automaten oder Homunculus) sind also den ›deutschen‹ Protagonisten sowohl im Sandmann als auch den Elixieren nicht nur entgegengesetzt, sondern ähneln ihnen gleichzeitig auch. Gerade das führt zum Verhängnis der sympathietragenden Protagonisten und wirkt auf die Leser besonders furchterregend. In dieser Ähnlichkeit verbirgt sich eine besonders beunruhigende Angst vor der Kontamination durch eine Krankheit zum Tode: Medardus etwa wird durch den Genuss eines angeblich teuflichen Elixiers und die bedeutungsschweren Auftritte des satanischen Malers angesteckt. Von dort aus geht es mit dem Geistlichen steil abwärts, ähnlich wie mit Nathanael nach seiner ersten Begegnung mit Coppelius. Sogar Nathanaels zitierter »Todesseufzer« taucht in den Elixieren explizit wieder auf: Diesmal kommt er offenbar von einem weiteren Doppelgänger, einer Art Geisterfigur in einer Gefängniszelle unterhalb derjenigen des mittlerweile eingekerkerten Mörders Medardus. Hoffmann zitiert sich damit selbst, erhöht aber das Verwirrungspotenzial der Szene aus dem Sandmann noch einmal und lässt es offen, wer hier genau stöhnt. Der Häftling Medardus ist durch verstörende lockende  Detlef Kremer: Romantische Metamorphosen. E. T. A. Hoffmanns Erzählungen, Stuttgart/Weimar , S. .  Thomas Anz: Regeln der Sympathielenkung. Normative und deskriptive Poetiken emotionalisierender Figurendarstellung, in: Claudia Hillebrandt/Elisabeth Kampmann (Hrsg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft, Berlin , S. -, hier S. .



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Rufe, die durch den steinernen Zellenboden zu ihm heraufdringen und immer wieder seinen Namen nennen, zutiefst beunruhigt: »So schrie ich laut auf, aber dann ging ein langer, tief ausatmender Todesseufzer durch die Gewölbe.« E. T. A. Hoffmanns paradigm scenarios der Angsterzeugung Werfen wir einen genaueren Blick auf diese Schlüsselszenarien der Generierung von Furcht im Publikum: Der »Ewige Jude« wird in den Elixieren als seltsamer Strippenzieher profiliert, und wie sich herausstellt, ist er maßgeblicher Urheber eines satanischen Fluchs, der Medardus’ gesamte Familie ins Unglück stürzte und den Protagonisten zum inzestuös getriebenen Mörder einer Reihe eigener Verwandter machte. Wie im Sandmann kann der Mann mit dem violetten Mantel zudem nach Belieben auftauchen und wieder verschwinden, nachdem er ein Verbrechen begangen hat: »Niemand zweifelte, daß der Maler sich auf unbegreifliche Weise in den Palast zu schleichen gewußt und den Prinzen ermordet habe. Der Maler sollte in dem Augenblick behaftet werden, schon seit zwei Tagen war er aber aus dem Hause verschwunden, niemand wußte wohin, und alle Nachforschungen blieben vergebens.« Wenig später, im Kontext eines weiteren fatalen Ereignisses bei einer Hochzeit, ist abermals von einem »gespenstischen Erscheinen des Malers« die Rede, der ungesehen alle Wachen und verschlossenen Eingänge überwunden zu haben scheint, sodass es laut Erzähler »unbegreiflich« sei, wie der Maler »in der Kapelle erscheinen und wieder verschwinden« konnte. Medardus sieht sich angesichts seiner Beeinflussung durch diesen dämonischen Fremden wortwörtlich »entzweit« in seinem Ich. Dass Hoffmanns Protagonisten ihren jüdischen oder jüdisch konnotierten Opponenten immer irgendwie ähnlich oder – wie in den Elixieren des Teufels – sogar verwandt zu sein scheinen, liest sich wie literarisches Anschauungsmaterial zu Sigmund Freuds These in seiner Studie zum Unheimlichen, dass dieses Gefühl stets auf »das Heimliche-Heimische«,     

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Hoffmann (Anm. ), S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Sigmund Freud: Das Unheimliche (), in: Ders.: Studienausgabe, Band IV . Psychologische Schriften, hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a., Frankfurt am Main , S. -, hier S. . Vgl. dazu auch Sascha Seiler: Atmosphären.

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also uns sehr Bekanntes, Eigenes und zugleich Verdrängtes verweise. Laut Freud ist das Unheimliche »irgendwie eine Art von heimlich«, und genau die Abspaltung dieses Eigenen wird durch seine unverhoffte Wiederkehr in Angst verwandelt, also aus einer Gefühlsmischung heraus, wie man sie in der Emotionalität der Hoffmann’schen Texte immer wieder angelegt findet. Dazu passt, dass sich Freud in seinem Essay ausführlich Gedanken über die Dichotomie zwischen fiktiven und tatsächlichen Realitäten macht und die Wirkungsmöglichkeiten der Dichtung ins Auge fasst. Auch ihm geht es wieder um die Irrealisierung des Realen und das Realwerden des Imaginären: Durch die Erzeugung einer Ungewissheit darüber, ob das Erzählte fantastisch oder wahr sei, schaffe die Fiktion »neue Möglichkeiten des unheimlichen Gefühls«, schreibt Freud. Seien die Leser doch durch den Dichter »in besonderer Weise lenkbar«, und zwar »durch die Stimmung, in die er uns versetzt, durch die Erwartungen, die er in uns erregt«. Was Freud hier beschreibt, ist im Grunde nichts anderes als die von Monika Schwarz-Friesel definierte E-Implikatur: Gerade das, was nicht explizit bestätigt und in der Schwebe gelassen wird, regt die Fantasie der Leser an. Die Begegnung des Eigenen mit seinen gefürchteten verdrängten Anteilen sieht Freud bei Hoffmann als dem unerreichten »Meister des Unheimlichen« vor allem im Doppelgängermotiv verwirklicht. Auch Freud verweist dazu auf die Elixiere des Teufels, einen Roman, der die »volle Verwirrung« seiner Leser anstrebe, und zwar durch »IchVerdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung«. Laut Lars Koch kam das Gothic-Genre als Teil der Literaturgeschichte der Angst um  unter anderem deshalb auf, weil es »symbolische Verdichtungen spezifischer soziokultureller Problemlagen« erlaubte. Angst- und Horror-Literatur entstehe, wenn gesellschaftliche Kontingenzerfahrungen im Publikum das Bedürfnis provozierten, ungelöste Schwierigkeiten symbolisch dargestellt zu sehen: »Angst-Fiktionen reflektieren und bearbeiten Wirklichkeitserfahrungen, sie entwerfen affektive Skripte, Wahrnehmungsschemata und literarische Rollenmuster,

    

Theoretische Überlegungen zum Unheimlichen. Ernst Jentsch und Sigmund Freud, in: Koch (Anm. ), S. -, hier S. . Siehe Freud (Anm. ), S.  und S.  f. Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd. Lars Koch: Angst in der Literatur, in: Ders. (Anm. ), S. -, hier S. .

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die insbesondere in gesellschaftlichen Krisen- und Umbruchszeiten« zur Selbstvergewisserung dienten. Für den Bereich des literarischen Antisemitismus ließe sich im Anschluss daran formulieren, dass die Schauerliteratur der schwarzen Romantik als drängend und beängstigend empfundene Ambivalenzen der Moderne nach  besonders gerne in vexierbildhaften, fantastischen und damit unheimlich wirkenden (Krypto-)Judenfiguren personalisierte. Innerhalb dieser Repräsentation bedrohlicher jüdischer Nicht-Identität wurde implizit oder (je nach Szenario) auch explizit die Möglichkeit eines (gewaltsamen) Auf begehrens gegen die Dämonen des Eigenen im Fremden nahegelegt, also ein befreiender Umschwung der Angst in den offenen Hass. Die Literatur der Angst um  zeugt nach Koch von einem zutiefst verunsicherten Ich, das sich in der mit unbekannten Komplexitätsniveaus aufwartenden Welt symbolisch neu einrichten muss und […] die psychische Grundierung eines Subjekts [fokussiert], dessen Schicksal nicht mehr der Religion anvertraut werden kann, sondern angesichts eines Netzwerks von negativen Komplementäreigenschaften – Trieb, Aggression, (Selbst-)Hass, Ich-Spaltung – der direkten moralischen Lenkung bedarf. Sköne Oke: Zur Unheimlichkeit sprachlicher Verwirrungen im Sandmann Wie gesehen, frappiert an den Elixieren die Beobachtung, dass bereits der bloße schweigende Auftritt des »Ewigen Juden« in der Kirche die Rede des Predigers zu verwirren vermag. Ähnlich wie bei Nathanael im Sandmann wird damit erzählerisch die Gefahr eines ›judaisierenden‹ Einflusses der Teufelsfiguren eingestreut, der die nichtjüdischen Protagonisten ins Verderben und den Wahnsinn zu treiben vermag, symbolisiert im Verlust der Sprache. Auffällig ist jedenfalls, dass sowohl der durch die Umtriebe des Malers verwirrte, mit teuflischen Verführungen ringende Medardus in den Elixieren als auch Coppola im Sandmann stellenweise sogar nur noch unverständliche Laute von sich zu geben vermögen. Das verheißt in solchen Texten niemals Gutes. Medardus soll an einer Stelle nur noch »›Hu hu!‹ und ›Me …me …‹« gestammelt haben, und  Ebd.  Ebd., S. .  Hoffmann (Anm. ), S. .

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auch Coppolas kryptischer Ausruf beim Verkauf seines Fernglases an Nathanael, »Ei, nix Wetterglas, nix Wetterglas ! – hab auch sköne Oke – sköne Oke!«, für »schöne Augen«, zeitigt furchtbarste Folgen. So wiederholt Nathanael unmittelbar vor seinem Selbstmord selbst nur noch rasend die Wörter »Ha ! Sköne Oke – Sköne Oke« und springt danach vom Kirchturm. Coppola spricht in der negativen Darstellung des Erzählers mit »heiserem Ton, indem sich das weite Maul zum häßlichen Lachen verzog und die kleinen Augen unter den grauen langen Wimpern stechend hervorfunkelten«; kurz darauf ist noch einmal von einem »heisere[n] widrigen Lachen« und einer »widerwärtigen heisern Stimme« und einem »hämischen Lächeln« die Rede. Diese Unfähigkeit Coppolas, sich ohne widrige Nebengeräusche oder abstoßende Mimik in klar artikuliertem Deutsch auszudrücken, belegt mangels expliziter Identifikation des Bösewichts als jüdische Figur Matthias Richters These eines in der deutschsprachigen Judendarstellung seit  konstruierten »Literaturjiddischen« zwecks Diskriminierung der repräsentierten Figuren nur bedingt. Zudem könnte man den Ausdruck »sköne Oke« für »schöne Augen« naheliegender als verfremdeten venezianischen Dialekt (»beli oci«) interpretieren denn als linguistisch sinnvoll zurückverfolgbaren Terminus des ›Jiddelns‹ oder ›Mauschelns‹ – und zwar ganz einfach auch deshalb, weil der Plot dieser Szenen in Italien angesiedelt ist.  Hoffmann (Anm. ), S. .  Ebd., S. . Diese Unfähigkeit einer kohärenten und deutlichen Aussprache taucht zudem noch bei einer weiteren bösen (und womöglich krypto-jüdischen) ›Witz‹-Figur Hoffmanns auf: Auch Klein Zaches bringt (nicht nur) bei wichtigen Auftritten und in Gesellschaften, wo er paradoxerweise aufgrund von Hexerei immer den allerbesten Eindruck macht, nur unverständliches Gestammel und katzenhaftes Miauen oder Gemurre hervor. Siehe Hoffmann (Anm. ), S. , , , ,  und .  Hoffmann (Anm. ), S. .  Ebd., S. .  Vgl. Matthias Richter: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (-). Studien zu Form und Funktion, Göttingen , S. . Siehe zur Diskussion der Verwendung des Literaturjiddischen in der kontroversen ShylockRezeption des . Jahrhunderts außerdem Jan Süselbeck: Szenen in der Synagoge. Die Rezeption von William Shakespeares »Kaufmann von Venedig« bei August Wilhelm Schlegel und Heinrich Heine, in: Nike Thurn (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus. Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung () , S. -. Zur linguistischen Sicht auf das Thema ist außerdem auf Lea Schäfers Studie zu verweisen. Siehe Dies.: Sprachliche Imitation: Jiddisch in der deutschsprachigen Literatur (.-. Jahrhundert), Berlin .

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Wie Wolf-Dieter Hartwich herausgearbeitet hat, ist dem späteren E. T. A. Hoffmann die Nutzung des diskriminierenden Elements des Literaturjiddischen jedoch keineswegs fremd gewesen. Zudem funktioniert die unheimliche Ausdrucksweise Coppolas trotz der genannten Einwände sowohl als satirisches als auch ein beunruhigend wirkendes Stilmittel der Verspottung einer zwielichtigen Figur, indem diese durch ihr rätselhaft anmutendes Gestammel nur umso fremder erscheinen muss. Betrachtet man also das Gesamtbild des vexierbildhaften Sandmann-Komplexes und die vielen oben beschriebenen antisemitischen Stereotype, die er implizit mit in Erinnerung rufen kann, so funktioniert die »sköne Oke«-Dialogstelle letztlich trotzdem genau so, als wenn ein stärker jiddisch klingender Jargon Verwendung gefunden hätte. Wie Ulrich Hohoff in seiner textkritischen Ausgabe des Sandmanns belegt hat, merkte Hoffmann zudem in einer früheren Version seiner Erzählung an, bereits Coppelius spreche in der traumatischen Szene, in der er Nathanael die Gliedmaßen abschraubt, eine »unbekannte Sprache«. Hoffmann selbst reduzierte also vor Drucklegung jene zuvor entworfenen Indizien, die nicht nur Coppola mit entsprechenden Fremdheitsstereotypen belegten, sondern auch Coppelius, wohl um die Unheimlichkeit und Uneindeutigkeit der Identität beider bösen Figuren zu erhöhen. Zugleich aber zeigt die frühere handschriftliche Vorstufe seiner Erzählung, wie bewusst Hoffmann mit der Konstruktion furchterregender Fremdheit durch die sprachlichen Äußerungen seiner dämonischen Charaktere gearbeitet hat. Erneut lohnt sich hier auch ein Blick auf den historischen Kontext derartiger pejorativ wirkender Stilmittel der Zeit. Was man in der Geschichte des Antisemitismus aus nichtjüdischer Sicht als »Geschäftssprache der Juden« konstruierte und sogar mittels Lexika und PseudoGrammatiken mit aufklärerischem Impetus zu entschlüsseln versprach, war laut Christoph Daxelmüller Teil einer generalisierenden Diskriminierung der Juden als Räuber: »Es mauschelt der Ganove, Betrüger, Spitzbube, das unheimliche fahrende Volk, der Geheimbündler, Räuber  Hartwich (Anm. ), S. , verweist hier auf die beiden zusammengehörigen Erzählungen Die Irrungen. Fragment aus dem Leben eines Fantasten () und Die Geheimnisse. Fortsetzung des Fragments aus dem Leben eines Fantasten (): »Der Text charakterisiert die jüdische Figur [Nathanael Simson, J. S.] in antisemitischer Weise durch ihre fehlerhafte Verwendung des Deutschen, verlogene Schmeichelei und unehrenhafte Profitlichkeit.« Kaiser (Anm. ), S. , stuft diese beiden Texte zusammen mit der Brautwahl als »die drei Werke Hoffmanns« ein, die »am deutlichsten antisemitische Affekte verraten«.  Hohoff (Anm. ), S.  und S. .

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und Spießgeselle, der Zigeuner, Obdachlose, Penner und Outsider, und sie alle übertrifft der Jude.« Nicht nur in der schönen Literatur herrschte demnach Verwirrung darüber, auf welche Ursprache das sogenannte jüdische Mauscheln in diesem babylonischen Stimmengewirr der Räuber eigentlich zurückgehen sollte. Hauptsache schien zu sein, dass die konstruierte dubiose Geheimsprache, die man selbst als Jiddisch einstufen wollte, irgendwie fremd klang und aus einer dialektalen Vielfalt schöpfte, die man wahlweise mit dem Hebräischen, dem Rotwelschen, Jenischen, Welschen und Begriffen aus dem Romani in Verbindung brachte. Hinzu kommt, dass das Jiddische auch in Italien noch bis ins . Jahrhundert gesprochen wurde, dort jedoch schließlich zugunsten lokaler Dialekte aus dem Alltag verschwand. Dass Coppola in Italien nicht exakt ›jiddelt‹, heißt also keineswegs, dass es sich bei ihm aus historischer Sicht nicht doch um eine jüdisch konnotierte Figur handeln könnte. Aufhorchen lässt nicht zuletzt, dass der explizit als »Ewiger Jude« markierte Maler in den Elixieren des Teufels als Parallelfigur zu Coppola ebenfalls regelmäßig in einem Kloster in Italien auftaucht und dass ein fiktiver Herausgeber eines Auszugs seiner Schriften im Roman berichtet, diese seien in einem »alten Italienisch« verfasst, mit dem herabsetzenden Zusatz: »Der seltsame Ton klingt im Deutschen nur rauh und dumpf, wie ein gesprungenes Glas.« Es fällt also auf, dass die sprachliche Heimat der Rückzugsort des »Ewigen Juden« bei E. T. A. Hoffmann offenbar vorzugsweise Italien ist, und dass den (alten) italienischen Dialekten ein verzerrter Klang zugeschrieben wird, wie er im zeitgenössischen literarischen Antisemitismus insbesondere den Stimmen und der Aussprache von Judenfiguren nachgesagt wurde. Eine zusätzliche wichtige Beobachtung ist, dass die »Sköne-Oke«-Äußerung des Wetterglashändlers Coppola im Sandmann mit einem vom Erzähler als betrügerisch entlarvten Geschäftsgebaren des Hausierers assoziiert ist. Wie bereits erwähnt, stellt Daxelmüller fest, dass die »Sprache des Mauschelns, wie sie uns die historischen Lexika, Taschenwörter Christoph Daxelmüller: Zehntes Bild: »Das Mauscheln«, in: Schoeps/Schlör (Anm. ), S. -, hier S. .  Ebd., S. . Siehe dazu auch Breuer/Graetz (Anm. ), S. : »Das Jiddische war verrufen und galt als minderwertiges Kauderwelsch und als Gaunersprache«, zu der u. a. auch die vielen jüdischen Hausierer genötigt gewesen seien. Zugleich herrschte die Meinung vor, dass die »jüdischen Gauner gefährlicher, weil gewitzter und ränkevoller als die christlichen waren« (S. ).  So jedenfalls auf Anfrage die Einschätzung Lea Schäfers (Anm. ) in einer E-Mail an den Autor des vorliegenden Beitrags, ...  Hoffmann (Anm. ), S. .

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bücher und Grammatiken [des Jiddischen, J. S.] vorgaukeln«, bewusst »kriminalisiert« worden sei. Der Wortschatz dieser meist von nichtjüdischen Verfassern unter jüdisch klingenden Pseudonymen veröffentlichten Fake-Lexika setze sich schwerpunktmäßig aus »kriminellen und wirtschaftlichen Fachausdrücken« zusammen. Daxelmüllers Erklärung der erstaunlichen Popularität solcher pseudo-grammatikalischer und -etymologischer Nachschlagewerke kann bei der Eruierung des emotionalen Wirkungspotenzials des Sandmanns hilfreich sein. Demnach ergab sich diese Beliebtheit diskriminierender Hoax-Wörterbücher des Jiddischen aus der Intention, sie den Lesern als »antisemitische Lese- und Unterhaltungsstoffe« anzubieten, und zugleich aus einer »tief verwurzelten kollektiven Angst« gegenüber dem traditionell als besonders schriftgelehrt wahrgenommenen Judentum: »Der Besitz der Schrift bedeutet Macht, und der intellektuellen Überlegenheit begegnet der Nichtjude mit Furcht; nicht das Mauscheln, sondern die Verfügbarkeit von ansonsten nicht üblichen Kenntnissen ist geheimnisvoll.« Aus dieser Perspektive relativiert sich der entwarnende Befund, dass Coppolas wirres Gerede gar nicht wie originales Jiddisch anmute, doch wesentlich. Ausblick: Der Sandmann als Schreckgespenst antimodernen Denkens Der Erfinder Coppelius/Coppola als Horrorfigur ist nicht nur eine allgemeine Versinnbildlichung der für die Schwellenzeit um  typischen, skeptischen Diskussion der »Legitimität von Wissen, Systematiken und Methoden«, wie Dorothee Kimmich es so neutral formuliert. Vielmehr steht er aus dem Blickwinkel ›wissender‹ zeitgenössischer Antisemiten zugleich als Synekdoche für das übliche Objekt ihrer antimodernen Ressentiments, frei nach dem Motto: ›Der Jude‹ mache unmenschliche Experimente, er spiele auf anmaßende und gefährliche Weise Gott und erschaffe dabei nichts als Monster – so wie etwa die Automatenfrau Olimpia im Sandmann. Coppola konstruiert diesen weiblichen Cyborg zusammen mit seinem Komplizen, dem Mad Scientist Spalanzani, und setzt der Roboter-Frau die ›schönen‹ Augen Nathanaels ein, die ihm der  Zu nennen wäre hier etwa Itzig Veitel Stern, hinter dem sich neben anderen Autoren, die das Pseudonym nutzten, der Antisemit und Jurist Johann Sigmund Freiherr von Holzschuher (-) verborgen haben soll.  Daxelmüller (Anm. ), S. .  Ebd., S. .  Dorothee Kimmich: Hexen/Teufel/Aberglaube, in: Lubkoll/Neumeyer (Anm. ), S. -, hier S. .

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Sandmann als Kind entgegen der eher entwarnenden Andeutungen zu Beginn der Erzählung offenbar doch entnommen hatte. Auch wenn Cathy S. Gelbin Hoffmanns Sandmann nur an wenigen Stellen ihrer Golem-Studie äußerst knapp erwähnt, so stellt doch immerhin auch sie die These auf, dass beide Erschaffer des weiblichen Cyborgs in diesem Text jüdisch konnotiert seien. Liest man nun Nathanael sogar als einen weiteren durch den Sandmann automatisierten Menschen, so litte er, wenn man Gelbins Lesart aufgreift und weiterdenkt, an einem versehrten Körper und einer zerstörten Seele infolge maschinisierender ›Judaisierung‹. Laut Thomas T. Tabbert stellt Hoffmann die Utopie eines humanoiden Automaten wie Olimpia und jener Maschinenhaftigkeit, die durch Nathanaels Demontage und neuerliche Verschraubung während der Misshandlung durch den Sandmann anklingt, als »tiefgreifenden emotionalen Schock«, als »Verunsicherung des menschlichen Selbstverständnisses durch ein materialistisches Welt- und Menschenbild« sowie als »Angst um den Verlust der eigenen ›Seele‹« dar. Coppola wäre demnach als teuflischer Räuber der tiefsten Identität humaner Existenz codiert, indem er die Menschen zu bloßen Organ-Lieferanten oder Automaten herabstuft und damit ins Verderben manövriert. Dabei fällt insbesondere die Nähe des Sandmann-Plots zu Mary Shelleys zeitgenössischem Roman Frankenstein () auf. Cathy S. Gelbin deutet Frankenstein als Kippfigur, die den Automatenmenschen-Topos bereits im Sinne späterer Golem-Judenfiguren als Codierung einer destruktiven Moderne umdeutete. Bei Hoffmann ist es u. a. Coppolas Fernrohr, das einerseits als Symbol der Aufklärung gelesen werden kann, andererseits aber Nathanaels Blick manipuliert und in der Turm-Szene am Schluss seinen Sprung in den Abgrund provoziert. Rohrwasser liest dies als literarisierte »Dialektik der Aufklärung« und verweist darauf, dass die Szene als Napoleon-Kritik zu lesen sei, da der französische Feldherr als Zentralfigur der Aufklärung fungierte. Diese Deutung vermag nur partiell zu überzeugen. Napoleon war , als Hoffmann seine Erzählung schrieb, immerhin schon zwei Jahre zuvor in der Völkerschlacht bei Leipzig besiegt worden, und die Ressentiments nationalistischer Romantiker wie etwa Achim von Arnims und  Gelbin (Anm. ), S. .  Thomas T. Tabbert: Die erleuchtete Maschine – Künstliche Menschen in E. T. A. Hoffmanns »Der Sandmann«. Studienausgabe, Hamburg , S.  f.  Cathy S. Gelbin: Was Frankenstein’s Monster Jewish?, in: Publications of the English Goethe Society LXXXII () , S. -, hier S. .  Rohrwasser (Anm. ), S.  f.

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seiner »Deutschen Tischgesellschaft« hatten sich längst auf die verhassten Nutznießer der napoleonischen Emanzipationspolitik verschoben – die Juden. Der moderne Antisemitismus, der sich zu jener Zeit auszuformen beginnt, war eine zutiefst paradoxe, antiaufklärerische und antimoderne Ideologie. Der Sandmann und seine Verpuppungen stehen also weniger für Napoleon, als dass sie die verhasste Moderne in Form seinerzeit leicht dechiffrierbarer Krypto-Judenfiguren metaphorisieren. Darin besteht in Hoffmanns Zeit- und Schaffenskontext ihr Horror für das Publikum. In diesem Zusammenhang ist aber auch noch an die spätere Filmgeschichte zu denken, um auf die lange Tradition dieses Cyborg-Grusel-Skripts bis hinein ins . und . Jahrhundert zu verweisen. Insbesondere sei hier an Fritz Langs und Thea von Harbous Klassiker Metropolis () erinnert, in dem der unheimliche Erschaffer einer artifiziellen verführerischen Frau (wie Olimpia), der Erfinder C. A. Rotwang (gespielt von Rudolf Klein-Rogge), bezeichnenderweise in einem Haus residiert, das nicht nur an ein solches im Prager Ghetto (und damit wieder an den jüdischen Golem-Mythos) erinnert, sondern in dessen Labor über dem Frauen-Roboter auch noch ein stark an den Davidstern erinnerndes kabbalistisches Symbol prangt, das zusätzlich auch noch die Eingangspforte seines Hauses ziert. Ist es wirklich Zufall, dass auch noch über  Jahre nach dem Erscheinen von Hoffmanns Sandmann visuelle Inszenierungen in einem der größten Film-Klassiker der Moderne auftauchen, die einen Erfinder, der die Wissenschaft zum Instrument des Verderbens und der menschlichen Degeneration macht, mit ›judaisierenden‹ Insignien umranken? Oder ist es vielmehr die Folge eines bereits aus dem frühen . Jahrhundert herrührenden kulturellen Codes (Shulamit Volkov) des Antisemitismus, der bestimmte Pathosformeln in der Darstellung jüdischer oder krypto-jüdischer Charaktere hervorbrachte, die im kollektiven Gedächtnis weiter fortbestanden und womöglich sogar bis in unsere  Siehe Brenner/Jersch-Wenzel/Meyer (Anm. ), S. . Mit Blick auf Achim von Arnims und Clemens Brentanos »Deutsche Tischgesellschaft« schreiben die Autoren, dass die Romantiker eine »antikapitalistische, der vorindustriellen Welt zugewandte Grundhaltung mit einer vehementen Abwehr von Modernisierungstendenzen« verbunden hätten, die sie »in der Wirtschaftstätigkeit der Juden verkörpert sahen und als bedrohlich empfanden«. Nach , also zur Zeit der Verfassung des Sandmanns, sei diese antijüdische Kritik »zum eigenständigen Thema der literarisch-politischen Polemik« avanciert (S. ).  Vgl. Arno Meteling: E. T. A. Hoffmanns Wirkung im Film und in der Literatur nach , in: Detlef Kremer (Hrsg.): E. T. A. Hoffmann. Leben, Werk, Wirkung, Berlin/Boston , S. -, hier S. .

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Gegenwart als schlagbildhaftes Zeichen für fürchtenswerte, unheimliche und schauerhafte Machenschaften verstanden werden können (wenn sie vom Publikum heute auch nicht mehr unbedingt als ›Juden‹ interpretiert werden)? Laut Gelbin sind jedenfalls auch populärkulturelle Figuren wie Hulk, Superman und der Terminator als Echos des Golem-Topos eines künstlichen Menschen zu lesen. So viel sollte in dem vorliegenden Beitrag deutlich geworden sein: E. T. A. Hoffmanns Sandmann erscheint aus aktueller Sicht im Blick auf das Emotionalisierungspotenzial des Textes als besonders subtiler Zwischenschritt in der kontinuierlichen Weiterentwicklung der Pathosformeln bzw. einer Affektpoetik des literarischen Antisemitismus. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn man die Emotionalisierungsstrategien der Erzählung im Ensemble des Hoffmann’schen Werkes der Zeit betrachtet, also mit anderen (klandestin-)jüdischen Parallelfiguren wie denen in der Brautwahl, den Elixieren des Teufels und Klein Zaches genannt Zinnober vergleicht und sie zudem konsequenter mit der Frühgeschichte des modernen Antisemitismus kontextualisiert als dies bislang geschehen ist. In ihrer romantischen Versponnenheit ist die Erzählung Der Sandmann nicht vom wachsenden Einfluss komplexer intertextueller Modellierungen des unheimlichen jüdischen Vertrauten bzw. Anderen zur Schwellenzeit des frühen . Jahrhunderts zu trennen. Es ist kein per se antisemitischer Text. Zugleich handelt es sich jedoch um eine Erzählung, die vor allem für die zeitgenössischen Leser des frühen . Jahrhunderts aufgrund der oben untersuchten gebräuchlichen E-Implikaturen und paradigm scenarios ein hohes Potenzial aufgewiesen haben muss, judenfeindliche Lesarten zu triggern. Zugleich wirkte der Erfolg und die Kanonisierung von Hoffmanns Werk damit auf die affektive Evolution des modernen literarischen Antisemitismus zurück und formte sie weiter mit aus. Die spätere Filmgeschichte im . und . Jahrhundert schließlich demonstriert, wie spielend diese erfolgreiche Affektpoetologie eines impliziten literarischen Antisemitismus auf andere Medien übertragbar war und dort (unerkannt) bis heute fortzuwirken vermag.

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Gelbin (Anm. ), S. . Man könnte weitere Cyborg-Figuren hinzunehmen, etwa aus Filmen wie Ridley Scotts Aliens () und Blade Runner () bzw. ihren Sequels wie Scotts Alien: Covenant (), mit Michael Fassbender als völkermordendem, durch die Zeiten und das All reisenden Doppelgänger-Antropoiden namens David . Meteling (Anm. ), S. , verweist neben dem Film The Bride of Frankenstein () auch noch auf die Robocop- und Terminator-Reihen.

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Theorien zur Emotionalität des Antisemitismus

Die geteilten Gefühle des Antisemitismus Prolegomena zu einer Reflexionsgeschichte antijüdischer Emotionen Hans-Joachim Hahn I. Auch wenn der »emotionenhistorische Raum« inzwischen »eingerichtet« erscheint, seine »Möbelstücke stehen«, wie Jan Plamper am Ende seiner Studie Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte selbstbewusst verkündet, so lässt sich das nicht in gleicher Weise für jenes Zimmer behaupten, in dem es um Antisemitismus geht. Immerhin räumt auch Plamper ein, dass es selbstverständlich immer wieder das eine oder andere »Möbelrücken« geben wird, obwohl er am generellen Boom der Emotionsgeschichte keinen Zweifel lässt. Zwar zeugen nicht zuletzt die Arbeiten der in diesem Band versammelten Forscher*innen davon, dass der »emotionale[n] Basis von moderner Judenfeindschaft« zunehmend (wieder) mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Gleichzeitig richtet sich ein großer Teil der Forschung nicht auf die Gefühle des Antisemitismus, sondern auf deren Rationalisierungen, etwa auf Formen antisemitischer Semantik oder deren ideengeschichtliche Ursprünge. David Nirenbergs vielbeachtete Studie Anti-Judaism. The Western Tradition ist dafür ein anschauliches Beispiel, die die Frage in den Vordergrund rückt, auf welche Weise Vorstellungen über das »Judentum« (Judaism) seit  Jahren als Kategorie und Anzahl von Ideen dienen, mit deren Hilfe Nichtjuden ihrer Welt Bedeutung verleihen oder sie kritisieren. Auch Jan Weyand widmet in seiner  erschienenen, wegweisenden Studie der Analyse antisemitischer Gefühle nur am Rande Beachtung. Immerhin verweist er im Zusammenhang mit der Frage von Zugehörigkeiten auf die emotionale Dimension von Gemeinschaftsvorstellungen, d. h. den auch im Antisemitismus bedeutsamen Selbstbildern. Gemeinschaften seien grundsätzlich »prekäre Gebilde«, deren soziale Ordnung  Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 349.  Vgl. Kapitel  der Studie von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im . Jahrhundert, Berlin , S. -.  David Nirenberg: Anti-Judaism. The Western Tradition, New York/London , S. .

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sich durch »Einheitssymbole und Gemeinschaftsregeln« auszeichneten. In Anknüpfung an Émile Durkheim führt Weyand aus, dass Objekte, die die Gemeinschaft repräsentierten, sakralisiert würden und Vergehen an diesen Symbolen als Verletzung der »kollektiven Gefühle« – und damit den die Gemeinschaft als Gemeinschaft konstituierenden Kräften – angesehen und mittels Strafe gerächt würden. Am Schluss der Studie wird die Einsicht in die emotionale Seite des Antisemitismus nochmals aufgegriffen, wenn es heißt: »Da […] Antisemitismus nicht nur ein kognitives Muster der Weltdeutung ist, sondern für Antisemiten identitätsrelevant ist, d. h. dieser sich im Selbstbild normativ und emotional in einer WirGruppe verortet, bleiben Argumente fruchtlos.« Emotionen kommen in dieser Perspektive als Teil der antisemitischen Selbstbildbestimmung in den Blick und dienen als Erklärung, warum kognitive Aufklärung – der zwanglose Zwang des besseren Arguments – sinnlos bleiben muss. Im Umgang mit Antisemiten werden daher politische und repressive Maßnahmen empfohlen: »Soziale Ächtung heißt deshalb: Öffentliche Widerrede, Ausgrenzung und staatliche Repression, also Antisemiten mit den gleichen Mitteln zu begegnen, mit denen diese Juden begegnen.« Schon der schwedische Historiker und Zionist Hugo Valentin () formulierte in seiner Studie Antisemitism i historisk och kritisk belysning (), in dt. Übersetzung unter dem Titel Antisemitenspiegel () erschienen, ganz ähnlich: »Es ist […] nicht möglich, den Antisemitismus durch Verbreitung von Aufklärungsliteratur auszurotten. Leidenschaften lassen sich nicht durch statistische Ziffern dämpfen.« Man könne zwar antisemitische Behauptungen widerlegen, »aber man kann damit nicht den tiefsten Urgrund, das Unterbewußte, aus dem der Haß genährt wird, erreichen«. Zumindest in diesem wiederkehrenden Erklärungsmuster, warum Aufklärung gegen Antisemitismus kaum Erfolg beschieden sei, ist der Hinweis auf die emotionale Basis des Antisemitismus fest verankert. In der Antisemitismusforschung ist heute kaum grundsätzlich umstritten, dass »tief verwurzelte, gegen Juden gerichtete, ›feindliche Gefühle‹ – vor allem Neid, Wut, Ekel, Abscheu, Verachtung – nicht erst seit  […] ein[en] zentrale[n] Aspekt des Judenhasses« ausmachen,  Jan Weyand: Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation des deutschsprachigen Diskurses, Göttingen , S. .  Weyand, Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus, S. .  Ebd., S. .  Hugo Valentin: Antisemitenspiegel. Der Antisemitismus. Geschichte, Kritik, Soziologie, aus dem Schwedischen übersetzt von Hans Hellwig, Wien , S. .

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wie Uffa Jensen und Stefanie Schüler-Springorum in ihrem, für unsere Fragestellung grundlegenden Aufsatz vor ein paar Jahren schrieben. Ebenso offensichtlich dürfte die Bedeutung von positiven Gefühlen im Hinblick auf die im Antisemitismus konstruierten, jeweiligen – zumeist nationalen – Wir-Gruppen weithin auf Anerkennung stoßen, ohne dass der genaueren Erforschung dieser Gefühle in gegenwärtigen Forschungsarbeiten zum Antisemitismus allerdings besonders viel Gewicht beigemessen würde. So verdanke Götz Alys reißerische Schrift Warum die Deutschen? Warum die Juden? seinen »argumentativen, […] nicht unproblematischen Furor« vor allem dem Hinweis »auf die große Leerstelle fast aller bisherigen Erklärungsversuche […]: auf die Wucht der Emotionen«, vermuten Jensen und Schüler-Springorum. Diese »große Leerstelle« vermag allerdings vor dem Hintergrund der früheren Forschung zum Antisemitismus durchaus zu erstaunen. Zum einen stießen wir – d. h. die Autorinnen und Autoren des von Olaf Kistenmacher und mir  veröffentlichten Sammelbandes Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor  – in unserer mehrjährigen Beschäftigung mit diesen frühen »Beschreibungsversuchen« (gemeint sind damit nicht immer wissenschaftliche Formen der Analyse sensu stricto), in denen der moderne Antisemitismus seit der Aufklärung analysiert wurde, auf ein weitgehend abgebrochenes wissenschaftliches Feld, das zeitlich vor dem von Werner Bergmann bezeichneten »starke[n] Auftakt« der Antisemitismusforschung während der Mitte des . Jahrhunderts liegt. Zum anderen stellte gerade die Diskussion von Emotionen in vielen dieser frühen Texte der Antisemitismusforschung einen zentralen Gegenstand dar, worauf ich unten anhand von exemplarischen Beispielen  Uffa Jensen/Stefanie Schüler-Springorum: Antisemitismus und Emotionen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte - (): http://www.bpb.de/apuz// antisemitismus-und-emotionen?p=all (letzter Zugriff: ..).  Zur Rolle des Selbstbilds im Antisemitismus siehe auch Klaus Holz: Die antisemitische Konstruktion des »Dritten« und die nationale Ordnung der Welt, in: »Das ›bewegliche‹ Vorurteil«. Aspekte des internationalen Antisemitismus, hrsg. von Christina von Braun, Würzburg , S. -.  Jensen/Schüler-Springorum (Anm. ).  Vgl. Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hrsg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor  (=Europäisch-jüdische Studien Beiträge, Bd. ), Berlin u. a. .  erschien ein zweiter Band: Dies. (Hrsg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II . Antisemitismus in Text und Bild – Zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz (=Europäisch-jüdische Studien Beiträge, Bd. ), Berlin u. a. .  Zit. nach Jensen/Schüler-Springorum (Anm. ).

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eingehen werde. In Jean-Paul Sartres Réflexions sur la question juive, die noch den Antisemitismus vor dem Holocaust reflektieren – Sartre schrieb seinen Essay im Jahr  im Hinblick auf den Antisemitismus in der französischen Gesellschaft, er wurde aber erst von der späteren Antisemitismusforschung rezipiert –, findet sich eine intensive Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus als einer Leidenschaft. Diese Ausführungen lohnen eine eingehendere Betrachtung: Ich habe vorhin bemerkt, der Antisemitismus stelle sich als eine Leidenschaft dar. Jeder hat verstanden, daß es sich um einen Haßoder Wuteffekt handelt. Doch gewöhnlich werden Haß und Wut hervorgerufen: Ich hasse den, der mir Leid zugefügt hat, der mich herausfordert oder mich beleidigt. Wir sahen, daß die antisemitische Leidenschaft keinen solchen Charakter hat: sie geht den Tatsachen voraus, die sie entstehen lassen müßten, sie sucht sie, um sich von ihnen zu nähren, sie muß sie sogar auf ihre Weise interpretieren, damit sie wirklich beleidigend werden. Wenn Sie mit dem Antisemiten über den Juden sprechen, zeigt er dennoch alle Anzeichen einer heftigen Erregung. Wenn wir ferner daran denken, daß wir uns auf eine Wut immer einlassen müssen, damit sie sich äußern kann, daß man, wie es so richtig heißt, sich in Wut versetzt, müssen wir zugeben, daß der Antisemit gewählt hat, im Modus der Leidenschaft zu leben. […] Da der Antisemit den Haß gewählt hat, müssen wir schließen, daß er den leidenschaftlichen Zustand liebt. Zunächst fällt an diesen Ausführungen Sartres die Verbindung emotionswissenschaftlicher Betrachtungen mit seiner Existenzphilosophie und dem Moment der »Wahl« auf. Weit bemerkenswerter als die Unterordnung dieser Beobachtungen unter seine existenzphilosophischen Vorannahmen, erscheinen mir jedoch die Beobachtungen selbst. Bereits die konstatierte Erregung des Antisemiten sowie die generelle Schlussfolgerung, dass der typologisierte Antisemit den »leidenschaftlichen Zustand« liebe – und dieser offenbar trotz der negativen Vorzeichen vom »Antisemiten« begehrt werde –, enthält grundsätzliche Einsichten, die für die gegenwärtige Emotionsforschung relevant bleiben. Zunächst konstatiert Sartre die merkwürdige Umkehrung, die darin besteht, dass der Hass und die Wut »des Antisemiten«, wie er schreibt, den »Tatsachen« vorausgehen, die sie, der antisemitischen Behauptung nach, begründen sollen.

 Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage [], aus dem Französischen übersetzt von Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg , S.  f.

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Mit anderen Worten, die antisemitische Phantasmagorie dient der Begründung einer (begehrten) Leidenschaft. Im Unterschied zu Sartre interessiere ich mich vor allem für Emotionen als Teil von Gruppenleidenschaften. Dabei gehe ich davon aus, dass es sich bei den Emotionen des Antisemitismus um kollektiv geteilte Gefühle handelt, also sozial geprägte und wirksame Affekte, was ich aus der soziologischen Moralforschung ebenso wie aus den Untersuchungen zur NS -Moral von Raphael Gross und Werner Konitzer übernehme. Geteilte Gefühle, seien sie aversiver, positiver oder grundsätzlich ambivalenter Art, sind zugleich eng mit den moralischen Regeln einer Gesellschaft, Gruppe oder Gemeinschaft verbunden. Der Soziologe Karl Otto Hondrich bezeichnet die »[g]eteilte[n] moralische[n] Gefühle oder Regeln und die aus ihnen entstehenden Spannungen« als »die stärkste Kraft des sozialen Lebens (stärker als geteilte Güter, Kapitalien, Machtlagen)«. Dabei vertritt er jedoch die Auffassung, dass nur »[w]enige grundlegende moralische Regeln« universal gültig seien, also tatsächlich von allen geteilt würden. Vor allem gelte: »Viele moralische Gefühle werden von wenigen geteilt; sie sind kulturell, national, familial verschieden.« Fortwährend teilten wir, »unweigerlich und meist unbewußt und ungewollt«, »die Welt in Zugehörige und Ausgeschlossene«. Geteilte Gefühle bilden insofern einen grundlegenden Aspekt von Gemeinschaften und Gesellschaften, sie stellen so etwas wie den gesellschaftlichen »Kitt« her, die sozialen Bindekräfte, die ebenso in kleineren Gemeinschaften wirksam sind. Auch im Antisemitismus sind nicht nur »feindliche Gefühle« als geteilte wirksam, sondern auch positive Selbstbeschreibungen, die sich auf das dem antisemitischen Feindbild entgegengesetzte Selbstbild bzw. zum Teil auch auf das Fremdbild beziehen. Raphael Gross interessiert sich in seiner ideen- und philosophiegeschichtlichen Forschung zur NS -Moral für den »Zusammenhang zwischen im Nationalsozialismus eingeübten und geteilten moralischen Urteilsformen und denjenigen, die teilweise bis in die Gegenwart hinein« zu beobachten sind. Diesen Zusammenhang begründet er mit  Zur Figur der Gefühlsambivalenz vgl. Uffa Jensen: Freuds unheimliche Gefühle. Zur Rolle von Emotionen in der Freudschen Psychoanalyse, in: Ders./Daniel Morat (Hrsg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen -, München , S. -.  Karl Otto Hondrich: Der Neue Mensch, Frankfurt am Main , S. -, hier S. .  Ebd.  Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt am Main , S.  f.

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einem Argument aus dem Feld der Generationenforschung. So äußerten sich in den vergangenheitspolitischen Debatten in der Bundesrepublik Deutschland – die Kontroverse um Martin Walsers Paulskirchenrede bildete den Ausgangspunkt von Gross’ und Konitzers Interesse an der NS -Moral – oftmals »Persönlichkeiten, die ihre prägenden Kindheitsund Jugendjahre während der NS -Zeit verlebt hatten, und benutzten moralische Begriffe – insbesondere den der Schande –« genau so, wie sie Gross »aus vielen nationalsozialistischen Quellen vertraut war [sic]«. Gesellschaftlich geteilte Gefühle sind für Gross moralische Gefühle. Eine an Freuds psychoanalytische Theorie anknüpfende Darstellung, wie sich im Lachen ein antisemitisches Kollektiv bildet, findet sich in den Elementen des Antisemitismus in Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung: »Indem der Zivilisierte die versagte Regung durch seine unbedingte Identifikation mit der versagenden Instanz desinfiziert, wird sie durchgelassen. Wenn sie die Schwelle passiert, stellt Lachen sich ein. Das ist das Schema der antisemitischen Reaktionsweise.« Ein verbotener Affekt wird durch die Identifizierung mit der ihn verbietenden psychischen Instanz zugelassen. »Um den Augenblick der autoritären Freigabe des Verbotenen zu zelebrieren, versammeln sich die Antisemiten, er allein macht sie zum Kollektiv, er konstituiert die Gemeinschaft der Artgenossen. Ihr Getöse ist das organisierte Gelächter.« Eingehen werde ich im Folgenden, wenn auch jeweils nur kursorisch, auf Heinrich Graf Coudenhove-Kalergis Das Wesen des Antisemitismus, eine Aufklärungsschrift, die erstmals  publiziert wurde, die Schrift Antisemitismus nach dem Weltkrieg von seinem Sohn Richard N. Coudenhove-Kalergi, Constantin Brunners Der Judenhass und die Juden, ein umfangreicher Text, der schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben wurde, wegen Papiermangels allerdings erst  erscheinen konnte, Arnold Zweigs Studie Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus, die  zuerst veröffentlicht wurde, sowie Joshua Trachtenbergs The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and Its Relation to Modern Anti-Semitism aus dem Jahr . Die Auswahl folgt keiner strengen Systematik und hätte auch anders getroffen werden können, denn der stärkere Einbezug der emotionalen Basis des Antisemitismus  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Elemente des Antisemitismus, in: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main , S. -, hier S. .

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scheint mir eine generelle Gemeinsamkeit dieser frühen Reflexionen. Auch wenn sicherlich einige dieser Arbeiten mindestens in Teilen wissenschaftlich überholt sind, lässt sich in ihnen doch so etwas wie eine noch genauer zu rekonstruierende Reflexionsgeschichte antijüdischer Gefühle wahrnehmen, deren Kenntnis mir auch für die gegenwärtige Erforschung der Emotionen des Antisemitismus hilfreich erscheint. So bleibt etwa zu fragen, ob die Verschiebung des Erkenntnisinteresses weg von einer Analyse der starken Affekte der modernen Judenfeindschaft hin zu ihrer Semantik auch historische Gründe hat und nicht zuletzt aus der Shoah herrührt. II. Beginnen möchte ich mit einer populärkulturellen Darstellung, die einen ungewöhnlichen Blick auf geteilte Gefühle wirft. Und zwar auf solche im Nationalsozialismus und zugleich solche in einer westlichen Demokratie, die als Selbstbild gegenüber dem Fremdbild nationalsozialistischer Emotionen aufgerufen werden. Ohne Zweifel beruhte die Herrschaft des Nationalsozialismus »auf überaus starken Emotionen«, was richtig bleibt, auch wenn u. a. Ernst Nolte diese Ansicht vertritt, der weiter ausführt, »daß diese Emotionen einen negativen und abwehrenden Charakter hatten, daß bestimmte Erfahrungen für diese Emotionen maßgebend waren und daß alle ›weltanschaulichen‹ Aussagen mit diesen Erfahrungen und Emotionen aufs engste verknüpft waren«. Dass es allerdings keineswegs nur um negative Emotionen ging, sondern mindestens ebenso um positive, die eine Selbstaffirmation der nationalen deutschen Wir-Gruppe betrafen, reflektiert interessanterweise ein Zeichentrickfilm, der den Nationalsozialismus als Emotionsregime präsentiert.

 Der Nachweis bleibt weiteren Forschungen überlassen.  Ernst Nolte: Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus, Berlin/Frankfurt am Main , S. .  Zum Zusammenhang von Antisemitismus und der Bestätigung der deutschen nationalen Wir-Gruppe vgl. Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg . Wie sehr Antisemitismus als »one of the premier sense making systems« während des Nationalsozialismus zur Mobilisierung unterschiedlicher gruppenaffirmativer Ziele diente, u. a. auch zur Etablierung einer konservativen Sexualmoral, hat etwa Dagmar Herzog gezeigt. Vgl. Dagmar Herzog: Hubris and Hypocrisy, Incitement and Disavowal: Sexuality and German Fascism, in: Dies. (Hrsg.): Sexuality and German Fascism, New York/ Oxford , S. -, hier S. .

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Am . August  kam der animierte Propagandafilm Reason & Emotion aus den Walt Disney Studios in die US -amerikanischen Kinos. Es handelt sich um den dritten Film einer von Readers Digest finanzierten Reihe, bei dem Bill Roberts Regie führte und der auf dem Buch War, Politics and Emotion basierte. Darin wird zwar Antisemitismus nicht direkt thematisiert, implizit aber über die Zurückweisung der »phoney racial theories« (erfundenen Rassentheorien) des Nationalsozialismus immerhin angesprochen. Vorgeführt wird der Nationalsozialismus als ein im Wesentlichen auf Emotionen und deren systematischer Mobilisierung beruhendes Gewaltregime. Zur Besonderheit des Films gehört, dass er die Aufklärung über Emotionalisierungsstrategien des Nationalsozialismus mit einer Rhetorik verbindet, die auf die kognitive und emotionale Überzeugung seiner Rezipient*innen zielt, nämlich, den Krieg gegen Nazideutschland als vernünftige ebenso wie die Gefühle einbeziehende Maßnahme zur Verteidigung des eigenen freien Lebens wahrzunehmen. In einer solcherart »wehrhaften Demokratie« muss sich die personifizierte Emotion der ebenfalls anthropomorphisierten Vernunftinstanz unterordnen, um auf deren Seite für ein Gleichgewicht im Gefühlshaushalt zu sorgen. Der für die hier entwickelten Überlegungen maßgebliche Ausschnitt beginnt ab der Minute . des Films. Vorgeführt wird, wie Hitler über die vier Emotionen Furcht, Sympathie, Stolz und Hass die deutsche Bevölkerung manipuliert und für sein Zerstörungswerk instrumentalisiert. Analytisch von Interesse erscheint dabei, dass zwei aversiven Emotionen (Hass, Furcht) zwei positive (Sympathie, Stolz) an die Seite gestellt sind. Die Aggression wird externalisiert, auf äußere und innere Feinde gerichtet, und dient zusammen mit den positiven Gefühlen der Etablierung eines kollektiven Selbstbildes. In einem längeren Erzählerkommentar, einer männlichen Stimme aus dem Off, wird diese Herrschaftsform als die einer »mad emotion« beschrieben, die jeglicher Vernunft beraubt wurde. Ihr gegenüber wird das Szenario eines anderen Affektregimes entworfen, in dem die Emotion nicht »verrückt« (mad) spielt, sondern eine konstruktive Funktion erfüllen soll: Reason has been enslaved while emotion is the master. A mad emotion, stripped of all reason, leaving nothing but ruin in its way. So you fellows, for us, there is but one answer: You reason, your job is to  John Baxter: Disney During World War II . How the Walt Disney Studios Contributes to Victory in the War, New York/Los Angeles , S. .  Der Film kann im Internet über den Videochannel YouTube aufgerufen werden. Unter: https://www.youtube.com/watch?v=nvpzAP raF (letzter Zugriff: ..).

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think, to plan, to discriminate. And you, emotion, to be a fine strong emotion that loves his country, his freedom, his life. And together you must be grimly determined to fight against all odds. With reason firmly on the driver’s seat handling the controls along the difficult course to victory and with emotion by its side. We will go on and do the job we’ve set up to do. And we will do it right. Während der personifizierten Vernunft innerhalb dieses vom Filmnarrativ affirmierten Affektregimes die Aufgabe zukommt nachzudenken, zu planen und die Entscheidungen zu treffen, kommt der verkörperten Emotion die Aufgabe zu, das Leben, die Freiheit und zudem das »Land« (country), die US -amerikanische Nation, zu lieben. Die eigene Emotionalisierungsstrategie dieses Films zielt also darauf, im Gegensatz zur »mad emotion« des nationalsozialistischen Diktators und des von ihm verkörperten Herrschaftssystems eine gesunde Emotion zu postulieren. Diese folgt im Setting der im Film verfolgten Propagandaabsicht einem normativen Idealbild von Affektkontrolle, bei der sich die für Leben, Freiheit und Vaterland einstehende Emotion den vernünftigen Anweisungen des Verstands unterordnet. Zugleich wird die Emotion schon deshalb benötigt, um das Plädoyer für das bessere Gesellschaftsmodell (Demokratie, Rechtsstaat) mit den Mitteln kulturindustrieller Emotionalisierung insbesondere als ganzheitliche Überzeugungsstrategie einsetzen zu können. Dass der Film dabei die als emotional gesteuert klassifizierten Verhaltensweisen im Sinne stereotyper Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit deutet, sei nur am Rande bemerkt. So werden die ›Steuerungszentralen‹ in den Köpfen eines Mannes und einer Frau unterschiedlich dargestellt und mit jeweils stereotyp als weiblich oder männlich kodierten Figuren besetzt; während der affektive Kontrollverlust beim Mann am Beispiel eines sexuellen Übergriffs (unsittliche Berührung einer unbekannten Frau) dargestellt wird, erscheint der Kontrollverlust der Frau am Beispiel einer Fressattacke. Entscheidend bleibt,  In deutscher Übersetzung [von mir; HJH ] liest sich der Erzählerkommentar wie folgt: »Die Vernunft wurde versklavt, während die Emotion der Herrscher ist. Eine wahnsinnige Emotion, von jeglichem Verstand verlassen, die auf ihrem Weg nichts als Zerstörung hinterlässt. So, Kameraden, für uns gibt es nur eine Antwort: Du, Vernunft, dein Job ist es zu denken, zu planen und Unterscheidungen zu machen (to discriminate). Und du, Emotion, du sollst eine ausgezeichnete, starke Emotion sein, die ihr Land liebt, ihre Freiheit, ihr Leben. Und zusammen sollt ihr eisern entschlossen sein, gegen alle Widerstände zu kämpfen. Mit der Vernunft fest auf dem Fahrersitz, die die Steuerung behält auf dem schwierigen Weg zum Sieg und mit der Emotion an ihrer Seite. Wir werden fortfahren und die Arbeit erledigen, die wir tun müssen. Und wir werden sie richtig machen.«

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dass der Film mit emotionalen und reflexiven Mitteln darauf abzielt, ein bestimmtes, gesellschaftlich gewünschtes, als vernünftig dargestelltes Verhalten und Handeln zu provozieren, in das Verstand und Emotionen einbezogen sind. Vertreten wird hier im Grunde bereits eine Position emotionaler Intelligenz. Der Film selbst postuliert also bestimmte sozial geteilte Gefühle, die im Einklang mit der Vernunft stehen sollen, als wünschenswert, die im Gegensatz zur mad emotion des NS und seiner »phoney racial theories« im wörtlichen Sinne Gestalt annehmen. III. Im selben Jahr, in dem der Zeichentrickfilm Reason & Emotion in den US -amerikanischen Kinos lief, erschien Joshua Trachtenbergs heute kaum noch bekannte Studie The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Antisemitism. Trachtenberg stellt die »versteckten emotionalen Wurzeln« als Schlüssel zum Verständnis sowohl des mittelalterlichen Judenhasses als auch des modernen Antisemitismus dar: »All our wrestling with the rationalizations is pointless effort until we uncover the hidden emotional roots from which illogic and untruth acquire the color of truth and meaning.« Trachtenberg bezieht sich auf Maurice Samuels bereits drei Jahre zuvor erschienene Studie The Great Hatred, die Ansätze einer frühen Analyse des nationalsozialistischen Antisemitismus enthält. Samuel wiederum unterscheidet »anti-Jewishness« von Antisemitismus ausdrücklich anhand der Emotionen, die beide Formen antijüdischer Manifestationen begleiten. Während Anti-Jewishness von »feelings of distaste, distrust, and perhaps contempt« bestimmt sei, zeichne sich Antisemitismus durch »fear, convulsive horror (›the horrors‹, in fact) and vast delusions of persecution« aus. Samuel führt zwei Stellen aus Hitlers Mein Kampf an, von denen die erste gewöhnliche Judenfeindschaft (Anti-Jewishness) repräsentiere, während die zweite für eine »mad disparity« stehe, die sonst in keiner an-

 Vgl. dazu den populärwissenschaftlichen Bestseller von Daniel Goleman: Emotionale Intelligenz, aus dem Englischen von Friedrich Griese, München .  Joshua Trachtenberg: The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Antisemitism []. Foreword by Marc Saperstein, Philadelphia , S. .  Maurice Samuel: The Great Hatred [] (= Brown Classics in Judaica), Reprint, Lanham , S. .  Ebd.

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deren Form von Gruppenfeindlichkeit anzutreffen sei. Antisemitismus, so Samuels These, sei der Ausdruck eines verborgenen Hasses innerhalb der Christenheit, »rising to a new and catastrophic level in the western world«. Es sei deshalb sinnlos, den Antisemitismus in dem Sinne als anti-christlich zu bezeichnen, dass er gegen die wichtigsten Prinzipien des Christentums verstoße und von daher einfach unchristlich sei. Samuel scheint dabei an die zeitgenössischen christlichen Kirchenleitungen zu denken. Vielmehr sei der Antisemitismus der Ausdruck einer Bewegung, die die christliche Epoche in der Menschheitsgeschichte zu einem Ende bringen wolle: »While all other forms of hatred are lapses from Christian practice, anti-Semitism is the conspiratorial, implacable campaign against Christ the Jew.« Das entscheidende Argument von Samuel lautet, dass die Christen die »massenhaften Hassreden und Gewalttätigkeiten« gegen Juden gerade deshalb tolerierten, weil Christus ein Jude war. Seine Kritik richtet sich daher gegen die christlichen Kirchenleitungen, weil sie deren Komplizenschaft mit den Antisemiten verleugneten: »If the Church were to proclaim that anti-Semitic Christians have a mad fear of Christ the Jew, if the issue were pushed to this showdown, the anti-Semites might drop not their anti-Semitism but their ostensible allegiance to Christianity.« Auch Trachtenberg setzt zur Erklärung des gegenwärtigen nationalsozialistischen Antisemitismus beim Christentum und dessen Ambivalenzen gegenüber der Vorgängerreligion an. Sein Fokus allerdings ist ein anderer und seine Analyse richtet sich auf die historischen Ursprünge christlicher Dämonisierung von Jüdinnen und Juden im Mittelalter. Grundsätzlich räumt er ein, dass ein Verständnis der mittelalterlichen christlichen Einstellungen gegenüber Jüdinnen und Juden natürlich komplex sei und zählt eine Reihe von Faktoren auf, die dabei zu beachten seien: die vom Neuen Testament begründete antijüdische Tradition; die dogmatische Feindschaft der Kirche, die innerhalb dessen, was im Kern eine »totalitäre Zivilisation« (»totalitarian civilisation«) darstellte, also die christliche Gesellschaftsordnung im Mittelalter, noch von der religiösen und kulturellen Nonkonformität der Juden unterstrichen worden sei; die ökonomische Rivalität von Juden und Christen etc. Ohne die Bedeutung dieser Faktoren zu leugnen, hebt er gleichwohl die Bedeutung des emotionalen Aspekts hervor:     

Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. .

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The most vivid impression to be gained from a reading of medieval allusions to the Jew is of a hatred so vast and abysmal, so intense, that it leaves one gasping for comprehension. The unending piling of vile epithets [widerwärtige Beiwörter; HJH ] and accusations and curses, the consistent representation of the Jew as the epitome of everything evil and abominable, for whom in particular the unbounded scorn and contumely of the Christian world were reserved, must convince the most casual student that we are dealing here with a fanaticism altogether subjective and nonrational. An dieser Stelle erwähnt Trachtenberg den Einwand, dass der in mittelalterlichen Quellen beschriebene Judenhass sich oftmals auf objektive Gegebenheiten (»objective grounds«) beziehe. Allerdings zwinge die Unverhältnismäßigkeit der Reaktionen gegenüber den angegebenen Ursachen dazu, genauer nach den Gründen für die emotionale Befangenheit der mittelalterlichen Christinnen und Christen gegenüber den Jüdinnen und Juden zu forschen: [B]ut the intensity of the reaction is so disproportionate to the reason given that we are forced to pry deeper for the source of the emotional bias which made it possible for the Middle Ages to believe anything and everything reprehensible concerning the Jew, no matter how wild and fantastic the charge, and which led to such passionate outbursts of violence against him. Dabei entdeckt Trachtenberg die zentrale Bedeutung der aus den christlichen Schriften abgeleiteten Vorstellungen über Jüdinnen und Juden. Von der offiziellen Kirchenpolitik unterstützt, von all ihren Organen der populären Unterweisung aktiv propagiert, zusätzlich durch Erlasse der säkularen und kirchlichen Behörden autorisiert, sei das aus der Literatur hervorgetretene Judenbild zu einer der grundlegendsten Überzeugungen des Mittelalters geworden, zu einer Überzeugung, »that aroused deepseated and unreasoning hatred, and from which all the individual specific charges derived their capacity to evoke the venom (Bosheit, Gift, Gehässigkeit) of the masses«. Woher aber stamme diese Überzeugung, dass die Juden von einem »Geist der Perversität und Starrköpfigkeit« besessen seien, von dem das mittelalterliche Bewusstsein überzeugt gewesen sei? Und wie konnte es möglich sein, dass die – in der Wahrnehmung der mittelalterlichen Christen – den Jüdinnen und Juden zugeschriebene  Trachtenberg (Anm. ), S. .  Ebd.  Ebd., S. .

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Psychologie das Gegenteil aller menschlichen Erfahrung darstellte? Im Zentrum von Trachtenbergs Darstellung steht die im Titel seiner Studie bereits angedeutete Antwort: Juden wurden als »devil’s creature« angesehen und damit als unmenschlich kategorisiert. Darin sieht er den ungeheuerlichen Hass begründet: »And against such a foe no well of hatred was too deep, no war of extermination effective enough until the world was rid of his menace.« Jean Delumeau hat in seiner Studie Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des . bis . Jahrhunderts gezeigt, dass kollektive Ängste als eine Ursache extremer Feindbilder, nicht nur des Judenhasses, anzusehen seien. Er zeigt, dass die hochmittelalterliche Kirche in Antwort auf eine »tiefgreifende seelische Erschütterung« infolge von Aggressionen, denen sich die Bewohner des damaligen Europas zwischen  und dem Beginn des . Jahrhunderts ausgesetzt sahen, Feindbilder entwarf. Die »spontanen Ängste« wurden so zu »überlegten Ängste[n]«, als die Delumeau solche bezeichnet, »die einer Fragestellung über das Unglück entsprangen, die von den geistigen Führern des Kollektivs, also vor allem von der Kirche, formuliert wurden«. Als Feind der Menschen »entlarvte« die Kirche dann »Türken, Juden, Ketzer und Frauen (insbesondere die Hexen)« als Figurationen des Antichristen. Insofern lässt sich ebenso schlüssig argumentieren, dass zunächst Angst und Hass entstehen, deren Rationalisierung die verschiedenen Feindbilder hervorbringt. Bemerkenswert an Trachtenbergs Studie ist, wie er die im Zentrum seiner Argumentation stehende, im christlichen Mittelalter entwickelte antijüdische Phantasmagorie der Juden als »devil’s creature« vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung – der Genozid war längst in vollem Gange – auf den modernen Antisemitismus bezieht. Schon Jahrzehnte vor David Nirenberg erinnert Trachtenberg daran, dass zwischen der christlichen Dämonisierung alles Jüdischen im Mittelalter, der christlich geprägten westlichen Zivilisation und dem modernen Antisemitismus ein Zusammenhang besteht. Daran, dass es sich dabei gleichwohl nicht einfach um denselben, ›ewigen‹ Antisemitismus handelt, lässt er jedoch keinen Zweifel. Einen grundlegenden Unter Ebd., S. .  Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des . bis . Jahrhunderts, Bd. , aus dem Französischen übersetzt von Monika Hübner, Gabriele Konder und Martina Roters-Burck, Reinbek bei Hamburg , S. .  Ebd., S. .  Ebd., S. .

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schied erkennt er nicht zuletzt im Umgang mit dem emotionalen Kern des Antisemitismus: »The magic of words has transmuted a pernicious medieval superstition into an even more debasing and corrosive modern superstition. Antisemitism today is ›scientific‹.« Über diese »Maske« des Antisemitismus macht sich Trachtenberg lustig. Seine conclusio hält die paradoxe Differenz zwischen antisemitischer Selbstbeschreibung und dem aus der christlichen antijüdischen Tradition, dem Religionshass des Mittelalters, tradierten affektiven Kern pointiert fest: »To the modern antisemite, of whatever persuasion (Überzeugung), the Jew has become the international communist or the international banker, or better, both. But his aim still is to destroy Christendom, to conquer the world and enslave it to his own – and the word is inescapable – devilish ends.« Schon in einer der ersten Studien über den Antisemitismus, in Das Wesen des Antisemitismus [], gelangt Heinrich Graf Coudenhove-Calergi zu dem Schluss, dass der Antisemitismus im Kern nichts anderes sei »als fanatischer Religionshaß«. Auch in Aurel Kolnais phänomenologischem Essay »Versuch über den Haß« aus dem Jahr  findet sich ein Hinweis auf die zentrale Bedeutung des religiösen Hasses für andere moderne Hassphänomene: »Wenn man bedenkt, daß wohl kein Haß jemals glühender und weltbewegender war als der Religionshaß, so wird man die Vermutung nicht allzu absonderlich finden, daß jeder echte Haß einen Splitter von Religionshaß in sich birgt.« Aurel Kolnai, der  als Aurél Stein in Budapest geboren wurde, emigrierte nach dem Ersten Weltkrieg als einer von zahlreichen ungarisch-jüdischen Intellektuellen nach Deutschland, wo er  unter dem Einfluss der Lektüre von Gilbert Keith Chestertons Texten zum Katholizismus konvertierte. Auch sein Hauptwerk, The War Against The West (), das  in deutscher Übersetzung von Wolfgang Bialas herausgegeben und eingeleitet wurde, ist geprägt von Kolnais »Interesse an der Analyse moralischer Gefühle«, wie Gross schreibt, der sich wie Uffa Jensen und Stefanie Schüler-Springorum auf Kolnai bezieht. Gross ist es auch, der mit zwei Zitaten aus  Trachtenberg (Anm. ), S. .  Ebd., S.  f. In dieser Formulierung der Zielsetzung des Antisemitismus zeigt sich der enge Bezug zu Maurice Samuels Studie.  Heinrich Graf Coudenhove-Calergi: Das Wesen des Antisemitismus, eingeleitet durch »Antisemitismus nach dem Weltkrieg« von R. N. Coudenhove-Calergi, Leipzig/Wien , S. .  Aurel Kolnai: Ekel Hochmut Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Mit einem Nachwort von Axel Honneth, Frankfurt am Main , S. -, S. .  Allerdings schlägt sich das in dem Kapitel »Die Bedeutung des Antijudaismus« (VIII ., , S. -) in Kolnais Studie nur bedingt nieder. Siehe S. : »Zu Recht oder Unrecht mag man die Juden für vieles hassen. Insofern der Hass auf sie von

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Kolnais Essay aufzeigt, wie dort Hass als von anderen Emotionen grundlegend unterschieden dargestellt ist. Zum einen fragt Kolnai: »Wieweit wird im Hasse die Vernichtung des Gegenstands gewollt?« Um darauf zu antworten: »Ausschaltung, Verbannung, Zugrunderichten, Tötung, metaphysische Entweihung des Gegners – etwa Vereitlung seiner ordnungsgemäßen Beisetzung – liegen in der Linie des haßerfüllten Willens.« Der Hass ergreift von der Person Besitz: »Haß ist ein historischer Aspekt des Menschenlebens – wie Geburtsumstände, Charakter, Bekehrung, Leidenschaft, Liebe, Werk, Krankheit.« Die Beobachtung, dass sich der Hass auch »gegen unpersönliche geistige Mächte« richten könne, ohne dass dies als persönlicher Hass gegen einzelne Träger einer solchen Strömung gedeutet werden müsse, exemplifiziert Kolnai am Katholizismus, dem Bolschewismus sowie auch am Klassizismus. Antisemitismus ist zwar nicht Kolnais Gegenstand, dennoch lässt sich diese Feststellung direkt auf ihn beziehen. Es geht um keinen persönlichen Hass, sondern um einen, der unterschiedslos alle Träger der Strömung treffen soll. Auch Constantin Brunner,  als Leo Wertheimer in Altona geboren, rückt in Der Judenhaß und die Juden () die Emotion Hass am Antisemitismus in den Vordergrund. Brunner zähle zwar neben der Rassentheorie auch eine Reihe anderer historischer Gründe für den Antisemitismus auf, halte jedoch einen »angeborenen psychologischen Mechanismus« für entscheidend, schreibt Jürgen Stenzel. So seien Vorurteil und Hass gegen die Juden für Brunner »nur ein besonderer Fall des allgemein unter den Menschen herrschenden Vorurteilens und Hassens«. Der Titel von Brunners Studie unterstreicht bereits seinen sprachpolitischen Ansatz, der darauf abzielt, die begriffliche Verschleierung der zentralen emotionalen Beweggründe des Antisemitismus aufzudecken. Insofern fordert er: »Weg mit dem Wort Antisemitismus. Das klingt ja wie einer von unsren schlechtgebildeten wissenschaftlichen Terminis [sic] und ist geeignet, schwächere Gemüter zu verwirren. Hier ist eine Sache, die nichts mit Wissenschaft, alles nur mit dem Affekt zu politischer Reaktion genährt und ausgenutzt wird, handelt es sich um Hass auf ein Volk, von dem man aufgrund einer Reihe religiöser und politischer Tatsachen annimmt, dass es gewaltsame und hartnäckige Angriffe auf die Säulen ungerechtfertigter Macht und Ungleichheit sowie auf die Vorurteile unternimmt, die deren Schutz dienen sollen. Bei einem Christen, der Juden verfolgt, handelt es sich in Wahrheit um den Nichtjuden, der den Christen in seiner Mitte verfolgt.«  Kolnai (Anm. ), S. .  Ebd., S. .  Jürgen Stenzel: »Die Schlechten sind anders – die Andern sind schlecht!« Constantin Brunners Antisemitismustheorie, in: Hahn/Kistenmacher (Anm. ), S. -, hier S. .

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schaffen hat. Darum statt Antisemitismus: Judenhaß!« Brunner bezieht sich dabei auf Baruch de Spinozas Affektenlehre, aus dessen Ethik er zwei ausführlichere Passagen über den Hass anführt: Haß ist Unlust, verbunden mit der Vorstellung von der äußeren Ursache dieser Unlust. Der Hassende ist bestrebt, den verhaßten Gegenstand zu entfernen und zu zerstören. Er empfindet Lust, wenn er sich vorstellt, daß, was er haßt, von Unlust erregt oder zerstört wird; und wenn er sich vorstellt, daß jemand seinen Gegenstand, den er haßt, mit Lust erregt, so wird er auch gegen ihn von Haß erregt werden, stellt er sich dagegen vor, daß einer diesen Gegenstand mit Unlust erregt, so wird er gegen ihn von Liebe erregt werden. Er ist ferner bestrebt, von dem Gegenstande, den er haßt, alles das zu bejahen, wovon er sich vorstellt, daß es ihn mit Unlust erregt, und dagegen alles das zu verneinen, wovon er sich vorstellt, daß es ihn mit Lust erregt, und wird von dem gehaßten Gegenstande eine geringere Meinung haben als recht ist, so wie er wohl von sich und dem geliebten Gegenstande eine höhere Meinung hat als recht ist (Hochmut und eine Art Wahnwitz – er betrachtet alle seine Einbildungen als Wirklichkeit und bläht sich darob). Ebenso wie wir es bei seinem Vater Heinrich, bei Trachtenberg sowie bei Constantin Brunner gesehen haben, setzt Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi (-) in seiner Schrift Antisemitismus nach dem Weltkrieg () bei der Aufdeckung der von Antisemiten als Rationalisierungen ihrer Einstellungen, als Rechtfertigungen für ihre Affekte angegebenen Gründe an. So sei der behauptete »antisemitische Instinkt«, der durch eine Rassentheorie zu rechtfertigen versucht werde und sich für deren Äußerung halte, ein »Trugschluß«, weil dabei Ursache und Wirkung verwechselt würden: »[B]ei fast allen Antisemiten ist der gefühlsmäßige Antisemitismus älter als ihr Wissen um Rassentheorien […]. Ihre antisemitische Gesinnung konnte also nicht die Folge ihrer antisemitischen Überzeugung sein – sondern nur deren Ursache.« Der erkenntniskritischen Nobilitierung des Affekts erweist CoudenhoveKalergi eine klare Absage und beschreibt den »antisemitischen Instinkt«  Constantin Brunner: Der Judenhaß und die Juden [], im Auftrag des Internationaal Constantin Brunner Instituuts mit einem Vorwort von Hans Goetz, hrsg. von Jürgen Stenzel, Berlin/Wien , S. .  Ebd., S.  f.  Richard N. Coudenhove-Calergi: Antisemitismus nach dem Weltkrieg, in: Heinrich Graf Coudenhove-Kalergi (Anm. ), S. -, hier S. . Hervorhebungen im Original.

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zugleich als einen erworbenen. Die Entstehungsgeschichte des »antisemitischen Instinkts« wiederum führe in die ersten Jahre der Kindheit. »Seit Freuds Entdeckungen«, heißt es, stehe »unzweifelhaft fest, daß die Kinderseele die Retorte ist, in der ein großer Teil der späteren Instinkte und Gefühle entsteht«. Auch der »antisemitische Instinkt« entstehe, vermutet Coudenhove-Kalergi, »fast immer aus einem infantilen Vorurteil«. Anschließend schildert er, wie ein kleines Kind ein Kruzifix sehe und als Antwort auf seine Erkundigung, um was es sich dabei handle, erfahre, dass dieser »Mann auf dem Kreuz der Heiland (den es als ›Christkind‹ liebt und verehrt) sei, der von den Juden zu Tode gemartert wird«. Der Heranwachsende, der seinen Kinderglauben verliert, suche später für seinen »wurzellos gewordenen Gefühls-Antisemitismus […] nach neuen, theoretischen Rechtfertigungen und greift nach rassentheoretischen Abhandlungen« – um sein Vorurteil zu bestätigen. Selbst »[b]ei irreligiöser Kindererziehung« argumentiert Coudenhove-Kalergi, werde »der religiöse Antisemitismus« über Verwandte, Erzieher, Kinderfrauen etc. dem Kind zwar nicht unmittelbar, »sondern aus zweiter und dritter Hand eingeimpft«. In der Hierarchie antisemitischer Vorurteile gilt ihm das religiöse als »primär«, während die »Antipathie« und das »Rasse-Vorurteil« abgeleitet seien, das Letztere sogar als »tertiär«. Freilich geht seine Darstellung noch von einer ubiquitären Präsenz christlicher Topoi während der ersten Jahrzehnte des . Jahrhunderts in der säkularen Moderne aus, die historisch spezifisch erscheint. Noch ein letztes Beispiel sei hier wenigstens kurz angeführt: Arnold Zweig (-) veröffentlichte  seinen »politisch-analytischen Essayband« Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus, worin er in freier Anknüpfung an Freuds Psychoanalyse den Antisemitismus als Gruppenleidenschaft definierte, wie etwa um dieselbe Zeit der Zionist Fritz Bernstein. Zweig rückte den Affekt ins Zentrum seiner Untersuchung und unterschied zwischen Zentralitätsaffekt und Differenzaffekt.     

Ebd., S. . Ebd. Ebd., S. . Ebd. Franziska Krah: »Ewig Feuerspritze sein, wo ein Weltfeuer doch nicht gelöscht werden kann …«. Abwehr und Deutung des Antisemitismus während der Weimarer Republik, in: Hahn/Kistenmacher (Anm. ), S. -, S. .  Siehe zu Zweigs Studie auch den Beitrag von Irmela von der Lühe in diesem Band.  Fritz Bernstein: Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung. Versuch einer Soziologie des Judenhasses [], mit einem Nachwort von Henri Tajfel, Königstein/Ts. .



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In einer phylogenetischen Konstruktion entwickelt er die These von einer Kraft, die verhindere, dass der ursprüngliche antisemitische Differenzaffekt abklingen könne und sich in soziale Affekte übersetze. Etwas, das auch nach der Emanzipation noch weiterwirke: Und in der Tat gibt es eine Kraft, die den areligiösen oder verborgen religiösen Juden intensiver befeindet als den religiösen, den atheistischen Einzelnen leidenschaftlicher ablehnt als die fromme, gottergebene, in ihrer religiösen Bindung weithin sichtbare Gemeinde: das ist die Sphäre der religiösen Bindungen in der nichtjüdischen Welt, das Christentum in seinen konfessionellen Gestaltungen. Ebenso wie Coudenhove-Calergi weist Zweig dem Christentum und seinem religiösen Affekthaushalt eine zentrale Rolle für den Antisemitismus zu. In den zwanziger Jahren des . Jahrhunderts war die Bedeutung des christlichen Antijudaismus für die Wirkmächtigkeit auch des modernen Antisemitismus offenbar noch sehr präsent. IV. Auffällig an diesen Reflexionen zum Antisemitismus aus den ersten fünf Jahrzehnten des . Jahrhunderts erscheinen deren durchgängige Fokussierung auf den emotionalen Kern des Judenhasses sowie auf die grundlegende Bedeutung des Christentums, des christlich-jüdischen Antagonismus und des Religionshasses als Teil der affektiven Besetzung von aversiven Gruppenleidenschaften im Westen. Dabei zeigt sich eine Spannung, insofern in einigen Studien der moderne Antisemitismus als Bewegung zur Abschaffung der gesamten christlichen Epoche gedeutet wird, der Hass sich auf Christus als Juden richte, während in anderen lediglich der christliche Judenhass thematisiert wird. Beiden Deutungen gemein ist allerdings, dass sie den, insbesondere im christlichen Mittelalter verfestigten ›Judenbildern‹ in der westlichen Welt eine emotionale Wirkmächtigkeit zuschreiben, die im jeweils gegenwärtigen Antisemitismus wirksam werde. Das Interpretationsmuster, das im Antisemitismus eine auf die Vernichtung des christlichen Zeitalters gerichtete Aggression vermutet, bezieht sich dabei auf die Zusammengehörigkeit von Christentum und Judentum über Christus als Juden. Dem Christentum als kultu-

 Arnold Zweig: Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus, Berlin , S.  f.

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reller Grundlage der westlichen Zivilisation eignet eine Ambivalenz, die im Antisemitismus ihren wohl destruktivsten Ausdruck findet. Die Bedeutung des Christentums als zentrale emotionale Quelle für den modernen Antisemitismus wird bisweilen auch in der Holocaustforschung reflektiert. So vertritt etwa Richard L. Rubenstein die These, dass es gerade das »religiöse Element« sei, weshalb der Holocaust als »singulär« angesehen werden müsse. Der Holocaust finde einen Nachhall im Mythos des »witness-people«, jener Vorstellung von den Juden als Zeugen für die Treue Gottes, die Rubenstein als wichtiges Element innerhalb der für die westliche Zivilisation dominanten religiösen Tradition des Christentums gilt. Seine Argumentation bezieht zudem eine interessante, kulturvergleichende Beobachtung mit ein, eine Unterscheidung des europäischen vom japanischen Antisemitismus im Hinblick auf die emotionale Beteiligung der jeweiligen Akteure: »Japanese anti-Jewish feeling had never had the emotionally overladen content that has characterized European anti-Semitism. The reason is fairly obvious: The vast majority of Japanese are not Christian influenced by the witness-people myth. The emotions engendered by the Judeo-Christian rivalry are largely absent among the Japanese.« Ob sich so erklären lässt, warum der Holocaust insbesondere innerhalb der westlichen Welt als universales Menschheitsverbrechen angesehen wird, sei dahingestellt. Sartre beobachtet die Erregung des Antisemiten und lässt keinen Zweifel daran, dass es sich beim Antisemitismus um eine Leidenschaft handelt. Es sind allerdings die früheren Studien, auf die hier nur kursorisch eingegangen werden konnte, die an den transformierten Religionshass als emotionaler Quelle erinnern. Richard Coudenhove-Kalergi weist dem christlichen Antisemitismus sogar eine primäre Funktion auch in der ontogenetischen bzw. individualgeschichtlichen Entwicklung antisemitischer Gefühle zu. Auch die nichtreligiös aufwachsenden Menschen nähmen durch »infantile[s] Vorurteil« den etwa durch christliche Symbolik im Zusammenhang mit antijüdischen Narrationen über den leidenden Christus am Kreuz gesellschaftlich vermittelten, wurzellosen »Gefühls-Antisemitis Richard L. Rubinstein: Religion and the Uniqueness of the Holocaust, in: Alan S. Rosenbaum (Hrsg.): Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, Boulder , S. -, hier S. .  Ebd., S. . Dort auch die folgende Erklärung: »Put differently, the response to the Holocaust reflects the pervasiveness in Western civilization of what Stephen R. Haynes called the ›witness-people myth‹ – the belief that whatever happens to the Jews, for good or ill, is an expression of God’s providential justice and, as such, is a sign ›for God’s church‹.«  Ebd., S. .

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mus« auf, für den sie später neue Rechtfertigungen suchten. Dass die antisemitische Leidenschaft auf geteilten Gefühlen basiert, erscheint hier unmittelbar evident. Einer zukünftigen Reflexionsgeschichte der geteilten Gefühle des Antisemitismus muss überlassen werden, den hier vor allem rekonstruierten Zusammenhang zwischen christlich-antijüdischen Judenbildern und den emotionalen Dimensionen unterschiedlicher Formen des Antisemitismus genauer zu bestimmen. Warum die nach dem Holocaust einsetzende, neuere wissenschaftliche Erforschung des Antisemitismus dessen emotionale Aspekte lange vernachlässigte, dürfte kaum monokausal erklärbar sein. Gleichwohl lassen sich Ursachen benennen. Moishe Postone nennt den »geringe[n] Anteil an Emotion und unmittelbarem Haß« – im Unterschied etwa zu Pogromen – charakteristisch für den Holocaust. Zweifellos bildet die Wahrnehmung des Holocaust den Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Reflexion des Antisemitismus nach . Eine weitere Begründung könnte darin liegen, dass gerade die Ungeheuerlichkeit des Genozids und das Wahnhafte antisemitischer Projektionen eine möglichst ›unemotionale‹ Erforschung seiner Ursachen nach sich zog. Die inhärente Verdrängungsleistung der längeren deutschen (Nicht-)Erforschung des Holocaust etwa wurde spätestens Anfang der er Jahre in der berühmten Kontroverse zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer deutlich, als der Erstere gegen die Erinnerung der Überlebenden ein »Pathos der Nüchternheit« für die eigene Position reklamierte. Als (Abwehr-)Reaktion auf die extreme affektive Mobilisierung im »Führerstaat« lassen sich im Deutschland ab Ende der er Jahre disparate, keineswegs eindeutige Trends zur Versachlichung in vielen Bereichen beobachten, von der Durchsetzung der Abstraktion in der Kunst bis hin zu Schelskys Formel von der »skeptischen Generation«. Zudem dürfte die Krise des Christentums nach  und die nur langsam erfolgende Reflexion des Holocaust kaum dazu beigetragen haben, die innerhalb der westlichen Zivilisation sedimentierten christlich-antijüdischen Traditionen in den Vordergrund der Analyse zu rücken.  Coudenhove-Calergi (Anm. ), S.  f.  Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main , S. -, hier S. .  Nicolas Berg: Die Lebenslüge vom Pathos der Nüchternheit. Subjektive jüdische Erinnerung und objektive deutsche Zeitgeschichtsforschung in den sechziger Jahren, in: Süddeutsche Zeitung, ...  Helmut Schelsky: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln .

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Affekttheoretische Elemente und emotionsgeschichtliche Ursprünge in Hannah Arendts Theorie des Antisemitismus Irmela von der Lühe Von Arnold Zweig, nicht von Hannah Arendt stammt die eigenwillige, wiewohl aussagekräftige Bezeichnung des Antisemitismus als »Differenzaffekt nationaler Art«. Der in affekttheoretischer Hinsicht interessante Terminus taucht erstmals in einer mehrteiligen Artikelserie auf, die die Zeitschrift Der Jude / unter der Überschrift »Der heutige deutsche Antisemitismus« veröffentlichte. Große Teile dieser Serie fanden Eingang in Zweigs  erschienenen Buch Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus. Das . Kapitel trägt die Überschrift »Differenzaffekt als Nationalismus« und widmet sich noch einmal in politisch-sozialpsychologischer Perspektive jener Antithetik, von der das Buch seinen Ausgang nimmt. Sie gilt der Feststellung vom Vorhandensein […] von Gruppenleidenschaften der Menschen, davon der Differenzaffekt die triebhafte Erregung und Abstoßung bezeichnet, mit welcher Menschengruppen auf das Verschiedensein anderer Menschengruppen entwertend reagieren, indes der Zentralitätseffekt die daran gebundene Überbetonung der Wichtigkeit und Vollkommenheit der eigenen Gruppe für das Weltall vorstellt … Es geht im Folgenden nicht um die argumentative Rekonstruktion von Arnold Zweigs inzwischen durchaus gewürdigten Überlegungen zu Ursachen und Formen des Antisemitismus. Auch die methodisch zweifellos brisante Frage, ob der menschliche Affekthaushalt, zumal in seiner kollektiven oder wohl gar nationalen Modellierung, auf der Antithetik  Arnold Zweig: Caliban oder Politik und Leidenschaft. Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus (Arnold Zweig. Berliner Ausgabe Abt. III , ; bearbeitet von David R. Migdley), Berlin , S. .  Vgl. dazu neuerdings Birgit Erdle/Werner Konitzer (Hrsg.): Theorien über Judenhass – Eine Denkgeschichte. Kommentierte Quellenedition -, Frankfurt am Main ; Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hrsg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor , Berlin ; Franziska Krah: »Ein Ungeheuer, das wenigstens theoretisch besiegt sein muß«. Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland, Frankfurt am Main .

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zweier »Grundleidenschaften« basiert, nämlich dem »Zentralitäts«- und dem »Differenzaffekt«, soll hier nicht erörtert werden. Arnold Zweigs Erläuterungen zum Antisemitismus als einem »seelisch-soziale(n) Produkt«, als einer »aggressive(n) Weltansicht«, die sich erst in der Gruppe, also als Massenphänomen zu einer »endemische(n) Aufwallung« radikalisiert und den »Durchbruch rasender Instinkte« gleichsam legitimiert, sind für emotionsgeschichtliche Forschungen zur Entstehung und Dynamik des Antisemitismus zweifellos von hoher Relevanz. Solche und weitere direkt an Sigmund Freud orientierten Überlegungen zu Triebstruktur und Psychodynamik des Antisemitismus machen Arnold Zweig mithin zu einer wichtigen Inspirationsquelle für Fragen nach den »Emotionen des Antisemitismus«. Leicht ließe sich zudem zeigen, dass er mit seinen Überlegungen viel von dem vorwegnimmt, was in späteren soziologischen, politiktheoretischen und sozialpsychologischen Arbeiten als »Dialektik von Selbst-und Fremdbild«, vor allem aber was als »Logik der Selbstvergewisserung im Modus aggressiver Ab- und Ausgrenzung des Fremden« beschrieben wurde. Freilich hängt alles davon ab, ob man eine solche Antithetik oder Dialektik für eine onto- und phylogenetische Gegebenheit, ein Anthropologikum und damit gleichsam für ›natürlich‹ hält, sodass die ›Objekte‹ und ›Opfer‹ dieser Disposition eher zufällig wären. Dem steht eine Auffassung gegenüber, für die sich schon bei Arnold Zweig, aber auch in zahlreichen anderen antisemitismustheoretischen Texten Hinweise finden: dass nämlich dem genannten »Differenzaffekt« bereits eine soziale, mentale und emotionale Disposition vorausliegt, die je nach historischem Kontext und politischer Konstellation aktiviert und modelliert zu werden vermag. Für systematische und theoretische Untersuchungen zu den genuin emotionsgeschichtlichen und affekttheoretischen Dimensionen des Antisemitismus gibt der Rekurs auf Arnold Zweig darüber hinaus den Blick auf eine reflexionsgeschichtliche Linie frei, die sich – bei allen gravierenden Unterschieden im theoretischen Gesamtentwurf – zwischen Zweigs Terminus und jenen grundlegenden Überlegungen ziehen lässt, die Hannah Arendt zum Antisemitismus entwickelt hat. Sie finden sich nicht nur im ersten Teil von Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, sondern in Essays und Aufsätzen, die bereits im Pariser Exil entstanden sind. Eine in den Details noch zu rekonstruierende Parallele zwischen  Alle Zitate aus Arnold Zweig in: Erdle/Konitzer (Anm. ), S. , , .  Vgl. u. a.: Hannah Arendt: Antisemitism, in: Dies.: The Jewish Writings, hrsg. v. Jerome Kohn und Ron H. Feldman, New York , S. - sowie Hannah Arendt : From The Dreyfus Affair Trance Today, in: Jewish Social Studies  () Heft , S. - und Hannah Arendt: »Vor Antisemitismus ist man nur noch auf

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Arnold Zweig und Hannah Arendt zeigt sich im Übrigen auch in beider Beschäftigung mit dem Antisemitismus aus der Perspektive seiner existenziellen Folgen für die Juden selbst; mit jener »furchtbaren Einsamkeit der Selbstverachtung«, die der Antisemitismus bei den Juden zeitigt. Solche theoriegeschichtlichen Befunde sollen im Folgenden in die exemplarische Beschäftigung mit einem literarischen Text eingebettet werden, der sowohl den literarischen als auch den literaturwissenschaftlichen Effekt zu illustrieren vermag, der aus der Nutzung des Zweig’schen Terminus, also des »Differenzaffekts«, erwachsen könnte. Auch dürfte sich erweisen, dass die gegenwärtige Konjunktur emotionsgeschichtlicher Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus von ihrem Innovationspathos einiges verliert, wenn man sich auf literarische Texte einlässt, die entweder von antisemitischen Erfahrungen handeln oder der psychodynamischen Mentalität von Antisemiten nachspüren. Bereits hier trifft man auf »Ursprünge und Elemente« einer Theorie des Antisemitismus, wie sie sich bei Hannah Arendt finden und wie sie für das Werk des psychologisch und mentalitätsgeschichtlich gleichermaßen ambitionierten Autors Arnold Zweig charakteristisch sind. Und dies nicht nur in Caliban und in Bilanz der deutschen Judenheit. Zweigs Terminus »Differenzaffekt« soll daher für einen Rekonstruktionsversuch genutzt werden, der Arendt und zugleich einem prominenten Beispiel aus der Literaturgeschichte der deutschen Nachkriegszeit gilt. Es handelt sich um die / geschriebene autobiografische Erzählung von Peter Weiss, Abschied von den Eltern. In der Gattungsgeschichte der Autobiografie kommt diesem Text vor allem aus zwei Gründen eine besondere Bedeutung zu. Zum einen, weil sich die Erinnerung an Kindheit und Jugend als verfolgter Emigrant in diesem Falle in eine scharfe Abrechnung mit den Eltern kleidet. Der »Abschied« im Titel führt im Fortgang der Erzählung zu einer radikalen Diagnose jener familientypischen Verbotsrituale, Schweigeszenarien und transgenerationell wirksamen Verwerfungen, die unter Bedingungen einer Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland und sodann im Exil besonders schwer wiegen. Zum Zweiten ist dieser gleichsam atemlos, also ohne Kapitelgliederung, Überschriften und Absätze und damit wie eine sprachlich-semantische Hetzjagd gestaltete Text eine Anklage und eine Beschreibung, eine Kindheits- und Jugenderinnerung mit dem Monde sicher.« Beiträge für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung »Aufbau«, hrsg. v. Marie Luise Knott, München 2000. Vgl. außerdem Hahn/Kistenmacher (Anm. ), S. -.  Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 153.

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hohem analytischem Potenzial; freilich in Gestalt eines Monologs ohne Adressat. Auf die Einzelheiten muss hier verzichtet werden, denn es geht lediglich um die Analyse einer brisanten Episode. Sie betrifft den Schüler und Ich-Erzähler, der in seinem Schulalltag kaum etwas anderes erlebt als Angst und Schrecken: vor brüllenden und schlagenden und ihr Tun zynisch kommentierenden Lehrern; vor Mitschülern, die unterwürfigbeifällig kichern, wenn der »Neue« öffentlich erniedrigt und gezüchtigt wird, und die außerhalb der Schule ein »Rudel« bilden. Angeführt wird es von einem verdruckst hinterhältigen Klassenkameraden mit dem sprechenden Vornamen Friederle. Unter seinem Kommando verfolgen sie den Außenseiter nach Schulschluss systematisch von Straßenseite zu Straßenseite, stellen ihm ein Bein, bewerfen ihn mit Steinen. In knapper, bildstarker Form gewinnt man Einblick in den Alltag sadistisch-schülertypischer Quälereien gegenüber einem »Fremden«: Und nach der Schule versuchte ich, Friederle zu entkommen, doch mit seinem Rudel von Verbündeten stöberte er mich überall auf. Wenn ich lief, liefen sie neben mir. Wenn ich langsam ging, gingen sie langsam neben mir. Wenn ich jäh ausbrach zur anderen Straßenseite hinüber, warfen sie Steine nach mir. Diese kleinen pfeifenden Steine, und die höhnenden Stimmen da drüben, wie gut sie erkannt hatten, daß ich ein Flüchtling war, und daß ich in ihrer Gewalt war. Und meine kleinen Listen, plötzlich krümmte ich mich zusammen und schlug meine Hand an die Stirn, aufschreiend, als sei ich getroffen worden. Das erschreckte meine Verfolger, und feige stahlen sie sich davon, ich aber war noch feiger, ich wußte, wenn sie sich schuldig fühlten würden sie mich später nur noch mehr strafen, so rief ich ihnen nach, ihr meintet ja nicht mich, es war ein Irrtum, ihr meintet einen andern. Diese Passage geht über die retrospektive Schilderung einer Verfolgungserfahrung weit hinaus. Mit großer Genauigkeit spürt der Erzähler vor allem einem inneren Geschehen nach, das nicht lediglich von Kränkung und Schutzsuche, sondern von dem Versuch handelt, der Logik der Verfolger, also dem tieferen antisemitischen Affekt auf die Spur zu kommen. Das Ergebnis ist keineswegs befreiend, im Gegenteil: Der Erzähler gesteht sich ein, dass er der Logik der Verfolger, die die Logik des Schuldgefühls ist, nicht einfach nur ausgeliefert, sondern dass er an ihr beteiligt ist. Entscheidend ist der kurze Satz, in dem der Erzähler erkennt, dass er alles tun muss, um seinen Peinigern das Schuldgefühl zu  Peter Weiss: Abschied von den Eltern, Frankfurt am Main , S.  (Hervorh. IvdL).

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ersparen: »Wenn sie sich schuldig fühlten, würden sie mich später nur noch mehr strafen«. Und um eben dies zu vermeiden, sieht sich das Opfer gezwungen, den Tätern anzubieten, sie hätten sich geirrt; sie hätten gewiss jemand ganz anderen gemeint. Auf die psychologische Dialektik einer solchen Abwehrreflexion kommt es hier an. Denn schlaglichtartig erhellt dieser kurze Satz aus Peter Weiss’ Kindheitserinnerung ein Grundelement des antisemitischen Affekts. So grundlos er erscheinen mag, insofern er sich einfach nur auf einen »Neuen« in der Schulklasse bezieht, so grundlegend ist er für den Gefühlshaushalt der Täter. Sie agieren eben nicht einfach nur ein Ressentiment, einen »Differenzaffekt« aus, sondern sie werden in diesem Tun durch ein Schuldgefühl stimuliert, das sich das Opfer selbst anlastet und also auszuschalten versucht. Das Opfer ist mithin nicht nur selbst »schuld«, es trägt die Verantwortung dafür, dass die Täter kein Schuldgefühl entwickeln, andernfalls werden Verfolgung und Vernichtung nur noch radikaler. Es versteht sich, dass wir es mit einem enorm projektiven Vorgang zu tun haben, mit einem Konnex, den Adorno/Horkheimer im Abschnitt über »Elemente des Antisemitismus« in der Dialektik der Aufklärung das »Pathische« genannt haben, den »Ausfall von Reflexion«. Und eben diesen »Ausfall von Reflexion« kompensiert im vorliegenden Fall das Opfer selbst, indem es im Wege eines Vermeidungshandelns und zugleich eines scheinbar feigen Bekenntnisses dem Schuldgefühl der Täter entgegenzuwirken versucht, ehe es bei denen wirklich entstanden ist. Will man es zugespitzt formulieren, so illustriert die kleine Episode aus Peter Weiss’ Autobiografie in literarischer Form einen emotionstheoretischen Sachverhalt von einiger Brisanz: Dem Opfer ist aufgegeben, die Gefühlslogik des Antisemiten, also das seinem Schuldgefühl entstammende und sich mit ihm radikalisierende Zerstörungspotenzial zu durchschauen und im eigenen Handeln möglichst zu neutralisieren. Der woher auch immer stammende Hass der Täter auf die Opfer, der Antisemiten auf die Juden, findet seine Steigerung in einem hassgesteuerten Schuldgefühl aufseiten der Täter. Wenn die Opfer dieses nicht zu betäuben vermögen, so werden nach der destruktiven Logik des Hasses die Täter selbst für diese Betäubung ihres Gefühls sorgen müssen, und sei es  Ebd.  Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Bd. , hrsg. v. Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt am Main , S. -, hier S. . Vgl. dazu umfassend: Helmut König: Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der »Dialektik der Aufklärung« von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Weilerswist , S. -.

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durch Eliminierung des Opfers. Über die Perfidie einer solchen »Logik« dürfte kein Zweifel bestehen, wie selbstverständlich sie sich dem Erleben von Kindern und Jugendlichen eingeprägt, ihren Affekthaushalt modelliert und ihre Sicht auf die Welt dauerhaft traumatisiert hat, dafür gibt es unendlich viele Beispiele, von denen dasjenige aus der Autobiografie von Peter Weiss noch vergleichsweise harmlos wirken mag. Im vorliegenden Zusammenhang dient es darüber hinaus als Anlass für einige grundsätzliche Überlegungen zur Untersuchung der Genese und Funktion des Antisemitismus bei Hannah Arendt. Sowohl im Kapitel über »Antisemitismus« im Totalitarismus-Buch als auch im Aufsatz über »Organisierte Schuld« () sowie in ihren Artikeln für den New Yorker Aufbau (-) hat Hannah Arendt strikt zwischen dem mittelalterlich-christlichen Judenhass und dem gesellschaftlichen, dem politischen und schließlich dem »Endlösungs«-Antisemitismus des . und . Jahrhunderts unterschieden. Der totalitäre und der vortotalitäre Antisemitismus unterscheiden sich in ihrer Sicht nachhaltig, Ersterer avancierte zu einer veritablen Ideologie: »Er wurde zum Zentrum einer Gesamtweltanschauung« und »von allen Erfahrungen mit Juden emanzipiert«. Hannah Arendt hat zwar Entwicklungen keineswegs geleugnet. Sie hat das Modellhafte etwa der Dreyfus-Affäre ausdrücklich ebenso quellengestützt wie gründlich analysiert. Für den Antisemitismus der Nationalsozialisten und damit für die Politik der totalen Vernichtung der Juden indes sieht sie in der Geschichte des Judenhasses und des Antisemitismus gerade kein Vorbild. In ihrem  erschienenen Aufsatz »Die vollendete Sinnlosigkeit« heißt es denn auch: Weder das Schicksal der europäischen Judenheit, noch die Errichtung von Tötungsfabriken kann vollständig mit dem Hinweis auf den Antisemitismus erklärt werden. Beides liegt jenseits der politischen, sozialen und ökonomischen Motive, die hinter der Propaganda antisemitischer Bewegungen stehen. Der Antisemitismus hat nur den Boden bereitet, die Ausrottung ganzer Völker mit dem jüdischen Volk zu  Hannah Arendt: Organisierte Schuld, in: Dies.: Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt am Main , S. - sowie Hannah Arendt: »Vor dem Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher« (Anm. ).  Vgl. Julia Schulze Wessel: Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus, Frankfurt am Main .  Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Anm. ), S. . Vgl. auch den Eintrag zum Antisemitismus in: Wolfgang Heuer/Bernd Heiter/Stefanie Rosenmüller (Hrsg.): Arendt Handbuch. Leben–Werk–Wirkung, Stuttgart , S.  f.

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beginnen […]. Denn die Wahrheit war, dass im Unterschied zu allen anderen antijüdischen Maßnahmen, die einen gewissen Sinn machten und ihren Urhebern irgendwie zu nutzen schienen, die Gaskammern niemandem nutzten […]. Solche Äußerungen stehen in direktem Zusammenhang mit Hannah Arendts grundlegenden Überlegungen zum Wesen totaler Herrschaft, die mit der »Tötung von Individualität« und der Entstehung »vermasster Individuen« einhergeht, Menschen in affektiver und kognitiver Hinsicht zu berechenbaren »Reaktionsbündeln« macht und in einem umfassenden System des Terrors, also der Lager, das »Überflüssigwerden von Menschen« praktiziert. Auch wenn die historiografische Forschung solchen Thesen nicht unbedingt folgen will, so bleibt die strikte Trennung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus einerseits und dem Vernichtungsantisemitismus als notwendigem Bestandteil totaler Herrschaft andererseits folgenreich. Der Vernichtungsantisemitismus steht in Hannah Arendts Sicht in direktem Zusammenhang mit der Krise des Nationalstaats und dem Niedergang, ja der Abschaffung von Politik. Und in eben diesem Kontext finden sich Ausführungen, die wenngleich keine affekttheoretischen, so doch emotionsgeschichtliche Voraussetzungen und Implikationen des Antisemitismus beleuchten. In historischer Perspektive ist dafür das erste Kapitel des Totalitarismus-Buches insofern aufschlussreich, weil es die Genese des modernen Antisemitismus einerseits an den Niedergang der Nationalstaaten und den Aufstieg des Imperialismus bindet und damit andererseits auf einem direkten Konnex zwischen einer politisch-gesellschaftlichen Neuorientierung und einer regressiv-aggressiven Aktualisierung affektiver Dispositionen insistiert. Aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive ist darüber hinaus von besonderem Interesse, dass Hannah Arendt in diesem Zusammenhang – wie ja auch an vielen anderen Stellen ihres Werkes – der Literatur bzw. der Dichtung einen Erkenntnisgehalt zubilligt, den die Wissenschaften nicht erreichen können: Für die Gesellschaftsgeschichte der Juden wie für ihre Rolle in der Gesellschaftsgeschichte des vorigen Jahrhunderts gibt es kaum ein aufschlussreicheres Dokument als die Beschreibung, die Proust uns in »Sodome et Gomorrhe« hinterlassen hat. Gleichbedeutend und be Hannah Arendt: Israel, Palästina und der Antisemitismus. Aufsätze, hrsg. v. Eike Geisel und Klaus Bittermann, Berlin , S. . Vgl. außerdem Mario Kessler: Zwischen Paria-Existenz und jüdischem Commonwealth. Hannah Arendt über Antisemitismus und Zionismus, in: Utopie: kreativ / (), S. -.  Arendt (Anm. ), S.  f.



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zeichnend für den Charakter des jüdischen Individuums wie für den der Gesellschaft, die es aufnahm, erhalten wir hier den eigentlichen Schlüssel zu dem Phänomen, auf das schon Disraeli in der ihm eigentümlichen Übertreibung aufmerksam gemacht hat: »Es gibt augenblicklich keine Rasse, […] die Europa so entzückt und fasziniert und erhebt und veredelt wie die jüdische.« Das Proustsche Werk zeigt unter anderem, welches dies Europa und wer diese Juden gewesen sind. Mit Proust beschreibt Hannah Arendt den Konnex zwischen Emanzipation, Assimilation und Antisemitismus und damit zugleich einen Konnex zwischen politisch-juristischen, religiös-mentalen und psychodynamisch-affektiven Vorgängen. Auch wenn sie an genuin affekttheoretischen Sachverhalten im heutigen Sinne naturgemäß kaum interessiert scheint, demonstriert sie an Prousts großem Roman, und zwar insbesondere anhand der Figur des Swann, einen für emotionsgeschichtliche Fragestellungen bemerkenswerten Umstand. Denn Swann ist als Jude »klüger, gebildeter und vor allem amüsanter« als alle anderen. Die aristokratisch-mondäne Gesellschaft des Zweiten Kaiserreichs und der Dritten Republik hofiert Swann als faszinierend-exotische Gestalt. Erst im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre fällt auf, dass er Jude ist; auch äußert er sich zugunsten von Dreyfus. Und sofort – wie Proust erzählt und Arendt kongenial referiert – wird Swann des »hinterhältige[n] Verrats« und der »schwarzen Undankbarkeit« bezichtigt. Aus einer ursprünglich dünkelhaft-snobistischen Indifferenz gegenüber dem Juden wird infolge politischer und sozialer Veränderungen Hass bzw. Antisemitismus. Das aber bedeutet, dass eine sich auf hohem Niveau langweilende, nach immer neuen Zerstreuungen suchende Gesellschaft der Reichen, Schönen und Mächtigen, zu der Swann unbedingt Zutritt haben möchte, den Aufsteiger zunächst als Exotikum willkommen heißt, in seiner falschen Geburt kein Verbrechen, sondern allenfalls ein interessantes Laster erkennt; sich aber mit Beginn der Dreyfus-Affäre eines radikal anderen besinnt. Hannah Arendts Nachdenken über Elemente und Ursprünge des Antisemitismus lässt sich also anschaulich aus ihrer Proust-Lektüre deduzieren; ein Phänomen, das sich im Übrigen in vielen anderen Stellen ihres Werkes findet. Auch für ihre theoretischen Überlegungen zur Genese und Funktion des Antisemitismus gilt daher ein Satz aus ihrer LessingRede: »Keine Lebensweisheit, keine Analyse, kein Resultat, kein noch so  Ebd., S. .  Arendt (Anm. ), S. .

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tiefsinniger Aphorismus kann es an Eindringlichkeit und Sinnfülle mit der recht erzählten Geschichte aufnehmen.« Zurück aber zu Hannah Arendts Lektüre der »Recherche« und zu ihrer Kritik an Proust. Der nämlich glaube, »psychische Mechanismen und soziale Verhaltungsweisen von ihrem politischen und geschichtlichen Grund isolieren zu können«. Ob Proust dies literarisch tatsächlich getan hat, sei dahingestellt. Für Hannah Arendt ist eine solche Trennung nicht möglich, ja nicht zulässig. Sie hat die »psychischen Mechanismen«, die für das Entstehen von Antisemitismus charakteristisch sind, niemals getrennt von ihren »sozialen Verhaltungsweisen« betrachtet, vielmehr beide auf ihre politischen und historischen Hintergründe bezogen. Eben dies geschieht in den historisch weit ausgreifenden Darstellungen im ersten Teil des Totalitarismus-Buches, es geschieht ebenso quellengestützt wie detailliert in den Ausführungen zu Ursachen, Verlauf und Folgen der Dreyfus-Affäre. Wie angedeutet ist der in Prousts Roman nachzulesende Prozess des Umschlags von snobistisch-elitärer Indifferenz gegenüber dem Judentum in ein aggressiv-antisemitisches Ressentiment für Hannah Arendt ein besonders anschauliches Beispiel, ja »eine Art Generalprobe für das Schauspiel unserer Zeit«. Ein weiteres Element in diesem Umbau des kollektiven Affekthaushalts der herrschenden Klasse, wie Hannah Arendt ihn beschreibt, ist die Entstehung dessen, was sie unnachahmlich präzise und sarkastisch »Seine Majestät den Mob, diesen großen Tyrannen unserer Zeit« nennt. Auch hier ist der historische Kontext das Frankreich der Dritten Republik, auch hier entstammen ihre systematischen Befunde historischem Quellenstudium und führen zu der Feststellung, im Mob fänden sich alle Klassen der Gesellschaft, nein alle »Deklassierten« zusammen, während sich in den Juden »alles, was der Mob hasste, personifizierte«. Der Mob wolle nicht Partizipation an der Macht, sondern verlange nach dem einen Führer, der vernichte, was ihm, dem Mob, vorenthalten worden sei: das Parlament, die Politik, die Eliten. Der Antisemitismus sei zu der »großen Idee« geworden, die den Mob auf die Beine brachte;  Hannah Arendt: Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: Dies.: Menschen in finsteren Zeiten, München , S. -, hier S. . Vgl. auch: Irmela von der Lühe: Erzählen als »Bewältigen«. Hannah Arendt und die Dichtung, in: Nicolas Berg/Dieter Burdorf (Hrsg.): Textgelehrte. Literaturwissenschaft und literarisches Wissen im Umkreis der Kritischen Theorie, Göttingen , S. -.  Arendt (Anm. ), S. .  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Ebd., S. .

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und die Juden verkörperten, was oder wer in den Augen des Mobs für die Skandale und Betrugsaffären der Dritten Republik verantwortlich war. In der Folge – so Hannah Arendt weiter – entstehe »das Bündnis aller Deklassierten auf der Grundlage des Ressentiments oder der Verzweiflung« und zugleich avanciere der Antisemitismus zur »große[n] Waffe […] in der modernen Politik«. Dies alles führt nur scheinbar vom Thema ab, hat in Wahrheit indes sehr viel mit ihm zu tun. Denn es zeigt sich, dass im raffinierten Kalkül mit ihm der eigentliche machtpolitische und damit eben auch affektpolitische Nutzen des Antisemitismus besteht und dass es möglich ist, die systematisch-machtstrategische Instrumentalisierung gerade der affektiven Dimensionen des Antisemitismus herauszuarbeiten. Im Anschluss an Hannah Arendts Überlegungen ließe sich daher die These formulieren, dass die emotionsgeschichtlichen und affekttheoretischen Dimensionen des Antisemitismus in der programmatischen Negation von Gewissens- und Treuebindungen bestehen; sie fungieren als individuelle und kollektive Befreiung von moralisch-ethischen Kodices, sofern der Mob und die politischen Eliten sich einig sind. Eben dies beschreibt Hannah Arendt im ersten Kapitel des Totalitarismus-Buches. Auf einen weiteren Aspekt trifft man in dem bereits erwähnten Aufsatz über »Organisierte Schuld« aus dem Jahre . Im dritten Abschnitt dieses Aufsatzes rechnet Arendt mit all jenen Theorien und Thesen ab, die die Bereitschaft der Täter, die »Maschine des Massenmords« zu bedienen, entweder in der deutschen Geschichte oder im sogenannten deutschen Nationalcharakter begründet sehen. Hingegen habe der Nationalsozialismus und habe totale Herrschaft im »Familienvater«, im »Spießer«, den »großen Verbrecher des . Jahrhunderts« entdeckt. Wir sind so gewohnt gewesen, in dem Familienvater die gutmütige Besorgtheit, die ernste Konzentriertheit auf das Wohl der Familie, die feierliche Entschlossenheit, Frau und Kindern das Leben zu weihen, zu bewundern oder zu belächeln, daß wir kaum gewahr wurden, wie der treusorgende Hausvater, der um nichts so besorgt war wie Sekurität, sich unter dem Druck der chaotischen ökonomischen Bedingungen unserer Zeit in einen Abenteurer wider Willen verwandelte […].

   



Ebd., S. . Ebd., S. . Arendt (Anm. ), S. -, hier S. . Ebd., S. .

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Die strukturelle »Gefügigkeit« dieses Typus, des Familienvaters, habe sich – so fährt Hannah Arendt fort – bereits zu Beginn des Regimes erwiesen. Um der »Pension, der Lebensversicherung, der gesicherten Existenz von Frau und Kindern willen« sei er bereit gewesen, »Gesinnung, Ehre und menschliche Würde preiszugeben«. Ob ein solches Psychogramm des durchschnittlichen NS -Täters treffend oder allzu pauschal ist, kann im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht bleiben. Hannah Arendt betont in diesem und ähnlichen Aufsätzen immer wieder, im modernen Massenmenschen, im »neuesten Typ des Funktionärs« sei das Funktionieren gerade nicht an einen besonderen Affekt, an eine extreme Emotion oder einen rauschhaften Hass gebunden. Im Gegenteil, mit totaler Herrschaft vollziehe sich die Verwandlung des Familienvaters aus einem an öffentlichen Angelegenheiten interessierten, verantwortlichen Mitglied der Gesellschaft in den Spießer, der nur an seiner privaten Existenz hängt und öffentliche Tugend nicht kennt. Der Vernichtungs-Antisemitismus bedarf also gerade nicht des propagandistisch herbeigeführten Hasses, gerade nicht eines in den kathartischen Rausch getriebenen Ressentiments. Vielmehr beruht er auf der Ausschaltung jedweden konkreten Gefühls zugunsten der reinen Funktion. Emotionalität und Funktionalität, Gefühl und Kalkül werden gegeneinander ausgetauscht. Diese Spießer-Mentalität – im Übrigen ein internationales und keineswegs rein deutsches Phänomen – kennzeichne den modernen Massenmenschen: Wenn sein Beruf ihn zwingt, Menschen zu morden, hält er sich nicht für einen Mörder, gerade weil er es nicht aus Neigung, sondern beruflich getan hat. Aus Leidenschaft würde er nicht einer Fliege etwas zu Leide tun. Gerade weil Hannah Arendt in der Entstehung dieses Repräsentanten einer »Verhaltenslehre der Kälte« (Helmut Lethen) kein nationalcharakteristisches, geschweige denn ein völkerpsychologisches Phänomen, sondern eine Bedingung und Folge totaler Herrschaft sieht, muss sie nach den tatsächlichen Ursachen fragen und die findet sie – mit dem von ihr verehrten, freilich politisch auch scharf kritisierten Dichter Bertolt Brecht – in den »Nöte[n] unserer Zeit«. »Bedenkt den Hunger und  Ebd.  Ebd., S. .  Ebd., S. .

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die große Kälte in diesem Tale, das von Jammer schallt«, zitiert Hannah Arendt aus der Dreigroschenoper und ergänzt, dass eben diese »Nöte« den eigentlich treusorgenden Familienvater »zum Spielball allen Wahnsinns und aller Grausamkeit machen« können. Wenn ökonomische Not und soziale Krisen, also fortdauernde Erwerbslosigkeit »den kleinen Mann um sein normales Funktionieren und seine normale Selbstachtung bringt«, schafften sie die Voraussetzungen dafür, dass er jede Funktion und schließlich auch den » Job« des Henkers übernehme. Der  auf Hebräisch,  auf Deutsch erschienene Roman von Arnold Zweig, Das Beil von Wandsbek, behandelt im Übrigen genau diesen mentalitätsgeschichtlich und emotionstheoretisch brisanten Sachverhalt. Ob Arnold Zweig Hannah Arendts Essays aus dem Aufbau und damit auch den soeben behandelten kannte, bleibt zu untersuchen. Entscheidend ist der von Hannah Arendt betonte und mit literarischen Beispielen belegte Zusammenhang von ökonomischer Krise, Verfall des politischen Systems und der Entstehung eines Sozialcharakters, eben des Spießers. Dessen Affekthaushalt ist durch schiere Not und die aus ihr erwachsende Bereitschaft zum Funktionieren bestimmt. Man wäre daher womöglich gut beraten, statt von den »Emotionen des Antisemitismus« von seiner modernetypischen »Rationalität« zu sprechen. Im Essay über »Organisierte Schuld« belegt Hannah Arendt dies selbst mit der folgenden Anekdote: Ein aus Buchenwald entlassener Jude entdeckte unter den SS -Leuten, die ihm seine Entlassungspapiere aushändigten, einen ehemaligen Schulkameraden, den er nicht ansprach, wohl aber ansah. Darauf sagte der so Betrachtete sehr spontan: Du mußt verstehen – ich habe fünf Jahre Erwerbslosigkeit hinter mir; mit mir können sie alles machen. Damit schließt sich gleichsam ein Kreis; ein freilich perfider Kreis. In der zu Beginn erwähnten Episode aus Peter Weiss’ Kindheitserinnerung stößt man auf eine fatale Dynamik, durch die dem verfolgten Opfer aufgegeben ist, das Schuldgefühl der Täter zu neutralisieren. In der soeben zitierten Passage aus Hannah Arendts Essay findet sich eine ähnliche Zumutung, in diesem Falle direkt aus dem Munde eines Täters. Ob es die psychomentale Disposition oder die materielle Notlage gebietet: Stets verfolgen die Täter ihre Opfer auch noch durch Introjektion eines Perspektivwechsels. Die Opfer sollen Verständnis für die Täter haben und zwar gleichermaßen für ihre psychische wie auch für ihre materielle Lage.  Alle Zitate ebd., S. .  Ebd., S. .

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Der »Differenzaffekt«, von dem Arnold Zweig spricht, gewinnt damit eine völlig neue Semantik. Denn Antisemitismus und totale Herrschaft erwachsen nicht lediglich aus einer anthropologischen und sozialen Antithetik zwischen dem Eigenen und dem Fremden: Vielmehr ist es den als Fremden verfolgten und zur Vernichtung freigegebenen Opfern auferlegt, die Täter zu entschulden. Davon handelt der Aufsatz »Organisierte Schuld«, während die kursorischen Reflexionen über Affekte und Emotionen des Antisemitismus im Totalitarismus-Buch darüber belehren können, dass von Letzteren nur in historischer Perspektive und gerade nicht als onto- und phylogenetischen Konstanten gesprochen werden sollte. Für eine affekttheoretisch grundierte Literaturgeschichte des Antisemitismus liefern Hannah Arendts Analysen zur sozial-dynamischen und emotionsgeschichtlichen Funktionalität und Fungibilität des Antisemitismus also höchst aussagekräftige Belege und methodische Leitlinien.



Emotionen und Antisemitismus Ein Streifzug durch die Geschichte der Antisemitismustheorien Samuel Salzborn Die wissenschaftliche Erforschung des Antisemitismus verbindet fast immer empirische und theoretische Elemente, da theoretische Reflexionen der (historischen oder aktuellen) Empirie bedürfen, um einen Wirklichkeitsbezug zu entfalten, wie andersherum empirische Studien – in unterschiedlichem Maße und bisweilen auch nicht explizit, sondern implizit – geprägt sind von den in theoretischen Überlegungen gewonnenen Erkenntnissen über Antisemitismus. Im Verhältnis von Theorie und Empirie ist nicht nur mal das eine, mal das andere dominanter, sondern auch der Theoriebegriff variiert – und insofern das Verständnis dessen, was als Antisemitismus begriffen wird. Die theoriegeschichtliche Forschung hat gezeigt, dass sich das Verständnis im Laufe der Geschichte der Antisemitismustheorien nachhaltig gewandelt hat. In der theoretischen Forschung wird Antisemitismus seit einigen Jahrzehnten zunehmend nicht einfach als »Vorurteil« begriffen, sondern als Weltbild. In den Worten von Jean-Paul Sartre formuliert, kann Antisemitismus als Verbindung von »Weltanschauung und Leidenschaft« verstanden werden, also in einer kognitiven und einer emotionalen Dimension, wobei der »systemartige Charakter« von Antisemitismus betont wird. Ungeachtet dessen, ob die Theoriebildung sich auf individualpsychologische, soziokulturelle oder gesellschaftstheoretische Dimensionen im Antisemitismus bezieht, wird dieser zunehmend als geschlossenes Denksystem mit generellem Welterklärungsanspruch interpretiert. Das antisemitische Weltbild wird dabei durch eine manichäische Verzerrung der Außenwelt mit ausbleibender Realitätsprüfung der eigenen Weltsicht strukturiert, bei der die Antisemit*innen auf eine nicht vorangegangene Aktion oder Äußerung (die lediglich von ihnen fantasiert  Vgl. Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hrsg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor , Berlin ; Franziska Krah: »Ein Ungeheuer, das wenigstens theoretisch besiegt sein muß«. Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland, Frankfurt am Main/ New York ; Samuel Salzborn: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt am Main/New York .  Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: Ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg , S. .

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wurde bzw. wird) (schein-)reagieren, wobei auch Menschen oder Eigenschaften als »Jude« oder »jüdisch« deklariert werden können, die es real nicht sind. Auf politischer und gesellschaftlicher Ebene hat sich der Antisemitismus in der aufkommenden Moderne gegen Juden und insbesondere gegen ihre rechtliche und politische Emanzipation gerichtet. Der Prozess der Radikalisierung hin zum antisemitischen Weltbild fand durch eine immer stärker werdende Betonung allgemeiner politischer Fragen statt, die über den Antisemitismus formuliert wurden. Der moderne Antisemitismus vollzieht dabei im Unterschied zum vormodernen Antijudaismus zwar eine Abstraktionsleistung, sucht dann aber wahnhaft nach konkreten Projektionsflächen und macht Jüdinnen und Juden zum Vorwurf, nicht konkret, sondern abstrakt zu sein – etwa in Form von Ware oder Geld. Antisemit*innen lehnen bestimmte Abstraktionen der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere Formen modernen Eigentums wie Geld und Aktien, ab, da diese dem Vernunftwesen nahe stünden und somit der abstrakten Intelligenz des Jüdischen verwandt seien. Damit werden in der antisemitischen Fantasie Juden zum Symbol für das Abstrakte als solches, was den höchst widersprüchlichen Gehalt antisemitischer Ressentiments begreif bar macht: Juden wird die Abstraktheit und damit die Moderne zum Vorwurf gemacht, was Sozialismus, Liberalismus und Kapitalismus gleichermaßen umfasst wie Aufklärung, Urbanität, Mobilität oder auch Intellektualität. Einzig das Konkrete und im Politischen das Völkische werden nicht von der antisemitischen Fantasie erfasst, da sie den Gegenpol zur Differenzierung zwischen allgemeiner und konkreter Denk- und Warenform und der daraus im antisemitischen Weltbild resultierenden Dichotomie von Weltgewandtheit und Bodenverbundenheit bilden. Nimmt man die Geschichte der Antisemitismustheorien vor diesem Hintergrund vergleichend in den Blick, dann kann Antisemitismus zusammenfassend als eine Art zu denken und als eine Art zu fühlen begriffen werden: Antisemitismus ist zugleich Unfähigkeit wie Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen; im Antisemitismus wird beides vertauscht, das Denken soll konkret, das Fühlen aber abstrakt sein. So bleiben alle Ambivalenzen der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht nur unverstanden und unreflektiert, sondern affektiv auch der emotionalen Bearbeitung vorenthalten, da Gefühle abstrahiert werden. Das Individuum wird im Antisemitismus doppelt desubjektiviert, es verliert die intellektuelle Hoheit über seine Selbstreflexion und gibt die Möglichkeit des emotionalen Verstehens und Mitfühlens auf. Der antisemitische  Vgl. Salzborn (Anm. ).

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Wunsch, konkret zu denken, wird ergänzt um die Unfähigkeit, konkret zu fühlen; die Weltanschauung soll konkret sein, das Gefühl aber abstrakt – was sowohl die intellektuelle, wie die emotionale Perspektive einer Inversion unterzieht, die psychisch aufgrund ihrer Dichotomie zu inneren Konflikten führen muss. Auf der weltanschaulichen Ebene ist Antisemitismus damit eine dezisionistische Haltung zur Welt, eine radikale, bewusste wie unbewusste Orientierung am kognitiven und emotionalen Glauben an den Manichäismus der antisemitischen Fantasie. In der theoretischen Antisemitismusforschung werden Emotionen vor diesem Hintergrund auf unterschiedliche Weise thematisiert. Für die hier vorgenommene ideengeschichtliche Rekonstruktion sollen zwei Aspekte betont werden: Einerseits grundsätzliche Einlassungen zur Frage, welche Rolle und Funktion Emotionen im Antisemitismus haben, und andererseits diejenigen Überlegungen, die auf die individuelle Ebene des Antisemitismus fokussieren, also auf die antisemitische Psychostruktur. Damit werden vor allem makro- und mikrostrukturelle Aspekte diskutiert werden. Die Mesoebene, die sich vor allem mit Fragen von antisemitischer Kommunikation und Interaktion sowie Aspekten intermediärer Institutionen befasst, wird hier nicht intensiver thematisiert. Antisemitismus und Emotionen: der systematische Bezug Vor allem zwei makrotheoretische Ansätze in der Antisemitismusforschung haben sich systematisch mit der Rolle und Funktion von Emotionen im Antisemitismus auseinandergesetzt: Jean-Paul Sartre in seinem Portrait de l’antisémite () und Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung (). Sartre begreift Antisemitismus als eine »passion«, die selbst in ihren gemäßigten Formen eine »totalité syncrétique« formiere und sich in scheinbar vernunftgeleiteten Diskursen ausdrücke, die jedoch bis hin zu körperlichen Veränderungen bei den Antisemit*innen führen könne. Es handle sich beim Antisemitismus um ein »engagement de l’âme« und dieses Engagement entspringe nicht der Erfahrung, weder der sozialen noch der historischen. Sartre versteht Antisemitismus als Kombination aus Weltanschauung und Leidenschaft, als »totalité syncrétique«, in de-

 Jean-Paul Sartre: Portrait de l’antisémite, in: Les Temps modernes  (), S. , hier S. .  Ebd.

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ren Mittelpunkt die Idee vom »Juden« stehe. Der Antisemitismus entspricht der freiwilligen Wahl der Antisemit*innen, sich auf diese Weise die Welt zu erklären und der Leidenschaft, den eigenen Emotionen freien Lauf lassen zu wollen: Der Antisemitismus ist eine freie und totale Wahl, eine umfassende Haltung, die man nicht nur den Juden, sondern den Menschen im allgemeinen, der Geschichte und der Gesellschaft gegenüber einnimmt; er ist zugleich eine Leidenschaft und eine Weltanschauung. Gewiß werden bei diesem Antisemiten bestimmte Merkmale ausgeprägter sein als bei jenem. Sie sind jedoch immer alle gleichzeitig vorhanden und bedingen einander. Bei dieser Leidenschaft, die der Antisemit gegenüber den Juden entwickle, handelt es sich um Hass- bzw. Wutaffekte, die sich parallel zur gesellschaftlichen Realität formieren und vermeintliche soziale oder historische Belege für das antisemitische Ressentiment zur Selbstlegitimation nutzen. Das heißt, die Antisemit*innen machen sich auf die Suche nach realen oder fiktiven Belegen, um Affekten in scheinbar legitimierter Form freien Lauf lassen zu können. Das Ziel ist ein Zustand heftiger Erregung, wie Sartre schreibt, wobei die Antisemit*innen selbst und freiwillig gewählt haben, sich in einen solchen Zustand heftiger Erregung – den der Wut und der Aggression – zu versetzen: »Da der Antisemit den Haß gewählt hat, müssen wir schließen, daß er den leidenschaftlichen Zustand liebt.« Die Ursache für diese Wahl und die antisemitische Begeisterung für den Hass sieht Sartre in einer Sehnsucht nach Abgeschlossenheit und einer Angst vor Veränderung, wobei diese Angst mit einer Angst vor sich selbst wie vor der Wahrheit korrespondiere: Es handelt sich um eine Urangst vor sich selbst und um Angst vor der Wahrheit. Und was sie erschreckt, ist nicht der Inhalt der Wahrheit, den sie nicht einmal ahnen, sondern die Form des Wahren, jenes Gegenstandes unendlicher Annäherung. Das ist, als wäre ihre eigene Existenz ständig in der Schwebe. Sie wollen jedoch alles auf einmal  Vgl. Thomas Martin: The Role of Emotion in Sartre’s Portrait of Anti-Semitism, in: Australasian Journal of Philosophy  (), S. -.  Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage. Deutsch von Vincent von Wroblewsky, in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Politische Schriften Band , Reinbek b. Hamburg , S. .  Vgl. ebd.  Ebd., S. . Herv. im Original.

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und alles sofort leben. Sie wollen keine erworbenen Anschauungen, sie erstreben angeborene; da sie Angst vor dem Denken haben, möchten sie eine Lebensweise annehmen, bei der Denken und Nachforschen nur eine untergeordnete Rolle spielen, wo man immer nur nach dem forscht, was man schon gefunden hat, wo man immer nur wird, was man schon war. Sartre argumentiert als Existenzialist, der das Moment der Freiheit stark macht – und insofern betont, dass die Wahl, Antisemit*in zu sein, eine freie Entscheidung des Individuums sei. So überzeugend das Argument mit Blick auf die Verantwortungsdimension ist – jedes Individuum ist moralisch und ethisch haftbar zu machen, für alles, was es denkt und tut, ganz gleich, ob es dies bewusst und reflektiert oder unbewusst und affektiv unternimmt – so sehr leidet es an einer gesellschaftstheoretischen Unterkomplexität. Es übersieht, dass es objektive Sozialstrukturen gibt, die individuelle Entwicklung ermöglichen oder verhindern, und dass insofern eine gesellschaftliche Ordnung, die eine totale, also in ihrem Anspruch nach alle Individuen erfassende, ist, keineswegs freie Subjekte produziert, sondern ganz im Gegenteil über ihre Sozialisationsagenturen ihre Ideologie vermittelt und damit reproduziert. Sartre argumentiert insofern zwar makroanalytisch, allerdings ohne einen dezidierten Begriff von Gesellschaft und, mehr noch, Vergesellschaftung zu haben. Dennoch legt sein theoretischer Ansatz die entscheidende argumentative Grundlage für ein Verständnis von Antisemitismus, das diesen in einer Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft versteht, an das gesellschaftskritische Ansätze anschließen können. So richten Horkheimer und Adorno ihren Blick genau auf dieses bei Sartre blinde Moment der Vergesellschaftung. Denn die antisemitischen Verhaltensweisen würden, so ihr Argument, in eben genau solchen Situationen ausgelöst, in denen verblendete, der Subjektivität beraubte Menschen als Subjekte losgelassen würden: Erst die Blindheit des Antisemitismus, seine Intentionslosigkeit, verleiht der Erklärung, er sei ein Ventil, ihr Maß an Wahrheit. Die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen an die Stelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags,  Ebd.  Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam , S. .

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sobald es als die Norm sich mächtig fühlt. Es gibt keinen genuinen Antisemitismus, gewiss keine geborenen Antisemiten. […] Diese aber, die weder ökonomisch noch sexuell auf ihre Kosten kommt, haßt ohne Ende; sie will keine Entspannung dulden, weil sie keine Erfüllung kennt. So ist es in der Tat eine Art dynamischer Idealismus, der die organisierten Raubmörder beseelt. Bemerkenswert an diesen Ausführungen ist zweierlei. Erstens die Betonung, dass der Antisemitismus nicht den ökonomischen Nutzen im Blick habe, sondern dass es vielmehr um psychische, also emotionale und affektive Dispositionen gehe, wobei der Antisemitismus nur vordergründig intentionslos sei: Die Intention bilde allerdings der (unbewusste) Affekt, der entladen werden solle – womit Horkheimer und Adorno den entscheidenden theoretischen Schritt über Sartre hinausgehen, der noch in einem rational-ökonomischen Interessenbegriff befangen blieb und nicht sah, dass das menschliche Interesse auch triebbedingt, also unbewusst, dominiert sein kann, wie es beim Antisemitismus der Fall ist. Mit Blick auf die Emotionen im Antisemitismus ist es dabei wichtig, den Triebbegriff nicht – wie dies in einer umgangssprachlichen Psychoanalyserezeption oft nahegelegt wird – in einem biologistisch-deterministischen Verständnis zu interpretieren, sondern in einem sozial-psychologischen und damit psychosomatischen Sinn (der im Übrigen auch im englischen drive stärker zum Ausdruck kommt als im deutschen Trieb). Zur Verdeutlichung der gesellschaftlichen Trieb-Dimensionen sei an die Differenzierung des Triebbegriffs in die Momente Drang, Ziel, Objekt und Quelle erinnert und damit die Andeutung unterschiedlicher – somatischer, psychischer und sozialer – Dimensionen des Triebes. Im Begriff der Kritischen Theorie wäre noch treffender von der zweiten Natur zu sprechen. In ihren Elementen des Antisemitismus setzen sich Horkheimer und Adorno (besonders in der . These) intensiv mit eben dieser emotionalen Affektstruktur des Antisemitismus auseinander, die sie auf den Begriff der Idiosynkrasie bringen und sich damit auf die Unterstellung der Antisemiten beziehen, ihr Verhalten sei quasi natürlich. Bei der Berufung auf Idiosynkrasie handele es sich um ein altes Muster des Antisemitismus, so Horkheimer und Adorno, und die Emanzipation der Gesellschaft vom Antisemitismus hänge davon ab, ob der Inhalt der Idiosynkrasie zum  Ebd., S.  f.  Vgl. Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale (), in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. X, hrsg. von Anna Freud, Frankfurt am Main , S. -.

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Begriff erhoben und das Sinnlose seiner selbst innewerde. Als natürlich werde das Allgemeine begriffen, nämlich das, was sich in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfüge, wohingegen sich Idiosynkrasie an das Besondere hefte. Damit werde als natürlich verklärt, was ist. Entscheidend in Bezug auf die Affektstrukturierung des Antisemitismus sei dabei, dass die Idiosynkrasie als antisemitisches Motiv es ermögliche, sich der Herrschaft des Subjekts wieder zu entziehen, sich auf biologisch fundamentale Reize zu berufen und diesen scheinbar nur noch gehorchen zu müssen: »Das Ich, das in solchen Reaktionen, wie der Erstarrung von Haut, Muskel, Glied sich erfährt, ist ihrer doch nicht ganz mächtig.« Der Bezug zu Sartres Antisemitismus-Theorie wird hier offenkundig: Auch Sartre betonte die körperlichen Veränderungen beim Antisemiten und dessen Abzug von der Realität, den Horkheimer und Adorno hier als idiosynkratischen Prozess beschreiben, aber in ihrer Beschreibung über Sartre durch eine kritische Begriffsreflexion hinausgehen. Und Sartres Betonung, dass der Antisemitismus nicht einfach eine Meinung über die Juden sei, sondern etwas, das – verbunden mit der Angst vor dem, was als jüdisch fantasiert wird – die ganze Person des Antisemiten erfasse, zeigt überdies auch eine hohe empirische Affinität zum Konzept der Authoritarian Personality der Kritischen Theorie. Sartre sprach in diesem Kontext von der Leidenschaft des Antisemiten, die aus ihm selbst komme und ihn davon befreie, sich mit sich selbstreflexiv auseinandersetzen zu müssen, wobei nur der Antisemit selbst wisse, wie weit seine Radikalität und seine Destruktivität reichen. Bei Horkheimer und Adorno wird dieser Vorgang schließlich auf den Begriff der Mimesis und der falschen Projektion gebracht und damit durch die Lokalisierung des antisemitischen Affekts in der Gewaltstruktur der bürgerlichen Gesellschaft auch im soziologischen Sinn entexistenzialisiert. Denn Horkheimer und Adorno folgend verschränkt sich das idiosynkratische Moment mit einer projektiven Dimension, da es darum gehe, das als unnatürlich und besonders verabscheuungswürdig zu verurteilen, was am eigenen Selbst unterdrückt sei: Sie [die Antisemiten] reproduzieren die Unersättlichkeit der Macht in sich, vor der sie sich fürchten. Alles soll gebraucht werden, alles soll ihnen gehören. Die bloße Existenz des anderen ist das Ärgernis. […] Was einer fürchtet, wird ihm angetan. Selbst die letzte Ruhe soll  Vgl. Horkheimer/Adorno (Anm. ), S. .  Ebd.  Vgl. Theodor W. Adorno/Else Frenkel-Brunswik/Daniel J. Levinson/R. Nevitt Sanford: The Authoritarian Personality, New York .



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keine sein. Die Verwüstung der Friedhöfe ist keine Ausschreitung des Antisemitismus, sie ist er selbst. […] Im Todeskampf der Kreatur, am äußersten Gegenpol der Freiheit, scheint die Freiheit unwiderstehlich als die durchkreuzte Bestimmung der Materie durch. Dagegen richtet sich die Idiosynkrasie, die der Antisemitismus als Motiv vorgibt. Das projektive Moment verschränke sich dabei in der Idiosynkrasie mit einer Rationalisierung und die seelische Energie, die der Antisemitismus einspanne, sei eine rationalisierte Idiosynkrasie: Alle die Vorwände, in denen Führer und Gefolgschaft sich verstehen, taugen dazu, daß man ohne offenkundige Verletzung des Realitätsprinzips, gleichsam in Ehren, der mimetischen Verlockung nachgeben kann. Sie können den Juden nicht leiden und imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt. Das sind immer selbst mimetische Chiffren: die argumentierende Handbewegung, der singende Tonfall, wie er unabhängig vom Urteilssinn ein bewegtes Bild von Sache und Gefühl malt, die Nase, das physiognomische principium individuationis, ein Schriftzeichen gleichsam, das dem Einzelnen den besonderen Charakter ins Gesicht schreibt. Ohne den Begriff explizit zu gebrauchen, gehen Horkheimer und Adorno dabei auf das in der Psychoanalyse beschriebene ozeanische Gefühl als pränataler Verschmelzungsfantasie ein und wenden sich dem antisemitischen Motiv der Riechlust zu. Wer Gerüche wittere, um sie zu tilgen, schlechte zumal, dürfe das Schnuppern nach Herzenslust nachahmen, das am Geruch seine unrationalisierte Freude habe: »Im Sehen bleibt man, wer man ist, im Riechen geht man auf.« Somit kann dem verpönten Trieb und seinen emotionalen Gelüsten immer dann gefrönt werden, wenn außer Zweifel stehe, dass das Ziel seine Ausrottung sei: Indem der Zivilisierte die versagte Regung durch seine unbedingte Identifikation mit der versagenden Instanz desinfiziert, wird sie durchgelassen. Wenn sie die Schwelle passiert, stellt Lachen sich ein. Das ist das Schema der antisemitischen Reaktionsweise. Um im Augenblick der autoritären Freigabe des Verbotenen zu zelebrieren, versammeln  Horkheimer/Adorno (Anm. ), S. .  Ebd., S.  f.  Vgl. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (), in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XIV , hrsg. von Anna Freud, Frankfurt am Main , S. -; Ders.: Das Unbehagen in der Kultur (), in: ebd., S. -.  Vgl. Horkheimer/Adorno (Anm. ), S. .

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sich die Antisemiten, er allein macht sie zum Kollektiv, er konstituiert die Gemeinschaft der Artgenossen. Ihr Getöse ist das organisierte Gelächter. In diesem Sinne interpretieren Horkheimer und Adorno dann auch den – wie sie es nennen – Sinn des faschistischen Formelwesens, der ritualen Disziplin, der Uniform und der gesamten vorgeblich irrationalen Apparatur als mimetisches Verhalten bzw. als Möglichkeit, dieses zu schaffen. Die ausgeklügelten Symbole, die jeder konterrevolutionären Bewegung eigen sind, die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische Trommelschlag, das monotone Wiederholen von Worten und Gesten sind ebensoviel organisierte Nachahmung magischer Praktiken, die Mimesis der Mimesis. Den zugrunde liegenden Mechanismus, die letztlich bestehende Angst vor dem eigenen Unbewussten und damit vor den eigenen emotionalen Trieben, benennen Horkheimer und Adorno als Rebellion der unterdrückten Natur gegen die Herrschaft, wobei diese Rebellion unmittelbar der Herrschaft selbst nutzbar gemacht werde und damit letztlich eine Kanalisierung und eine Homogenisierung erfahre. Dieser Mechanismus bedürfe der Juden und ihrer künstlich gesteigerten Sichtbarkeit: Den Juden insgesamt wird der Vorwurf der verbotenen Magie, des blutigen Rituals gemacht. Verkleidet als Anklage erst feiert das unterschwellige Gelüst der Einheimischen, zur mimetischen Opferpraxis zurückzukehren, in deren eigenem Bewußtsein fröhliche Urständ. Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion. Die völkischen Phantasien jüdischer Verbrechen, der Kindermorde und der sadistischen Exzesse, der Volksvergiftung und internationalen Verschwörung definieren genau den antisemitischen Wunschtraum und bleiben hinter seiner Verwirklichung zurück. Juden werden dessen schuldig gesprochen, sagen Horkheimer und Adorno, was sie als Erste in sich gebrochen haben, nämlich der Verführbarkeit durchs Untere, des Dranges zu Tier und Erde, des Bilderdienstes. Weil sie, die Juden, den Begriff des Koscheren erfunden hätten, würden  Ebd.  Ebd., S. .  Ebd., S. .

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sie als Schweine verfolgt. Damit machen sich die Antisemit*innen zu Vollstreckern des alten Instruments, indem sie dafür sorgen, dass die Juden, da sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben, zu Erde werden. Entscheidend in theoretischer Hinsicht ist, dass der Antisemit an dem Juden versucht das zu vollstrecken, was er am meisten fürchtet und was ihm durch die Zivilisation untersagt ward: »Zivilisation ist der Sieg der Gesellschaft über Natur, der alles in bloße Natur verwandelt.« Genau in dieser Dialektik ist Horkheimer und Adorno zufolge der Kern des Antisemitismus zu sehen. Das Natürliche wird durch Zivilisierung eliminiert und in diesem Eliminierungsprozess, da es sich dabei nicht um eine integrative Aufhebung, sondern um eine Zerstörung handelt, wiederum in schroffe Natur und damit Gewaltform verwandelt: Das Besondere, das Nicht-Identische, das sich der Angleichung an das Allgemeine entzieht und mittels Gleichheit und Vergleichbarkeit die historisch angehäuften idiosynkratischen Anteile herausstellt, wird in den Augen der zwanghaft Verfolgenden mit Attributen in Verbindung gebracht, die frei zu sein scheinen von krampfhafter Beherrschung der Natur, nämlich »des Glücks ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos«. Letztlich geht es im Antisemitismus um den kognitiv wie emotional artikulierten Wunsch nach Unfreiheit und Identität, verbunden mit der Angst vor Freiheit und Ambivalenz. Durch die Exklusion der Juden aus dem als homogen fantasierten Kollektiv und ihre sowohl politischgesellschaftliche wie symbolische Isolierung soll die »Sehnsucht nach Vollkommenheit« aufrechterhalten werden, wobei die narzisstische Homogenität für die Antisemit*innen einen Wert an sich darstellt. Die antisemitische Leidenschaft Horkheimer und Adorno haben, wie gesagt, betont, dass der Antisemitismus nicht den ökonomischen Nutzen im Blick hat, sondern dass es  Vgl. ebd., S. .  Ebd., S. .  Dan Diner: Aporie der Vernunft. Horkheimers Überlegungen zu Antisemitismus und Massenvernichtung, in: Ders. (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main , S. -, hier S. .  Josef. H. Ludin: Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Ein Essay zum Buch von Béla Grunberger und Pierre Dessuant, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis  (), S. -, hier S. .

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ihm um psychische Dispositionen geht. Seine Intention ist vorrangig unbewusst und emotional bestimmt. In Anlehnung an Béla Grunberger kann gesagt werden, dass der Antisemit seine Konflikte auf den »Juden« projiziert und einige seiner psychischen Komplexe auf ihn abreagiert. Die psychoanalytische Interpretation des frühkindlichen Ambivalenzkonfliktes und der ödipalen Situation als subjektive Ursprünge antisemitischer Fantasien grundiert die psychosozialen Erkenntnisse über die Projektionen des Antisemitismus. Damit werden der Fantasien- und Mythenhaushalt wie auch die Frage der individuellen Attraktivität antisemitischer Ressentiments in ihrer sozialen Dynamik mit einer charakterologischen Perspektive verknüpft. Diese ist zugleich wiederum über die trianguläre Familienstruktur in ihrer sozialfunktionellen Dimension als Medium Familie und damit »Agentur der Gesellschaft« mittelbar mit der Meso- und Makrostruktur der bürgerlichen Gesellschaft verwoben. Nach den charakterologischen Interpretationen von Rodolphe Lœwenstein, Otto Fenichel, Mortimer Ostow, Ernst Simmel und Béla Grunberger ist aufgrund von empirischen Analysen davon auszugehen, dass es eine einheitliche antisemitische Persönlichkeit nicht gibt, sondern dass vielmehr ein Ensemble an prädisponierenden Variablen existiert, die aber nicht zu identischen Persönlichkeitsstrukturen bei allen Antisemit*innen führen, da die in der psychoanalytischen Literatur beschriebenen Charakterstrukturelemente sozialpsychologisch parallel auftreten und sich ergänzen, möglicherweise auch abhängig von der individuellen Biografie und den gesellschaftlichen Kontexten mal mehr oder mal weniger stark radikalisieren können. Die psychische Gemeinsamkeit aller Antisemit*innen besteht abstrakt formuliert lediglich in einer ähnlichen Prädisponierung des psychischen Apparats von Es, Ich und Über-Ich und ähnlichen Mustern bei  Vgl. Béla Grunberger: Der Antisemit und der Ödipuskomplex, in: Psyche. Eine Zeitschrift für psychologische und medizinische Menschenkunde XIV (), S. -.  Vgl. Erich Fromm: Sozialpsychologischer Teil, in: Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Studien über Autorität und Familie, Paris , S. -, hier S. .  Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Familie, in: Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Soziologische Exkurse, Hamburg , S. -, hier S. .  Vgl. Rodolphe Lœwenstein: Psychanalyse de l’antisémitisme, Paris ; Otto Fenichel: Elements of a Psychoanalytic Theory of Anti-Semitism, in: Ernst Simmel (Hrsg.): Anti-Semitism. A Social Disease, New York , S. -; Mortimer Ostow: Myth and Madness. The Psychodynamics of Antisemitism, New Brunswick/ London ; Ernst Simmel: Anti-Semitism and Mass Psychopathology, in: Ders.: Anti-Semitism: A Social Disease, New York , S. -; Grunberger (Anm. ). Zu den empirischen Analysen vgl. Salzborn (Anm. ), S. -.

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der psychischen Reaktionsbildung. Generell betrachtet wird das antisemitische Ich durch Projektionen strukturiert, die in Erweiterung von Grunberger als vom Rest der Persönlichkeit mehr oder weniger stark isoliert beschrieben werden können, woraus eine – ebenfalls mehr oder minder ausgeprägte – Ich-Spaltung resultiert. Die Unauflöslichkeit der projektiven Strukturierung des antisemitischen Ichs ist der Grund, aus dem Antisemit*innen das Realitätsprinzip ablehnen und im Bereich primitiver seelischer Organisation, den sogenannten Primärprozessen, verbleiben und sich eine Welt der Trugbilder schaffen. Deshalb reagieren Antisemit*innen auf Richtigstellungen der gesellschaftlichen Realität, die ihren eigenen Fantasien widersprechen, gereizt und aggressiv, da sie – wie auch Horkheimer und Adorno betont haben – die Wirklichkeit außerhalb ihrer ideologischen Innenwelt ablehnen. Diese Form der spezifischen Regression beeinflusst aber nicht nur das Ich, sondern ebenfalls das Über-Ich der Antisemit*innen, das Grunberger als unausgereift und aus verschiedenen Entwicklungsphasen bestehend beschrieben hat: Die Hauptrolle spielt hierbei ein Überich, das nicht aus Introjektion der Objekte, sondern aus Dressaten herrührt. Dieses prägenitale Überich, das sich mit der uns bekannten Strenge aufdrängt, führt nicht zu einer echten Identifikation, sondern bleibt immer ein System von Dressaten. Es besteht einzig aus Befehlen und Verboten. Dieses antisemitische Über-Ich hat lediglich die formale Macht, die das Individuum zu den Adressaten zwang, introjiziert – unabhängig von ihrem Inhalt. Da die Projektionen der Antisemit*innen unter dem Druck des prägenitalen Über-Ich zustande kommen, kann in den Anschuldigungen gegen die Juden auch der prägenitale Ursprung dieser Phantasmen erkannt und an deren Stereotypie ihr regressiv archaischer Charakter abgelesen werden. Hinsichtlich der Konstituierung des individuellen Über-Ich steht, soziologisch betrachtet, aber nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft im Mittelpunkt, da die durch die Familie vermittelten inhaltlichen wie formellen Werte, Normen und Gebote stets Reproduktionen politischer und gesellschaftlicher Wert- und Normorientierungen sind, freilich nicht unreflektiert und ungebrochen, aber eben in keiner Weise individuell, sondern lediglich individualisiert. Bei der Frage nach der antisemitischen Persönlichkeitsstruktur handelt es sich überdies um einen historisch-affiliierenden Prozess. Das heißt,  Grunberger (Anm. ), S. .  Vgl. ebd., S. .

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dass die kognitive und emotionale Geschlossenheit des Weltbildes (und damit: die Radikalität der Ich-Spaltung) und die Harmonie oder Disharmonie von Ich und Über-Ich konkret von individueller Biografie und sozialen wie politischen Kontexten abhängig sind und sich dementsprechend weiter stabilisieren und radikalisieren können. Offen bleibt dabei die Frage nach dem point of no return, also dem Punkt, an dem sich das antisemitische Vorurteil zum Weltbild geschlossen und die Ich-Spaltung weitgehend zugunsten einer durch den Antisemitismus relativ homogen strukturierten Persönlichkeitsstruktur suspendiert hat. Es ist davon auszugehen, dass eine kognitive und vor allem emotionale Prädisposition für antisemitische Denk- und Gefühlsstrukturen in der Kindheit psychodynamisch generiert und damit auch mit einem graduellen Potenzial zur Revision im weiteren Leben versehen wird. Anders ausgedrückt: Die Revision antisemitischer Ressentiments ist pädagogisch überhaupt nur denkbar, wenn diese nicht bereits in der Kindheit zum emotionalen und kognitiven Fundament für die gesamte Persönlichkeitsstruktur des Menschen geworden sind. Wenn den Antisemit*innen ihre Projektion auf Jüdinnen und Juden allerdings gelingt, dann haben sie ihr manichäisches Paradies verwirklicht: All das Böse befindet sich von nun an auf der einen Seite, eben da, wo der Jude sich in ihrer Sicht befindet, und all das Gute auf der anderen, da, wo die Antisemit*innen sich in ihrer Binnenperspektive selbst befinden. Das Ich-Ideal der Antisemit*innen ist laut Grunberger narzisstischer Natur und dessen Befriedigung entspricht einer vollständigen Integrität, die sie durch die Projektion auf den Juden gewonnen haben. Das Ziel der Herstellung narzisstischer Integrität besteht in der Verdeckung einer offenen Wunde, die Grunberger folgend im Kontext des Ödipuskomplexes zentral ist. Denn Menschen mit antisemitischen Einstellungen haben die narzisstische Kränkung ihres Selbstgefühls nie zu korrigieren vermocht und sind damit am ödipalen Konflikt gescheitert. Mit der individuellen Kränkung korrespondiert die von Sigmund Freud beschriebene kollektive Kränkung, die sich in der christlichen Eifersucht auf die religiöse Auserwähltheit des Judentums und der projektiven Fantasie einer »jüdischen Weltverschwörung« ausdrückt.

 Vgl. Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion (), in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XVI , hrsg. von Anna Freud, Frankfurt am Main , S. -.

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Die emotionale Verbindung von Schuldgefühl und Aggressionen Insofern wird auf der individualpsychologischen Ebene auch transparent, was Ostow für die apokalyptischen Vorstellungen des Christentums beschrieben hat, in denen von einer mythischen Spaltung der Welt in »elements of danger or destruction with elements of achievement or victory« gesprochen wird, die »death fantasies« mit »rebirth fantasies« kombinieren, stets verknüpft mit messianischen Elementen und einer Hoffnung auf das Ende des gegenwärtigen, negativ apostrophierten Zeitalters. Für das Anbrechen einer neuen Ära, einen Endsieg des Guten, sei die Vernichtung der Feinde notwendig, was Ostow auf die Formulierung bringt: »But one person’s apocalypse is another’s Holocaust.« Infolge einer Offenbarung durch eine messianische Gestalt erfolgte der apokalyptische Umbruch der Welt hin zur »messianic era«, wobei die Anhänger*innen der antisemitischen Apokalypse sich mit ihrer Messiasfigur, einem »messianic deliverer« identifizieren (Ostow deutet Adolf Hitler als eine solche Gestalt), was neben der kulturpsychologischen auch auf die massenpsychologische Dimension des Antisemitismus hinweist: The word apocalypse means revelation. Each apocalypse characteristically begins with a revelation. The receiver of the revelation, the announcer of the apocalypse, is told some secret relating to death and rebirth, how and when it will come about, who will die, and who will be saved. In antisemitic apocalyptic mythology, the secret that is revealed is that it is the Jew who is at fault for the suffering and who must be destroyed. The antisemitic myth is the apocalyptic revelation. Die eigenen Konflikte der antisemitischen Psyche werden im Zustand ihrer radikalsten Zuspitzung nicht mehr ausgehalten, die Ambivalenz gegenüber den verdrängten Triebregungen des Es und der verinnerlichten Vater-Autorität des Über-Ich wird so unerträglich, dass sie nur noch durch Externalisierung und damit Projektion aushaltbar bleibt.  Ostow (Anm. ), S.  u. .  Mortimer Ostow (), The Psychodynamics of Apocalyptic: Discussion of Papers on Identification and the Nazi Phenomenon, in: The International Journal of Psycho-Analysis  (), S. -, hier S. .  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Vgl. ebd., S. .  Ostow (Anm. ), S. .

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Die Juden dienen damit wahnhaft als »dämonisierte Inkarnation der eigenen projizierten Zerstörungslust«. In Ergänzung zu Grunberger ist es insofern wichtig, den Hinweis von Lœwenstein aufzugreifen, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass »der Jude« in doppelter Hinsicht für den Antisemitismus als Projektionsobjekt fungiert: einerseits für die »verdrängten Triebe«, das eigene »Schlechte«, das Verbotene (was auf die psychische Verknüpfung antisemitischer Ressentiments mit dem Komplex der Analität und damit den semantischen Feldern des Schmutzes, der Exkremente, der Dunkelheit, des Geheimnisvollen, der Sexualität und des Geldes verweist), anderseits für den gehassten wie geliebten Vater, also – psychoanalytisch gesprochen – als Repräsentant sowohl für das Es wie zugleich auch für das Über-Ich. Der für den Antisemitismus charakteristische psychische Mechanismus der Projektion fungiert als emotionale Abwehr gegen die Bestrebungen des eigenen Unbewussten, wie Fenichel beschrieben hat: For the unconscious of the rioters, the Jew represents not only the authorities whom they do not dare to attack, but also their own repressed instincts which they hate and which are forbidden by the very authorities against whom they are directed. Anti-Semitism is indeed a condensation of the most contradictory tendencies: instinctual rebellion directed against the authorities, and the cruel suppression and punishment of this instinctual rebellion, directed against oneself. Unconsciously for the anti-Semite, the Jew is simultaneously the one against whom he would like to rebel, and the rebellious tendencies within himself. Der emotionale Ausgangspunkt aller aggressiven Affekte ist dabei aus psychologischer Sicht der theoretischen Antisemitismusforschung ein Minderwertigkeitsgefühl, genauer: ein historisch tradiertes, individuell internalisiertes Schuldgefühl. Grundlage für dieses Schuldgefühl als dominanter Emotion im Antisemitismus ist eine religionspsychologische Tradierung. Denn der Jude als Objekt des Antisemitismus ist Simmel zufolge das schlechte Gewissen der christlichen Zivilisation. Durch die Anklage eines Anderen statt des Selbst werde auch jedes Schuldgefühl vermieden, was zur Abwehr der Erkenntnis eigener Schuld diene. Dies wiederum sei ein Charakteristikum des Projektionsprozesses, wobei es  Hermann Beland: Psychoanalytische Antisemitismustheorien im Vergleich, in: Werner Bergmann/Mona Körte (Hrsg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin , S. -, hier S.  f.  Fenichel (Anm. ), S. .  Simmel (Anm. ), S. .

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auch hier letztlich um eine Externalisierung des Über-Ichs gehe: »In this way the anti-Semite projects onto the Jew the aggressions diverted from his own ego, thereby sparing himself the perception of guilt.« Die von Antisemit*innen erhobenen Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden können, so Simmel, als Rationalisierung aggressiver Triebe bezeichnet werden – wobei betont werden muss, dass der Antisemit an seine falschen Beschuldigungen nicht trotz, sondern wegen ihrer Irrationalität glaube. Die Einstellung des Paranoikers zu seinem Verfolger schwanke zwischen Furcht bzw. Flucht und Auflehnung bzw. Angriff. Seine Furcht vor dem Verfolger trete an die Stelle eines früheren Schuldgefühls, Schuld werde durch Aggression ersetzt. Und genau das sei die Wahrnehmung des Antisemiten, so Simmel, der den Juden verfolgen muss, weil er sich einbildet, vom Juden verfolgt worden zu sein. Historischer Ausgangspunkt dafür ist ein bei den Antisemit*innen bestehendes Schuldgefühl und die damit verknüpfte projektive Fokussierung des Gottesmordvorwurfes auf »die Juden«, den Freud religionspsychologisch in Der Mann Moses und die monotheistische Religion () kontextualisiert und sich dabei auf ältere, kulturtheoretische Überlegungen gestützt hat, in denen maßgeblich das Verhältnis von Schuld(gefühl) und (aggressiver) Abwehr analysiert wurde. Der von Freud in Totem und Tabu (/) beschriebene »kannibalistische Akt« der Ermordung des Vaters werde so verständlich als der Versuch, sich durch Einverleibung eines Stücks von ihm der eigenen Identifizierung versichern zu können, wobei nach der »Vatertötung« die verbliebenen Brüder untereinander eine lange Zeit um das Vatererbe stritten: Die Einsicht in die Gefahren und die Erfolglosigkeit dieser Kämpfe, die Erinnerung an die gemeinsam vollbrachte Befreiungstat und die Gefühlsbindungen aneinander, die während der Zeiten der Vertreibung entstanden waren, führten endlich zu einer Einigung unter ihnen, einer Art von Gesellschaftsvertrag. Es entstand die erste Form einer sozialen Organisation mit Triebverzicht, Anerkennung von gegenseitigen Verpflichtungen, Einsetzung bestimmter, für unverbrüchlich (heilig) erklärter Institutionen, die Anfänge also von Moral und Recht. Jeder einzelne verzichtete auf das Ideal, die Vaterstellung für sich zu erwerben, auf den Besitz von Mutter und Schwestern. Damit war das Inzesttabu und das Gebot der Exogamie gegeben.    

Ebd., S. . Vgl. ebd., S.  f. Vgl. ebd., S. . Freud (Anm. ), S.  f.

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Freud sah im Monotheismus, Ingrid Peisker zufolge, die Wiederkehr des Ur-Vaters, der erst ermordet, dessen Erinnerung wie diejenige an die Tat verdrängt, der wiederum zum Totem und später zum polytheistischen Pantheon erhoben wurde, um dann in Gestalt der monotheistischen Vater-Religion zurückzukehren, wobei alle ambivalenten Gefühle reaktiviert wurden, die für das Vaterverhältnis kennzeichnend sind. Die Ambivalenz umfasst dabei gleichermaßen Liebe wie Hass, Bewunderung wie Verachtung, wobei die rebellische Feindseligkeit zur Ermordung des bewunderten wie gefürchteten Vaters führte (hier wird auf das hypothetische Motiv der aus den Söhnen bestehenden »Ur-Horde« rekurriert), letztlich aber das Schuldbewusstsein als Reaktion auf den feindseligen Akt als »schlechtes Gewissen« wiederkehrte. Analog zu Freuds Argumentation und der daraus resultierenden Abwehr der Tötung des Moses hätte sich »nach einer Zeit mehrhundertjähriger Latenz« und dem Fortwirken sowie der Wiederkehr der aus der Tötung resultierenden Schuldgefühle die Moses-Religion letztlich doch durchgesetzt, weil sie das Volk Anteil nehmen ließ an der »Großartigkeit einer neuen Gottesvorstellung«, weil sie behauptete, das Volk sei von diesem Gott auserwählt und weil sie dem Volk einen »Fortschritt in der Geistigkeit aufnötigte, der, an sich bedeutungsvoll genug, überdies den Weg zur Hochschätzung der intellektuellen Arbeit und zu weiteren Triebverzichten eröffnete«. Ungeachtet dessen, ob und wie weitreichend Freud mit seiner Annahme über die religiös-historische Figur Moses und die Genese von Monotheismus und jüdischer Religion recht hat, sind seine Beobachtungen und Überlegungen zum Charakter und Gehalt der jüdischen Religion bemerkenswert: Die tieferen Motive des Judenhasses wurzeln in längst vergangenen Zeiten, sie wirken aus dem Unbewußten der Völker, […]. Ich wage die Behauptung, daß die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das  Ingrid Peisker: Vergangenheit, die nicht vergeht. Eine psychoanalytische Zeitdiagnose zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, Gießen , S. .  Hermann Beland: Psychoanalytische Antisemitismustheorien im Vergleich, in: Werner Bohleber/John S. Kafka (Hrsg.): Antisemitismus, Bielefeld , S. -, hier S. .  Freud (Anm. ), S. .  Vgl. Jan Assmann: Moses the Egyptian. The Memory of Egypt in Western Monotheism, Cambridge/London ; Thanos Lipowatz: Der »Fortschritt in der Geistigkeit« und der »Tod Gottes«, Würzburg ; Peter Schäfer: Der Triumph der reinen Geistigkeit. Sigmund Freuds »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, Berlin/Wien .

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erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters ausgab, bei den anderen heute noch nicht überwunden ist, so als ob sie dem Anspruch Glauben geschenkt hätten. Ferner hat unter den Sitten, durch die sich die Juden absonderten, die der Beschneidung einen unliebsamen, unheimlichen Eindruck gemacht, der sich wohl durch die Mahnung an die gefürchtete Kastration erklärt und damit an ein gern vergessenes Stück der urzeitlichen Vergangenheit rührt. Neben der damit verorteten christlichen Grundierung des Judenhasses sind vor allem zwei Aspekte auch aus heutiger Sicht noch zentral an dieser Analyse, da sie zeigen, welche Bedeutung Neid und Angst für die antisemitischen Projektionen haben. Der antisemitische Neid bezieht sich auf das beschriebene Moment der Auserwähltheit, das theoretisch verknüpft ist mit dem im rabbinischen Judentum (im Unterschied zum Christentum oder zum Islam) nicht bestehenden Willen zur Missionierung. Freud charakterisiert dieses Moment als Eifersucht, es ließe sich aber auch im psychologischen Begriff der narzisstischen Kränkung fassen, die auf projektive Weise wiederkehrt: Es ist die Religion des Urvaters, an die sich die Hoffnung auf Belohnung, Auszeichnung, endlich auf Weltherrschaft knüpft. Diese letzte Wunschphantasie, vom jüdischen Volk längst aufgegeben, lebt noch heute bei den Feinden des Volkes im Glauben an die Verschwörung der »Weisen von Zion« fort. Mit Blick auf die Dimension der antisemitischen Angst ist der Begriff der Kastration und die Furcht vor dieser zentral – der außerhalb der psychoanalytischen Diskussion zunächst irritieren mag, wenn man ihn nicht sozialwissenschaftlich übersetzt. Denn man muss den Begriff der Kastration nicht im engeren Sinne anatomisch, sondern sozial begreifen: als Angst vor Verlust von Stärke, Anerkennung, Liebe oder Status bzw. als Reaktion auf genau diesen Verlust, wobei sie als Angst zu aggressivem, als Depression eher zu defensivem Ausagieren der unbewältigten Konflikte führt. Die im Judentum tatsächlich praktizierte Beschneidung wird damit in den antisemitischen Fantasien zum unheilvollen, unheimlichen und verängstigenden Mythos. In Anlehnung an Freud argumentiert Rodolphe Lœwensteins Studie Psychanalyse de l’antisémitisme. Er bestärkt darin Freuds These über die  Freud (Anm. ), S.  f.  Ebd., S. .  Siehe hierzu Dana Ionescu: Judenbilder in der deutschen Beschneidungskontroverse, Baden-Baden .

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in christlicher Tradition fantasierte Befreiung vom Schuldgefühl durch den antijüdischen Gottesmordvorwurf aus eigenen klinischen Untersuchungen und schlussfolgert daraus die durch religiöse Unterweisung bei Christen hervorgerufene »Intensivierung der Triebkonflikte der ödipalen Ambivalenz, die Überichprägung und die Übernahme der Elemente des kollektiven Vorurteilsmusters vom Juden als Sündenbock«: Die Juden, die in den Evangelien den Glauben an Seine göttliche Sendung verweigern und als Gotteshenker dargestellt werden, entwickeln sich in der kindlichen Vorstellung zu Repräsentanten der »bösen Instinkte«, zur Inkarnation alles Bösen, welches das Kind in sich verdrängt hat. Da sich das christliche Kind mit dem Gottessohn identifiziert, bleibt Gott-Vater, den die Juden allein anerkennen, in der Vorstellung der jungen Christen mit jenen verbunden. Die Juden sind die Altvorderen, die ältere Generation, mit einem Wort, das umgeformte Bild des eigenen Vaters. […] Der Umstand, daß die Juden für das christliche Kind die Stellvertreter seiner eigenen verdrängten Triebe und zugleich die Stellvertreter des gefürchteten, verachteten und dennoch geliebten Vaters sind, ist die Basis einer ersten Form von deutlicher Ambivalenz gegenüber den Juden. Die Ambivalenz besteht in einer Mischung aus Haß, Furcht und Anziehung ihnen gegenüber. Der Jude ist der Repräsentant der ödipalen Vaterimago, wobei die psychische Funktion des Juden in der Ermöglichung der Fernhaltung vom ödipalen Konflikt und der Verharrung in der narzisstischen Dimension besteht. Psychodynamisches Ziel ist dabei, eine »tiefe narzißtische Kluft innerhalb des Subjekts und zwischen Subjekt und Außenwelt zu füllen«. Es geht um das Ausweichen vor dem echten ödipalen Konflikt und in der Folge um eine prägenitale Regression, eine Flucht in das narzisstische Universum, zum Ort der Urmutter, der Sehnsucht nach der intrauterinen Vollkommenheit und einem »pränatalen erhaben-erhebenden Zustand«. Die Antisemit*innen stehen zwischen zwei Welten: der der Illusion und des Narziss und der der Realität und des Ödipus. Der Jude erscheint ihnen dabei als »der mächtige und als der kastrierte Vater«:

 Beland (Anm. ), S. .  Rodolphe Lœwenstein: Psychoanalyse des Antisemitismus, Frankfurt am Main , S. .  Rolf Pohl: Projektion und Wahn. Adorno und die Sozialpsychologie des Antisemitismus, in: Joachim Perels (Hrsg.): Leiden beredt werden lassen. Beiträge über das Denken Theodor W. Adornos, Hannover , S. -, hier S. .  Béla Grunberger: Vom Narzißmus zum Objekt, Frankfurt am Main , S. .



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Die Juden werden zur Abreaktion der ungelösten und damit »ewigen« Ambivalenz dem Vater gegenüber benützt. Entsprechend seiner inneren Gespaltenheit teilt er das introjizierte primitive Vaterbild in zwei Hälften: Die Aggressivität gegenüber dem schlechten, strafenden Vater wird auf die Imago des Juden gelenkt und dort abreagiert, während die positiven Gefühle dem geliebten väterlichen Bild, d. h. Gott, dem Vaterland, dem Ideal, erhalten bleiben. Das Ziel der Herstellung von narzisstischer Integrität besteht in der Verdeckung einer offenen Wunde, die Grunberger im Kontext des Ödipuskomplexes als zentral erachtet, da sich die Antisemit*innen hauptsächlich aus der Reihe der Schwachen, der Möchtegerne, der Gezeichneten, der ewig Fordernden und der Unreifen rekrutieren würden, »alles Opfer narzißtischer Wunden, die sie nicht ertragen können. So projizieren sie ihre Schwächen auf den Juden. Er ist an allem schuld, und dies füllt die Lücke in ihrem Narzißmus aus.« Auf die Beziehung zwischen Narzissmus und ödipaler Situation eingehend, unterscheidet Grunberger dabei zwischen der Unfähigkeit zur Erkenntnis, den ödipalen Wunsch zu realisieren und der antisemitischen Verhaltensweise, bei der es vorgezogen werde, diesen Misserfolg jener rivalisierenden, stärkeren, aber außerhalb des Selbst liegenden Macht zuzuschreiben – dem Vater. Insofern haben Menschen mit antisemitischen Einstellungen diese Kränkung ihres Selbstgefühls, diese narzisstische Wunde und die folgende Projektion ihres Versagens nie zu korrigieren vermocht. Sie seien am ödipalen Konflikt gescheitert und auf die unreife Konfliktbewältigung fixiert geblieben. Das Einzige, was später noch als Veränderung vollzogen worden sei, sei die Vertauschung der Rollen. An die Stelle des Vaters trat der Jude. So interpretiert Grunberger dieses geteilte Vaterbild auch als ein »unauflösliches Paar«, zu dem der Antisemit eine analsadistische Beziehung unterhalte, die ihn notwendigerweise dazu bringe, den Vater zu verraten. Diesen Verrat wiederum projiziere er auf den Juden. Die damit durch den Antisemiten evozierte Dichotomie befriedige diesen allerdings nicht, denn hinter dem idealisierten Vater befinde sich immer wieder auch der verhasste Vater. Insofern müsse das doppelte Ersatzobjekt auch eine Reihe von Bedingungen erfüllen, wobei für die spezifische     

Grunberger (Anm. ), S. . Ebd., S. ; Herv. i. Orig. Vgl. ebd., S. . Ebd., S. . Vgl. ebd., S. .



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Wahl des Antisemiten maßgeblich sei, dass »der Jude nach den Maßstäben des Antisemiten zugleich auch ein vollständig kastriertes, das heißt machtloses Wesen ist, das man ohne Gefahr und Schuldgefühle angreifen kann«: Der Jude ist kastriert, nicht weil er beschnitten ist, sondern weil er von der Kollektivität abgetrennt ist und sich deshalb außerhalb »des Systems« befindet, wo er seinen Weg alleine gehen muß. Wir wissen andererseits, daß der Antisemit anal regrediert ist. Für einen Menschen mit stark infantil-anal-zwanghafter Charakterprägung vermag nur die ordentliche Eingliederung in ein strukturiertes soziales System dem Individuum einen Selbstwert zu garantieren, und nur so erhält es sich seine narzißtische Unversehrtheit, bleibt potent im weitesten Sinn. Der Jude ist ein umherirrendes und einsames Wesen, und deshalb ist er kastriert und erbärmlich, so wie die unbewußten Phantasien des Antisemiten den Vater erträumen. Die spezifische Charakterstruktur des Antisemiten als »anal-regressiver, narzisstisch-psychopathologischer Charakter« zwingt ihn nun wiederum dazu, ein Objekt zu finden und dieses zu behalten, indem er einen Teil seiner ungesättigten Triebwünsche abreagieren kann. Deshalb sei der Antisemit aus psychischen Gründen funktional an den Juden gefesselt, Weltbild und Leidenschaft überlagern sich also nicht einfach nur wechselseitig, sondern bedingen sich dialektisch. Resümee Ein Streifzug durch die theoretische Antisemitismusforschung zeigt – neben dem eingangs formulierten Hinweis auf eine theoretisch unterkomplexe Reflexion der kommunikativen und interaktiven Ebene und die Integration zahlreicher empirischer Erkenntnisse eben aus diesem Feld (etwa mit Blick auf Forschung zu antisemitischen Parteien und Medien, antisemitischer Sprache und Antisemitismus-Debatten oder das weite Feld der realen oder virtuellen Massenansammlungen von Antisemit*innen) – Folgendes: Ausgangspunkt für eine Bestimmung der emotionalen Dimensionen des Antisemitismus ist die grundlegende Erkenntnis eines integrativen Verhältnisses von kognitiven wie emotio Ebd., S. .  Beland (Anm. ), S. .  Vgl. Grunberger (Anm. ), S. .



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nalen Intentionen und Wirkungen, was zahlreiche charakterologische Reflexionen verdeutlichen. Insofern müssen Emotion und Kognition im Antisemitismus nicht einfach additiv, sondern integrativ verstanden werden. Man kann nicht auf kognitive Perspektiven des Antisemitismus reflektieren und die Emotionen ausblenden. Ebenso wenig ist es sinnvoll, Antisemitismus allein auf seine emotionale Perspektive zu reduzieren und den weltanschaulichen Gehalt auszuklammern. Antisemitismus ist, da hatte Sartre fraglos recht, eine Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, aus Kognition und Emotion, die allerdings nur im gesellschaftlichen Kontext analysiert werden kann und in dieser Reflexion zur Theorie der modernen Gesellschaft selbst wird, in der die Psychostrukturen der Individuen nur den falschen Schein von tatsächlicher Subjektivität vorgaukeln. So wie es in dieser Logik, wie Adorno sagt, kein richtiges Leben im falschen gibt, also das Individuum sich nicht aus seinem sozialisatorischen Gefängnis moderner Vergesellschaftung befreien kann, so halbiert ist diese Erkenntnis: Denn gerade weil es zutrifft, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, sind es die Potenziale konkreter Empathie und die intellektuelle Durchdringung abstrakter Strukturen, die den Weg in eine Welt weisen, die ein klein bisschen weniger falsch ist. Die Einsicht, dass dieses »richtige« Leben in der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich ist, ist zugleich der einzige Weg, auf einer Ebene abstrakter Durchdringung dieses Vergesellschaftungsverhältnisses dessen Logiken zu begreifen und sie mit konkreter, sich der Verdinglichung entziehender Empathie zu unterlaufen. Gerade die Dialektik, die das Verhältnis von Emotion und Kognition im Antisemitismus letztlich kennzeichnet, versetzt negativ gewendet in die Lage, die unwahren Surrogate des Antisemitismus zu konterkarieren – und damit einen Weg zu einer selbstreflexiven Kritik zu weisen, die sich nicht gemein machen muss mit der Totalität bürgerlicher Vergesellschaftung,

 Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (), in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. , hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main , S. .



Zum Sucht- und Lustcharakter interpersonaler Ressentiment-Kommunikation Julijana Ranc Zu den treffendsten Versuchen, dem Sucht- und Lustcharakter des Antisemitismus definitorisch gerecht zu werden, gehört zweifelsohne Sartres Bestimmung des Antisemitismus als »Leidenschaft und Weltanschauung« zugleich. Sartres  verfasstes »Porträt des Antisemiten«, aus dem diese Definition stammt, galt ebenso dem militanten wie dem ›gemäßigten‹ Antisemiten, der seinen Antisemitismus nicht tätlich und nicht lautstark auf der Straße agiert, sondern im Rahmen von Alltagsdiskursen pflegt. Sartre zufolge haben beide mit dem Antisemitismus »zugleich eine Leidenschaft und Weltanschauung« gewählt, wie sie derjenige wähle, der immer nur nach dem forsche, was er glaubt, schon gefunden zu haben; im Falle des Antisemiten, so Sartre weiter: seine »Idee vom Juden«. Indem er diese fixe, vorgefasste »Idee vom Juden«, man könnte auch sagen: sein negativ präfiguriertes Judenbild, immer wieder von Neuem zu beglaubigen sucht, befeuert und rechtfertigt er nicht nur seine Aversion gegenüber Juden, sondern gewährt sich zugleich den narzisstischen Genuss der kollektiven Selbstaufwertung, die sich aus deren Abwertung speist. Darüber hinaus attestiert Sartre sowohl dem militanten als auch dem ›gemäßigten‹ Antisemiten, sich insgeheim dieselbe »Pogromatmosphäre« herbeizuwünschen: Unfähig, die moderne Organisationsform der Gesellschaft zu verstehen, sehnt er sich nach den Krisenperioden, in denen gemeinschaftliche Urformen plötzlich wieder auftauchen und ihre Fusionstemperatur erreichen. […] Diese Pogromatmosphäre meint er [der Antisemit], wenn er »die Einheit aller Franzosen« fordert. In diesem Sinn ist der Antisemitismus eine hinterhältige Form dessen, was man den Kampf des Bürgers gegen die Staatsgewalt nennt. Man muss die Sichtweise, die Sartre in seinem »Porträt des Antisemiten« entfaltet, nicht zur Gänze teilen, und gewiss finden sich darin auch streitbare Thesen und Einschätzungen. Gleichwohl wird man sagen müs Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek bei Hamburg , S.  ff.  Ebd., S. .  Vgl. ebd., S. .



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sen, dass die in der Antisemitismusforschung lange Zeit vorherrschende Vernachlässigung der Affekte zugunsten der Kognition hinter Sartres Versuch, den Antisemitismus als »Leidenschaft und Weltanschauung« zugleich zu bestimmen, zurückfällt. Gleiches gilt für das aufgrund theoretischer oder disziplinärer Vorbehalte vielfach praktizierte Separieren von Affekten und Kognition und das damit zumeist einhergehende Unterbelichten ihres synergetischen bzw. psychodynamischen Zusammenspiels beim Antisemitismus. Insofern wäre eine einseitige Konzentration auf die neuerdings seitens der Forschung zu Recht wieder mehr beachteten Affekte genauso wenig zielführend. Angemessen beleuchten und spezifizieren lässt sich das Zusammenspiel von Affekten und Kognition vielmehr nur, wenn man beide nicht voneinander separiert und mal wie die eine, mal wie die andere Seite einer Medaille betrachtet. Versucht man stattdessen, analytisch zusammen zu erfassen, was empirisch zusammengehört, zeigt sich allerdings umso deutlicher, dass die kognitionszentrierte und seitens der Antisemitismusforschung weithin favorisierte Kategorie »Vorurteil« ihrem Gegenstand weit weniger gerecht wird als das »Ressentiment« – vorausgesetzt, man spezifiziert es als analytische Kategorie und benutzt es nicht als unscharfen Terminus. Als solcher kursiert er in vielen Antisemitismus-Studien. Sei es, dass der Terminus Ressentiment alternierend, oder dass er additiv oder komplementär zum Vorurteil verwendet wird (»Ressentiments und Vorurteile«), ohne dass klar ersichtlich würde, warum. Oft scheint das Ressentiment eher als Produzent und das Vorurteil als Produkt zu figurieren, oder auch als das ›Gefühlte‹, während dem Vorurteil das ›Gedachte‹ zugeordnet wird – womit man wieder bei der Vorstellung von der einen, affektiven, und der anderen, kognitiven Seite des Untersuchungsgegenstandes Antisemitismus wäre. Insofern ist es nicht erstaunlich, wenn das analytische (und definitorische) Surplus des Ressentiments gegenüber dem Vorurteil verkannt, ja gar nicht erst erschlossen wird: gründet dieses Surplus doch darin, dass sich unter der Kategorie Ressentiment Affekte und Kognition zusammen erfassen lassen. Für die qualitative Antisemitismus-Studie, auf die dieser Beitrag im Wesentlichen zurückgreift, habe ich anstelle des Vorurteils das Ressentiment als zentrale Kategorie gewählt und seine empirische wie analyti Zwar hatte auch Sartre seine theoretischen Vorbehalte, nicht zuletzt hinsichtlich der Psychoanalyse. Dass er Affekte und Kognition nicht als Antipoden, sondern als »synkretistische Totalität« betrachtete, stellt allerdings keinen fundamentalen Widerspruch zur psychoanalytischen Sichtweise dar.  Julijana Ranc: »Eventuell nichtgewollter Antisemitismus«. Zur Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern, Münster .



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sche Reichweite anhand von  Gruppendiskussionen erproben können. Im Ergebnis zeigte sich nicht nur, dass das Ressentiment, spezifiziert als analytische Kategorie, mehr Erklärungspotenziale bereithält als das Vorurteil, sondern auch, dass sich diese Erklärungspotenziale ebenso klassisch unter Rückgriff auf Nietzsche und Freud wie interdisziplinär weiter entfalten lassen. Ich möchte im Folgenden und mit Blick auf den Sucht- und Lustcharakter des Ressentiments versuchen, einige dieser Erklärungspotenziale anhand von Befunden aus dieser Studie zu exemplifizieren. Sämtliche Zitate, die hier aus Platzgründen gekürzt oder summarisch angeführt werden, finden sich, entsprechend belegt, in derselben Studie. Auf andere gruppenbezogene Ressentiments (z. B. gegen Muslime oder Asylbewerber), die in den  Gruppendiskussionen ebenfalls kommuniziert wurden, gehe ich hier nicht gesondert ein. Zusammen mit Befunden aus acht weiteren Gruppendiskussionen sind diese Gegenstand einer Vergleichsstudie zwischen antijüdischen und anderen gruppenbezogenen Ressentiments, an der ich derzeit arbeite. Hier wie dort profilieren die Befunde Spezifika der jeweiligen Ressentiments und geben darüber hinaus – und in Zeiten des zunehmenden Rechtspopulismus umso aktueller – Aufschluss über die Radikalisierungs- und Vergemeinschaftungspotenziale interpersonaler Ressentiment-Kommunikation im Allgemeinen. Auf solchen, weitgehend verallgemeinerbaren Ergebnissen liegt auch der Fokus dieses Beitrags. Interpersonale Ressentiment-Kommunikation Als diskursive Praxis ist die interpersonale Ressentiment-Kommunikation eine soziale Praxis, die sich, wie jede sprachlich vermittelte Kommunikation, im normativ verfassten »Raum der Gründe« bewegt. Gleichviel, ob Kommunizierende elaborierte Argumente oder schlichte Behauptungen wie »heute ist Mittwoch« vorbringen, wer kommuniziert, beteiligt sich an einem normativ geregelten, wechselseitigen »Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen«. Vereinfacht gesagt, ist bereits eine Behauptung wie »heute ist Mittwoch« eine Festlegung, die Gründe ›gibt‹, indem sie implizit weitere Behauptungen (z. B. »morgen ist Donnerstag«) und Festlegungen seitens des Behauptenden und/oder seines Zuhörers autorisiert. Umgekehrt erlaubt dieselbe Behauptung dem Zu Robert B. Brandom: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung, Frankfurt am Main , S. .  Ebd., S .



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hörer, deren Berechtigung und damit die Gründe, die sie für weitere Behauptungen gibt, infrage zu stellen. Sei es, dass der Zuhörer von seinem Gesprächspartner eine Begründung seiner Behauptung einfordert und diese annimmt, oder dass er eigene Gründe dafür gibt, warum er das nicht tut – und dadurch weitere Züge beim »Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen« autorisiert. Das Potenzial selbst einfachster Sätze, ein komplexes, dynamisches Geflecht zwischen Festlegungen, Begründungen und Folgebeziehungen mit dominoartigen Verschiebungen entstehen zu lassen, hängt wesentlich davon ab, wie sich die Kommunizierenden in actu zu deren Inhalten verhalten. Handelt es sich, wie bei der Ressentiment-Kommunikation, um umstrittene bzw. anstößige Inhalte, und verhalten sich die Kommunizierenden unterschiedlich dazu, können sich lange Diskussionen entspinnen, in deren Verlauf sowohl mit- als auch gegeneinander argumentiert wird. In der Dynamik von Rede und Gegenrede, die dadurch entsteht, zeigt sich umso deutlicher, dass der »Raum der Gründe« kein affektfreier Raum ist, und dass das Ressentiment überdies besonderen Regeln folgt, um beim »Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen« mitzuspielen. Dies dokumentieren auch die  Gruppendiskussionen, die ich für meine Antisemitismus-Studie (zusammen mit  Einzelinterviews mit den Teilnehmern) zwischen  und  in verschiedenen west- und ostdeutschen Städten durchgeführt habe. Um einen möglichst teilnehmerbestimmten Diskussionsverlauf zu gewährleisten und situationsemergenten Prozessen weithin Raum zu lassen, wurde sehr zurückhaltend und flexibel moderiert. Überdies wurden in jeder der --köpfigen Gruppen sieben nur grob umrissene Themenfelder vorgegeben, von denen wiederum nur zwei ein ›Sprechen über Juden‹ explizit nahelegten. Das war zum einen das Themenfeld Nahostkonflikt, und zum anderen das Themenfeld Zuwanderung und Zuwanderungspolitik, in dessen Rahmen u. a. auch der Zuzug jüdischer Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion zur Sprache kommen sollte. Idealiter seitens der Probanden selbst, und falls dies nicht erfolgte, sollten die jüdischen Kontingentflüchtlinge zusammen mit anderen Zuwanderergruppen seitens der Moderatorin, d. h. mir, erwähnt werden. Grundsätzlich blieb es den Teilnehmern selbst überlassen, womit sie die sieben Themenfelder  Neben den Themenfeldern Nahostkonflikt und Zuwanderung und Zuwanderungspolitik waren dies die Themenfelder: Der . September  und seine Rückwirkungen auf Deutschland und Europa, der amerikanische »Krieg gegen den Terror«, die Globalisierung der Medien und Märkte, die Kopftuchdebatte um muslimische Lehrerinnen in Deutschland und die Debatte um einen EU -Beitritt der Türkei.



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im Einzelnen füllen wollten, welche Schwerpunkte sie dabei setzen und welche Perspektiven sie wählen wollten. Fast alle Diskutanten waren gebürtige Deutsche. Männer und Frauen waren ungefähr gleich stark vertreten. Darüber hinaus stammten sie weder aus spezifisch rechtsradikalen noch aus sogenannten prekären oder bildungsfernen Milieus. Rekrutiert unter Gymnasiasten, Berufsoder Fachoberschülern, unter Studierenden, unter Lehrern sowie unter Volkshochschul-Besuchern, könnte man sie eher als Durchschnittsbürger bezeichnen. Dies gilt auch mit Blick auf ihre (in den vorab geführten Einzelinterviews erfragten) parteipolitischen Präferenzen, wonach die meisten von ihnen nach eigenem Bekunden CDU - oder SPD -, sowie, zu einem etwas geringeren Teil, Grünen- oder Linkspartei-Wähler waren. Die Wahl des Kommunikationsformats Gruppendiskussion erlaubte es, das Argumentations- und Interaktionsverhalten der Diskutanten in actu in den Fokus zu rücken und komparativ bzw. kontrastiv mit dem von ihnen generierten empirischen Material zu verfahren. Demnach wurde nicht nur analysiert, wie Ressentiments ›zur Sprache gebracht‹, argumentativ beglaubigt und gerechtfertigt wurden, sondern ebenso, wie die Ressentiment-Kommunikation gegebenenfalls mitbefeuert, wie sie ausgebremst, und was ihr argumentativ entgegengesetzt wurde. Möglich war dies, weil in den Gruppen, anders als es bei Probanden aus eher homogenen, z. B. rechtsradikalen oder umgekehrt anti-antisemitischen Milieus der Fall gewesen wäre, verschiedene Kommunikationstypen mit unterschiedlichen Positionen und Dispositionen aufeinandertrafen. Anhand ihres Argumentations- und Interaktionsverhaltens ließen sie sich idealtypisch unterscheiden in Ressentiment-Getriebene, GelegenheitsAntisemiten, Ambivalente, Indifferente und Anti-Antisemiten; Philosemiten gab es in keiner der Gruppen. Je nachdem, welche dieser Kommunikationstypen in den Gruppen aufeinandertrafen – oder einander auf den Plan riefen –, konnte die Ressentiment-Kommunikation konsensuell, kontrovers, sowie, in seltenen Einzelfällen, beim Argumentieren ad personam, konfrontativ verlaufen. Wie das Argumentations- und Interaktionsverhalten der einzelnen Probanden konnte der jeweilige Verlauf entsprechender Sequenzen ebenso komparativ wie unter einer prozessualen Perspektive beleuchtet werden. Dementsprechend trat auch der Sucht- und Lustcharakter der Ressentiment-Kommunikation unter verschiedenen Perspektiven zutage. Was die Ressentiment-Getriebenen und die (etwas weniger forsch interagierenden) Gelegenheits-Antisemiten angeht, die ich im Folgenden als »Ressentimentgeleitete« zusammenfasse, so war es wenig überraschend, dass sie sich als sachlich-leidenschaftslose ›Kritiker‹ der Juden oder als › 

    -          

raelkritiker‹ verstanden wissen wollten, obwohl ihr Argumentations- und Interaktionsverhalten anderes offenbarte. Abgesehen davon, dass sich das Konstruktionsprinzip ihrer Argumentationen, von dem gleich noch ausführlich die Rede sein wird, konstitutiv von jeder Kritik unterscheidet, die diesen Namen verdienen würde: Durch Leidenschaftslosigkeit fielen die Ressentimentgeleiteten nicht auf. Was sogleich ins Auge fiel, war ihr Drang zur Ressentiment-Kommunikation, der sich bereits in ihrem Bestreben zeigte, im Zuge der Gruppendiskussionen so viel und oft wie möglich auf Juden zu sprechen zu kommen. Selbst dann, wenn sie ihre Mitdiskutanten damit irritierten und es diesen gerade um ganz andere Themen ging. Hinzu kam der erhebliche heuristische Eifer, den sie aufwandten, um ihre ressentimentgeleitete Sicht der Dinge argumentativ zu ›bewahrheiten‹ und möglichst überzeugend an den Mann oder die Frau zu bringen. Dergestalt dokumentierten sie nicht nur, dass das Hegen und Nähren von Ressentiments kein selbstgenügsames Unterfangen ist, sondern nach stetiger kommunikativer Erprobung und Bestätigung drängt. Das beständige Ausloten von möglichen Schnittmengen und ihre nachdrücklichen Versuche, bei ihren Mitdiskutanten mal mit dem einen, mal mit dem anderen Argument anzudocken – und wenn dies nicht verfing, vielleicht mit wieder einem anderen –, zeigte überdies, dass es sich bei der Ressentiment-Kommunikation um eine werbende, d. h. nach Verbündeten heischende Form der Verbalaggression handelt. Mehr noch als den ohnehin Gleichgesinnten und Gleichgestimmten unter ihnen – Ressentimentgeleitete gab es oft mehrere pro Gruppe – galt ihr Werben ihren ambivalenten Mitdiskutanten, dem gruppenübergreifend am häufigsten vertretenen Kommunikationstypus. Anders als die überaus raren und zumeist schweigenden Indifferenten, die sie allenfalls auflaufen ließen, oder die Anti-Antisemiten, die ihnen früher oder später Paroli boten, gingen Ambivalente oftmals ein gutes Stück mit den Ressentimentgeleiteten mit. Das Argumentationsund Interaktionsverhalten dieses Kommunikationstypus war nicht nur weitgehend permissiv. Prozessual betrachtet und mit Blick auf das für die Ressentiment-Kommunikation charakteristische Kreisen um Klage und Anklage, Selbstviktimisierung und Schuldzuweisung kann man sagen, dass viele der Ambivalenten die Ressentiment-Kommunikation mitbefeuerten, ohne jedoch am Ende die Schuldzuweisung an die Juden (oder deren Artikulation) mitzuvollziehen. Die mal mit einem, mal mit zwei Diskutanten pro Gruppe vertretenen Anti-Antisemiten hatten es demgegenüber schwer. Während sie bei den Ressentimentgeleiteten vergebens dagegenhielten, konnten diese bei den Ambivalenten in aller Regel rascher und oft nachhaltiger Gehör finden. Das lag vor allem an 

      

den Schnittmengen zwischen Ressentimentgeleiteten und Ambivalenten. Zu den konsensfähigsten und – im Sinne des Ressentiments – zugleich anschlussfähigsten dieser Schnittmengen gehörten kollektive, in aller Regel national definierte Selbstbilder. Kennzeichnend für diese Selbstbilder waren zudem die Optionen, die sie zur kollektiven Selbstviktimisierung und entsprechenden individuellen Befindlichkeitsdeutungen bereithalten. Häufig beglaubigt durch Klagen wie z. B. »Ich fühl’ mich so verweigert, dass ich [als Deutscher] nicht sagen darf: ich bin stolz auf Deutschland«, stammte das Gros dieser kollektiven Selbstbilder aus dem Fundus der sogenannten Normalisierungs- und Schlussstrich-Debatten nach . Bereits damals umstritten und zwischenzeitlich aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden, waren sie in den Gruppendiskussionen (-) immer noch ausgesprochen virulent und bei vielen Diskutanten konsensfähig. Was andere, so klagten sie, dürften – »stolz« auf ihre Nation sein, ihre Meinung »frei äußern«, »die Vergangenheit« ruhen lassen –, bliebe einem als Deutschem versagt, weil man »immer noch behandelt [werde] wie die Nachfolger von Hitler«, obwohl doch auch andere Nationen »Leichen im Keller« hätten. »Wir« aber seien »die Einzigen«, die sich immerzu entschuldigen und ihrer Vergangenheit »schämen« müssten, sich keinen Nationalstolz und keine »Leitkultur« (auch das kam oft) erlauben dürften. »Gelähmt« von »German Angst« und umstellt von Tabus, agiere man deshalb hierzulande auch asyl- und zuwanderungspolitisch »zu tolerant«, entwicklungspolitisch »zu großzügig« sowie außenpolitisch viel zu verzagt, ja wie »ein Volk von Mundtoten«, das sich immer wieder übervorteilen und ausnutzen lasse. Während viele Ambivalente mit den Ressentimentgeleiteten bis hierhin mitgingen und es dann (meist stillschweigend) dabei beließen, bekundeten die Letzteren darüber hinaus genau zu wissen, wer schuld sei an den beklagten Befindlichkeiten, Stimmungslagen und Politiken: Wer sonst als die Juden, so der Tenor, würde »uns« dauernd »ein schlechtes Gewissen einreden«, uns stetig gängeln, maßregeln und »ein Interesse« daran haben, uns »kleinzuhalten«, um uns umso besser finanziell, politisch und moralisch ausbeuten zu können. Das nächste, was von diesen Sprechern dann meist kam, war der Versuch, den Juden selbst die Schuld am Antisemitismus zuzuweisen und sich so ihren eigenen (und den ihrer Vorgänger) zu erklären. Man selbst, hieß es dann, »habe ja keinen Antisemitismus«, könne sich aber schon vorstellen, dass die Juden durch bestimmte Ver Die Kursivierungen in den Zitaten stammen aus den Transkripten der Gruppendiskussionen und markieren die von den Sprechern besonders betonten Wörter.



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haltensweisen oder Kollektiveigenschaften andere »zum Antisemitismus reizen«. Man denke doch nur an den Judenhass im Mittelalter oder im zaristischen Russland usw. usf. Falschspiel im »Raum der Gründe« Prozessual oder prozedural betrachtet, gingen Klagen und kollektive Selbstbilder wie die oben zitierten, die heute u. a. die AfD politisch zu reanimieren versucht, der Schuldzuweisung gleichsam als »problem settings« voraus. Als solche warfen sie die Frage nach den möglichen Ursachen und Verursachern dessen auf, was beklagt oder moniert wurde, wodurch die Schuldzuweisung wiederum als Antwort firmieren konnte. Im Sinne des Ressentiments ins Werk gesetzt, erlaubt es dieses Prozedere, den in Wirklichkeit bereits a priori ausgemachten Schuldigen, das Objekt des Ressentiments, scheinbar schlüssig und a posteriori als Verursacher des beklagten Problems zu präsentieren. Wie dieses Falschspiel im »Raum der Gründe« funktioniert, verrät das Konstruktionsprinzip ressentimentgeleiteter Argumentationen und dokumentierten in den Gruppendiskussionen diejenigen, die ihm folgten. Ebenso wie ihren Mitdiskutanten ging es diesen ressentimentgeleiteten Probanden darum, ihre Beiträge argumentativ aufzubereiten. Dementsprechend waren auch sie bemüht, möglichst schlüssige und aus ihrer Sicht plausible Konsequenzrelationen herzustellen, um überzeugungsfähige Konklusionen zu generieren. Und wie bei ihren Mitdiskutanten liefen die Argumentationen der Ressentimentgeleiteten in aller Regel hinaus auf alltagslogische Schlussmuster, wonach B (eine strittige oder potenziell strittige Konklusion) gilt, d. h. ihren Geltungsanspruch als realitätsgerechte/wahre Tatsachenbehauptung oder normativ richtiges Werturteil erfüllt, weil unstrittig A gilt. Was ihre Argumentationen jedoch grundlegend von denen ihrer Mitdiskutanten unterschied, war ihr – ressentimentspezifisches – Konstruktionsprinzip. In ihm macht sich, empirisch greif bar, die konstitutive »Selbstverlogenheit und Falschmünzerei« geltend, die Nietzsche dem Ressentiment attestierte. Axiomatisch ausgerichtet auf die Bewahrheitung des Ressentiments, umgeht es die Frage nach dessen Geltungsanspruch (als realitätsgerechte/wahre Tatsachenbehauptung  Josef Kopperschmidt: Methodik der Argumentationsanalyse, Stuttgart/Bad-Canstatt , S.  f.  Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe,  Bde., Bd. , München , S. .



      

oder normativ richtiges Werturteil) via Kausaltäuschung, d. h. durch die Konstruktion von Geltungsgründen, ersetzt Plausibilisierung durch Anverwandlung und folgt der Logik der Inkriminierung zugunsten moralischer Selbstnobilitierung. Anders und einfacher gesagt, verfuhren die Ressentimentgeleiteten im Grundsatz gemäß demselben Prinzip wie Nietzsches »Mensch des Ressentiment«. Um ihr Ressentiment zu bewahrheiten, zimmerten sie sich wie dieser »eine Ursache, oder genauer noch: einen Thäter« zurecht, denn: »›Irgend jemand muss Schuld daran sein, dass ich mich schlecht befinde.‹« Die Ursachen dafür, dass sie sich »schlecht befinde[n]«, sich übervorteilt, benachteiligt, ungerecht beurteilt und behandelt fühlten, suchten sie weder in anonymen Verhältnissen, noch bei sich selbst oder bei beliebigen anderen. Alternative Deutungsoptionen axiomatisch ausschließend bzw. abwehrend, konstruierten sie stattdessen einen Kausalnexus aus Klage und prädisponierter Schuldzuweisung. Die Logik, der sie sich dabei bedienten, war die der Inkriminierung zugunsten moralischer Selbstnobilitierung, ihr Plausibilisierungsmodus die Anverwandlung an ihre vorgefasste »Idee vom Juden«. Dergestalt dichteten sie die Ursachen für ihre Klagen – sowie für ihren Groll auf ihn – ihrem in Wirklichkeit bereits a priori ausgemachten »Thäter« an, und sich selbst, zugleich, die Rolle als dessen Opfer und positives »Gegenstück«. Diesem Konstruktionsprinzip folgten alle Ressentimentgeleiteten, ob kooperativ, zu mehreren, oder in Einzelbeiträgen. So lautete dann auch die Konklusion des oben zitierten Probanden, der beklagte, sich in puncto Nationalstolz depriviert oder »verweigert« zu fühlen: »Ich fühl’ mich so verweigert, dass ich nicht sagen darf, ich bin stolz auf Deutschland«, weil – so der Kausalnexus – »das jüdische Lager und das ausländische Lager« den Deutschen »dieses Recht« (auf Nationalstolz) »verweigert«. Wie dieser junge Lehrer führten viele Ressentimentgeleitete negative Befindlichkeiten wie Deprivations- oder Benachteiligungsgefühle als Geltungsgründe für ihr Ressentiment ins Feld. Gepaart mit dem Anspruch ›wer fühlt, hat recht‹, und präsentiert als ›Kritik‹, ist es unter Ressentimentgeleiteten zudem weit verbreitet, sich (und anderen) so ihr Ressentiment zu erklären. Dies impliziert freilich nicht, dass Ressentimentgeleitete, die sich dafür auf Deprivations- oder Benachteiligungsgefühle berufen, keine hätten, oder keine Gründe, um sich depriviert oder benachteiligt zu fühlen. Betrachtet man das Ressentiment mit Nietzsche  Ebd., S.  u. .  Ebd., S.  f.

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als einen Modus des Umgangs mit negativen Befindlichkeiten, dessen originärer Sinn und Zweck deren Deutung im Sinne des Ressentiments ist, wird rasch klar, dass das eine das andere nicht ausschließt. Anders als bei anderen möglichen Modi des Umgangs mit negativen Befindlichkeiten – einer davon wäre die Kritik – sind es vielmehr alternative Deutungsoptionen, die der ressentimentspezifische Modus bereits axiomatisch ausschließt. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass beispielsweise Probanden wie der zitierte Lehrer keine Deprivationsgefühle beklagten, die sich gegebenenfalls mit mangelnden Entfaltungsmöglichkeiten, fehlender Anerkennung oder einer unzulänglichen Bezahlung als Lehrer begründen ließen. Zwar gab es mitunter durchaus soziale oder ökonomische Begründungsversuche, doch bezogen sich diese in aller Regel nicht auf eigene Befindlichkeiten, sondern wurden als milieuspezifische Gründe für die Ideologieanfälligkeit und die Ressentiments anderer (eigene habe man ja nicht) angeführt. Hartz IV , mangelnde Bildung und Perspektivlosigkeit produzieren eben auch Ressentiments und Neonazis, lautete dann die Gleichung. Die eigenen Befindlichkeitsbekundungen hingegen waren, wie die zitierten, in aller Regel selbstviktimisierende Klagen mit einem kollektiven, genauer: nationalen Geltungsanspruch, die dann in entsprechende Täter-Opfer-Konstrukte eingepasst wurden. Plausibilisiert im Modus der wechselseitigen Anverwandlung und Beglaubigung von Klage und Anklage, kollektivem Selbstbild (als Opfer) und präfiguriertem Judenbild (als Folie für die Täterrolle), liefen nahezu alle Argumentationen der Ressentimentgeleiteten auf solche Opfer-Täter-Konstrukte hinaus. Die von einigen ebenfalls generierten Alteritäts-Konstrukte, die den Juden anstelle verwerflichen Täterverhaltens verwerfliche Kollektiveigenschaften zuweisen, sind Varianten dieses Konstruktionsprinzips. In aller Regel jedoch favorisierten die Ressentimentgeleiteten das nicht ganz so essenzialistisch daherkommende OpferTäter-Konstrukt. Paradigmatisch für das Ressentiment im Allgemeinen wie für den Antisemitismus im Besonderen (die Juden als Christusmörder, Brunnenvergifter, politische Usurpatoren, Manipulatoren) figuriert darin das Wir-Kollektiv als gegenwärtiges, vormaliges, prospektives, im Mindesten aber potenzielles Opfer, während dem Kollektiv-Objekt des Ressentiments die Täterrolle zugewiesen wird. Die Argumente, die dafür passend gedacht und gemacht wurden, konnten ebenso unzweifelhafte Fakten (wie z. B. Angriffe des israelischen Militärs im Nahen Osten) enthalten wie komplett zusammenfabuliert sein. Der entscheidende Unterschied zwischen ressentimentgeleiteten und ressentimentfreien Argumentationen war und ist grundsätzlich nicht der fehlende, mögliche oder mangelnde Wahrheitsgehalt einzelner Argumentations-Komponenten, sondern das 

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ressentimentspezifische Konstruktionsprinzip, mittels dessen sich fact wie fake gleichermaßen zu Geltungsgründen des Ressentiments aufbereiten lassen. Wer dies übersieht und ressentimentgeleitete Argumentationen – wie manch moderatere Probanden – als möglicherweise ja berechtigte, aber »überzogene Kritik« deutet, sitzt indes nicht nur der »Selbstverlogenheit und Falschmünzerei« ihres Konstruktionsprinzips auf. Was solche Fehldeutungen zudem begünstigt, ist die weitverbreitete Vorstellung von einer graduell gestuften Skala, die bei ›legitimer Kritik‹ anfängt und – mit einer ›roten Linie‹ irgendwo dazwischen – beim Ressentiment endet. Diese, teilweise leider auch wissenschaftlicherseits beförderte Vorstellung trägt wesentlich dazu bei, den strukturellen (und eben nicht: graduellen) Unterschied zwischen ressentimentgeleiteter Pseudokritik und einer Kritik, die diesen Namen verdienen würde, zu verwischen anstatt zu erhellen. Mit derlei Fehlvorstellungen oder unterkomplexen Unterscheidungen zwischen fact und fake, wahr und falsch, ist dem ressentimentspezifischen Konstruktionsprinzip jedenfalls nicht beizukommen: Als Imitat argumentativer Urteilsfindung ist es eine Fälschung, die, um der Bewahrheitung einer vorgefassten »Idee« vom Objekt des Ressentiments willen prätendiert, plausible Konklusionen a posteriori zu produzieren. Hierin gründet die genuine Selbstverlogenheit des ressentimentspezifischen Konstruktionsprinzips. Die Modi der Falschmünzerei, deren sich die Argumentierenden bedienen, um dessen bewahrheitenden Sinn und Zweck zu erfüllen – die Kausaltäuschung, die Logik der Inkriminierung zugunsten moralischer Selbstnobilitierung, die Plausibilisierung im Modus der Anverwandlung –, weisen es zudem als ein fälschendes Konstruktionsprinzip aus. Anders jedoch als das Konstruktionsprinzip der Lüge zielt es nicht darauf ab, etwas Wahrem oder als wahr Vorausgesetztem etwas Falsches entgegenzusetzen. Die Fälschungen, die es produziert, produziert es ohne Berücksichtigung der Wahrheit. In diesem Punkt verfahren Ressentimentgeleitete wie der »Bullshitter«, dem der amerikanische Moralphilosoph Harry G. Frankfurt vor einigen Jahren einen Essay gewidmet hat. Darin unterscheidet Frankfurt denjenigen, der »Bullshit« – verstanden im Sinne von Humbug, Unfug, Gerede – kommuniziert, gleichermaßen vom Lügner wie von dem »der Wahrheit verpflichtete[n] Mensch[en]«: Der Lügner und der der Wahrheit verpflichtete Mensch beteiligen sich gleichsam am selben Spiel, wenn auch auf verschiedenen Seiten. Beide orientieren sich an den Tatsachen, nur daß der eine sich dabei von der Autorität der Wahrheit leiten läßt, während der andere diese Autorität zurückweist und es ablehnt, ihren Anforderungen zu entsprechen. Der Bullshitter ignoriert diese Anforderungen in toto. Er weist die 

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rität der Wahrheit nicht ab und widersetzt sich ihr nicht, wie es der Lügner tut. Er beachtet sie einfach gar nicht. Aus diesem Grunde ist Bullshit ein größerer Feind der Wahrheit als die Lüge. In Anlehnung an Frankfurts These kann man sagen, nicht nur »Bullshit«, auch das Ressentiment unterscheidet sich grundlegender von der Wahrheit als die plane Lüge. Gleiches gilt für den Unterschied zwischen ressentimentgeleiteter Pseudokritik und Kritik. Denn im Gegensatz zum Ressentimentgeleiteten orientieren sich sowohl der Kritiker als auch der Lügner – wenngleich zu völlig unterschiedlichen Zwecken – an der Wahrheit. Der eine, um etwas Wahrem oder als wahr Vorausgesetztem (lügend) das Gegenteil entgegenzusetzen, und der andere, so er seine Sache ernst nimmt und sich »von der Autorität der Wahrheit leiten läßt«, zwecks kritischer Urteilsfindung. Der Ressentimentgeleitete hingegen braucht – und will – für seine Zwecke nichts von der Wahrheit wissen. Dies gilt ebenso für die Wahrheit über das Objekt des Ressentiments wie für die Wahrheit über sich selbst und über die Qualität und Provenienz dessen, was er beklagt oder moniert. Seine Denk- und Diskursvoraussetzung ist eine andere als die des Kritikers oder des Lügners. Wer etwas kritisieren will, oder wer lügen möchte, geht davon aus, dass es eine richtige, wahrheitsgemäße oder realitätsgerechte, und eine falsche Sicht der Dinge gibt. Wer ein Ressentiment bewahrheiten will, ignoriert diesen Unterschied und geht stattdessen von seiner vorgefassten, fixen »Idee« vom Objekt seines Ressentiments aus. Seine Folie ist weder die Wahrheit, noch unterscheidet er zwischen wahr und falsch, was die Voraussetzung für die plane Lüge, aber auch für jede Wahrheits- und Urteilsfindung wäre. Stattdessen erspart sich der Ressentimentgeleitete die Wahrheitsund Urteilsfindung durch die Bewahrheitung seines Ressentiments, und die Frage nach dessen Geltungsanspruch durch die Konstruktion von Geltungsgründen. Zusammen mit der Wahrheit bleibt damit jedes kritische Potenzial auf der Strecke, das beispielsweise eine Auseinandersetzung mit negativen Befindlichkeiten bereithalten könnte. So schwierig und zuweilen auch unmöglich es ist, solche Befindlichkeiten ursächlich zu hinterfragen: Das Bewahrheitungsaxiom des Ressentiments schließt diese Option von vornherein und ungeachtet dessen aus, ob es sich dabei um diffuse oder konkretere Befindlichkeiten, um ursächlich unbestimmbare oder um Befindlichkeiten handelt, die man gegebenenfalls auf reale und womöglich durchaus kritikwürdige Lebensbedingungen und -umstände zurückführen könnte. Was das Bewahrheitungsaxiom des  Harry G. Frankfurt: Bullshit, Frankfurt am Main , S.  f.



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Ressentiments stattdessen (und ungeachtet all dessen) bereithält, ist die Option, negative Befindlichkeiten zu passenden Geltungsgründen für prädisponierte Schuldzuweisungen umzufälschen. Wer diesem Konstruktionsprinzip folgt, verzichtet auf Realitätsprüfung, beraubt sich damit der eigenen Kritikfähigkeit und macht sich ebenso unweigerlich zum Fälscher wie zum Pseudokritiker, der als realitätsgerecht ›kritisiert‹, was er sich selber – ressentimentgerecht – zurechtgezimmert hat. Insofern kann das ressentimentspezifische Falschspiel im »Raum der Gründe« gar nichts anderes sein als ein realitätsverfälschendes Zerrbild von Kritik – was auch immer dafür im Einzelnen, ob fact oder fake, passend gedacht und gemacht wird. Abwehr von Zweifeln, Zuspiel von Geltungsgründen Denkt man Nietzsche mit Freud weiter und betrachtet den ressentimentspezifischen Umgang mit negativen Befindlichkeiten als Umgang mit »unlustvollen« Gedanken, Gefühlen oder Vorstellungen, kann man klassisch-sozialpsychologisch sagen, Ressentimentgeleitete wehren diese via Projektion ab und wenden sie aversiv gegen die Objekte ihres Ressentiments. Als solche sind es keine beliebigen, sondern, beim Antisemitismus vermittels tradierter Judenbilder, präfigurierte Objekte. Selbst Produkte der projektiven Abwehr, fungieren diese tradierten Bilder als Folien für neuerliche Projektionen, welche dann ihren Ausdruck in entsprechenden, kontextspezifisch aktualisierten Judenbildern finden. (Zu den gespenstischsten Beispielen aus den Gruppendiskussionen gehörte der Vorwurf, »sie [die Juden] würden uns am liebsten ein ›D‹ eintätowieren«.) Führt man sich Freuds psychodynamisches Modell vom Zusammenund Gegeneinanderwirken von Ich, Es und Über-Ich genauer vor Augen, kommt man aber – auch kommunikationsanalytisch – noch ein Stück weiter. Gemäß dem Freud’schen Modell ist die Abwehr eine Funktion des Ich, um unerwünschte Triebimpulse (Forderungen des Es) oder unangenehme, unlustvolle Gedanken und Gefühle (Forderungen des Über-Ich und des Realitätsprinzips) abzuwehren oder zu vermeiden; desgleichen »äußere Reize« und »Vorstellungen«, die solche Gedanken und Gefühle evozieren könnten. Um sie abzuwehren oder zu vermei Vgl. Sigmund Freud: Die Verdrängung, in: Gesammelte Werke,  Bde., Bd. , Frankfurt am Main , S. -, sowie Ders.: Hemmung, Symptom, Angst, in: ebd., Bd. , S. -.

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den, kann sich das Ich z. B. der Verdrängung, der Rationalisierung, der Sublimierung, der Regression, der Isolierung, des Verleugnens oder Ungeschehenmachens, der Projektion, der Introjektion, der Verkehrung ins Gegenteil, sowie noch einiger anderer Mechanismen bzw. Techniken bedienen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sich das, was abgewehrt wird, »vom Ich Bewältigungsversuche aller Art, d. h. Verwandlungen gefallen lassen« muss, die auch »außerhalb der Analyse« mit beobachtbaren »Affektumwandlungen« der Abwehrenden einhergehen. Im Argumentations- und Interaktionsverhalten der Probanden fanden eine ganze Reihe solcher Bewältigungsversuche und »Affektumwandlungen« ihren empirisch greif baren Niederschlag. Komparativ betrachtet, spiegelten sich die unterschiedlichen Modi des Umgangs ressentimentgeleiteter und moderaterer Probanden mit unlustvollen Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen hier besonders eindrücklich wider. So wehrten beispielsweise durchaus auch moderatere Probanden beim ›Sprechen über Juden‹ das »unlustvolle« Gefühl des Unbehagens am Holocaust und an der Schuld der eigenen Eltern- und Großelterngeneration daran ab. Wie die Ressentimentgeleiteten mieden z. B. viele von ihnen bereits das Wort Holocaust und sprachen stattdessen lieber unspezifischer vom Zweiten Weltkrieg oder »unserer Vergangenheit«. (Auch die Bezeichnung Auschwitz fiel in  Gruppendiskussionen nur einmal, Shoah zweimal.) Doch anders als die Moderateren waren die Ressentimentgeleiteten die Einzigen, die ihr eigenes Unbehagen am Holocaust vehement verleugneten und stattdessen aversiv gegen die Juden selbst wendeten. Brachten Mitdiskutanten das ihre zum Ausdruck, und sprachen sie in diesem Zusammenhang gar von Scham, wurde dies (wie Willy Brandts Kniefall in Warschau) seitens der Ressentimentgeleiteten entweder lächerlich gemacht und/oder zu einem Produkt jüdischer Einflüsterungen umgedeutet. Dass Ressentimentgeleitete mit derlei Umdeutungen zugleich eigene Zweifel, oder mit Freud, »unlustvolle Einsprüche« des Realitätsprinzips und der Inneren Zensur am Geltungsanspruch ihres Ressentiments abwehrten, war offenkundig. Gleiches gilt für ihr Weglachen, notorisches ›Überhören‹ oder gereiztes Beiseitewischen von unerwünschten Gegenargumenten, alternativen Deutungsoptionen oder störenden Nachfragen von Mitdiskutanten. Als ein Movens der Ressentiment-Kommunikation vielfach unterschätzt, sind dies dieselben eigenen, uneingestandenen Zweifel, die Ressentimentgeleitete dazu drängen, sich des Geltungsan Anna Freud: Die Abwehrtätigkeit des Ichs als Objekt der Analyse, in: Die Schriften der Anna Freud, Bd. , München , S. .

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spruchs ihres Ressentiments immer wieder von Neuem zu versichern. Wäre es anders, wären sie nicht beständig damit beschäftigt, Geltungsgründe dafür zu konstruieren. Anders gesagt, keimen auch beim Antisemiten, ganz wie beim Abergläubischen, zuweilen Zweifel daran auf, ob die Juden wirklich das Böse schlechthin verkörpern oder Architekten einer großen Weltverschwörung sind. Und ganz wie der Abergläubische will der Antisemit trotzdem nicht von seinem Aberglauben lassen. Umso obsessiver ist sein Drang, immer wieder neu zu bewahrheiten, zu aktualisieren und zu reformulieren, was ihm seine »Idee vom Juden« souffliert. Der Umgang der Ressentimentgeleiteten mit Widerspruch – bei Freud wären dies »äußere Reize«, die eigene Zweifel evozieren könnten – offenbarte dies ebenso prägnant wie ihr Werben um Zuspruch. Etwa, wenn Mitdiskutanten eines ihrer »problem settings«, z. B. in puncto Nationalstolz, als solches ablehnten (»Ich kann mit dieser leidigen Vaterländerei nichts anfangen«) und damit zugleich die Frage nach den Ursachen und Verursachern des beklagten Problems ins Leere laufen ließen. Zumeist versuchten die Ressentimentgeleiteten, diese Mitdiskutanten davon zu überzeugen, dass das beklagte Problem sehr wohl eins sei, weil Nationalstolz ein »natürliches«, vitales Grundbedürfnis »des Menschen« (an sich) sei – eine Auffassung, die viele Moderatere mit den Ressentimentgeleiteten teilten. Umso schlüssiger schien es, als bösartige Verletzung eines quasi ›natürlichen‹ Rechts zu skandalisieren, was der oben zitierte Lehrer auf die Formel vom »verweigerten« Nationalstolz gebracht hatte. Bei Mitdiskutanten, bei denen das Zuspiel von derlei Geltungsgründen gar nicht verfing (»Du bist eben ein ganz spezielles Wesen«), versuchten es die Ressentimentgeleiteten in aller Regel mit anderen »problem settings«. Im Zweifelsfall griffen sie, ähnlich wie bei dem weiter oben genannten Beispiel, auf ein klassisches antisemitisches Passepartout zurück und erklärten ihren Mitdiskutanten: Wer sich als Deutscher oder Deutsche in Sachen Nationalstolz nicht depriviert, in seiner Meinungsfreiheit nicht restringiert, gemaßregelt usw. fühle, sei das Opfer jüdischer (manchmal auch, tentativer: ausländischer) Einflüsterungen. Dass andere sich nicht als Deprivations-, Restriktions-, Maßregelungsopfer fühlten und betrachteten, gründe eben darin, dass sie Manipulationsopfer seien. Von einer »Lügenpresse« oder »Volksverrätern« aus den »Systemparteien« war damals, ein paar Jahre vor AfD und Pegida, noch nicht  Wie bei anderen »problem settings« war es auch hier so, dass nicht alle Nationalstolz-Verfechter zudem Ressentiments kommunizierten. Umgekehrt aber traten die Ressentimentgeleiteten fast ausnahmslos als dezidierte Nationalstolz-Verfechter auf.

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(wieder) die Rede. Umso unverhohlener trat bei so manchen Ressentimentgeleiteten dasselbe verschwörungstheoretische ›Marionettenund-Puppenspieler‹-Denken zutage, das man aus rechtsradikalen oder rechtsradikal inspirierten Milieus kennt. Für diese Diskutanten war »die Presse«, die nicht das schreibt, was sie lesen wollen, »ja nur das Organ«, hinter dem in Wirklichkeit »sehr einflussreiche jüdische Kreise« stünden. Auch heiße »unser eigentlicher Bundespräsident«, so ein anderer, »nicht [Horst] Köhler, sondern [Paul] Spiegel«. Seien doch die Juden »die Macht«, die »nicht auf dem Wahlzettel steht«, aber »im Prinzip Politik entscheidet«. Manch heutiger Pegida-Anhänger, AfDWähler oder AfD-Politiker (man denke an den Fall Gedeon) dürfte das ähnlich sehen, auch wenn die propagierten Feindbilder explizit andere sind oder sein sollen. Die demonstrative Berufung auf »unser christlichjüdisches Abendland«, die Selbstdarstellung der AfD als »einer der wenigen Garanten jüdischen Lebens« oder Geert Wilders’ Versuch, als Pegida-Redner Israel zu umgarnen, sprechen jedenfalls nicht dagegen. Solche Strategien sind alles andere als neu und können allenfalls grobmaschig verschleiern, wie gut sich z. B. ein verhohlener Antisemitismus in den rechtspopulistischen Furor gegen »die« politischen und medialen »Eliten« und deren vermeintliches Manipulationswerkzeug, »die Political Correctness«, integrieren lässt. Doch zurück zu den Gruppendiskussions-Befunden. Grundsätzlich kann man sagen, dass sich die interpersonale Ressentiment-Kommunikation, je nach situativem Kontext und Temperament der Kommunizierenden, stets zwischen dem werbenden Zuspiel von potenziellen Geltungsgründen für das Ressentiment und der mal mehr, mal weniger brüsken Abwehr von Widerspruch seitens der Mitdiskutanten bewegte. Hier wie  Der baden-württembergische AfD-Abgeordnete Wolfgang Gedeon vertritt u. a. die These von einem (von den USA aus gesteuerten) »Globalzionismus« und publizierte bereits  und  mehrere antisemitische Bücher. (Vgl. dazu Marcus Funck: Wie antisemitisch ist dieser AfD-Politiker?, in: Die Zeit v. ...)  wurde Gedeon nach langem Hin und Her aus der baden-württembergischen AfDLandtagsfraktion ausgeschlossen. Ein ebenfalls angekündigter Parteiausschluss Gedeons hingegen wurde  vom Landesschiedsgericht der AfD »aus formalen Gründen« abgelehnt. Im Herbst , kurz nach dem Erscheinen eines neuen Buches von Gedeon (Ich, die AfD und der Antisemitismus: Populismus oder Mut zur Wahrheit) kündigte der AfD-Bundesvorstand einen neuerlichen Versuch an, Gedeon aus der Partei auszuschließen. (Vgl. dazu Tilman Steffen: AfD-Spitze will Holocaustleugner aus der Partei werfen, in: Die Zeit v. ...)  »Die AfD ist einer der wenigen Garanten jüdischen Lebens«. Interview mit Frauke Petry v. Matthias Kamann, in: welt.de v. ...  Vgl. dazu Lenz Jacobsen: Hinter den Zäunen diese Wut, in: zeit online v. ...

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dort offenbart sich die Abwehr oder Vermeidung von möglichen eigenen Zweifeln als ein empirisch greif bares Movens dieses Kommunikationsverhaltens. Als solches befördert es das kommunikative Suchtverhalten Ressentimentgeleiteter ebenso maßgeblich mit wie ihre Aufklärungsresistenz. Hinzu kommt – beim antijüdischen Ressentiment – das kulturhistorisch tief verankerte Bild von den Juden als mächtige moralische Über-Ich-Instanz. Mit dieser Mitgift aus dem christlichen Antijudaismus hält der Antisemitismus eine zusätzliche Projektionsfolie bereit, um eigene Einsprüche der Inneren Zensur und des Realitätsprinzips in Gestalt der (als Über-Ich-Instanz imaginierten) Juden abzuwehren. Auf die besondere Deutungs- und Wirkmächtigkeit dieses Judenbildes verwiesen, neben vielen Aktualisierungen wie den zitierten – die Juden als Einflüsterer von Scham und schlechtem Gewissen, als Maßregelnde oder Restringierende – u. a. auch entsprechende Metaphern und Metaphernkomplexe. Wie sich die hier und die weiter oben skizzierten Befunde bei der gemeinschaftlichen, kooperativen Kommunikation antijüdischer Ressentiments ausnahmen, lässt sich recht gut anhand der folgenden, hier leicht gekürzt wiedergegebenen Sequenz aus einer westdeutschen Volkshochschulgruppe () veranschaulichen. Als »problem setting« fungierte hier, wie so oft, die Klage, man fühle sich von Tabus umstellt und in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt. Dietmar: Die Deutschen diskutieren sehr oft und sehr heiß über die Juden. Aber, aber ich muss dazu sagen, es ist brandgefährlich, an der Öffentlichkeit irgendwo was zu sagen. Weil – ich kann über Amerika oder übern Bush [schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch] oder über Kerry oder über sonst jemanden sagen, was ich will. Hannelore: Da kannste sagen, der ist dumm und alles. Dietmar: Da erlaubt sich jeder von uns hier zu sagen, der Bush ist dumm, ja. Aber wehe, das sagen Sie übern Scharon ! Hassan: Ja, warum nicht? [Gelächter, besonders Hannelore] Dietmar: Ich weiß es doch net, ich weiß es net ! Ich bin auf die Welt gekommen, da war der Krieg schon fast vorbei.

 Genaueres dazu vgl. Ranc (Anm. ), S.  f.

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    -           JR : Frage: Was passiert einem? Was passiert einem, wenn man sagt, Scharon ist dumm?

Inge: Das ist ein Verbrecher, sag’ ich öffentlich. Dietmar [leicht gereizt auf JRs Frage antwortend]: Das war jetzt ’n Beispiel! Hannelore: Aber da werden Se schon schief angeguckt – und – na ja, Herrgott, auch mit Nazi-Vergangenheit ! Bernhard: Ich möchte auch noch mal Folgendes sagen: Wir haben in Deutschland etwa hunderttausend Juden, und wir haben drei Millionen Muslime. Welche Gruppierung greift öffentlich stärker in innerdeutsche Angelegenheiten ein? Hannelore: Ja, genau ! Bernhard: Ich denke jetzt nur mal an das Beispiel Hohmann – will den nicht verteidigen. Hannelore: Ja, genau – ich auch nicht. Bernhard: Die muslimische Seite hält sich sehr zurück: drei Millionen ! Hannelore: Hat gar nichts dazu gesagt. Bernhard: Hunderttausend Juden, äh, Spiegel, Friedman – Hannelore: Zwei Gerichtsurteile ! Bernhard [spricht weiter]: – und die Vorgänger, Galinski, Bubis! Ja, also da kann man manchmal doch auch sagen: Zum Donnerwetter noch mal, wo leben wir denn? Hannelore: Da kommt mer ins Grübeln, da kommt mer ins Grübeln. Dietmar: Es gibt so gut wie keine deutsche Politik, die nicht aus israelischer Seite kritisiert wird.  Gemeint ist der frühere CDU -Politiker (und heutige AfD-Abgeordnete) Martin Hohmann. Als die hier zitierte Gruppendiskussion  stattfand, war Hohmann gerade wegen seiner antisemitischen »Tätervolk«-Rede () aus seiner Partei und der CDU -Fraktion ausgeschlossen worden. Mehrere Klagen gegen ihn wegen Volksverhetzung und Beleidigung waren letztlich jedoch abgewiesen worden. Auf diese Gerichtsurteile bezieht sich die Diskutantin Hannelore weiter unten in der Sequenz. Zu der in vielen Gruppendiskussionen aufgegriffenen Debatte um Hohmanns »Tätervolk«-Rede vgl. Ranc (Anm. ), S.  ff.  Vgl. Anm. .

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       JR : Also Sie meinen jetzt israelische Regierungen? [Pause, auf Antwort wartend] Oder jetzt Statements von Paul Spiegel zu der Affäre Möllemann, zu der Affäre Hohmann oder –

Dietmar: Zum Beispiel. Das geht ja bis in die Gewerkschaften rein ! Bernhard: Dass sie sich sozusagen wie so ’n Gewissen aufspielen – Hannelore: Ja, und überall ihren Senf zugeben. […] Bernhard: Noch ’nen [ironisch] ganz gefährlichen Satz wollte ich trotzdem jetzt sagen. Eigentlich sollte man den nicht sagen. Also ich schicke jetzt wirklich voraus als Entschuldigung: ich bin kein Antisemit, ich habe mich wirklich sehr viel mit jüdischer Geschichte, Religion, Sprache usw. beschäftigt – Dietmar [erregt dazwischen]: Man muss sich dauernd entschuldigen! Bernhard: – ich bin aber auch  Jahre im Schuldienst gewesen und hab’ also, wie gesagt, Gemeinschaftskunde in der Oberstufe unterrichtet. Der Antisemitismus, den wir hier haben, in der jungen Generation, ist hausgemacht – Hannelore: Ja. Bernhard: – ist hausgemacht. Und durch diese Verhaltensweisen, insbesondere der deutschen organisierten Juden, äh, wird ein Antisemitismus, wenigstens in den, also in meinem Bereich, Oberstufe Gymnasium, produziert. […] JR : Das heißt, solche Leute […] ›produzieren‹ Ressentiments?

Hannelore: Die produzieren, ja. Bernhard [langsam, jedes Wort einzeln betonend]: Die produzieren Antisemitismus. Dietmar: Und das war doch schon immer –. Das gereizte Abwiegeln von störenden, auf Präzisierung zielenden Nachfragen (»Das war jetzt ’n Beispiel!«); das widerwillig konzedierte, summarische »na ja, Herrgott, auch mit Nazi-Vergangenheit!«; das sich Echauffieren darüber, dass sich – deutsche – Juden ständig in »innerdeutsche Angelegenheiten« einmischten, ohne darin einen Widerspruch erkennen zu wollen; deren unhinterfragte Gleichsetzung mit einer »israelische[n] 

    -          

Seite«, die auch durch die gezielte Frage der Moderatorin (»Also Sie meinen jetzt israelische Regierungen?«) nicht zu erschüttern war; das Ausspielen gegen die Muslime – einer war in der Gruppe anwesend –, die sich, anders als die Juden, lobenswerterweise nicht zur Causa Hohmann geäußert hätten; die sich wechselseitig befeuernde Empörung darüber, dass die Juden »überall ihren Senf zugeben«; der Vorwurf, sie würden »sich sozusagen wie so ’n Gewissen aufspielen«, ohne auch nur den Gedanken an ein eigenes Unbehagen an der eigenen, das heißt – hier wäre das Attribut angebracht – »hausgemachten« NS -Geschichte zuzulassen; stattdessen von einem »hausgemachten« Antisemitismus der Juden zu sprechen und den – beileibe – nicht eigenen Antisemitismus, sondern den anderer einträchtig auf »diese Verhaltensweisen« von Juden zurückzuführen: Die gemeinschaftliche, gemäß dem ressentimentspezifischen Konstruktionsprinzip ins Werk gesetzte Entfaltung antisemitischer Deutungs- und Erregungsgemeinschaften könnte anschaulicher kaum sein. Wie bei jeder konsensuellen Ressentiment-Kommunikation, gleichviel, gegen wen sie zielte, verwies auch hier die Verve, mit der die Beteiligten einander blindlings die passenden Bälle zuspielten (und die unpassenden abwehrten) darauf, dass sich die raison d’être des Ressentiments nicht in der Abwehr unlustvoller Gedanken, Gefühle und Vorstellungen und deren aversiver Wendung gegen sein Objekt erschöpft. Der Eifer, dessen sich Ressentimentgeleitete bei ihrem kommunikativen Zu- und Abwehrspiel von Gründen befleißigen, um sich und andere für ihre Sache zu passionieren, und die bei ›gelingender‹ Ressentiment-Kommunikation wechselseitige Passionierung offenbaren zudem, dass das Ressentiment nicht nur geteilt, sondern auch – lustvoll – goutiert sein will. Ressentimentlust Doch woraus speist sich die geteilte und sichtlich genossene Lust an der gemeinschaftlichen Ressentiment-Kommunikation, und vor allem: welche gemeinschaftsstiftende Funktion erfüllt sie dabei selbst? Auch hier ist der Rückgriff auf psychoanalytische Erkenntnisse, namentlich auf Freuds Analyse des feindseligen Witzes, hilfreich. Auf der Basis der Befunde aus den Gruppendiskussionen ermöglichte dieser Rückgriff eine Parallelführung, deren Resultate sich folgendermaßen umreißen lassen: Bei der Kommunikation von Ressentiments wie bei der von feindseligen Witzen handelt es sich um eine (vermittels bestimmter Textur-Muster und Techniken auf bereitete) Form der werbenden, nach Bestätigung heischenden Verbalaggression gegen das Objekt des 

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Ressentiments oder des feindseligen Witzes. Freud betrachtet den feindseligen Witz als ein Produkt kulturell und sozialisatorisch vermittelter Zivilisierung, das die tätliche Aggression oder die unmittelbare, unflätige Beschimpfung durch die sozial akzeptablere Form der anwerbenden Schmähung ersetzt. Dasselbe kann man von der diskursiven Ressentiment-Kommunikation sagen. Sowohl der ressentimentgeleitete Diskutant als auch der Erzähler des feindseligen Witzes werben um Verbündete, oder, mit Freud, um »Mithasser und Mitverächter« unter »anfänglich« womöglich »indifferenten Zuhörern«. Dafür müssen die Umworbenen hier wie dort in der Lage sein, Anspielungen richtig zu deuten und Auslassungen gedanklich zu vervollständigen. Wie der feindselige Witz auf seine Pointe, läuft die Ressentiment-Kommunikation auf die ihre – die Schlechten und Schuldigen können nur die Objekte des Ressentiments sein – hinaus. Beide ›Pointen‹ sind in Wirklichkeit implizite Prämissen, kommen aber als (ebenfalls implizite) Schlussfolgerungen von zwingender Konsequenz daher. Die Fähigkeit, sie gedanklich zu vervollständigen und so zu ›erraten‹, verdankt sich hier wie dort der Kenntnis vertrauter Topoi und Schlussmuster. Ihre Vertrautheit (oder Habitualität) erlaubt es dem Zuhörer, vergleichbares Vor- und Deutungswissen vorausgesetzt, die ›Pointe‹ einer Ressentiment- oder Witz-Textur ad hoc zu verstehen. Beispielsweise also zu verstehen, dass ›typisch jüdische Geldgier‹ gemeint ist, wenn gesagt wird, Juden würden »finanzielle Vorteile« aus Auschwitz ziehen. Oder, wie bei einem von Freuds Witz-Beispielen, zu verstehen, dass der Besucher seine beiden Gastgeber als Halunken schmäht, wenn er angesichts ihrer nebeneinander aufgehängten Porträts auf die leere Fläche dazwischen deutet und fragt: »Und wo ist der Heiland?« Vertrautes, das es (wie hier die christliche Ikonografie) erlaubt, die Pointe zu erraten, bereitet zudem, Freud zufolge, »Lust am ›Wiederfinden des Bekannten‹«. Diese Option gehört zu den technisch ›bestechenden‹ Eigenschaften sowohl von Witz- wie von Ressentiment-Texturen. Dieselbe Vertrautheit befähigte die Probanden, oft schon zu Beginn der Ressentiment-Kommunikation zu antizipieren, worauf das Ganze hinauslaufen könnte, und zu widersprechen, zu verstummen, oder aber mitzumachen und einander blindlings die passenden Bälle bzw. Gründe zuzuspielen und unpassende gemeinsam abzuwehren. Was dieses Spiel beflügelt, ist die  Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in: Gesammelte Werke, Bd. , Frankfurt am Main , S.  f.  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Ebd., S. .  Ebd., S. .

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triebökonomische »Verlockungsprämie«, mit der laut Freud der feindselige Witz und, den Befunden aus den Gruppendiskussionen zufolge, auch die Ressentiment-Kommunikation die Innere bzw. soziale Zensur auszustechen vermag. Diese »Verlockungsprämie« funktioniert nach dem Vorlustprinzip und verheißt Lustgewinn durch die gemeinschaftliche »Aufhebung von Hemmungen«. Der sie seinen Zuhörern offeriert, ist derjenige, der einen feindseligen Witz oder, analog dazu, ein Ressentiment kommuniziert und damit gleichsam eine Vorleistung erbringt, indem er den Umworbenen eigenen »Hemmungs- und Unterdrückungsaufwand« erspart – man könnte auch sagen: eigene Einsprüche der Inneren Zensur und des Realitätsprinzips. Goutieren die Umworbenen das Gehörte, haben sie die Offerte des Werbenden angenommen und erhöhen, vice versa, dessen Lustgewinn, indem sie ihn an ihrer (verbalen, mimischen, gestischen, oder, beim Witz: lachenden) Übereinstimmung teilhaben lassen. Fühlen sich die Umworbenen überdies animiert, selbst zur Witz- oder Ressentiment-Kommunikation beizutragen, potenziert sich mit der nunmehr reziproken Ersparung an Hemmungsaufwand auch die daraus gewonnene »Witzeslust«, oder, und analog dazu formuliert: die Ressentimentlust. In diesem triebökonomischen Sinn speist sich die Ressentimentlust aus der gemeinschaftsstiftenden Funktion, welche sie selbst mit befördert. Dass die Ressentimentlust, wie die von Freud beschriebene »Witzeslust«, eine soziale Lust ist, die geteilt sein will, zeigte sich auch dort, wo das Werben der Ressentimentgeleiteten misslang. Reagierten ihre Mitdiskutanten mehrheitlich mit Unmutsbekundungen, schmälerten sie die Aussicht auf reziproke Lustprämien und erlahmte irgendwann (für dieses Mal) der Eifer der Ressentimentgeleiteten. Solche Sequenzen waren zwar eher selten, dokumentierten aber umso eindrücklicher, dass diejenigen, die als »Mithasser und Mitverächter« nicht zu gewinnen sind, denen, die um sie werben, die Ressentimentlust vielleicht nicht nachhaltig, wohl aber in actu verderben können. Allerdings – und hier enden die Parallelen – spielt der Witz (seinem Genre gemäß) offen mit der Falschmünzerei und gibt sich als solcher zu erkennen. Das Ressentiment hingegen präsentiert sich als bare Münze im »Raum der Gründe« und kann so seine Passionierungs- und Überzeugungspotenziale anders ausspielen. Anders als beim feindseligen Witz    

Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd. Vgl. Ranc (Anm. ), S.  ff.



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kann der Werbende hier probe- und schrittweise an vergemeinschaftungsfähige Positionen und Dispositionen andocken und versuchen, die Umworbenen sukzessive auf seine Seite zu ziehen. Je besser und öfter ihm dies, und sei es nur partiell und zeitweilig, gelingt, desto leichter machen es ihm die Umworbenen, sein Ressentiment, wie der Abergläubische seinen Aberglauben, zu behalten, und desto weniger können (oder wollen) diese Umworbenen verstehen, dass sie an dessen Bewahrheitung teilhaben, und nicht etwa an einem kritischen Diskurs. Letzteres gilt nicht zuletzt für all die Ambivalenten, ohne deren affirmatives, im Mindesten aber permissives Zutun sich viele ressentimentgeleitete Deutungs- und Erregungsgemeinschaften gar nicht erst formieren könnten – sei es bei Diskussionen wie den hier beschriebenen, sei es in Internet-Foren oder auf der Straße bei Pegida. Umso wichtiger ist es aufzuzeigen, wie sich das Ressentiment Gedanken und Gefühle deutend anverwandelt, wie es potenzielle »Mithasser und Mitverächter« für sich zu gewinnen vermag und dieselbe vergiftete und vergiftende Pseudokritik generiert, die auch den Rechtspopulismus befeuert.



Fallstudien zu den Affekten des Antisemitismus im . und . Jahrhundert

Häme als Ressentimentverbindung Wie und warum man im frühen . Jahrhundert Juden verlachte Uffa Jensen In heitern Seelen gibts keinen Witz. Witz zeigt ein gestörtes Gleichgewicht an: er ist die Folge der Störung und zugleich das Mittel der Herstellung. Den stärksten Witz hat die Leidenschaft. Der Zustand der Auflösung aller Verhältnisse, die Verzweiflung oder das geistige Sterben ist am fürchterlichsten witzig. Novalis, Blütenstaub ()

Die moderne Häme gegen Juden, auf einem Ressentiment auf bauend, begann im deutschsprachigen Raum im frühen . Jahrhundert. Genauer setzte sie mit der »Deutschen Tischgesellschaft« ein, die am . Januar  – dem Krönungstag der preußischen Monarchie – von dem Dichter Achim von Arnim (-) und dem Philosophen Adam Heinrich Müller (-) in Berlin gegründet wurde. Der Mediziner und spätere Beamte im preußischen Bildungsministerium Georg Philipp Ludolph Beckedorff (-) lieferte in seiner Abschiedsrede im Juni  ein durchaus typisches Beispiel: Nein, kein Beschnittener nahet diesem Tische, und zum ewigen Schrecken für sie, uns aber zur Erinnerung unsrer Gesinnung stehe künftig immer auf diesem Tische ein großer Schinken, gleichviel ob frisch oder geräuchert, roh oder gekocht, in einer Paste oder mit einem Guß, nur daß ich aus patriotischen Rücksichten einen ächten Pommerschen lieber sehen würde, als einen noch so fetten Westphälischen. Beckedorff wollte mit dieser Passage über den Schinken, der Juden von der Mitgliedschaft in der Gesellschaft oder auch nur von der Anwesenheit abschrecken sollte, lustig sein. Dieser spezifische Humor der Tischgesellschaft fiel bereits zeitgenössischen Besuchern auf. So notierte  Vgl. Stefan Nienhaus: Geschichte der deutschen Tischgesellschaft, Tübingen .  Siehe Georg Philipp Ludolph Beckedorff: (Abschiedsrede), in: Texte der deutschen Tischgesellschaft, hrsg. von Stefan Nienhaus, Tübingen  (Ludwig Achim von Arnim – Werke und Briefwechsel. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. ), S. -, hier S. .  Dass er einen pommerschen einem westfälischen Schinken vorzog, dürfte eine zusätzlich lustig gemeinte Anspielung auf die Franzosenfeindlichkeit der Tischgesellschaft gewesen sein, weil das Königreich Westfalen  als französischer



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noch  Karl August Varnhagen, der wohl nicht formal Mitglied der Tischgesellschaft war, sie aber gelegentlich besucht zu haben scheint, nach einem dortigen Vortrag: Die Sache wurde als lächerlich in ihren Einzelheiten geschildert, man lachte ungemein, allein im Ganzen schien mir der Vorgang ein trauriges Zeichen des Zustandes, in welchem der Staat sich befindet; ein Gewaltschritt mit gehässigem Hohn gegen das bisher gesetzlich Bestandene ausgeführt. Gehässigkeit – Hohn – Gewalt: Diese Form männlicher Geselligkeit erlaubte offenkundig eine größere Ungezwungenheit, mit der man die Grenzen der Schicklichkeit leicht hinter sich lassen konnte. Auch wenn in dem Fall, auf den sich Varnhagens Äußerung direkt bezog, wohl keine Juden thematisiert wurden, so war der darin beschriebene Hohn und Spott gegen die tolerante, aufklärerische und frankreichfreundliche Politik in Preußen für die Tischgesellschaft konstitutiv und bezog sich zumindest in der Anfangsphase sehr oft auf Juden. Im Folgenden möchte ich mich daher mit dieser Art von ausgrenzendem Humor beschäftigen. Dabei werde ich argumentieren, dass sich diese Spielart als eine spezifische Ressentimentverbindung verstehen lässt: als Häme. Varnhagens Schilderung verweist hierbei auf eine offenkundig ansteckende Qualität dieses Gefühls: Die Anwesenden »lachten ungemein«, wobei es durchaus mit der distanzierten Haltung Varnhagens übereinstimmen würde, hier genauer von einem Verlachen zu sprechen, einem Ressentiment-Lachen. Dass die Grundstimmung in dieser männerbündischen Vereinigung von einem Ressentiment geprägt war, auch dafür lieferte Beckedorff ausreichend Belege. Er hatte in den ersten Monaten als Sprecher der Gesellschaft fungiert und nahm die angeführte Rede zum Anlass, »an die Gesinnung und die Absicht« dieses Vereins zu erinnern:

litenstaat ins Leben gerufen wurde und dessen Königskrone Napoléon Bonapartes jüngster Bruder Jérôme erhielt.  Siehe Karl August Varnhagen von Ense: Werke, Frankfurt am Main  (Bd. : Tageblätter), S.  f.  Siehe Nienhaus (Anm. ), S. . Es erscheint mir in der Tat wesentlich, dass Frauen auch nicht zur Tischgesellschaft zugelassen waren. Auch hier erwies sich die Tischgesellschaft als Gegenmodell zum Salon, worauf ich weiter unten eingehen werde. Generell waren Frauen in der Gesellschaft der Jahrhundertwende zum . Jahrhundert oft als besonders empfindsam konnotiert, sodass der »schickliche« Umgang mit ihnen auch für Männer die Zurschaustellung größerer Empfindsamkeit bedeutete. Hohn und Häme wären hingegen keine akzeptablen Reaktionsweisen gewesen.

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In einer Zeit, wo die Satzungen der Väter größtentheils umgestoßen werden, wo heilig Altes mit dem geistlos Veralteten in dieselbe Gruft begraben wird, wo eine große Verwirrung und Vermischung Aller Dinge, Gesetze, Stände und Religionen, kurz, ein allgemeiner plebejischer Zustand herbey geführt werden soll, in einer solchen Zeit kann eine Tischgesellschaft ihre gründliche Protestation gegen die ephemeren Neuerungen der Tageswelt nicht besser zu erkennen geben, als durch Verbannung der Juden, dieses Erbfeindes der Christenheit, dieses Wiedersachers aller Ordnung […]. Die Logik Beckedorffs, der mit seiner Verbindung aus Judenfeindschaft und konservativer Kulturkritik durchaus für die gesamte Tischgesellschaft zu sprechen beanspruchte, mag zunächst überraschen: Wieso sollte man auf die voranschreitende gesellschaftliche Modernisierung gerade mit einem »Krieg gegen die Juden« antworten? Für Beckedorff lag das jedoch auf der Hand, weil ihm diese Veränderungen letztlich als »Verjudung« erschienen: Man gehe so »gegen ein Gezücht« vor, »welches mit wunderbarer Frechheit, ohne Beruf, ohne Talent, mit wenig Muth und noch weniger Ehre, mit bebendem Herzen und unruhigen Fußsohlen, wie Moses ihnen prophezeit hat, sich in den Staat, in die Wissenschaft, in die Kunst, in die Gesellschaft und letztlich sogar in die ritterlichen Schranken des Zweikampfes einzuschleichen, einzudrängen und einzuzwängen bemüht ist«. Um dieser ›Judaisierung‹ zumindest in ihren Reihen Einhalt zu gebieten, verbot die Tischgesellschaft den Eintritt von Juden. In diesem Kontext erklärte sich auch Beckedorffs Witz mit dem Schinken. Das Ressentiment dieser Männerrunde entzündete sich, wenn man Beckedorffs Worten folgt, an dem wahrgenommenen Umsturz aller überkommenen Normen und Werte. Verantwortlich dafür waren insbesondere die Juden, gegen die sich folglich das Ressentiment vor allem richten konnte. Ich möchte im Folgenden auf die spezifische Funktion des Ressentiments eingehen. Dabei erscheint mir das Potenzial dieser Stimmung, Verbindungen mit negativen Gefühlen eingehen zu können, entscheidend zu sein. Um die Häme gegen Juden, wie sie in der Tischgesellschaft üblich war, besser in den zeitgenössischen Kontext einordnen zu können, werde ich noch auf eine weitere Quelle für den zeitgenössischen Humor im frühen . Jahrhundert eingehen, die sogenannten Judenpossen. Zugleich ist es wichtig zu beschreiben, wie die Zeitgenossen  Siehe Beckedorff (Anm. ), S. .  Siehe ebd.

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diese Art von Humor selbst verstanden. Ich werde daher auch nach dem zeitgenössisch vorhandenen Komikwissen fragen, wie es sich u. a. auch in der Geselligkeitsheorie von Friedrich Schleiermacher niedergeschlagen hat. Meine zentrale These lautet schließlich, dass die Häme gegen Juden eine Reaktion auf ihre bereits in Teilen erfolgreiche Integration und kulturelle Anpassung im spezifischen Modus des Humors darstellte und dass das daraus resultierende Verlachen eine enorm wichtige Vergemeinschaftungsfunktion unter ressentiment-geladenen Männern darstellte. Die (ver-)lachende Männerrunde Die Tischgesellschaft traf sich regelmäßig zum Essen; Arnim hatte in seinen Einladungsschreiben vor der Gründung von einer »Fressgesellschaft« gesprochen. Die Treffen fanden daher in einem Gasthaus statt, zunächst beim »Wirthe des Casinos« in der Friedrichstadt. Als das Casino für die wachsende Männerrunde zu klein wurde, wechselte man zwischenzeitlich in den Saal der Börsenhalle. Dort regte sich offenkundig Protest gegen die Tischgesellschaft, wobei u. a. Beckedorff insinuierte, dass hierbei Juden eine Rolle gespielt hätten. Die Runde zog dann ins »Englische Haus« in der Mohrenstraße. Der Ablauf der Treffen war stets ähnlich: Zwischen den verschiedenen Gängen des opulenten Essens wurden Reden gehalten, Anekdoten erzählt, Neuigkeiten über Kunst und Literatur ausgetauscht, offene Tischgespräche geführt und gemeinsam gesungen. Als in der ersten Sitzung festgelegt werden sollte, wer zu dieser Geselligkeit zugelassen werden durfte, einigten sich die Anwesenden demokratisch darauf, nur »Wohlanständige« zu erlauben. In den Statuten hieß es dann dazu: »Die Gesellschaft versteht unter dieser Wohlanständigkeit, daß es ein Mann von Ehre und guten Sitten und in christlicher Religion geboren sey.« Während es über das Verbot, Frauen zu beteiligen, anscheinend keinerlei Diskussionen gegeben hatte, war der Passus in Bezug auf Juden durch eine Mehrheitsentscheidung der Anwesenden verschärft worden. Es waren nicht »nur« bekennende Juden unerwünscht, sondern auch Konvertiten. Diese Nachricht verbreitete sich schnell: Auf einer Reise nach Dresden beschwerte sich Henriette Herz bereits im Mai  über eine »altchristliche Gesellschaft«, »worin keine Juden geduldet  So nennt er das in einem Brief an Jacob und Wilhelm Grimm: Texte (Anm. ), S. .  Siehe Beckedorff (Anm. ), S.  f.  Siehe Texte (Anm. ), S. .

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                   

werden«. In der Tat war das ein Skandal, brach dies doch mit dem christlichen Gebot, dass man mit der Taufe ein vollgültiges Mitglied der christlichen Gemeinschaft werde. In seiner Abschiedstischrede berichtete Beckedorff, dass bereits bei der Gründungsversammlung  Personen anwesend gewesen waren, dass die Gesellschaft aber zum Zeitpunkt seines Ausscheidens  Mitglieder aufwies und diese Zahl schnell anwuchs. Für Beckedorff konnte vor allem »der halb scherz-[,] halb ernsthafte Krieg«, den man gegen die Juden führte, den Zuwachs erklären. Pro Veranstaltung kamen  bis  Personen. In den Mitgliedslisten bis  finden sich schließlich  Namen; zugleich waren weitere Gäste zugelassen, sodass die Zahl der wirklichen Besucher wohl höher lag. Eine Hälfte der Tischgenossen entstammte dem Adel; die andere Hälfte gehörte dem Bürgertum an. In der Mehrzahl waren es Beamte, darunter viele Gelehrte, gefolgt von Militärs. Einige Mitglieder kamen sogar aus dem Hochadel des preußischen Hofes, andere waren hohe Staatsbeamte. Mit dem Geheimen Finanzrat Friedrich August Staegemann, der ein enger Vertrauter Hardenbergs war, dem Oberfinanzrat Albert Peter Heinrich von Zschock, dem Geheimen Obersteuerrat Peter Christian Wilhelm Beuth sowie dem Verwaltungsjuristen Friedrich Wilhelm August von Bülow, der direkt im Büro des Staatskanzlers arbeitete und damit im Machtzentrum Preußens in dieser Phase, waren gleich mehrere Mitglieder an den Schaltstellen des preußischen Regierungsapparats tätig. Hinzu kamen einflussreiche Juristen, auch die erwähnten Militärs waren zum Teil hochrangig. Komplettiert wurde die Runde noch durch bedeutende Vertreter des kulturellen Lebens, unter denen der Gründer Achim von Arnim und sein enger Freund und Schwager Clemens Brentano sicherlich die bekanntesten waren. In vielerlei Hinsicht repräsentierte die Gesellschaft die Führungselite der preußischen Hauptstadt, wobei sie sich bewusst von alten Standesgrenzen zwischen Adel und Bürgertum emanzipiert hatte. Auch insofern war sie reformorientiert und offen – bei ihrer internen Entscheidungsfindung wandte sie sogar, wie gezeigt, das demokratische Mittel der Mehrheitsentscheidung an. Es kann daher auch nicht von einer generellen Feindseligkeit der Tischgesellschaft gegenüber den von Stein und Hardenberg initiierten Preußischen Reformen gesprochen werden. Im Gegenteil, die

 Dies berichtet Christian Gottfried Körner in einem Brief, zit. nach: Nienhaus (Anm. ), S. .  Siehe Beckedorff (Anm. ), S. .  Vgl. zur Analyse der Mitglieder Nienhaus (Anm. ), S. -.

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Kritiker des Reformkurses wie Friedrich August Ludwig von der Marwitz saßen nicht mit am Tisch, wenn sich die Vereinigung traf. Ideologisch vertrat die Vereinigung einen ausgeprägten preußischen Patriotismus, wobei sie sich mit dem Aufkommen national-deutschen Gedankenguts genau in dieser Phase auch für diesen Trend öffnete und zunehmend ein gesamtdeutsches Verständnis von Preußentum entwickelte. Für diese Phase der politischen und ideologischen Konfrontation Preußens mit Frankreich wenig überraschend, teilten die Mitglieder auch einen grundlegenden Franzosenhass. Vor allem jedoch kulminierte das Ressentiment gegen die unliebsamen Veränderungen in der Gesellschaft, wie es Beckedorff als Grundstimmung der Gesellschaft beschrieb, in der Judenfeindschaft. Unmittelbar lassen sich zwei historische Entwicklungen benennen, welche diese Stimmungslage begründete: die neuen, quasi-egalitären Formen von Berliner Geselligkeit und die Debatte um die rechtliche Gleichstellung der Juden. Durch die erste Entwicklung fühlten sich die Männer der Eliten in ihrem Alltag so angegriffen, wie sie sich zuvor angezogen gefühlt hatten. Zeitgenössisch etwa durch die jüdischen Salonièren Henriette Herz (-) oder Rahel Varnhagen von Ense (-) symbolisiert, war in der bürgerlichen Gesellschaft der Stadt eine neue Soziabilität entstanden, die zumindest partiell soziale, geschlechtliche und religiöse Grenzen überschritt. Bei diesen Gelegenheiten trafen gleich mehrere, sonst gesellschaftlich getrennte Gruppen zusammen: Adlige und Bürgerliche, Christen und Juden, Männer und Frauen. Diese in jeder Hinsicht standesübergreifende Vergemeinschaftung hatte in der Stadtgesellschaft an der Wende zum . Jahrhundert etwas Neues, Spektakuläres, Unerhörtes und dadurch etwas durchaus Attraktives. Viele Berliner Mitglieder der Elite fühlten sich von dieser Geselligkeit magisch angezogen. Daher war es kein Zufall, dass auch einige Männer der Tischgesellschaft zuvor Salons besucht hatten. Die größte personelle Affinität bestand allerdings zum patriotischen, antifranzösisch gesinnten Salon, den Luise Gräfin von Voß / ins Leben gerufen hatte. Aber von Arnim, Müller und

 Die Literatur zu den Salons ist lang; hier nur eine Auswahl: Hannah Lotte Lund: Der Berliner »jüdische Salon« um . Emanzipation in der Debatte, Berlin ; Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um , Stuttgart/Weimar ; Ulrike Weckel: Der »mächtige Geist der Assoziation«. Ein- und Ausgrenzungen bei der Geselligkeit der Geschlechter im späten . und frühen . Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte  (), S. -.

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Brentano (sowie weitere Mitglieder der Tischgesellschaft) hatten zuvor wie selbstverständlich auch im Salon Rahel Varnhagens verkehrt. Diese Stände und Religionen übergreifende Geselligkeit fand zeitgenössisch sogar eine philosophische Rechtfertigung und Aufladung. Der junge Friedrich Schleiermacher veröffentlichte  anonym den Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. Geselligkeit beschrieb er darin als den »freien Umgang vernünftiger sich unter einander bildender Menschen«. Der Einzelne sollte dabei »von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten«, die »Aussicht in eine andere und fremde Welt« gewährt werden, »so daß alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüther und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können«. Gerade das Fremde und Ungewohnte hatte folglich eine zentrale Funktion für die kollektive Bildung durch soziale Geselligkeit zu erfüllen. Es gibt in Schleiermachers Text keine direkten Bezüge auf zeitgenössische Geselligkeitsformen, sodass ich hier nicht klären kann, ob er mit »allen Erscheinungen der Menschheit« und den »fremdesten Gemüthern und Verhältnissen« vielleicht sogar auf die Anwesenheit von Juden und Jüdinnen in der zeitgenössischen Geselligkeit und besonders in den Salons anspielte. Unmöglich ist es nicht. Gleichwohl hatte auch die Salonkultur Grenzen der Geselligkeit aufgewiesen, weshalb sie als »semi-neutrale Gesellschaft« verstanden werden muss, gerade im Hinblick auf die jüdische Identität einiger Teilnehmer und Teilnehmerinnen. Auch war eine offene Diskussion politischer Themen im Salon wegen der Anwesenheit von Frauen normalerweise nur eingeschränkt möglich. Als durch die französische Besatzungszeit und die folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit Frankreich eine Politisierung der Berliner Stadtgesellschaft stattfand, untergrub dies die eher literarisch und künstlerisch ausgerichtete Salonkommunikation. Die Tatsache, dass einige männliche Salonbesucher mit der Gründung einer männerbündischen Tischgesellschaft gegen diese Form der Geselligkeit protestierten, spricht auch dafür, dass die Geschlechter- und Religionsgrenzen überschreitende Kommunikation diese Grenzen sicht Vgl. dazu die Gästelisten in: Petra Wilhelmy: Der Berliner Salon im . Jahrhundert, Berlin ; Nienhaus (Anm. ).  Siehe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Hans-Joachim Birkner u. a., Bd. , Berlin/New York , S. -, hier S. . Zu der Geschichte der Geselligkeit vgl. Gaus (Anm. ).  Vgl. zu dem Konzept bereits Jacob Katz: Out of the Ghetto. The Social Background of Jewish Emancipation -, New York .

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barer werden ließ. Sie bildete jedenfalls ein markantes zeitgenössisches Gegenbild zur Tischgesellschaft. Den zweiten Kontext für die Tischgesellschaft stellte die politische Diskussion über die rechtliche Stellung der Juden dar. Seit der preußische Beamte Christian Wilhelm von Dohm (-)  mit seinem Traktat Über die bürgerliche Verbesserung der Juden die Debatte über eine rechtliche Gleichberechtigung der Juden in den deutschen Landen eröffnet hatte, waren solche Forderungen auch gerade aus den preußischen Debatten nicht mehr verschwunden. Gegen Dohm waren bereits Gegenstimmen laut geworden, welche die Emanzipation der Juden rundweg ablehnten. Auch diese sollten in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nicht wieder verstummen, sondern die politischen Überlegungen zu einer rechtlichen Verbesserung der Juden stets kommentierend und kritisierend begleiten, wobei häufig die Schwelle zur offenen Feindseligkeit gegenüber Juden überschritten wurde. Diese erste Phase der Emanzipationskritik ist in den letzten Jahren zunehmend als der eigentliche Beginn des modernen Antisemitismus beschrieben worden. Die aggressive Stimmung gegen Juden, zu der auch die Tischgesellschaft beitrug, führte zu den ersten Traktaten, etwa von Friedrich Rühs oder Jakob Friedrich Fries, welche diese Vordatierung rechtfertigen. Aber schon vor der Einberufung der Tischgesellschaft hatten Polemiken wie die von Carl Friedrich Wilhelm Grattenauer, der  mit dem Traktat

 In diesem Sinne bezeichnet Nienhaus die Tischgesellschaft als »Negation der Salonbewegung«. Vgl. Nienhaus (Anm. ), S. .  Vgl. zu diesem Aspekt Uffa Jensen: Recht und Politik. Perspektiven deutschjüdischer Geschichte, Paderborn .  Siehe Christian Konrad Wilhelm von Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (/), Neuaufl., Hildesheim/New York .  Unter den Zeitgenossen Dohms stachen vor allem die Einwände des Orientalisten Johann David Michaelis hervor, dessen Meinung als Experte für jüdische Religion und insbesondere die Halacha ein großes Gewicht besaß. Zu den frühen Emanzipationsdebatten vgl. Jonathan M. Hess: Germans, Jews, and the Claims of Modernity, New Haven/London .  Vgl. Rainer Erb/Werner Bergmann: Die Nachtseite der Judenemanzipation: Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland -, Berlin .  Vgl. Jan Weyand: Historische Wissenssoziologie des modernen Antisemitismus. Genese und Typologie einer Wissensformation am Beispiel des deutschsprachigen Diskurses, Göttingen .  Vgl. Friedrich Rühs: Über die Ansprüche der Juden auf das deutsche Bürgerrecht, Berlin ; Jakob Friedrich Fries: Ueber die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden, Heidelberg .

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Wider den Juden für einigen Wirbel gesorgt hatte, eine antijüdische Stimmung vorbereitet. Im letzten Jahrzehnt des . Jahrhunderts war in der preußischen Verwaltung eine intensive Auseinandersetzung über die rechtliche Gleichstellung der Juden ausgebrochen, die, wie alle Reformbestrebungen, vor allem nach der Niederlage Preußens gegen die Napoleonischen Truppen erheblich an Dringlichkeit gewann. Nach  wurden regelmäßig neue Gesetzesinitiativen diskutiert, die schließlich  im »Preußischen Emanzipationsedikt« münden sollten. Schon früh veränderten einzelne preußische Gesetze auch die politische Sphäre: So gehörten  mit dem Fabrikanten David Friedländer und dem Bankier Salomon Veit bereits Juden dem Berliner Magistrat an;  wurde Veit zudem Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung. Vor diesem Hintergrund war die politische und rechtliche Position der Juden in der Berliner Stadtgesellschaft beständig im Gespräch. Insbesondere gilt dies für die Tischgesellschaft: Durch ihre oben beschriebenen Funktionen besaßen viele ihrer Mitglieder detaillierte Kenntnisse über die umfangreichen Emanzipationsdebatten in der preußischen Verwaltung. Mehr noch: zum Teil waren sie an diesen direkt beteiligt, wie etwa der Regierungsrat im Finanzministerium und spätere Staatsrat Beuth, der Staatsrat im Finanzministerium von Bülow, der zeitweilige Innenminister Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu Dohna oder der Leiter der Innen-Abteilung im Staatsrat Carl Otto Friedrich von Voß. Während sich die Mitglieder gegenüber vielen Reformbemühungen dieser Jahre aufgeschlossen zeigten, erlahmte ihr Reformeifer schlagartig angesichts der Frage nach der Judenemanzipation. Nicht zuletzt durch ihre Mitgliedschaft in der Tischgesellschaft stellten sie sich in dieser Sache in Opposition zu Freiherr Karl August von Hardenberg, der die Emanzipation von Juden voranzutreiben bereit war. Juden waren also für die Geselligkeit der Tischgesellschaft sowie für die darin organisierten, politisch interessierten Männer ein wichtiger Referenzpunkt. Sie bildeten für diese Männer eine Art doppeltes Außen: eine Gefährdung ihres politischen und geschlechtlichen Selbstverständnisses. Es galt die Grenzen nach außen markant zu befestigen, gerade  Vgl. Carl Friedrich Wilhelm Grattenauer: Wider die Juden. Ein Wort der Warnung an alle unsere christliche Mitbürger, Berlin .  Vgl. Albert A. Bruer: Geschichte der Juden in Preußen (-), Frankfurt am Main ; Irene A. Diekmann (Hrsg.): Das Emanzipationsedikt von  in Preußen. Der lange Weg der Juden zu »Einländern« und »preußischen Staatsbürgern«, Berlin ; Marion Schulte: Über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in Preußen. Ziele und Motive der Reformzeit (-), Berlin .

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weil sie offenkundig zunehmend überschritten wurden. Hier spielten Häme und Verlachen eine wichtige Rolle. Die enge gesellschaftliche und persönliche Nähe zu Juden war dabei entscheidend. Das Ressentiment, dessen Gefühlstönung auf einer markanten Wir-Ihr-Unterscheidung beruhte, verunmöglichte ein – immerhin theoretisch denkbares – neckendes, umarmendes Lachen und wurde hämisch. Ressentiments in der Geschichte aversiver Gefühle Negative und aversive Gefühle basieren auf der grundlegenden Stimmung des Ressentiments. Gerade moderne Gesellschaften neigen zum Ressentiment. Dieses Grollen bildet sich dann, wenn die Diskrepanz zwischen dem Wunsch, in der Gesellschaft mitbestimmen oder maßgeblichen Einfluss ausüben zu können, und den Machtverhältnissen, welche die Verwirklichung dieses Wunsches behindern, besonders groß geworden ist. Wenn die Menschen den Eindruck haben, dass ihnen trotz aller Versprechungen Partizipation letztlich verwehrt bleibt, reagieren sie darauf mit Ressentiments: gegen die Regierung, die Eliten, die Medien oder einfach gegen Die-da-oben. Oder wenn, wie im Fall der Tischgesellschaft, soziale und politische Veränderungen die Machtansprüche einer Elite zu gefährden scheinen, wenden sich ihre Mitglieder gegen diese illegitimen Veränderungen oft mit einem Ressentiment: wir gegen den Pöbel, wir Alten gegen die Neuankömmlinge, die wahre gegen die falsche Elite. Beide Situationen sind von einer Ohnmacht geprägt, entweder weil man keine Interventionsmacht gegen die Oberen hat oder weil sich die Veränderungen nicht mehr aufhalten lassen. Diese Ohnmacht kennzeichnet auch die Tönung des Gefühls: Das Ressentiment stellt eine Stimmungslage dar, der eine volle Artikulation verwehrt ist. Ressentiments erleben wir als gehemmte Gefühle: als ein Groll, der mehr sein will, aber es nicht kann.

 Mein Nachdenken über negative Gefühle ist vielerlei Hinsicht von Aurel Kolnais Phänomenologie beeinflusst: vgl. dazu Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle, Frankfurt am Main .  Vgl. zum Folgenden auch Uffa Jensen: Zornpolitik, Berlin .  Vgl. Max Scheler: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Frankfurt am Main , S. . Vgl. auch die wichtige Anknüpfung an das Ressentiment-Konzept, vor allem Nietzsches, das auch Scheler beeinflusste, Julijana Ranc: Ressentiment-Kommunikation in actu. Antijüdische Affekte und Argumentationen, in: Mittelweg  () H. , S. -.

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Manchmal kann sich ein Ressentiment als solches äußern: Wir grollen in uns hinein, wir schimpfen mit Gleichgesinnten in einer Kneipe über die ungerechten Verhältnisse – oder eben am Tisch einer geselligen Gesellschaft. Dieses Grollen kann als Hintergrundgeräusch einer komplexen Gesellschaft wahrgenommen werden, es kann mal lauter, mal leiser sein. Solche Ressentiments können wir mit einiger Mühe im Zaum halten: Wir winken ab, schütteln den Kopf und gehen unserer Wege. Trotzdem spüren wir den Groll oft so, als ob er gerne ausbrechen und zu einem manifesten Gefühl werden möchte. Grollende suchen fast nach einem Anlass, ein vollgültiges Gefühl zu empfinden. Für die fühlende Person liegt darin ein Versprechen auf ein kathartisches Moment. Kommt es zu einem solchen Ausbruch, können Ressentiments, so möchte ich behaupten, ganz verschiedene Gefühle befeuern. Sie können in Ressentimentverbindungen eine ganz eigene Mächtigkeit entwickeln, die dem ohnmächtigen Grollen fehlen. In unserem Ressentiment werden wir empfänglich für Zorn, Empörung, Angst, Verachtung, Hass und andere aversive oder verneinende Gefühle, die aus seinem Grollen ein wirkungsmächtiges Emotionssyndrom formen. Der Groll kann sich beispielsweise zu einem Zornausbruch verdichten: Man schimpft gegen die Mächtigen, droht ihnen mit der Faust, die Lippen beben, das Gesicht verzerrt sich usw. Oder, wie ich hier für den Fall der Tischgesellschaft argumentiere, das Ressentiment kann den Humor, die Witze und die Komik dunkel einfärben. Dann entsteht Häme. Doch wie geht Ressentimentgrollen in ein vollgültiges Gefühl über? Eine besonders wichtige Rolle spielen hier Gruppen, die ich als »moralisch Andere« bezeichnen würde und in die Debatte über negative Gefühle einführen möchte. Solche moralisch Andere können verschiedene Personengruppen sein: in unserer Gesellschaft oft Ausländer, Flüchtlinge, Asylbewerber, Dunkelhäutige, Juden, Muslime, Sinti und Roma, Homosexuelle, Trans- und Intersexuelle, gelegentlich auch Frauen. Die Liste ließe sich verlängern bzw. der jeweiligen Gesellschaft und historischen Situation anpassen. Was alle diese Gruppen eint, existiert nur aus der Perspektive der ressentimentgeladenen Menschen: Die Anderen verstoßen – vermutlich oder real – gegen die moralische Ordnung der Gesellschaft, indem sie – wieder aus der Perspektive der Ressentimentgeladenen – amoralisch handeln oder eine andere moralische Ordnung propagieren. So scheinen z. B. Flüchtlinge andere religiöse Vorstellungen mit sich zu bringen oder Homosexuelle andere Sexualvorstellungen zu etablieren. An den moralisch Anderen richten sich die aversiven, verneinende Gefühle aus, sodass sie als ekelig, abstoßend, bedrohlich und verschwörerisch erscheinen. Mit ihnen kommt angeblich das Unrecht in die 

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Welt, was zornig und wütend macht. Oder diese Anderen erscheinen als derart grotesk, befremdlich, gar ekelhaft, dass man sie mit Häme verlacht und sie damit quasi abwehrt. Die moralisch Anderen ermöglichen so die Transformation des Ressentiments, weil sie dessen Entladung in ein manifestes Gefühl wie Zorn, Hass, Angst oder Ekel etc. befördern. Sie richten das Grollen auf ein identifizierbares Objekt und vereindeutigen diese Gefühlslage. Zugleich prägt das Ressentiment den Blick auf die moralisch Anderen, wie überhaupt die gesamte Sicht auf die Wirklichkeit unter dem Vorbehalt des Grolls steht. Nietzsche sprach in diesem Zusammenhang vom »Giftauge« des Ressentiments, durch das alle Dinge »umgefärbt«, »umgedeutet« und »umgesehn« werden. Das sollte man nicht so verstehen, dass das Ressentiment eine negative Färbung zu einem davon eigentlich unabhängigen Wissen über Andere hinzufügt, welches ansonsten neutral wäre. Auch das Wissen wird im »Giftauge« erblickt. Das gegenwärtige Gefühl wird so mit kulturellen Vorstellungen über einen moralisch Anderen unterfüttert, die weit in die Vergangenheit zurückreichen können und zugleich kollektiv geteilt werden. Emotionen werden insofern durch Wissen legitimiert und umgekehrt. In der Forschung allein von Vorurteilen oder Stereotypen zu reden, verfehlt ganz grundsätzlich den wirklichkeitsverzerrenden Charakter dieser spezifischen Mischungen eines Gefühls-Wissens; nur von Ressentiments zu sprechen, verfehlt aber die konstitutiven Wissensbestände, welche die negativen Gefühle mobilisieren, ausrichten und stützen. Kognitivistische Kategorien wie Vorurteile oder Stereotypen zielen am Kern der Materie ebenso vorbei wie die rein emotionszentrierten, unspezifischen Begriffe Hass oder Feindlichkeit.  Siehe Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Ders., Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. , München, Berlin , S. .  Es gibt seit Längerem eine grundlegende Kritik an der Verwendung des Vorurteilsbegriffs; gerade im Bereich der Antisemitismusforschung hat sich diese ursprünglich berechtigte Kritik in den letzten Jahren insofern verschärft, als nun behauptet wird, Antisemitismus basiere im Gegensatz zum Rassismus auf einem grundlegend anderen psychischen Fundament. Während Rassismus in diesen Debatten an Vorurteilsstrukturen gebunden wird, die auf einer stereotypischen Wahrnehmung beruhen, soll Antisemitismus auf einer gänzlich anderen, alles durchdringenden Weltanschauung oder Ideologie aufbauen. Unabhängig von sich sofort ergebenden empirischen Nachfragen wie »Ist der Rassismus eines Ku-Klux-Klan-Anhängers nicht ebenfalls als grundlegende Weltanschauung mit großer Radikalität zu verstehen?« oder »Beruht Antisemitismus zunächst nicht ebenfalls auf stereotypischen Wahrnehmungen, selbst wenn sich diese in einigen Fällen in eine Weltanschauung verdichten?« ergibt sich das grundlegende konzeptionelle Problem, wie sich der grundlegend andere psychische Mechanismus im Antisemitismus erklären und

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Wenn wir auf diese Weise das gesellschaftliche Wissen über Gefühle anwenden, welches uns zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft zur Verfügung steht, dann geschieht das mit der festen Überzeugung, dass diese Gefühle einen unwillkürlichen Charakter haben. Schließlich ist dieses Wissen zum großen Teil unbewusstes Körperwissen, über das wir nicht einfach verfügen können. So sind wir de facto oft nicht frei, in einer bestimmten Situation einfach anders zu fühlen. Für die Geschichtswissenschaft hat dieses Modell den Vorteil, keine universell gültige Definition davon, wie Gefühle empfunden werden, vertreten zu müssen. Es bleibt möglich, dass Menschen zu anderen Zeiten und in anderen Gesellschaften, bestimmte Gefühle anders gefühlt haben. Emotionen sind, mit anderen Worten, nicht natürlich, sondern sie werden in der Geschichte immer wieder neu sozial konstruiert. Juden hämisch verlachen Einer der Gründungsväter der Tischgesellschaft, Achim von Arnim, hielt eine antisemitische Rede, »Über die Kennzeichen des Judentums«, in beschreiben lässt. Haben Menschen unterschiedliche psychische Strukturen, mit denen sie diskriminierende Weltanschauung und aversive Gefühle kombinieren? Wieso sollte man das annehmen? Mehr noch: Es drängt sich hier der Verdacht auf, dass die Bindung von Rassismus an ein – an sich problematisches – Vorurteilskonzept selbst rassistisch begründet sein könnte. Hierbei werden rassistische Diskriminierungen als lediglich »verfehlte« Urteile beschrieben, was diese nicht nur als weniger dramatisch im Vergleich zu antisemitischer Diskriminierung erscheinen lässt. Zugleich unterstellt man ihnen einen – sicherlich verfremdeten – Wirklichkeitsbezug. Man kann das so verstehen, als besäßen rassistische Vorurteile einen Bezug zur Lebensrealität der diskriminierten Gruppe, was Antisemitismus ganz grundsätzlich nicht habe. Ich halte eine fundamentale Unterscheidung von Antisemitismus und Rassismus folglich für theoretisch nicht überzeugend und empirisch wenig plausibel. Gleichwohl kann es keine Frage sein, dass verschiedene Formen von Diskriminierungen unterschiedliche Ausprägungen und Radikalität haben können. Es ist eine empirische Frage der (in diesem Sinne vergleichenden) Rassismus- und Antisemitismusforschung, wie sich solche Unterschiede an einem konkreten Gegenstand beschreiben und erklären lassen. Für einen Versuch der Unterscheidung vgl. Jensen (Anm. ).  Hier hilft ein Blick auf die Debatte über Geschlechterkonstruktionen. Die feministische Philosophin Judith Butler argumentierte überzeugend, dass Geschlecht (im Unterschied zum Sex) zwar eine wandelbare Kategorie sei, wir aber keineswegs unser Geschlecht frei wählen können. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin . In analoger Weise spielen auch bei Gefühlen körperlich-biologische und kulturell-historische Elemente zusammen, ohne dass beides leicht oder rein voneinander zu scheiden wäre.

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der er den Juden »eine seltene Kunst sich zu verstecken« unterstellte. So drohten sie, unerkannt in die Tischgesellschaft – wie in die Gesellschaft insgesamt – eindringen zu können. Um das zu vermeiden, müsse man die Kennzeichen des Jüdischen erkennen können. Seine Tischrede gipfelte in einer chemischen Versuchsanleitung, die er als das einzige Mittel präsentierte, Juden zweifelsfrei zu identifizieren. Dafür solle man einen Juden nehmen, ihn im Mörser zerstoßen und in einer Lauge bis zum Glühen erwärmen. So erhalte man ihn in seine Bestandteile aufgelöst: Einen kleinen Theil Glaubens, der aber nicht abzuwägen,  Theile böse Lust aller Art  Theile altes Gold beym Auftriesseln von Landschaftsepauletten verheimlicht.  Theile altes Silber, beym grossen Einschmelzen zur Zeit des Stempeledikts, eingeathmet.  Theile altes Kupfer und alte Kleider, wie die Beutelratte ihre Junge, so haben sie dafür ein eignes Magazin in sich.  Theile falsche Wechsel, eingeschluckt damit sie nicht bekannt würden. […]  Theile falsche Neuigkeiten, verschluckt weil niemand sie hören wollte,  / Theil Rache gegen die Christen, sie war sonst grösser, ehe Grattenauer auf die Festung gesetzt worden.  Th. Eitelkeit, es bleibt wenig, weil sie davon am meisten aus lassen.  Theile Christenblut heimlich durch sündliche Vermischung gewonnen.  Theile Gewürm und Wurmgespieß / Theile Seele. Von Arnims chemische Versuchsanordnung galt Anfang des . Jahrhunderts offenbar in bestimmten Kontexten als witzig. Dabei zeigte sich eine spezifische Ressentimentverbindung der Häme. In solchen Reden wie von Arnims verdichtete sich das Ressentiment der alten Eliten in Häme. Diese Häme funktionierte dabei doppeldeutig: Einerseits artikulierte sich darin deren Verunsicherung über die Veränderungen, aus welcher das Boshafte der Häme resultierte, was den Unterschied zum bloßen Witz, zum Humor markiert. Gleichzeitig erlaubte die plötzliche Erkenntnis, dass hinter der neuen Fassade doch das Ewiggleiche, nämlich  Siehe Ludwig Achim von Arnim: Ueber die Kennzeichen des Judenthums. Bericht von einem der Mitglieder des gesetzgebenden Ausschusses (), in: Texte der deutschen Tischgesellschaft (Anm. ), S. -, hier S.  und S. .

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das Jüdische, verborgen war, den schenkelklopfenden Ver-Lacher. Auf einen Spannungsaufbau folgt ein -abbau. Die Häme stellte eine lustvolle Ablösung von der Ressentiment-Ohnmacht dar. Der Übergang des Ressentiments in Häme funktionierte über Vorurteile, also Kognitionen über bestimmte Objekte, die sich in der Regel in schlagwortartigen Sätzen angeben lassen. Vorurteile wie »Akkulturierte Juden bleiben Juden« und »Sich-versteckende Juden sind eine innere Gefahr« richteten das Ressentiment der Männer der Tischgesellschaft auf nichterwünschte Objekte aus. Da diese Juden noch selten waren und etwas Absurdes besaßen, konnte daraus Häme entstehen – ein befreiendes, boshaftes Lachen über Andere. So können Vorurteile über Andere Gefühle mobilisieren. Ein mehr oder weniger undifferenziertes Grollen erhält ein abzulehnendes Objekt und kann daran zu einem vollen Verneinungsgefühl reifen. Kognitionen über abzulehnende Andere bekommen ein emotionales Unterfutter. Aus dieser Perspektive meine ich, dass der moderne Antisemitismus aus spezifischen Ressentimentverbindungen besteht, die man untersuchen kann und sollte. Zentral für diesen Übergang war die angenommene Gefahr der »Verjudung«. In der langen Beziehungsgeschichte von Juden und Christen seit der Antike und dem europäischen Mittelalter waren die Juden zum Paradigma des moralischen Anderen aufgestiegen, dessen Andersheit zugleich eine besondere Gefährlichkeit aufwies, die keine andere Gruppe oder Minderheit auszustrahlen schien. Diese Gefährlichkeit beruhte auf Vorstellungen der Judaisierung, die  keineswegs gänzlich neu waren. Zuvor waren sie vornehmlich mit Bezug auf jüdische Konvertiten zum Christentum geäußert worden, von denen man annahm, dass sie sich nicht ehrlich von ihrem jüdischen Glauben abgewandt hatten und sich nur zum Christentum bekannt hatten, um die christliche Gemeinschaft unterwandern zu können. Die Debatte um die rechtliche Gleichstellung der Juden, die seit dem späten . Jahrhundert gerade in Preußen geführt wurde, bescherte solchen Befürchtungen jedoch eine völlig neue Grundlage. Mit ihrer voraussetzungslosen Akzeptanz jüdischer Teilhabe existierte gegen die angebliche Judaisierungstendenz der Juden jetzt nicht mal mehr die Barriere der Konversion. Dass Juden somit ungehindert an Gesellschaft, Kultur und Politik teilnehmen sollten, mobilisierte massive

 Solche Vorstellungen kursierten spätestens seit massenhaften Zwangskonversion von spanischen Juden (und Muslimen) im . und . Jahrhundert. Vgl. Max Sebastián Hering Torres: Rassismus in der Vormoderne: Die »Reinheit des Blutes« im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main .

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Befürchtungen vor einer sozialen, kulturellen und politischen Unterwanderung. Diese neue Dimension bildete den Kontext für die Judenfeindschaft der Tischgesellschaft, mit der sich die Mitglieder vor allem gegen die zunehmende kulturelle Angleichung der Juden zur Wehr setzten. So erklärte sich die Obsession der Tischgesellschaft, ein angebliches Einschleichen von Juden in ihre Reihen zu verhindern, was Beckedorff ja auch zu seinem Witz mit dem Schinken veranlasst hatte. Possen über Juden Aber von Arnim lachte über die Juden keineswegs zuerst. Auch Grattenauer hatte sich in seiner erwähnten Schrift Wider die Juden über die »jüdischen Kultur- und Humanitätsdirektoren« lustig gemacht, die ihn wegen seiner Ansichten verunglimpfen würden. Auch er hatte darin einen neuen Feind ausgemacht: die akkulturierten, integrierten und gebildeten Juden. In den ersten Jahren des . Jahrhunderts machte man sich ganz generell gerne und oft über Juden lustig, und man kann die zunehmende Dunkelfärbung beobachten, die schließlich in die Häme mündete, die in der Tischgesellschaft gepflegt wurde. Objekte des Witzes waren gerade diejenigen Mitglieder der jüdischen Oberschicht, die sich der nichtjüdischen Gesellschaft kulturell anpassten. Dazu entstand in dieser Phase sogar ein eigenes Literaturgenre: die »Judenposse«. Dutzende von solchen Lustspielen wurden verfasst und nicht selten auch auf die Bühne gebracht. Berlin wurde zu einem Zentrum dieser Possenliteratur und einige Autoren, wie etwa der ehemalige Militär Julius von Voß, versuchten, durch dieses populäre Genre zu Geld zu kommen. Von Voß sind allein mindestens  solcher Possen überliefert; die bekannteste war

 Für den weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ist die Bedeutung dieser Figur schon früh beschrieben worden: Steven E. Aschheim, The »Jew Within«: The Myth of »Judaization« in Imperial Germany, in: Jehuda Reinharz/Walter Schatzberg (Hrsg.): The Jewish Response to German Culture: From the Enlightenment to the Second World War, Hanover/London , S. -.  Vgl. Grattenauer (Anm. ), S. .  Vgl. dazu Hans-Joachim Neubauer: Judenfiguren. Drama und Theater im frühen . Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York ; Matthias Richter: Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (-). Studien zu Form und Funktion, Göttingen .

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dabei Der travestirte Nathan der Weise von , mit dem er das berühmte Lessing-Stück persiflierte. Ein späteres Beispiel ist die sehr populäre Theaterposse Unser Verkehr von Karl Borromäus Alexander Sessa. Die Handlung lässt sich schnell erzählen: Ein junger Jude verlässt sein Elternhaus mit dem Auftrag seines Vaters, in der Welt ein reicher Mann zu werden. Auf seinem Weg trifft er auf eine jüdische Familie, in deren schöne Tochter er sich verliebt, allerdings zunächst aussichtslos. Aufgrund des Irrtums eines Lotteriehändlers glaubt der junge Jude für eine Weile, das große Los gezogen zu haben und mit einem Schlag reich geworden zu sein. Sofort verlässt die schöne Jüdin ihren eigentlichen Auserwählten und will ihn heiraten. Alle anderen Juden wenden sich dem scheinbaren Glückspilz zu, der Vater der Braut umwirbt ihn als Geschäftspartner und alle Juden pumpen ihn um Geld an. Genauso schnell wenden sich jedoch alle Juden wieder von ihm ab, als der Irrtum des Lotteriegewinns bekannt wird. Man könnte glauben, dass man diese Literaturgattung nicht besonders ernst nehmen müsste, schließlich handelte es sich um Witze, zugegeben auf Kosten der Juden, aber eben nur um Witze. Auch die Autoren dieser Possen verteidigten sich, indem sie auf die vermeintliche Harmlosigkeit dieser Scherze hinwiesen. In der Tat ist es ein schwieriges Problem für einen Historiker, für eine Historikerin herauszufinden, wann in der Vergangenheit was und warum als lustig galt, zumal, wenn es heute die meisten überhaupt nicht mehr zum Lachen anregt. Im Fall der Judenpossen sind zugleich Zweifel angebracht, nutzten Autoren wie von Voß doch das Genre vor allem, um ihre Ansichten über Juden an der Zensur des preußischen Staates vorbeizuschmuggeln. Die Zensoren – so glaubte man – würden bei solchen Lustspielen nicht so genau hinschauen, sodass man kritische Ansichten besser in solchen Witzeleien verpacken konnte, um sie auf die Bühne zu bringen. Dass das nicht immer klappte, zeigt die Geschichte von Unser Verkehr. Das Stück war ursprünglich unter dem Titel »Die Judenschule« im Februar  in Breslau uraufgeführt worden, angeblich war sogar der preußische König anwesend gewesen. Es sollte allerdings nur zwei Abende gespielt und dann verboten werden. Auf Umwegen gelangte es daraufhin nach Berlin an die Königlichen Schauspiele, wo es mit dem neuen Titel für den . Juli  angesetzt war. Am Abend selbst, das Publikum hatte  Siehe Julius von Voss: Der travestirte Nathan der Weise. Posse in  Akten mit Intermezzos, Chören, Tanz, gelehrtem Zweykampf, Mord u. Todschlag, durch Kupfer verherrlicht, Berlin .  Siehe Karl B. Sessa: Unser Verkehr. Eine Posse in einem Aufzuge, Augsburg .

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bereits Platz genommen, wurde Unser Verkehr nun vom preußischen Staatskanzler von Hardenberg verboten, weil es die religiösen Gefühle der Juden verletzen würde. Es kam daraufhin zu Tumulten im Theater und zu Protesten in der Stadt, die die folgenden Tage und sogar Wochen anhielten. Gegen das Theater und das Ensemble hagelte es Drohungen, Zeitungen druckten Passagen aus dem Stück ab. Als schließlich eine leicht zensierte Fassung vorgelegt wurde, konnte das Stück am . September  schließlich aufgeführt werden. Es wurde zum Kassenschlager, der elf Mal wiederholt werden musste. Die Einnahmen überstiegen diejenigen anderer Lustspiele um einiges, und auch in Braunschweig, Kassel, Bremen, Mannheim, Köln, Frankfurt, Münster, Hamburg und Königsberg wurde das Stück gespielt. Durchaus ähnlich wie in der Tischrede von Arnims stehen im Zentrum von Unser Verkehr die Bildungs-, Aufstiegs- und Integrationsbemühungen eines Juden. Was von Arnim als die gefährliche Fähigkeit von Juden ausmachte, sich so anzupassen, dass man sie nicht mehr als solche erkennen könne, wird in solchen Judenpossen zum Anlass, sich über das Scheitern der jüdischen Integration lustig zu machen. Zentral ist dabei die Sprache der Juden, denn so sehr sich die Judenfiguren auch anstrengen, Hochdeutsch zu sprechen, es kommt immer ein Kauderwelsch zum Vorschein, den die Autoren solcher Judenpossen extra erfinden. Ein gebildeter Jude, ein Student, in dem Stück kann zwar richtiges Hochdeutsch, spricht dafür aber so manieriert und überkandidelt, dass auch das wieder lächerlich wirken soll. Das zeitgenössische Wissen über Komik In den Witzen gegen Juden offenbarte sich alltagsnahes Wissen über die Art und Weise, wie Komik funktioniert und welche Bedeutung sie hat. Die Judenpossen sollten lustig sein – und zugleich wahr. So jedenfalls verteidigte sich Voss, der seinem Stück Der travestirte Nathan der Weise eine programmatische Vorrede voranstellte, bereits vorab gegen Vorwürfe wegen der vielen Geschmacklosigkeiten. Er suche, heißt es dort, eine Möglichkeit, »wo man Wahrheiten sagen, und Sitten zeichnen kann; was denn der Natur dieser Schriftgattung zufolge, hier viel kecker und unverschämter geschehen darf, als sonst im repräsentablen dramatischen Fach«. Gerade die besonderen Freiheiten der Posse interessierten ihn: »Ueberhaupt kann man der Phantasie dabei einen willkürlichen  Vgl. Richter (Anm. ), S. .

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Spielraum gestatten, ja stellenweise ernsthaft werden, wenn man gleich an andern Orten jedes Späßlein niederschrieb, was gerade beifiel.« Der Komik kam hier also eine Art entlarvender Funktion zu, und zwar die eigentliche Wahrheit über die Sitten – in diesem Fall: der Juden – hinter dem Schein zu offenbaren. Dieses Komikwissen passte gut zu den Judenpossen: Schließlich machte sie sich vor allem über gebildete Juden lustig, also diejenigen, die in der »guten Gesellschaft« verkehrten, aber – so die Logik der Possen – nicht richtig dazu passten. Genau diese Figuren des geselligen Lebens konnten leicht lächerlich gemacht werden. Um die feinen Unterschiede in der kulturellen Anpassung markieren zu können, half es sehr, sie mit Humor markanter hervorzuheben. Bereits die Geselligkeitstheorie von Schleiermacher hatte das Potenzial an Lächerlichkeit verdeutlicht, welches im Bemühen um den richtigen geselligen Umgang schlummerte. Wer – so die Logik Schleiermachers – nicht richtig Konversation treiben könne, wer nicht über das richtige Taktgefühl verfüge, wer ständig an den anderen vorbeikommuniziere, der sei lächerlich. Langeweiler waren für Schleiermacher lächerlich, weil sie das natürliche »Streben der Unterhaltung, sich auf eine höhere Sphäre zu erheben«, unterdrückten. Diejenigen, die bestrebt seien, »den Ton höher und höher zu spannen«, ohne auf die geselligen Bedürfnisse der anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu achten – heute würde man sie wohl intellektuelle Snobs nennen –, waren es für Schleiermacher nicht weniger. Eine prekäre soziale Position konnte leicht der Lächerlichkeit ausgesetzt werden – und die Possen wie die Reden in der Tischgesellschaft versuchten, dies konsequent auf Juden zu beziehen. Auch die Tischgesellschaft verwandte implizite oder explizite Vorstellungen darüber, was komisch wirken sollte. Dabei kam ein leicht anderes Verständnis von Komik zum Einsatz: Es ging eher um Entlastung. Während bei der entlarvenden Komik die Wahrheit durch den Witz gezeigt werden sollte, sollte die entlastende Komik die Rationalität ausschalten und der Schalk sollte regieren. In diesem Sinne nahm von Arnim für seine Scherze bereits die gesamte Komödientradition seit Aristophanes in Beschlag: Wer noch nie mit Schweineschmalz Einen Judenbart gerieben, Kennt noch nicht das attsche Salz,  Siehe Voss (Anm. ), S. .  Siehe Schleiermacher (Anm. ), S.  f.

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Kann noch nicht die Alten lieben Aristophanes und Eulenspiegel Sind verschlossen ihm mit sieben Siegeln. Von Arnim war es auch, der in Die Glockentaufe – eine Parodie auf Schillers schon damals berühmte Ballade Das Lied von der Glocke – vor der Tischgesellschaft  die Funktion der Komik erläuterte: Zum Werke, das wir ernst bereiten Geziemt sich wohl ein scherzend Wort, Daß wenn wir diese Glocke läuten Die Weisheit weiche von dem Ort, Und frohe Torheit selbstvergessen Gleich einem Springbrunnen steig vermessen Und sprützt in aller Angesicht Ihr neckend Spiel, ihr farbig Licht. Das ist’s ja, was den Menschen zieret Und dazu ward ihm der Verstand, Daß er im innern Herzen spüret Der Freude lieben Unverstand. Die Glocke, deren Läuten die Sitzungen der Tischgesellschaft eröffnete, sollte wie der Schinken die Juden vertreiben: So wollen wir denn auch beyzeiten Die helle Sprecherglocke läuten, Daß Juden und Philister beben, Soweit die hellen Töne schweben. Torheit sollte – so musste man den Romantiker verstehen – selbstvergessen machen, sodass sich der Verstand, für einen lustigen Moment suspendiert, an seinem Gegenteil erfreuen konnte: dem Unverstand. Allerdings waren die entlarvende und die entlastende Funktion von Komik, wie sie in diesen beiden Quellen jeweils auftauchten, vielleicht gar nicht so unvereinbar. Die entlarvende Funktion bezog sich auf das Objekt der Komik: In diesem sollte die Wahrheit hinter dem Schein offengelegt werden. Dagegen zeigte sich die entlastende Funktion beim Subjekt der Komik: Man selbst wollte den Verstand für eine Weile ausschalten und sich am eigenen Unverstand erfreuen.  Siehe Arnim (Anm. ), S. .  Siehe Die Glockentaufe, in: Texte (Anm. ), S. -, hier S. .  Siehe ebd., S. .

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Die historische Logik der Häme Der pure Schalk, wie er von Arnim eingefordert wurde, konnte sich leerlaufen. Als der Philosoph Johann Gottlieb Fichte das Amt des Sprechers der Tischgesellschaft übernahm, hob er in seiner ersten Sprecherrede zu einer Kritik dieser Art von Komik an. Gleichwohl tat er dies im Medium der Knittelverse, somit bemühte er also selbst ein komisches Genre. Zum Beispiel: – witzig zu seyn aus heiler Haut Ist ein Talent, nicht Jedem anvertraut. So selten fast als reine Vernunft, ist reiner Witz, Und beide, denk ich, sind gleich viel nütz’. Man solle den Witz pflegen, so Fichte weiter, aber das habe seine Grenzen: Zudem sind die bisherigen Stoffe verbraucht Nicht Juden, nicht Philister mehr taugt Um an ihnen zu finden ein Körngen Spas, Das nicht schon einigemale da was. Immer den gleichen Witz zu reißen, ist irgendwann nicht mehr komisch: Da dieses sich so weit erstrekt Und bringen kann gar schlimmen Ruhm, So bleibt vor mir wohl ungenekt So Juden wie Philisterthum. Neben der inneren Abnutzungslogik von Häme scheint Fichte hier auch noch auf die Außenwirkung der Tischgesellschaft geschielt zu haben. Wie auch immer sie begründet war, Fichtes Kritik scheint jedenfalls die judenfeindliche Häme in der Tischgesellschaft eingedämmt zu haben: Ab der zweiten Hälfte des Jahres  sind keine antisemitischen Tischreden mehr überliefert. Im Rückblick gab  sogar Achim von Arnim zu, »daß der mitgeborne Scherz über Philister und Juden seinen Kreislauf

 Siehe Johann Gottlieb Fichte: (Rede zur Übernahme des Sprecheramtes), in: Texte (Anm. ), S. -, hier S. .  Siehe ebd., S.  f. Zu dem Bezug auf die Pharisäer, auf den ich hier nicht näher eingehen möchte, vgl. Nienhaus (Anm. ), S.  ff.  Siehe Fichte (Anm. ), S.  f.  Nienhaus (Anm. ), S.  ff. sowie S. . Über Fichtes Motivation, die antisemitische Rede in der Tischgesellschaft einzudämmen, ist – außer den Argumenten in seiner Tischrede – nichts weiter bekannt.

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vollendet, vollständig belacht und ausgesprochen sey«. Damit drängt sich die Frage auf, ob diese spezifische Humor-Konstellation, wie sie sich in den Judenpossen andeutete und dann in der Tischgesellschaft voll entfaltete, eine Episode des frühen . Jahrhunderts geblieben ist. Diese antijüdische Häme war im deutschsprachigen Raum zunächst quantitativ und qualitativ neu, weil sie eine unmittelbare Reaktion auf den Beginn der politischen und rechtlichen Emanzipation der Juden darstellte. Auch der Witz spiegelte den Wandel im zeitgenössischen Judentum. In der Berliner Hochkultur hatte die beginnende Akkulturation der Juden bereits sichtbare Zeichen hinterlassen. Dennoch glaubte man diesen neuen Juden noch etwas Lustiges und Absurdes abgewinnen zu können. Dabei sollte es im weiteren Verlauf des . Jahrhunderts und mit zunehmend erfolgreicher Verbürgerlichung der Juden nicht bleiben. So bemühte bereits Richard Wagner in Das Judentum in der Musik von  Motive des Ekels: Bei »wirklicher, tätiger Berührung mit Juden« fühle man sich »stets unwillkürlich abgestoßen«. Mit zunehmender Bedeutung des Ekelmotivs sollte die Komik weiter an Boshaftigkeit gewinnen und ihre schenkelklopfende, befreiende Dimension verlieren, die das gemeinsame Ressentimentlachen unter Männern zu Beginn des Jahrhunderts noch besessen hatte. Durch ihre erfolgreiche Verbürgerlichung im . Jahrhundert wurden die Juden immer stärker Teil der nichtjüdischen Lebenswelt; das ließ sie immer weniger lustig, sondern zunehmend gefährlich erscheinen. Natürlich hatte man auch vorher Ekel gegenüber Juden geäußert und empfunden, aber in einer Gesellschaft, deren demokratisches Selbstbild die schrankenlose und Grenzen überschreitende Berührung unter Gleichen propagierte, erhielt die Mobilisierung von Ekel eine ganz neue abwehrende und grenzziehende Bedeutung. Es lag in der Tendenz dieser Entwicklung, dass die Witze gegen Juden an Aggressivität eher zunahmen. Insofern hatten die Possenreißer  Siehe Achim von Arnim: (Rede von ), in: Texte (Anm. ), S. -, hier S. .  Siehe Richard Wagner: Das Judentum in der Musik, in: Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«: Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, hrsg. von Jens Malte Fischer, Frankfurt am Main , S. , hier S. .  Vgl. dazu auch mein Kapitel »Ekel« in: Jensen (Anm. ).  Zu denken ist hier etwa an die Tausenden von antisemitischen Bildpostkarten, die um die Wende zum . Jahrhundert verschickt wurden und bei denen sich der Humor noch stärker auf die jüdische Physiognomie konzentrierte. Das Zentrum für Antisemitismusforschung widmet sich diesen Quellen vermehrt und baut hierzu gerade das Arthur Langerman Archiv für die Erforschung des visuellen Antisemitismus (ALAVA ) auf.

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und Tischgenossen des frühen . Jahrhunderts das Potenzial von Häme und Verlachen noch nicht ausgeschöpft, aber zugleich die Grundlage für diese Weiterentwicklung des antisemitischen Witzes gelegt. Doch es gab auch kurzfristigere Folgen der judenfeindlichen Welle, die zumindest die Zeitgenossen so auffassten. Rahel Varnhagen sah in einem Brief von . August  einen Zusammenhang zwischen den antisemitischen Aktivitäten der Tischgesellschaft und den Judenpossen und erblickte darin einen der wesentlichen Wegbereiter für die HepHep-Krawalle: Ich bin gränzenlos traurig; und in einer Art wie ich es noch gar nicht war. Wegen der Juden […] seit  Jahren sag’ ich: die Juden werden gestürmt werden […]. Die Insinuatzion die seit Jahren alle Zeitungen durchlaufen. Die Professoren Fr.[gemeint ist Jakob Friedrich Fries] und Rü.[gemeint ist Friedrich Rühs], und wie sie heißen. Arn. [Arnim] und Brent. [Brentano], unser Verkehr; und noch höhere Personen mit Vorurtheil. Rahel Varnhagen schrieb dies unter dem Eindruck einer Welle von antijüdischer Gewalt: den sogenannten Hep-Hep-Pogromen, die am . August  in Würzburg ausgebrochen waren und sich dann über halb Europa ausbreiteten. Zwar streiten sich Historiker und Historikerinnen noch immer darüber, ob es zwischen der Welle an antijüdischen Texten, Theaterstücken, Reden etc. und dem Gewaltausbruch einen direkten Zusammenhang gibt. Keinen Zweifel gibt es hingegen, dass sich das Meinungsklima durch die Judenhetze bereits vor den Unruhen verschlechtert hatte und die Rahmenbedingungen für die Emanzipation der Juden nicht mehr gegeben waren, nachdem im Anschluss an den Wiener Kongress und die Karlsbader Beschlüsse das Zeitalter der Restauration anbrach. Insofern stießen gerade auch die Ausschreitungen auf einen fruchtbaren Boden. Zugleich verfolgte man mit der Pogromgewalt und der hier thematisierten Häme das gleiche Ziel: Man wollte damit die Juden, die politische Forderungen nach Gleichberechtigung stellten und sich zugleich kulturell zu integrieren begannen, wieder auf ihren angestammten Platz in der Gesellschaft verweisen – und das hieß: ein Platz am Rande oder außerhalb der Gemeinschaft.  Siehe den Brief an Ludwig Robert vom .., in: Briefe und Tagebücher aus verstreuten Quellen, in: Rahel Varnhagen – Gesammelte Werke, hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt u. a., Bd. , München , S.  f.  Vgl. dazu Stefan Rohrbacher: Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vormärz und Revolution (-/), Frankfurt am Main/New York ; Jacob Katz: Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres , Berlin .



»The detestable Sodomite« Sexualität und antisemitische Gefühlswelten im »Leo Frank Case« Kristoff Kerl

If Mary Phagan had been a Jewess, and Frank a Gentile, would all this scurrilous crusade against Georgia have been waged in the Jewish papers? If Frank had killed a Jew, as the New York gunmen did, would these Jewish millionaires be so lavish with their money and their abuse? […] Upon what monstrous theory of shoddy aristocracy and commercial snobbery, is based the idea that, in pursuing Mary Phagan, entrapping her, and choking her to death, this lascivious pervert did not fully outrage every decent white man who has a pure daughter, granddaughter, sister, or sweetheart? Diese gegen Leo Frank, einen in New York aufgewachsenen jüdischen Fabrikleiter der in Atlanta ansässigen National Pencil Company, im Besonderen und gegen Juden im Allgemeinen gerichteten Worte der Entrüstung und des Zornes entstammen der Feder Thomas Watsons, einem ehemals populären Politiker der Populistischen Bewegung, der mit den von ihm herausgegebenen Zeitungen The Jeffersonian und Watson’s Magazine im Verlauf des von  bis  währenden »Leo Frank Case« als führender Kopf des antisemitischen Anti-Frank-Lagers agierte und dabei zur Genese eines modernen Antisemitismus im US -Süden beitrug. Für den Verlauf der antisemitischen Affäre, die in dem Lynchmord an Frank mündete, spielten antijüdische Gefühle eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wie anhand des Zitates deutlich wird, waren diese häufig eng an rassifizierte Vorstellungen von Männlichkeit und Sexualität gekoppelt.  Thomas Watson: The Leo Frank Case, in: Watson’s Magazine, Jg.  (Januar ), Nr. , S. -, hier S. .  Die große Breitenwirkung, die von den beiden von Watson herausgegebenen Printmedien im Verlauf des Falles ausging, zeigt sich unter anderem in der drastischen Auflagensteigerung des Jeffersonian während der zweijährigen Affäre. Wurden 1913 lediglich 25.000 Exemplare gedruckt, verdreifachte sich die Auflage bis September 1915 auf über 87.000. Siehe Leonard Dinnerstein: The Leo Frank Case, Athens , S. . Zur Bedeutung des Leo Frank Case für die Genese eines modernen Antisemitismus im US -Süden siehe u. a. Kristoff Kerl: Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, er-er Jahre, Köln/ Weimar/Wien .



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Von daher werde ich den Fokus meines Artikels auf die Bedeutung dieser rassifizierten Sexualitätskonstruktionen für die im Fall wirksamen judenfeindlichen Emotionen richten. Dabei gehe ich von der These aus, dass sowohl die zeitgenössischen Vorstellungen rassifizierter Sexualitäten als auch die daran gebundenen Gefühle gegen Juden nur zu verstehen sind, wenn man sie in Zusammenhang mit dem sich seit der Niederlage des US -Südens im Bürgerkrieg langsam vollziehenden Aufstiegs einer kapitalistisch-modernen Gesellschaftsordnung und damit verbundenen Krisendiskursen angloamerikanischer Männlichkeit in Verbindung setzt. Um diesen thematischen Komplex zu beleuchten, nehme ich mit der Historikerin Ute Frevert an, dass Gefühle in einem reziproken Verhältnis zu Gesellschaft stehen. Für historiografische Auseinandersetzungen mit Emotionen bedeutet dies zum einen, dass Gefühle sowohl »geschichtsmächtig« als auch »geschichtsträchtig« sind: sie sind einerseits produktiv wirksam, indem sie soziales Handeln von Menschen beeinflussen. Andererseits bilden Gefühle keineswegs eine anthropologische Konstante. Vielmehr werden sie wesentlich durch Gesellschaft hervorgebracht und geformt und bedürfen der permanenten Herstellung, weshalb in der historischen Emotionsforschung vom doing emotions gesprochen wird. Zur Annäherung an meinen Untersuchungsgegenstand werde ich in einem ersten Schritt kurz den »Leo Frank Case« ereignisgeschichtlich skizzieren. Der Leo Frank Case Am . April  wurde eine -jährige angloamerikanische Arbeiterin namens Mary Phagan auf dem Gelände der National Pencil Company in Atlanta, Georgia, ermordet aufgefunden. Nachdem sich die Nachricht innerhalb der Bevölkerung Atlantas rasch ausgebreitet hatte, befanden sich weite Teile der Bewohner*innen Atlantas in großer Aufregung. Die Ermordung einer jungen Frau sowie Gerüchte, dass dem Mord ein  Ute Frevert: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?, in: Geschichte und Gesellschaft / (), S. -, hier S. .  Pascal Eitler/Monique Scheer: Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im . und . Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft / (), S. -, hier S.  f.; Frevert (Anm. ), S. ; Uffa Jensen: Zornpolitik, Berlin , S. ; Uffa Jensen/Stefanie SchülerSpringorum: Gefühle gegen Juden. Die Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus, in: Geschichte und Gesellschaft / (), S. -, hier S. .  Dinnerstein (Anm. ), S. -; Steve Oney: And the Dead Shall Rise. The Murder of Mary Phagan and the Lynching of Leo Frank, New York , S. -.

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sexueller Missbrauchsversuch vorangegangen sei – interessanterweise gab es laut Nancy MacLean keinerlei Beweis dafür, dass Mary Phagan vergewaltigt wurde, sondern lediglich dafür, dass sie bereits sexuell aktiv gewesen war –, ließen die Emotionen hochkochen und versetzten, so der bekannte zeitgenössische Journalist Christopher Patrick Connolly, die angloamerikanische Bevölkerung Atlantas in einen Zustand des »public delirium«. Infolge des großen öffentlichen Interesses standen die Ermittlungsbehörden von Anbeginn unter erheblichem Druck. Schnell gerieten neben Newt Lee, einem bei der National Pencil Company beschäftigten afroamerikanischen Nachtwächter, auch Leo Frank sowie der Afroamerikaner James (»Jim«) Conley, der in der Bleistiftfabrik als Reinigungskraft angestellt war, ins Blickfeld der polizeilichen Ermittlungen. Nach nur wenigen Wochen wurde trotz widersprüchlicher Beweislage Anklage wegen Mordes gegen Frank erhoben. Nach einem äußerst fragwürdigen Prozess, in dem Conley nun bemerkenswerterweise als Hauptzeuge der Anklage agierte, wurde Frank am . August  von der Jury zum Tode verurteilt. Weite Teile der Bevölkerung Atlantas feierten dieses Urteil frenetisch. Tausende Menschen, die vor dem Gerichtsgebäude auf den Juryspruch gewartet hatten, stießen Rufe der Begeisterung und des Entzückens aus und trugen den im Prozess agierenden Staatsanwalt Hugh M. Dorsey auf ihren Schultern zu seinem Büro. Nach dem Urteilsspruch legte das Verteidigerteam von Frank Revision gegen das Urteil ein, blieb damit aber erfolglos. Der damalige Gouverneur Georgias, John M. Slaton, wandelte die Todesstrafe am . Juni  jedoch wegen schwerwiegender Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Prozesses in lebenslange Haft um. Die Reaktionen auf diese Entscheidung fielen äußerst ambivalent aus. Während eine große Zahl der in Georgia erscheinenden Zeitungen diesen Schritt begrüßte, gaben sich Teile der Bevölkerung einem wahren Furor hin. Sie denunzierten Slaton als »König der Juden«, versuchten seiner mit Gewalt habhaft zu werden, hängten ihn in effigie an einem Laternenmast auf und riefen zu (Boykott-)

 Nancy MacLean: The Leo Frank Case. Gender and Sexual Politics in the Making of Reactionary Populism, in: The Journal of American History / (Dezember ), S. -, hier S. , .  C. P. Connolly: The Truth about the Leo Frank Case, New York , S. .  Dinnerstein (Anm. ), S. -.  Oney (Anm. ), S. -. Zu den Debatten, die das Auftreten Conleys als Hauptbelastungszeuge vor dem Hintergrund der White Supremacy auslöste, siehe Kerl (Anm. ), S. -.  Dinnerstein (Anm. ), S. .

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Aktionen gegen Juden auf. Nachdem ein erster Mordversuch auf Leo Frank vereitelt werden konnte, unternahm ein unter dem Namen »The Knights of Mary Phagan« agierendes Lynchkommando in der Nacht zum . August  einen zweiten, detailliert vorbereiteten Anlauf. Die Männer, unter denen sich u. a. ein ehemaliger Sheriff sowie zwei frühere Richter befanden und die von bedeutenden Teilen der Bevölkerung als »good American citizens« geschätzt wurden, überwanden mühelos die nur wenig Widerstand leistenden Wärter der Gefängnisanstalt, in der Frank inhaftiert war. Anschließend brachten sie Frank in ein über  Meilen entferntes Waldstück in der Nähe von Marietta – dem Geburtsort Mary Phagans – und erhängten ihn dort. Die enorme Leidenschaft und das große Ausmaß der gegen Frank gerichteten Emotionen, die während des »Leo Frank Case« und in dem Lynchmord offen zutage traten, wurden bereits zeitgenössisch heftig debattiert. Da das Sprechen über Gefühle eine »performative Dimension« aufweist und eine emotionalisierende Praktik darstellt, werde ich im nächsten Schritt zunächst einen Blick auf zeitgenössische Debatten über die Effekte von Emotionen im »Leo Frank Case« werfen. Dabei gehe ich davon aus, dass diese zeitgenössischen Auseinandersetzungen ihrerseits Effekte auf die Weltsicht und die Gefühlswelten der Gegner*innen Leo Franks ausübten und damit wiederum den Werdegang der Affäre beeinflussten. Zeitgenössische Sichtweisen auf Emotionen im »Leo Frank Case« In den zeitgenössischen Auseinandersetzungen zwischen dem Pro-FrankLager – also denjenigen, die von Leo Franks Unschuld überzeugt waren – und dem Anti-Frank-Lager – denjenigen, die in Frank den Mörder und Vergewaltiger Mary Phagans sahen und seinen Tod forderten bzw. herbeiführten – bildete das Thema »antisemitische Emotionen« einen wichtigen Bestandteil. Leo Franks Unterstützer*innen sahen in den  C. W. Carr: Athens and Clark County Folk Boycott Jews, in: The Jeffersonian , .., S. ; Dinnerstein (Anm. ), -; C. W. McDade/W. C. Glass et al.: Gentiles Think It Time to Fight Back, in: The Jeffersonian, .., S. ; Oney (Anm. ), S. -; [unbekannt]: In Darkest Georgia, in: Peoria Star, .., in: American Jewish Archives (AJA ), Leo Frank Papers (LFP ), Box , Ordner .  Zitiert nach Robert Michael: A Concise History of American Antisemitism, Lanham et al. , S. . Zur Zusammensetzung des Lynchkomitees und zum Ablauf des Lynching siehe Oney (Anm. ), S. -, -.  Dinnerstein (Anm. ), S. -.  Frevert (Anm. ), S.  f.; Jensen (Anm. ), S. .



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verbreiteten judenfeindlichen Gefühlen eine wesentliche Motivation für das Todesurteil sowie den Lynchmord. C. P. Connolly attestierte den Gegner*innen Franks gar ein »jungle fury«, womit er diese zugleich als ›unzivilisiert‹ entwarf. Auch Stimmen, die im Verlauf des »Leo Frank Case« die Existenz antisemitischer Gefühle in Georgia lange Zeit negiert hatten, beschrieben die rabiaten judenfeindlichen Vorkommnisse, die sich im Anschluss an die commutation ereigneten, als Resultat sich rasch ausbreitender judenfeindlicher Leidenschaften, die die »Zivilisation« und das Ansehen Georgias zu ruinieren drohten. Aufseiten des Anti-Frank-Lagers wiederum lösten diese Vorwürfe Wut und Zorn aus, da man in ihnen eine Beleidigung der ›Ehre‹ des Südens verstand. Zwar sahen auch die Gegner*innen Franks in Emotionen eine bedeutende Kraft, die die Haltungen beider Lager wesentlich geprägt hätte. Allerdings wurden Gefühle mit einer fundamental differenten Stoßrichtung in judenfeindliche Narrative integriert. Während das ProFrank-Lager mit der Thematisierung judenfeindlicher Gefühle darauf abzielte, der in der Affäre wirksamen Judenfeindschaft entgegenzuwirken oder zumindest ihre unmittelbaren Effekte abzuschwächen, lässt sich für das antisemitische Lager ein gegenteiliger Zusammenhang zwischen dem Reden über judenfeindliche Gefühle und dem Empfinden antisemitischer Emotionen diagnostizieren: hier stärkte das Reden über Gefühle antisemitische Sichtweisen sowie das antisemitische Fühlen. Gegner*innen Franks identifizierten die Emotionalisierung des Falles als eine Strategie des Pro-Frank-Lagers, um Leo Frank vor der vermeintlich gerechten Todesstrafe zu bewahren und damit das Recht außer Kraft zu setzen. »The purpose is to divide public opinion, create mawkish sentiment, and manufacture a sympathy which will influence the authorities«, klagte Thomas Watson über den Journalisten C. P. Connolly, der Judenfeindschaft eine große Bedeutung für den Verlauf des Falles zugeschrieben hatte. Häufig wurde dieser Vorwurf der emotionalen Manipulation dabei mit einem antisemitischen Phantasma in Verbindung gebracht: der Vorstellung einer omnipräsenten und ubiquitären,  A Public Man of Georgia: Why Was Frank Lynched? Was It Race Hatred, Dirty Politics, Yellow Journalism?, in: Forum / (Dezember ), S. -, hier S. , ; Thomas Watson: Mayor Dorsey of Athens, Georgia, Goes into the North-West and Talks about the Frank Case, in: The Jeffersonian, .., S. .  Connolly (Anm. ), S. .  [Unbekannt]: When Will Reason Return to Georgia and her Good Name Be Redeemed, in: The Augusta Chronicle, .., [Seite unbekannt], AJA , LFP , Box , Folder .  Watson (Anm. ), S. .  Ebd., S. .

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aber gleichzeitig verborgenen Macht von Juden. Nicht nur im »Leo Frank Case«, sondern auch in zwei weiteren Fällen, die zeitgenössisch intensive internationale Debatten über Antisemitismus ausgelöst hatten – die »Dreyfus-Affäre« und die »Beilis-Affäre« –, hätten Juden die ihnen zugeschriebene ökonomische Macht und ihren vermeintlichen medialen Einfluss dahingehend genutzt, um die (nichtjüdische) Bevölkerungsmehrheit des jeweiligen Landes emotional zugunsten des jeweils angeklagten Juden zu beeinflussen. Dieser Glaube an und das Sprechen über die vermeintlich von Juden qua ihrer gesellschaftlichen Macht vorgenommene Manipulation von Emotionen wurde seinerseits in antisemitischen Affekten produktiv und stärkte die Gefühle gegen Juden. Trotz des Vorwurfs, dass Juden mittels des Verweises auf Judenhass die Gefühle von Nichtjuden zu ihren Gunsten manipulieren und diese emotionale Beeinflussung zur Stabilisierung und zum Erhalt ihrer vermeintlichen gesellschaftlichen Sonderstellung nutzen würden, stritten die Befürworter*innen des Todesurteils keineswegs ab, dass in ihren Reihen negative Gefühle gegen Leo Frank wie Hass, Wut oder Zorn weit verbreitet waren. Anders als das Pro-Frank-Lager sahen sie in diesen jedoch berechtigte Reaktionen auf Unrechtstaten, die von Frank, »reichen Juden« oder dem »Big Money« angeblich begangen worden seien. Negative Gefühle gegen Juden wie Hass oder Wut galten ihnen somit als Kräfte, die widerständiges Verhalten gegen vermeintlich von Juden begangene Verbrechen motivierten. Dadurch dienten diese Emotionen, wie ich im weiteren Verlauf zeigen werde, den Antisemit*innen paradoxerweise auch als Quelle von zu ihrer Zeit positiv bewerteten Gefühlen wie Genugtuung, Stolz und Ehrgefühl. Ressentiments gegen kapitalistisch-moderne Formen der Vergesellschaftung und antisemitisches Fühlen In seinem Buch Zornpolitik beschreibt der Historiker Uffa Jensen das Ressentiment als »eine Art negatives Grundgrollen«, das entsteht, wenn  Thomas Watson: A Full Review of the Leo Frank Case, in: Watson’s Magazine / (März ), S. -, hier S.  f.  Thomas Watson: The Official Record in the Case of Leo Frank, a Jew Pervert, in: Watson’s Magazine / (August ), S. -, hier S.  f.  Ebd., S. -.  Watson (Anm. ), S. ; Thomas Watson: Slaton’s Home-Coming and Some Questions that He Must Be Prepared to Answer, in: The Jeffersonian, .., S. -, hier S. .

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negative Emotionen nicht ausgelebt, sondern unterdrückt werden. Wenn das Ressentiment jedoch auf eine bestimmte Menschengruppe gerichtet wird, bringt es Emotionen wie Wut, Hass oder Ekel hervor. Für das jeweilige Subjekt geht die Transformation des Ressentiments in ein konkretes Gefühl dabei paradoxerweise mit einem Lustgewinn einher, der darin besteht, »die Ohnmacht des Ressentiments überwunden zu haben«. Weit verbreitet sind Ressentiments nach Jensen in modernen Gesellschaften, da diese durch eine Kluft zwischen dem ihren Bürger*innen gegebenen Versprechen auf gesellschaftliche Teilhabe und den realen gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die einem signifikanten Teil der Bevölkerung eine solche Partizipation verweigern, charakterisiert sind. Dabei ist nicht die tatsächliche, sondern die jeweils wahrgenommene gesellschaftliche Positionierung für die Herausbildung von Ressentiments der entscheidende Faktor. Grundlegend für das Ressentiment ist also das Gefühl, die Kontrolle über die Gestaltung des eigenen Lebens verloren zu haben und unter die Dominanz von mächtigen oder als mächtig imaginierten Kräften geraten zu sein. Wie Jensen in diesem Zusammenhang betont, steht das Ressentiment deshalb häufig in Verbindung mit gesellschaftlichen Konflikten um Wertesysteme. Diese enge Kopplung des Ressentiments an gesellschaftlichen und kulturellen Wandel und damit verbundenen Wahrnehmungen der eigenen Ohnmacht und Unterwerfung machen das Konzept auch für die Beleuchtung meines Untersuchungsgegenstandes äußerst fruchtbar. Wie ich zeigen werde, waren die in der Affäre wirksamen Gefühle gegen Juden eng mit dem sich seit dem Bürgerkrieg vollziehenden und seit den er Jahren beschleunigenden Aufstieg einer kapitalistischen Moderne verknüpft, der von angloamerikanischen Menschen, und insbesondere von angloamerikanischen Männern, als fundamentaler Machtverlust empfunden wurde. In den Staaten der ehemaligen Konföderation vollzogen sich nach der Niederlage im Bürgerkrieg grundlegende Umformungen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Neben der Aufhebung der Sklaverei und der Verleihung staatsbürgerlicher Rechte an afroamerikanische Männer kam es in den letzten Dekaden des . Jahrhundert zum Niedergang des Agrarsektors, der sich in sinkenden Zahlen von Yeomen, also Besitzern kleinerer und mittlerer Farmen, sowie steigenden Zahlen an Päch Jensen (Anm. ), S. .  Ebd., S. -.  Ebd., S.  f.

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tern manifestierte. Gleichzeitig, und eng mit diesen Entwicklungen verflochten, beschleunigten sich in diesem Zeitraum die Prozesse der Urbanisierung und Industrialisierung. Während diese Entwicklungen im Süden insgesamt zwar deutlich langsamer als im Norden, und insbesondere als im Nordosten, voranschritten, vollzogen sich diese Prozesse in Atlanta, Georgia, dem Schauplatz des »Leo Frank Case«, in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Für die Menschen, die im Zuge dieser gesellschaftlichen Wandlungsprozesse aus ländlichen Regionen nach Atlanta kamen, bedeutete das dortige Leben eine grundlegende Veränderung ihrer gewohnten Arbeitsund Lebensbedingungen. Dieser Wandel stieß bei einer großen Zahl von angloamerikanischen Südstaatler*innen auf scharfe Ablehnung. Sie empfanden die städtischen und industrialisierten Lebensformen als fundamentalen Angriff auf den Southern Way of Life. Dabei verknüpften sie die neuartigen sozialen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse häufig mit rassifizierten, vergeschlechtlichten und sexualisierten Bedrohungswahrnehmungen. Im Zentrum dieser Krisendiskurse standen Vorstellungen einer durch die gesellschaftlichen Transformationsprozesse bedingten Krisenhaftigkeit angloamerikanischer Männlichkeit. Galten zeitgenössisch die dominante gesellschaftliche Positionierung sowie die ›Unabhängigkeit‹ bzw. Selbstbestimmung angloamerikanischer Männer, deren Verfügungsgewalt über weibliche Familienangehörige sowie die Subordination afroamerikanischer und anderer nicht als weiß kategorisierter Menschen als konstitutiv für angloamerikanische Männlichkeit, so sahen viele zeitgenössische Beobachter*innen diese Pfeiler angloamerikanischer Virilität durch den gesellschaftlichen Wandel zunehmenden Erosionsprozessen ausgesetzt. Die aus dem Eintritt in Lohnarbeitsver Edward Ayers: The Promise of the New South, New York/Oxford , S. ; Lee J. Alston/Kyle D. Kauffman: Agricultural Chutes and Ladders. New Estimates of Sharecroppers and »True Tenants« in the South, -, in: The Journal of Economic History / (), S. -, hier S. .  Don H. Doyle: New Men, New Cities, New South. Atlanta, Nashville, Charleston, Mobile, -, Chapel Hill , S. -.  Thomas Watson: Here Is the Positive Evidence Against John M. Slaton, in: The Jeffersonian, .., S. .  Zum Konzept der Krise von Männlichkeit siehe u. a. Felix Krämer/Olaf Stieglitz: Männlichkeitskrisen und Krisenrhetorik, oder: Ein historischer Blick auf eine besondere Pädagogik für Jungen, in: Edgar Foster/Barbara Rendtorff/Claudia Mahs (Hrsg.): Jungenpädagogik im Widerstreit, Stuttgart , S. -; Claudia OpitzBelakhal: »Krise der Männlichkeit« – ein nützliches Konzept der Geschlechtergeschichte?, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft / (Juli ), S. -.

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hältnisse und dem Leben in urbanen Räumen resultierende Steigerung der Autonomie und Agency von (angloamerikanischen) Frauen schwächte die Verfügungs- und Kontrollgewalt von Männern über ihre weiblichen Familienangehörigen, was sich u. a. darin manifestierte, dass viele junge Arbeiterinnen voreheliche sexuelle Erfahrungen sammelten. Zudem wurden urbane und industrielle Lebenswelten in mannigfaltiger Hinsicht als Bedrohung für den Erhalt der White Supremacy gesehen und viele Zeitgenoss*innen nahmen den Niedergang der yeomanry und den Eintritt angloamerikanischer Männer in Lohnarbeitsverhältnisse als Gefahr für ›männliche Unabhängigkeit‹ und darüber vermittelt für die republikanische Ordnung wahr. Auf der Folie dieser Wahrnehmungen wurde der Aufstieg einer kapitalistischen Moderne im US -Süden von einem starken Ressentiment gegen die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse begleitet. Während des »Leo Frank Case« wurden Juden häufig mit unterschiedlichen Facetten der neuen sozialen, ökonomischen und kulturellen Verhältnisse verflochten. In ihnen sah das antisemitische Lager die Kräfte, die die gesellschaftlichen Entwicklungen aufgrund ihrer vermeintlichen auf ökonomischer Potenz gründenden Macht lenken und die Transformationsprozesse wesentlich vorantreiben würden. Die vermeintliche Identität zwischen Juden und kapitalistischer Moderne verankerten sie auch in den Körpern, der Sexualität und dem ›Wesen‹ jüdischer Menschen. Vor diesem Hintergrund brachte das gegen die modernen Verhältnisse gerichtete Ressentiment Gefühle gegen Juden hervor. Rassifizierte Sexualitätskonstruktionen und Gefühle gegen Juden Aufgrund der Annahme, dass dem Mord an Mary Phagan ein sexueller Missbrauchsversuch vorangegangen sei, nahm Sexualität eine herausragende Stellung in den zeitgenössischen Debatten um den »Leo Frank Case« ein und trug wesentlich zu dessen enormer Emotionalisierung bei.  MacLean (Anm. ), S. .  Zu den unterschiedlichen Facetten dieser zeitgenössischen Krisendiskurse siehe u. a. Kerl (Anm. ); MacLean (Anm. ), S. -; Jeffrey Melnick: Black-Jewish Relations on Trial. Leo Frank and Jim Conley in the New South, Jackson , S.  f.,  f.  L. A. L.: Has Woman Suffrage Accomplished Anything?, in: The Jeffersonian, .., S. ; J. L. Stark: A Socialist Friend Writes Us, in: The Jeffersonian, .., S. ; Thomas Watson: Refreshing the Memory of the Farmer as to How He Was Treated Last Fall, in: The Jeffersonian, .., S. .  Kerl (Anm. ), S.  f.,  f.

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»Our blood boils with wrath when we contemplate the brutality of the crime [der Mord und das vermeintlich vorangegangene Sexualverbrechen, K. K.] that has been committed against little Mary Phagan and the human race«, schäumte der Daily Telegram aus Temple, Texas. Wie in dem Zitat deutlich wird, mobilisierte das Schicksal Phagans – bzw. die zeitgenössisch davon kursierenden Vorstellungen – Emotionen in zweierlei Richtung: zum einen negative Gefühle wie Wut, Hass oder Abscheu gegen den Täter, zum anderen damals positiv konnotierte Emotionen wie ›ehrenhaftes‹ und paternalistisches Mitgefühl gegenüber der ermordeten »little Mary Phagan«. Um die Wucht der negativen Gefühle gegen Juden verstehen zu können, bedarf es zunächst eines Blickes auf die Gefühle, die der ermordeten Mary Phagan entgegengebracht wurden. Das von der jungen Frau erzeugte Bild stellte, wie ich im Folgenden zeigen werde, die Grundlage dafür dar, dass derartig fatale negative Emotionen gegen Leo Frank entstehen konnten. Zeitgenoss*innen konstruierten Phagan posthum als eine Ikone der weiblichen ›Tugendhaftigkeit‹ und Keuschheit. Wieder und wieder wurde die junge Frau mit Begriffen der ›Reinheit‹ und der christlichen Moral assoziiert. Sie galt als regelmäßige Teilnehmerin der Sonntagsschule, die bei ihren dortigen Besuchen »so frisch und rein wie eine Frühlingsblume« ausgesehen habe. Thomas Watson sah in ihr ein »little innocent Christian girl whose last act on this earth was to iron with her own hands the white dress that she expected to wear, next day, at the Bible School of First Christian Church [sic]«. Zum endgültigen Nachweis der ›Tugendhaftigkeit‹ Mary Phagans geriet in den Narrativen des Anti-Frank-Lagers der Tod der jungen Frau, der sie in ihren Augen zu einer Märtyrerin einer ›tugendhaften Weiblichkeit‹ machte. Anstatt den sexuellen Angriff über sich ergehen zu lassen, habe sie dem Erhalt ihrer ›Tugend‹ höhere Priorität als dem ihres Lebens eingeräumt. Auf diesem Weg wurde Phagan in Zeiten sich ausweitender (sexueller) Autonomie von Frauen zu einem Vorbild für andere junge Arbeiterinnen und Frauen stilisiert. Die Konstruktion Phagans als Ikone der ›Reinheit‹  [Unbekannt]: Anti-Semitism in Frank Case, in: The Jewish Ledger, .., S. .  T. T. G. Linkous: From the Christian Minister Who Officiated at Mary Phagan’s Funeral, in: The Jeffersonian, .., S. .  Thomas Watson: A Gentile Put to Death on the Evidence of a Negro for Killing a Jew, in: The Jeffersonian, .., S. -, hier S. .  Watson (Anm. ), S. ; Ders. (Anm. ), S. .  Unbekannt: The Mary Phagan Side of It, in: Columbia Record [. oder .]., S. unbekannt, AJA , LFP , Box , Ordner .



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diente dem Anti-Frank-Lager als Strategie, um das Verhalten und auch das Fühlen junger Frauen an ihren Arbeitsplätzen und anderen urbanen Orten zu beeinflussen und zu formen. Wiederholt wurden Mary Phagan Emotionen wie Verachtung, aber auch Furcht oder Angst gegenüber Leo Frank zugeschrieben, der sich ihr, so die Sichtweise des Anti-FrankLagers, auch schon vor dem vermeintlichen Missbrauchsversuch und anschließendem Mord ungebührlich genähert und dabei angeblich seine Macht als ihr Vorgesetzter ausgenutzt habe. Dabei zielten die Gefühle, die Mary Phagan retrospektiv zugeschrieben wurden, zum einen auf die Formung der Gefühlswelten anderer junger Arbeiterinnen und Frauen. Sie sollten nicht nur um die vermeintliche Gefahr wissen, die von jüdischen Männern ausging, sondern diese auch unmittelbar fühlen und somit auf Distanz zu ihnen gehen. Zum anderen, und eng damit verbunden, sollte die Phagan zugeschriebene Angst auch zur Restabilisierung des Beschützerstatus angloamerikanischer Männer und damit zur Festigung der Abhängigkeit angloamerikanischer Frauen von ihnen beitragen. Die gleiche Stoßrichtung wiesen auch die von angloamerikanischen Männern gegenüber Phagan bekundeten Gefühle auf. Als eine mit einem »Heiligenschein der Unschuld«, wie es Nancy MacLean formulierte, versehene Ikone ›tugendhafter Weiblichkeit‹, und nur als eine solche, wurden Phagan tiefe Gefühle der Anerkennung und des Respektes gezollt. Thomas Watson beschrieb die herausragende Stellung, die eine derartig ›tugendhafte‹ Frau innerhalb des Gefühlshaushaltes eines »wahren Mannes« einnahm – wobei auch das dabei von ihm entworfene Ideal angloamerikanischer Männlichkeit und männlichen Fühlens für unseren Gegenstand von großem Interesse ist: The Creator that made me, best knows how I revere brave and good men that stand the storm, resist temptation, keep to the right path, and go to their graves – martyrs to Faith, and Duty, and Honor – rather than surrender the glorious crown of Manhood. But the words have never been coined which can express what a true man feels for the woman who is so great, in the divine simplicity of unconquerable innocence, that she, like snow-white ermine of the frozen Arctic, will die rather than soil the vestment that God gave her.      

Watson (Anm. ), S. , . Connolly (Anm. ), S. . MacLean (Anm. ), S. . Ebd., S. . Cuthbert Joyner: Old Confed Writes, in: The Jeffersonian, .., S. . Watson (Anm. ), S. .



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Um dieses Bild von Mary Phagan und die daran gekoppelten Gefühle zu perpetuieren, wurde der jungen Frau auf dem Friedhof von Marietta ein monumentales Grabmal errichtet, dessen feierlich begangene Enthüllung von einem kriegsversehrten, ehemaligen Soldaten der Konföderierten Armee – in der Weltsicht des Anti-Frank-Lagers die Verkörperung eines »wahren Mannes« – vorgenommen wurde. Die Errichtung des Denkmals zielte dabei nicht nur auf ein Gedenken in der Gegenwart. Vielmehr sollte es die Sichtweisen und Gefühlswelten zukünftiger Generationen beeinflussen und prägen. Thomas Watson sah in dem Denkmal ein ideales Mittel: to remind the coming generations of the little Georgia heroine who perished at the age of fourteen – died because she would not yield her person to the insistent lusts of the vilest Jew that has lived, since the desert winds blew into space the ashes of Sodom and Gomorrah. Wie in den Worten Watsons deutlich wird, war die retrospektive Verklärung Mary Phagans nicht nur mit positiven Gefühlen gegenüber der jungen Frau verbunden. Gleichzeitig entfachte und intensivierte sie auch die gegen Leo Frank gerichteten negativen Emotionen, da die weibliche Tugendhaftigkeit durch die neuartigen Lebensbedingungen in urbanen und industriellen Räumen und durch dort agierende ›ehrlose‹ Männer wie Leo Frank bedroht zu sein schien. Im Zentrum des gegen Leo Frank gerichteten Komplexes negativer Emotionen stand die ihm zugeschriebene ›perverse‹ Sexualität. Jeffrey Melnick und Stefanie Schüler-Springorum sehen deshalb zu Recht in dem Perversionsvorwurf den emotionalen Kern des Falls. Im Anti-Frank-Lager wurden jüdische Männer auf multiple Art als sexuell bedrohlich für angloamerikanische Frauen entworfen. Sie gal Kerl (Anm. ), S. . Zur Bedeutung der Figur des Bürgerkriegsveterans siehe u. a. auch Sonya Michel: The Reconstruction of White Southern Manhood, in: Norbert Finzsch/Jürgen Martschukat: Different Restorations. Reconstruction and ›Wiederaufbau‹ in the United States and Germany,  –  – , Providence/ Oxford , S. -.  Thomas Watson: While Leo Frank Is Loafing at the State Farm, the Rich Jews Continue to Defame the People and the Court of Georgia, in: The Jeffersonian, .., S. -, hier S. .  Watson (Anm. ), S. ; Ders. (Anm. ), S. .  Melnick (Anm. ), S. ; Stefanie Schüler-Springorum: Rezension von: Kristoff Kerl: Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, er-er Jahre, Köln/Weimar/Wien: Böhlau , in: sehepunkte / (), [..], URL : http://www.sehepunkte.de ///.html (letzter Zugriff: ..).

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ten als zentrale Akteure der white slavery und zugleich als Männer, die Afroamerikanern Zugang zu angloamerikanischen Frauen gewährten, was zeitgenössisch als fundamentaler Angriff auf die ›rassische Reinheit‹ und damit den Erhalt der White Supremacy verstanden wurde. Einen größeren Stellenwert nahmen im »Leo Frank Case« jedoch sexuelle Gefahren ein, die unmittelbar von jüdischen Männern im Kontakt mit angloamerikanischen Frauen auszugehen schienen. Ähnlich wie afroamerikanischen Männern wurde auch jüdischen Männern ein starkes sexuelles Verlangen nach angloamerikanischen Frauen nachgesagt. Diese von Juden ausgehenden sexuellen Gefahren wurden dabei auf unterschiedliche Art und Weise mit Facetten moderner Gesellschaften verknüpft. Zeitgenoss*innen warfen Leo Frank eine Vielzahl unterschiedlicher sexueller Übergriffe auf die in der National Pencil Company angestellten Arbeiterinnen vor. Dabei habe er seine Position als Vorgesetzter ausgenutzt, um seine sexuellen Gelüste zu befriedigen. Nach Ansicht des Anti-Frank-Lagers boten also kapitalistisch-moderne Gesellschaften, zum Beispiel durch die sich ausweitende Einbindung angloamerikanischer Frauen in Lohnarbeitsverhältnisse, jüdischen Männern zahlreiche Möglichkeiten, ihre sexuellen Lüste auszuleben und Frauen, die in den Fabriken nicht unter dem vermeintlichen Schutz ihrer männlichen Familienmitglieder standen, zu belästigen oder gar zu vergewaltigen. Allerdings knüpfte das Anti-Frank-Lager die von Leo Frank ausgehenden sexuellen Gefahren nicht bloß eng an unterschiedliche Facetten moderner Gesellschaften. Vielmehr verankerte es die Moderne über die in dem Fall enorm wirkmächtige Figur des »Jew Pervert« auch diskursiv in den Körpern, den Gefühlswelten und dem sexuellen Begehren jüdischer Männer. Dabei gingen Thomas Watson und seine Anhänger*innen von der Vorstellung aus, dass afroamerikanische, jüdische oder angloamerikanische Menschen eine ›rassenspezifische‹ Form der Sexualität aufweisen würden. Maßgeblich für die Ausformung der jeweiligen Sexualitäten war dabei das Verhältnis, in das sie die unterschiedlichen Menschengruppen  Franklin Steiner: How an Illinois Man Changed His Views, in: The Jeffersonian, .., S. ; Watson (Anm. ), S. ; Ders., When Are the Northern Jews Going to Let up on Their Insane Attempt to Bulldoze the State of Georgia, in: The Jeffersonian, .., S. .  T. Benson: An Episcopalian Lashes the Episcopal Minister, C. B. Wilmer, in: The Jeffersonian, .., S. ; Thomas Watson: The Wages of Sin Is Death, in: The Jeffersonian, .., S. .  N. Christophulos: Argument of Hugh M. Dorsey at the Trial of Leo M. Frank, Atlanta , S. ; Watson (Anm. ), S.  f.; Ders.: Why Do They Keep Up the Big Money Campaign against the People and the Courts of Georgia?, in: The Jeffersonian, .., S. .

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zu »Zivilisation« setzten. Während sie afroamerikanischen Männern – der rassistischen Vorstellung entsprechend, dass afroamerikanische Menschen unzivilisiert und der Natur verhaftet seien – ein unzähmbares, aber »natürliches« sexuelles Lustempfinden attribuierten, verstanden sie »Sodomie« oder ›sexuelle Perversion‹ als typisch für den »degenerate of wealth and culture« und als »the over-ripe fruit of civilization«. Die Charakterisierung Leo Franks als »Jew Pervert« oder »Sodomite Jew« stand somit im engen Zusammenhang mit der Vorstellung von Juden als mächtig und zugleich hinterlistig, aber auch reich und modern. Die vermeintliche ›sexuelle Perversion‹ äußerte sich u. a. in den sexuellen Vorlieben und den Sexualpraktiken, denen Leo Frank gefrönt haben soll. Zum Beispiel wurde ihm vorgeworfen, Oralsex praktiziert zu haben. Über eine Arbeiterin, die im Gerichtsverfahren gegen den jüdischen Fabrikleiter ausgesagt hatte, hieß es »that she had a scar, on the tenderest part of her thigh, made by the teeth of Leo Frank«. Allerdings richtete sich die ›unnatürliche‹ sexuelle Lust Franks nicht nur auf angloamerikanische Frauen, sondern ihm wurde auch ein gleichgeschlechtliches Begehren zugeschrieben. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer Vorstellungen, nach denen mann-männliches Begehren als Zeichen der Verweiblichung verstanden wurde, war die Abgrenzung von einem derartigen sexuellen Empfinden von fundamentaler Bedeutung für den Erhalt einer virilen Männlichkeit. Diese Frank und anderen Juden zugeschriebenen Vorlieben, die sich deutlich von einer auf vaginale Penetration ausgerichteten heteronormativen Sexualität unterschieden, provozierten unter angloamerikanischen Südstaatler*innen eine Flut negativer Gefühle gegen Juden. Das mit Krisenwahrnehmungen angloamerikanischer Männlichkeit eng verwobene Ressentiment gegen kapitalistisch-moderne Formen der Vergesellschaf-

 Thomas Watson: The Frank Case; the Great Detective; and the Frantic Efforts of Big Money to Protect Crime, in: The Jeffersonian, .., S. .  Melnick (Anm. ), S. -; Thomas Watson, The Rich Jews Indict a State! The Whole South Traduced. In the Matter of Leo Frank, in: Watson’s Magazine / (Oktober ), S. -, hier S. .  Watson (Anm. ), S. .  Watson (Anm. ), S. .  Kerl (Anm. ), S.  f.  Watson (Anm. ), S. .  Melnick (Anm. ), S. ; Watson (Anm. ), S. .  Michael Kimmel: Manhood in America. A Cultural History, New York et al. , S. -.

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tung verwandelte sich, da es sich nun an einer bestimmten Gruppe festmachen konnte, in Hass, Zorn, Wut und Rachegefühle gegen Juden. Neben Wut oder Rachegefühlen, die sich zeitgenössisch auch gegen vermeintliche afroamerikanische Vergewaltiger richteten, brachte die spezifische, Juden zugeschriebene Sexualität auch spezifische Gefühle gegen Juden hervor, in denen sich die vom Anti-Frank-Lager hergestellte enge Verknüpfung zwischen Juden, ›perverser Sexualität‹ und kapitalistischer Moderne manifestierte. Laut Aurel Kolnai können nicht nur Objekte, sondern auch Verhaltensweisen, und zwar insbesondere sexuelle/sexualisierte Praktiken und Handlungen, »eine Art moralischen Ekel« auslösen. In Reaktion auf das Ekelgefühl versuchen Menschen auf Distanz zu dem für die Empfindung ursächlichen Objekt zu gehen oder dieses zu beseitigen. Im »Leo Frank Case« war es die vermeintlich ›perverse Sexualität‹ Leo Franks, die Zeitgenoss*innen Ekel und Abscheu verspüren ließ. Leo Frank wurde als »detestable Sodomite« oder als »ravenous degenerate whom natural methods could not satisfy« beschrieben. Diese ›perverse‹ Sexualität, und damit die Quelle des Ekels, materialisierte sich in zeitgenössischen Sichtweisen in der Physiognomie Franks. Seine Augen, sein Mund, seine Nase und andere Gesichtsteile machten ihn nach Ansicht des Anti-Frank-Lagers zu einem »typical pervert«. Die Einschreibung der vermeintlichen sexuellen ›Perversion‹ in den Körper Franks diente den Zeitgenoss*innen als Objektivierung und Verifizierung der gegen Frank erhobenen Vorwürfe. In den Frank zugeschriebenen physiognomischen Merkmalen zeigte sich seine ›unnatürliche‹ Sexualität offenkundig und wurde für alle sichtbar. So trug ein Bild, das in der Märzausgabe des Watson’s Magazine von  abgedruckt war und auf dem Leo Frank im Dreiviertelprofil zu sehen ist, folgende Unterschrift: »Note the horrible lips, the nose and the averted eyes of Leo

 [Unbekannt]: Anti-Semitism in Frank Case, in: The Jewish Ledger, .., S. ; [Unbekannt]: Will It Come to this?, in: The Jeffersonian, .., S. ; Watson (Anm. ), S. .  Jensen (Anm. ), S. ; Carolyn Korsmeyer/Barry Smith, Visceral Values. Aurel Kolnai on Disgust, in: Aurel Kolnai, On Disgust, hrsg. v. Barry Smith und Carolyn Korsmeyer, Chicago , S. -, hier S. .  Jensen (Anm. ), S.  f.  Watson (Anm. ), S. .  Thomas Watson: H. Katz, Principle of Hebrew Institute, Write a Review of the Frank Case, in: The Jeffersonian, .., S. -, hier S. .  Watson (Anm. ), S. .  Thomas Watson: The Leo Frank Case. Does the State of Georgia Deserve this Nation-Wide Abuse, in: The Jeffersonian, Nr. , .., S. .

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Frank – A Typical Pervert.« Darüber hinaus bedingte die Verknüpfung dieser Körperteile mit ›perverser Sexualität‹ auch deren Verkettung mit Gefühlen des Ekels oder des Abscheus. Insbesondere die Augen, der Mund und die Nase, die in den Narrativen der Gegner*innen Franks zu sexuellen Organen gerieten, mit denen der jüdische Fabrikleiter seine ›unnatürlichen‹ Lüste befriedigt habe, wurden häufig mit Ekelgefühlen verbunden. So galt Thomas Watson der Mund Franks wahlweise als »sadistic«, »unutterably horrible« oder »hideous«. Franks Augen wiederum wurden als »bulging satyr eyes« oder als »horrible« beschrieben. Die Verankerung der ›Perversion‹ in Franks Körper ging also mit einer gesteigerten Wirkmacht der gegen ihn gerichteten Ekelgefühle einher. Der bloße Anblick von Franks Gesicht reichte aus, um derartige Emotionen hervorzubringen. Dem entsprechend maßen Watson und seine Anhänger*innen der visuellen Repräsentation von Franks Physiognomie Bedeutung bei. Bilder von Frank, die in Watsons Printmedien publiziert wurden, sind zumindest teilweise retuschiert worden, um die angestrebten emotionalen Effekte zu erzielen. Zudem warf das Anti-Frank-Lager den Unterstützer*innen des verurteilten Fabrikleiters vor, Fotos und filmische Darstellungen von Frank zu manipulieren, um auf diesem Weg die in der Bevölkerung zirkulierenden Einstellungen gegenüber Frank zu beeinflussen. Über Marcus Loew, einen jüdischen Geschäftsmann und Vorreiter in der Filmbranche, klagte Watson: »Marcus is too shrewd a person to present to the public the real Leo Frank, with his sadistic mouth and degenerate features.« Für Thomas Watson stellte also der Ekel einen bedeutenden Bestandteil in den zwischen Pro- und Anti-Frank-Lager geführten Auseinandersetzungen um die Schuldfrage dar. Allerdings weist die Stoßrichtung der an den »Jew Pervert« gekoppelten Ekelgefühle weit über diese Frage hinaus. Führt man sich vor Augen, dass »sexuelle Perversion« bzw. das »sadistic monster« als »the rotten product of the higher race« verstanden wurde, wird ersichtlich, dass der von Juden ausgehende Ekel auf einem weit verbreiteten Ressentiment gegen die Moderne gründete. Die Ekel       

Watson (Anm. ), S. . Watson (Anm. ), S. ; Ders. (Anm. ), S. . Watson (Anm. ), S. . Thomas Watson: Mayor Woodward’s Speech in San Francisco. Slaton’s Venomous, Forked Tongue. The Jews Started This Fight, and They Are Keeping it Up, in: The Jeffersonian Nr. , .., S. , -, hier S. ; Ders. (Anm. ), S. . MacLean (Anm. ), S. . Watson (Anm. ), S. . Watson (Anm. ), S. . Watson (Anm. ), S. .

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gefühle gegen den »Jew Pervert«, der, wie bereits dargelegt, für das AntiFrank-Lager die neuartigen gesellschaftlichen Verhältnisse verkörperte, lassen sich somit als emotionale Komponente in dem rassifizierten Kampf gegen moderne Formen der Vergesellschaftung und damit für die Wiederherstellung bzw. Stärkung der gesellschaftlich dominanten Stellung angloamerikanischer Männer verstehen. Bevor ich abschließend auf die Ereignisse um den Lynchmord und deren Effekte auf antisemitische Gefühle eingehen werde, möchte ich noch kurz auf einen weiteren Aspekt des antisemitischen Fühlens verweisen, der weitergehender Untersuchungen bedarf. Die Figur des »Jew Pervert« sowie die ihm zugeschriebenen sexuellen Handlungen lösten zeitgenössisch vermutlich nicht nur Ekel, Wut oder Hass aus. Ähnlich wie es Alexandra Przyrembel für die »Rassenschande«-Prozesse während des Nationalsozialismus gezeigt hat, wies das permanente, ausführliche und detaillierte Sprechen über Franks Sexualität und die von ihm vorgenommenen sexuellen Akte auch eine pornografische Dimension auf und war somit durchaus lustbesetzt. Dies zeigt sich in den allgegenwärtigen und teilweise sehr ausführlichen Berichten über die von Frank vermeintlich verübten sexuellen Handlungen. Berichte von ausschweifenden (Sex-) Partys in der Fabrik, Gerüchte, dass das Büro von Leo Frank mit Nacktbildern von Frauen dekoriert sei oder die Schilderung, dass James Conley durch das Schlüsselloch die Sexakte beobachtet habe, die Leo Frank in seinem Büro angeblich mit Arbeiterinnen und anderen Frauen vollzogen habe, könnten vor dem Hintergrund der im US -Süden herrschenden strikten Sexualmoral nicht nur Ekel, sondern auch (und vielleicht gerade) Lust verursacht haben.

 Alexandra Przyrembel: Ambivalente Gefühle. Sexualität und Antisemitismus während des Nationalsozialismus, in: Geschichte und Gesellschaft / (), S. -, hier S. . Auch Stefanie Schüler-Springorum hat wiederholt auf die pornografischen und mit sexuellem Lustgewinn verbundenen Komponenten des antisemitischen Denkens und Fühlens verwiesen. Siehe u. a. Stefanie Schüler-Springorum: Gender and the Politics of Anti-Semitism, in: The American Historical Review / (), S. -, hier S. ; Dies. (Anm. ).  [Unbekannt]: The Frank Case. Inside Story of Georgia’s Greatest Murder Mystery, Atlanta , S. -, ; Thomas Watson: Glorious Achievement of the Haas Finance Committee, in: The Jeffersonian, .., S.  f., hier S. .

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Der Lynchmord, Reliquien und die Perpetuierung antisemitischer Emotionen Wut und Hass auf Leo Frank bildeten eine wesentliche Antriebskraft für die Entwicklung des »Leo Frank Case« und auch für die Ermordung Franks. Dies sahen auch Zeitgenoss*innen bereits so. John M. Slaton, der noch kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Gouverneursamt die Strafmilderung für Frank angeordnet hatte, beschrieb eine »hot, blind emotion« als Auslöser der Tat. Dieses leidenschaftliche Gefühl gründete dabei nach seiner Ansicht »in the impulse of the strong to protect the weak, defenseless women«. Obwohl Slaton den Lynchmord als »schockierend« beschrieb und dem Anti-Frank-Lager ablehnend gegenüberstand, weist sein Erklärungsansatz somit eine grundlegende Gemeinsamkeit mit den Sichtweisen des Anti-Frank-Lagers auf. Auch die Widersacher*innen Leo Franks sahen in dem Bedürfnis, Mary Phagan zu rächen, die Grundlage für den Lynchmord. Wenige Tage nach dem Mord erklärte Thomas Watson apodiktisch in einem fiktiven Gespräch mit Rabbi Stephen Wise: »Innocent blood must not cry to heaven in vain: it must be avenged, or a curse will come upon the land.« Verstanden als einen Akt heroischer Männlichkeit brachte der Lynchmord ein enormes Ausmaß an Gefühlen wie Stolz und (männlichen) Ehrgefühl hervor und trug dabei auf emotionaler Ebene zur Restabilisierung des patriarchalen Geschlechterverhältnisses bei. Dies zeigt sich deutlich in einem Brief einer Leserin, der wenige Tage nach dem Lynching in The Jeffersonian publiziert wurde: I, for one, am proud of the heroes that vindicated Mary Phagan, and the State, as we do not call that lawlessness, but doing something for us women that we cannot do for ourselves. I think I for one almost envy the wives of those men, for I would be glad to shake their hands. Interessant ist in diesem Zitat zudem, und auch dieser Zusammenhang verdient eine weitergehende Untersuchung, die erotische Komponente der Verehrung derart heldenhafter Männer, die in dem Neid auf die Ehefrauen und deren Möglichkeit, diese Heroen körperlich zu berühren, aufscheint. Neben der Stärkung patriarchalischer Gefühlswelten hatte der Lynchmord auch ganz wesentlich Einfluss auf das antisemitische Fühlen, wie  Zitiert nach: Unbekannt: Georgian Chivalry, in: The Copper Era, .., S. .  Watson (Anm. ), S. .  G. A. Crider: Sheriff Magum’s Favors to Frank, in: The Jeffersonian, .., S. .

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der Umgang mit dem zu der Tat gehörenden Objekten zeigt. Nachdem sich die Nachricht von dem Verbrechen in Windeseile verbreitet hatte, kam es am Tatort zu einem großen Menschenauflauf. Tausende strömten im Laufe des Vormittags zu dem Baum, an dem nach wie vor der leblose Körper Franks hing und zelebrierten den Mord. Dabei wurde der Körper des ermordeten Leo Frank gewalttätig angegangen. Während dieser noch am Baum hing, schrie ein Mann dem leblosen Körper entgegen: »Now we’ve got you! You won’t murder any more little innocent girls! We’ve got you now! We’ve got you now !« Auch in den unmittelbaren emotionalen Reaktionen auf den Mord zeigte sich also, ähnlich wie in den schriftlichen Reaktionen, eine unmittelbare Verflochtenheit zwischen starken negativen Gefühlen gegenüber Frank und dem Empfinden von Genugtuung, Stolz und (männlichen) Ehrgefühlen. Neben derart rabiaten Attacken auf den Leichnam ereigneten sich auch massenweise andersartige Übergriffe, die bedeutsam für die Perpetuierung antisemitischer Gefühlswelten über den »Leo Frank Case« hinaus waren. In diesem Zusammenhang nahmen Objekte bzw. Dinge, die unmittelbar mit dem Lynchmord in Verbindung standen, eine große Bedeutung ein. Menschen, die dem schaurigen Spektakel beiwohnten, schnitten Stücke aus der Kleidung des Ermordeten, andere wiederum sicherten sich Fasern des Stricks, mit dem Frank erhängt worden war. Zudem machten viele der Anwesenden Fotos von dem Lynchopfer und postierten sich zu diesem Zwecke um Frank. Auf der Leichenschau, die auf Druck der Öffentlichkeit in Atlanta veranstaltet wurde und an der mehr als . Menschen teilnahmen, wurden erneut zahlreiche Fotografien von dem Mordopfer gemacht. Verkäufer*innen boten außerhalb des Bestattungsunternehmens, in dem die Leichenschau stattfand, Bilder des erhängten Frank und Teile des Stricks, mit dem Frank ermordet wurde, zum Kauf an. In Marietta, dem Geburtsort Mary Phagans und dem Ort, an dem Leo Frank erhängt wurde, konnten noch bis  Fotos des Leichnams käuflich erworben werden. Vor dem Hintergrund, dass (alltägliche) Objekte als Träger von Emotionen fungieren können, dienten diese ›Souvenirs‹ nicht nur der zukünftigen Vergegenwärtigung der Ermordung Franks und der eigenen, emotionalen Teilhabe an der Gräueltat bzw. an den daraus resultierenden positiven Gefühlen, sondern sie fungierten auch als Speicher wirkmäch-

 Zitiert nach: Dinnerstein (Anm. ), S. .  Ebd.  Ebd., S. .

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tiger antisemitischer Emotionen. Diese Funktion von Fasern und Fotos, die als Reliquien den judenfeindlichen Hass-Lust-Gefühlskomplex immer wieder von Neuem entfachten, lässt sich auch an einem weiteren Objekt beobachten: dem Baum, an dem Leo Frank erhängt wurde. Für zahlreiche Menschen entwickelte sich der Baum zu einem Wallfahrtsort, wobei zumindest einige von ihnen bei den Besuchen stark emotionalisiert agierten. Nach einem Bericht des Baumbesitzers umarmten und streichelten Besucher*innen den Baum, standen dann für eine Weile still, schauten in den Himmel und schienen zu beten. Wie groß die Wirkmacht war, die die in der Affäre hergestellten judenfeindlichen Affekte in der Geschichte des Antisemitismus in den USA – und vielleicht auch in anderen Ländern – entwickelten, lässt sich bisher nur vermuten. Festhalten lässt sich jedoch, dass der Fall und die darin so bedeutende Vorstellung einer devianten und bedrohlichen jüdischen Sexualität zu einem festen und hoch emotionalen Bestandteil antisemitischer Diskurse in den USA geworden ist. Die gegenwärtige Bedeutung des »Leo Frank Case« manifestiert sich dabei u. a. in Webseiten wie The Leo Frank Case Research Library, die von dem Neo-Nazi Kevin Alfred Strom betrieben wird. Die Omnipräsenz von Fotos auf dieser Seite, auf denen Mary Phagan als ›reine‹ und unschuldige junge Frau inszeniert wird, befeuert dabei in Permanenz die gegen Frank gerichteten Gefühle. Diese Affekte gegen Frank tragen allerdings nicht nur im US -Kontext zur Stärkung antisemitischer Weltsichten bei, sondern sind, zumindest vereinzelt, auch Bestandteil antisemitischer Diskurse in der Bundesrepublik Deutschland.

 Laura Kendall: On the Problem of Material Religion and Its Prospects for the Study of Korean Religion, in: Journal of Korean Religions /- (), S. -, -, hier S. .  Zitiert nach Dinnerstein (Anm. ), S. .  [Unbekannt]: Leo Frank Revisited, in: Instauration / (August ), S.  f.; [Unbekannt]: Pardoning the Unpardonable. The Rehabilitation of Rape-Murderer Leo Frank, in: Instauration / (Juni ), S. -.  [Unbekannt]: Neo-Nazis Behind Leo Frank Propaganda Sites, in: Intelligence Report (Winter ): https://www.splcenter.org/intelligence-report?fBD= field*intel*report*issueA&page= (letzter Zugriff: ..).  Siehe u. a. die Kommentare unter dem Artikel »Golden Globes . Es geht nichts über Titten, um gegen sexuelle Belästigung zu protestieren«, der auf dem rechtsradikalen Blog »MORGENWACHT für freie europäische Völker« veröffentlicht wurde: Dr. Eowyn: Golden Globes . Es geht nichts über Titten, um gegen sexuelle Belästigung zu protestieren: https://morgenwacht.wordpress. com////golden-globes--es-geht-nichts-ueber-titten-um-gegen-sexu elle-belaestigung-zu-protestieren/ (letzter Zugriff: ..).

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Auch jenseits weißer rechtsradikaler Zusammenhänge sind die Konstruktion von Leo Frank als »Jew Pervert« und die daran gekoppelten antisemitischen Affekte noch heute produktiv. Die Black Muslim-Organisation Nation of Islam, die den dritten Band ihres dreiteiligen, antisemitischen Werkes The Secret Relationship Between Blacks and Jews dem »Leo Frank Case« gewidmet hat, stellte nach dem Harvey-WeinsteinSkandal beispielsweise Verbindungslinien zwischen Leo Frank und dem jüdischen Filmproduzenten her. Schlussteil Die sich insbesondere seit den er Jahren auch im US -Süden vollziehenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse hatten unter angloamerikanischen Südstaatler*innen stark vergeschlechtlichte und rassifizierte Krisendiskurse hervorgebracht bzw. verdichtet. Diese Krisendiskurse sowie das damit verbundene Ressentiment gegen eine kapitalistisch-moderne Gesellschaftsformation, für welche Juden als Sinnbild verstanden wurden, bildeten die Grundlage für den Lynchmord an Leo Frank. Die Potenz und die tödliche Wucht, die das antisemitische Ressentiment in diesem Fall entfaltete, ist einmalig in der Geschichte des Antisemitismus in den USA . Der im April  auf dem Gelände der National Pencil Company begangene Mord an der jungen Arbeiterin Mary Phagan und die um das Verbrechen rankenden Vergewaltigungsgerüchte sorgten für eine enorme Emotionalisierung des Falles, die auch in den Auseinandersetzungen zwischen dem Pro- und dem Anti-Frank-Lager Bedeutung fand. Sexualität und damit auch die Leo Frank zugeschriebene ›sexuelle Perversion‹ standen im (emotionalen) Zentrum des Falls. Während Mary Phagan posthum als Ikone weiblicher Tugendhaftigkeit entworfen wurde, verkörperte die ihr gegenübergestellte Figur des »Jew Pervert« die vermeintlich von kapitalistisch-modernen Formen der Vergesellschaftung ausgehenden Gefahren für den Erhalt einer als ›tugendhaft‹ und ›ehrbar‹ kategorisierten gesellschaftlichen Ordnung. Diese enge Verwobenheit zwischen ›perverser‹ jüdisch-männlicher Sexualität und dem sich vollziehenden sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandel brachte auch spezifische Emotionen gegen Leo Frank bzw. Juden hervor.  [Unbekannt]: The Leo Frank Hoax. Interview with the NOI Research Group: https ://noirg.org/articles/the-leo-frank-hoax-interview-with-the-noi-researchgroup/ (letzter Zugriff: ..).

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»            «

Die negativen, gegen Juden gerichteten Gefühle waren aufgrund der Vorstellung, dass sie eine berechtigte Reaktion auf von Juden begangene Untaten darstellten, aufs Engste mit zeitgenössisch als positiv konnotierten Emotionen wie Ehrgefühl verbunden. Antisemitisches Agieren und antisemitische Praktiken waren somit auch die Quelle positiver Gefühlsempfindungen. Die im »Leo Frank Case« hergestellten Gefühle verpufften nicht etwa nach dem Lynchmord, sondern blieben in Form von antijüdischen Reliquien oder auch dem Denkmal für Mary Phagan für die Nachwelt erhalten. Auch die bis heute auf unzähligen Internetseiten abgebildeten Fotos von Mary Phagan, die diese als Ikone ›tugendhafter‹ Weiblichkeit inszenieren, tragen dazu bei, die an diese Weiblichkeitskonfiguration geknüpften positiven Gefühle sowie die gegen Leo Frank gerichteten negativen Affekte zu reproduzieren. Ebenso verweist der , und damit  Jahre nach der Ermordung der jungen Frau, von der Organisation Sons of Confederate Veterans ins Leben gerufene »Little Mary Phagan Day«, der jährlich am . Juni begangen wird, auf die ungebrochene Bedeutung des Falls zumindest in Teilen der Bevölkerung.

 [Unbekannt]: Little Mary Phagan Day, in: The Georgia Confederate / (März/ April ), S. .



Geschlecht und Gewalt Zur Emotionsgeschichte des Antisemitismus Stefanie Schüler-Springorum In den Tagebüchern Victor Klemperers aus der Zeit des Nationalsozialismus finden sich für die er Jahre wiederholt Schilderungen, die auf eine sehr spezifische Form der Gewalt hindeuten, die die Leserin nicht nur schockiert, sondern auch ratlos zurücklässt. Im Henriettenstift, dem jüdischen Altersheim Dresdens, aber auch in den über  sogenannten Judenhäusern der Stadt, führten Polizeibeamte immer wieder Razzien durch, bei denen die betagten Bewohnerinnen – meist waren es Frauen – gedemütigt, drangsaliert, geschlagen und getreten wurden. So heißt es im Eintrag vom . Mai : »Die Tyrannei verstärkt sich täglich […] Haussuchung im Altersheim Güntzstrasse. Frauen von  bis  Jahren bespuckt, mit dem Gesicht an die Wand gestellt und von hinten mit kaltem Wasser übergossen, ihnen die Lebensmittel fortgenommen […] unflätigste Schimpfworte.« Was an diesen Beschreibungen besonders frappiert, ist der doppelte, ja dreifache Tabubruch: Die sich wiederholenden, exzessiven Gewaltausbrüche, immer begleitet von »unflätigen Schimpfworten« richteten sich gegen alte Menschen, sie richteten sich gegen Frauen und all dies geschieht mitten in einem gutbürgerlichen Viertel einer Stadt in Deutschland. Die Holocaustforschung der letzten Jahrzehnte hat mittlerweile zahlreiche, sich widersprechende und ergänzende Erklärungsversuche erarbeitet für jenes Gewaltgeschehen, das wir heute als Gesamtereignis »Holocaust« nennen, und ist sich dabei vor allem über eines einig geworden: die, in den Worten von Jürgen Matthäus, »geringe Tragweite monokausaler Interpretationen«. So kann auch keines der geläufigen Modelle  Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher -, hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin , S. .  Das Henriettenstift in der Güntzstrasse lag an der Grenze zwischen Pirnaischer Vorstadt und Johannstadt in der Nähe des Großen Gartens. Heute befindet sich dort ein nach dem Krieg errichtetes Studentenwohnheim.  Jürgen Matthäus: Holocaust als angewandter Antisemitismus? Potential und Grenzen eines Erklärungsfaktors, in: Frank Bajohr/Andrea Löw (Hrsg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt am Main , S. -, hier S. .



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erklären, was Klemperer wieder und wieder beschreibt: Die Täter waren keine NS -sozialisierten, ideologisch aufgeheizten jungen Männer, auch keine Vertreter der »Generation des Unbedingten« (Wildt), die den Massenmord als rational durchzuführende Aufgabe ansahen, sondern es waren ältere Dresdner Polizeibeamte, die vielleicht, wie beim berühmten Polizei-Bataillon , früher einmal SPD gewählt hatten. Es handelte sich hier keineswegs um Befehlsnotstand und auch nicht um eine Männergruppe, die durch den Imperativ von Kameradschaft, Alkoholkonsum und Mord zusammengeschweißt wurde. All dies geschah fern der Front: Dresden war noch nicht einmal bombardiert worden, die Wehrmacht hatte überall in Europa gesiegt und den Zenit ihrer Ausdehnung erreicht – also kein Rückzugsgefecht, keine Angst vor der Roten Armee, kein Racheakt. Und die Opfer waren weder des Kommunismus verdächtig noch slawische »Untermenschen« noch Partisaninnen – sondern Vertreter des gealterten deutschen Bürgertums oder anders ausgedrückt: Sie sahen aus wie die Eltern der Täter. Seither, seit zwanzig Jahren also, beschäftigt mich die Frage nach den Gründen für diese Form der Gewalt zu Hause, im eigenen, sicheren Umfeld – kurzum, nach dieser Gewalt, auf die alle bislang erarbeiteten Erklärungen nicht passen wollen, die jedoch, wie die Forschung der letzten Jahre belegt, keineswegs ein sächsischer Sonderfall war, sondern aus allen deutschen Städten, groß und klein, Land und Metropole berichtet wird. Jürgen Matthäus hat in eindringlichen Worten davor gewarnt, sich der Illusion einfacher Erklärungen hinzugeben und vielmehr die Frage aufgeworfen, »welchen Nutzen Konzepte und Abstraktionen für die Erklärung von Gewaltphänomenen haben, deren Qualität sich erst aus der additiven Analyse von Einzelfällen erschließt. In keinem historischen Kontext ist Geschichte als Sinnstiftung des Sinnlosen so widersinnig, ist das Spannungsverhältnis zwischen der enormen Radikalität der Ereignisse und der geringen Reichweite der Erklärungsversuche, selbst und gerade auf der Ebene einzelner Ereignisse, so ausgeprägt wie beim Umgang mit organisiertem Massenmord.« Matthäus plädiert stattdessen für eine kritische Ereignisgeschichte, die das Potenzial hat, gerade durch den klug gewählten Vergleich und die sorgsame Kontextualisierung die »Grenzen des Erklärbaren in den Bereich des bislang Unbekannten hinein zu verschieben«. Dieser Weg soll auch hier beschritten werden, und zwar ausgehend von jener allumfassenden Erklärung, die am Anfang und am Ende jedes Nachdenkens über die genozidale Gewalt der deutschen Gesellschaft  Ebd., S. .



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steht: dem Antisemitismus. Dies macht jedoch nur dann Sinn, und auch hier folge ich Matthäus, wenn man dessen »konkrete Rolle […] für jede Stufe im Prozess der Verfolgung und Vernichtung für jeden Einzelfall gesondert untersucht« und entsprechend kontextualisiert. Dabei interessiert mich, ausgehend vom Dresdner Beispiel, weniger die Rolle der antisemitischen Ideologie als die der Emotionen, die hinter den exzessiven Gewaltausbrüchen zu stehen scheinen. Die Operationalisierbarkeit des Emotionsbegriffs für die Geschichtsschreibung ist bis heute umstritten und sicher ist Alon Confino zuzustimmen, dass wir unsere »explanatory toolbox« nicht einfach von »Gesellschaft« auf »Erinnerung« und damit auf neue, aus der Psychologie stammende Begriffe wie »Emotionen« oder »Empathie« umstellen können, ohne uns mit den dahinterliegenden Theorien und Methoden auseinanderzusetzen. Wie eine solche Auseinandersetzung für das Verhältnis von Antisemitismus und Emotionen aussehen kann, haben Uffa Jensen und ich schon vor einiger Zeit skizziert, mit dem Verhältnis von Geschlecht und Antisemitismus wiederum habe ich mich an anderer Stelle auseinandergesetzt. Ich möchte daher im Folgenden eine Richtung des Nachdenkens vorschlagen, die zum einen Antisemitismus, Emotion und Geschlecht zusammenliest und gleichzeitig die Dynamisierung dieses Verhältnisses durch die Verschränkungen zu anderen Ressentimentformen wie Homophobie, Antibolschewismus und Rassismus aufzeigt. Antisemitismus und Geschlecht Schon vor einigen Jahren hat Christina von Braun auf die christlichen, ja antiken Wurzeln dieser Verknüpfung hingewiesen, die das Fleischliche und Materielle der Frau und dem Jüdischen zuordnen, die Idealität und Geistigkeit dem Mann. Das Interessante ist nun, dass auch die naturrechtlich argumentierende Aufklärung sich von diesem Denken  Ebd., S. .  Alon Confino: From psychohistory to memory studies: Or, how some Germans became Jews and some Jews Nazis, in: Roger Frie (Hrsg.): History Flows through Us, New York , S. -, hier S. .  Vgl. Uffa Jensen/Stefanie Schüler-Springorum: Einführung: Gefühle gegen Juden. Die Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft / (), S. -; vgl. Stefanie Schüler-Springorum: Gender and the Politics of Anti-Semitism, in: The American Historical Review / (), S. -.  Vgl. Christina von Braun: Zur Bedeutung der Sexualbilder im rassistischen Antisemitismus, in: Feministische Studien / (), S. -, hier S. .



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kaum entfernte, als man auf der Suche nach Argumenten für den weiter bestehenden Ausschluss von Frauen und Juden aus der freien und gleichen Bürgergesellschaft war. Dies führte dazu, dass sich über das ganze . Jahrhundert hinweg die Begründungsversuche für diese nun eigentlich skandalöse Ungleichheit – die polar gedachten Geschlechtscharaktere und der Judenhass – neu miteinander verknüpften und schließlich verwissenschaftlichten. Bürgerliche Normalität und Devianz wurden schließlich, gegen Ende des . Jahrhunderts, vorwiegend medizinisch und psychologisch definiert. Das Ergebnis war eindeutig: Die Norm war männlich, heterosexuell und christlich, die Devianz weiblich, homosexuell und jüdisch. Beides, sowohl der Jude als auch die Frau oder der Homosexuelle wurden zur Darstellungsform des Anderen in der Moderne genutzt, dies haben die Analyse geschlechterpolitischer und antisemitischer Texte und Bilder aus verschiedenen Kontexten der Hoch- wie auch der Populärkultur gezeigt. Zugleich dienten diese geschlechtlich aufgeladenen Bilder der Festigung der gesunden, heterosexuellen, geschlechtlich klar definierten Nation nach innen. Aus psychoanalytischer Sicht ging und geht es dabei vor allem und ganz grundsätzlich um die Abwehr des Weiblichen und die innerpsychische Festigung des anscheinend sehr fragilen Eigenen, allgemeiner um die Abwehr von angstbesetzter Ambivalenz. Obgleich sich in der klassischen Literatur des biologistisch argumentierenden Antisemitismus zuhauf Beispiele für diese Verknüpfung finden lassen, mag es daher kein Zufall sein, dass es mit Otto Weininger ausgerechnet ein mit seiner Bisexualität kämpfender Protestant jüdischer Herkunft war, der hierfür die imposantesten – und meistzitierten – Worte fand: Es bereitet jedem, der über beide, über das Weib und über den Juden, nachgedacht hat, eine eigentümliche Überraschung, wenn er wahrnimmt, in welchem Maße gerade das Judentum durchtränkt scheint von jener Weiblichkeit, deren Wesen einstweilen nur im Gegensatze zu allem Männlichen ohne Unterschied zu erforschen getrachtet wurde. Er könnte hier überaus leicht geneigt sein, dem Juden einen größeren Anteil an Weiblichkeit zuzuschreiben als dem Arier, ja am  Vgl. für das Folgende: Schüler-Springorum (Anm. ).  Hier immer noch grundlegend: George L. Mosse: Nationalism and Sexuality: Respectability and Abnormal Sexuality in Modern Europe, New York .  Vgl. Uta Grundmann: Erlösung vom Bösen – Antisemitismus und Ambivalenz, Berlin  (unveröffentlichtes Dissertationsmanuskript); zum Ambivalenzbegriff vgl. auch Jonathan Judaken: Rethinking Anti-Semitism. Introduction, in: The American Historical Review / (), S. -.



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Ende eine platonische Methexis auch des männlichsten Juden am Weibe anzunehmen sich bewogen fühlen. Um , so lässt sich festhalten, waren Antisemitismus, Homophobie und Misogynie eng miteinander verzahnte Ausdrucksformen der antimodernen Vision einer nach außen klar begrenzten und nach innen hierarchisch strukturierten Klassengesellschaft, denn wenngleich es in den Texten zunächst um innerbürgerliche Differenzierung ging, lief das Proletariat stets Gefahr, der Seite der Devianz zugeschlagen zu werden. Dabei standen die polaren Konstrukte von Männlichkeit und Weiblichkeit eben nicht neben antisemitischen Vorstellungen, sondern sind vielmehr engmaschig mit ihnen verwoben; antisemitische Körperbilder sind demnach nicht lediglich als Ausdruck einer bestimmten Ideologie zu verstehen, sondern als inhärenter Teil ihrer selbst, als Teil ihrer Herstellung – in Theorie und Praxis. Sexualität und »Rassenmischung« Die Theorie, also in diesem Fall die Ebene der Geschlechter- und Judenbilder, ihre Herstellung, Verkoppelung und Verbreitung hat bereits  Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Wien/Leipzig  [], S.  f.  Vgl. Jürgen Kocka: Einleitung und Fragestellung, in: Ders. (Hrsg.): Arbeiter und Bürger im . Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäischen Vergleich, München ; Ute Planert: Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen ; Ute Frevert: Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis. Konzepte, Erfahrungen, Visionen an der Wende vom . zum . Jahrhundert, in: Dies. (Hrsg.): Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im . Jahrhundert, Göttingen ; Roger Chickering: We Men who Feel Most German: A Cultural Stury of the Pan-German League, -, Boston . Speziell zum Verhältnis von Antisemitismus und Antifeminismus bzw. Sexismus vgl. Shulamit Volkov: Germans, Jews, and Antisemites. Trials in Emancipation, Cambridge , S. -; Katharina Peetz: Zur Verflechtung von Antisemitismus, Antifeminismus und Emanzipation im Kaiserreich, in: Lucia Scherzberg (Hrsg.): Genderaspekte in der Aufarbeitung der Vergangenheit, Saarbrücken , S. -. Zum Verhältnis von Antisemitismus und Homophobie bzw. Heterosexismus vgl. Daniel Boyarin/Daniel Itzkovitz/Ann Pellegrini (Hrsg.): Queer Theory and the Jewish Question, New York .  Vgl. A. G. Gender-Killer: Vorwort, in: Dies. (Hrsg.): Antisemitismus und Geschlecht. Von »effeminierten Juden«, »maskulinisierten Jüdinnen« und anderen Geschlechterbildern, Münster 2005, S. -, hier S.  und Dies.: Gechlechterbilder im Nationalsozialismus. Eine Annäherung an den alltäglichen Antisemitismus, in: ebd., S. -, hier S. .



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durchaus historiografische Aufmerksamkeit gefunden. Was dies jedoch für die Umsetzung dieser Bilder in soziale Praxis bedeutet, wird erst dann offensichtlich, wenn wir uns mit dem Thema Sexualität beschäftigen. Jede Form des Rassismus, so auch der Antisemitismus, ist, in den Worten Sander Gilmans, besetzt und besessen von Vorstellungen von Sexualität, von richtiger und falscher, erlaubter und verbotener, guter und schlechter. Die primäre Funktion dieser Dauerthematisierung liegt auf der Hand, gilt es doch, die gefürchteten »Rassenmischungen« zu verhindern. Die Intensität dieses Abwehrkampfes lässt sich über die Jahrhunderte hinweg verfolgen: Von den Blutreinheitsgesetzen des katholischen Spaniens im . Jahrhundert, die in den folgenden Jahrhunderten immer und immer wieder durch öffentliche Verbrennungen von Menschen festgeschrieben wurden, über völkische Phantasmorgien wie Arthur Dinters Sünde wider das Blut oder die sexualisierte Kampagne gegen die »Rheinlandbastarde« bis hin zur US -amerikanischen one-drop-rule, die immerhin noch  von einem Gericht in Louisiana bestätigt wurde. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Nürnberger Gesetze des nationalsozialistischen Deutschlands auf zynische Weise pragmatisch, sodass die gewaltige »Rassenschande«-Kampagne, die sie begleitete, noch einen anderen Grund gehabt haben muss: Am Beispiel der Sklaverei hat Abdul JanMohamed darauf hingewiesen, dass Sex über »Rassengrenzen« hinweg immer auch die Anerkennung der Menschlichkeit, des Mensch-Seins des anderen impliziert, und dass es im Rassismus – und einmal mehr im Antisemitismus, wäre hinzuzufügen – letztlich genau darum ging: um die Negation, um die Aberkennung dieses Menschseins. Insofern musste

 Vgl. Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart , S. -; Braun (Anm. ); Sander Gilman: The Jew’s Body, New York/London ; Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers, Wien .  Vgl. Gilman (Anm. ).  Christoph Lorke, Liebe verwalten. »Ausländerehen« in Deutschland, Paderborn , S. -.  Vgl. Max Sebastián Hering Torres: Rassismus in der Vormoderne. Die »Reinheit des Blutes« im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main .  Vgl. Richard Steigmann-Gall: Neither Aryan nor Semite: Reflections on the Meanings of Race in Nazi Germany, in: Devin O. Pendas/Mark Roseman/Richard F. Wetzell (Hrsg.): Beyond the Racial State. Rethinking Nazi Germany, Cambridge/New York/Melbourne , S. -, hier S. .  Vgl. Abdul R. JanMohamed: Sexuality on/of the Racial Border: Foucault, Wright, and the Articulation of »Racialized Sexuality«, in: Domna C. Stanton (Hrsg.): Discourses of Sexuality. From Aristotle to AIDS , Ann Arbor , S. -, hier S. .



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diese grenzüberschreitende Sexualität um jeden Preis verhindert oder zumindest geleugnet werden. In dieser Perspektive lässt sich »Die Sünde wider das Blut« von  auch als Auftakt zu einer Bewegung lesen, die Antisemitismus vor allem über die Sexualität plausibel machen wollte. Denn die »Goldenen Zwanziger« der Weimarer Republik standen eben nicht nur für einen auch sexualpolitischen Auf bruch der urbanen Moderne, sondern zugleich beschworen dessen Gegner auf Plakaten, in Filmen, Büchern und Zeitungen dessen düsteres, aber immer sexuell aufgeladenes Gegenbild: Der Untergang des Abendlandes und der unschuldigen deutschen Frau durch den zügellosen, dämonischen und geld- wie sexgierigen Juden. Besonders hervor tat sich dabei Julius Streichers Stürmer, dessen spezielles Faible für pornografischen Antisemitismus sich tief in die Erinnerung zumindest der davon Betroffenen eingegraben hat. Nach  verdichteten sich diese Kampagnen und die »gesamte Ära Weimar wurde«, in den Worten Dagmar Herzogs, »auf Sexualität reduziert«: Der Nazipropaganda galt die Republik fortan als Treibhaus »grösster Aufreizung schwüler, dekadenter Erotik«. In ihrer bahnbrechenden Studie Die Politisierung der Lust hat die US -amerikanische Historikerin die These aufgestellt, dass die Abgrenzung zur sexuell aufgeladenen »Judenrepublik« den Nationalsozialisten in einem ersten Schritt dazu diente, die kirchlichen und konservativen Kreise an ihr völkisches Projekt zu binden, im weiteren Verlauf ihrer Herrschaft jedoch eine ganz andere Rolle erfüllte: Der beständige Verweis auf die angebliche, unsittliche und schmutzige jüdische Hypersexualität diente laut Herzog nun vor allem als Verleugnungsstrategie, um von den zahlreichen Anreizen für außer- und voreheliche Betätigung abzulenken, die das NS -Regime der großen, nichtjüdischen und heterosexuellen Mehrheit der Deutschen in aller Vielfalt beständig anbot. Dabei wurde, dies kann Herzog eindrucksvoll belegen, die nationalsozialistische Variante einer eman Vgl. ebd., S. .  Vgl. Stefanie Schüler-Springorum: Die jüdische Minderheit in Königsberg/Preussen, -, Göttingen  (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. ), S.  f.  Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, München , S. .  So der nationalsozialistische Kinder- und Jugendpsychologe Georg Schliebe in einem Aufsatz von : Georg Schliebe: Die Reifezeit und ihre Erziehungsprobleme, in: Martin Löpelmann (Hrsg.): Wege und Ziele der Kindererziehung unserer Zeit, Leipzig  (. Auflage), S. , zit. nach Herzog (Anm. ), S.  und .  Vgl. Herzog (Anm. ), S. -.

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zipatorischen Sexualpolitik stets auch über antisemitische Gegenbilder plausibel gemacht. Denn trotz aller, von Nationalsozialisten wie Konservativen vehement bekämpften »jüdischen« Sexualreform seien Juden, so die nationalsozialistische Lesart, immer weit davon entfernt gewesen, sich für eine »natürliche Sexualität« einzusetzen, sie stünden stattdessen für eine abstoßende Triebhaftigkeit, Perversität usw. Wichtig für die hier verfolgte Argumentation ist zum einen Dagmar Herzogs Befund, dass im nationalsozialistischen Deutschland permanent über Sex geredet wurde und zum anderen, dass dieses Reden durchaus ambivalenter Natur war: Es changierte zumindest in den ersten Jahren des Regimes durchaus zwischen Gräueltaten und Lust, zwischen Sadismus und Verlockung – bzw. bediente, je nach Geschmack, beides zugleich. Besonders deutlich wird dies in den »Rassenschande«-Prozessen nach Verabschiedung der Nürnberger Gesetze, über die in der Presse ausführlich berichtet wurde. Die Partnerinnen der beschuldigten Männer wurden vor Gericht zum Teil mehrfach über ihre sexuellen Vorlieben befragt, wobei besonderes Gewicht auf dem Nachweis bzw. über dem Eingestehen »anormaler Praktiken« lag – meist handelte es sich um Oralsex –, die dann in der Presse detailgetreu geschildert wurden. Insofern ermöglichten diese Verfahren, so Alexandra Przyrembel, die öffentliche »Überschreitung etablierter Sagbarkeitsregeln, die möglicherweise Neugier, manchmal auch einen Reiz gegenüber der verbotenen sexuellen Beziehung bewirkten«. »Möglicherweise« und »manchmal« scheint allerdings etwas zu vorsichtig formuliert, denn nicht umsonst entwickelte sich der Stürmer in den er Jahren zum Lieblingsblatt pubertierender Jugendlicher, was immer wieder besorgte Eltern und Kirchenvertreter auf den Plan rief. Als beispielsweise der Leiter der Handelsschule in Magdeburg im Sommer  der »Rassenschande« angeklagt wurde, erzielte das Blatt deutschlandweit Rekordverkaufszahlen mit einer extra zum Prozess zusammengestellten Sonderausgabe. Dagmar Herzog führt den »enormen Reiz« des Stürmer auf die »Vielfalt möglicher libidinöser Identifizierung« zurück: der sexuell erfolgreiche jüdische Verführer, die verführte, aber nicht abgeneigte nichtjüdische Unschuld oder der ›Schlüssellochgu-

 Vgl. ebd., S. -.  Alexandra Przyrembel: Ambivalente Gefühle. Sexualität und Antisemitismus während des Nationalsozialismus, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft / (), S. -, hier S. .  Vgl. Herzog (Anm. ), S. .  Vgl. Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz  bis , Hamburg , S.  f.



         -    

cker‹, der alles gemeinsam im Blick hat. Die so jede Woche aufs Neue ausgebreitete Sexualität wurde dabei aber zugleich immer wieder entlang der »Rassengrenzen« sowohl sprachlich als auch real gewaltvoll segregiert. Schon  hatten die Autoren des Schwarzbuchs über die Lage der deutschen Juden diese enge Verknüpfung von Lust, Angst, Ekel und Gewalt als »Sexual-Antisemitismus« analysiert. Sie funktionierte jedoch auch in anderen Kontexten: Im Jahre  wurde der jüdische Fabrikbesitzer Leo Frank in den USA des Sexualmordes an einer jungen Angestellten beschuldigt, verurteilt und schließlich gelyncht. In einer umfassenden neuen Analyse des Falls kann Kristoff Kerl zeigen, welche Bedeutung die angeblichen Sexualpraktiken von Frank im Prozess und in der medialen Berichterstattung hatten und kommt insgesamt zu dem Ergebnis, dass es auch hier die Verschränkung von Sexualität und Medienboom war, die diesen Fall zum Katalysator für einen neuen, gewaltvollen Antisemitismus in Amerika werden ließ, der schließlich in den zwanziger Jahren in der Gründung des zweiten, des antisemitischen Ku Klux Klans mündete. Aber die politische Wirksamkeit dieser Verknüpfung lässt sich auch ohne expliziten Antisemitismus nachweisen. In der Berichterstattung über den Spanischen Bürgerkrieg, um ein weiteres Beispiel aus der deutschen Presse der er Jahre zu nennen, ging es allerdings fast immer um brutale sexuelle Gewalt, von potenziellem Lustgewinn ist auch zwischen den Zeilen beim besten Willen nichts zu lesen. In den ersten Monaten des Krieges nutzte die anti-republikanische Propaganda, übrigens keineswegs nur in Deutschland, die während des revolutionären Furors der ersten Tage entstandenen Fotos von Kirchen- und Grabschändungen zu einer Kampagne ungeahnten Ausmaßes: Bebildert mit den Aufnahmen exhumierter Skelette wurden angebliche »bolschewistische« Gräueltaten geschildert, bei denen es meist um die Vergewaltigung, sexuelle Folterung und Ermordung von Mädchen und/oder weiblichen Angehörigen des Klerus ging. Versucht man, diese sexuell aufgeladenen Darstellungen zu entschlüsseln, so muss man die Ebene der Rezeption bzw. die Re Vgl. Herzog (Anm. ), S.  f.  Vgl. Comité des Delegations Juives (Hrsg.): Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland , Paris , S. , zit. nach Alexandra Przyrembel: »Rassenschande«. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen , S. .  Vgl. Kristoff Kerl: Sexualität und moderner Antisemitismus im Ku Klux Klan, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung  (), S. - sowie Kerls Beitrag in diesem Band.  Vgl. Stefanie Schüler-Springorum: Gewalt gegen Tote. Zur Ikonographie des Spanischen Bürgerkriegs, in: Michael Kohlstruck/Stefanie Schüler-Springorum/

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zipienten mit einbeziehen. Erst durch die enge Koppelung von Gewalt und Sexualität wurden, so scheint es, die immer wieder erzählten Gräuelgeschichten für die Leserschaft attraktiv und hinterließen einen weitaus stärkeren Eindruck als die normale Kriegsberichterstattung. Diese Wirkung der sado-pornografischen Propaganda blieb schon Zeitgenossen nicht verborgen, wie beispielweise der Schriftstellerin Gamel Woolsey, die mit ihrem Mann Gerald Brenan seit  in einem kleinen Dorf bei Málaga lebte. Hatte sie sich zunächst noch lustig gemacht über die für sie als Augenzeugin offensichtliche Absurdität dieser Geschichten, wich dies jedoch bald einem deutlichen Ekel, als sie immer wieder die klammheimliche Erregung der Erzähler und Erzählerinnen von Gräuelgeschichten beobachten konnte: I was struck by what I can only call a look of dreamy blood-lust upon their faces as they told such stories. I realized then, what I realized even more clearly later at Gibraltar, listening to the English talk of atrocities, what atrocity stories really are: they are the pornography of violence. The dreamy lustful look that accompanies them, the full enjoyment of horror (especially noticeable in respectable elderly Englishwomen speaking of the rape or torture of naked nuns: it is significant that they are always naked in such stories), show only too plainly their erotic source. Für unseren Zusammenhang bedeutet dies zweierlei: Zum einen, dass auch auf den ersten Blick vor allem Ekel und Angst erregende Geschichten auf untergründige oder unterbewusste erotische Bedürfnisse stoßen oder diese anstoßen können, und zum anderen, dass sich ihr Zweck, nämlich die größtmögliche Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Feindbild zu lenken, Mitte der dreißiger Jahre durchaus erfüllt zu haben scheint. Bedenkt man zudem, dass die Gräuelpropagandaphase der deutschen Spanienkriegsberichterstattung gleichzeitig mit der massiven Verstärkung der Rassenschande-Propaganda die öffentlichen Medien befeuerte, so lässt sich mit einiger Plausibilität behaupten, dass das auf die Produktion aversiver Gefühle abzielende Bild des Juden in der NS Propaganda zumindest subkutan auf Angst/Lust aufbaute und zugleich in seinen verschiedenen Varianten ausbaufähig war: Es konnte Ekel und Abscheu vor dem verweichlichten, abnorm sexuellen Mann, dem Ulrich Wyrwa (Hrsg.): Bilder kollektiver Gewalt – Kollektive Gewalt im Bild. Annäherungen an eine Ikonographie der Gewalt, Berlin , S. -.  Vgl. Stefanie Schüler-Springorum: Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg, Paderborn u. a. , S. -.  Gamel Woolsey: Death’s other Kingdom, London  [], S. .

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Homosexuellen produzieren, oder aber Angstlust und Grauen vor dem (jüdischen) Bolschewiken, und, einige Jahre später, vor dessen weiblicher Variante, der jüdisch-bolschewistischen Frau, der Partisanin. »Rassenschande« in der Praxis All dies findet sich, wie angedeutet, auf der Ebene der Bilder in verschiedenen historischen settings zu verschiedenen Zeiten. Das Besondere im Deutschland der er Jahre war jedoch, dass diese Form der Propaganda zugleich in die Praxis umgesetzt wurde, und zwar allerorten und über viele Jahre hinweg. Michael Wildt hat die Genese der Volksgemeinschaft mittels antijüdischer Gewalt in der Provinz in einer großen Studie eingehend beschrieben und als öffentliche Beschämungsrituale analysiert. Angesichts der sexualisierten antisemitischen Propaganda in den Jahren der Weimarer Republik, die auch schon vor  hier und dort zu öffentlichen Denunziationen geführt hatte, ist es kaum verwunderlich, dass es bald nach der Machtübergabe an vielen Orten zu öffentlichen Umzügen kam, bei denen angeblich der »Rassenschande« überführte Menschen, meist jüdische Männer, unter der erregten Anteilnahme ihrer Mitbürger durch ihren Heimatort getrieben wurden. Hierbei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass es, anders als etwa bei Weltverschwörungsmythen oder anderen antisemitischen Fantasien, um konkrete und im kleinstädtischen Kontext vielleicht sogar allgemein bekannte »Taten« ging, Verfehlungen also, die allgemein plausibel schienen. Im Sommer  steigerte sich diese Kampagne, begleitet durch eine entsprechende Berichterstattung des Stürmer und quasi als inszenierter Vorlauf zu den Nürnberger Gesetzen, zu einer wahren Welle von sogenannten PrangerUmzügen, die ganz bewusst auf mittelalterliche Entehrungs-Rituale Bezug nahmen. In Breslau wurde daraus gar eine sich über Monate hinziehende Kampagne, für die man die alte Staupsäule auf dem Marktplatz für öffentliche Denunziationen per Plakatanschlag reaktivierte. Dabei  Für eine besonders longue durée siehe: Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des . bis . Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg .  Vgl. Wildt (Anm. ).  Vgl. ebd., S. -. Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass diese Form der öffentlichen Erniedrigung in den ersten Wochen und Monaten nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten auch deren politische Gegner traf, vgl. Philipp Springer: Auf Straßen und Plätzen. Zur Fotogeschichte des nationalsozialistischen Deutschland, in: Ders./Klaus Hesse (Hrsg.): Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz, Essen , S. -.

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blieb es jedoch nicht und die sonntäglichen Umzüge scheinen, glaubt man den Gestapo-Berichten, im Laufe des Sommers immer gewalttätiger geworden zu sein, wodurch wiederum die Inhaftierung (»Schutzhaft«) der betroffenen Männer und Frauen legitimiert wurde. »Man stelle sich vor«, schrieb im Sommer  ein Berichterstatter des Bnei Brith, »welche Brutalität es bedeutet, dass in zahlreichen Städten junge jüdische Leute mit Tafeln um den Hals durch die Strassen geführt werden, weil sie sich ›rassenschänderisch‹ vergangen hätten. Man versetze sich in die Lage eines solchen Menschen.« Anhand der beeindruckenden fotografischen Überlieferung des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz, die Klaus Hesse und Philipp Springer zusammengetragen haben, mag man den unterschiedlichen Umgang der betroffenen Männer und Frauen herauslesen, die diese Qual mal mit gesenktem Haupt, mal mit durchgedrücktem Rückgrat und starrem Blick nach vorne über sich ergehen ließen. Einige wenige versuchten sich in den ersten Jahren der NS -Herrschaft vor Gericht zur Wehr zu setzen, wie jener Weinhändler aus Würzburg, der nach seiner Verhaftung im August  Folgendes zu Protokoll gab: »Ich selbst war bis jetzt ein geachteter Bürger in Würzburg und ich bin durch das Herumführen mit dem Plakat in den Straßen der Stadt in meinem Ansehen und auch geschäftlich schwer geschädigt.« Zwei Jahre später wurden Proteste von jüdischer Seite – etwa durch die Rückgabe von im Ersten Weltkrieg erworbenen Orden – mit sofortiger Verhaftung beantwortet. Sicher ist, dass es oft nicht bei dieser öffentlichen Erniedrigung blieb, sondern der Pranger-›Spaß‹ an vielen Orten in brutale Gewalt umschlug, dessen Ausmaß uns jedoch nur fragmentarisch überliefert ist, nämlich lediglich durch die wenigen Berichte derer, die überlebten und nach dem Krieg darüber, meist vor Gericht, aussagten: So berichtete Christine Neemann, die im Juli  mit ihrem jüdischen Freund durch die Straßen ihrer Heimatstadt Norden getrieben wurde: »Man hat uns zusammen durch die Straßen geführt, jeder mit einem Plakat um den Hals: Rassenschänder. Auf offener Straße hat man mich geschlagen und die Haare aus dem Kopf gerissen und dann ins Gefängnis gebracht.« Die Aktion,  Vgl. Przyrembel (Anm. ), S. -.  Archiv des Leo-Baeck-Instituts, New York, LBI , AR , Folder , zit. nach Przyrembel (Anm. ), S. .  Vgl. Hesse/Springer (Anm. ).  Staatsarchiv Würzburg, Polizeidirektion Würzburg, , Bl. , Aussage von L[…] M[…] am .., zit. nach Przyrembel (Anm. ), S. .  Vgl. Przyrembel (Anm. ), S. .



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die danach noch auf weitere Paare ausgedehnt wurde, war vom Drogisten der Stadt fotografisch begleitet und anschließend auch öffentlich ausgestellt worden. Die Gewalt ist auf diesen Bildern allerdings nicht zu sehen. Christine Neemann wurde im KZ Moringen inhaftiert, sie verlor ihre Anstellung und wurde bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft immer wieder drangsaliert; ihr damaliger Freund konnte in die USA entkommen. Auch wenn das Verhalten der umstehenden Bevölkerung nicht immer eindeutig gewesen zu sein scheint, war die »Rassenschande«-Kampagne ein voller Erfolg: Schon im Sommer  sprach die Gestapo mancherorts von einer »gewissen Rassenschande-Psychose«, die bewirke, dass »man überall Rassenschande witterte und teilweise ein staatspolizeiliches Vorgehen wegen Rassenschande forderte aufgrund von Vorgängen, die zum Teil viele Jahre zurücklagen«. Mit den Nürnberger Gesetzen von September  schließlich wurde, in den Worten Michael Wildts, »erstmals in Deutschland die rassistische Obsession, sexuellen Kontakt mit jüdischen Menschen zu verbieten, staatliches Gesetz […] was die schon bestehende Sexualisierung ›rassenschänderischen‹ Verhaltens noch einmal enorm verstärkte«. Immerhin handelte es sich um die nun rechtsförmige, brutale Bestrafung eines intimen Aktes zwischen zwei Menschen, der fast immer aus dem privaten Umfeld heraus den Behörden gemeldet worden sein musste. Laut Robert Gellately beruhte über die Hälfte der »Rassenschande«-Verfahren ab  auf Denunziation und dieses hohe Niveau blieb bis Ende , man könnte auch sagen, bis zur orchestrierten Gewalt im November  erhalten. Dass hinter all diesen Denunziationen in erster Linie auf machtvolle Bestrafung abzielende Affekte standen, belegt die Tatsache, dass ein nicht geringer Teil der Anschuldigungen bereits von der Gestapo mit Skepsis aufgenommen wurde. Dennoch wurden zwischen  und  . Männer wegen »Rassenschande« verurteilt. Die Anzahl der eingeleiteten Ermittlungsverfahren – mit allem, was dies für die weiblichen wie männlichen Betroffenen bedeutete – war erheblich höher. Zwischen  und  verhängten Richter, soweit bekannt, insgesamt sechsmal die eigentlich nicht vorgesehene Todesstrafe gegen deutsche Juden, indem sie »Rassenschande« mit  Vgl. Wildt (Anm. ), S. -.  Lagebericht der Gestapo Bielefeld vom August , zit. nach Przyrembel (Anm. ), S.  f.  Wildt (Anm. ), S. .  Robert Gellately: Hingeschaut und Weggesehen. Hitler und sein Volk, Stuttgart/ München , S -.  Vgl. Wildt (Anm. ), S. .

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anderen Vergehen kombinierten, z. B. mit dem Verdunklungsverbot. Unbekannt ist die Zahl derjenigen, die aufgrund der Verbüßung einer Freiheitsstrafe nicht mehr emigrieren konnten und nach der Freilassung deportiert und ermordet wurden. Damit war die in den »Rassenschande«-Ritualen angelegte Segregation der jüdischen von den nichtjüdischen Deutschen zu Beginn der er Jahre schließlich bis zur letzten Konsequenz durchgeführt worden. Zugleich aber kam, aus der Sicht der deutschen Regierung, mit Kriegsbeginn eine neue, zahlenmäßig viel größere Gefahr der Vermischung ins Land: Hunderttausende, später Millionen von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Ulrich Herbert hat ausführlich beschrieben, wie sich die Verantwortlichen auf verschiedenen Ebenen von Partei und Staat nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn darüber Gedanken machten, wie ein zu enger Kontakt zwischen den Deutschen und den aufs Land verteilten polnischen Gefangenen zu verhindern sei. Dahinter stand – neben dem rassenpolitischen Wahn – die sehr konkrete Erfahrung, dass vor allem auf dem Land und in der katholischen Bevölkerung ein relativ freundlicher Umgang herrschte, sei es aus Gewohnheit (man kannte Polen als Saisonarbeiter), sei es aufgrund religiöser Nähe. Obgleich weder das eine noch das andere zwangsläufig zu Geschlechtsverkehr führen musste, drehten sich die Überlegungen der Verantwortlichen vor allem darum: »Wir können und dürfen nicht tatenlos zusehen«, so ein Vermerk des Rassenpolitischen Amtes von , »dass sich volksfremde Menschen, die noch vor kurzer Zeit unsere erbittertsten Feinde waren und es innerlich noch heute sind, in unser ureigenstes Volksleben hineindrängen, deutschblütige Frauen schwängern und unseren Nachwuchs verderben.« Diese, die »deutschblütigen Frauen«, die offensichtlich als »sehr unsichere Faktoren« galten, standen im Zentrum all dieser von einer manischen Fixierung auf Sexualität getriebenen Überlegungen, würden sie doch, so Herbert, »durch intimen Verkehr mit Polen nicht

 Vgl. Przyrembel (Anm. ), S.  und .  Vgl. z. B. den bei Schüler-Springorum (Anm. ), S.  dokumentierten Fall des Kaufmanns Max Rawraway, S. .  Vgl. Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin/Bonn , S. -.  Stellenleiter Schäringer vom Rassenpolitischen Amt am .., zit. nach Birthe Kundrus: »Verbotener Umgang«. Liebesbeziehungen zwischen Ausländern und Deutschen -, in: Katharina Hoffmann/Andreas Lambeck (Hrsg.): Nationalsozialismus und Zwangsarbeit in der Region Oldenburg, Oldenburg , S. -, hier S. .

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nur die deutsche Ehre überhaupt, sondern die deutsche Mannesehre im besonderen verletzen«. Bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn, am . September , war es diesbezüglich zu einem Gespräch zwischen Himmler und Hitler gekommen, in dem Letzterer angeordnet hatte, »dass in jedem Falle ein Kriegsgefangener, der sich mit einer deutschen Frau oder einem deutschen Mädel eingelassen hat, erschossen wird und dass die Frau bzw. das Mädel in irgendeiner Form öffentlich angeprangert werden soll und zwar durch Abschneiden der Haare und Unterbringung in einem Konzentrationslager«. In den im März  verabschiedeten »PolenErlassen«, die ein zusammenfassendes Sonderrecht zunächst für Polen, später für weitere Ostarbeiter formulierten, wurde diese Anweisung konkretisiert und zugleich das Bild vom slawischen Untermenschen radikalisiert und in deutlichen Bezug zu den bereits dämonisierten Juden gesetzt. So wurde die Kennzeichnungspflicht für Polen anderthalb Jahre vor dem »Judenstern« in Deutschland eingeführt, und in einem Merkblatt aus dem Frühjahr  unter dem Titel »Wie verhalten wir uns gegenüber den Polen« hieß es explizit: »So wie es als größte Schande gilt, sich mit einem Juden einzulassen, so versündigt sich jeder Deutsche, der mit einem Polen oder einer Polin intime Beziehungen unterhält. Verachtet die tierische Triebhaftigkeit dieser Rasse !« Hatten sich also die »sexualrassistischen Ängste« (Herbert) des Regimes in den dreißiger Jahren vorwiegend gegen deutsch-jüdische Männer gerichtet, so wandte sich der Propagandafuror nun gegen deutsche Frauen, und zwar mit – kriegsbedingt? – drakonischeren Strafen: Die schon seit Anfang  aufgrund lokaler Initiativen geübte Praxis weitete sich nun flächendeckend aus: Die eines »GV -Verbrechens«, so der NS -Duktus, mit einem Zwangsarbeiter beschuldigte Frau wurde meist mit einem Schild behängt durch die Straßen ihres Heimatortes geführt, auf einem erhöhten Podest auf dem Marktplatz wurden ihr die Haare geschoren, um sie anschließend wiederum in einem Prangerumzug ins Gefängnis zu bringen. Auch hier belegen zahlreiche Fotoserien die ungeheure Brutalität des Vorgehens. Es folgte eine mehrjährige Haft mit Ehrverlust, seit  regelmäßig die Einweisung in ein Konzentrations Herbert (Anm. ), S. .  Aktenvermerk Himmlers vom .., Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht Berlin, GS tAB  Js /, Dok. D, zit. nach: Herbert (Anm. ), S. .  Vgl. Herbert (Anm. ), S. -.  Merkblatt des Gaupropagandaamtes Oldenburg, Staatsarchiv Bremen, zit. nach Kundrus (Anm. ), S. .  Vgl. Hesse/Springer (Anm. ).

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lager, was nicht selten mit dem Tod endete. Diejenigen, die überlebten, hatten ebenso wie ihre Leidensgenossinnen der er Jahre noch bis in die Nachkriegszeit unter Diskriminierungen zu leiden. Die polnischen und später auch sowjetischen Gefangenen wurden – im Gegensatz zu den westlichen Kriegsgefangenen – ausnahmslos mit dem Tode bestraft und anfangs öffentlich, später zumindest in Gegenwart anderer Kriegsgefangener oder Zwangsarbeiter gehenkt. Die genaue Zahl der wegen dieser Form der »Rassenschande« verurteilten Frauen und Männer ist bis heute unbekannt, sie geht in die Tausende. Grenzziehungen Betrachtet man die fotografische Überlieferung dieser modernen öffentlichen Brandmarkungen als Strafe für unerlaubtes, weil neu etablierte »Rassen«-Grenzen überschreitendes sexuelles Verhalten, so fallen einem immer wieder die Zuschauer ins Auge, die freudigen, höhnischen, auf jeden Fall zustimmenden Gesichter, die, dies muss man unbedingt in Rechnung stellen, fast immer im Auftrag der NSDAP fotografiert wurden. Zudem fanden die Pranger-Rituale größtenteils in kleinen und mittleren Städten, später auch in Dörfern statt, was zum einen die Demütigung der Opfer erhöhte, zum anderen aber auch den Konformitätsdruck auf die Zuschauer. Auf jeden Fall, dies lässt sich konstatieren, sahen diese nicht weg, sie blieben nicht zu Hause, sondern waren durch ihre schiere Präsenz Teil der öffentlichen Inszenierung. Die wenigen schriftlichen Quellen, die über die Stimmung unter den Umstehenden Auskunft geben, sind widersprüchlich und nur schwer zu interpretieren. In der Zusammenschau lassen sowohl die wenigen Erinnerungsberichte der Opfer als auch die der verschiedenen Täteragenturen (Gestapo, SD , lokale Presse) keinen anderen Schluss als dass, wie es Alexandra Przyrembel zurückhaltend formuliert, »bereits vor dem Novemberpogrom  eine potenzielle Bereitschaft zu gewalttätigen Übergriffen gegenüber Juden in der deutschen Gesellschaft existierte«. Diese »Freude an der Gewalt« wurde jedoch, und dies ist der zentrale Punkt, über Vorstellungen von erlaubter und unerlaubter Sexualität befeuert, und sie traf auch die  Vgl. Herbert (Anm. ), S. - und S. -.  Dies widerspricht z. B. der ansonsten ausgesprochen anregenden Analyse des Hinsehens und Wegsehens im Kontext der Verfolgung von Thomas Kohut: A German Generation. An Experiential History of the Twentieth Century, New Haven , S. .  Przyrembel (Anm. ), S. .



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nichtjüdischen Partnerinnen und später die osteuropäischen Zwangsarbeiter in ebenso brutaler Weise. In dem erwähnten Fall aus Norden zogen die Tätertrupps gleich zweimal mit ihren Opfern durch die Stadt, was, so Michael Wildt, »auf die Emotionen [verweist], die im Spiele waren, auf die Leidenschaft, die noch nicht befriedigt war und nach der Fortsetzung der öffentlichen Demütigung verlangte«. Es lassen sich jedoch auch zwischen den Zeilen hier und dort Gegenstimmen vermuten und es mag kein Zufall sein, dass diese ausgerechnet aus Breslau kommen, der einzigen Großstadt, aus der Pranger-Umzüge im großen Stil berichtet werden und zugleich Heimat einer selbstbewussten großen jüdischen Gemeinde. Inwieweit jüdische Zuschauer die Umzüge des Sommers  tatsächlich mit »frechen Bemerkungen« kommentierten, wie die Gestapo berichtete, wissen wir nicht. Es ist jedoch nicht völlig auszuschließen, dass jüdische wie nichtjüdische Breslauer gegen diese Form des »krassen Mittelalters« auch öffentlich ihr Missfallen äußerten, denn immerhin wurde vom Breslauer Oberpräsidenten die Reaktion der Zuschauer als »teils zustimmend, teils ablehnend« beschrieben. Interessanterweise ändert sich an dieser Ambivalenz kaum etwas, als die rassistischen Gewaltgrenzen wenige Jahre später angesichts der Präsenz von Millionen polnischer, ukrainischer und französischer Männer in Deutschland immer rigider gegen die eigene weibliche, nichtjüdische Bevölkerung gezogen wurden. Meldete der SD eingangs noch die »positive Aufnahme« des strengen öffentlichen Vorgehens gegen die Frauen, so scheint die Unruhe über das Vorgehen bei »GV -Verbrechen« im Laufe der Jahre  und  zugenommen zu haben: Den einen erschien die unterschiedliche Behandlung von West- und Ostgefangenen ungerecht, andere störten sich an der ungesetzlichen Vorgehensweise, mit der junge Polen »in Wildwestmanier« an den Bäumen aufgeknüpft wurden. Während in den NS -Quellen immer wieder Stimmen aus der Bevölkerung zitiert werden, die zusätzlich eine noch härtere Bestrafung der beteiligten Frauen forderten, ergeben die wenigen lokalen Tiefenbohrungen doch ein anderes Bild: So kommt Christa Tholander in einer Studie zu Zwangsarbeit in Friedrichshafen zu dem Schluss, dass die meisten »Rassenschande«-Fälle Frauen und Mädchen aus den umliegenden ländlichen Dörfern betrafen und die Demütigungsrituale dort einen »tiefen Eindruck in Form von  Wildt (Anm. ), S. .  Vgl. Przyrembel (Anm. ), S. -.  Meldung aus dem Reich, .., Bundesarchiv (Koblenz), BA R /, S. , zit. nach Herbert (Anm. ), S. .  Vgl. Herbert (Anm. ), S. -, Zitat siehe ebd., S. .



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Abscheu« hinterließen: »Man empfand auch damals Mitleid für die deutsche Bauerntochter aus der Gemeinde und auch für den Polen.« Anlässlich eines Falls aus Ulm, der auch fotografisch eindrucksvoll – weil mit professioneller Kamera – dokumentiert ist, sah sich die lokale Presse sogar genötigt, die »Gefühlsduseleien« eines Teils der Bevölkerung öffentlich zu kritisieren, die vorwiegend von Frauen ausgegangen zu seien scheinen. Über die Gründe für diese vermutlich vorwiegend weibliche Empathie kann man nur spekulieren: Birthe Kundrus konstatiert für die von ihr untersuchten Fälle aus Oldenburg durchaus ein allgemein gestiegenes weibliches Selbstbewusstsein, das auch eine größere sexuelle Unabhängigkeit mit einschloss und ein direktes Ergebnis der von Herzog beschriebenen NS -Sexualpolitik gewesen sein könnte. So empfand man es beispielsweise als ungerecht, dass Frauen für das gleiche Vergehen weitaus strenger bestraft wurden als deutsche Männer, die meist mit drei Monaten Haft davonkamen, wenn ihre Liebesbeziehungen überhaupt geahndet wurden. Vermutlich – dies wiederum legt die fotografische Überlieferung nahe – stellte zudem das öffentliche Haarescheren einen so traumatischen Eingriff dar, dass sich gerade weibliche Zuschauerinnen dessen Wirkung nur schwer entziehen konnten. Hatte man während der antijüdischen Kampagne der er Jahre darauf noch verzichtet, so wurde dieser Akt in den er quasi zum Symbol von »Rassenschande«. Immerhin scheint die »Unruhe in der Bevölkerung« derart spürbar geworden zu sein, dass Ende  Anweisungen gegeben wurden, auf öffentliche Demütigungsrituale zu verzichten. Die Todesurteile gegen osteuropäische Männer und drakonischen Strafen gegen die Frauen wurden jedoch aufrechterhalten. Trotz dieser Maßnahme, die offiziell mit der Rücksicht auf verbündete Staaten begründet wurde, hinterließ der »Terror vor Ort, im Alltag der Städte und Dörfer«, im »eigenen Lebens- und Erfahrungsbereich«,

 Vgl. Christa Tholander: Fremdarbeiter  bis . Ausländische Arbeitskräfte in der Zeppelin-Stadt Friedrichshafen, Essen , S. -, Zitat siehe ebd., S. .  Vgl. Martin König: Die »deutsche Frau und Mutter«: Ideologie und Wirklichkeit, in: Hans Eugen Specker (Hrsg.): Ulm im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart , S. , hier S. -, Zitat siehe ebd., S. .  Vgl. Kundrus (Anm. ).  Vgl. Przyrembel (Anm. ), S.  f., dort wird lediglich ein Fall geschildert, in der einer Frau  die Haare geschoren wurden. Dies geschah allerdings nach dem äußerst gewalttätigen Umzug und der Entlassung nach Hause und war nicht öffentlich.



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wie Reinhard Rürup schon vor vielen Jahren formuliert hat, durchaus Spuren im deutschen Gedächtnis: Dies belegen nicht nur die Interviewaussagen aus den erwähnten Lokalstudien oder die Tatsache, dass schon in den er Jahren ein eindrucksvoller Roman zum Thema erschien, sondern auch und vor allem die subkutanen Kontinuitäten: Die Wut über die »untreue Frau«, die sich in den »Rassenschande«-Ritualen austobte, scheint nahtlos übergegangen zu sein in die Empörung über das »Amiliebchen« – und selbst den Opfern der Vergewaltigungen bei Kriegsende wurde, gerade seitens der männlichen Behördenvertreter, oftmals unterstellt, sie hätten sich doch in Wirklichkeit »freiwillig hingegeben«. Diese longue durée mag darauf hindeuten, welche Wirkmacht es hat, wenn rassistische Normen über Körper und Sexualität mittels lustvoller Dauerthematisierung und gewaltvoller visueller Rituale in den Köpfen (und Seelen?) von Männern und Frauen verankert werden. Michael Wildt hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei den NS -Praktiken nicht, wie in der Ehrgerichtsbarkeit des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, um die Wiederherstellung einer alten Ordnung handelte, sondern um die gewaltsame Durchsetzung einer neuen auf der Grundlage rassistischer Grenzziehungen. Der Rückgriff jedoch auf diese »traditionellen Beschämungspraktiken«, so hat Ute Frevert hinzugefügt, war jedoch deshalb so überaus erfolgreich, da es so gelang, diese

 Vgl. Reinhard Rürup: Vorwort, in: Hess/Springer (Anm. ), S. -, Zitate siehe ebd., S. .  Vgl. Brigitte Reimann: Die Frau am Pranger, Berlin .  Vgl. Susanne zur Nieden: Erotische Fraternisierung. Der Mythos von der schnellen Kapitulation der deutschen Frau im Mai , in: Karen Hagemann/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt am Main , S. -; Ingrid Bauer: Die »Ami-Braut« – Platzhalterin für das Abgespaltene? Zur (De-)Konstruktion eines Stereotyps der österreichischen Nachkriegsgeschichte -, in: L’Homme / (), S. -; Ute Frevert: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht, Frankfurt am Main , S. ; Sieglinde Reif: Das »Recht des Siegers«. Vergewaltigung in München , in: Zwischen den Fronten: Münchner Frauen in Krieg und Frieden -, München , S. -, hier S. ; Tamara Domentat: »Hallo Fräulein«: Deutsche Frauen und amerikanische Soldaten, Berlin .  So ein Vertreter der Oberfinanzdirektion Nürnberg gegenüber dem Bundesfinanzminister im November  über einen lokalen Vorfall aus Allersberg, zit. nach Miriam Gebhardt: Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs, München , S. .  Vgl. Wildt (Anm. ), S. .



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»radikale Innovation gleichermaßen zu überhöhen und gesellschaftlich einzubetten«. Inwiefern können nun die auf diese Weise produzierten mächtigen, aber durchaus ambivalenten Emotionen helfen, die von Klemperer wieder und wieder beschriebenen, eingangs erwähnten Szenen zu entschlüsseln? Hatte der »Massenmord«, wie Philipp Springer schreibt, wirklich seinen »Ausgangspunkt in den Dörfern und Städten«? Immerhin gibt es durchaus Hinweise in den Quellen, die darauf verweisen, dass die sich in diesen Dörfern und Städten austobende sexuell grundierte Wut sehr rasch in Mordfantasien umschlagen konnte. So resümierte ein Journalist der Schlesischen Tageszeitung, in einer ausdrücklichen Replik an das kritische Ausland, die Pranger-Umzüge im Breslauer Sommer  folgendermaßen: »Wir haben jene Menschen, die manchen deutschen Mann und manche deutsche Frau im buchstäblichen Sinne zugrunde gerichtet haben, nicht ermordet. Wir haben sie leben lassen und sie nur an den Platz verwiesen, der ihnen gebührt.« Einige Jahre später zeigten sich NS -Beamte gegenüber deutschen nichtjüdischen Frauen weitaus weniger gnädig: Da »das Abschneiden von Haaren auf öffentlichen Plätzen eigentlich zu fast gar keinem Erfolg geführt« habe, forderte man in einer Vorlage an die Reichskanzlei die Todesstrafe für Frauen, die sich mit Ausländern eingelassen haben, denn diese begehen »das größte Verbrechen, das man sich im nationalsozialistischen Deutschland überhaupt denken kann«. Solche Auslöschungswünsche selbst gegen weibliche Mitglieder der »eigenen« Gruppe belegen einmal mehr die zerstörerische Kraft, die Antisemitismus und Rassismus dann voll entfalten können, wenn sie über Geschlechterbilder und Vorstellungen von Sexualität fest im Körper verankert und mit Gefühlen von Angst und Lust, von Erregung und Ekel, von Anziehung und Abstoßung verknüpft wird. Und vielleicht, so ließe sich spekulieren, ist es gerade die Ambivalenz der mit ihm auf die hier geschilderte Weise verbundenen Emotionen, die Gleichzeitigkeit von Aversion und Anziehung, aber auch von Scham und Lust, die die  Frevert (Anm. ), S. .  Springer (Anm. ), S. .  Dr. Friedhelm Kaiser: So sah die Rassenschande aus! Einzelheiten von den ungeheuerlichen Verbrechen der jüdischen Wüstlinge an deutschen Frauen und Mädchen in Breslau. Die »Schlesische Tageszeitung« antwortet der »Times« und der ganzen Welt, in: Schlesische Tageszeitung, Juli , Bundesarchiv Berlin, BA Berlin, R . II /, Bl. , zit. nach Przyrembel (Anm. ), S. .  Vorlage an das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda vom .., Generalstaatsanwalt bei dem Kammergericht Berlin, GS tAB  Js /, Dok. B , Bl.  f., zit. nach Herbert (Anm. ), S. .



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Gewalt, die die entgrenzte Aggression produziert. Es scheint mir von großer Bedeutung, den hier skizzierten Weg, sowohl in seiner Relevanz für den Antisemitismus, aber auch für andere Ressentiments weiterzuverfolgen, denn der emotionsgetriebene Konnex von Gewalt, Sexualität und Ausgrenzung funktioniert, dies belegt die tägliche Zeitungslektüre, noch immer.



Eine »entsetzliche Einsicht« Zur Emotionsgeschichte des »besiegten Selbst« im ungarischen Antisemitismus Zoltán Kékesi Ungarischen Flüchtlingen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges nach München verschlagen worden waren, konnte auf den Straßen der Stadt ein Flugblatt begegnen, auf dem es hieß: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum – Bern  W. Marr Diese Prophezeiung aus dem letzten Jahrhundert ist  in Erfüllung gegangen. Vae Victis! . Mai . Unter den Flüchtlingen, die in den letzten Monaten des Krieges vor der sowjetischen Armee geflohen waren, befanden sich auch zahlreiche Journalisten und Schriftsteller, die in Ungarn das rechtsautoritäre und später das nationalsozialistische Regime unterstützt hatten. Als im Mai  der Krieg endete, befanden sich die meisten von ihnen in Österreich und Bayern, wo sich später viele niederließen, die nicht mehr nach Ungarn zurückkehren konnten. In München, an diesem emblematischen Ort der Niederlage, standen um sie herum die Überreste des Reiches, das viele von ihnen so bewundert hatten. Die Botschaft, die die Rechtsextremen aus Ungarn mitbrachten, stimmte überein mit der, die das Flugblatt im historischen Moment des Zusammenbruchs mit einem Verweis auf Wilhelm Marr vermittelte, dass nämlich »wir die Besiegten, die Unterjochten sind. […] Dem Semitismus gehört die Weltherrschaft.« Dieses »Eingeständnis«, wie es Marr nannte, war seit Langem fester Bestandteil antisemitischer Kulturen gewesen. Unter den frühen Vertretern des modernen Antisemitismus in Ungarn war es vor allem Győző Istóczy (-), der diese »Einsicht« am einflussreichsten formulierte. Mit seinen Reden im ungarischen Parlament  Ich bedanke mich bei Jan Süselbeck und Stefanie Schüler-Springorum für ihre Anmerkungen sowie bei Christina Kunze für die sprachlichen Korrekturen.  Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (München), Rechtsradikale Splitter, ED /.  Wilhelm Marr: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum, Bern , S. .



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ab  sowie mit der Gründung der »Antisemitischen Landespartei« (-) initiierte Istóczy die frühe antisemitische Bewegung in Ungarn. Als Abgeordneter, Verfasser und Herausgeber verbreitete er die Ansicht, dass die jüdische Emanzipation () den »Sieg« der Juden über die »Ungarn« mit sich gebracht habe: »Welches Element ist das souveräne in Ungarn?«, fragte er in einer Rede am . Januar , in der er erneut die Zurücknahme der Emanzipation forderte. Er stellte fest, dass »wir Ungarn nur noch namentlich souverän sind, das tatsächliche souveräne Volk aber das jüdische ist«. Für eine antisemitische Leserschaft erlangten seine Reden und Schriften, insbesondere infolge seiner Neuentdeckung in den er und frühen er Jahren, den Status klassischer Texte. Noch im Jahr , in seinem Buch Országhódítók (Die Eroberer des Landes), das der ungarische Journalist Lajos Marschalkó (-) in seinem Münchener Exil verfasst hatte und das bald zum meistgelesenen antisemitischen Buch der radikalen Exilliteratur avancierte, erinnert sich der Autor an die »klassische Klarheit« mit der »uns die Rede, die Istóczy am . Januar  hielt, aus der Vergangenheit anspricht: ›Wir Ungarn sind in der Tat ein erobertes Volk geworden.‹« Jemand, der dieses Zitat aus dem Jahr  in Erinnerung hatte, musste auch in dem Münchener Flugblatt von  Bekanntes wiedererkennen. In diesem Aufsatz untersuche ich Varianten des »besiegten Selbst« aus emotionsgeschichtlicher Sicht am Beispiel des ungarischen Antisemitismus vor und nach . Meine Analyse gilt den spezifischen Emotionalisierungsstrategien, welche die Herausbildung und Übermittlung dieser Subjektkonstruktion förderten. Mein Ziel ist es allerdings nicht, ein unveränderliches, tiefer liegendes Basisgefühl offenzulegen (wie zum Beispiel Trauer, Angst oder Ärger), sondern diskursive Techniken der Emotionalisierung in unterschiedlichen historischen Kontexten zu beleuchten. In dem ersten und zweiten Teil sondiere ich den antisemitischen Diskurs vor und während der Deportation ungarischer Juden. Im dritten Teil stelle ich die Frage, wie die alte Vorstellung des »besiegten Selbst« im Exil re-emotionalisiert und weitertradiert wurde.  Győző Istóczy: A tapolczai kérvény tárgyalása a képviselőházban, in:  röpirat, . Februar , S. .  Vgl. u. a. Zoltán Bosnyák: Győző Istóczy élete és kűzdelmei, Budapest .  Lajos Marschalkó: Országhódítók, München , S. .  Unter »antisemitischen Subjektkonstruktionen« verstehe ich im Folgenden diskursive Konstruktionen, die antisemitische Subjektivierung, d. h. die Herausbildung von antisemitischen Subjekten im Sinne von Michel Foucault, erst ermöglichen. Vgl. Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht, in: Michel Foucault, hrsg. v. Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow, Weinheim , S. -.



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Einführung Im Folgenden gehe ich davon aus, dass sich der moderne Antisemitismus, zumindest in der Form, in der er in Mittel- und Ostmitteleuropa am Ende des jüdischen Emanzipationsprozesses auftauchte, u. a. auf die obige »Einsicht« Marrs, Istóczys und anderer antisemitischer Schriftsteller des ausgehenden . Jahrhunderts stützte. Die »Entdeckung« »jüdischer Weltherrschaft« bedeutete gleichzeitig die einer neuen Subjektivität. Nicht zufällig eröffnete Marr einen der Gründungstexte des modernen Antisemitismus mit der Anmerkung, man habe zwar »die Juden, aber – uns selbst nicht erkannt«, und bezeichnete dieses Selbst als das eines »Unterjochten«. Im modernen Antisemitismus ging es gerade um diese neue »Erkenntnis« über das eigene, nichtjüdische Selbst: Antisemitismus ist aus dieser Sicht eine diskursive Praxis, die dieses »besiegte« und »unterdrückte« Selbst hervorbringt. Die Vorstellung eines besiegten nationalen Selbst war vor allem für den ungarischen Antisemitismus nach  grundlegend, in einer Epoche also, in welcher der territoriale Verlust, den das Land mit dem Friedensvertrag von Trianon erlitten hatte, das nationale Selbstbewusstsein tiefgreifend mitbestimmte. Nach der Auflösung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und den Revolutionen von  und  wurde in Ungarn unter der Regentschaft von Miklós Horthy ein rechtsautoritäres Regime ausgebaut, das die liberalen Traditionen des vorigen Jahrhunderts ablehnte. Das Regime, das bis zur Machtergreifung der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler im Oktober  bestand, gründete sich auf gegenrevolutionäre Politik, territorialen Revisionismus und ethnischen Nationalismus. Es forderte die Wiederherstellung einer »christlichen Nation« und deutete damit die Zurücknahme der liberalen Institutionen an, die in Ungarn nach  die rechtliche Gleichstellung jüdischer Mitbürger ermöglicht hatten. Die Einführung eines Numerus clausus an den Universitäten im Jahre  bedeutete das formale Ende des liberalen Zeitalters und institutionalisierte die Judenfeindlichkeit, die in der ungarischen Gesellschaft immer mehr Verbreitung fand und in den folgenden Jahrzehnten Teil des Alltagslebens wurde. Ähnlich wie der verlorene Krieg in Deutschland wurde den Juden die Schuld am territorialen Zerfall des »historischen Ungarns« zugeschrieben, der nunmehr im Zentrum einer neuen Verlustkultur stand. Antisemitismus und das Bewusstsein einer demütigenden Ungerechtigkeit verknüpften sich, was  Marr (Anm. ), S. . Hervorhebung im Original.



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zur Verbreitung judenfeindlicher Ressentiments und ab  auch zu antijüdischer Gesetzgebung beitrug. Die Textbeispiele des ersten Teils meines Aufsatzes stammen aus der radikalen ungarischen Presse vor . Ich untersuche Autoren, die zum radikalen Flügel des Horthy-Regimes gehörten und bereits in den Jahren vor der deutschen Besetzung die Radikalisierung der seit  bestehenden antijüdischen Gesetzgebung forderten. Nach dem . März  beteiligten sie sich dann an der Umsetzung antijüdischer Maßnahmen, zuerst unter der Sztójay- und dann unter der nationalsozialistischen Szálasi-Regierung. Die meisten Quellen sind der Zeitung Függetlenség (Unabhängigkeit) entnommen, die vom Ministerpräsidenten Gyula Gömbös (-) während seiner Amtszeit (-) zur Popularisierung seiner profaschistischen Politik gegründet wurde. Függetlenség war als Hauptmedium eines neuen, zentralisierten Mediensystems konzipiert, wurde landesweit vertrieben und richtete sich hauptsächlich an die urbanen und ländlichen Mittelschichten. Die Zeitung, die den Ansichten ihres Gründers auch nach dessen Tod treu blieb, wurde bis zu ihrer Einstellung zu Kriegsende als Regierungszeitung veröffentlicht. Herausgeber der Zeitung war seit  Mihály Kolosváry-Borcsa (), der zunächst ab  als Präsident der Pressekammer und nach dem . März  als Regierungsbeauftragter für Presse, Rundfunk und Verlagswesen die »Entjudung« der genannten Bereiche beaufsichtigte. Ähnlich wie Kolosváry-Borcsa sind die hier behandelten Autoren Lajos Marschalkó und Zoltán Bosnyák (-), beide Mitarbeiter in der Redaktion der Függetlenség und anderer radikaler Zeitungen, um  geboren und gehörten, wie Marschalkó später formulierte, zur »Generation von Trianon«. Sie begannen ihre Lauf bahn um oder nach  und betrachteten die Revolutionen von  und , den Friedensvertrag von Trianon sowie die Gegenrevolution als Grunderfahrungen, die auf ihre politische Einstellung einen entscheidenden Einfluss ausübten. Insbesondere ab Mitte der dreißiger Jahre trugen sie als Autoren und Herausgeber maßgeblich zum ungarischen Antisemitismus bei; Zoltán Bosnyák auch als Leiter eines Instituts für die Erforschung der Judenfrage (ab ) und nach dem . März  als »Berater für die Judenfrage« im Innenministerium. Kolosváry-Borcsa wurde  durch das unga Vgl. Géza Buzinkay: A magyar sajtó és újságírás története a kezdetektől a rendszerváltásig, Budapest , S. , .  Lajos Marschalkó: Trianon és ami utána következik, in: Hídfő, . Mai , S. .  Zu Bosnyák und seinem Institut für die Erforschung der Judenfrage siehe Patricia von Papen-Bodek: The Hungarian Institute for Research into the Jewish Question and Its Participation in the Expropriation and Expulsion of Hungarian Jewry, in:



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rische Volksgericht wegen Kriegs- und Volksverbrechen zum Tode verurteilt und hingerichtet, während Bosnyák einige Jahre später, im Jahre  ebenfalls zum Tode verurteilt wurde. Marschalkó floh am Ende des Krieges nach Deutschland und ließ sich, nachdem er in Ungarn in absentia verurteilt worden war, in München nieder, wo er bis zu seinem Tod () als Mitherausgeber der ungarischen nationalsozialistischen Zeitschrift Hídfő (Brückenkopf, -) tätig war. Die Zeitschrift wurde in London veröffentlicht und in Westeuropa, den Amerikas und Australien vertrieben. Als Mitarbeiter dieser und anderer Exilzeitungen sowie als Autor mehrerer Bücher wurde er so zu dem wahrscheinlich einflussreichsten antisemitischen Journalisten der ungarischen Emigration. In Anlehnung an Barbara H. Rosenwein interpretiere ich die Texte antisemitischer Autoren als Dokumente einer Emotionskultur und gleichzeitig als Versuche, eine übergreifende nationale Emotionsgemeinschaft (emotional community) ins Leben zu rufen. Ich untersuche Texte, die für eine breitere antisemitische Leserschaft »einen kanonischen, normativen Stellenwert« innehatten (oder auch noch innehaben), um zu verstehen, »welche Emotionen am grundlegendsten für ihren Emotionsstil und ihr Selbstgefühl (sense of Self) waren«. Die meisten der hier untersuchten Autoren verkörper(te)n für antisemitische Leserschaften »charismatische Figuren«, deren Gedächtnis, überlieferte Lebensgeschichten und emotionaler Habitus maßgebend für die Herausbildung späterer Emotionsgemeinschaften wurden. Ich interessiere mich jedoch nicht nur für die extremen Gefühle wie Verachtung, Hass oder Abscheu, sondern für ein System verschiedener Emotionen, die beschreiben, was die jeweilige Gefühlsgemeinschaft als »wertvoll oder gefährlich« ansieht. Dabei frage ich nicht danach, ob bestimmte Emotionen authentisch waren, also tatsächlich »gefühlt« wurden, sondern nach den implizierten Normen, die nahelegten, was für Gefühle man haben und wie man über seine Gefühle sprechen konnte und sollte. In diesem Sinne spreche ich im Zusammenhang der untersuchten Texte über Emotionsangebote.



   

Pieter M. Judson/Marsha L. Rozenblit (Hrsg.): Constructing Nationalities in East Central Europe, New York , S. -. Sein Buch Világhódítók (Die Eroberer der Welt, München ) wurde auch ins Englische, Spanische und Portugiesische übersetzt, vgl. Louis Marschalkó: The World Conquerors, London ; Ders.: Los Conquistadores del Mundo, Buenos Aires ; Ders.: Os Conquistadores do Mundo, Porto Alegre . Barbara H. Rosenwein: Problems and Methods in the History of Emotions, in: Passions in Context  (): http://www.passionsincontext.de, o. S. Ebd. Ebd. Ebd.



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Die Neuentdeckung der Niederlage Im Jahr , als er an seinem Buch über »die Heldenzeit des ungarischen Rassenschutzes«, d. h. über die frühe antisemitische Bewegung arbeitete, ging Lajos Marschalkó in die Handschriftensammlung der Ungarischen Nationalbibliothek. Dort studierte er den Nachlass des ungarischen Adeligen István Bonyhády Perczel, der in den letzten Jahrzehnten des . Jahrhunderts Zeitungsausschnitte bezüglich der »Judenfrage« aus der ungarisch- und deutschsprachigen Presse sammelte und in insgesamt  Bänden der Nachwelt hinterließ. Bonyhády Perczels Besessenheit von der »Judenfrage«, seine Zeitungsausschnitte und die materiellen Spuren seiner Lektüre, seine Marginalien und rot-grünen Markierungen waren für Marschalkó Zeichen einer judenfeindlichen Haltung, die durch den Ernst eines Edelmannes aus alter Zeit geadelt und gerechtfertigt wurde. Sein Artikel »Gedanken in der Bibliothek« beschreibt eine sorgfältig inszenierte Leseszene, in der emotionale Antworten auf Gelesenes dargestellt werden. In seinem Bericht stellte Marschalkó seine Lektüre der Zeitungsausschnitte als eine Szene dar, in der sich ihm die Tragödie einer halbvergessenen Vergangenheit erschloss. »Fünfzehn Jahre nach der [jüdischen] Emanzipation, da sich der politische Antisemitismus in Ungarn erhebt, ist es schon zu spät.« Die frühen Antisemiten seien gegen die »jüdische Herrschaft« aufgestanden, aber der Übermacht gegenüber letztlich unterlegen gewesen. Die Umrisse dieser Tragödie zeichneten sich erst in der »Stille des Leseraums« ab, an einem Ort, in dem man abgetrennt von »Leidenschaften« und dem »Lärm der Außenwelt«, »unvoreingenommen und mit nüchterner Gelassenheit die geschwärzt-bräunlichen Bände durchblättern« konnte. Es sei erst die Lektüre der Zeitungsausschnitte, die diese nüchterne Grundeinstellung in einen ergriffenen Gefühlszustand verwandelt habe: zuerst in eine Erschütterung über den Untergang tragischer Helden, dann in ein »erhebendes und begeisterndes« Gefühl angesichts einer Vergangenheit, die zeigen sollte, dass »die ungarische Rasse leben möchte und sich fremder Herrschaft nicht füge«. In dem Leseraum, »unter alten Folien, ledergebundenen Gedichtbänden und federgeschriebenen Manuskripten«, ergreife den Autor schließlich das »erschreckende Gefühl«, die verschleierten Ursprünge »jüdischer Herrschaft« aufgedeckt zu haben: Auf den niedergeschlagenen Freiheitskampf der Vorfahren sei eine vollständige Unterwerfung des Landes gefolgt,  Lajos Marschalkó: Gondolatok a könyvtárban, in: Függetlenség, . Januar , S. . Die folgenden Zitate entstammen diesem Artikel.



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die bis in die Gegenwart reiche. In der »Stille des Leseraums« höre Marschalkó die Stimme von Győző Istóczy und anderen »ungarischen Sehern«, die »aus einer Ferne von sechzig Jahren« die kommende Unterwerfung des Landes prophezeiten. All diese Gefühle, die er in seinem Text inszeniert – Bewunderung der Vorfahren und Erschütterung über ihr Schicksal, Begeisterung und Ehrgefühl gegenüber der eigenen »Rasse«, schließlich Erschrecken über die aufgedeckte »Wahrheit« –, werden durch die »Unvoreingenommenheit« legitimiert, die die Handschriftensammlung der Nationalbibliothek, wo sich der Nachlass noch heute befindet, als wissenschaftliche Institution bewirken und sicherstellen sollte. Als angesehener Hüter des nationalen Gedächtnisses sollte die Bibliothek dem Befund besonderes Gewicht und die Aura der Wissenschaftlichkeit verleihen. Mit der Kulisse der Nationalbibliothek im Hintergrund entwarf Marschalkó eine emotionale Lern- und Lehrsituation, in der Aneignungsakte antijüdischer Gefühle vorgeführt werden. In einem anderen Lesebericht aus demselben Jahr stellt Marschalkó ein mit »kühler Sachlichkeit« verfasstes Buch vor, Die Literatur der Judenfrage in Ungarn des Herausgebers der Zeitung Függetlenség, Mihály KolosváryBorcsa. Neben einer ausführlichen Bibliografie zur »Judenfrage« mit über dreitausend Einträgen enthält das Buch eine geschichtliche Einführung sowie Vorschläge zur »Entjudung« der ungarischen Kultur. Einer der Gründe jedoch, warum sich dieses Buch als so wirkmächtig erwies und ein Klassiker der antisemitischen Literatur wurde, war sein Schreibstil, der darauf abzielte, die ohnehin ziemlich brüchige Bereitschaft nichtjüdischer Ungarn, ungarische Juden als Mitbürger zu betrachten, zu unterminieren. Das Buch sprach im Ton des ungläubigen Erstaunens über die gesellschaftliche Integration der Juden und legte nahe, dass jeder, der einmal nüchtern die »seltsame und unangenehme Fremdheit« der »jüdischen Rasse« anschaue, sich wundern solle, wie man Juden je als ungarisch anerkennen konnte. Dass man jedoch nicht imstande war, die Fremdheit der Juden richtig einzuschätzen, erkläre sich daraus, dass die ungarische Nation in der Folge der jüdischen Emanzipation »einen erstaunlichen Wandel durchlaufen [habe]: Sie hat ihr geschichtliches Bewusstsein verloren.« Das Buch decke damit einen (un)heimlichen  Vgl. OS zK Kt (Ungarische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung), Oct. Hung .  Mihály Kolosváry-Borcsa: A zsidókérdés magyarországi irodalma, Budapest , S. .  Ebd., S. . Hervorhebung im Original.



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Wandel auf: »Wann auch immer dieser Angriff auf unser geistiges Leben einsetzte«, die Ungarn haben es nicht gemerkt. In der »kühlen Sachlichkeit« des Buches schwingt ein apokalyptischer Ton mit, mit dem der Autor eine Krisensituation ankündigt. Es geht ja um die Verlust des Selbstbewusstseins: Wir können die Fremdheit der Anderen nicht mehr erkennen, weil wir nicht mehr wissen, wer wir waren und wer wir sind. Die Lektüre des Buches biete die »entsetzliche Einsicht«, dass man erst aus der »grundlosen Tiefe« entfremdeter Kultur und geschichtlicher Unwissenheit »emporsteigen« müsse, um seine eigene Kultur und Geschichte wiedergewinnen zu können. In dem erschreckenden Moment der Selbsterkenntnis erscheint die Überwindung der Selbstentfremdung als heroische Aufgabe. Die nationale Vergangenheit sei ein »versunkenes Atlantis«, sagt Marschalkó, das aus der Tiefe der Vergessenheit erst »emportauchen« soll. Die Einsicht in die »ungeahnten Tiefen« der Selbstentfremdung ist überwältigend – aber dadurch kann man auch seine eigene Größe oder Überlegenheit erfahren. Dies ist letztendlich das Emotionspotenzial des Erhabenen: Der Genuss, den das Erhabene bereitet, kommt aus dem imaginären Moment der Überwindung von etwas uns Überlegenem. Folglich ist auch das Bild des Anderen mit dem Erhabenen verbunden: in diesem Fall mit dem Meer, das irgendwann Atlantis überflutete. Marschalkó verwies wiederholt auf das »enorme Buchstabenmeer der jüdischen Literatur« und das »uferlose Buchstabenmeer des Talmuds« aus dem »der Hass gegen das Christentum« fließe. Dabei sollte das Jüdische sowohl das Erhabene als auch das Abscheuliche in sich vereinen: Das Judentum sei das uferlose Meer, das das menschliche Fassungsvermögen übersteige, aber auch die dichte »Ablagerung«, die die Flut in der Landschaft nationaler Kultur hinterlassen habe.

 Ebd., S.  f. Hervorhebung im Original.  Lajos Marschalkó: Atlantisz harangoz, in: Függetlenség, . Mai , S. . Siehe auch Ders.: Feltárul a múlt, in: Függetlenség, . Januar , S. .  Ebd.  Lajos Marschalkó: Magyar nagypéntek, in: Függetlenség, . April , S. ; Ders.: A magyar szellem felszabadítása, in: Függetlenség, . April , S. ; sowie Ders.: A zsidók keresztény gyűlöletének ősi alapja, in: Az ország, . März , S. .  Lajos Marschalkó: Atlantisz harangoz, in: Függetlenség, . Mai , S. .



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Auf dem Weg zum »entjudeten« Selbst Am . Juni  besuchte Marschalkó das Büro des neuen Regierungsbeauftragten für Presse, Rundfunk und Verlagswesen, Mihály Kolosváry-Borcsa. Seit seiner Ernennung nach dem . März  arbeitete Kolosváry-Borcsa daran, das Programm zu implementieren, das er in der Literatur der Judenfrage in Ungarn im Jahr zuvor entworfen hatte. In seinem Büro konnte Marschalkó die Dokumente einsehen, die die Bibliotheken aufgrund eines Erlasses über ihre Bestände von jüdisch eingeordneten Autoren zusammenstellen und einreichen mussten. Am . April, am Tag der Veröffentlichung des Erlasses, hatte Marschalkó einen Artikel unter dem Titel »Die Befreiung des ungarischen Geistes« veröffentlicht, in dem er seine Hoffnung äußerte, dass »bald das gesamte Buchstabenmeer jüdischer Literatur […], die den ungarischen Geist ein für allemal verschluckt zu haben scheint, verschwinden wird«. Jetzt, als er einige Wochen später im Büro des Regierungsbeauftragten saß und die Listen durchblätterte, konnte er feststellen, dass »zunächst ungefähr eine halbe Million Bücher zu vernichten« waren. Zwei Wochen später, am . Juni, wurden die Bücher jüdischer Autoren in einen außerhalb der Stadt liegenden Papierbetrieb geliefert, wo Kolosváry-Borcsa in einer feierlichen Zeremonie das erste Buch in die Papiermaschine warf. Die Presse berichtete ausführlich über den Verarbeitungsprozess und übersetzte die technischen Vorgänge in eine metaphorische Sprache, die die Bedeutung des Ereignisses vermitteln konnte. »Das jüdische Buch«, schrieb man, habe jetzt »seine Kraft verloren« und sei »in hilfloses Material verwandelt«. Die Papiermaschine habe jeden Unterschied zwischen den einzelnen Autoren aufgehoben und aus jedem »die gleiche graue Masse« hergestellt, die dann am Ende der Wiederverarbeitung als »weißes Papier auf dem Tisch des ungarischen Schriftstellers« erscheinen sollte. Die Papiermaschinen sollten nicht nur vernichten, sondern auch etwas erschaffen: neues Papier, eine neue Kultur und eine neue Gemeinschaft. Presseberichte forderten die Leser zur Selbstbeobachtung und Selbstprüfung auf und mahnten, der »Verwandlungsprozess« wäre erst dann abgeschlossen, wenn die »giftigen Buchstaben« nicht nur aus dem »besudelten Papier«, sondern auch aus  Lajos Marschalkó: A magyar szellem felszabadítása, in: Függetlenség, . April , S. .  Lajos Marschalkó: Mi kerül bele a nagy papírzúzó malomba?, in: Egyedül vagyunk, . Juni , S. .  Függetlenség, . Juni , S. ; siehe auch Egyedül vagyunk, . Juni , S. .



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»dem ungarischen Geist und der Tiefe der Seele« ausgelaugt würden. Kurz, die Büchervernichtung stellte auch eine Technologie des Selbst dar. In diesem Sinne erinnerte Zoltán Bosnyák die Zuhörer eines Rundfunkbeitrags im August , »die seelische und moralische Entjudung« ließe sich nicht durch rechtliche Maßnahmen vollständig verwirklichen, sondern müsse »durch die Gesellschaft an sich selbst vollzogen werden«. Der Beitrag war Teil einer Vortragsreihe, die der Leiter des Instituts für die Erforschung der Judenfrage während der Deportationen ungarischer Juden im Frühling und Sommer  im ungarischen Rundfunk hielt. Die Vortragsreihe behandelte die »jüdische Herrschaft« in Ungarn und war mit ihren insgesamt  Sendungen das längste kontinuierliche Rundfunkprogramm, das bis dahin in Ungarn produziert wurde. In einer Vorlesung über »Die Aufgaben der Gesellschaft in der Lösung der Judenfrage« stellte Bosnyák fest, dass »eine wirkliche Lösung der Judenfrage« nicht möglich sei, »solange wir uns nicht in geistiger und seelischer Hinsicht vom jüdischen Einfluss befreien«. Dies sei schwieriger als die gesetzliche »Lösung der Judenfrage«, weil »wir hier gegen uns selbst eine strenge und unerbittliche Untersuchung durchführen müssen«. In einem »entjudeten« Sender-Empfänger-System, von dem ungarische Juden sowohl von der Sendung als auch vom Empfang von Rundfunkprogrammen gesetzlich abgeschaltet waren, wurden die Zuhörer aufgefordert, unerbittlich, also emotionslos, zu sein – auch gegenüber dem »Jüdischen« in sich selbst. »Verjudet« zu sein galt zweifellos als beschämend. Die »jüdische Eroberung« hingegen wurde als Ungerechtigkeit betrachtet, die den gutgläubigen Ungarn widerfahren sei und die – anders als das Schamgefühl – das moralische Selbstgefühl nicht untergraben, sondern bestärken sollte. Die Niederlage erkläre sich daraus, dass »wir uns der Grundprinzipien, Gesetze und Methoden des Rassenkampfes […] nicht im mindesten bewusst waren. Es ist erstaunlich, wie gutgläubig die Öffentlichkeit in Ungarn die liberalen Lehren gegenüber den Juden und der Judenfrage hinnahm.« Das Gefühl, »besiegt« zu sein, kann vererbt werden, weil  Függetlenség, . Juni , S. .  MNL OL (Ungarisches Staatsarchiv) K-/, S. . Hervorhebung Z. K.  Zoltán Bosnyák: A rádió és a Zsidókérdéskutató Intézet, in: Rádióélet, . Juni , S. -; sowie Magyar Rádió Újság, . Juli , S. .  MNL OL K-/, S. .  Vgl. Zsuzsa Boros: A Magyar Rádió a német megszállás és a nyilas uralom idején, in: Tanulmányok a Magyar Rádió történetéből, -, hrsg. von Tibor Frank, Budapest , S. .  MNL OL K-/, S. .



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es nicht beschämend ist. Im Gegenteil: Es ist edel genug, um es von den Vorfahren überliefert zu bekommen und im Moment des »Sieges« wieder heraufzubeschwören. Anders als das Schamgefühl erfordert es moralische und materielle Genugtuung. Sowohl in der mündlichen als auch der schriftlichen Überlieferung machten diese Texte ihrem Publikum ein komplexes Gefühlsangebot, in dem sich Nüchternheit und Erstaunen, Bewunderung und Begeisterung, Erschrecken und Empörung, Angst und Verzweiflung, Freude und Feierlichkeit, Ehr- und Schamgefühl, Aufrichtigkeit und Unerbittlichkeit miteinander verwoben. Die Herstellung antisemitischer Subjektkonstruktionen verlangte diese affektive Komplexität, welche die eindimensionale Sprache des Hasses an Effektivität weit übertrifft. Andererseits waren Hass, Verachtung und Abscheu grundlegend für die emotionale Ökonomie dieser Texte – aber auch die Gefühls- und Mitleidslosigkeit gegenüber den Juden. Für die jüdischen Autoren, bemerkte Marschalkó im Zusammenhang mit der Zerstörung jüdischer Bücher, sei »am vernichtendsten, dass man sie nicht einmal vermissen wird«. Die Auferstehung der Märtyrer Zwanzig Jahre später veröffentlichte Marschalkó aus seinem Exil in München eine nostalgische Erinnerung an die deutsche Besetzung Ungarns. In einem Haus »am Rande eines Wohngebiets für Displaced Persons« rief er sich in Erinnerung, wie er am Sonntagvormittag des . März  das Café EMKE in Budapest betrat. Das Café, das in der Regel von zahlreichen jüdischen Gästen frequentiert wurde, war nun leer. Mit einem Hinweis auf die deutschen Truppen, die gerade in die Innenstadt einmarschierten, bemerkte er zu dem Kellner: »Die wirklichen Besatzer haben also das Café geräumt.« Neben dem Topos der »jüdischen Herrschaft« spielte seine Bemerkung auf das alte, herabwürdigende Bild des ängstlichen Juden an und sollte das eigene Macht- und Überlegenheitsgefühl zum Ausdruck bringen: »Wir hingegen«, schrieb er, »haben nichts zu befürchten.« Auf einer anderen Ebene kann seine Bemerkung auch als Übertragungsmechanismus gedeutet werden, der Gefühle, die nicht ausdrückbar waren, transponierte. In diesem Fall war es vielleicht  Lajos Marschalkó: A magyar szellem felszabadítása, in: Függetlenség, . April , S. .  Lajos Marschalkó: Az EMKE ablakából, in: Hídfő, . Mai , S. .  Lajos Marschalkó: Ének a búzavirágról, in: Hídfő, . September , S. .



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die Demütigung, die die deutsche Besetzung ausgelöst haben mochte – oder auch die eigene spätere Flucht vor der sowjetischen Armee –, die vom Selbst auf die Anderen, die Juden, übertragen werden musste. In dem leeren Café, erinnerte sich Marschalkó, setzte er sich an einen Tisch am Fenster, aus dem heraus er die deutschen Truppen vorbeimarschieren sah. »Himmelhohe SS -Jungen«, schrieb er voller Bewunderung, fuhren durch die Innenstadt zum Burgpalast in Buda, dem damaligen politischen Machtzentrum Ungarns. Mit dem Dampf des Kaffees tauchten Erinnerungen aus älteren Zeiten wieder auf. , erinnerte er sich, auf der anderen Seite der Straße, im Café New York, feierten jüdische Intellektuelle das Ende des »historischen Ungarns«. Damals hätten die beiden »jüdischen Aufstände«, wie er die Revolutionen von  und  nannte, zum Friedensvertrag von Trianon und damit zum Zerfall des Landes geführt. Somit stellt das »geräumte« Café EMKE ein Gegenbild zur ehemaligen jüdischen »Siegesfreude« dar, ein erinnertes oder erfundenes Bild der Vergeltung für eine angebliche, erlernte Demütigung. Während er die deutschen Truppen betrachtete, beschwor er eine Prozession »ungarischer Märtyrer« herauf, nationaler Helden »antijüdischer Aufstände«, die jetzt wieder auferstanden seien und hinter den deutschen Truppen in die »verjudete Hauptstadt« einmarschierten. In einer auditiven Halluzination glaubte er, die Stimme von Győző Istóczy zu hören, die plötzlich die Geräusche der Großstadt verdrängte: »Anstatt der Mademoiselles aus der Királystraße«, dem alten jüdischen Viertel hinter dem Café, »erfüllt jetzt seine Stimme das EMKE «. In seiner Rückerinnerung ersetzt eine authentische ungarische Gestalt die »verjudete« Gegenwart und verkündet noch einmal die »jüdische Eroberung des Landes«. Wie früher in der Handschriftensammlung der Nationalbibliothek, belehrt ihn nun die imaginäre Begegnung mit den Vorfahren über das »eroberte Volk«. Seine Vorstellung der Prozession, eine Variante des faschistischen Totenkultes, bot dem Leser ein Bild der Kollaboration an, das die nationale Geschichte auf die Seite des »Dritten Reiches« stellte und die Besetzung als Befreiung von »jüdischer Herrschaft« darstellte. In seiner Erinnerung entfaltet sich also eine emotional aufgeladene Szene, in der sich verbalisierbare und unausdrückbare Gefühle mischten – Hass und Verhöhnung, Überlegenheit und Selbstgefälligkeit, aber auch Demütigung, Scham und Ärger. Sich das Café EMKE ohne jüdische Gäste in Erinnerung zu rufen, kann schließlich auch als aggressive Fantasie gedeutet werden, die gegen die vielen Budapester Juden gerich Zum Letzteren siehe Mark Neocleous: The Monstrous and the Dead, Cardiff , S. -.



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tet war, die – im Gegensatz zur Mehrheit der jüdischen Bevölkerung außerhalb der Hauptstadt – den Holocaust überlebt hatten. Für eine radikale Leserschaft, deren Mitglieder seit  oder später im Exil lebten, formulierten Marschalkós Texte normgebende emotionale Verhaltensweisen. Dahinter stand eine neue Gestalt des »besiegten Selbst«, das sich auf die alte antisemitische Lehre und gleichzeitig auf eine neue Märtyrologie berief, die die Emigranten als Opfer des (judeo-)kommunistischen Regimes darstellte. In Országhódítók beschreibt Marschalkó die Geschichte Ungarns zwischen  und  als eine Geschichte »jüdischer Herrschaft«. Das Buch wurde als »Vermächtnis« an ein zukünftiges nationalsozialistisches Ungarn präsentiert: Dieses Buch ist ein Vermächtnis an ein späteres Ungarn […]. Diejenigen, die nach uns kommen […], werden vielleicht keinen Grund mehr haben, die früheren Eroberer des Landes [d. h. die Juden] zu hassen, da diese aus dem Leben der Nation und aus der Ordnung einer freien, national-sozialistischen Gesellschaft von selbst verschwinden werden. […] Wir wollten eine einzige Tatsache klar machen: die Möglichkeit des Zusammenlebens ist weggefallen. Dieses Buch möchte nur zeigen – ohne jedweden Hass –, welchen Weg die jungen Führer eines freien Ungarns, wenn es je eines geben wird, einschlagen sollen, wenn sie eine neue [jüdische] Eroberung des Landes vermeiden wollen […].

Coda »Ungarn, erwachet!«, begrüßte der Schriftsteller und Politiker István Csurka seine Zuhörerschaft in einer Radiosendung am . Januar , um sie vor der kommenden Machtübernahme der Juden zu warnen. István Csurka (-), ein erfolgreicher und beliebter Schriftsteller der Kádár-Ära, wurde in den achtziger Jahren zu einem Prominenten der populistischen-nationalistischen Opposition. Seit  war er Mitbegründer und zwischen  und  stellvertretender Vorsitzender der regierenden christlich-konservativen Partei (MDF ) sowie Chefredakteur der damaligen christlich-konservativen Parteizeitschrift, des Ungarischen Forums. Als Verkünder der baldigen Machtübernahme kam er somit nicht aus der Peripherie der neu entstehenden neofaschistischen Subkulturen, sondern aus dem politischen Zentrum und dem Kreis der  Marschalkó (Anm. ), S. .



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kulturellen Elite. Seine Rede im ungarischen Rundfunk und die darauffolgende öffentliche Debatte, in der weitere antisemitische Intellektuelle Stellung nahmen, verkündete die Neugründung des politischen Antisemitismus in Ungarn. Mit seiner rechtsradikalen Partei MIÉP , die er im Jahre  nach seinem Austritt aus der Regierungspartei ins Leben rief, wurde Csurka gleichzeitig der einflussreichste Vertreter dieser Politik (bis hin zum Auftritt einer neuen Generation rechtsradikaler Politiker und der Gründung der Partei »Jobbik« im Jahre ). Seine Prophezeiung vom Januar  spiegelte sich bald in apokalyptischen Zeitdiagnosen. Der antisemitische Diskurs, den er mit- und neubegründete, basierte auf der Überzeugung, die politische Wende habe lediglich einen Übergang von einer judeo-kommunistischen zu einer jüdisch-liberalen »Machtergreifung« mit sich gebracht. »Das letzte Ziel ist die Vernichtung der Ungarn«, verkündete er in einer späteren Rede. In dieser Vorstellung lässt sich das Wiederaufleben der alten Fantasie »jüdischer Weltherrschaft« und eine neue Variante der »besiegten Nation« erkennen. Diese fixen Ideen prägten den Antisemitismus rechtsradikaler Politiker und neofaschistischer Subkulturen gleichermaßen. Noch der jüngste Angriff auf George Soros im Rahmen der seit  laufenden Anti-Migrations-Kampagne der ungarischen Regierung sowie Viktor Orbáns Rede über dunkle »Hintergrundsmächte« zeugen vom ungebrochenen Emotionalisierungsspotenzial dieser Vorstellungen.

 S. András Kovács: Stranger at Hand: Antisemitic Prejudices in Post-communist Hungary, Leiden , S. -.  István Csurka: Mementó (), Quelle: http://www.eredetimiep.hu.

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Autorinnen und Autoren B A ist Professorin für Europäische Geschichte des . Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach einer Lehrstuhlvertretung nahm sie  den Ruf an die Humboldt-Universität zu Berlin an. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Deutschlands und Spaniens im . und . Jahrhundert, Religions- und Monarchiegeschichte sowie Emotionsgeschichte. Sie ist Principal Investigator an der Graduiertenschule »Moral Economies of Modern Societies« am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Ihre Emotionsgeschichte des katalanischen Nationalismus im . und . Jahrhundert erscheint in diesem Frühjahr. Zu ihren Publikationen gehören: Der Traum der Vernunft und seine Monster. Goyas Perspektiven auf das . Jahrhundert, Berlin ; (Hrsg.): Durchbruch der Moderne? Neue Perspektiven auf das . Jahrhundert, Frankfurt am Main ; »Das Zeitalter des Gefühls«? Zur Relevanz von Emotionen im . Jahrhundert, in: ebd., S. -. H-J H ist Privatdozent an der RWTH Aachen und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Jüdische Studien an der Universität Basel. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören neben der Neueren deutschen Literatur seit der Aufklärung u. a. die deutschsprachig-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Literaturtheorie und Allgemeine Literaturwissenschaft, historische Antisemitismusforschung, Text-Bild-Verhältnisse, kulturelle Übersetzung, Wissensgeschichte, Modernekritik und antiemanzipatorisches Denken. Neuere Publikationen: (mit Olaf Kistenmacher; Hrsg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II . Antisemitismus in Text und Bild – Zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz (= Europäischjüdische Studien Beiträge, Bd. ), Berlin/Boston ; (mit Bettina Bannasch; Hrsg.): Darstellen, Vermitteln, Aneignen. Gegenwärtige Reflexionen des Holocaust (= Poetik, Exegese und Narrative. Studien zur jüdischen Literatur und Kunst, Bd. ), Göttingen ; Narrative des Neuen Menschen – Vom Versprechen einer besseren Welt (= Relationen, Bd. ), Berlin . U J ist Historiker, Heisenberg-Professor der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie stellvertretender Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Neben den Forschungsfeldern der Wissenschaftsgeschichte, der Psycho-Wissenschaften, der transnationalen Geschichte sowie der modernen Emotionsgeschichte beschäftigt er sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte sowie mit Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart. Zu seinen Publikationen zählen: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im . Jahrhundert, Göttingen ; Recht und Politik (= Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte),

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Paderborn ; Zornpolitik, Berlin ; Wie die Couch nach Kalkutta kam – Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse, Berlin . Uffa Jensen ist Mitglied der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des LeoBaeck-Instituts in der Bundesrepublik Deutschland. Z K ist Kulturwissenschaftler und arbeitet vor allem auf dem Gebiet der Erinnerungsforschung. Er wurde im Fach Komparatistik an der ELTE (Budapest) promoviert und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunsttheorie und kuratorische Studien an der Universität der Künste in Budapest. Er war Gastwissenschaftler an verschiedenen Forschungsinstituten, darunter am Center for Jewish History in New York, am United States Holocaust Memorial Museum in Washington, DC , am Yad Vashem International Institute for Holocaust Research in Jerusalem, am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa e. V. in Leipzig und zuletzt am Institute for Advanced Study an der Central European University in Budapest. Seit  ist er Alexander von HumboldtForschungsstipendiat am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Sein Buch Agents of Liberation: Holocaust Memory in Contemporary Art and Documentary Film erschien . K K ist Feodor Lynen-Fellow an der Universität Kopenhagen und forscht momentan zu Politiken des Rausches in westlichen Alternativkulturen. In seiner Dissertation, die  unter dem Titel Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, er-er Jahre erschienen ist, untersucht er den Zusammenhang zwischen vergeschlechtlichten Krisendiskursen und der Genese eines modernen Antisemitismus im US -Süden. Er ist zudem Verfasser zahlreicher Artikel, die sich mit dem Konnex von Geschlecht, Sexualität und Antisemitismus beschäftigen; zuletzt: Oppression by Orgasm. Pornography and Antisemitism in Far-Right Discourses in the United States since the s, in: Studies in American Jewish Literature / (), S. -. I   L ist Professorin (a. D.) für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und (seit Oktober ) Senior Advisor am Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, der Literatur des Exils und der Shoah, der Literaturgeschichte weiblicher Autorschaft sowie der Thomas-Mann-Familie. Letzte Publikationen: Zwischen Dialogangebot und Versöhnungsdiktat. Jüdisch-deutsche Begegnungen in Literatur und Theater der Nachkriegszeit, in: Stefanie Fischer/Nathanael Riemer/Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.): Juden und Nicht-Juden nach der Shoah. Begegnungen in Deutschland, Berlin/Boston , S. -; Buddenbrooks am Schwarzen Meer. Vladimir Jabotinskys

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Odessa-Roman Die Fünf, in: Porównania / (), S. -; Manès Sperber: Literarische und politische Diagnosen eines intellektuellen Grenzgängers, in: Kerstin Schoor/Ievgenia Voloshchuk/Borys Bigun (Hrsg.): Blonzhende Stern. Jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der Ukraine als Grenzgänger zwischen den Kulturen in Ost und West, Göttingen , S. -. J R ist Literaturwissenschaftlerin und Soziologin und seit  wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Seit  ist sie ferner wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung sowie bis  an der TU Darmstadt. Ihre Arbeits- und Publikationsschwerpunkte sind die Exil- und Antisemitismusforschung. Letzte Publikationen: »Ich fühl’ mich so verweigert«: Das Ressentiment als ein Modus des Umgangs mit negativen Befindlichkeiten, in: Monika Eigmüller/Nikola Tietze (Hrsg.): Ungleichheitskonflikte in Europa. Jenseits von Klasse und Nation, Wiesbaden , S. -; Die passenden Bälle zuspielen, die unpassenden abwehren: Intersubjektive Ressentiment-Kommunikation im »Raum der Gründe«, in: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik. Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse / (), S. -. S S ist apl. Professor für Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, Visiting Fellow am Centre for the Study of Democratic Cultures and Politics der Rijksuniversiteit Groningen und derzeit Ansprechpartner des Landes Berlin für Antisemitismus. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Theorie und Gesellschaftstheorie, Politische Soziologie und Demokratieforschung. Letzte Buchveröffentlichungen: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Leipzig ; Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster, . überarb. u. erg. Aufl., Weinheim ; (Hrsg.): Schule und Antisemitismus. Politische Bestandsaufnahme und pädagogische Handlungsmöglichkeiten, Weinheim . S S-S ist Historikerin und seit  Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, seit  ist sie außerdem Ko-Direktorin des Selma Stern Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und seit  Leiterin des Standorts Berlin des Forschungszentrums Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind deutsche und jüdische Geschichte im . und . Jahrhundert, Geschlechtergeschichte und spanische Geschichte. Zu ihren Publikationen gehören: (Hrsg. mit Noam Zadoff/Mirjam Zadoff/Heike Paul): Our Years After: Antisemitism and Racism in Trump’s America, München ; Gender and

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the Politics of Anti-Semitism, in: American Historical Review  (), S. -; Gefühle gegen Juden. Die Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus, in: Geschichte und Gesellschaft  (), S. - (mit Uffa Jensen); Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte: Geschlecht und Differenz, Paderborn . J S ist Literaturwissenschaftler und Privatdozent an der Philipps-Universität Marburg. Von - war er DAAD Associate Professor of German Studies an der University of Calgary, Alberta, Kanada und  Junior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald, mit dem Monografie-Projekt »Moderner literarischer Antisemitismus. Emotionalisierungsstrategien judenfeindlicher Texte im . Jahrhundert«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Emotionswissenschaft, Literaturvermittlung in den Medien und literarischer Antisemitismus. Publikationen u. a.: »Kindermörder Israel«. Die Affektpolitik des literarischen Antisemitismus und der Judenhass der Gegenwart, in: Michael Hofmann/Iulia-Karin Patrut/ Hans-Peter Klemme (Hrsg.), unter Mitarbeit von Miriam Esau: Der Neue Weltengarten. Jahrbuch für Literatur und Interkulturalität / (Abt. III , »Erinnerung und Emotion. Postkoloniale und geschlechtertheoretische Perspektiven«), Hannover , S. -; Flüchtling Shylock. Antisemitismuskritik und Empathielenkung in Walter Mehrings Drama »Der Kaufmann von Berlin«, in: Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hrsg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II . Antisemitismus in Text und Bild – zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz, Berlin/Boston , S. -.

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