Einführung in die fantastische Literatur (1975) 3548031919

In seinem Werk "Einführung in die fantastische Literatur" (1970) beschäftigt sich Tzvetan Todorov mit der Gatt

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Einführung in die fantastische Literatur (1975)
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Table of contents :
• Die literarischen Gattungen
• Definition des Fantastischen
• Das Unheimliche und das Wunderbare
• Die Poesie und die Allegorie
• Der fantastische Diskurs
• Die Themen des Fantastischen: Einleitung
• Die ich-Themen
• Die du-Themen
• Die Themen des Fantastischen: Schluß
• Literatur und Fantastisches
• Bibliographie

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Ullstein Buch Nr. 3191 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M — Berlin — Wien Titel der französischen Originalausgabe: Introduction à la littérature fantastique übersetzt von Karin Kersten, Senta Metz und Caroline Neubaur Aus der Schriftenreihe »Literatur als Kunst« Herausgegeben von Walter Höllerer

Umschlagentwurf: Kurt Weidemann Alle Rechte Vorbehalten Mit freundlicher Genehmigung des Carl Hanser Verlag, München © Editions du Seuil, Paris, 1970 Deutsche Ausgabe © 1972 by Carl Hanser Verlag, München Printed in Germany 1975 Gesamtherstellung: Augsburger Druck- und Verlagshaus GmbH ISBN 3 548 03191 9

Tzvetan Todorov Einführung in die fantastische Literatur

ein Ullstein Buch

Inhalt Die literarischen Gattungen 7 Definition des Fantastischen 25 Das Unheimliche und das Wunderbare 40 Die Poesie und die Allegorie 55 Der fantastische Diskurs 69 Die Themen des Fantastischen: Einleitung 83 Die ich-Themen 97 Die du-Themen 112 Die Themen des Fantastischen: Schluß 126 Literatur und Fantastisches 140 Bibliographie 157

Die literarischen Gattungen Die Beschäftigung mit der fantastischen Literatur verlangt, daß man weiß, was eine »literarische Gattung« ist. – Allgemeine Betrachtung über die Gat­ tungen. – Eine zeitgenössische Gattungstheorie: Northrop Fryes Literatur­ theorie. – Seine Gattungsklassifikationen. – Kritik an Frye. – Frye und die strukturalistischen Prinzipien. – Bilanz der positiven Ergebnisse. – Melancho­ lische Schlußbemerkung.

Der Ausdruck »fantastische Literatur« bezieht sich auf eine Variante der Literatur oder, wie man gewöhnlich sagt, auf eine literarische Gattung. Literarische Werke auf ihre Gattung hin zu untersuchen, ist ein Unternehmen für sich. Es kann uns nicht um das Spezifische einzel­ ner Werke gehen, sondern wir müssen die Regel aufdecken, die in mehreren Texten zugleich wirksam ist und uns erlaubt, ihnen die Be­ zeichnung »fantastische Werke« beizulegen. Es ist etwas ganz anderes, La Peau de Chagrin unter dem Gesichtspunkt der fantastischen Gattung zu betrachten, als das Buch für sich oder im Zusammenhang des Balzacschen Gesamtwerks oder im Kontext der zeitgenössischen Literatur zu untersuchen. Der Gattungsbegriff ist also grundlegend für die nach­ folgende Diskussion. Deshalb müssen wir damit beginnen, diesen Begriff klarer zu machen und zu präzisieren, auch wenn dieser Schritt uns scheinbar vom Fantastischen selbst entfernt. Die Vorstellung von der Gattung wirft mehrere Fragen auf; glück­ licherweise erübrigen sich einige davon sofort, wenn man sie ausdrück­ lich formuliert. Hier die erste: ist es legitim, über eine Gattung zu diskutieren, ohne daß man alle Werke, aus denen sie sich konstituiert, untersucht (oder doch wenigstens gelesen) hat? Der akademische For­ scher, der uns diese Frage stellt, könnte hinzufügen, daß das Verzeichnis der fantastischen Literatur Tausende von Titeln zählt. Es fehlt nicht viel, und man hat das Bild des emsigen Studenten vor Augen, der, begraben unter den Büchern, die er lesen muß – täglich etwa drei – von der Vorstellung geplagt wird, daß unablässig neue Texte geschrieben werden und daß es ihm zweifellos nie gelingen wird, sie alle zu bewälti­ gen. Es ist jedoch eines der Hauptmerkmale wissenschaftlichen Vor­ gehens, daß die Beschreibung eines Phänomens nicht die Beobachtung sämtlicher Einzelmomente voraussetzt; es ist vielmehr ein deduktives Verfahren: man stellt eine verhältnismäßig begrenzte Anzahl von Fällen zusammen, leitet davon eine allgemeine Hypothese ab und veri­ 7

fiziert diese an anderen Werken. Dabei wird sie korrigiert (oder ver­ worfen). Auch wenn die Anzahl der untersuchten Phänomene groß wäre, dürften wir keine allgemeinen Gesetze aus ihnen ableiten; nicht die Quantität der Beobachtungen ist ausschlaggebend, sondern einzig und allein die logische Kohärenz der Theorie. Karl Popper schreibt: »Nun ist es aber nichts weniger als selbstverständlich, daß wir logisch berechtigt sein sollen, von besonderen Sätzen, und seien es noch so viele, auf allgemeine Sätze zu schließen. Ein solcher Schluß kann sich ja immer als falsch erweisen: bekanntlich berechtigen uns noch so viele Beobach­ tungen von weißen Schwänen nicht zu dem Satz, daß alle Schwäne weiß sind« (p. 3).* Dagegen wäre eine Hypothese, die sich auf die Beobachtung einer beschränkten Anzahl von Schwänen gründete, die uns aber sagte, daß ihre Weiße die Folge einer organischen Besonder­ heit sei, vollkommen legitim. Um von den Schwänen auf die Romane zurückzukommen: diese allgemein verbindliche wissenschaftliche Wahr­ heit hat nicht nur für die Erforschung der Gattungen Gültigkeit, son­ dern ebenso für die Untersuchung des Gesamtwerks eines Autors oder auch für die Erforschung einer Epoche usw. Überlassen wir also den Vorsatz, erschöpfend sein zu wollen, denen, die sich damit begnügen. Im Zusammenhang mit dem Abstraktionsniveau, das diese oder jene Gattung erreicht, ergibt sich eine zweite Frage: gibt es nur einige Gattungen (z.B. die lyrische, die epische, die dramatische) oder sehr viele? Ist die Zahl der Gattungen begrenzt oder unbegrenzt? Die russi­ schen Formalisten neigten zu einer relativistischen Lösung; Tomaschew­ ski schrieb: »Die Werke verteilen sich auf umfangreiche Klassen, die sich dann ihrerseits wieder in Typen und Arten gliedern. Wenn wir auf der Stufenleiter der Gattungen nach unten gehen, kommen wir folge­ richtig von den abstrakten Klassen zu den konkreten historischen Unterscheidungen (Byrons Gedicht, Tschechows Novelle, Balzacs Ro­ man, die geistliche Ode, die proletarische Lyrik) und sogar zu den ein­ zelnen Werken« (p. 306-307). Dieser Satz stellt eigentlich mehr Pro­ bleme, als er löst, und wir werden bald darauf zurüchkommen müssen; die Vorstellung jedoch, daß die Gattungen auf unterschiedlichen Ab­ straktionsniveaus existieren und daß sich dieser Begriff inhaltlich von dem Standpunkt her bestimmt, den man gewählt hat, kann man schon jetzt akzeptieren. Ein drittes Problem gehört zur Ästhetik. Von diesem Standpunkt aus * Die vollständigen Angaben zu den zitierten Werken finden sich am Ende des Buches. Sie sind alphabetisch angeordnet. Sind mehrere Werke vom selben Autor auf­ geführt, so erscheint im Text, bisweilen in abgekürzter Form, der Hinweis auf den Titel des zitierten Werkes.

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sagt man: es ist sinnlos, von Gattungen (Tragödie, Komödie usw.) zu sprechen, denn das Werk ist seinem Wesen nach einmalig, einzigartig, sein Wert liegt in dem, worin es unnachahmbar, von allen anderen Werken verschieden ist und nicht in dem, worin es ihnen gleicht. Wenn ich La Chartreuse de Parme liebe, so nicht, weil es ein Roman (Gattung) ist, sondern weil es ein Roman ist, der sich von allen anderen unter­ scheidet (individuelles Werk). Dieser Einwand läßt eine romantische Haltung gegenüber dem zu behandelnden Gegenstand durchscheinen. Ein derartiger Standpunkt ist nicht eigentlich falsch; er ist nur un­ angemessen. Man kann sehr wohl ein Werk aus diesem oder jenem Grund mögen, aber dadurch wird es noch nicht als Gegenstand einer Untersuchung definiert. Das Motiv für eine wissenschaftliche Arbeit darf nicht die Form bestimmen, die diese in der Folge annimmt. Das Problem des Ästhetischen im allgemeinen werden wir hier nicht er­ örtern; nicht, daß es nicht bestünde, aber komplex, wie es ist, über­ schreitet es bei weitem unsere gegenwärtigen Möglichkeiten. Nun kann allerdings der zuletzt angeführte Einwand in anderen Termini formuliert werden, und dann ist er sehr viel schwieriger von der Hand zu weisen. Der Begriff der Gattung (oder der Spezies) ist den Naturwissenschaften entlehnt. Nicht zufällig hat übrigens Propp, der Pionier der Strukturanalyse der Erzählung, Analogien aus der Botanik oder der Zoologie verwendet. Es besteht allerdings ein qualita­ tiver Unterschied hinsichtlich der Bedeutung der Termini »Gattung« und »Exemplar«, je nachdem, ob sie auf natürliche Lebewesen oder auf Werke des Geistes angewendet werden. Im ersten Fall modifiziert das Erscheinen eines neuen Exemplars nicht unmittelbar die Charakteristika der Spezies; folglich lassen sich die Eigenarten jenes Exemplars gänzlich von der Formel der Spezies ableiten. Kennt man die Spezies Tiger, kann man von ihr die Eigenarten jedes einzelnen Tigers deduzieren; die Geburt eines neuen Tigers ändert die Spezies in ihrer Definition nicht. Die Einwirkung des individuellen Organismus auf die Entwicklung der Spezies geht so langsam vonstatten, daß man in praxi davon absehen kann. Dasselbe gilt (wenn auch in geringerem Maße) für die Aussagen einer bestimmten Sprache: ein individueller Satz ändert die Grammatik nicht, und es muß möglich sein, aus ihr seine Eigenarten abzuleiten. Auf dem Gebiet der Kunst und auch der Wissenschaft verhält es sich anders. Hier folg: die Entwicklung einem ganz anderen Rhythmus: jedes Werk ändert die Gesamtheit der möglichen Werke, jedes neue Beispiel ändert die Spezies. Man könnte sagen, daß wir uns einer Sprache gegenüber sehen, deren Aussagen im Moment des Aussagens 9

sämtlich agrammatisch sind. Genauer gesagt: wir erkennen einem Text nur das Recht zu, einen Platz in der Geschichte der Literatur oder der Wissenschaft einzunehmen, sofern er eine Veränderung der Vorstellung erbringt, die man sich bis zu diesem Zeitpunkt von dem einen oder dem anderen dieser beiden Bereiche gemacht hat. Die Texte, die diese Be­ dingung nicht erfüllen, gehen automatisch in eine andere Kategorie über: die einen in die der sogenannten Trivial- oder Massenliteratur, die anderen in die der Lehrbücher. (Hier drängt sich ein Vergleich auf, der zwischen dem handwerklichen Produkt, dem einmaligen Exemplar einerseits und der Fließbandarbeit, der mechanisch gefertigten Stereo­ type andererseits). Um auf unseren Gegenstand zurückzukommen, allein die Massenliteratur (Kriminalromane, Fortsetzungsromane, Science-Fiction usw.) sollte den Begriff Gattung für sich in Anspruch nehmen; auf die im eigentlichen Sinne literarischen Texte wäre er unanwendbar. Ein solcher Standpunkt verpflichtet uns, unsere eigenen theoretischen Grundlagen darzulegen. Gegenüber jedem Text, der der »Literatur« angehört, muß man eine doppelte Forderung berücksichtigen. Erstens darf man nicht übersehen, daß er Eigenarten manifestiert, die ihm mit der Gruppe der literarischen Texte oder mit einer der Untergruppen der Literatur (die man genauer als Gattung bezeichnen würde) gemein­ sam sind. Es ist heute schwer vorstellbar, die These zu verteidigen, nach der an einem Werk alles individuell sein soll, es ein noch nie dagewe­ senes Produkt einer persönlichen Inspiration sein muß, verfaßt ohne jeden Bezug zu den Werken der Vergangenheit. Zweitens ist ein Text nicht nur das Produkt einer vorgegebenen Kombinatorik (einer Kom­ binatorik, die sich aus den virtuellen literarischen Eigenarten konsti­ tuiert); er ist auch eine Transformation dieser Kombinatorik. Man kann also jetzt schon sagen, daß jede literarische Untersuchung, ob man es will oder nicht, an einer doppelten Bewegung teilhat: der des Werks in Richtung auf die Literatur (oder die Gattung), der der Literatur (der Gattung) in Richtung auf das Werk. Dabei ist es ein vollkommen legitimes Verfahren, sich vorübergehend bevorzugt der einen oder anderen Richtung, d. h. der Differenz oder der Ähnlichkeit, zu widmen. Aber da ist noch mehr zu bedenken. Es liegt in der Natur der Sprache selbst, sich in der Abstraktion, im »Gattungshaften«, zu bewegen. Das Individuelle kann nicht in der Sprache existieren, und unsere Formulierung der Besonderheit eines Textes wird automatisch zur Beschreibung einer Gattung, deren einzige Eigentümlichkeit darin besteht, daß das betreffende Werk ihr erstes und einziges Beispiel ist. Einfach aufgrund der Tatsache, daß sie mit Hilfe von Wörtern vor­ 10

genommen wird, ist jede Beschreibung eines Textes die Besch reibung einer Gattung. Dies ist übrigens keine rein theoretische Behauptung; die Literaturgeschichte liefert uns unausgesetzt Beispiele dafür, seit es Epi­ gonen gibt, die das Spezifische eines Originalautors nachahmen. Es kann also keine Rede davon sein, den »Begriff der Gattung zu verwerfen«, wie z. B. Croce es forderte. Das schlösse ja den Verzicht auf die Sprache ein und könnte, per difinitionem, nicht formuliert werden. Es kommt vielmehr darauf an, daß man sich über den Abstrak­ tionsgrad, den man mit einem solchen Begriff erreicht und über das Verhältnis dieser Abstraktion zur tatsächlichen Entwicklung klar wird. Diese Entwicklung wiederum ist einem System von Kategorien ein­ geschrieben, welches sie begründet und gleichzeitig von ihr abhängt. Bleibt noch die Tatsache, daß die Literatur heute die Einteilung in Gattungen aufzugeben scheint. Maurice Blanchot schrieb schon vor zehn Jahren: »Wichtig ist allein das Buch in seinem Sosein, fern allen Gat­ tungsbegriffen, außerhalb aller Einteilungen wie Prosa, Poesie, Roman, Zeugnis, denen es sich nicht einfügen will und denen es die Macht ab­ spricht, seinen Ort festzulegen und seine Form zu bestimmen. Ein Buch gehört nicht mehr einer bestimmten Gattung an; jedes Buch entstammt lediglich der Literatur, als wäre sie aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit im voraus die Wahrerin der Geheimnisse und der Formeln, die allein imstande sind, dem Geschriebenen Buchwirklichkeit zu verleihen« (Le Livre à venir, p. 272 f.). Warum also sich mit überholten Problemen abgeben? Gerard Genette hat diese Frage treffend beantwortet: »Der literarische Diskurs entsteht und entwickelt sich aufgrund von Struk­ turen, die er sogar nur deswegen überschreiten kann, weil er sie, auch heute noch, im Feld seiner Sprache und seiner Schreibweise vorfindet« (Figures II, p. i 5). Überschreitungen kann es erst geben, wenn die Norm fühlbar geworden ist. Es ist im übrigen zu bezweifeln, ob die zeit­ genössische Literatur völlig frei von gattungsmäßigen Unterscheidungen ist, bloß entsprechen diese Unterscheidungen nicht mehr den durch die Literaturtheorien der Vergangenheit überlieferten Begriffen. Natürlich ist man nicht mehr verpflichtet, sich nach ihnen zu richten. Ja, mehr noch, es tritt die Notwendigkeit zutage, abstrakte Kategorien aus­ zuarbeiten, die sich auf die Werke von heute anwenden lassen. All­ gemeiner gesprochen: die Existenz von Gattungen nicht anerkennen, kommt der Behauptung gleich, daß das literarische Werk keine Bezie­ hungen zu schon vorhandenen Werken hat. Die Gattungen sind genau die Relais, an denen das Werk in Beziehung zum Universum der Lite­ ratur tritt. Wir wollen nun nicht länger beliebige Zitate heranziehen. Um einen

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Schritt weiter zu kommen, wählen wir eine zeitgenössische Theorie der Gattungen aus und legen sie einer eingehenden Diskussion zugrunde. Anhand eines Beispiels wird sich um so leichter erkennen lassen, nach welchen positiven Grundsätzen unsere Arbeit sich richten und welche Gefahren sie meiden muß. Das soll allerdings nicht heißen, daß nicht im Laufe unserer Untersuchung aus dieser selbst neue Prinzipien ent­ stehen und nicht an etlichen Punkten unvermutet Klippen auftauchen können. Die Gattungstheorie, die nun im einzelnen diskutiert werden soll, ist die Northrop Fryes, wie er sie vor allem in seiner Analyse der Litera­ turkritik entwickelt hat. Diese Wahl ist nicht willkürlich: Frye nimmt heute einen hervorragenden Platz unter den angelsächsischen Kritikern ein, und sein Werk ist in der Geschichte der Kritik seit dem letzten Krieg ohne Zweifel eines der bemerkenswertesten. Die Analyse der Literaturkritik ist gleichzeitig eine Theorie der Literatur (und damit der Gattungen) und eine Theorie der Kritik. Genauer gesagt, das Buch setzt sich aus zwei Arten von Texten zusammen: die einen sind eher theoretischer Natur (dazu gehören die Einleitung, der Schluß und der zweite Essay, »Ethische Kritik: Symboltheorie«), die anderen eher deskriptiv; und eben in den letzteren wird auch Fryes spezielles System der Gattungen beschrieben. Es läßt sich jedoch nur im Zusammenhang des ganzen Textes verstehen; daher beginnen wir mit dem theoretischen Teil. Seine wesentlichen Kennzeichen sind: 1. Literarische Forschung muß mit der gleichen Ernsthaftigkeit, der gleichen Kompromißlosigkeit betrieben werden, die man in den ande­ ren Wissenschaften an den Tag legt. »Wenn es Kritik gibt, dann muß sie eine Untersuchung der Literatur aufgrund eines Bezugssystems sein, das sich aus einer induktiven Obersicht über den literarischen Bereich herleitet ... Die Kritik könnte doch auch ein wissenschaftliches Element enthalten, was sie einerseits vom literarischen Schmarotzertum, andererseits von einer aufgepfropften kritischen Einstellung unter­ scheidet« (p. 14). 2. Eine Folge dieser ersten Forderung ist die Notwendigkeit, sich in der literarischen Forschung jeglichen Werturteils über die Werke zu ent­ halten. Frye ist in diesem Punkt ziemlich kategorisch; vielleicht könnte man sein Verdikt nuancieren und sagen, daß die Wertung im Bereich der Poetik ihren Platz hat, daß es aber für den Augenblick die Dinge unnötig komplizieren hieße, wollte man sich jetzt darauf einlassen. 3. Das literarische Werk bildet wie die Literatur im allgemeinen ein System. Nichts darin ist dem Zufall überlassen. Oder wie Frye schreibt: 12

»Das erste Postulat eines solchen induktiven Schritts [den er uns zu unternehmen vorschlägt] ist das gleiche wie das jeder Wissenschaft: die Annahme eines Gesamtzusammenhanges« (p. 23). 4. Man muß unterscheiden zwischen Synchronie und Diachronie: die literarische Analyse erfordert, daß man mit synchronischen Schnitten innerhalb der Geschichte vorgeht und dann wieder innerhalb der ab­ getrennten Partien anfängt, das System zu suchen. »Wenn ein Kritiker ein literarisches Werk behandelt, so ist es nur natürlich, daß er es ge­ wissermaßen einfriert, von seiner Bewegung in der Zeit absieht und es als eine Konfiguration von Wörtern betrachtet, in der alle Teile gleich­ zeitig da sind«, schreibt Frye in einem anderen Werk (Fahles, p.21). 5. Der literarische Text steht nicht in einem Referenzverhältnis zur »Welt«, wie oft die Sätze unseres täglichen Sprachgebrauchs, er »reprä­ sentiert« nichts außer sich selbst. Hierin gleicht die Literatur mehr den mathematischen Wissenschaften als der Umgangssprache: der literarische Diskurs kann weder richtig noch falsch sein, er kann nur stimmig sein in bezug auf seine eigenen Prämissen. »Der Dichter, wie der reine Mathematiker, hängt nicht von der Darstellung der Wahrheit als viel­ mehr von der Übereinstimmung mit seinen hypothetischenForderungen ab (p. 78). »Die Literatur ist wie die Mathematik eine Sprache, und eine Sprache an sich vertritt keine Wahrheit, obschon sie die Mittel zur Verfügung stellen kann, eine beliebige Anzahl Wahrheiten auszu­ drücken« (p.353). Genau hierdurch partizipiert der literarische Text an der Tautologie: er bedeutet sich selbst. »... das dichterische Symbol im Verhältnis zum Gedicht [meint] in erster Linie sich selbst« (p. 83). Die Antwort des Dichters auf die Frage, was denn dieses oder jenes Element in seinem Werk bedeute, muß immer lauten: »Ich beabsichtige, daß [es] einen Teil des Stü&es bilden solle« (»I meant it to form a pan of the play«, pp. 86 und 90). 6. Die Literatur entsteht aus der Literatur, nicht aus der Wirklich­ keit, sei diese nun materiell oder psychisch. Jedes literarische Werk ist konventionell. »Dichtung läßt sich nur aus anderen Gedichten machen; Romane aus anderen Romanen« (p. 101). Und in einem anderen Text, The Educated Imagination, heißt es: »Der Wunsch eines Schriftstellers zu schreiben, kann nur aus vorhergegangener Erfahrung mit Literatur entstanden sein ... Literatur kann ihre Formen nur aus sich selbst ent­ wickeln« (pp.40 und 43). »Alles, was neu ist in der Literatur, ist nur das umgeformte Alte ... Wenn es etwas in der Literatur nicht gibt, dann ist es der Selbstausdruck« (p. 28 f.). Keine dieser Ideen ist vollkommen neu (wenn Frye auch kaum je seine Quellen angibt): man kann sie teilweise bei Mallarme oder Valery

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finden und auch bei Vertretern einer Richtung der zeitgenössischen Kritik, die in diesem Punkt die Tradition fortsetzt (Blanchot, Barthes, Genette); zum anderen, und das sehr häufig, bei den russischen Forma­ listen, schließlich auch bei Autoren wie T. S. Eliot. Die Gesamtheit die­ ser Postulate, die ebenso für die literarische Forschung wie für die Literatur selbst gültig sind, bildet unseren Ausgangspunkt. Aber all dies hat uns sehr weit von den Gattungen entfernt. Gehen wir zu dem Teil von Fryes Buch über, der uns unmittelbar interessiert. Im Verlauf seiner Abhandlung (es sei daran erinnert, daß sie sich aus Texten zusammen­ setzt, die zunächst getrennt erschienen sind) schlägt Frye mehrere Reihen von Kategorien vor, die alle eine Unterteilung in Gattungen zulassen (obwohl der Terminus »Gattung« von Frye nur auf eine einzige dieser Reihen angewendet wird). Ich beabsichtige nicht, diese Reihen hier gründlich darzustellen. Da ich an dieser Stelle eine rein methodologische Untersuchung durchführe, begnüge ich mich damit, die logische Artiku­ lation seiner Klassifikationen festzuhalten, ohne detaillierte Beispiele zu geben. I. Die erste Klassifikation definiert die »Aussageweisen der Fiktion«. Sie entstehen aus dem Verhältnis zwischen dem Helden des Buches und uns selbst oder den Gesetzen der Natur. Es sind fünf an der Zahl: 1. Der Held besitzt der »Art« nach eine Überlegenheit über den Leser und die Gesetze der Natur; diese Gattung heißt Mythos. 2. Der Held besitzt dem Grad nach eine Überlegenheit über den Leser und die Gesetze der Natur; das ist die Gattung der Legende oder des Märchens. 3. Der Held besitzt dem Grad nach eine Überlegenheit über den Leser, nicht aber über die Gesetze der Natur; wir sind bei der hoch­ mimetischen Form. 4. Der Held steht auf gleicher Stufe mit dem Leser und den Gesetzen der Natur; das ist die niedrig-mimetische Form. 5. Der Held ist dem Leser unterlegen; das ist die ironische Dichtart (p. 37f.). II. Eine andere fundamentale Kategorie ist die der Wahrscheinlich­ keit; hier sind die beiden Pole der Literatur die wahrscheinliche Erzäh­ lung und die Erzählung, in der die Personen »alles zu tun vermögen« (p. 56 f.). III. Eine dritte Kategorie legt den Akzent auf zwei Haupttenden­ zen der Literatur: das Komische, das den Helden mit der Gesellschaft versöhnt, und das Tragische, das ihn von ihr trennt (p. 59). IV. Die Klassifikation, die für Frye die wichtigste zu sein scheint, ist die, die die Archetypen definiert. Es sind vier an der Zahl (vier Mythoi),

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und sie gründen sich auf den Gegensatz von Wirklichem und Idealem. So werden dort die »Romanze« (im Bereich des Idealen), die ironische Dichtart (im Bereich des Wirklichen), die Komödie (Obergang vom Wirklichen zum Idealen), die Tragödie (Übergang vom Idealen zum Wirklichen) charakterisiert (p. 164). V. Es folgt die Einteilung der Gattungen im eigentlichen Sinne; sie gründet sich auf die Art des Publikums, für das die Werke Ibestimmt sind. Gattungen sind: das Drama (aufgeführte Werke), die lyrische Dichtung (gesungene Werke), die epische Dichtung (rezitierte Werke), die Prosa (gelesene Werke) (p. 248 ff.). Das wird dann noch folgender­ maßen präzisiert: »Die Hauptunterscheidung ... hängt mit der Tat­ sache zusammen, daß epos episodisch ist und Prosadichtung zusammen­ hängend« (p. 249 f.). VI. Schließlich erscheint auf Seite 308 eine letzte Klassifikation, die sich um die Gegensätze intellektuell/persönlich und introvertiert/extravertiert gliedert. Man könnte sie auf folgende Weise schematisch darstelen:

intellektuell

persönlich

introvertiert

Konfession

»Romanze«

extravertiert

»Anatomie«

Roman

Das waren einige der von Frye vorgeschlagenen Kategorien (und, können wir hinzufügen, Gattungen). Seine Kühnheit ist offensichtlich und lobenswert; bleibt abzuwarten, was sie erbringt. I. Die ersten kritischen Anmerkungen, zugleich die einfachsten, die wir formulieren wollen, sind logischer Art, um nicht zu sagen, sie ent­ springen dem gesunden Menschenverstand (ihre Nützlichkeit für die Untersuchung des Fantastischen wird, so hoffen wir, später zutage treten). Fryes Klassifikationen haben keine logische Kohärenz, weder untereinander, noch eine jede für sich. Schon Wimsatt hat in seiner Kritik an Frye zu Recht bemerkt, daß es unmöglich sei, die beiden Hauptklassifizierungen, nämlich die unter I. und IV. aufgeführten, zu koordinieren. Eine skizzenhafte Analyse der I. Klassifikation dürfte genügen, um die immanenten Inkonsequenzen sichtbar werden zu lassen. Dort wird eine Einheit, der Held, mit zwei anderen, nämlich a) dem Leser (»uns selbst«) und b) den Naturgesetzen verglichen. Überdies kann die Beziehung (der Oberlegenheit) entweder qualitativ sein (»der Art nach«) oder quantitativ (»dem Grade nach«). Aber wenn man diese Klassifikation schematisiert, bemerkt man, daß zahlreiche Kom­ binationsmöglichkeiten in der Aufzählung von Frye nicht vorkommen. Um es vorweg zu nehmen, sie ist asymmetrisch: den drei Kategorien 15

der Überlegenheit des Helden entspricht nur eine einzige Kategorie der Unterlegenheit; auf der anderen Seite wird die Unterscheidung »der An nach – dem Grade nach« nur ein einziges Mal angewandt, während man sie in bezug auf jede Kategorie benutzen könnte. Es ist zweifellos möglich, den Vorwurf der Inkohärenz zurückzuweisen, indem man zu­ sätzliche Einschränkungen fordert, die die Anzahl der Möglichkeiten reduzieren; z.B. wird man sagen können, daß im Falle des Verhält­ nisses zwischen dem Helden und den Naturgesetzen das Verhältnis zwischen einer Ganzheit und einem Element besteht und nicht zwischen zwei Elementen; wenn der Held diesen Gesetzen gehorcht, kann von einer Differenz zwischen Qualität und Quantität nicht mehr die Rede sein. Ebenso könnte man präzisieren, daß, wenn der Held den Natur­ gesetzen unterlegen ist, er dem Leser überlegen sein kann, daß aber das Umgekehrte nicht zutrifft. Diese zusätzlichen Einschränkungen würden es erlauben, Inkonsequenzen zu vermeiden; aber es ist unerläßlich, sie zu formulieren. Sonst haben wir es mit einem nichtexpliziten System zu tun und bleiben im Bereich des Glaubens, wenn nicht gar des Aber­ glaubens. Ein denkbarer Einwand gegen unsere eigenen Einwände könnte sein: wenn Frye nur fünf Gattungen (Modi) von dreizehn theoretisch for­ mulierbaren aufzählt, so deshalb, weil diese fünf Gattungen vorgefun­ den worden sind, was von den acht anderen nicht behauptet werden kann. Diese Bemerkung führt auf eine wichtige Unterscheidung zwi­ schen zwei Bedeutungen, die man dem Wort Gattung beilegt. Um jede Zweideutigkeit zu vermeiden, müßte man zwischen historischen Gat­ tungen auf der einen und systematischen Gattungen auf der anderen Seite unterscheiden. Die ersteren ergäben sich aus der Beobachtung der literarischen Wirklichkeit, die letzteren deduktiv aus theoretischen Überlegungen. Was wir in der Schule über die Gattungen gelernt haben, bezieht sich immer auf die historischen Gattungen. Man spricht von einer tragédie classique, weil es in Frankreich Werke gegeben hat, die offen ihre Zugehörigkeit zu dieser literarischen Form kundgetan haben. Beispiele für systematische Gattungen hingegen gibt es in den antiken Poetiken. So teilt Diomedes (4. Jh. n. Chr.) in der Nachfolge Platons alle Werke in drei Kategorien ein: zur ersten gehören die, in denen allein der Erzähler spricht; zur zweiten die, in denen allein die Per­ sonen sprechen; zur dritten schließlich die, in denen sowohl der eine als auch die anderen sprechen. Diese Klassifikation gründet sich nicht auf einen historischen Vergleich der Werke (wie im Fall der historischen Gattungen), sondern auf eine abstrakte Hypothese, die postuliert, daß das Subjekt des Aussagens das wichtigste Element des literarischen

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Werkes sei und daß man, der Beschaffenheit dieses Subjekts entspre­ chend, eine logisch kalkulierbare Anzahl systematischer Gattungen unterscheiden kann. Nun konstituiert sich das System Fryes wie das der antiken Poetiker aus systematischen und nicht aus historischen Gattungen. Es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Gattungen, nicht, weil man nicht mehr hat auffinden können, sondern weil das Prinzip des Systems es verlangt. Folglich ist es notwendig, alle denkbaren Kombinationen von den ge­ wählten Kategorien her zu deduzieren. Man könnte sogar sagen, daß, gäbe es darunter eine Kombination, die niemals eine reale Entsprechung gehabt hat, wir diese um so lieber beschreiben müßten. Ebenso wie man innerhalb Mendelejews System Eigenschaften von Elementen beschrei­ ben kann, die noch gar nicht entdeckt sind, so wird man hier die Eigen­ schaften künftiger Gattungen – und damit künftiger Werke – be­ schreiben. Diese erste Beobachtung führt uns zu zwei weiteren Anmerkungen. Die erste: jede Gattungstheorie gründet sich auf eine Konzeption vom Werk, auf ein Bild vom Werk, das sich zum einen aus einer bestimmten Anzahl abstrakter Eigenschaften zusammensetzt, zum anderen aus Regeln, die die Relationen dieser Eigenschaften zueinander bestimmen. Wenn Diomedes die Gattungen in drei Kategorien einteilt, dann heißt das: er postuliert ein dem Werk immanentes Merkmal, das Vorhanden­ sein eines Subjekts des Aussagens. Indem er seine Klassifikation auf dieses Merkmal gründet, räumt er ihm überdies erstrangige Bedeutung ein. Ebenso stützt sich Frye bei seiner Klassifikation auf das Verhältnis der Überlegenheit oder der Unterlegenheit zwischen dem Helden und uns selbst, was bedeutet, daß er dieses Verhältnis als Element des Werkes, ja mehr noch, als eins seiner grundlegenden Elemente betrachtet. Man kann auf der anderen Seite innerhalb der systematischen Gat­ tungen eine zusätzliche Unterscheidung einführen und von elementaren und komplexen Gattungen sprechen. Die ersteren definierten sich, wie bei Diomedes, aus dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines einzigen Merkmals, die letzteren aus dem gleichzeitigen Vorhanden­ sein mehrerer Merkmale. So würde man z. B. die komplexe Gattung »Sonett« danach definieren, daß es folgende Eigenschaften in sich ver­ eint: 1. bestimmte Reimvorschriften; 2. bestimmte metrische Vorschrif­ ten; 3. bestimmte thematische Vorschriften. Eine derartige Definition setzt eine Theorie des Metrums, des Reims und der Themen (mit ande­ ren Worten: eine umfassende Theorie der Literatur) voraus. Es wird damit evident, daß die historischen Gattungen einen Teil der kom­ plexen systematischen Gattungen bilden. 17

II. Wir haben formale Inkohärenzen in Fryes Klassifikationen her­ vorgehoben und sind dabei zu einer Beobachtung gelangt, die sich nicht mehr auf die logische Form seiner Kategorien, sondern auf ihren Inhalt bezieht. Frye erläutert nirgendwo seine Auffassung vom Werk (die, wie wir sahen, ob man es will oder nicht, der Ausgangspunkt für die Klassifikation nach Gattungen ist), und er widmet erstaunlich wenige Seiten der theoretischen Diskussion seiner Kategorien. Wir wollen dies an seiner Stelle tun. Sehen wir uns einige dieser Kategorien noch einmal an: überlegen – unterlegen; wahrscheinlich – unwahrscheinlich; Versöhnung – Aus­ schluß (in bezug auf die Gesellschaft); real – ideal; introvertiert – extra­ vertiert; intellektuell – persönlich. Was bei dieser Aufzählung sofort auffällt, ist ihre Willkür. Warum sollen gerade diese Kategorien und nicht andere für die Beschreibung eines literarischen Textes am geeig­ netsten sein? Man sollte erwarten, daß diese Auswahl durch eine strenge Beweisführung gerechtfertigt ist, aber keine Spur von einer solchen Beweisführung. Hinzu kommt, daß man nicht umhin kann, einen diesen sämtlichen Kategorien gemeinsamen Zug hervorzuheben: ihren außer­ literarischen Charakter. Wie wir sehen, sind sie alle der Philosophie, der Psychologie oder einer sozialen Ethik entliehen und übrigens nicht irgendeiner beliebigen Psychologie oder Philosophie. Entweder sind diese Termini in einem spezifischen, eigentlich literarischen Sinn zu ver­ stehen, oder aber – und da darüber nichts gesagt wird, ist dies die ein­ zige Möglichkeit, die sich uns bietet – sie führen uns aus der Literatur heraus. Dann aber wäre die Literatur nur mehr ein Mittel, um philo­ sophische Kategorien auszudrücken. Ihre Autonomie wird dadurch radikal in Frage gestellt – und wir befinden uns von neuem in Wider­ spruch mit einem der theoretischen Prinzipien, die derselbe Frye aus­ gesprochen hat. Selbst wenn diese Kategorien nur für die Literatur Gültigkeit hätten, würden sie nach einer weitergehenden Erklärung verlangen. Kann man vom Helden sprechen, als ob dieser Begriff sich von selbst verstünde? Welches ist der genaue Sinn dieses Wortes? Und was ist das Wahr­ scheinliche? Betriffi sein Gegenteil lediglich Erzählungen, in denen die Personen »alles zu tun vermögen« (p. 56)? Frye selbst gibt weiter unten eine andere Interpretation, die diese eigentliche Bedeutung des Wortes in Frage stellt (»Ein schöpferischer Maler weiß natürlich, daß das Publikum mit seiner Forderung nach Ähnlichkeit mit dem Gegenstand [to an object] gewöhnlich genau das Gegenteil meint, nämlich Über­ einstimmung mit den Konventionen der Darstellung, mit denen es ver­ traut ist«, p. 134).

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III. Wenn man Fryes Analysen noch genauer betrachtet, entdeckt man ein weiteres Postulat, das, wenngleich unausgesprochen, in seinem System zentrale Bedeutung hat. Die Mängel, die wir bislang aufgezeigt haben, können leicht behoben werden, ohne daß das System dadurch angetastet würde: man könnte die logischen Unstimmigkeiten ver­ meiden und eine theoretische Begründung für die Wahl der Kategorien finden. Die Konsequenzen des neuen Postulats sind sehr viel schwer­ wiegender, denn es handelt sich um eine grundlegende Vorentscheidung. Durch sie gerät Frye eindeutig in Gegensatz zum strukturalistischen .Ansatz und stellt sich eher in eine Tradition, der man Namen wie Jung, Bachelard oder Gilbert Durand (so verschieden ihre Werke auch sein mögen) zuordnen kann. Das Postulat lautet: die Strukturen, zu denen die literarischen Phä­ nomene sich ordnen, manifestieren sich auf der Ebene dieser Phänomene selbst; mit anderen Worten: diese Strukturen sind unmittelbar zu be­ obachten. Lévi-Strauss dagegen schreibt: »Das Grundprinzip ist, daß der Begriff der sozialen Struktur sich nicht auf die empirische Wirk­ lichkeit, sondern auf die nach jener Wirklichkeit konstruierten Modelle bezieht« (p. 301). Sehr vereinfacht könnte man sagen, daß Frye zufolge der Wald und das Meer eine Elementarstruktur ergeben; für einen Strukturalisten hingegen sind diese beiden Phänomene Manifestationen einer abstrakten Struktur, Produkt einer Elaboration, die sich anders­ wo, nämlich als Opposition zwischen dem Statischen und Dynamischen, artikuliert. Sofort wird deutlich, warum Bilder wie die vier Jahres­ zeiten oder die vier Tageszeiten oder die vier Elemente bei Frye eine so bedeutende Rolle spielen; er selbst versichert (in seinem Vorwort zu einer Bachelard-Übersetzung): »Die Erde, die Luft, das Wasser und das Feuer sind die vier Elemente der Erfahrung des Imaginären und wer­ den es immer sein« (p. VII). Während die »Struktur« der Struktura­ listen vor allem eine abstrakte Regel ist, reduziert die »Struktur« bei Frye sich auf eine Anordnung im Raum. Frye ist, was dies betrifft, übrigens deutlich: »Sehr oft läßt sich eine Denk-›Struktur‹ oder ein Denk-›System‹ auf ein diagrammatisches Muster reduzieren; beide Wörter sind sogar bis zu einem gewissen Grade Synonyme von ›Diagramm‹« (p. 337). Ein Postulat bedarf der Beweise nicht; aber seine Brauchbarkeit kann an den Resultaten abgelesen werden, zu denen man gelangt, wenn man es akzeptiert. Da die formale Organisation sich u. E. nicht auf der Ebene der Bilder selbst begreifen läßt, muß alles, was man über die letzteren sagt, bloße Annäherung bleiben. Man wird sich mit Wahr­ scheinlichkeiten begnügen müssen, statt mit Gewißheiten oder Unmög­ 19

lichkeiten umzugehen. Um unser höchst elementares Beispiel wieder aufzunehmen, der Wald und das Meer können sich in Opposition zu­ einander befinden und so eine »Struktur« ergeben, aber sie müssen es nicht. Das Statische und das Dynamische hingegen bilden notwendig eine Opposition, die sich in der des Waldes und des Meeres manifestie­ ren kann. Die literarischen Strukturen sind ebensoviele Systeme stren­ ger Regeln, und nur ihre Manifestationen sind dem Gesetz der Wahr­ scheinlichkeit unterworfen. Wer Strukturen auf der Ebene der be­ obachtbaren Bilder sucht, schneidet sich eben damit von aller sicheren Erkenntnis ab. Gerade das ist der Fall bei Frye. Eines der Worte, die in seinem Buch am häufigsten auftreten, ist zweifellos das Wort »oft«. Einige Beispiele: »This myth is often associated with a flood, the regular symbol of the beginning and the end of a cycle. The infant here ist often placed in an ark or chest floating on the sea ... On dry land the infant may be rescued either from or by an animal ...« (p. 198 i. Original). »Its most common settings are the mountain-top, the island, the tower, the light­ house, and the ladder or staircase« (p. 203). »He may also be a ghost, like Hamlet’s father; or it may not be a person at all, but simply an invisible force only known by its effects ... Often, as in the revenge­ tragedy, it is an event previous to the action of which the tragedy itself is the consequence« (p.216; Hervorhebungen von mir, T. T.) usw. Das Postulat einer direkten Manifestation von Strukturen ist noch in manch anderer Hinsicht unfruchtbar. Zunächst muß man feststellen, daß Fryes Hypothese nicht weiter als bis zu einer Taxinomie führen kann, zu einer Klassifikation (seinen ausdrücklichen Erklärungen zu­ folge). Aber in Hinblick auf eine Gruppe von Elementen behaupten, daß sie klassifiziert werden können, heißt, in bezug auf diese Elemente die schwächste aller möglichen Hypothesen aufstellen. Fryes Buch läßt immerfort an einen Katalog denken, in dem unzäh­ lige Bilder inventarisiert sind. Nun ist ein Katalog aber nur eines der wissenschaftlichen Werkzeuge, nicht die Wissenschaft selbst. Man könnte noch hinzufügen, daß, wer nur klassifiziert, nicht gut klassifiziert. Seine Klassifikation ist willkürlich, da sie nicht auf einer expliziten Theorie gründet – ein wenig wie jene Klassifikationen der organischen Welt von Linné. Damals zögerte man nicht, eine Kategorie aufzustellen, zu der alle Tiere gehörten, die sich kratzen ... Wenn wir Frye darin folgen, daß die Literatur eine Sprache ist, so können wir mit Recht erwarten, daß die Arbeit des Kritikers der des Linguisten ziemlich nahekommt. Aber der Verfasser der Analyse der Literaturkritik erinnert viel eher an jene Dialekt- und Wortforscher 20

des 19. Jahrhunderts, die auf der Suche nach raren oder unbekannten Wörtern die Dörfer durchwanderten. Und wenn man auch Tausende von Wörtern sammelt – man gelangt doch nicht zu den Prinzipien, nicht einmal zu den elementarsten, nach denen eine Sprache funktio­ niert. Die Arbeit der Dialektforscher war nicht nutzlos, und doch zielte sie am Wesentlichen vorbei: die Sprache ist kein Lager von Wörtern, sondern ein Mechanismus. Um diesen Mechanismus zu begreifen, ge­ nügt es, von den geläufigsten Wörtern und den einfachsten Sätzen aus­ zugehen. Das gleiche gilt für die Kritik: man kann die wesentlichen Probleme der literarischen Theorie behandeln, auch wenn man nicht das brillante Wissen eines Northrop Frye besitzt. Es ist an der Zeit, dieser langen Abschweifung, deren Relevanz für die Untersuchung der Gattung des Fantastischen manchem fraglich er­ schienen sein mag, ein Ende zu setzen. Immerhin hat sie uns erlaubt, zu einigen präzisen Schlüssen zu gelangen, die folgendermaßen zu­ sammengefaßt werden können: 1. Jede Gattungstheorie gründet sich auf eine Vorstellung vom lite­ rarischen Werk. Wir müssen daher damit beginnen, daß wir unseren eigenen Ausgangspunkt darlegen, selbst wenn wir im weiteren Verlauf unserer Arbeit dazu gelangen sollten, ihn aufzugeben. Kurz gesagt, wir werden drei Aspekte des Werkes unterscheiden: den verbalen, den syntaktischen und den semantischen. Der verbale Aspekt liegt in den konkreten Sätzen, die den Text konstituieren. Man kann hier zwei Problemgruppen anführen. Die eine steht im Zusammenhang mit den Eigenschaften der Aussage (ich habe an anderer Stelle diesbezüglich von den »régistres de la parole« ge­ sprochen; man kann auch den Terminus »Stil« verwenden, wenn man dieses Wort eng faßt). Die andere Problemgruppe bezieht sich auf das Aussagen, auf den, der den Text sendet und auf den, der ihn empfängt (es handelt sich in beiden Fällen um ein im Text impliziertes Bild, nicht um einen wirklichen Autor oder einen wirklichen Leser). Diese Pro­ bleme sind bislang unter dem Namen der Perspektive oder des »Pointde-vue« behandelt worden. Unter dem syntaktischen Aspekt versteht man die Wechselbeziehun­ gen, in denen die einzelnen Teile eines Werkes zueinander stehen (bis vor kurzem hat man dafür den Ausdruck »Komposition« gebraucht). Es gibt drei Typen solcher Beziehungen: logische, zeitliche und räum­ * liche. * Diese beiden Aspekte des literarischen Werks, der verbale und der syntaktische, sind in unserer »Poétique« ausführlicher beschrieben worden (in: Qu’est-ce que le structuralisme? Paris 1968).

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Bleibt der semantische Aspekt, oder, wenn man so will, die »The­ men« eines Buches. In diesem Feld stellen wir zu Beginn keinerlei um­ fassende Hypothese auf; wir wissen nicht, wie literarische Themen sich artikulieren. Ohne dabei ein Risiko einzugehen, kann man jedoch ver­ muten, daß es semantische Universalien der Literatur gibt, Themen, die überall und immer vorgefunden werden und deren Zahl gering ist. Ihre Transformationen und Kombinationen bringen die scheinbare Vielheit der literarischen Themen hervor. Es versteht sich von selbst, daß diese drei Aspekte des literarischen Werks sich in einer komplexen Wechselbeziehung manifestieren und daß man sie isoliert nur in unserer Analyse findet. 2. In bezug auf die Ebene selbst, auf der die literarischen Strukturen anzusiedeln wären, ist eine Vorentscheidung unerläßlich. Wir haben uns dafür entschieden, die unmittelbar beobachtbaren Elemente des litera­ rischen Universums als die Manifestation einer abstrakten und ab­ gelösten Struktur zu betrachten, als Produkt einer Elaboration und das Organisationsprinzip allein auf dieser Ebene zu suchen. Wir haben es hier mit einer grundsätzlichen Scheidung zu tun. 3. Der Begriff der Gattung muß nuanciert und näher erklärt wer­ den. Wir haben auf der einen Seite historische Gattungen und systema­ tische Gattungen unterschieden. Die ersteren sind Ergebnis der Beob­ achtung literarischer Fakten, die letzteren sind aus einer Theorie der Literatur abgeleitet. Auf der anderen Seite haben wir innerhalb der systematischen Gattungen unterschieden zwischen elementaren und komplexen Gattungen. Die ersteren sind charakterisiert durch das Vor­ handensein oder Nichtvorhandensein eines einzigen strukturellen Merk­ mals, die letzteren durch das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Kombination dieser Merkmale. Ganz offensichtlich sind die histo­ rischen Gattungen eine Unterabteilung der Gruppe der systematischen komplexen Gattungen.

Wir wollen Fryes Analysen, die uns bis hierher beschäftigt haben, jetzt beiseite lassen und endlich, wenn auch in Anlehnung an sie, eine allgemeinere und vorsichtigere Ansicht des Gegenstandes und der Gren­ zen jeder Untersuchung von Gattungen formulieren. Eine solche Unter­ suchung muß ständig zwei Arten von Forderungen genügen: praktischen und theoretischen, empirischen und abstrakten. Die Gattungen, die wir, ausgehend von der Theorie, deduzieren, müssen anhand der Texte verifiziert werden. Wenn unsere Deduktionen keinem einzigen Werk entsprechen, so haben wir einen falschen Weg eingeschlagen. Anderer­ seits müssen die Gattungen, denen wir in der Literaturgeschichte begeg­

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nen, mit Hilfe einer kohärenten Theorie erklärt werden. Sonst bleiben wir Sklaven von Vorurteilen, die ein Jahrhundert dem nächsten über­ liefert hat, und denen zufolge (um ein fiktives Beispiel zu nennen) es die Gattung der Komödie gäbe, während es in Wirklichkeit nur eine Illusion wäre. Die Definition der Gattungen wird sich demnach ständig zwischen der Beschreibung von Fakten und der abstrakten Theorie hin und her bewegen müssen. Das sind unsere Intentionen; wenn man sie jedoch genauer betrachtet, so kann man sich, was den Erfolg des Unternehmens angeht, eines Zweifels nicht erwehren. Nehmen wir die erste Forderung, die nach der Angemessenheit der Theorie an die Fakten. Man hat behauptet, daß die literarischen Strukturen, also die Gattungen selbst, sich auf einer abstrakten Ebene, abgelöst von der der existierenden Werke, ansiedeln. Man müßte sagen, daß ein Werk diese oder jene Gattung manifestiert, nicht, daß sie in diesem Werk existiert. Aber dies Mani­ festations-Verhältnis zwischen Konkretem und Abstraktem hat Wahr­ scheinlichkeitscharakter, was soviel besagt wie, daß strenggenommen die Beobachtung der Einzelwerke eine Gattungstheorie weder bestätigen noch widerlegen kann. Wenn man mir sagte, dies oder jenes Werk läßt sich in keiner Ihrer Kategorien unterbringen, also sind Ihre Kategorien schlecht, so könnte ich einwenden: Ihr also ist unangebracht. Die Werke müssen nicht mit den Kategorien übereinstimmen, da diese bloße Kon­ struktionen sind. Ein Werk kann z.B. mehrere Kategorien, mehrere Gattungen manifestieren. Wir sind somit in eine methodologische Sack­ gasse geraten, die exemplarisch ist: wie soll man beweisen, daß jegliche Gattungstheorie, die deskriptiv verfährt, zum Scheitern verurteilt ist? Betrachten wir nun die Kehrseite, die Übereinstimmung der uns bekannten Gattungen mit der Theorie. Korrektes Zuschreiben ist nicht einfacher als Beschreiben. Doch ist die Schwierigkeit hier anderer Art: die Kategorien, derer wir uns bedienen, werden stets dazu tendieren, uns aus der Literatur herauszuführen. Jede Theorie der literarischen Themen beispielsweise hat (zumindest bis heute) die Tendenz, diese auf einen Komplex von Kategorien zu reduzieren, die der Psychologie, der Philosophie oder der Soziologie entnommen sind (Frye ist ein Beispiel dafür). Selbst wenn die Kategorien der Linguistik entstammten, wäre die Situation qualitativ nicht anders. Man kann noch weiter gehen: die Tatsache selbst, daß wir, um von Literatur zu reden, uns der prak­ tischen Umgangssprache bedienen müssen, impliziert schon, daß die Literatur von einer gedachten Wirklichkeit handelt, die sich auch noch durch andere Mittel bezeichnen läßt. Nun besteht aber die Literatur, wie wir wissen, gerade in der Anstrengung zu sagen, was die gewöhn­

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lidie Sprache nicht sagt und nicht sagen kann. Aus diesem Grund neigt die Kritik (die beste) stets dazu, selbst Literatur zu werden. Man kann von dem, was die Literatur macht, nur reden, indem man selbst Litera­ tur macht. Nur in dieser Differenz zur Alltagssprache kann die Lite­ ratur sich konstituieren und weiterbestehen. Die Literatur sagt aus, was allein sie aussagen kann. Wenn der Kritiker alles über einen literarischen Text gesagt hat, hat er noch nichts gesagt; denn die Definition der Literatur selbst impliziert, daß man über sie nicht reden kann. Derlei skeptische Reflexionen sollen uns von unserem Vorhaben nicht abhalten; sie nötigen uns lediglich dazu, uns gewisser Grenzen bewußt zu werden, die wir nicht überschreiten können. Die Bemühung um Erkenntnis zielt auf einen annähernden Erkenntniswert, nicht auf eine absolute Wahrheit. Wenn die beschreibende Wissenschaft den Anspruch erhöbe, die Wahrheit zu sagen, so würde sie ihrer Daseinsberechtigung selbst widersprechen.. Mehr noch: eine bestimmte Form der Geophysik gibt es überhaupt nicht mehr, seit alle Kontinente korrekt beschrieben worden sind. Die Unvollkommenheit ist paradoxerweise eine Garantie für das Überleben.

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Definition des Fantastischen Erste Definition des Fantastischen. – Bisherige Anschauungen. – Das Fanta­ stische in Die Abenteuer in der Sierra Morena. – Zweite, ausführlichere und

präzisere Definition des Fantastischen. – Zurückweisung anderer Definitionen. – Ein eigenartiges Beispiel des Fantastischen: Nervals Aurélia.

Alvares, die Hauptperson in Cazottes Le Diable amoureux, lebt seit Monaten mit einem Wesen weiblichen Geschlechts zusammen, das er für einen bösen Geist hält: für den Teufel oder einen seiner Diener. Die Art, wie dieses Wesen erschienen ist, weist deutlich darauf hin, daß es ein Vertreter der anderen Welt ist. Sein spezifisch menschliches (mehr noch, weibliches) Betragen jedoch, die realen Verletzungen, die ihm zugefügt werden, scheinen im Gegenteil zu beweisen, daß es sich schlicht um eine Frau handelt, und zwar um eine liebende Frau. Als Alvares Biondetta fragt, woher sie komme, antwortet sie: »Ich bin ursprünglich eine Sylphide, und zwar eine der ansehnlichsten« (p. 53). Aber gibt es denn Sylphiden? »Ich begriff nichts von dem, was ich hörte«, fährt Alvares fort. »Aber was war denn überhaupt Begreifliches in meinem Abenteuer? Es kommt mir alles wie ein Traum vor, sprach ich zu mir, jedoch was ist das ganze menschliche Leben anderes als ein Traum? Ich träume nur ungewöhnlicher als ein anderer, das ist alles. Wo ist das Mögliche, wo das Unmögliche?« (p. 55). So ist Alvares unschlüssig, fragt sich (und der Leser mit ihm), ob das wahr sei, was ihm geschieht, ob, was ihn umgibt, tatsächlich Realität sei (die Sylphiden also wirklich existieren) oder ob es sich einfach um eine Sinnestäuschung handelt, die hier die Gestalt eines Traumes annimmt. Alvares geht später soweit, mit eben dieser Frau zu schlafen, die viel­ leicht der Teufel ist, und fragt sich, durch diese Vorstellung erschreckt, von neuem: »Habe ich geschlafen? Sollte ich so glücklich sein, daß alles nur ein Traum gewesen ist?« (p. 96). Seine Mutter wird genauso dar­ über denken: »...du hast die Meierei und ihre Bewohner sicherlich nur erträumt« (p. 101). Die Ambiguität bleibt bis zum Ende des Abenteuers gewahrt: Wirklichkeit oder Traum? Wahrheit oder Illusion? Wir sehen uns ins Zentrum des Fantastischen geführt. In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel, Sylphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Ge­ setzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt. Der, der das Ereignis wahrnimmt, muß sich für eine der zwei möglichen Lösungen

entscheiden: entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierender Bestandteil der Realität. Dann aber wird diese Realität von Gesetzen beherrscht, die uns unbekannt sind. Entweder der Teufel ist eine Täu­ schung, ein imaginäres Wesen, oder aber er existiert wirklich, genau wie die anderen Lebewesen – nur daß man ihm selten begegnet. Das Fantastische liegt im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die eine oder die andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische und tritt in ein benachbartes Genre ein, in das des Unheim­ lichen oder das des Wunderbaren. Das Fantastische ist die Unschlüssig­ keit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Über­ natürlichen hat. Der Begriff des Fantastischen definiert sich also aus seinem Verhältnis zu den Begriffen des Realen und des Imaginären, und diese beiden letzteren verdienen mehr als eine schlichte Erwähnung. Wir wollen sie jedoch erst im letzten Kapitel der Untersuchung diskutieren. Ist eine solche Definition wenigstens originell? Man kann sie, wenn auch anders formuliert, seit dem 19. Jahrhundert finden. Zuerst bei dem russischen Philosophen und Mystiker Wladimir Solo­ wjow: »Beim wirklichen Fantastischen bleibt die äußerliche und for­ male Möglichkeit einer einfachen Erklärung der Erscheinungen stets gewahrt; zur gleichen Zeit ist diese Erklärung jedoch bar jeder inneren Wahrscheinlichkeit« (zit. n. Tomaschewski, p. 288). Es gibt eine un­ heimliche Erscheinung, die man auf zweierlei Weise erklären kann, nämlich entweder aus natürlichen Ursachen oder aber aus übernatür­ lichen. Die Möglichkeit der Unschlüssigkeit angesichts dieser Alternative schaffi die Wirkung des Fantastischen. Einige Jahre später gebraucht der englische Autor Montagu Rhodes James, Spezialist für Gespenstergeschichten, fast dieselben Wendungen: »Es ist manchmal notwendig, daß die Ausgangstür zu einer natürlichen Erklärung offenbleibt, aber ich muß wohl hinzufügen, daß diese Tür so eng sein muß, daß man von ihr keinen Gebrauch machen kann« (p. VI). Wieder wird also auf zwei mögliche Lösungen hingewiesen. Jetzt noch ein deutsches Beispiel jüngeren Datums: »Der Held spürt ständig und sehr klar den Widerspruch zwischen den beiden Welten, zwischen Wirklichkeit und Phantasie, und er selbst ist erstaunt über das Außergewöhnliche, das ihn umgibt« (Olga Reimann, S. 73). Man könnte diese Liste beliebig verlängern. Immerhin können wir zwischen den ersten beiden und der dritten Definition einen Unterschied fest­ 26

stellen: bei den ersteren liegt es beim Leser, sich beiden Möglichkeiten gegenüber unschlüssig zu verhalten, die letttere verlegt die Unschlüs­ sigkeit in die handelnde Person. Wir werden darauf bald zurüchkommen. Es muß noch hinzugefügt werden, daß die Definitionen des Fantasti­ schen, die man in neueren französischen Arbeiten findet, unserer eige­ nen, wo sie nicht mit ihr identisch sind, zumindest nicht widersprechen. Ohne uns damit allzu lange aufzuhalten, wollen wir einige Beispiele aus den »anerkannten« Arbeiten anführen. Castex schreibt in Le Conte fantastique en France: »Das Fantastische ... ist gekennzeichnet durch das brutale Eindringen des Mysteriums in den Bereich des wirklichen Lebens« (p. 8); Louis Vax in L’Art et la Littérature fantastiques: »Die fantastische Erzählung ... zeigt uns gern, wie Menschen wie wir, die in derselben wirklichen Welt leben, in der wir uns befinden, plötzlich mit dem Unerklärlichen konfrontiert werden« (p. 5). Roger Caillois schreibt in Au caur du fantastique: »Das Fantastische ist stets ein Bruch mit der geltenden Ordnung, Einbruch des Unzulässigen in die unver­ änderliche Gesetzmäßigkeit des Alltäglichen« (p. 161). Man sieht, diese drei Definitionen sind, ob nun beabsichtigt oder nicht, eine die Para­ phrase des anderen: jedesmal gibt es ein »Mysterium«, »ein Unerklär­ liches«, ein »Unzulässiges«, das sich in das »wirkliche Leben« oder die »wirkliche Welt« oder aber in die »unveränderliche Gesetzmäßigkeit des Alltäglichen« eindrängt. Diese Definitionen sind vollständig in derjenigen enthalten, die die zuerst zitierten Autoren vorgeschlagen hatten und die bereits die Existenz zweier unterschiedlicher Arten von Ereignis umfaßte, die der natürlichen und die der übernatürlichen Welt. Die Definition von Solowjow, James etc. wies jedoch darüber hinaus auf die Möglichkeit hin, zweierlei Erklärungen für das übernatürliche Ereignis zu finden und, als logische Folgerung, auf die Tatsache, daß jemand zwischen ihnen zu wählen habe. Sie war also suggestiver und reichhaltiger. Die, die wir selbst gegeben haben, leitet sich von ihr ab. Sie legt überdies die Betonung auf den Grenzcharakter des Fantastischen (als Trennungs­ linie zwischen dem Unheimlichen und dem Wunderbaren), statt daraus eine Substanz zu machen (wie Castex, Caillois etc. es tun). Allgemeiner ausgedrücht, müßte es heißen, daß ein Genre sich stets aus seinem Ver­ hältnis zu den ihm benachbarten Genres definiert. Es fehlt der Definition jedoch noch an Schärfe, und in diesem Punkt müssen wir weiterkommen als unsere Vorgänger. Wir haben bereits bemerkt, daß nicht klar gesagt worden ist, ob nun der Leser oder die handelnde Person unschlüssig sein solle und ebensowenig, wie diese

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Unschlüssigkeit nuanciert sei. Le Diable amoureux bietet zu wenig Material für eine weiterreichende Analyse: die Unschlüssigkeit, der Zweifel gewinnen dort nur für einen Augenblick die Oberhand. Wir werden daher ein anderes Buch heranziehen, das etwa zwanzig Jahre später geschrieben worden ist und uns gestatten wird, weitere Fragen zu stellen. Es ist das Buch, das auf meisterliche Weise die Epoche der fantastischen Erzählung einleitet: Jan Potockis Die Abenteuer in der Sierra Morena. Zunächst wird über eine Reihe von Ereignissen berichtet, von denen keines für sich genommen den Naturgesetzen widerspricht, wie wir sie aus Erfahrung kennen. Aber bereits ihr gehäuftes Auftreten erscheint rätselhaft. Alfons van Worden, Held und Erzähler des Buches, über­ quert die Gebirge der Sierra Morena. Plötzlich verschwindet sein »Wegführer« Mosquito. Einige Stunden später verschwindet auch sein Diener López. Die Bewohner des Landes versichern, daß die Gegend von den Geistern Verstorbener heimgesucht werde: von denen zweier Banditen, die vor kurzem gehenkt worden seien. Alfons gelangt zu einer verlassenen Herberge und schickt sich an zu schlafen. Beim ersten Glockenschlag um Mitternacht jedoch betritt »eine schöne, halbnackte Negerin« sein Zimmer, »in jeder Hand eine Fackel« (p. i 5), und lädt ihn ein, ihr zu folgen. Sie führt ihn bis zu einem unterirdischen Saal, wo ihn zwei junge Schwestern, schön und leichtbekleidet, empfangen. Sie bieten ihm Essen und Trinken an. Alfons wird von seltsamen Emp­ findungen bewegt, und ein Zweifel wächst in ihm: »Ich wußte nicht mehr, ob ich mich in Gesellschaft von Frauen oder von tückischen Nachtgespenstern befand« (p. i 8). Sie erzählen ihm darauf ihr Leben, und es stellt sich heraus, daß sie seine Cousinen sind. Beim ersten Hahnenschrei jedoch brechen sie die Erzählung ab; und Alfons erinnert sich, daß »wie bekannt, ... die Gespenster nur von Mitternacht bis zum ersten Hahnenschrei Gewalt« haben (p. 15). Wohlgemerkt, dies alles stellt sich nicht eigentlich außerhalb der Naturgesetze, wie man sie kennt. Allenfalls kann man sagen, daß man sich hier unheimlichen Ereignissen, ungewöhnlichen Fügungen ge­ genübersieht. Der folgende Schritt dagegen ist entscheidend: es geschieht etwas, das der Verstand nicht erklären kann. Alfons legt sich zu Bett, die beiden Schwestern legen sich zu ihm (vielleicht träumt er das aber auch nur), eines jedoch ist sicher: als er aufwacht, ist er nicht mehr in einem Bett und nicht mehr in einem unterirdischen Saal. »Ich erblickte den Himmel. Ich sah, daß ich mich im Freien befand ... Ich lag unter dem Galgen von Los Hermanos. Die Leichen der beiden Brüder Zotos hingen nicht oben, sondern lagen links und rechts neben mir« (p. 31).

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Hier haben wir also ein erstes übernatürliches Ereignis: zwei schöne Mädchen sind zu zwei stinkenden Leichnamen geworden. Alfons ist deswegen noch nicht von der Existenz übernatürlicher Kräfte überzeugt – das hätte jede Unschlüssigkeit unmöglich gemacht (und das Ende des Fantastischen bedeutet). Er sucht eine Unterkunft für die Nacht und gelangt an die Hütte eines Eremiten. Dort trifft er einen Besessenen, Pacheco, der ihm seine Geschichte erzählt, eine Ge­ schichte jedoch, die der Alfons’ merkwürdig ähnelt. Pacheco hat sich in derselben Herberge eine Nacht aufgehalten; er ist in einen unterirdi­ schen Saal hinabgestiegen und hat die Nacht zusammen mit zwei Schwestern in einem Bett verbracht. Am anderen Morgen ist er unter dem Galgen zwischen zwei Leichen erwacht. Diese Duplizität der Ereig­ nisse mahnt Alfons zur Vorsicht. Deshalb tut er auch später dem Ere­ miten gegenüber kund, daß er nicht an Geister glaube und gibt eine natürliche Erklärung für die Mißgeschicke Pachecos. Ebenso deutet er seine eigenen Abenteuer: »Ich zweifelte nicht daran, daß meine Cousi­ nen Frauen aus Fleisch und Blut seien. Das sagte mir mein Gefühl, das stärker war als alles, was man mir über die Macht der Dämonen erzählt hatte. Was freilich den Streich betraf, den man mir gespielt hatte, indem man mich unter den Galgen brachte, so war ich darüber höchst ent­ rüstet« (p. 66). Soweit gut. Neue Ereignisse sollten Alfons’ Zweifel jedoch bald wie­ der wecken. Er findet seine Cousinen in einer Grotte wieder, und eines Abends kommen sie bis zu ihm ins Bett. Sie sind bereit; ihre Keusch­ heitsgürtel abzunehmen, aber dazu ist es unerläßlich, daß Alfons selbst die christliche Reliquie ablegt, die er um den Hals trägt. An ihre Stelle legt eine der Schwestern eine Flechte von ihrem Haar. Die ersten Liebesstürme haben sich kaum gelegt, als der erste Glockenschlag die Mitternacht ankündigt ... Ein Mann betritt das Zimmer, jagt die Schwestern fort und bedroht Alfons mit dem Tode. Dann nötigt er ihn, ein Gebräu zu trinken. Am nächsten Morgen erwacht Alfons, wie man sich schon denken kann, unter dem Galgen, die beiden Leichname zur Seite. Um den Hals hat er keine Haarflechte mehr, sondern einen Galgenstrick. Als er wieder in die Herberge kommt, in der er die erste Nacht verbracht hat, entdeckt er plötzlich unter den Dielenbrettern die Reliquie, die man ihm in der Grotte abgenommen hatte. »(... alles ... brachte meine Gedanken derart durcheinander,) daß ich nicht mehr wußte, was ich tat ... Allmählich begann ich zu glauben, daß ich dieses unglückselige Gasthaus in Wirklichkeit gar nicht verlassen hatte und daß der Eremit, der Inquisitor und die Brüder Zotos nichts als Wahn­ gebilde gewesen seien, hervorgerufen durch Zauberei« (Bd. I, p. 120). 29

Als sollte er in diesem Eindruck noch bestärkt werden, triffi er alsbald Pacheco, den er während seines letzten nächtlichen Abenteuers gesehen hatte und der ihm eine ganz andere Version der Szene erzählt. »Die beiden jungen Wesen bedachten ihn erst mit Liebkosungen und lösten dann von seinem Halse eine Reliquie, die dort gehangen hatte; von diesem Augenblick an verloren sie in meinen Augen ihre Schönheit, und ich erkannte in ihnen die beiden Gehenkten aus dem Tale von Los Hermanos. Der junge Caballero hingegen hielt sie immer noch für liebenswürdige Wesen und gab ihnen unausgesetzt die zärtlichsten Namen. Dann nahm einer der Gehenkten den Strick, den er an seinem Halse hatte, und legte ihn um den Hals des Caballeros, der sich mit neuen Liebkosungen dafür bedankte. Schließlich schlossen sich die Bett­ vorhänge, und ich weiß nicht, was sie nun noch taten, aber ich denke, es wird wohl eine furchtbare Sünde gewesen sein« (pp. 122 f.). Was soll er nun glauben? Alfons weiß wohl, daß er die Nacht mit zwei liebevollen Frauen verbracht hat. Aber das Erwachen unter dem Galgen, der Strick um seinen Hals, die Reliquie in der Herberge, die Erzählung Pachecos? Alfons’ Ungewißheit, seine Unschlüssigkeit sind auf ihrem Höhepunkt, verstärkt durch die Tatsache, daß andere Per­ sonen ihm eine übernatürliche Erklärung seiner Abenteuer suggerieren. So fragt ihn der Inquisitor, der Alfons im gegebenen Augenblick fest­ nehmen und mit der Folter bedrohen wird: »Kennst Du zwei Prinzes­ sinnen aus Tunis? Oder besser gesagt: zwei nichtswürdige Hexen, abscheuliche Vampire, Ausgeburten der Hölle?« (p. 68). Und später wird Rebekka, Alfons' Gastgeberin, zu ihm sagen: »Wir wissen näm­ lich, daß es sich um zwei weibliche Dämonen handelt, die Emina und Zibedde heißen« (p. 140). Als er ein paar Tage allein ist, fühlt Alfons noch einmal, wie seine Verstandeskräfte zurückkehren. Er will eine »realistische« Erklärung für die Ereignisse finden. »Einige Worte, die Don Enrique de Sa, dem Statthalter der Provinz, entschlüpft waren und an die ich mich erst jetzt erinnerte, ließen mich vermuten, daß auch er mit der geheimnisvollen Existenz der Gomélez zu tun hatte und daß er ebenfalls einen Teil ihres Geheimnisses kannte. Er war es, der mir die beiden Diener, López und Mosquito, beschafft hatte, und ich vermutete nun, daß sie mich auf seine Anweisung am Eingang zum unseligen Tal von Los Hermanos ver­ lassen hatten. Meine Cousinen hatten mir oft zu verstehen gegeben, daß man mich auf die Probe stellen wolle. Ich kam auf den Gedanken, daß man mir in der Venta einen Schlaftrunk gegeben und daß man mich dann, während ich schlief, unter den Galgen befördert hatte. Daß Pacheco auf dem einen Auge erblindete, konnte bei einer ganz anderen

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Gelegenheit geschehen sein als durch die Liebschaft mit den beiden Gehenkten, und seine furchtbare Geschichte mochte erfunden sein. Der Einsiedler, der mir immerzu mein Geheimins in Form einer Beichte zu entreißen suchte, kam mir wie ein Beauftragter der Gomélez vor, der meine Schweigsamkeit erproben wollte« (pp. 141 f.). Dennoch ist die Auseinandersetzung keineswegs entschieden: gering­ fügige Vorfälle sollen dazu führen, daß Alfons sich erneut zur Annahme einer übernatürlichen Lösung gedrängt fühlt. Durchs Fenster sieht er zwei Frauen, die ihm die berüchtigten Schwestern zu sein scheinen; als er sich jedoch nähert, findet er unbekannte Gesichter. Dann liest er eine Geschichte über den Teufel, die der seinen so sehr gleicht, daß er ge­ steht: »... ich war nun fast bereit, zu glauben, daß irgendwelche Dämonen, um mich zu täuschen, die Leichname der Gehenkten belebt hätten« (p. i 55). »... ich war nun fast bereit, zu glauben«: in dieser Formel findet der Geist des Fantastischen komprimiert Ausdruck. Der uneingeschränkte Glaube ebenso wie die absolute Ungläubigkeit würden uns aus dem Fantastischen herausführen; es ist die Unschlüssigkeit, die es ins Leben ruft. Wer ist in dieser Geschichte unschlüssig? Ohne Zweifel Alfons, d. h. der Held, die handelnde Person. Er hat, solange die Handlung währt, zwischen zwei Interpretationen zu wählen. Aber wenn dem Leser die »Wahrheit« schon bekannt wäre, wenn er wüßte, worauf alles hinausläuft, dann wäre die Situation eine ganz andere. Das Fantastische impliziert also die Integration des Lesers in die Welt der Personen. Es definiert sich aus der ambivalenten Wahrnehmung der berichteten Ereignisse durch den Leser selbst. Wir müssen sogleich präzisieren, daß wir dabei nicht diesen oder jenen bestimmten wirklichen Leser im Auge haben, sondern eine »Funktion« des Lesers, die im Text impliziert ist (so wie er die Funktion des Erzählers impliziert). Die Wahrnehmungen dieses implizierten Lesers sind dem Text mit der gleichen Präzision ein­ geschrieben, wie die Haltung der Personen. Die Unschlüssigkeit des Lesers ist also die erste Bedingung des Fan­ tastischen. Aber ist es nötig, daß der Leser sich, wie im Diable amoureux und in den Abenteuern in der Sierra Morena, mit einer speziellen Per­ son identifiziert? Anders ausgedrückt: ist es nötig, daß die Unschlüssig­ keit im Werk selbst dargestellt wird? Die Mehrzahl der Werke, die die erste Bedingung erfüllen, erfüllt zugleich die zweite. Allerdings gibt es Ausnahmen: so etwa in der Vera von Villiers de l’Isle-Adam. Hier ist der Leser im Zweifel über die Auferstehung der Frau des Grafen, ein Phänomen, das den Naturgesetzen widerspricht, das aber durch eine Reihe sekundärer Indizien bestätigt scheint. Nun teilt keine der Per­

sonen diese Unschlüssigkeit; weder der Graf d'Athol, der fest an das zweite Leben Véras glaubt, noch selbst der alte Diener Raymond. Der Leser identifiziert sich also mit keiner Person, und die Unschlüssigkeit wird im Text nicht dargestellt. Sagen wir, daß diese Identifikations­ regel eine mögliche Bedingung des Fantastischen ist: es kann existieren, ohne sie zu erfüllen, aber die Mehrzahl der fantastischen Werke tut ihr Genüge. Wenn der Leser aus der Welt der handelnden Personen heraustritt und zu seiner eigenen Praxis (der des Lesers) zurückkehrt, tut sich eine neue Gefahr für das Fantastische auf. Eine Gefahr, die auf der Ebene der Interpretation des Textes angesiedelt ist. Es gibt Erzählungen, die Elemente des Übernatürlichen enthalten, ohne daß der Leser jemals über ihre Beschaffenheit im Zweifel wäre, weil er sehr wohl weiß, daß er sie nicht wörtlich zu nehmen hat. Wenn Tiere sprechen, so gibt es für uns keinen Zweifel: wir wissen, daß die Worte des Textes in einem anderen, allegorisch genannten, Sinn zu nehmen sind. Die umgekehrte Situation läßt sich bei der Poesie beobachten. Der poetische Text könnte oft als fantastisch bezeichnet werden, aber nur, wenn man von der Poesie verlangte, daß sie darstellen solle. Aber die Frage stellt sich nicht. Wenn z. B. gesagt wird, daß das »poetische Ich« sich in die Lüfte erhebt, so ist das nur eine Wortfolge und als solche zu betrachten, ohne daß man versuchte, über die Wörter hinauszu­ gehen. Das Fantastische impliziert also nicht allein das Vorkommen eines unheimlichen Ereignisses, das beim Leser und beim Helden Unschlüssig­ keit bewirkt, sondern auch eine Art zu lesen, die man vorläufig negativ so definieren kann: sie darf weder »poetisch« noch »allegorisch« sein. Wenn man zu den Abenteuern in der Sierra Morena zurückkehrt, sieht man, daß auch diese Forderung hier erfüllt ist: einerseits sind wir durch nichts gehalten, die evozierten übernatürlichen Ereignisse unmittelbar allegorisch zu interpretieren, andererseits sind diese Ereignisse sehr wohl als solche gegeben; wir müssen sie uns vorstellen und dürfen die Wörter, die sie bezeichnen, nicht ausschließlich als eine Kombination linguistischer Einheiten betrachten. Man kann in dem nachfolgenden Satz von Roger Caillois einen Hinweis auf diese Eigenschaft des fan­ tastischen Textes sehen: »Diese Art von Bildern führt zum Zentrum des Fantastischen, auf halbem Wege zwischen dem, was ich unendliche Bilder genannt habe und den verhinderten Bildern ... Die ersteren suchen per definitionem die Unstimmigkeit und verweigern entschieden jede Bedeutung. Die letzteren übersetzen bestimmte Texte in Symbole,

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die sich mit Hilfe eines geeigneten Wörterbuchs Wort für Wort in den entsprechenden Text rückübersetzen ließen« (p. 172). Wir sind mittlerweile imstande, unsere Definition des Fantastischen zu präzisieren und zu vervollständigen. Das Fantastische verlangt die Erfüllung dreier Bedingungen. Zuerst einmal muß der Text den Leser zwingen, die Welt der handelnden Personen wie eine Welt lebender Personen zu betrachten, und ihn unschlüssig werden lassen angesichts der Frage, ob die evozierten Ereignisse einer natürlichen oder einer übernatürlichen Erklärung bedürfen. Des weiteren kann diese Un­ schlüssigkeit dann gleichfalls von einer handelnden Person empfunden werden; so wird die Rolle des Lesers sozusagen einer handelnden Per­ son anvertraut und zur gleichen Zeit findet die Unschlüssigkeit ihre Darstellung, sie wird zu einem der Themen des Werks; im Falle einer naiven Lektüre identifiziert sich der reale Leser mit der handelnden Person. Dann ist noch wichtig, daß der Leser in bezug auf den Text eine bestimmte Haltung einnimmt: er wird die allegorische Interpreta­ tion ebenso zurückweisen wie die »poetische« Interpretation. Diese drei Forderungen sind nicht gleichwertig. Die erste und die dritte konsti­ tuieren tatsächlich die Gattung; die zweite kann auch unerfüllt bleiben. Dennoch erfüllen die meisten Beispiele alle drei Bedingungen. Wie schreiben sich diese drei Charakteristika dem Modell des Werks ein, wie wir es im letzten Kapitel kurz dargelegt haben? Die erste Bedingung verweist uns wieder auf den verbalen Aspekt des Textes, genauer gesagt, auf das, was man die »Sichtweisen« nennt; das Fanta­ stische ist ein besonderer Fall der allgemeineren Kategorie der »ambi­ valenten Sichtweise«. Die zweite Bedingung ist komplexer: sie bezieht sich einerseits auf den syntaktischen Aspekt, und zwar in dem Maße, wie sie das Vorhandensein eines formalen Typus von Einheiten impli­ ziert, die sich auf die Einschätzung beziehen, die die handelnden Per­ sonen den Ereignissen der Erzählung entgegenbringen; man könnte diese Einheiten »Reaktionen« nennen im Gegensatz zu den »Aktionen«, die gewöhnlich den Faden der Handlung bilden. Andererseits bezieht sich diese zweite Bedingung auf den semantischen Aspekt, da es sich ja um ein dargestelltes Thema handelt – das der Wahrnehmung und der Bewertung dieser Wahrnehmung. Die dritte Bedingung schließlich ist allgemeineren Charakters und geht über die Einteilung in Aspekte hinaus: es handelt sich um eine Wahl zwischen mehreren Modi (und Ebenen) der Lektüre. Man kann unsere Definition nun wohl als hinreichend explizit an­ sehen. Um sie vollständig zu rechtfertigen, wollen wir sie jedoch erneut mit einigen anderen Definitionen vergleichen, wobei es diesmal nicht 33

darauf ankommen soll zu sehen, worin die unsrige ihnen gleicht, son­ dern, worin sie sich von ihnen unterscheidet. Von einem systematischen Gesichtspunkt her kann man von verschiedenen Bedeutungen des Wor­ tes »fantastisch« ausgehen. Nehmen wir uns zuerst die Bedeutung vor, die einem, obwohl selten ausgesprochen, als erste in den Sinn kommt. Es ist die Wörterbuch­ Bedeutung: in den fantastischen Texten berichtet der Autor von Ereig­ nissen, die nicht dazu angetan sind, im Leben zu geschehen, jedenfalls nicht, wenn man sich an das allgemeine Wissen einer jeden Epoche in bezug auf das, was geschehen oder nicht geschehen kann, hält. So heißt es im Petit Larousse: »Wo übernatürliche Wesen auftreten, haben wir es mit fantastischen Erzählungen zu tun.« Man kann die Ereignisse tat­ sächlich als übernatürliche qualifizieren, aber das Übernatürliche, wie­ wohl eine literarische Kategorie, ist hier nicht angebracht. Man kann sich keine Gattung vorstellen, die sämtliche Werke, in denen Über­ natürliches vorkommt, in einen neuen Ordnungszusammenhang stellte, und die, unter diesem Gesichtspunkt, Homer ebenso wie Shakespeare, Cervantes ebenso wie Goethe umfassen müßte. Das Übernatürliche charakterisiert die Werke nicht genau genug; seine Reichweite ist viel zu groß. Eine andere Anschauung, die unter den Theoretikern viel verbreite­ ter ist, besagt, daß man, um das Fantastische aufzusuchen, sich in den Leser hineinversetzen müsse – nicht in den dem Text implizierten, son­ dern in den realen Leser. Wir wählen H. P. Lovecraft als Repräsentan­ ten dieser Richtung. Er ist selbst Autor fantastischer Geschichten und hat dem Übernatürlichen in der Literatur ein theoretisches Werk ge­ widmet. Für Lovecraft liegt das Kriterium des Fantastischen nicht im Werk, sondern in der besonderen Erfahrung des Lesers, und diese Erfahrung soll die Angst sein. »Die Atmosphäre ist das Wichtigste, denn das entscheidende Kriterium für die Authentizität des Fantasti­ schen ist nicht die Struktur der Handlung, sondern die Schaffung eines spezifischen Eindrucks (...) Deshalb müssen wir die fantastische Erzäh­ lung nicht so sehr nach den Intentionen des Autors und den Mechanis­ men der Handlung beurteilen als vielmehr nach der emotionalen Inten­ sität, die sie hervorruft. (...) Eine Erzählung ist ganz einfach dann fantastisch, wenn der Leser zutiefst Furcht und Schlecken, die Gegen­ wart ungewöhnlicher Welten und Mächte empfindet« (p. 16). Dieses Gefühl der Angst oder der Ratlosigkeit wird von den Theoretikern des Fantastischen oft angeführt, sogar wenn die Möglichkeit einer doppelten Erklärung in ihren Augen unabdingbare Voraussetzung für diese Gat­ tung ist. So schreibt Peter Penzoldt: »Mit Ausnahme der Märchen sind 34

alle übernatürlichen Geschichten Angst-Geschichten, die uns zu der Frage nötigen, ob das, was man für reine Einbildung hält, letzten Endes nicht doch Wirklichkeit sei« (p. 9). Auch Caillois schlägt vor, »den unbestreitbaren Eindruck der Unheimlichkeit« als »Prüfstein des Fan­ tastischen« zu betrachten (p. 30). Man ist überrascht, noch heute derartige Urteile seitens ernsthafter Kritiker zu vernehmen. Wenn man ihre Äußerungen wörtlich nimmt und akzeptiert, daß man beim Leser das Gefühl der Angst feststellen können muß, dann muß man daraus folgern (und sollte das wirklich im Sinne jener Autoren sein?), daß die Gattung eines Werkes von der Nervenstärke seines Lesers abhängt. Ebensowenig läßt sich die Gattung dadurch näher bestimmen, daß man das Gefühl der Angst in den handelnden Personen aufsucht: auf der einen Seite können Märchen auch Angstgeschichten sein; so etwa (im Gegensatz zu dem, was Pen­ zoldt darüber sagt) die Erzählungen Perraults; auf der anderen Seite gibt es fantastische Erzählungen, denen das Element der Angst völlig fehlt: denken wir an so verschiedene Texte wie Hoffmanns Prinzessin Brambilla und Villiers de l’Isle-Adams Véra. Die Angst ist zwar oft mit dem Fantastischen verbunden, nicht aber eine seiner notwendigen Bedingungen. So seltsam das erscheinen mag, man hat ebenso versucht, das Krite­ rium für das Fantastische in den Autor der Erzählung selbst zu ver­ legen. Auch hierfür finden wir Beispiele bei Caillois, dem in der Tat vor Widersprüchen nicht bange ist. Caillois unternimmt es, das roman­ tische Bild vom inspirierten Dichter wieder aufleben zu lassen: »Das Fantastische bedarf des Unfreiwilligen, des quälenden Zweifels, einer gleichermaßen beunruhigten wie beunruhigenden Frage, die unversehens irgendwoher aus dem Dunkel aufgetaucht ist und die der Autor so hat festhalten müssen, wie sie gekommen ist ...« (p. 46); oder auch: »Ein­ mal mehr erweist sich das Fantastische als dort am überzeugendsten, wo es nicht das Ergebnis der wohlüberlegten Absicht zu überraschen ist, sondern wo es gegen den Willen, wenn nicht ohne Wissen des Autors hervorzudrängen scheint« (p. 169). Die Einwände gegen diese »inten­ tional fallacy« sind heute zu bekannt, als daß man sie noch einmal formulieren möchte. Noch weniger Beachtung verdienen andere Definitionsversuche, die sich oft auf Texte beziehen, die überhaupt nicht fantastisch sind. So ist es nicht möglich, das Fantastische als der getreulichen Reproduktion der Realität, als dem Naturalismus entgegengesetzt zu definieren. Und auch nicht auf die Weise, wie das in Marcel Schneiders La Littérature fantastique en France geschieht: »Das Fantastische erforscht den inne­

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ren Raum; es macht gemeinsames Spiel mit der Einbildungskraft, der Lebensangst und der Hoffnung auf kommendes Heil« (pp. 148 f.). Die Abenteuer in der Sierra Morena haben uns ein Beispiel für die Unschlüssigkeit gegenüber dem Realen und (sagen wir) dem Illuso­ rischen geliefert. Man hatte sich zu fragen, ob das Gesehene nicht auf einem Betrug oder auf einer Sinnestäuschung beruhte. Anders ausge­ drückt, man war sich nicht schlüssig, wie die wahrnehmbaren Ereignisse zu deuten seien. Es gibt eine andere Spielart des Fantastischen, bei der die Unschlüssigkeit sich zwischen dem Realen und dem Imaginären situiert. Im ersten Fall bezweifelte man nicht, daß die Ereignisse ge­ schehen waren, sondern man bezweifelte, daß man sich einen zutreffen­ den Begriff davon gemacht hatte. Im zweiten Fall fragt man sich, ob das, was man wahrzunehmen glaubt, nicht ein Produkt der Einbildungs­ kraft sei. Dieser »Irrtum« kann aus mehreren Ursachen entstehen, die wir weiter unten untersuchen wollen. Betrachten wir an dieser Stelle ein charakteristisches Beispiel, bei dem dieser Irrtum dem Wahnsinn zugeschrieben wird: Hoffmanns Prinzessin Brambilla. Unheimliches und Unbegreifliches ereignet sich im Leben des armen Schauspielers Giglio Fava während des Karnevals in Rom. Er glaubt, ein Prinz zu werden, sich in eine Prinzessin zu verlieben und unglaub­ liche Abenteuer zu erleben. Doch die Mehrzahl der Menschen, die ihn umgeben, versichert ihm, daß davon nicht die Rede sein könne, sondern daß vielmehr er, Giglio, verrückt geworden sei. Genau das behauptet Signor Pasquale: »Signor Giglio, ich weiß, wie es mit Euch steht; ganz Rom hat erfahren, wie Ihr von der Bühne [habt] abtreten müssen, weil es Euch im Kopfe rappelt – ...« (Bd. II, p. 994). Manchmal zweifelt Giglio selbst an seinem Verstand: »... er war nahe daran, zu glauben, Signor Pasquale und Meister Bescapi hätten recht, ihn für was weniges verrückt zu halten« (II, p. 1006). So wird Giglio (und implizit der Leser) beständig darüber im Zweifel gehalten, ob das, was ihn um­ gibt, nun ein Produkt seiner Einbildungskraft sei oder nicht. Diesem einfachen und sehr häufig angewandten Verfahren kann man ein anderes gegenüberstellen, das viel seltener erscheint und bei dem wieder der Wahnsinn – aber auf andere Weise – dazu benutzt wird, um die nötige Ambiguität herzustellen. Wir meinen Nervals Aurélia. Dieses Buch enthält bekanntlich die Erzählung der Visionen, die eine Person während einer Periode des Wahnsinns gehabt hat. Der Bericht wird in der ersten Person gegeben, aber das ich steht offenbar für zwei voneinander unterschiedene Personen: einmal für die, die unbekannte Welten wahrnimmt (sie lebt in der Vergangenheit) und zum anderen für die Erzähler-Person, die die Eindrücke der ersteren übermittelt 36

(und die ihrerseits in der Gegenwart lebt). Auf den ersten Blick existiert hier das Fantastische nicht; weder für die Person, die ihre Visionen nicht dem Wahnsinn zuschreibt, sondern sie als ein luzideres Bild von Welt betrachtet (sie ist also im Bereich des Wunderbaren), noch für den Erzähler, der weiß, daß sie dem Wahnsinn oder dem Traum, nicht aber der Realität entstammen (von seinem Standpunkt aus gehört die Erzählung einfach dem Unheimlichen zu). Aber der Text funktioniert nicht auf diese Weise. Nerval läßt auf einer anderen Ebene die Ambiguität wieder entstehen, dort, wo man es nicht erwartet hat, und Aurelia bleibt eine fantastische Geschichte. Zuerst einmal ist sich die Person keineswegs sicher, welche Deutung den Fakten beizulegen sei. Gelegentlich glaubt sich selbst an ihren Wahn­ sinn, ohne daß dieser Glaube jemals Gewißheit würde. »Ich verstand, als ich mich unter Irrsinnigen sah, daß alles bisher für mich nur Ein­ bildung gewesen war. Übrigens schien es mir, daß die Versprechungen, die ich der Göttin Isis zuschrieb, sich durch eine Reihe von Prüfungen verwirklichten, die ich zu ertragen bestimmt war« (p. 125). Gleichzeitig ist sich der Erzähler nicht sicher, daß alles, was die Person erlebt hat, der Einbildungskraft entstammt; er insistiert darauf, daß gewisse mit­ geteilte Fakten wahr seien: »Ich erkundigte mich draußen – niemand hatte etwas gehört. – Und trotzdem bin ich noch sicher, daß der Schrei wirklich war und daß der Ton Lebender darin erklungen war« (p. 79). Die Ambiguität hängt auch von der Anwendung zweier Schreib­ weisen ab, die den ganzen Text durchdringen. Nerval wendet sie gewöhnlich gleichzeitig an. Es sind: Imperfekt und Modalisation. Die letztere besteht, wie wir uns erinnern, darin, gewisse einführende Wendungen zu gebrauchen, die, ohne den Sinn des Satzes zu ändern, die Beziehung zwischen dem Subjekt des Aussagens und der Aussage modifizieren. So beziehen sich beispielsweise die beiden Sätze »es regnet draußen« und »vielleicht regnet es draußen« auf den­ selben Sachverhalt, der zweite zeigt jedoch darüber hinaus die Un­ sicherheit an, in der sich das sprechende Subjekt in bezug auf die Wahr­ heit des von ihm ausgesagten Satzes befindet. Eine ähnliche Bedeutung hat das Imperfekt. Wenn ich sage »ich liebte Aurélia«, so sage ich damit nicht genau, ob idi sie jetzt immer noch liebe oder nicht. Die Kontinuität ist möglich, für gewöhnlich jedoch wenig wahrscheinlich. Nun ist der ganze Text der Aurelia durchsetzt von diesen beiden Verfahren. Man könnte ganze Seiten zum Beleg unserer Behauptung zitieren. Hier sind einige willkürlich herausgegriffene Beispiele: »Es schien mir, als kehrte ich in eine bekannte Wohnung zurück ... Eine alte Magd, die ich Margarete nannte und die ich seit der Kindheit zu 37

kennen wähnte, sagte zu mir ... Und ich hatten den Gedanken, daß die Seele meines Ahnen in diesem Vogel sei ... ich glaubte, in einen Abgrund zu stürzen, der die Erdkugel durchschnitt. Ich fühlte mich schmerzlos von einem Strom geschmolzenen Metalls fortgetrieben ... ich hatte das Gefühl, daß diese Flüsse aus lebenden Seelen im Mole­ kularzustand beständen ... es wurde mir klar, daß die Vorfahren die Gestalt gewisser Tiere annehmen, um uns auf der Erde zu besuchen ...« (pp. 27 u. 29; Hervorhebungen von mir, T. T.) etc. Fehlten diese Wen­ dungen, so wären wir, ohne jegliche Beziehung zur alltäglichen, ge­ wöhnlichen Wirklichkeit, eingetaucht in die Welt des Wunderbaren. Sie bewirken, daß wir zur gleichen Zeit in beiden Welten sind. Das Imperfekt schafft zudem eine Distanz zwischen handelnder Person und Erzähler, und zwar auf die Weise, daß die Position des letzteren für uns nicht erkennbar ist. Durch eine Reihe von Einschüben gewinnt der Erzähler Abstand in bezug auf die anderen Menschen, den »normalen Menschen« oder, genauer gesagt, zum üblichen Gebrauch bestimmter Wörter (in gewis­ sem Sinne ist die Sprache Hauptgegenstand von Aurelia): »... wenn man das, was die Menschen Vernunft nennen, wiedererlangt hat«, schreibt er irgendwo. Und an anderer Stelle: »... aber das war, wie es scheint, nur eine Täuschung meiner Augen« (p. 41) oder, wieder an anderer Stelle: »... meine scheinbar sinnlosen Handlungen waren dem unterworfen, was man nach der menschlichen Vernunft ›Illüsion‹ nennt« (p. 19). Ein bewundernswürdiger Satz: die Handlungen sind »sinnlos« (Hinweis auf das Natürliche), aber nur »scheinbar« (Hinweis auf das Übernatürliche); sie sind der Illusion unterworfen (Hinweis auf das Natürliche) oder vielmehr dem, »was man ... ›Illusion‹ nennt« (Hin­ weis auf das Übernatürliche). Zudem bedeutet das Imperfekt, daß nicht der gegenwärtige Erzähler so denkt, sondern die Person von einst. Und nun noch ein Satz, der die ganze Ambiguität von Aurelia resümiert: »... eine[r] Reihe von vielleicht ... sinnlosen Visionen« (p. 21). – Der Erzähler setzt sich so in Distanz zum »normalen« Menschen und nähert sich der Person an: die Gewißheit, daß es sich um Wahnsinn handelt, macht zugleich dem Zweifel Platz. Doch der Erzähler geht noch weiter: er nimmt später offen die These der Person wieder auf, die besagt, daß Wahnsinn und Traum nur eine höhere Vernunft sind. Die handelnde Person hatte folgendes darüber gesagt (p. 43): »... die Bereiche derer, die mich so gesehen hatten, ver­ setzten mich in eine Art Gereiztheit, als ich sah, daß man der Geistes­ verwirrung die Bewegungen und Worte zuschrieb, die für mich mit den verschiedenen Phasen einer logischen Kette von Ereignissen zusammen­ 38

fielen« (dem entspricht der Satz Edgar Allan Poes: »... es ist noch die Frage, ob der Wahnsinn nicht die höchste Stufe der Geistigkeit be­ deutet«, IV, p. 79). Und weiter: »Mit diesem Gedanken, den ich mir vom Traume gebildet hatte, der dem Menschen eine Verbindung mit der Geisterwelt eröffnete, hoffte ich ...« (p. 99). Der Erzähler jedoch spricht darüber folgendermaßen : »Ich will ... versuchen, die Eindrücke einer langen Krankheit niederzuschreiben, die sich ganz in den Myste­ rien meines Geistes abgespielt hat; – und ich weiß nicht, warum ich mich des Ausdrucks ›Krankheit‹ bediene, denn niemals habe ich mich, was mich selbst betriffi, wohler gefühlt. Mitunter hielt ich meine Kraft und meine Fähigkeit für verdoppelt ... die Einbildungskraft brachte mir unendliche Wonnen« (pp. 7 u. 9). Oder weiter unten: »Wie dem auch sei, ich glaube, daß die menschliche Einbildungskraft nichts er­ funden hat, was nicht in dieser oder einer anderen Welt wahr ist, und ich konnte nicht an dem zweifeln, was ich deutlich gesehen hatte« (p. 69). In diesen beiden Auszügen scheint der Erzähler offen zu erklären, daß das, was er während seines vermeintlichen Wahnsinns gesehen hat, nur ein Teil der Realität und er folglich niemals krank gewesen sei. Aber wenn auch jeder der Abschnitte im Präsens beginnt, so steht doch der letzte Satz wieder im Imperfekt; es führt die Ambiguität wieder in die Perzeption des Lesers ein. Das Gegenbeispiel findet sich in den letzten Sätzen von Aurélia: »... ich konnte gesünder über die Welt der Einbildung urteilen, in der ich einige Zeit gelebt hatte. Jedenfalls fühlte ich mich glücklich durch die Überzeugungen, die ich erlangt habe ...« (p. 161). Die erste Behauptung scheint alles Vorhergegangene in die Welt des Wahnsinns zu verweisen; weshalb aber dann dieses Glück über die neu erlangten Überzeugungen? Aurélia gibt also ein originelles und vollkommenes Beispiel für die Ambiguität des Fantastischen ab. Wohl kreist die Ambiguität um den Wahnsinn; aber während man sich bei Hoffmann fragte, ob die Person verrückt sei oder nicht, weiß man hier von vornherein, daß ihr Ver­ halten Wahnsinn heißt. Was es zu erfahren gilt (und auf diesen Punkt bezieht sich die Unschlüssigkeit), ist, ob der Wahnsinn nicht in der Tat eine höhere Vernunft ist. Zuvor betraf die Unschlüssigkeit die Wahr­ nehmung, nun betriffi sie die Sprache; bei Hoffmann ist man sich nicht schlüssig, welchen Namen man bestimmten Ereignissen geben soll, bei Nerval bezieht sich die Unschlüssigkeit auf das Innere des Namens: auf seinen Sinn.

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Das Unheimliche und das Wunderbare Das Fantastische, eine verschwimmende Gattung. – Das Fantastisch-Unheim­ liche. – Die »Ausflüchte« des Fantastischen. – Fantastisches und Wahrschein­ liches. – Das Unheimliche. – Edgar Allan Poe und die Grenzierfahrung. – Fantastisches und Kriminalroman. – Die Synthese beider: Burning Court. – Das Fantastisch-Wunderbare. – La Morte amoureuse und die Metamorphose des Leichnams. – Das unvermischte Wunderbare. – Die Märchen. – Unter­ gruppen: das Wunderbare hyperbolisch, exotisch, instrumental und natur­ wissenschaftlich (Science-Fiction). – Lob des Wunderbaren.

Wie wir gesehen haben, währt das Fantastische nur so lange wie die Unschlüssigkeit: die gemeinsame Unschlüssigkeit des Lesers und der handelnden Personen, die darüber zu befinden haben, ob das, was sie wahrnehmen, der »Realität« entspricht, wie sie sich in der herrschenden Auffassung darstellt. Am Ende der Geschichte kommt, wo nicht die Person, immerhin der Leser zu einer Entscheidung; er wählt die eine oder die andere Lösung und tritt durch eben diesen Akt aus dem Fantastischen heraus. Wenn er sich dafür entscheidet, daß die Gesetze der Realität intakt bleiben und eine Erklärung der beschriebenen Phä­ nomene zulassen, dann sagen wir, daß dieses Werk einer anderen Gattung zugehört: dem Unheimlichen. Wenn er sich im Gegenteil dafür entscheidet, daß man neue Naturgesetze anerkennen muß, aus denen das Phänomen dann erklärt werden kann, so treten wir in die Gattung des Wunderbaren ein. Das Fantastische ist daher stets bedroht; es kann sich jeden Augen­ blick verflüchtigen. Es scheint sich eher an der Grenze zwischen zwei Gattungen, nämlich zwischen dem Wunderbaren und dem Unheim­ lichen anzusiedeln, als daß es eine selbständige Gattung wäre. Eine der großen Epochen der »übernatürlichen« Literatur, die des Schauer­

romans (the Gothic Novel), scheint dafür die Bestätigung zu erbringen. Tatsächlich unterscheidet man im allgemeinen innerhalb des Schauer­ romans zwei Tendenzen: die des explizierten Übernatürlichen (des »Unheimlichen«, wie wir es nennen könnten), so wie wir es in den Romanen von Clara Reeves und Ann Radcliffe finden, und die Ten­ denz des als solches akzeptierten Übernatürlichen (oder des »Wunder­ baren«), dem die Werke von Horace Walpole, M. G. Lewis und von Mathurin zuzuordnen sind. Dort gibt es das Fantastische im eigent­ lichen Sinne nicht, nur Gattungen, die ihm benachbart sind. Genauer 40

gesagt, der Effekt des Fantastischen wird wohl erreicht, aber nicht über die ganze Dauer der Lektüre; so bei Ann Radcliffe nur bis zu dem Zeitpunkt, da wir sicher sein können, daß alles Geschehene rational erklärt werden kann; bei Lewis nur, bis wir überzeugt sind, daß die übernatürlichen Ereignisse keinerlei Erklärung finden werden. Hat man das Buch erst einmal beendet, begreift man, daß man es – in beiden Fällen – nicht mit dem Fantastischen zu tun gehabt hat. Man mag sich fragen, inwieweit eine Gattungsdefinition überhaupt zulässig ist, derzufolge das Werk „die Gattung wechseln« müßte auf­ grund eines so simplen Satzes wie etwa des folgenden: »Jn diesem Augenblick erwachte er und erblickte die Wände seines Zimmers ...« Zunächst jedoch hindert uns nichts daran, das Fantastische als eine stets verschwimmende Gattung zu betrachten. Eine derartige Kategorie hätte übrigens nichts Außergewöhnliches. Die klassische Definition der Gegen­ wart z. B. beschreibt uns diese als bloße Grenze zwischen Vergangen­ heit und Zukunft. Der Vergleich ist nicht zufällig: das Wunderbare entspricht einem unbekannten, nie gesehenen, kommenden, also zu­ künftigen Phänomen; beim Unheimlichen dagegen führt man das Un­ erklärliche auf bekannte Fakten, auf eine vorgängige Erfahrung und damit auf die Vergangenheit zurück. Was das Fantastische selbst angeht, so kann die Unschlüssigkeit, die dafür charakteristisch ist, ganz offen­ sichtlich nur der Gegenwart angehören. Hier stellt sich zusätzlich das Problem der Einheit des Werkes. Wir nehmen diese Einheit als selbstverständlich an und schreien Verrat, sobald jemand (nach Manier des Reader’s Digest) ein Werk in einzelne Teile zerschneidet. Aber die Dinge liegen zweifellos komplexer. Ver­ gessen wir nicht, daß in der Schule, wo man seine ersten Erfahrungen (zugleich mit die nachhaltigsten) mit der Literatur macht, Werke nur in Form von »ausgewählten Texten« oder »Auszügen« gelesen werden. Ein gewisser Buch-Fetischismus hat sich bis heute erhalten: das Buch verwandelt sich zugleich in ein kostbares und starres Objekt und in ein Symbol der Fülle, so daß der Ausschnitt zu einem Äquivalent der Kastration wird. Um wieviel freier war da die Haltung Chlebnikows, der Gedichte aus Teilen älterer Gedichte zusammensetzte und die Re­ dakteure, ja sogar die Drucker dazu ermunterte, seinen Text zu korri­ gieren! Allein die Identifizierung des Buches mit dem Sujet erklärt den Horror gegenüber dem Schnitt. Von dem Augenblick an, da man Teile des Werks für sich betrachtet, kann man das Ende der Erzählung provisorisch in Klammern setzen. Das erlaubt uns dann, dem Fantastischen eine weit größere Zahl von Texten zuzuordnen. Die zur Zeit gängige Ausgabe der Abenteuer in

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der Sierra Morena liefen dafür den besten Beweis: abgesehen von sei­ nem Sdiluß, der der Unschlüssigkeit ein Ende macht, gehön das Buch ganz dem Fantastischen zu. Charles Nodier, einer der Pioniere des Fantastischen in Frankreich, war sich dieser Tatsache bewußt und be­ handelt sie in einer seiner Novellen, Inès de las Sierras. Dieser Text setzt sich aus zwei spürbar ausgewogenen Teilen zusammen. Das Ende des ersten Teils überläßt uns unserer grenzenlosen Verblüffung: wir wissen nicht, wie wir uns die unheimlichen Ereignisse, die darin Vor­ kommen, erklären sollen; desungeachtet sind wir jedoch auch wieder nicht bereit, das Übernatürliche so leicht zu akzeptieren wie das Natür­ liche. Der Erzähler schwankt also zwischen zwei möglichen Fortsetzun­ gen: entweder bricht er seine Erzählung an der Stelle ab (und bleibt damit im Fantastischen), oder er setzt sie fon (und gibt das Fantastische auf). Er selbst, so erklän er seinem Publikum, zieht es vor aufzuhören und rechtfertigt sich folgendermaßen: »Jede andere Lösung wäre in meiner Erzählung fehl am Platze, denn dadurch würde sie ihre Natur ändern« (p. 697). Es wäre indessen falsch zu behaupten, das Fantastische könne immer nur in einem Teil des Werkes existieren. Es gibt Texte, die die Ambi­ guität bis zum Schluß aufrechterhalten, was soviel bedeutet wie: über den Schluß hinaus. Die Ambiguität dauert fort, wenn man das Buch schon zugeklappt hat. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist Henry James’ Roman The Turn of the Screw. Der Text läßt keine Entschei­ dung darüber zu, ob nun Gespenster das alte Anwesen heimsuchen, oder ob es sich um Sinnestäuschungen der Erzieherin handelt, die ein Opfer der beunruhigenden Atmosphäre geworden ist, von der sie um­ geben ist. Innerhalb der französischen Literatur bietet Prosper Mérimées Novelle La Venus d’Ille ein vollkommenes Beispiel für diese Ambigui­ tät. Eine Statue scheint lebendig zu werden und einen Jungvermählten zu töten; über dieses »scheint« gelangen wir jedoch nicht hinaus und erlangen niemals Gewißheit. In jedem Falle kann man aus einer Untersuchung des Fantastischen das Wunderbare und das Unheimliche nicht ausschließen, die Gattungen also, mit denen es sich überschneidet. Vergessen wir aber andererseits auch nicht, daß, wie Louis Vax es ausdrückt, »die Kunst des Fantasti­ schen sich im Idealfall in der Unentschiedenheit zu halten weiß« (p. 98). Sehen wir uns nun diese beiden Nachbarn ein wenig näher an. Wir stellen dabei fest, daß in beiden Fällen, d. h. zwischen dem Fantasti­ schen und dem Unheimlichen einerseits und dem Fantastischen und dem Wunderbaren andererseits eine Untergattung den Übergang bildet. Diese Untergattungen umfassen die Werke, die über lange Zeit die

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Unschlüssigkeit des Fantastischen aufrechterhalten, schließlich aber im Wunderbaren oder im Unheimlichen enden. Man könnte diese Unter­ teilungen mit Hilfe des folgenden Diagramms darstellen:

unvermischt Unheimliches

FantastischUnheimliches

FantastischWunderbares

unvermischt Wunderbares

Das unvermischt Fantastische wäre in der Zeichnung durch die Mittel­ linie repräsentiert, die das Fantastisch-Unheimliche vom Fantastisch­ Wunderbaren trennt; die Linie entspricht so ganz der Natur des Fan­ tastischen als Grenze zwischen zwei benachbarten Domänen. Beginnen wir mit dem Fantastisch-Unheimlichen. Ereignisse, die die ganze Geschichte hindurch unheimlich erscheinen, finden in dieser Gat­ tung am Schluß eine rationale Erklärung. Wenn diese Ereignisse lange Zeit die Person und den Leser veranlaßt haben, an den Eingriff des Übernatürlichen zu glauben, so deswegen, weil sie unerhört waren. Die Kritik hat diese Spielart unter der Bezeichnung »expliziertes Über­ natürliches« beschrieben (und oft verworfen). Als Beispiel für das Fantastisch-Unheimliche sollen wiederum die Abenteuer in der Sierra Morena dienen. Am Ende der Erzählung wer­ den alle Wunder rational erklärt. In einer Grotte triffi: Alfons den Eremiten, der ihn am Anfang bei sich aufgenommen hatte und der selbst der große Scheich der Gomélez ist. Dieser enthüllt ihm die Mechanismen der Ereignisse, die bis dahin eingetreten sind: »Don Enrique de Sa, der Statthalter von Cadiz, ist einer der Eingeweihten. Er hatte Dir auch López und Mosquito empfohlen, die Dich an der Quelle von Alcornoques verließen ... Mit Hilfe eines Schlaftrunks wurde erreicht, daß Du am nächsten Tage unterm Galgen der Brüder Zotos erwachtest. Von dort gelangtest Du in meine Einsiedelei, wo Du auf den schrecklichen Besessenen Pacheco stießest, der in Wirklichkeit ein vizcayischer Seiltänzer ist ... Am nächsten Tage setzten wir Dich einer weit grausigeren Prüfung aus: der falschen Inquisition, die Dir mit den schaurigsten Torturen drohte und dennoch Deinen Mut nicht zu erschüttern vermochte« (II, p. 393) etc. Bis hierher war der Zweifel bekanntlich zwischen zwei Polen, der Existenz des Übernatürlichen und einer Reihe rationaler Erklärungen, aufrechterhalten worden. Welches sind nun die Erklärungen, die dar­ auf abzielen, das Übernatürliche verschwinden zu machen? Da ist zuerst der Zufall, die Koinzidenz, denn in der Welt des Übernatürlichen gibt es keinen Zufall, dort herrscht im Gegenteil, was man »Pan-Deter­ minismus« nennen kann (der Zufall ist die Erklärung, die das Über­ 43

natürliche in Inès de las Sierras abbaut); außerdem bieten sich an: der Traum (die Lösung, die im Diable amoureux angeboten wird), der Ein­ fluß von Drogen (daraus resultieren Alfons' Träume in der ersten Nacht), der Betrug, der inszenierte Schwindel (darauf beruht im wesent­ lichen die Lösung der Abenteuer in der Sierra Morena), die Sinnes­ täuschung (als Beispiele sollen später Gautiers La Morte amoureuse und J. D. Carrs Burning Court betrachtet werden), schließlich der Wahnsinn wie in der Prinzessin Brambilla. Es ergeben sich offensichtlich zwei Gruppen von »Ausflüchten«, die den Gegensätzen real-imaginär und real-illusorisch entsprechen. In der ersten Gruppe geschieht nichts Übernatürliches, denn es geschieht überhaupt nichts: was man zu sehen glaubte, war nur die Frucht einer entgleisten Einbildungskraft (Traum, Wahnsinn, Drogenrausch). In der zweiten hingegen haben die Ereig­ nisse wohl stattgefunden, lassen sich jedoch rational (als Zufälle, Be­ trug, Täuschungen) erklären. Erinnern wir uns, daß in den weiter oben zitierten Definitionen des Fantastischen die rationale Lösung als »bar jeder inneren Wahrschein­ lichkeit« (Solowjow) oder als »Tür ... [die] so eng sein muß, daß man von ihr keinen Gebrauch machen kann« (M. R. James) hingestellt wird. Tatsächlich sind die realistischen Lösungen, denen die Abenteuer in der Sierra Morena oder Inès de las Sierras zugeführt werden, vollkommen unwahrscheinlich; eine übernatürliche Lösung wäre hingegen wahr­ scheinlich gewesen. Die Koinzidenz in Nodiets Novelle ist zu künstlich; der Autor der Abenteuer .. . versucht noch nicht einmal, ihnen einen glaubwürdigen Schluß zu geben: die Geschichte vom Schatz, vom unter­ höhlten Berg und vom Imperium der Gomélez läßt sich nicht so leicht akzeptieren wie die von der Frau, die in einen Kadaver verwandelt worden ist. Das Wahrscheinliche steht also nirgendwo im Gegensatz zum Fantastischen: ersteres ist eine Kategorie, die sich auf die innere Kohärenz, auf die Unterordnung unter die Gattung * bezieht, letzteres bezieht sich auf die ambivalente Wahrnehmung des Lesers und der Person. Es ist doch nur wahrscheinlich, daß es innerhalb der Gattung des Fantastischen zu »fantastischen« Reaktionen kommt. Abgesehen von den Fällen, wo man sich am Ende, etwas wider­ willig, nur deshalb im Bereich des Unheimlichen wiederfindet, weil dieses zur Erklärung des Fantastischen unerläßlich war, gibt es auch noch das unvermischt Unheimliche. In den Werken, die dieser Gattung zugehören, wird von Begebenheiten berichtet, die sich gänzlich aus den * Zu diesem Problem vgl. die Untersuchungen, die in Le Vraisemblable (Commu­ nications, 11) erschienen sind.

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Gesetzen der Vernunft erklären lassen, die jedoch auf die eine oder andere Weise unglaublich, außergewöhnlich, schockierend, einzigartig, beunruhigend oder unerhört sind und aus diesem Grunde in der Person und dem Leser eine Reaktion hervorrufen, die der ähnelt, die uns von fantastischen Texten her vertraut ist. Die Definition ist, wie man sieht, weitgefaßt und verschwommen, aber ebenso verhält es sich mit dem Genre, das sie beschreibt: das Unheimliche ist im Gegensatz zum Fan­ tastischen kein wohlabgegrenztes Genre. Genauer gesagt, es wird nur von einer Seite, der des Fantastischen, her begrenzt. Auf der anderen verliert es sich ins allgemeine Feld der Literatur (so können z. B. Dostojewskis Romane unter die Kategorie des Unheimlichen eingeord­ net werden). Wenn man Freud glauben will, so ist das Gefühl des Unheimlichen an das Auftauchen eines Bildes gebunden, das seinen Ursprung in der Kindheit des Individuums oder der menschlichen Rasse hat - eine Hypothese, die zu überprüfen wäre; zwischen diesem Ge­ brauch des Begriffs und unserem besteht keine vollständige Überein­ stimmung. Die reine Grusel-Literatur gehört zum Unheimlichen. Viele der Novellen von Ambrose Bierce könnten hier als Beispiel dienen. Das Unheimliche erfüllt, wie man sieht, nur eine einzige der Voraus­ setzungen für das Fantastische: die Beschreibung bestimmter Reaktio­ nen, insbesondere der Angst. Es ist einzig an die Gefühle der Personen gebunden und nicht an ein materielles Ereignis, das der Vernunft die Stirn bietet (das Wunderbare hingegen ist, wie man sehen wird, durch die bloße Existenz übernatürlicher Fakten gekennzeichnet, ohne gleich­ zeitig die Reaktion zu implizieren, die diese Fakten bei den handelnden Personen hervorrufen). Eine Novelle Edgar Allan Poes, die als Illustration für ein Unheim­ liches, das dem Fantastischen nahekommt, dienen kann, ist The Fall of th e House of Usher. Der Erzähler kommt eines Abends in diesem Haus an, herbeigerufen von seinem Freund Roderick Usher, der ihn bittet, eine Weile bei ihm zu bleiben. Roderick ist ein hochsensibler, nervöser Mensch; er betet seine Schwester an, die gerade schwerkrank ist. Einige Tage später stirbt sie, und die beiden Freunde bahren ihren Leichnam in einer der Gruften des Hauses auf, statt sie zu beerdigen. Einige Tage vergehen. An einem stürmischen Abend, als die beiden Freunde sich in einem Zimmer aufhalten und der Erzähler mit lauter Stimme eine alte Rittergeschichte vorliest, scheinen die Geräusche, die in der Chronik beschrieben werden, in den Geräuschen nachzuhallen, die man im Hause vernehmen kann. Roderick Usher steht schließlich auf und sagt mit fast unhörbarer Stimme: •W i r h a b e n s i e I e b e n d i g i n s G r a b g e 1 e g t !« (III/IV, p. 170; Hervorhebung im Text der dt. Ausgabe, 45

d. U.). Und tatsächlich öffnet sich die Tür, und die Schwester steht auf der Schwelle. Bruder und Schwester werfen sich einander in die Arme und fallen tot zu Boden. Der Erzähler flieht aus dem Haus – gerade noch rechtzeitig, ehe es in den nahen Teich stürzt. Das Unheimliche kommt hier aus zwei Quellen. Die erste wird von Koinzidenzen gespeist (die hier ebenso eine Rolle spielen wie in den Geschichten der Gattung des explizierten Übernatürlichen). So könnten die Auferstehung der Schwester und der Sturz des Hauses nach dem Tod seiner Bewohner übernatürlich erscheinen, aber Poe hat nicht ver­ säumt, das eine wie das andere rational zu erklären. Über das Haus schreibt er: »Vielleicht wäre dem Auge eines, scharfen Beobachters ein kaum bemerkbarer Riß nicht entgangen, der an der Vorderseite des Gebäudes am Dache begann und in einer Zickzacklinie das ganze Mauerwerk bis herunter in das trübe Wasser des Teiches durchlief« (III/IV, p. 145); und über Lady Madeline: »Eine anhaltende Abspan­ nung, eine stetig fortschreitende Entkräftung des ganzen Körpers und häufige, wenn auch vorübergehende Anfälle von meist kataleptischer Natur – so lautete die ungewöhnliche Diagnose« (ebd., p. 152). Die übernatürliche Erklärung wird also nur suggeriert, und es ist keines­ wegs unumgänglich, daß man sie akzeptiert. Die andere Reihe von Elementen, die den Eindruck des Unheimlichen hervorrufen, ist nicht an das Fantastische geknüpft, sondern an das, was man eine »Grenzerfahrung« nennen könnte und was für Poes Werk insgesamt kennzeichnend ist. Schon Baudelaire schrieb über ihn: »Kein Mensch, ich wiederhole es, hat mit mehrMagie die Ausnahmen des menschlichen Lebens und der Natur erzählt« (III, p. 137, Hervor­ hebung im Text der dt. Ausgabe, d. Ü.). Und bei Dostojewski heißt es: »Er [Poe] wählt fast immer eine höchst außergewöhnliche Situation der Wirklichkeit, konfrontiert seine Personen auf der äußerlichen oder psychologischen Ebene mit den ungewöhnlichsten Umständen ...« (Poe hat übrigens dieses Thema in einer Erzählung behandelt, einer »meta­ unheimlichen« Erzählung mit dem Titel The Angel of the Odd.) In The Fall of the House of Usher wird der Leser durch den außerordent­ lich angekränkelten Zustand von Bruder und Schwester beunruhigt. In anderen Geschichten erzielen Szenen der Grausamkeit, wollüstig aus­ gekostete Bosheit und Mord denselben Effekt. Das Gefühl des Unheim­ lichen geht also von den evozierten Themen aus, die jeweils an mehr oder minder alte Tabus geknüpft sind. Wenn man akzeptiert, daß die ursprüngliche Erfahrung durch die Übertretung zustandekommt, kann man Freuds Theorie über den Ursprung des Unheimlichen akzeptieren. So bleibt das Fantastische letzten Endes aus dem House of Usher

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ausgeschlossen. Ganz allgemein kann man sagen, daß es in Poes Werk keine fantastischen Erzählungen im strengen Sinne gibt, ausgenommen vielleicht A Tatle of the Ragged Mountains und The Black Cat. Seine Novellen entspringen fast sämtlich dem Unheimlichen und, einige nur, dem Wunderbaren. Nichtsdestoweniger steht Poe, sowohl von seinen Themen als auch von den Techniken her, die er entwickelt hat, den Autoren des Fantastischen sehr nahe. Wie man ja weiß, hat Poe dem modernen Kriminalroman zum Leben verholfen, und diese Nachbarschaft ist kein Zufallsprodukt. Es wird überhaupt oft behauptet, die Kriminalgeschichten hätten die Gespenster­ geschichten abgelöst. Wir wollen die Art dieser Verwandtschaft näher bestimmen. Der klassische Detektivroman, in dem es um die Enthüllung der Identität des Schuldigen geht, ist folgendermaßen konstruiert: auf der einen Seite gibt es mehrere naheliegende Lösungen, die auf den ersten Blick verlockend erscheinen, sich dann jedoch eine nach der ande­ ren als falsch erweisen; auf der anderen Seite gibt es eine Lösung, die völlig unwahrscheinlich ist, auf die man erst am Schluß kommt und die sich dann als die einzig richtige herausstellt. Es läßt sich bereits erken­ nen, was den Kriminalroman in die Nähe der fantastischen Erzählung rückt. Erinnern wir uns an die Definitionen von Solowjow und James: auch die fantastische Erzählung enthält zwei mögliche Lösungen, die eine wahrscheinlich und übernatürlich, die andere unwahrscheinlich und rational. Es reicht also schon aus, daß die zweite Lösung im Kriminal­ roman derartig schwer zu finden ist, daß sie »jeglicher Vernunft spottet•, um uns geneigt zu machen, eher die Existenz des Übernatür­ lichen als das Fehlen einer Lösung überhaupt zu akzeptieren. Hierfür gibt es ein klassisches Beispiel: Agatha Christies The Last Weekend. Zehn Personen befinden sich, abgeschnitten von der Umwelt, auf einer Insel. Es wird ihnen (mit Hilfe einer Schallplatte) mitgeteilt, daß sie alle sterben werden als Strafe für Verbrechen, die vom Gesetz nicht gesühnt werden können. Die Todesart jedes einzelnen von ihnen wird überdies in dem Kinderlied »Zehn kleine Negerlein« beschrieben. Die zum Tode Verdammten – und mit ihnen der Leser – versuchen vergeb­ lich herauszufinden, wer die Bestrafungen eine nach der anderen vor­ nimmt: sie sind allein auf der Insel. Einer nach dem anderen stirbt, ein jeder auf die im Lied angekündigte Weise. Bis auf den letzten, der – und das ruft den Eindruck des Übernatürlichen hervor – sich nicht selbst umbringt, sondern getötet wird. Eine rationale Erklärung er­ scheint unmöglich. Man muß die Existenz unsichtbarer Wesen oder Geister annehmen. Es versteht sich, daß diese Hypothese nicht unum­ gänglich ist und eine rationale Erklärung geliefert wird. Der Kriminal­ 47

roman kommt dem Fantastischen nahe, aber er ist auch sein Gegenteil: bei fantastischen Texten neigt man doch immerhin eher zur übernatür­ lichen Erklärung; der Kriminalroman hingegen läßt, sobald er zu Ende ist, nicht den geringsten Zweifel darüber, daß nichts Übernatürliches im Spiel gewesen ist. Diese Annäherung triffi ohnehin nur auf einen bestimmten Typus des Kriminalromans, eben den, der um die Lösung eines Rätsels (»le local clos«) kreist und auf eine bestimmte Art von unheimlicher Erzählung (das explizierte Übernatürliche) zu. Darüber hinaus sind die Akzente in den beiden Genres verschieden gesetzt: beim Kriminalroman liegt er auf der Lösung des Rätsels; bei den Texten, die dem Unheimlichen zugehören, liegt er (wie in der fantastischen Erzählung) auf den Reaktionen, die dieses Rätsel hervorruft. Aus der strukturalen Verwandtschaft resultiert nichtsdestoweniger eine Ähn­ lichkeit, die es hervorzuheben gilt. Ein Autor verdient besonders, daß man sich länger mit ihm beschäf­ tigt, wenn man das Verhältnis zwischen Kriminalromanen und fanta­ stischen Geschichten behandelt. Es ist John Dickson Carr. In einem seiner Bücher, Burning Court (Die Doppelgängerin), stellt sich das Pro­ blem auf exemplarische Weise. Ebenso wie bei dem Roman von Agatha Christie sieht man sich hier vor ein Problem gestellt, das allem Anschein nach für den Verstand unlösbar ist: vier Männer öffnen eine Grab­ kammer, in der vier Tage zuvor ein Leichnam aufgebahrt worden ist; doch die Grabkammer ist leer, und es ist ausgeschlossen, daß sie in der Zwischenzeit jemand geöffnet hat. Es geht noch weiter: die ganze Ge­ schichte hindurch wird von Geistern und übernatürlichen Phänomenen gesprochen. Für das Verbrechen, das stattgefunden hat, gibt es einen Zeugen, und dieser Zeuge versichert, er habe gesehen, wie die Mörderin das Zimmer des Opfers verlassen habe, indem sie durch die Wand gegangen sei, und zwar an einer Stelle, wo es zweihundert Jahre zuvor eine Tür gegeben habe. Eine der in die Affaire verwickelten Personen, eine junge Frau, hält sich wiederum selbst für eine Hexe, genauer gesagt für eine Giftmischerin (der Ermordete ist vergiftet worden), die einer besonderen Art von menschlichen Wesen angehört: den Nicht-Toten. »Kurz gesagt, die Nicht-Toten sind solche Personen – gewöhnlich Frauen –, die wegen Giftmordes zum Tode verurteilt wurden und deren Körper man, tot oder lebendig, auf dem Scheiterhaufen verbrannte«, so erfährt man später. Doch als Stevens, der Gatte dieser Frau, ein Manuskript durchblättert, das er von dem Verlag bekommen hat, bei dem er arbeitet, stößt er auf eine Fotografie, die folgendermaßen be­ titelt ist: Marie d'Aubray, wegen Mordes im Jahre 1861 guillotiniert. Im Text heißt es dann: »Es handelte sich um ein Foto von Stevens 48

eigener Frau. Wie hätte die junge Frau nach mehr als siebzig Jahren dieselbe Person sein können wie eine berühmte Giftmischerin des 19. Jahrhunderts, die obendrein noch guillotiniert worden ist? Sehr ein­ fach, wenn man Stevens Frau glauben will, die bereit ist, den gerade geschehenen Mord auf sich zu nehmen. Eine Reihe anderer Fügungen scheint die Gegenwart des Übernatürlichen zu bestätigen. Schließlich triffi ein Detektiv ein, und alles beginnt sich aufzuklären. Die Frau, die man hatte durch die Wand gehen sehen, war eine Sinnestäuschung, die mit Hilfe eines Spiegels hervorgerufen worden war. Der Leichnam war nicht verschwunden, sondern geschickt versteckt. Die junge Marie Stevens hatte nichts mit längst verstorbenen Giftmischerinnen gemein, wenngleich man versucht hatte, sie das glauben zu machen. Die ganze Atmosphäre des Übernatürlichen war vom Mörder geschaffen worden, um die Angelegenheit zu vernebeln und den Verdacht von sich abzu­ lenken. Die wahren Schuldigen werden entdeckt, wenn es auch nicht gelingt, sie zu bestrafen. Darauf folgt ein Epilog, dank dem Burning Court aus der Klasse derjenigen Kriminalromane, die das Übernatürliche einfach nur evo­ zieren, heraus- und in die Klasse der fantastischen Erzählungen eintritt. Marie wird erneut gezeigt; sie sitzt zu Hause und denkt über den Fall nach. Das Fantastische lebt wieder auf. Marie versichert (dem Leser), sie sei doch die Giftmörderin, der Detektiv sei in Wahrheit ihr Freund (was nicht falsch ist) und habe die rationale Erklärung des Falles nur gegeben, um sie, Marie, zu retten. »Es war wirklich sehr geschickt, ihnen eine Erklärung zu liefern, eine vernünftige Erklärung, die nur die drei Dimensionen und das Problem der steinernen Mauer berücksichtigt.« Die Welt der Nicht-Toten tritt wieder in ihre Rechte ein und mit ihr das Fantastische: wir sind völlig unschlüssig, für welche Lösung wir uns entscheiden sollen. Man muß sich jedoch vor Augen halten, daß es sich hier letztlich nicht so sehr um eine Ähnlichkeit zwischen zwei Gat­ tungen als vielmehr um ihre Synthese handelt. Begeben wir uns nun auf die andere Seite jener Mittellinie, als die wir das Fantastische bezeichnet haben. Wir sind im Bereich des Fan­ tastisch-Wunderbaren, anders ausgedrückt, in der Klasse solcher Erzäh­ lungen, die sich als fantastisch präsentieren und mit der Anerkennung des Übernatürlichen enden. Darunter sind die Erzählungen, die dem unvermischten Fantastischen am nächsten kommen, denn schon durch die Tatsache, daß es unerklärt, rational unbegründet bleibt, suggeriert es uns durchaus die Existenz des Übernatürlichen. Die Grenze zwischen diesen beiden wird also unbestimmt sein; nichtsdestoweniger wird das

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Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Details eine Unterscheidung ermöglichen. Théophile Gautiers La Morte amoureuse mag als Beispiel dienen. Es ist die Geschichte eines Mönchs, der sich am Tage seiner Ordination in die Kurtisane Clarimonde verliebt. Nach einigen flüchtigen Begegnun­ gen erlebt Romuald (so heißt der Mönch) den Tod Clarimondes mit. Von dem Tage an beginnt sie, ihm in seinen Träumen zu erscheinen. Diese Träume haben im übrigen eine seltsame Eigenart: statt sich nach den Eindrücken des Tages zu bilden, ergeben sie eine fortlaufende Er­ zählung. In seinen Träumen führt Romuald nicht mehr das strenge Leben eines Mönchs, sondern lebt in Venedig im Taumel nimmer enden­ der Feste. Und zur selben Zeit gewahrt er, daß Clarimonde sich durch das Blut am Leben erhält, das sie ihm während der Nacht aussaugt ... Bis dahin läßt sich für alle Ereignisse eine rationale Erklärung finden. Zum großen Teil werden diese Erklärungen mit dem Traum begründet (»Gebe Gott, daß dies ein Traum ist!« ruft Romuald aus, p. 79; er ähnelt in diesem Punkt Alvares in Le Diable amoureux), zum anderen mit Sinnestäuschungen: »Eines Abends, als ich in den von Buchsbaum umsäumten Wegen meines kleinen Gartens spazierenging, dünkte mir, als sähe ich durch den Laubengang eine Frauengestalt« (p. 93). »Einen Augenblick glaubte ich sogar zu sehen, wie sich ihr Fuß bewegte ...« (p. 97); »Ich weiß nicht, ob das eine Sinnestäuschung oder der Wider­ schein der Lampe war, aber es sah fast so aus, als finge unter der fahlen Blässe das Blut wieder zu zirkulieren an« (p. 99, Hervorhebungen im Text von mir, T. T.) usw. Schließlich kann eine Reihe von Ereignissen als einfach nur unheimlich und zufällig betrachtet werden; Romuald selbst ist jedoch bereit, darin die Hand des Teufels zu sehen: »Die Unheimlichkeit des Abenteuers, die übernatürliche [!] Schönheit Clari­

mondes, das phosphoreszierende Glänzen ihrer Augen, ihr glühend heißer Händedruck, die Verwirrung, in die sie mich gestürzt hatte, die Veränderung, die plötzlich in mir vorgegangen war – all das bewies eindeutig die Gegenwart des Teufels, und diese samtene Hand war vielleicht nur der Handschuh, mit dem er seine Klaue bedeckt hielt« (p. 90).

Tatsächlich kann es der Teufel sein, aber ebensogut auch der reine Zufall. Wir bleiben also bis hierhin im Bereich des unvermischten Fantastischen. Nun geschieht in diesem Augenblick etwas, das der Er­ zählung eine andere Richtung gibt. Ein anderer Priester, Sérapion, erfährt – wie, weiß man nicht – von Romualds Abenteuer. Er führt ihn zu dem Friedhof, auf dem Clarimonde begraben liegt. Er gräbt ihren Sarg aus, öffnet ihn, und Clarimonde liegt vor ihnen, frisch wie 50

am Tage ihres Todes, einen Blutstropfen auf den Lippen ... Von heili­ gem Zorn ergriffen, besprengt der Abbé Sérapion den Leichram mit Weihwasser. »Kaum hatte das Weihwasser die arme Clarimonde be­ rührt, als ihr schöner Körper zu Staub zerfiel; er war nur mehr ein schrecklich ungestaltes Gemisch von Asche und halbverbrannten Kno­ chen« (p. 116). Diese ganze Szene und insbesondere die Metamorphose des Leidmams können nicht aus den geltenden Naturgesetzen erklärt werden; wir sind eindeutig im Bereich des Fantastisch-Wunderbaren. Ein ähnliches Beispiel findet sich in Villiers de l’Isle-Adams Véra. Auch hier kann man wieder während der ganzen Novelle unschlüssig sein, ob man nun an ein Leben nach dem Tod glauben oder der Mei­ nung sein soll, daß der Graf, der daran glaubt, verrückt sei. Am Schluß jedoch entdeckt der Graf in seinem Zimmer den Schlüssel zu Véras Gruft, und da er ihn selbst ins Innere der Gruft geworfen hatte, kann nur Véra, die Tote, ihn hergebracht haben.

Schließlich gibt es noch ein »unvermischtes Wunderbares«, das, wie das Unheimliche, nicht klar eingegrenzt ist (wir hatten im vorher­ gegangenen Kapitel gesehen, daß die unterschiedlichsten Werke Ele­ mente des Wunderbaren enthalten). Beim Wunderbaren rufen die über­ natürlichen Elemente weder bei den Personen noch beim impliziten Leser eine besondere Reaktion hervor. Nicht die Haltung gegenüber den berichteten Ereignissen charakterisiert das Wunderbare, sondern die Natur dieser Ereignisse selbst. Man sieht – das sei zwischendurch angemerkt –, wie willkürlich die alte Unterscheidung zwischen Form und Inhalt war: das evozierte Er­ eignis, das traditionell dem »Inhalt« zugehörte, wird hier zu einem »formalen« Element. Umgekehrt gilt ebenso: das stilistische (also »for­ male«) Verfahren der Modalisation kann, wie man an Aurélia sehen konnte, einen präzisen Inhalt haben. Man verbindet im allgemeinen die Gattungen des Wunderbaren mit der des Märchens. Das Märchen ist in Wirklichkeit nur eine der Spiel­ arten des Wunderbaren, und die übernatürlichen Ereignisse lösen hier keinerlei Überraschung aus – weder der hundertjährige Schlaf, noch der sprechende Wolf oder die Zauberkräfte der Feen (um nur einige Ele­ mente der Märchen Perraults zu nennen). Was das Märchen charakteri­ siert, ist eine bestimmte Schreibweise, nicht die Stellung, die das über­ natürliche in ihm einnimmt. Hoffmanns Erzählungen veranschaulichen diesen Unterschied sehr gut: Nußknacker und Mausekönig, Das fremde Kind, Die Königsbraut gehören aufgrund bestimmter Eigenschaften der Schreibweise zu den Märchen, während Die Brautwahl kein Mär­

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chen ist, obwohl dem Übernatürlichen darin die gleiche Stellung ein­ geräumt wird. Auch die Märchen aus tausendundeiner Nacht müßte man wohl eher als wunderbare Geschichten denn als Märchen diarakte­ risieren (dieser Frage wäre in einer gesonderten Studie nachzugehen). Um das unvermischte Wunderbare deutlich einzugrenzen, empfiehlt es sich, die Arten von Erzählung, in denen das Übernatürliche noch eine gewisse Rechtfertigung erfährt, davon zu trennen. 1. Man könnte zunächst von einem hyperbolischen Wunderbaren sprechen. Hier sind die Phänomene übernatürlich lediglich aufgrund ihrer Ausmaße, die die uns vertrauten übertreffen. So versichert in den Märchen aus tausendundeiner Nacht Sindbad der Seefahrer, »einen Fisch, der zweihundert Ellen lang war« oder auch »Schlangen und Vipern, von denen eine jede so lang war wie ein Palmbaum hoch ist und [die] wegen ihrer Größe einen Elefanten hätte verschlingen kön­ nen« (IV, p. 120) gesehen zu haben. Aber vielleicht handelt es sich hier einfach um eine Redeweise (wir werden dieser Frage nachgehen, wenn wir die poetische und die allegorische Interpretation von Texten behandeln) ; man könnte ein französisches Sprichwort aufnehmen und hinzufügen, daß »Angst große Augen hat«. Jedenfalls tut diese Art von Übernatürlichem der Vernunft nicht allzuviel Gewalt an. 2. Diesem ersten Typus des Wunderbaren steht das exotische Wun­ derbare ziemlich nahe. Hier wird von übernatürlichen Ereignissen berichtet, ohne daß sie als solche vorgestellt würden. Man geht davon aus, daß der implizite Empfänger dieser Geschichten die Gegenden nicht kennt, in denen die Ereignisse ablaufen; folglich hat er auch keinen Grund, diese zu bezweifeln. Sindbads zweite Reise liefert dafür einige hervorragende Beispiele. Dort wird am Anfang der Vogel Roc in sei­ nen erstaunlichen Ausmaßen beschrieben: er verdeckte die Sonne und »[hielt] ihr Licht von der Insel fern« (IV, p. 118). Sicher, für die heutige Zoologie gibt es diesen Vogel nicht; die Zuhörer Sindbads waren jedoch von solcher Gewißheit weit entfernt, und fünf Jahrhun­ derte später schreibt noch Galland: »Marco Polo in seinen Reisebe­ schreibungen und Pater Martini in seiner Geschichte Chinas sprechen von diesem Vogel«, usw. Etwas später beschreibt Sindbad auf dieselbe Weise das Rhinozeros, das uns doch wohlbekannt ist: »Es gibt aber auf jener Insel auch eine Art von Rindern. Seeleute, Reisende und Pilger, die über Berg und Tal ziehen, haben uns erzählt, daß dies Nashorn, wie man es nennt, einen großen Elefanten auf seinem Horn davon­ tragen kann und dann auf der Insel und am Ufergelände weiter weidet, ohne etwas davon zu bemerken; dann verendet jedoch der Elefant auf dem Horn, und sein Fett, das in der Sonnenhitze schmilzt, fließt dem 52

Nashorn auf den Kopf und dringt ihm in die Augen, so daß es blind wird und sich am Strand niederlegen muß. Darauf kommt der Vogel Ruch herbei, hebt es mit seinen Fängen hoch und bringt es seinen Jun­ gen« (IV, p. 124 f.). In diesem Bravourstück mischen sich natürliche und übernatürliche Elemente, und man kann daran den spezifischen Charak­ ter des exotischen Wunderbaren erkennen. Die Mischung existiert offen­ sichtlich nur für den modernen Leser; für den impliziten Erzähler der Geschichte hingegen bewegt sich alles auf demselben Niveau (dem des »Natürlichen«). 3. Einen dritten Typus des Wunderbaren könnte man als instrumen­ tales Wunderbares bezeichnen. Hier werden kleine Wunder der Technik vorgeführt, technische Perfektion, wie sie in der beschriebenen Epoche nicht zu realisieren, aber für sich betrachtet doch durchaus möglich war. In der Geschichte von dem Prinzen Ahmed in Tausendundeine Nacht sind diese wunderbaren Instrumente, die am Anfang genannt werden, ein fliegender Teppich, ein heilkräftiger Apfel und ein »Rohr«, mit dem man in die Feme sehen kann. Heutzutage haben der Hubschrauber, die Antibiotika und das Fernrohr, die mit diesen Eigenschaften begabt sind, absolut nichts mehr mit dem Wunderbaren zu tun. Ebenso verhält es sich mit dem fliegenden Pferd in der Geschichte vom Ebenholzpferd. Ein anderes Beispiel ist der sich öffnende Fels in der Geschichte Ali Baba und die vierzig Räuber: dabei braucht man bloß an einen neueren Spionagefilm zu denken (La Blonde défie F. B. I.), in dem ein Safe ge­ zeigt wird, der sich bloß dann öffnet, wenn die Stimme seines Besitzers bestimmte Wörter ausspricht. Diese Gegenstände, Produkte der mensch­ lichen Geschicklichkeit, muß man von bestimmten Gegenständen unter­ scheiden, die äußerlich oft ähnlich beschaffen sind, deren Ursprung jedoch magisch ist und die der Kommunikation mit anderen Welten dienen: so die Lampe und der Stab Aladins oder auch das Pferd in der Geschichte vom Ebenholzpferd, die einem anderen Wunderbaren zu­ gehören. 4. Das instrumentale Wunderbare hat uns ganz in die Nähe dessen geführt, was in Frankreich im 19. Jahrhundert das naturwissenschaft­ liche Wunderbare genannt wurde und was man heute Science-Fiction nennt. Hier wird das Übernatürliche auf rationale Weise erklärt, aber anhand von Gesetzen, die die gegenwärtige Naturwissenschaft nicht anerkennt. In der Blütezeit der fantastischen Erzählung gehörten u. a. solche Geschichten dem Bereich des naturwissenschaftlichen Wunder­ baren an, in denen der Magnetismus eine Rolle spielte. Der Magnetis­ mus erklärt die übernatürlichen Ereignisse »wissenschaftlich«, und nur er selbst entspringt dem Bereich des Übernatürlichen. Hierher gehören 53

Der unheimliche Gast oder auch Der Magnetiseur von Hoffmann, ebenso The Facts in the Case of M. Valdemar von Poe oder Maupas­ sants Un fou?. Die gegenwärtige Science-Fiction gehorcht, soweit sie nicht ins Allegorische abgleitet, demselben Mechanismus. Das sind Er­ zählungen, in denen sich die Tatsachen auf der Grundlage irrationaler Prämissen vollkommen logisch entwickeln. Sie weisen gleichfalls eine Handlungsstruktur auf, die sich von der der fantastischen Erzählung unterscheidet; wir werden später (im X. Kapitel) darauf zurückkommen. Diesen sämtlichen Spielarten des »entschuldbaren«, gerechtfertigten, unvollkommenen Wunderbaren steht das unvermischt Wunderbare ge­ genüber, das sich auf keine Weise erklären läßt. Wir wollen uns jedoch hier nicht weiter damit beschäftigen: zum einen deswegen, weil die Elemente des Wunderbaren, als Themen, weiter unten (Kapitel VII f.) untersucht werden, zum anderen, weil die Hinwendung zum Wunder­ baren als einem anthropologischen Phänomen den Rahmen einer Studie überschreiten würde, die literaturwissenschaftlich sein will. Das ist je­ doch nicht weiter bedauerlich, da das Wunderbare unter diesem Aspekt bereits Gegenstand sehr scharfsinniger Bücher gewesen ist. Anstelle einer Schlußbemerkung zitiere ich aus einem von ihnen, Pierre Mabilles Le Miroir du merveilleux, einen Satz, der die Bedeutung des Wunder­ baren treffend definiert: »Über das Vergnügen, die Neugier, über alle Emotionen hinaus, die die Erzählungen, die Märchen und Legenden in uns bewirken, über das Bedürfnis hinaus, sich zu zerstreuen, zu ver­ gessen, sich angenehme und erschreckende Empfindungen zu verschaf­ fen, ist das wirkliche Ziel der wunderbaren Reise (...) die umfassendere Erforschung der universalen Wirklichkeit« (p. 24).

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Die Poesie und die Allegorie

Neue Gefahren für das Fantastische. – Poesie und Fiktion : die Kategorie der Darstellbarkeit. – Die Poesie, das Undurchdringliche des Textes. – Zwei Träume aus Aurélia. – Allegorische Bedeutung und wörtliche Bedeutung. – Definitionen der Allegorie. – Die Stufen der Allegorie. – Perrault und Daudet. – Die indirekte Allegorie (La Peau de chagrin und Vera). – Die unschlüssige Allegorie: Hoffmann und Poe. – Die Anti-Allegorie: Gogols Die Nase.

Wir haben gesehen, was für Gefahren auf das Fantastische lauem auf jener ersten Ebene, auf der der implizite Leser die berichteten Ereig­ nisse beurteilt, indem er sich mit der Person identifiziert. Diese Gefah­ ren sind symmetrisch und umkehrbar: entweder räumt der Leser ein, daß die allem Anschein nach übernatürlichen Ereignisse eine rationale Erklärung finden können – dann erfolgt ein Wechsel vom Fantastischen zum Unheimlichen, oder er nimmt ihre Existenz als übernatürlich hin – dann findet man sich im Bereich des Wunderbaren wieder. Aber damit sind die Bedrohlichkeiten, denen das Fantastische aus­ gesetzt ist, noch nicht zu Ende. Begibt man sich auf eine andere Ebene, nämlich die, auf der der Leser – immer noch der implizite – sich nicht über die Beschaffenheit der Ereignisse befragt, sondern über die des Textes selbst, der sie evoziert, dann sieht man das Fantastische erneut in seiner Existenz bedroht. Das wird uns vor ein neues Problem stellen, und um es zu lösen, müssen wir die Beziehungen des Fantastischen zu zwei benachbarten Genres – der Poesie und der Allegorie – genauer bestimmen. Hier ist die Artikulation komplexer als diejenige, die die Beziehungen zwischen dem Fantastischen und dem Unheimlichen sowie dem Wunderbaren regelte. Zunächst einmal deswegen, weil die Gattung, die auf der einen Seite der Poesie, auf der anderen der Allegorie ent­ gegengesetzt ist, nicht das Fantastische allein ist, sondern jedesmal ein umfassenderes Ganzes, von dem das Fantastische nur ein Teil ist. Und dann deswegen, weil, im Gegensatz zum Unheimlichen und zum Wun­ derbaren, Poesie und Allegorie nicht in Opposition zueinander stehen. Jede von beiden ist einer Gattung (von der das Fantastische nur eine Unterabteilung ist) entgegengesetzt, und zwar jede jeweils einer ande­ ren. Das bedeutet, daß man die beiden Oppositionen getrennt unter­ suchen muß. Beginnen wir bei der einfacheren: Poesie und Fiktion. Wir haben schon am Anfang dieser Untersuchung gesehen, daß jede Opposition 55

zwischen zwei Gattungen auf einer strukturalen Eigenschaft des litera­ rischen Werks beruhen muß. Die Eigenschaft ist in diesem Falle die Beschaffenheit des Diskurses selbst, der entweder darstellend ist oder nicht. Der Terminus »repräsentativ« ist mit Vorsicht zu handhaben. Die Literatur ist nicht in dem Sinne darstellend, in dem bestimmte Sätze des alltäglichen Diskurses das sein mögen, denn sie bezieht sich (im exakten Sinne des Wortes) auf nichts außerhalb ihrer selbst. Die Ereignisse, die durch einen literarischen Text mitgeteilt werden, sind literarische »Ereignisse« und sind, genau wie die handelnden Personen, dem Text immanent. Aber der Literatur aufgrund dieser Tatsache jeglichen repräsentativen Charakter abzusprechen, hieße, Referenz mit Referenzpunkt, die Eignung, Objekte zu bezeichnen, mit den Ob­ jekten selbst verwechseln. Mehr noch: der repräsentative Charakter ist für einen Teil der Literatur bestimmend, den man bequemerweise mit dem Terminus Fiktion bezeichnen kann, während die Poesie die Mög­ lichkeit, zu evozieren und darzustellen, verwehrt (in der Literatur des 20. Jahrhunderts zeichnet sich übrigens die Tendenz zur Aufhebung dieses Gegensatzes ab). Es ist kein Zufall, daß im ersten Fall häufig Termini wie »handelnde Person«, »Handlung«, »Atmosphäre«, »Rah­ men« usw. gebraucht werden – alles Begriffe, die auch noch eine Realität außerhalb von Texten bezeichnen. Entsprechend sieht man sich, wenn von Poesie die Rede ist, gehalten, von Reimen, von Rhythmus, von rhetorischen Figuren usw. zu sprechen. Wie bei den meisten Oppositio­ nen, die man im Bereich der Literatur findet, so geht es auch bei dieser nicht um ein Entweder-Oder, sondern eher um graduelle Unterschiede. Auch die Poesie weist repräsentative Elemente auf und die Fiktion Eigenschaften, die den Text statt transitiv undurchdringlich werden lassen. Aber der Gegensatz hört deswegen nicht auf zu existieren. Das Problem soll hier nicht in seinem geschichtlichen Zusammenhang dargestellt werden, aber es erscheint doch angebracht, darauf hinzu­ weisen, daß diese Auffassung von Poesie nicht immer vorherrschend gewesen ist. Hinsichtlich der rhetorischen Figuren ist die Auseinander­ setzung besonders lebhaft gewesen. Es ging dabei um die Frage, ob man die Redefiguren in ebensoviele Bilder verwandeln, von der Formel zur Repräsentation übergehen sollte, oder nicht. Voltaire z. B. sagte, »die Metapher [müsse], um gut zu sein, stets ein Bild sein, sie [müsse] so sein, daß ein Maler sie mit dem Pinsel darstellen könnte« (Remarques sur Corneille). Diese naive Forderung, der im übrigen kein Poet je genügt hat, war bereits seit dem 18. Jahrhundert umstritten. Aber erst mit Mallarmé begann man, zumindest in Frankreich, die Wörter als Wörter zu nehmen und nicht als unmerkliche Stützen für Bilder. In

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der zeitgenössischen Kritik haben als erste die russischen Formalisten auf der lntransitivität der poetischen Bilder bestanden. Schklowski ver­ weist bei dieser Gelegenheit auf »den Vergleich zwischen der Morgen­ röte und den taubstummen Dämonen bei Tjutschew oder den, den Gogol anstellt zwischen dem Himmel und den Meßgewändern Gottes« (p. 77). Man ist sich heute darüber einig, daß die poetischen Bilder nicht deskriptiv sind, daß sie allein auf der Ebene der Wortfolge, die sie bilden, zu lesen sind, in ihrer Wörtlichkeit also, und nicht einmal auf ihrer Bezugsebene. Das poetische Bild ist eine Kombination von Wör­ tern, nicht von Dingen, und es ist nutzlos, ja mehr noch: schädlich, diese Kombination in sinnliche Termini zu übersetzen. Man sieht jetzt, weshalb die Lektüre poetischer Texte eine Klippe für das Fantastische ist. Wenn man beim Lesen eines Textes jede Repräsen­ tation verweigert und jeden Satz als eine rein semantische Kombination ansieht, ist kein Raum für das Fantastische: es erfordert, wie wir uns erinnern, eine Reaktion auf die Ereignisse, so wie sie in der evozierten Welt geschehen. Aus diesem Grunde kann das Fantastische nur in der Fiktion leben; die Poesie kann nicht fantastisch sein (obwohl es Antho­ logien »fantastischer Poesie« gibt ...). Kurz gesagt, das Fantastische impliziert die Fiktion. Im allgemeinen gibt sich der poetische Diskurs durch zahlreiche sekundäre Eigenschaften zu erkennen, so daß wir auf Anhieb wissen, daß wir in einem solchen Text nicht nach dem Fantastischen zu suchen brauchen: Reime, ein regelmäßiges Metrum, ein emotionaler Diskurs halten uns davon ab. Da kann man sich wohl kaum irren. Bestimmte Prosatexte jedoch wollen auf verschiedenen Ebenen gelesen werden. Kehren wir noch einmal zu Aurélia zurück. Die meiste Zeit müssen die von Nerval berichteten Träume als Fiktion gelesen werden; es ist an­ gebracht, sich vorzustellen, was sie beschreiben. Hier ein Beispiel für diesen Typus von Traum: »Ein Wesen von unermeßlicher Größe – ob Mann oder Frau, weiß ich nicht – hielt sich mühsam über dem Raum in Schwebe und schien sich zwischen dem dichten Gewölk zu über­ schlagen. Da es ihm an Atem und Kraft gebrach, fiel es endlich mitten in den dunklen Hof, wobei es mit seinen Flügeln am Dach und an den Balustraden bald hängen blieb und bald sich stieß« (p. 15), usw. Dieser Traum evoziert eine Vision, die als solche hingenommen werden will; es handelt sich hier durchaus um ein übernatürliches Ereignis. Hier nun ein Beispiel aus einem Traum der Mémorables, das eine andere Haltung dem Text gegenüber veranschaulichen soll. »Aus dem Schoß der stummen Finsternis sind zwei Töne erklungen, ein getragener und ein schriller, und sogleich begann der ewige Kreislauf. Sei gesegnet, 57

o erste Oktave, mit der die göttliche Hymne anhub. Von Sonntag zu Sonntag flichst Du alle Tage in dein Zaubernetz! Die Berge lobpreisen Dich den Tälern, die Quellen den Bächen, die Bäche den Strömen, die Ströme dem Ozean. Die Luft zittert, und das Licht küßt wohlklingend die sprießenden Blumen. Ein Seufzer, ein Liebesschauer steigt aus dem geschwellten Schoß der Erde, und der Chor der Gestirne entfaltet sich und kommt wiederum zurück, verdichtet sich und entfaltet sich wieder und sät die Keime zu neuen Schöpfungen ins Weite« (p. 1 51). Wenn wir versuchten, die Wörter zu überschreiten, um an die Vision zu gelangen, so wäre diese in die Kategorie des Übernatürlichen ein­ zuordnen: sowohl die Oktave, die die Tage flicht, als auch das Preislied der Berge, der Täler usw. und der Seufzer, der aus der Erde steigt. Aber diesen Weg darf man hier nicht einschlagen: die zitierten Sätze ver­ langen eine poetische Lektüre, sie zielen nicht darauf ab, eine evozierte Welt zu beschreiben. Das ist das Paradoxe an der literarischen Sprache: gerade dann, wenn die Wörter im übertragenen Sinne gebraucht wer­ den, haben wir sie wörtlich zu nehmen. Damit sind wir, über den Umweg der rhetorischen Figuren, bei der anderen Opposition angelangt, die uns zu beschäftigen hat: es ist die zwischen allegorischer und wörtlicher Bedeutung. Das Wort wörtlich, das wir hier verwenden, hätte noch in einem anderen Sinne benutzt werden können, nämlich um die bestimmte Art des Lesens zu bezeich­ nen, die nach unserer Meinung der Poesie angemessen ist. Man muß sich hüten, die beiden Verwendungsmöglichkeiten zu verwechseln: im einen Falle steht »wörtlich« im Gegensatz zu verweisend, deskriptiv, repräsentativ, im anderen, dem, der uns im Augenblick interessiert, handelt es sich eher um das, was man auch den eigentlichen Sinn nennt im Gegensatz zum übertragenen, hier: dem allegorischen Sinn. Beginnen wir bei der Definition der Allegorie. Wie üblich, fehlt es nicht an alten Definitionen, darunter sehr eng gefaßte ebenso wie sehr weit gefaßte. Seltsamerweise ist die am weitesten gefaßte Definition zugleich die jüngste. Man findet sie in Angus Fletchers Allegory, einer wahren Enzyklopädie der Allegorie: »Um es ganz einfach auszudrükken: die Allegorie sagt eine Sache und meint eine andere«, schreibt Fletcher am Anfang seines Buches (p. 2). Alle Definitionen sind, wie man weiß, in der Tat willkürlich; aber diese hier ist wenig einnehmend: durch ihre Allgemeinheit verwandelt sie die Allegorie in eine Rumpel­ kammer, in eine Super-Figur. Im anderen Extrem bietet sich eine gleichfalls moderne, weitaus enger gefaßte Bedeutung des Terminus an, die man folgendermaßen resümie­ 58

ren könnte: die Allegorie ist ein Satz mit doppelter Bedeutung, deren eine, die eigentliche (oder wörtliche) jedoch völlig ausgelöscht ist. So etwa in den Sprichwörtern. »Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht« – niemand, oder doch fast niemand, denkt, wenn er diese Wörter hört, an einen Krug, ans Wasser, an den Vorgang des Zer­ brechens; man erfaßt unmittelbar die allegorische Bedeutung: es ist gefährlich, sich zu oft dem Risiko auszusetzen, usw. So verstanden, ist die Allegorie von den modernen Autoren oft als der Wörtlichkeit ent­ gegengesetzt gebrandmarkt worden. Die antike Vorstellung von der Allegorie ermöglicht uns einen Schritt voran. Quintilian schreibt: »Eine fortgesetzte Metapher wird Alle­ gorie.« Anders ausgedrückt: eine einzelne Metapher deutet nur auf eine bildliche Redeweise. Setzt sich die Metapher jedoch fort, wird sie wie­ der aufgenommen, so gibt sie die bestimmte Absicht kund, noch von anderem zu sprechen als vom Primärobjekt der Aussage. Diese Defini­ tion ist wertvoll, weil sie formal ist; sie gibt das Mittel an, mit Hilfe dessen sich die Allegorie identifizieren läßt. Wenn jemand z. B. zu­ nächst vom Staat als einem Schiff spricht und dann das Staatsoberhaupt als Kapitän bezeichnet, dann können wir sagen, daß die maritime Bild­ welt eine Allegorie des Staates bietet. Fontanier, der letzte große französische Rhetoriker, schreibt: »Die Allegorie besteht in einem Satz mit doppelter Bedeutung, der wört­ lichen und der geistigen zugleich« (p. 114); zur Illustration führt er folgendes Beispiel an: J'aime mieux un ruisseau qui, sur la molle arène, Dans un pré plein de fleurs lentement se promène, Qu'un torrent débordé qui, d'un cours orageux, Roule plein de gravier sur un terrain fangeux. * Man könnte diese vier Alexandriner als naive Poesie von fragwürdi­ ger Qualität ansehen, wüßte man nicht, daß diese Verse aus Boileaus Art poétique stammen. Was Boileau im Auge hat, ist natürlich nicht die Beschreibung eines Bachs, sondern die zweier Stilarten, wie Fontanier im übrigen nicht zu erklären versäumt: »Boileau will zu verstehen geben, daß ein blumiger und gepflegter Stil einem ungestümen, un­ gleichmäßigen und regellosen vorzuziehen sei« (p. 115). Man bedarf dieses Kommentars von Fontanier selbstverständlich nicht, um das zu begreifen. Das schlichte Faktum, daß der Vierzeiler sich in der Art * »Mir ist ein Bach, der sich auf weichem Sand langsam durch eine Wiese voller Blumen schlängelt, lieber als ein über die Ufer spülender Sturzbach, der auf schmutzi­ gem Glände voller Kies stürmisch dahinschießt« (L’Art poétique / Die Dichtkunst. Stuttgart 1967).

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poétique findet, genügt: die Worte sind allegorisch aufzufassen. Rekapi­ tulieren wir: erstens impliziert die Allegorie die Existenz von wenig­ stens zwei Bedeutungen für dieselben Wörter; einige Male wird die Ansicht vertreten, der ursprüngliche Sinn habe zu verschwinden, dann wieder heißt es, beide Bedeutungen müßten zusammen präsent sein. Zweitens wird im Werk auf die Doppelbedeutung explizit hingewiesen: sie entspringt nicht (ob nun willkürlich oder nicht) der Interpretation irgendeines Lesers. Wir wollen uns auf diese beiden Ergebnisse verlassen und zum Fan­ tastischen zurüchkehren. Wenn das, was wir lesen, ein übernatürliches Ereignis beschreibt und es dann dennoch nötig ist, die Wörter nicht im wörtlichen Sinne zu nehmen, sondern in einem anderen, der auf nichts Übernatürliches verweist, dann ist kein Raum mehr für das Fanta­ stische. Es existiert also eine Skala von literarischen Untergattungen zwischen dem Fantastischen (das zu der Art von Texten gehört, die wörtlich gelesen werden müssen) und der reinen Allegorie, die nur die sekundäre, die allegorische Bedeutung bewahrt; eine Skala, die sich auf­ grund von zwei Faktoren konstituiert: dem expliziten Verweis­ charakter und dem Verschwinden der ursprünglichen Bedeutung. Einige Beispiele sollen es ermöglichen, diese Analyse zu konkretisieren. Die Fabel ist die Gattung, die der reinen Allegorie am nächsten kommt. In ihr zeigt der ursprüngliche Wortsinn die Tendenz, völlig zu verschwinden. Die Märchen, die gewöhnlich übernatürliche Elemente enthalten, nähern sich manchmal den Fabeln. Das gilt etwa für die Märchen Perraults. Dort wird die allegorische Bedeutung im höchsten Grade expliziert: sie findet sich in Form einiger Verse zusammengefaßt am Ende eines jeden Märchens. Nehmen wir z. B. Riquet à la houppe. Das ist die Geschichte eines Prinzen, intelligent zwar, jedoch sehr häß­ lich, der die Fähigkeit besitzt, Menschen seiner Wahl ebenso intelligent zu machen, wie er selbst ist. Eine Prinzessin, die nun zwar sehr schön, dafür aber dumm ist, hat die gleiche Fähigkeit in bezug auf die Schön­ heit. Der Prinz macht die Prinzessin klug; ein Jahr später verleiht die Prinzessin, nach einigem Zaudern, dem Prinzen Schönheit. Das sind gewiß übernatürliche Vorgänge; aber noch innerhalb des Märchens legt Perrault uns nahe, die Wörter in allegorischer Bedeutung zu nehmen: »Die Prinzessin hatte diese Worte kaum gesprochen, da erschien Riquet mit dem Schopf vor ihren Augen als der schönste, hübscheste und liebenswerteste Mann, den die Welt je gesehen hatte. Manche allerdings behaupten, nicht der Zauber der Fee habe dies bewirkt, sondern allein die Liebe habe diese Verwandlung zuwege gebracht. Sie sagen, daß die Prinzessin die Beharrlichkeit ihres Liebhabers, seine Zurückhaltung und 60

all die guten Eigenschaften seiner Seele und seines Geistes bedacht und fortan weder seinen mißgestalteten Körper noch sein häßliches Antlitz gesehen habe; daß er mit seinem Buckel für sie nur noch das erfreuliche Aussehen eines Mannes gehabt habe, der sich in Positur setzt und daß sie anstatt seines gräßlichen Hinkens, das sie bislang gesehen hatte, an ihm nur noch eine gewisse leicht gebeugte Haltung bemerkte, die sie entzückte. Sie sagen auch, daß seine schielenden Augen ihr nur desto strahlender erschienen und ihre Unregelmäßigkeit in ihrer Vorstellung zum Anzeichen eines heftigen Liebesüberschwanges wurde, und daß endlich seine große rote Nase für sie ein kriegerisches und heldisches Aussehen annahm« (pp. 111 u. 113). Um sicher zu gehen, daß er auch recht verstanden worden ist, fügt Perrault am Schluß noch eine »Moral« an:

Was man im Text hier lesen kann, ist nicht ein bloßes Märchen, sondern wahr genug. Denn schön ist alles, sieht man es mit Liebe an, und alles, was man liebt, ist klug. Nach diesen Hinweisen bleibt selbstverständlich nichts Übernatür­ liches mehr: jeder Mensch ist mit dieser Art Verwandlungskunst begabt, und Feen haben damit nichts zu tun. In den anderen Märchen Perraults ist die Allegorie nicht minder augenfällig. Er selbst war sich dessen im übrigen vollkommen bewußt, und in den Vorworten zu seinen Samm­ lungen behandelt er hauptsächlich dies Problem der allegorischen Be­ deutung, das er als wesentlich ansieht (»Die Moral, die Hauptsache bei jeder Art von Geschichte ...«, p. 22, französische Ausgabe). Man muß hinzufügen, daß der Leser (diesmal der reale, nicht der implizite) durchaus das Recht hat, sich um die allegorische Bedeutung, auf die der Autor hinweist, nicht zu kümmern und den Text so zu lesen, daß er darin einen ganz anderen Sinn entdeckt. Genau das ge­ schieht heute mit Perrault: den heutigen Leser beeindruckt eher die Sexualsymbolik der Texte als die Moral, die der Autor verteidigt. Die allegorische Bedeutung kann in derselben Deutlichkeit in Werken sichtbar werden, die keine Märchen oder Fabeln mehr sind, sondern »moderne« Novellen. Alphonse Daudets L’Homme à la cervelle d’or veranschaulicht diesen Fall. Die Novelle erzählt die mißlichen Aben­ teuer eines Menschen, dessen »Scheitel und Hirn von Gold waren« (p. 217 f., zitiert nach der ersten Ausgabe, wie sie sich in Castex' Antho­ logie findet). Der Ausdruck »von Gold« ist wörtlich zu verstehen (nicht im übertragenen Sinn als »hervorragend«); dennoch suggeriert der Autor schon zu Beginn der Novelle, daß der wahre Sinn eben doch der

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allegorische sei. So heißt es: »Ich gestehe sogar, daß ich mit einer Intel­ ligenz begabt war, die alle Welt überraschte und deren Geheimnis nur meine Eltern und ich kannten. Wer wäre nicht intelligent gewesen mit einem so reich ausgestatteten Hirn, wie das meine es war?« (p. 218). Dies goldene Gehirn, so stellt sich heraus, wird sehr oft für seinen Besitzer zum einzigen Mittel, sich oder seinen Verwandten das nötige Geld zu verschaffen; und die Novelle berichtet, wie das Gehirn sich auf diese Weise nach und nach erschöpft. Jedesmal wenn beim Gold des Gehirns eine Anleihe gemacht wird, nimmt der Autor die Gelegenheit wahr, uns die »wahre« Bedeutung eines derartigen Vorgangs zu sugge­ rieren. »Hier tat sich mir ein gräßlicher Zwiespalt auf: ,Würde ich mich nicht mit dem Hirnlappen, den ich mir ausreißen wollte, um den ent­ sprechenden Teil meiner Intelligenz berauben?«, (p. 220). »Ich brauchte Geld; mein Gehirn war Geld wert, und so gab ich eben mein Gehirn aus« (p. 223). »Was mich vor allem erstaunte, war die Größe der Reich­ tümer, die mein Hirn enthielt, und die Mühe, die es mir bereitete, sie zu erschöpfen« (p. 224) usw. Der Rückgriff auf das Gehirn stellt keiner­ lei physische Gefahr dar, er bedroht vielmehr die Intelligenz. Und, für den Fall, daß der Leser die Allegorie noch nicht verstanden hat, wird, wie bei Perrault, am Schluß hinzugefügt: » Während ich untröstlich war und viele Tränen vergoß, mußte ich plötzlich an die vielen Un­ glücklichen denken, die von ihrem Gehirn lebten, wie ich es getan hatte, an all die Künstler, die glücklosen Literaten, die genötigt sind, Brot aus ihrer Intelligenz zu machen, und ich sagte mir, daß ich nicht der einzige auf Erden sein dürfte, der die Leiden des Mannes mit dem Goldhirn kennengelernt hatte« (p. 22 5). Bei diesem Typus der Allegorie hat die wörtliche Ebene wenig Ge­ wicht. Was dort an Unwahrscheinlichem vorkommt, bekümmert nicht weiter, da die ganze Aufmerksamkeit sich auf die Allegorie richtet. Es sei noch hinzugefügt, daß man heutzutage an dieser Art Erzählungen wenig Geschmack findet: die explizite Allegorie wird als eine Art Sub­ Literatur angesehen (und es fällt schwer, in diesem Verdammungsurteil nicht eine ideologische Stellungnahme zu erblicken). Gehen wir jetzt eine Stufe weiter. Die allegorische Bedeutung bleibt unbestreitbar, wird aber durch subtilere Mittel angezeigt als durch eine »Moral« am Ende des Textes. Ein Beispiel hierfür ist La Peau de chagrin. Das übernatürliche Element ist das Leder selbst: zunächst ein­ mal wegen seiner außerordentlichen physischen Qualitäten (es wider­ steht allen Experimenten, denen es ausgesetzt wird) und dann besonders wegen seiner magischen Macht über das Leben seines Besitzers. Das Leder trägt eine Inschrift, die seine Macht erläutert: es ist zugleich ein 62

Bild für das Lehen seines Besitzers (seine Ausdehnung entspricht der Länge seines Lehens) und ein Mittel, um ihm seine Wünsche zu erfüllen. Jedesmal jedoch, wenn es einen Wunsch erfüllt, schrumpft es ein wenig zusammen. Bemerkenswert ist die formale Komplexität des Bildes: das Leder ist Metapher für das Lehen, Metonymie für den Wunsch, und es schaffi ein umgekehrt-proportionales Verhältnis zwischen diesem und jenem. Allein schon die sehr präzise Bedeutung, die wir dem Leder beilegen müssen, legt uns nahe, nicht bei seinem wörtlichen Sinn stehenzubleiben. Andererseits entwickeln mehrere Figuren des Buches Theorien, in denen eben dieses umgekehrte Verhältnis zwischen der Länge des Lehens und der Erfüllung von Wünschen erscheint. So etwa der alte Antiquar, der Raphael das Leder aushändigt: »Dies hier«, sagte er mit erhobener Stimme und deutete auf die Haut, »ist Können und Wollen zugleich. Hier sind eure sozialen Ideen, eure ausschweifenden Begierden, eure maßlosen Genüsse, eure tödlichen Lüste, eure lebensstachelnden Schmer­ zen vereinigt« (p. 42). Dieselbe Auffassung wird, lange bevor das Leder überhaupt auftaucht, von Rastignac, Raphaels Freund, verteidigt. Rastignac vertritt die Ansicht, daß man, anstatt sich kurzerhand um­ zubringen, sein Lehen doch angenehmer mit Vergnügungen vertun könne; das komme auf dasselbe heraus: »Die Maßlosigkeit, mein Lie­ ber, ist die Königin aller Todesarten. Gebietet sie nicht über den Schlaganfall, der den Menschen daniederschmettert? Der Schlaganfall ist ein Schuß aus der Pistole, der nicht fehlgeht. Die Orgien verschaffen uns alle leiblichen Wonnen in Fülle; sind sie nicht das kleingewechselte Opium?« usw. (p. i 87). Rastignac sagt im Grunde nur, was das Chagrin­ leder bedeutet: die Erfüllung der Wünsche führt zum Tode. Indirekt, aber deutlich wird auf die allegorische Bedeutung des Bildes hin­ gewiesen. Im Unterschied zu dem, was wir bisher für die erste Stufe der Alle­ gorie festgestellt haben, geht die wörtliche Bedeutung hier nicht ver­ loren. Beweis dafür ist, daß die das Fantastische kennzeichnende Unschlüssigkeit (die, wie wir wissen, auf der Ebene der wörtlichen Bedeutung angesiedelt ist) bestehen bleibt. Das Auftauchen des Leders wird durch eine Beschreibung der seltsamen Atmosphäre im Laden des Antiquars vorbereitet; später erfüllt sich dann keiner der Wünsche Raphaels auf unwahrscheinliche Weise. Das Festessen, das er fordert, war bereits von seinen Freunden organisiert worden; das Geld fällt ihm in Form einer Erbschaft zu; der Tod seines Gegners heim Duell läßt sich aus der Furcht erklären, die dieser angesichts seiner (Raphaels) eigenen Ruhe empfindet; der Tod Raphaels schließlich ist offensichtlich auf eine 63

Tuberkulose und nicht auf übernatürliche Ursachen zurückzuführen. Allein die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Leders bestätigen offen den Eingriff des Wunderbaren. Wir haben hier ein Beispiel des Falles, daß das Fantastische ausbleibt, nicht weil seiner ersten Bedingung (Unschlüssigkeit angesichts des Unheimlichen und des Wunderbaren) nicht genügt wurde, sondern weil die dritte nicht erfüllt wird: Raphael wird von der Allegorie getötet, und zwar einer Allegorie, die sich nur indirekt zu erkennen gibt. Das gleiche ist in Vera der Fall. Hier wird die Unschlüssigkeit gegen­ über zwei möglichen Erklärungen – einer rationalen und einer irratio­ nalen (die rationale Erklärung wäre der Verweis auf den Wahnsinn) vor allem dadurch aufrechterhalten, daß es gleichzeitig zwei Stand­ punkte gibt: den des Grafen d’Athol und den des alten Dieners Ray­ mond. Der Graf glaubt (und Villiers de l’Isle-Adam will den Leser glauben machen), daß man, wenn man nur stark genug liebt und wünscht, den Tod überwinden, das geliebte Wesen wieder lebendig machen kann. Diese Idee wird mehrfach indirekt suggeriert: »D’Athol lebte tatsächlich, als wisse er nicht um den Tod der Geliebten. Ihm war sie nach wie vor gegenwärtig, so sehr war die Gestalt der jungen Frau in die seinige eingegangen« (p. 21). »Es war eine Verneinung des Todes, der endlich einer unbekannten Macht weichen mußte!« (ebd.); »... man hätte meinen können, die Tote spiele Verstecken wie ein Kind. Sie wußte ja, wie sehr sie geliebt wurde! Da war dergleichen ganz natür­ lich« (p. 22). »Oh, Vorstellungen sind lebende Wesen ...! Der Graf hatte die Gestalt seiner Liebe in die Luft gehöhlt, und es konnte nicht anders sein, als daß die Leere von dem einzigen Wesen erfüllt würde, das ihr wesenhaft gleich war; sonst hätte das All zusammenstürzen müssen« (p. 24). All diese Formulierungen zeigen klar den Sinn des künftigen übernatürlichen Ereignisses an: Véras Auferstehung. Und das Fantastische wird dadurch stark geschwächt; um so mehr, als die Novelle mit einer abstrakten Formulierung beginnt, die sie in verwandtschaftliche Nähe zur ersten Gruppe der Allegorien rückt: »Die Liebe ist stärker als der Tod, hat Salomo gesagt: ja, ihre geheimnisvolle Macht ist ohne Grenzen« (p. 15). – So erscheint die ganze Erzählung als Illustration einer Idee, und das Fantastische erhält dadurch den Todesstoß. Mit der dritten Stufe der Abschwächung der Allegorie haben wir es bei solchen Erzählungen zu tun, wo der Leser den beiden Möglichkeiten, der allegorischen Interpretation und der wörtlichen Lektüre, schließlich sogar unschlüssig gegenübersteht. Nichts im Text läßt auf eine allego­ rische Bedeutung schließen, dennoch ist sie nicht auszuschließen. Sehen 64

wir uns einige Beispiele an. Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde aus E. T. A. Hoffmanns Die Abenteuer der Silvesternacht bietet sich an. Es ist die Geschichte des jungen Deutschen Erasmus Spikher, der bei einem Italienaufenthalt eine gewisse Giulietta trifft, in die er sich leiden­ schaftlich verliebt und darüber Frau und Kind vergißt, die ihn zu Hause erwarten. Eines Tages jedoch muß er wieder abreisen; diese Trennung stimmt ihn untröstlich, und Giulietta ergeht es nicht anders. »Fester, inniger drückte Giulietta den Erasmus an sich, indem sie leise lispelte: ›Laß mir dein Spiegelbild, du innig Geliebter, es soll mein und bei mir bleiben immerdar.‹« Und angesichts seiner Verwunderung fährt sie fort: »Nicht einmal,, sprach Giulietta, ›nicht einmal diesen Traum deines Ichs, wie er aus dem Spiegel hervorschimmert, gönnst du mir, der du sonst mein mit Leib und Seele sein wolltest? Nicht einmal dein unstetes Bild soll bei mir bleiben und mit mir wandeln durch das arme Leben, das nun wohl, da du fliehst, ohne Lust und Liebe bleiben wird?, Die heißen Tränen stürzten der Giulietta aus den schönen dunklen Augen. Da rief Erasmus, wahnsinnig vor tötendem Liebesschmerz: ›Muß ich denn fort von dir? – muß ich fort, so soll mein Spiegelbild dein bleiben auf ewig und immerdar‹« (I, p. 274 f.). Gesagt, getan – Erasmus verliert sein Spiegelbild. Wir bewegen uns hier auf der Stufe der Wörtlichkeit: Erasmus sieht absolut nichts mehr, als er sich in einem Spiegel betrachten will. Aber allmählich, im Laufe verschiedener Abenteuer, die ihm widerfahren, wird dann eine be­ stimmte Interpretation des übernatürlichen Ereignisses suggeriert. Der Besitz eines Spiegelbildes ist gelegentlich gleichbedeutend mit sozialer Achtbarkeit; so wii;d Erasmus während einer Reise angezeigt, weil er kein Spiegelbild hat. »Voll Wut und Scham flüchtete Erasmus auf sein Zimmer; aber kaum war er dort, als ihm von Polizei wegen angekün­ digt wurde, daß er binnen einer Stunde mit seinem vollständigen, völlig ähnlichen Spiegelbilde vor der Obrigkeit erscheinen oder die Stadt ver­ lassen müsse« (I, p. 277). Ähnlich wird seine Frau ihm später erklären: »Begreifen wirst du aber übrigens wohl selbst, daß du ohne Spiegelbild ein Spott der Leute bist und kein ordentlicher, vollständiger Familien­ vater sein kannst, der Respekt einflößt der Frau und den Kindern« (I, p. 281 f.). Daß die Menschen über das Fehlen des Spiegelbildes nicht weiter erstaunt sind (sie finden das eher unschicklich als überraschend), läßt uns vermuten, daß dieses Fehlen nicht wörtlich zu nehmen ist. Gleichzeitig wird suggeriert, daß das Spiegelbild einfach einen Teil der Persönlichkeit bezeichnet (und in dem Falle ist es keineswegs über­ natürlich, es zu verlieren). Erasmus selbst reagiert darauf entsprechend: »Spikher ... bemühte sich zu beweisen, daß es zwar unsinnig sei zu 65

glauben, man könne überhaupt sein Spiegelbild verlieren, im ganzen sei aber nicht viel daran verloren, da jedes Spiegelbild doch nur eine Illusion sei, Selbstbetrachtung zur Eitelkeit führe, und noch dazu ein solches Bild das eigene Ich spalte in Wahrheit und Traum« (I, p. 277). Hier haben wir, wie es scheint, einen Hinweis hinsichtlich der allego­ rischen Bedeutung, die diesem verlorenen Spiegelbild beizulegen ist. Er bleibt jedoch isoliert und wird durch den übrigen Text nicht gestützt. Der Leser hat also allen Anlaß, unschlüssig zu sein, ob er diese Deutung akzeptieren soll. In Poes William Wilson haben wir ein ähnliches Beispiel. Das Thema ist übrigens dasselbe. Es ist die Geschichte eines Mannes, der von seinem Doppelgänger verfolgt wird. Es läßt sich schwer entscheiden, ob dieser Doppelgänger ein menschliches Wesen aus Fleisch und Blut ist oder ob der Autor uns eine Parabel anbietet, innerhalb derer der vermeintliche Doppelgänger nur ein Teil der Persönlichkeit, eine Art Inkarnation des Gewissens ist. Zugunsten dieser zweiten Deutung spricht vor allem die vollkommen unwahrscheinliche Ähnlichkeit der beiden Männer: sie tragen denselben Namen, haben dasselbe Geburtsdatum, sind am selben Tag zur Schule gekommen; ihr Aussehen und darüber hinaus ihr Gang sind gleich. Der einzige bedeutende Unterschied – aber hat dann nicht auch er allegorische Bedeutung? – liegt in der Stimme: »... mein Rivale litt an einer Schwäche der Sprachorgane, die ihn hinderte, seine Stimme über ein leises Flüstern zu erheben« (IV, p. 15). Dieser Doppelgänger erscheint nicht nur, wie durch Zauberei, in allen wichtigen Augenblicken in William Wilsons Leben (»er ..., der meine ehrgeizigen Pläne in Rom durchkreuzt – meine Rache in Paris verhindert, meine leidenschaftliche Liebe in Neapel zerstört und in Ägypten, dem, was er fälschlich Hab­ gier nannte, gesteuert – ...«, p. 36), er gibt sich auch noch durch äußere Attribute zu erkennen, deren Existenz schwer zu erklären ist. So etwa, beim Skandal von Oxford, durch einen Mantel: »Der Mantel, den ich getragen, war mit kostbarem, seltenem Pelzwerk gefüttert – wie teuer er gewesen, wage ich nicht zu sagen. Seinen Schnitt hatte ich selbst er­ funden, – ich war in dergleichen läppischen Sachen höchst peinlich und trieb einen ans Wahnsinnige grenzenden Kleidersport. Als mir Herr Preston, der Gastgeber, den Mantel, den er in der Nähe der Flügelthür vom Boden aufgehoben hatte, überreichte, bemerkte ich mit einem Erstaunen, das fast schon Erschrecken war, daß ich den meinigen schon über dem Arm hängen hatte (ich hatte ihn wahrscheinlich schon unwill­ kürlich an mich genommen) und daß der, den mir Preston darbot, in allem, selbst in den unbedeutendsten Kleinigkeiten, sein vollkommenes Ebenbild war« (p. 33). Ein in der Tat unerhörtes Zusammentreffen – 66

es sei denn, man sagt sich, daß es vielleicht gar nicht zwei Mäntel gibt, sondern nur einen einzigen. Der Schluß der Geschichte lenkt uns auf die allegorische Bedeutung hin. William Wilson fordert seinen Doppelgänger zum Duell und ver­ letzt ihn tödlich; da richtet der »Andere«, bereits wankend, das Wort an ihn: »Du hast gesiegt und ich bin unterlegen. Doch von nun an bist auch Du tot – tot für die Welt, den Himmel und die Hoffnung! In mir lebtest Du – nun sieh in Deinem eignen Bilde, wie Du Dich durch mei­ nen Tod gemordet hast« (p. 40). Diese Worte scheinen die allegorische Deutung nahezulegen; nichtsdestoweniger bleiben sie auf wörtlicher Ebene signifikativ und passend. Man kann nicht sagen, daß es sich hier um eine reine Allegorie handelt; wir müssen vielmehr zur Kenntnis nehmen, daß der Leser unschlüssig ist. Gogols Die Nase bildet einen Grenzfall. Die Erzählung kommt der ersten Bedingung des Fantastischen, der Unschlüssigkeit angesichts der Wahl zwischen Realem und Illusorischem oder Imaginärem, nicht nach und nimmt ohne Umschweife ihren Platz im Bereich des Wunderbaren ein (eine Nase löst sich vom Gesicht ihres Besitzers und führt, Person geworden, ein unabhängiges Leben; danach kehrt sie an ihren Platz zurück). Mehrere andere Eigenheiten des Textes legen jedoch eine an­ dere Perspektive und insbesondere die der Allegorie nahe. Da sind zunächst die metaphorischen Ausdrücke, die das Wort Nase neu ein­ führen: es wird ein Familienname daraus gemacht (»Nase? Einen son­ derbaren Namen führt die Person«); Kowaljow, dem Helden der Geschichte, wird mitgeteilt, daß man einem ordentlichen Menschen ja wohl kaum die Nase aus dem Gesicht reißen würde; schließlich wird der Ausdruck »jemandem die Nase wegnehmen« umgewandelt in »je­ mandem eine Nase drehen (bzw. einen Korb erteilen)«. Der Leser hat also einigen Grund, sich zu fragen, ob Nase nicht vielleicht auch an­ derswo eine andere Bedeutung habe als die wörtliche. Zudem ist die Welt, die Gogol beschreibt, keineswegs eine Welt des Wunderbaren, wie man vielleicht erwarten könnte. Es ist das Leben von Petersburg in seinen alltäglichsten Einzelheiten. Das heißt, daß die übernatürlichen Elemente wohl nicht dazu da sind, eine von der unseren verschiedene Welt zu evozieren. Infolgedessen ist man versucht, eine allegorische Deutung für sie zu finden. An diesem Punkt angekommen, hält der Leser jedoch verblüfft inne. Die psychoanalytische Interpretation (das Verschwinden der Nase, so heißt es dort, steht für die Kastration),selbst wenn sie zufriedenstellend wäre, erbrächte noch keine allegorische Bedeutung, da nichts im Text uns eine solche nahelegt. Darüber hinaus wäre damit die Verwandlung 67

der Nase in eine Person nicht erklärt. Ebenso steht es mit der sozialen Allegorie (die verlorene Nase entspricht dem verlorenen Spiegelbild bei Hoffmann): zwar finden sich mehr Hinweise, die für eine solche sprechen, aber über die im Zentrum stehende Verwandlung gibt sie auch nicht besser Auskunft. Außerdem hat der Leser angesichts der Ereignisse den Eindruck der Beliebigkeit, die einer der Bedingungen der allegorischen Bedeutung widerspricht. Dieser widersprüchliche Ein­ druck verstärkt sich am Schluß, wenn der Autor sich direkt an den Leser richtet und so diese Funktion des Lesers, die dem Text inhärent ist, explizit macht, ja, eben dadurch sogar das Hervortreten der allego­ rischen Bedeutung befördert, gleichzeitig jedoch behauptet, daß eine solche Bedeutung sich nicht finden lasse. »Am allersonderbarsten aber und am unverständlichsten erscheint es mir, daß sich ein Autor dieses Stoffes annehmen mag. (...) Erstens, was soll das unserem Vaterlande nützen? Und zweitens ... ja, auch zweitens muß ich fragen, was das für Nutzen bringen soll« (p. 105 f.). Die Unmöglichkeit, den übernatür­ lichen Elementen der Geschichte einen allegorischen Sinn beizulegen, verweist uns wieder auf die wörtliche Bedeutung. Auf dieser Stufe wird Die Nase zur reinen Inkarnation des Absurden, des Unmöglichen. Denn selbst wenn man die Metamorphosen akzeptierte, so könnte man doch den Reaktionsmangel der Menschen, die Zeugen dieser Metamorphosen sind, nicht erklären. Gogol bekräftigt gerade den Nonsens. Die Nase stellt also in doppelter Hinsicht das Problem der Allegorie: einerseits zeigt sie, daß man den Eindruck erwecken kann, es gebe eine allegorische Bedeutung, wo sie in Wahrheit fehlt, und andererseits schildert sie, wo sie die Metamorphosen einer Nase schildert, zugleich die Abenteuer der Allegorie selbst. Aufgrund dieser (und einiger an­ derer) Eigenarten kündigt Die Nase an, welchen Weg die Literatur des Übernatürlichen im 20. Jahrhundert nehmen wird (cf. Kapitel X). Fassen wir unsere bisherige Untersuchung zusammen. Wir haben mehrere Stufen unterschieden: von der offensichtlichen Allegorie (Per­ rault, Daudet) sind wir über die indirekte Allegorie (Balzac, Villiers de l’Isle-Adam) und die »unschlüssige« Allegorie (Hoffmann, Poe) zur illusorischen Allegorie (Gogol) gelangt. In jedem dieser Fälle sahen wir das Fantastische wieder in Frage gestellt. Man muß auf der Tatsache insistieren, daß man von Allegorie nur sprechen kann, wenn man inner­ halb des Textes explizite Hinweise darauf findet. Wenn nicht, geht man zur simplen Interpretation eines Lesers über, und von dem Augenblick an gäbe es keinen literarischen Text mehr, der nicht allegorisch wäre, denn es ist die Eigentümlichkeit der Literatur, von ihren Lesern ohne Ende interpretiert und uminterpretiert zu werden. 68

Der fantastische Diskurs Weshalb unsere Arbeit noch nicht beendet ist. – Der bildliche Diskurs. – Das hyperbolische Wunderbare. – Und das, welches aus der wörtlichen Bedeutung der Bilder kommt. – Die Bilder als Stufen zum Übernatürlichen. – Der dar­ gestellte Erzähler. – Er erleichtert die Identifizierung. – Es ist unwahrschein­ lich, aber möglich, daß sein Diskurs falsch ist. – Die – nicht-obligatorische – Stufenfolge. – Dagegen die Irreversibilität der – obligatorischen – Lektüre. – Fantastische Geschichten, Kriminalromane und Witze.

Wir haben im letzten Kapitel den Ort des Fantastischen in bezug auf zwei andere Genres – die Poesie und die Allegorie – bestimmt. Nicht alle Fiktion, nicht alle wörtliche Bedeutung ist an das Fantastische ge­ bunden, aber alles Fantastische ist an die Fiktion und an die wörtliche Bedeutung gebunden. Beide sind also notwendige Bedingungen für die Existenz des Fantastischen. Man könnte zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Definition des Fan­ tastischen für bereits vollständig und explizit halten. Was bleibt noch zu tun übrig, wenn man eine Gattung untersucht? Zur Beantwortung dieser Frage muß man sich eine der Prämissen unserer Analyse ins Gedächtnis zurückrufen. Sie ist in der Eingangsdiskussion kurz er­ wähnt worden. Wir behaupten, daß jeder literarische Text nach Art eines Systems funktioniert, d. h. daß notwendige und nicht willkürliche Beziehungen zwischen den diesen Text konstituierenden Teilen bestehen. Wir erinnern uns, daß Cuvier dadurch die Bewunderung seiner Zeit­ genossen erregte, daß er anhand des einzigen Wirbels, der ihm vorlag, das Abbild eines Tiers rekonstruierte. Wenn man die Struktur des lite­ rarischen Werks kennt, müßte man, ausgehend von der Kenntnis eines einzigen Merkmals, alle anderen rekonstruieren können. Die Analogie gilt übrigens gerade auf der Stufe der Gattung – auch Cuvier behaup­ tete, die Art zu definieren und nicht das einzelne Tier. Läßt man dieses Postulat gelten, so ist leicht zu begreifen, weshalb unsere Arbeit noch nicht beendet ist. Es ist nicht möglich, eines der Merkmale des Werkes zu fixieren, ohne daß alle anderen dadurch be­ einflußt werden. Es gilt also herauszufinden, wie die Auswahl dieses Merkmals die anderen affiziert und seine Rückwirkungen sichtbar zu machen. Wenn das literarische Werk wirklich eine Strukturbildet, dann müssen wir auf allen Ebenen Konsequenzen dieser ambivalenten Per­ 69

zeption des Lesers, durch die das Fantastische gekennzeichnet ist, auf­ finden können. Wenn wir diesen Anspruch auch stellen, so müssen wir uns doch gleichzeitig vor den Übertreibungen hüten, zu denen sich mehrere Auto­ ren bei der Behandlung des Fantastischen haben verleiten lassen. So haben einige alle Merkmale des Werkes als obligatorisch präsentiert und sind dabei zuweilen bis ins kleinste Detail gegangen. In Penzoldts Buch über das Fantastische findet sich beispielsweise eine minutiöse Be­ schreibung des Schauerromans (die übrigens keineswegs originell zu sein behauptet). Penzoldt präzisiert bis hin zum Vorhandensein von Fall­ türen und Katakomben, erwähnt das mittelalterliche Dekor, die Passi­ vität des Gespensts usw. Solche Details mögen historisch richtig sein, und es geht nicht darum, die Existenz einer Organisation auf der Ebene des primären literarischen »Bedeutenden« zu leugnen. Es ist jedoch - jedenfalls beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse – schwierig, eine theoretische Rechtfertigung für diese Details zu finden. Man muß sie anhand jedes einzelnen Werks untersuchen und nicht aus der Per­ spektive der Gattung. Wir werden uns hier auf Merkmale beschränken, die hinreichend allgemein sind, so daß sich dafür eine strukturale Be­ gründung geben läßt. Darüber hinaus werden wir nicht allen Aspekten die gleiche Aufmerksamkeit zuwenden: wir werden einige Merkmale des Werks, die zu seinen verbalen und syntaktischen Aspekten gehören, kurz in Augenschein nehmen, während der semantische Aspekt uns bis zum Ende unserer Untersuchung in Anspruch nehmen wird. Beginnen wir mit drei Eigenschaften, die besonders gut zeigen, wie sich die strukturale Einheit realisiert. Die erste ergibt sich aus der Aus­ sage, die zweite aus dem Aussagen (alle beide also aus dem verbalen Aspekt), die dritte aus dem syntaktischen Aspekt. I. Das erste auffällige Merkmal ist ein bestimmter Gebrauch des bild­ lichen Diskurses. Das Übernatürliche entsteht oft daraus, daß man die übertragene Bedeutung wörtlich nimmt. Die rhetorischen Figuren sind allerdings auf unterschiedliche Art mit dem Fantastischen verbunden, und wir müssen diese Beziehungen gegeneinander absetzen. Von der ersten haben wir bei Gelegenheit des hyperbolischen Wun­ derbaren in den Märchen aus tausendundeiner Nacht bereits gesprochen. Das Übernatürliche kann manchmal aus der bildlichen Wendung ent­ springen, deren letzte Stufe sein. So etwa bei den riesenhaften Schlan­ gen oder Vögeln in den Berichten Sindbads; dort gleitet man vom Hyperbolischen ins Fantastische hinüber. In Beckfords Vathek begegnet man der systematischen Anwendung dieses Mittels. Das Übernatürliche erscheint hier als eine Verlängerung der rhetorischen Figur. Sehen wir 70

uns einige Beispiele an. Sie entstammen der Beschreibung des Lebens in Vatheks Palast. Der Kalif bietet demjenigen eine hohe Belohnung, der eine Inschrift entziffert. Um die Unfähigen fernzuhalten, beschließt er jedoch, daß denen, die es nicht schaffen, »der Bart bis aufs letzte Haar verbrannt werden« soll. Mit welchem Resultat? »Die Gelehrten, die Halbgelehrten und jene, die weder das eine noch das andere waren, sich aber einbildeten, beiden gleichzustehen, setzten alle kühn ihre Bärte aufs Spiel und verloren sie beschämt. Die Eintreibung ihrer verwirk­ ten Bärte verschaffte den Eunuchen eine hinreichende Beschäftigung. Sie stanken aber hernach dermaßen nach verbranntem Haar, daß sich die Damen des Serails angeekelt abwandten; dese Beschäfti­ gung ihrer Leibwächter mußte in andere Hände übertragen werden« (p. 14). Die Übertreibung führt zum Übernatürlichen. Hier eine andere Stelle: der Kalif wird vom Teufel dazu verdammt, auf immer durstig zu sein; Beckford bescheidet sich nicht damit zu sagen, daß der Kalif viel Flüssigkeit zu sich nahm, sondern evoziert eine Wassermenge, die uns zum Übernatürlichen führt. »So unerträglich war der Durst, der ihn quälte, daß sein Mund wie ein Trichter stets offen stand, um ver­ schiedene Getränke ... aufzunehmen« (p. 27), und: »Er wurde von seiner Mutter, seinen Freunden und einigen Eunuchen begleitet, die ihm ununterbrochen bauchige Becher aus Bergkristall füllten und ohne Un­ terlaß darreichten. Oft aber geschah es, daß seine Gier ihren Eifer über­ traf; dann mußte er sich auf den Boden hinstrecken, um das Wasser zu schlürfen« (p. 29). Das eindringlichste Beispiel ist das vom Inder, der sich in eine Kugel verwandelt. Die Situation ist folgende: der Inder, der ein verkleideter Unter-Teufel ist, hat am Mahl des Kalifen teilgenommen. Er benimmt sich jedoch so schlecht, daß Vathek nicht mehr an sich halten kann: »[Vathek] beförderte ihn augenblicklich mit einem Fußtritt von den Thronstufen, stand auf, wiederholte seinen Tritt mit solcher Heftigkeit, daß alle Anwesenden verleitet wurden, seinem Beispiel zu folgen. Alle setzten sich in Bewegung und hieben mit den Füßen auf den Inder ein; kaum hatte ihm einer einen Tritt versetzt, als er sich auch schon dazu gezwungen sah, die Tat zu wiederholen. Der Fremdling verschaffte ihnen eine hübsche Unterhaltung. Da er ebenso klein wie dick war, rollte er sich zu einem Ball zusammen und flog unter den Schlägen seiner Verfolger nach allen Seiten. Wo immer er auch hinkugelte, verfolgten sie ihn mit einem unvorstellbaren Eifer ... Wie er so von einem Zimmer ins andere rollte, zog der Ball tat­ sächlich jedermann, der ihm in die Quere kam, hinter sich her« (p. 33). 71

So kommt man von dem Ausdruck »sich zu einem Ball zusammen­ rollen« zu einer richtigen Metamorphose (denn wie sollte man sich sonst das Rollen von Zimmer zu Zimmer erklären?), und die Verfolgung nimmt allmählich gigantische Ausmaße an. »Als die Jagd durch Hallen, Galerien, Zimmer, Küchen, Gärten und Säle des Palastes gezogen war, nahm der Inder seinen Lauf schließlich durch die Höfe, während der Kalif, als erster Verfolger, ihm soviele Tritte als nur irgend möglich versetzte, doch nicht ohne dann und wann selbst einige Fußtritte zu empfangen, die seine Gefährten in der Hitze des Gefechts eigentlich dem Balle zugedacht hatten ... Der Anblick des verhängnisvollen Balles genügte schon an sich, jeden Zuschauer mitzureißen. Selbst die Muezins, die ja nur aus der Feme zuschauten, stürzten sich von ihren Minaretten herunter und gesellten sich der Menge bei, die beständig überraschend anschwoll, daß schließlich kaum mehr ein Einwohner Samarahs zurückblieb, ausgenommen die Alten, die ans Bett gefesselten Kranken und die Säuglinge, deren Ammen ohne ihre Last behender rennen konnten ... Nachdem alle Straßen und öffentlichen Plätze durchzogen und leer zurückgeblieben waren, rollte der verfluchte ball­ förmige Inder nach der Ebene von Katul in jenes Tal, das am Fuße des Berges der vier Quellen liegt« (p. 34 f.). Dieses Beispiel führt uns bereits zu einer zweiten Beziehung der rhetorischen Figuren zum Fantastischen: es realisiert demnach die eigentliche Bedeutung eines bildlichen Ausdrucks. Der Anfang von Vera hat uns dafür bereits ein Beispiel geliefert: die Erzählung nimmt den Ausdruck »Liebe ist stärker als der Tod« wörtlich. Dasselbe Verfahren gibt es bei Potocki. Hier eine Episode aus der Geschichte des Landolfo aus Ferrara: »Die arme Frau befand sich allein mit ihrer Tochter und wollte sich gerade zum Abendessen setzen. Als sie ihren Sohn eintreten sah, fragte sie ihn, ob Bianca zum Abendessen kommen werde. [Diese – die Geliebte Landolfos – ist jedoch gerade vom Bruder der Mutter ermordet worden.] ›Könnte sie doch kommen,, rief Landolfo, »und dich zur Hölle mitnehmen, zusammen mit deinem Bruder und der gan­ zen Familie Zampi!‹ Die unglückliche Mutter fiel auf die Knie und sprach: ›Oh, mein Gott, verzeih ihm seine Lästerungen!‹ In diesem Augenblick sprang polternd die Tür auf, und es erschien ein hageres, von Dolchstößen entstelltes Gespenst, das dennoch eine entsetzliche Ähnlichkeit mit Bianca bewahrte« (1, p. 61). So wird hier der schlichte Fluch, dessen ursprünglicher Sinn gewöhnlich nicht mehr wahrgenommen wird, wörtlich genommen. Eine dritte Art der Verwendung rhetorischer Figuren jedoch verdient 72

das meiste Interesse. In den beiden vorhergegangenen Fällen war das Bild die Quelle, der Ursprung des übernatürlichen Elements. Die Be­ ziehung zwischen beiden war diachronisch. Im dritten Fall ist die Beziehung synchronisch: Bild und Übernatürliches sind auf derselben Ebene gegenwärtig, und ihre Beziehung ist funktional und nicht »ety­ mologisch«. Hier geht dem Hervortreten des Übernatürlichen eine Reihe von Vergleichen, bildlichen oder einfach nur idiomatischen Wendungen voraus, die in der Umgangssprache sehr geläufig sind, wenn man sie wörtlich nimmt, jedoch ein übernatürliches Ereignis bezeichnen: genau gesagt das, welches am Schluß der Geschichte eintritt. Beispiele dafür haben wir in Die Nase gefunden – es gibt deren unzählig viele. Neh­ men wir Mérimées Venus d’Ille. Das übernatürliche Ereignis findet statt, als eine Statue lebendig wird und durch ihre Umarmung einen Jungvermählten tötet, der die Unvorsichtigkeit begangen hat, ihr seinen Trauring am Finger zu lassen. Es läßt sich klar erkennen, wie der Leser durch die bildlichen Wendungen, die dem Ereignis vorangehen, »kon­ ditioniert« wird. Einer der Bauern beschreibt die Statue: »Sie behext einen geradezu mit ihren großen weißen Augen. Man muß wegsehen, ja, sowie man sie anschaut« (p. 283). Es ist eine Banalität, von den Augen eines Porträts zu sagen, daß sie lebendig erscheinen; hier jedoch bereitet uns diese Banalität auf ein wirkliches »Lebendigwerden« vor. Weiter unten erklärt der Jungvermählte, weshalb er niemanden schikken will, um den Ring zu holen, den er am Finger der Statue gelassen hat: »Was würde man übrigens von meiner Zerstreutheit denken? ... Man würde mich das Ehegespons der Venus nennen ...« (p.311 f.). Wieder nur eine schlichte bildliche Wendung, aber am Schluß der Ge­ schichte wird die Statue sich tatsächlich so verhalten, als wäre sie Alfons' Gattin. Und nach dem Unfall beschreibt der Autor auf folgende Weise Alfons' leblosen Körper: »Ich schob sein Hemd auseinander und be­ merkte auf seiner Brust einen bläulichen Eindruck, der über die Seiten und nach dem Rücken lief. Man war versucht anzunehmen, er sei von einem eisernen Ring umschlungen worden« (p. 320 f.); »man war ver­ sucht anzunehmen« – genau dies suggeriert uns die übernatürliche Deu­ tung. So heißt es dann auch im Bericht der Braut nach der verhängnis­ vollen Nacht: »Da öffnete sich die Tür und jemand trat ein ... Im nächsten Augenblick ächzte das Bett wie unter gewaltiger Last« (p. 323). Wie man sieht, wird der bildliche Ausdruck jedesmal durch eine modalisierende Formulierung eingeleitet: »man muß wegsehen, ja, sowie«; »man würde mich ... nennen«, »man war versucht anzunehmen«, »wie unter gewaltiger Last«. Dies Verfahren ist keineswegs eine Eigentümlichkeit Mérimées; man 73

findet es bei fast allen Autoren des Fantastischen. So beschreibt Nodier in Inès de las Sierras das Auftauchen eines unheimlichen Wesens, das wir für ein Gespenst halten sollen, mit folgenden Worten: »Diese Physiognomie hatte so gar nichts Irdisches an sich ...« (p. 682). Wenn es sich wirklich um ein Gespenst handelt, dann muß es dasjenige sein, das der Legende zufolge seine Feinde bestraft, indem es ihnen eine brennende Hand aufs Herz legt. Und was tut Inès? »Das tut gut, sagte Inès und legte Sergy [ einem der Anwesenden] den einen Arm um den Hals, während sie ihm ab und zu eine Hand aufs Herz legte, die ebenso glühend heiß war, wie die, von der uns die Stefanslegende gesprochen hat« (p. 687); der Vergleich wird durch eine »Koinzidenz« ergänzt. Dieselbe Inès, ein potentielles Gespenst, tut ein übriges: »Oh Wunder! setzte sie plötzlich hinzu. Welcher gütige Geist mir da wohl unbemerkt Kastagnetten an den Gürtel gesteckt hat ...« (p. 689). In Villiers de l'Isle-Adams Vera findet sich dasselbe Mittel : »Io ihnen durchdrangen Geist und Leib einander so vollkommen, daß ihre Ge­ stalten ihnen als geistig erschienen ...« (p. 18); »Die Perlen waren noch warm, und ihr milder Glanz schimmerte, als geschehe es durch die Wärme ihres Körpers. (...) An diesem Abend nun aber funkelte der Opal, als habe sie ihn gerade erst abgelegt ...« (p. 22); die beiden Anspielungen auf die Auferstehung werden durch »daß« bzw. »als« eingeleitet. Dasselbe Verfahren auch bei Maupassant. In La Chevelure entdeckt der Erzähler im Geheimfach eines Schreibtischs eine Haarflechte. Bald stellt sich bei ihm das Gefühl ein, daß dies Haar nicht abgeschnitten worden ist, sondern daß die Frau, der es gehört, ebenfalls anwesend ist. Und so wird ihr Erscheinen vorbereitet: »Man betrachtet einen Gegenstand, und nach und nach wirkt er versucherisch, verwirrend, zieht uns in seinen Bann wie ein Frauenantlitz«, und mehr noch: »Man liebkost ihn [den Schrank] mit Augen und Hand, als wäre er lebendes Fleisch; man [betrachtet ihn] mit der Schwärmerei eines Liebhabers« (IV, p. 12 f.). Wir sind damit auf die »anormale« Liebe vorbereitet, die der Erzähler diesem leblosen Objekt, dem Haar, entgegenbringen wird. Nicht zu vergessen die Verwendung des »als [wäre er ...]«. In Qui sait? heißt es: »Das dichte Blätterzelt sah wie eine Gruft aus, die mein Haus überwölbte« (p. 175): schon sehen wir uns ohne Um­ schweife in die Begräbnisstimmung der Novelle versetzt. Oder weiter unten: » ... ich ging so vorwärts, wie ein Ritter in finstern Zeiten in ein verzaubertes Schloß eindrang« (p. 183); in eben diesem Augenblick treten wir ins Reich der Zauberei ein. Anzahl und Vielfalt der Beispiele zeigen deutlich, daß es sich hier nicht um ein individuelles Stilmerkmal 74

handelt, sondern um eine Eigenschaft, die mit der Struktur der Gattung des Fantastischen zusammenhängt. Die verschiedenen Beziehungen zwischen dem Fantastischen und dem bildlichen Diskurs, die wir feststellen konnten, erhellen sich gegenseitig. Wenn das Fantastische sich ohne Unterlaß rhetorischer Figuren bedient, so deshalb, weil es aus ihnen entspringt. Das Übernatürliche entspringt aus der Sprache, es ist zugleich ihre Folge und beweist sich an ihr: nicht nur, daß Teufel und Vampire ausschließlich in den Wörtern existieren, allein die Sprache ermöglicht auch zu begreifen, was stets abwesend ist: das Übernatürliche. Dieses wird so zu einem Symbol der Sprache, ganz wie die rhetorischen Figuren, und das Bild ist, wie wir gesehen haben, die reinste Form der Wörtlichkeit. II. Die Verwendung des bildlichen Diskurses ist ein Merkmal der Aussage; kommen wir jetzt zum Aussagen, oder, genauer gesagt, zum Problem des Erzählers, um eine zweite strukturale Eigenschaft der fan­ tastischen Erzählung näher zu betrachten. In fantastischen Geschichten sagt der Erzähler gewöhnlich »ich« (»je«). Das ist eine empirische Tat­ sache, die man leicht nachprüfen kann. Le Diable amoureux, Die Aben­ teuer in der Sierra Morena, Aurélia, Gautiers Erzählungen, die Poes, einige von E. T. A. Hoffmann – all diese Werke unterwerfen sich der Regel. Die Ausnahmen bilden fast nur Texte, die sich, in mehrfacher Hinsicht, vom Fantastischen entfernen. Um diese Tatsache richtig einzuschätzen, müssen wir auf eine unserer Prämissen zurückkommen; sie betriffi den Status des literarischen Dis­ kurses. Obgleich die Sätze des literarischen Textes zumeist eine behaup­ tende Form haben, so sind sie doch keine wirklichen Behauptungen, denn sie genügen einer wesentlichen Bedingung nicht: dem Wahrheits­ beweis. Mit anderen Worten, wenn ein Buch mit dem Satz beginnt » Jean lag in seinem Zimmer ausgestreckt auf dem Bett«, so haben wir nicht das Recht, uns zu fragen, ob das wahr sei oder falsch; eine solche Frage hat keinen Sinn. Die literarische -Sprache ist eine konventionelle Sprache, in der der Wahrheitsbeweis nicht möglich ist: die Wahrheit ist eine Beziehung zwischen den Wörtern und den Dingen, die sie bezeich­ nen, und in der Literatur gibt es diese »Dinge« nicht. Die Literatur wiederum kennt die Forderung nach Stimmigkeit oder nach innerer Kohärenz. Wenn man uns auf der nächsten Seite desselben imaginären Buchs mitteilt, daß es in Jeans Zimmer überhaupt kein Bett gibt, dann entspricht der Text nicht der Forderung der Kohärenz und macht eben dadurch aus dieser ein Problem, d. h. er thematisiert sie. Das ist mit der Wahrheit nicht möglich. Gleichermaßen muß man sich hüten, das Problem der Wahrheit mit dem der Darstellung zu verwechseln: allein 75

die Poesie verweigert die Darstellung, aber die gesamte Literatur ent­ zieht sich der Kategorie des Wahren und des Falschen. Es ist trotzdem angebracht, hier noch eine im Innern des Werks be­ gründete Unterscheidung einzuführen: tatsächlich entzieht sich allein das, was im Text im Namen des Autors gegeben wird, dem Wahrheits­ beweis; die Rede der Personen etwa kann wahr oder falsch sein wie im alltäglichen Diskurs auch.Der Kriminalroman z. B. spielt beständig mit den falschen Aussagen der Personen. Das Problem wird komplexer im Fall einer Erzähler-Person, eines Erzählers, der »ich« sagt. Insofern er Erzähler ist, darf sein Diskurs nicht dem Wahrheitsbeweis unter­ zogen werden, als handelnde Person aber kann er lügen. Dieses Dop­ pelspiel ist, wie bekannt, in einem der Romane Agatha Christies, The Murder of Roger Ackroyd, verwertet worden. Hier hat der Leser kei­ nen Augenblick den Erzähler in Verdacht und vergißt dabei, daß der ja auch handelnde Person ist. Der repräsentierte Erzähler entspricht also vollkommen dem Fan­ tastischen. Er ist der einfachen handelnden Person vorzuziehen, die ja leicht lügen kann, wie wir anhand einiger Beispiele sehen werden. Aber er ist gleichermaßen auch dem nichtrepräsentierten Erzähler vorzu­ ziehen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wären wir, würde uns das übernatürliche Ereignis von einem solchen Erzähler geschildert, alsbald im Bereich des Wunderbaren. Zwar hätte man keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln, aber das Fantastische braucht ja, wie wir wissen, gerade den Zweifel. Es ist kein Zufall, daß in wunderbaren Geschichten selten die erste Person verwendet wird (so weder in den Märcken aus tausendundeiner Nacht, weder in Perraults Märchen, noch in den Er­ zählungen E. T. A. Hoffmanns oder in Vathek): sie bedürfen dessen nicht, kein Zweifel soll ihr übernatürliches Universum aufhorchen las­ sen. Das Fantastische stellt uns vor ein Dilemma: soll man's glauben oder nicht? Das Wunderbare bringt die unmögliche Verbindung zu­ stande, indem es dem Leser vorschlägt, daran zu glauben, ohne es wirk­ lich zu tun. Zweitens – und dieser Punkt bezieht sich auf die Definition des Fantastischen selbst – ist es die erste als »erzählende« Person, die dem Leser die Identifizierung mit der handelnden Person am leichtesten macht, da ja das Pronomen »ich« allen gleichermaßen gehört. Darüber hinaus wird der Erzähler, um die Identifizierung zu erleichtern, wohl ein »Durchschnittsmensch« sein, in dem jeder (oder fast jeder) Leser sich erkennen kann. Auf diese Weise dringt man auf dem direktesten Weg ins Universum des Fantastischen ein. Die Identifizierung, die wir evo­ zieren, darf nicht als ein individuelles psychologisches Spiel aufgefaßt werden: es ist ein Mechanismus, der dem Text immanent ist, eine struk­ 76

turale Inschrift. Selbstverständlich hindert nichts den realen Leser, in bezug auf das Universum des Buches jede Distanz zu wahren. Einige Beispiele mögen die Wirksamkeit dieses Mittels beweisen. Die ganze »Spannung« einer Novelle wie Inès de las Sierras beruht auf der Tatsache, daß die unerklärlichen Ereignisse von jemandem erzählt wer­ den, der gleichzeitig einer der Helden der Geschichte und der Erzähler ist: er ist ein Mensch wie alle anderen, seine Rede ist also doppelt ver­ trauenswürdig. Mit anderen Worten, die Ereignisse sind übernatürlich, der Erzähler ist natürlich: ausgezeichnete Bedingungen für das Ent­ stehen des Fantastischen. Ebenso in der Vénus d’Ille (die eher zum Fantastisch-Wunderbaren tendiert, während man sich bei Nodier im Bereich des Fantastisch-Unheimlichen befand); wenn das Fantastische in Erscheinung tritt, dann heißt das, daß gerade die Indizien des Wun­ derbaren (die Spuren der Umarmung, das Geräusch von Schritten auf der Treppe und vor allem die Entdeckung des Rings im Schlafzimmer) vom Erzähler selbst aufgefunden werden, d. h. von einem Archäologen, der vertrauenswürdig ist und durchdrungen von den Erkenntnissen der Wissenschaft. Die Rolle, die der Erzähler in diesen beiden Novellen spielt, erinnert ein wenig an die Watsons in den Romanen Conan Doyles oder an die zahlreichen Schwierigkeiten, denen jener begegnet: sie sind eher Zeugen als Protagonisten, so daß sich jeder Leser in ihnen erkennen kann. In Inès de las Sierras wie in La Vénus d’Ille erleichtert die Erzähler­ Person also die Identifizierung; andere Beispiele veranschaulichen die erste Funktion des Erzählers, die wir aufgedeckt haben: das, was er­ zählt wird, zu beglaubigen, ohne daß er nun gleich verpflichtet wäre, das Übernatürliche definitiv anzuerkennen. Eins dieser Beispiele ist die Szene aus dem Diable amoureux, in der Soberano Zeugnis ablegt von seinen Zauberkräften: »Drauf rief er: »Calderon, stopf meine Pfeife, zünd an und bring her!, Kaum gesagt, so verschwand die Pfeife, und bevor ich mich besinnen konnte, wer der befohlene Calderon sei, war sie schon wieder angezündet da, und Soberano rauchte von neuem« (p. 7). Ebenso in Maupassants Un fou?: »Auf meinem Tisch lag eine Art Dolchmesser; ich benutzte es zum Aufschneiden von Büchern. Er streckte die Hand danach aus. Sie schien zu kriechen; sie rückte langsam näher; und plötzlich sah ich, ja, ich sah, wie das Messer anfing zu zittern, dann bewegte es sich, dann glitt es langsam, ganz von selber, über die Holzfläche der Hand entgegen, die wartend innegehalten hatte, und schob sich in die Finger. – Ich schrie vor Entsetzen auf« (p. 120). Bei keinem dieser Beispiele bezweifeln wir das Zeugnis des Erzäh­ 77

lers, wir suchen vielmehr mit ihm eine rationale Erklärung für die bizarren Fakten. Die Person darf lügen, der Erzähler sollte es nicht: das ist die Schluß­ folgerung, die man aus dem Roman Potockis ziehen könnte. Uns liegen zwei Schilderungen desselben Ereignisses, der Nacht, die Alfons mit seinen zwei Cousinen verbracht hat, vor: die Alfons’, die keine über­ natürlichen Elemente enthält, und die Pachecos, der mit ansieht, wie die beiden Cousinen sich in Leichen verwandeln. Da nun aber der Be­ richt Alfons’ (nahezu) nicht falsch sein kann, kann der Pachecos eigent­ lich nur die reine Lügenerfindung sein, wie Alfons argwöhnt (zu recht, wie wir später erfahren). Oder mehr noch, Pacheco könnte ja Visionen gehabt haben, verrückt sein usw., nicht aber Alfons, insofern er mit der immer noch »normalen« Instanz des Erzählers verschmilzt. Die Novellen Maupassants illustrieren die unterschiedlichen Grade des Vertrauens, das wir den Erzählungen entgegenbringen. Man kann deren zwei unterscheiden, entsprechend den beiden Möglichkeiten, daß der Erzähler der Geschichte entweder äußerlich ist (außerhalb der Ge­ schichte steht) oder eine ihrer treibenden Kräfte. Steht er außerhalb, so kann er die Reden der Person selbst beglaubigen oder nicht, und die erste Möglichkeit macht die Erzählung überzeugender (wie etwa in dem zitierten Abschnitt von Un fou?). Wenn nicht, wird der Leser versucht sein, das Fantastische aus dem Wahnsinn zu erklären – so bei La Cheve­ lure und der ersten Fassung von Le Horla, um so mehr, als der Schau­ platz der Erzählung in beiden Fällen eine Heilanstalt ist, In seinen besten fantastischen Erzählungen (Lui?, La Nuit, Le Horla, Qui sait?) macht Maupassant jedoch den Erzähler selbst zum Helden der Geschichte (das ist auch das Verfahren E. A. Poes und vieler anderer nach ihm). Der Akzent wird also auf die Tatsache gelegt, daß es sich eher um den Diskurs des Autors handelt, d. h. seinen Worten gegen­ über ist Vorsicht am Platze, und wir mögen durchaus vermuten, daß alle diese Personen Verrückte sind; sind sie jedoch nicht durch einen von dem des Erzählers unterschiedenen Diskurs eingeführt worden, schen­ ken wir ihnen immer noch ein paradoxes Vertrauen. Man teilt uns nicht mit, daß der Erzähler lügt, und die Möglichkeit, daß er lügen könnte, schockiert uns irgendwie von der Struktur her. Immerhin besteht die Möglichkeit (da er ja auch Person ist) – und die Unschlüssigkeit des Lesers kann entstehen. Fassen wir zusammen: der dargestellte Erzähler entspricht dem Fan­ tastischen, denn er erleichtert die notwendige Identifizierung des Lesers mit den Personen. Der Diskurs dieses Erzählers hat einen ambivalenten Status, und die Autoren haben dies auf unterschiedliche Weise ver­

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wertet, indem sie den Akzent auf den einen oder anderen seiner Aspekte gelegt haben. Gehört er zum Erzähler, steht der Diskurs diesseits des Wahrheitsbeweises, gehört er zur Person, muß er sich dem Wahrheits­ beweis unterwerfen. III. Das dritte Strukturmerkmal des Werks, das uns hier interessiert, bezieht sich auf seinen syntaktischen Aspekt. Unter dem Namen der Komposition (oder sogar der »Struktur« in einem sehr ärmlichen Sinne) hat dieser Aspekt der fantastischen Erzählung oft die Aufmerksamkeit der Kritiker in Anspruch genommen. Eine ziemlich umfassende Unter­ suchung darüber finden wir im Buch Penzoldts, der ihm ein ganzes Kapitel widmet. Wir geben im folgenden eine kurze Zusammenfassung seiner Theorie: »So könnte man die Struktur der idealen Gespenster­ Geschichte als aufsteigende Linie darstellen, die zum Höhepunkt führt. (...) Der Höhepunkt der Gespenster-Geschichten ist offensichtlich das Erscheinen des Gespensts« (p. 16); und weiter unten schreibt er: »Die meisten Autoren versuchen, eine Abstufung zu erreichen, indem sie, zunächst nur vage, dann immer direkter auf den Höhepunkt hindeu­ ten« (p. 23). Tatsächlich leitet sich diese Theorie des Handlungsablaufs in der fantastischen Erzählung von der Theorie her, die Poe für die Novelle überhaupt aufgestellt hatte. »Im ganzen Werk dürfte demnach nicht ein einziges Wort geschrieben stehen, das nicht direkt oder in­ direkt dazu beitrüge, diesen vorgefaßten Plan zu realisieren« (zitiert nach Eichenbaum, p. 207). Es lassen sich Beispiele finden, die diese Regel bestätigen. Nehmen wir Mérimées Venus d’Ille. Der Endeffekt (oder, mit Penzoldts Wor­ ten, der Höhepunkt) liegt in der Belebung der Statue. Von Beginn an bereiten uns verschiedene Details auf dieses Ereignis vor; und im Hin­ blick auf das Fantastische bilden sie eine hervorragende Stufenfolge. Wie wir gesehen haben, berichtet gleich auf der ersten Seite ein Bauer dem Erzähler von der Entdeckung der Statue und charakterisiert diese wie ein lebendiges Wesen (sie ist »boshaft«, »man muß wegsehen ... sowie man sie anschaut«). Dann wird uns sein Standpunkt als richtig beschrieben: »Diese glanzvollen Augen täuschten wirkliches Leben vor.« Gleidizeitig entwickeln sich die anderen Themen derErzählung: Alfons’ weihelose Hochzeit, die wollüstigen Formen der Statue. Schließlich kommt es zu der Geschichte mit dem Ring, der zufällig am Ringfinger der Venus verblieben ist. Es gelingt Alfons nicht, ihn wieder abzu­ streifen. » ... die Venus ... die hat den Finger krumm gemacht«, ver­ sichert er und folgert daraus: »Unbedingt, sie ist meine Frau ...« Von da an ist man mit dem Übernatürlichen konfrontiert, obwohl es außer­ halb unseres Gesichtskreises bleibt: die Treppe, die unter Schritten 79

kracht, das Bett, dessen Holzgestell zertrümmert ist, die Abdrücke auf Alfons’ Körper, der Ring, der in seinem Zimmer wiedergefunden wird, die tiefen Fußspuren in der Erde, der Bericht der Braut, schließlich der Beweis, daß die rationalen Erklärungen nicht zufriedenstellend sind. Das Erscheinen am Schluß ist also sorgfältig vorbereitet worden, und die Belebung der Statue vollzieht sich in einer regelmäßigen Abstufung: zuerst erweckt sie nur den Eindruck, als lebe sie, dann behauptet eine Person, sie habe den Finger krumm gemacht, am Ende schließlich scheint sie eben diese Person getötet zu haben. Im selben Stufengang entwickelt sich Nodiers Inès de las Sierras. Andere fantastische Novellen weisen jedoch keine solche Abstufung auf. Nehmen wir Gautiers La Morte amoureuse. Bis zum ersten Er­ scheinen Clarimondes im Traum gibt es eine gewisse, wenn bis dahin auch unvollkommene Abstufung; dann jedoch sind die übernatürlichen Ereignisse, die eintreten, weder mehr noch minder übernatürlich – bis zur Auflösung, d. h. dem Zerfall von Clarimondes Leichnam. Das gleiche gilt für Maupassants Novellen: der Kulminationspunkt des Fantastischen ist dort keineswegs der Schluß, sondern vielmehr das erste Erscheinen. Bei Qui sait? liegt noch eine andere Organisation vor: hier gibt es tatsächlich überhaupt keine Vorbereitung des Fantastischen vor seinem brüsken Eintritt (was diesem vorangeht, ist vielmehr eine indirekte psychologische Analyse des Erzählers); dann tritt das Ereignis ein: die Möbel verlassen ganz allein das Haus. Darauf verschwindet das übernatürliche Element für eine gewisse Zeit; abgeschwächt taucht es dann während der Entdeckung der Möbel in dem Antiquitäten­ geschäft wieder auf, um dann, kurz vor Schluß, mit der Rückkehr der Möbel ins Haus, wieder voll von seinen Rechten Besitz zu ergreifen. Der Schluß selbst enthält indessen kein einziges übernatürliches Ele­ ment. Er wird nichtsdestoweniger vom Leser als Höhepunkt empfun­ den. Penzoldt deckt übrigens in einer seiner Analysen eine ähnliche Konstruktion auf und folgert: »Im Gegensatz zu der üblichen aufstei­ genden Linie in Richtung auf einen einzigen Höhepunkt, wie sie für die Mehrzahl der Gespenstergeschichten charakteristisch ist, kann man die Struktur dieser Geschichten als eine gerade horizontale Linie dar­ stellen, die, nach kurzem Ansteigen während der Einleitung, beständig auf einer Ebene knapp unterhalb des üblichen Höhepunkts verläuft« (p. 129). Jedoch beschneidet eine solche Bemerkung natürlich die All­ gemeingültigkeit des vorhergegangenen Gesetzes. Halten wir en passant fest, daß allen formalistischen Kritikern die Tendenz gemeinsam ist, die Struktur des Werkes anhand einer Raumfigur darzustellen. Diese Analysen führen uns zu folgender Schlußfolgerung: gewiß gibt 80

es ein Merkmal des Fantastischen, das obligatorisch ist, doch ist es all­ gemeiner, als Penzoldt es anfänglich dargestellt hat, und es handelt sich nicht um eine Abstufung. Es muß aber auch erklärt werden, weshalb dieses Merkmal für das Fantastische unabdingbar ist. Kehren wir noch einmal zu unserer Definition zurück. Das Fanta­ stische enthält, im Gegensatz zu vielen anderen Gattungen, zahlreiche Hinweise auf die Rolle, die der Leser spielen soll (was nicht heißen soll, daß das bei anderen Texten nie der Fall ist). Wir haben festgestellt, daß diese Eigenschaft, allgemeiner gesprochen, aus dem Prozeß des Aus­ sagens hervorgeht, wie er innerhalb des Textes selbst dargestellt wird. Ein anderes wichtiges Konstituens dieses Prozesses ist seine Zeitlichkeit: jedes Werk enthält einen Hinweis im Hinblick auf die Zeit seiner Perzeption; die fantastische Erzählung, die den Prozeß des Aussagens stark unterstreicht, legt gleichzeitig den Akzent auf die Zeit der Lek­ türe. Und das erste Charakteristikum dieser Zeit ist es nun, daß sie aus Gründen der Konvention irreversibel ist. Jeder Text enthält einen impliziten Hinweis: er liegt darin, daß man ihn vom Anfang zum Ende, seine Seiten von oben nach unten lesen muß. Das soll nicht heißen, daß es nicht Texte gäbe, die uns zwingen, diese Ordnung zu durchbrechen, aber die Modifikation bezieht ihre ganze Bedeutung eben aus der Beziehung zur Konvention, die die Lektüre von links nach rechts impliziert. Das Fantastische ist eine Gattung, die diese Konven­ tion deutlicher hervortreten läßt als andere. Einen gewöhnlichen (nicht-fantastischen) Roman, einen Roman Bal­ zacs z. B., muß man vom Anfang zum Ende hin lesen. Wenn man aber, aus einer Laune heraus, das fünfte Kapitel vor dem vierten liest, ist der Verlust, den man auf sich nimmt, nicht so groß, als wenn es sich um eine fantastische Erzählung handelt. Wenn man vorzeitig das Ende einer solchen Erzählung erfährt, ist das ganze Spiel verdorben, denn der Leser kann den Identifizierungsprozeß nicht mehr Schritt für Schritt vollziehen. Dies ist jedoch die erste Bedingung des Genres. Es handelt sich dabei übrigens nicht notwendig um eine Stufenfolge, wenn diese Figur, die die Vorstellung der Zeit impliziert, auch häufig vorkommt: in La Morte amoureuse wie in Qui sait? liegt Irreversibilität ohne Ab­ stufung vor. Von daher versteht sich, daß die erste und die zweite Lektüre einer fantastischen Erzählung sehr verschiedene Eindrücke hervorrufen (in viel stärkerem Maße, als das bei einer anderen Art von Erzählung der Fall ist). Tatsächlich ist bei der zweiten Lektüre die Identifizierung nicht mehr möglich – sie wird unweigerlich Meta-Lektüre: man ent­ hüllt die Mittel des Fantastischen, statt seinem Charme zu unterliegen. 81

Nodier, der das wußte, ließ den Erzähler von Inès de las Sierras am Schluß der Geschichte sagen: »Ich bin nicht fähig, ihr soviel Reiz zu verleihen, daß man sie zweimal anhören würde« (p. 715). Schließlich ist noch zu bemerken, daß nicht allein die fantastische Erzählung den Akzent auf die Perzeptionszeit des Werkes legt. Der Detektivroman tut das in noch verstärktem Maße. Da es dort ja eine Wahrheit zu entdecken gilt, haben wir es mit einer strenggefügten Kette zu tun, in der nicht das geringste Glied verschoben werden kann. Aus eben diesem Grunde, und nicht etwa aufgrund einer eventuellen schwachen Schreibweise, liest man Kriminalromane nicht noch einmal. Der Witz scheint denselben Beschränkungen zu unterliegen. Die Be­ schreibung, die Freud davon gibt, läßt sich in etwa auf alle Genres mit akzentuierter Zeitlichkeit anwenden: »Zweitens gewinnen wir das Ver­ ständnis für die Eigentümlichkeit des Witzes, seine volle Wirkung auf den Hörer nur zu äußern, wenn er ihm neu ist, ihm als Überraschung entgegentritt. Diese Eigenschaft des Witzes, die seine Kurzlebigkeit bedingt und zur Produktion immer neuer Witze auffordert, leitet sich offenbar davon ab, daß es im Wesen einer Überraschung oder Über­ rumpelung liegt, kein zweites Mal zu gelingen. Bei einer Wiederholung des Witzes wird die Aufmerksamkeit durch die aufsteigende Erinne­ rung an das erste Mal geleitet« (VI, p. 172). Die Überraschung ist nur ein besonderer Fall der irreversiblen Temporalität. So läßt uns die abstrakte Analyse sprachlicher Formen dort Verwandtschaftsbeziehun­ gen entdecken, wo wir sie dem ersten Eindruck nach nicht einmal ver­ mutet haben.

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Die Themen des Fantastischen: Einleitung Weshalb ist der semantische Aspekt so wichtig? – Die pragmatischen, syntak­ tischen und semantischen Funktionen des Fantastischen. – Fantastische Themen und literarische Themen im allgemeinen. – Das Fantastische als Grenzerfah­ rung. – Form, Inhalt, Struktur. – Die thematische Kritik. – Ihr sensualistisches Postulat. – Ihr expressives Postulat. – Die Untersuchung fantastischer The­ men: Aperçu. – Schwierigkeiten, die von der Natur der Texte selbst her­ rühren. – Auf welche Weise wir vorgehen wollen.

Es ist an der Zeit, sich dem dritten Aspekt des Werkes zuzuwenden, den wir den semantischen oder thematischen genannt haben – und bei dem wir länger verweilen wollen. Weshalb soll dieser Aspekt eigentlich hervorgehoben werden? Die Antwort ist einfach: das Fantastische ist definiert als eine besondere Perzeption unheimlicher Ereignisse. Jetzt müssen wir den anderen Teil der Formel genau untersuchen: die un­ heimlichen Ereignisse selbst. Nun bezeichnen wir ja ein Faktum seman­ tischer Observanz, wenn wir ein Ereignis als unheimlich qualifizieren. Die Unterscheidung zwischen Syntax und Semantik, um die es hier geht, ließe sich folgendermaßen erklären: ein Ereignis wird in dem Maße als syntaktisches Element betrachtet werden, als es Teil eines umfassende­ ren Gebildes ist, als es mehr oder minder enge verwandtschaftliche Be­ ziehungen zu anderen Elementen unterhält. Dasselbe Ereignis wiederum wird von dem Augenblick an ein semantisches Element abgeben, wo wir es mit anderen – ähnlichen oder gegensätzlichen – Elementen verglei­ chen, ohne daß diese zu ersterem eine unmittelbare Beziehung unter­ hielten. Die Semantik entsteht aus der Paradigmatik auf dieselbe Weise, wie die Syntax auf der Syntagmatik aufbaut. Wenn wir von einem unheimlichen Ereignis sprechen, dann berücksichtigen wir dabei nicht seine Beziehungen zu verwandten Ereignissen, sondern vielmehr die­ jenigen, die es mit anderen Ereignissen verbinden, die innerhalb der Kette zwar weitab liegen, aber ähnlich oder entgegengesetzt sind. Schließlich kann die fantastische Geschichte sich durch diese oder jene Komposition, den einen oder anderen »Stil« auszeichnen oder nicht, aber ohne »unheimliche Ereignisse« kann das Fantastische gar nicht erst in Erscheinung treten. Das Fantastische besteht gewiß nicht in seinen Ereignissen, aber sie sind eine notwendige Voraussetzung dafür. Von daher ist die Aufmerksamkeit begreiflich, die wir ihnen entgegen bringen.

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Man könnte das Problem auf andere Weise eingrenzen, indem man von den Funktionen ausginge, die das Fantastische im Werk hat. Es ist angebracht, sich zu fragen: was leisten die fantastischen Elemente für ein Werk? Geht man von diesem funktionalen Gesichtspunkt aus, kann man zu drei Antworten gelangen. Erstens erzielt das Fantastische einen speziellen Effekt beim Leser – Angst oder Grauen oder einfach Neu­ gier -, den die anderen literarischen Gattungen oder Formen nicht her­ vorrufen können. Zweitens dient das Fantastische dem Erzählen, es erhält die Spannung: das Vorhandensein fantastischer Elemente erlaubt eine besonders gedrängte Organisation der Handlung. Drittens schließ­ lich hat das Fantastische eine Funktion, die auf den ersten Blick tauto­ logisch ist: es ermöglicht die Beschreibung eines fantastischen Univer­ sums, und dieses Universum hat deshalb noch keine Realität außerhalb der Sprache. Beschreibung und Beschriebenes unterscheiden sich der Natur nach nicht. Daß es drei Funktionen gibt und (auf diesem Abstraktionsniveau) nicht mehr und nicht weniger, ist kein Zufall. Die allgemeine Theorie der Zeichen – und wie wir wissen, beruht die Literatur ja auf ihnen – besagt, daß ein Zeichen drei mögliche Funktionen hat. Die pragmatische Funktion entspringt der Beziehung, die die Zeichen mit ihren Benutzern unterhalten, die syntaktische Funktion deckt die Beziehung der Zeichen untereinander, die semantische Funktion zielt auf die Beziehung der Zeichen zu dem, was sie bezeichnen, zu ihrem Referenzpunkt. Wir werden uns mit der ersten Funktion des Fantastischen hier nicht beschäftigen: sie beruht auf einer Psychologie des Lesens, die der eigent­ lichen literarischen Analyse, wie wir sie unternehmen wollen, ziemlich fremd ist. Was die zweite angeht, so haben wir bereits auf bestimmte Affinitäten zwischen Fantastischem und Komposition hingewiesen, und wir werden am Ende der Untersuchung darauf zurückkommen. Der dritten Funktion wollen wir nun unsere Aufmerksamkeit zuwenden und uns ab jetzt der Untersuchung eines speziellen semantischen Uni­ versums widmen. Man kann sofort eine einfache Antwort Vorbringen, die jedoch die Frage nicht ausschöpft. Es ist vernünftig anzunehmen, daß sich das, wovon das Fantastische spricht, qualitativ nicht von dem unterscheidet, wovon die Literatur allgemein spricht, daß es hier jedoch um den unter­ schiedlichen Grad der Intensität geht und daß diese im Fantastischen ihren Gipfelpunkt erreicht. Mit anderen Worten, wir kommen hier auf eine Formel zurück, die wir bereits in Hinblick auf E. A. Poe verwendet haben: das Fantastische stellt eine Grenzerfahrung dar. Wir sind uns darüber im klaren, daß diese Formel noch nichts erklärt. Von den

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»Grenzen« – die so oder so aussehen können – eines Kontinuums spre­ chen, von dem wir überhaupt nichts wissen, heißt, sich in jeder Hinsicht im Ungewissen bewegen. Immerhin bringt uns diese Hypothese zwei nützliche Hinweise: zunächst einmal steht jede Untersuchung der The­ men des Fantastischen in enger Beziehung zur Untersuchung literarischer Themen ganz allgemein; und außerdem wird der Superlativ, der Exzeß die Norm des Fantastischen sein. Wir wollen versuchen, dies ständig mit zu berücksichtigen. Eine Typologie der Themen des Fantastischen wird folglich der Typo­ logie literarischer Themen im allgemeinen entsprechen. Statt uns dar­ über zu freuen, können wir diese Tatsache nur beklagen. Denn wir rühren damit an das komplexeste, am wenigsten geklärte Problem der Literaturtheorie, die Frage: wie soll man "Von dem sprechen, wovon die Literatur spricht?

Schematisiert man das Problem, so kann man wohl sagen, daß man zwei einander symmetrisch entgegengesetzte Gefahren zu fürchten hat. Die erste ist, daß man die Literatur auf ihren bloßen Inhalt reduziert (anders ausgedrückt: sich nur mit ihrem semantischen Aspekt beschäf­ tigt); diese Haltung würde dazu führen, daß man die literarische Spezifität ignoriert, die Literatur auf dieselbe Ebene stellte wie bei­ spielsweise den philosophischen Diskurs; man würde zwar die Themen untersuchen, aber sie hätten nichts Literarisches mehr. Die zweite Gefahr ist, daß man, umgekehrt, die Literatur auf die bloße »Form« reduziert und das Gewicht der Themen für die literarische Analyse leugnet. Unter dem Vorwand, daß in der Literatur allein das »Bezeichnende« (le signifiant) zähle, weigert man sich, den semantischen Aspekt wahrzu­ nehmen (als ob das Werk nicht auf allen seinen vielfältigen Ebenen bezeichnend wäre). Es ist leicht zu sehen, worin das Unannehmbare beider Standpunkte liegt: in der Literatur ist das, was man sagt, ebenso wichtig als wie man es sagt; das »was« hat ebensoviel Gewicht wie das »wie« und umgekehrt (wenn man schon, anders als wir, davon ausgehen will, beide unterscheiden zu können). Aber man darf nun auch wieder nicht glauben, daß die rechte Haltung in einer ausgewogenen Mischung bei­ der Tendenzen liegt. Die bloße Unterscheidung zwischen Form und Inhalt ist als überholt anzusehen (diese Mitteilung ist auf theoretischer Ebene gewiß banal, aber sie ist noch hochaktuell, wenn man sich die literaturkritischen Einzeluntersuchungen von heute genau ansieht). Eine der Daseinsberechtigungen der strukturalen Konzeption liegt gerade darin, daß sie die alte Dichotomie von Form und Inhalt überwindet, um das Werk als Totalität und dynamische Einheit zu betrachten. 85

In der Konzeption vom literarischen Werk, wie wir sie bis hierher vertreten haben, sind die Konzeptionen von Form und Inhalt nirgends vorgekommen. Wir haben von mehreren Aspekten des Werks gespro­ chen, deren jeder seine Struktur besitzt und gleichzeitig signifikativ bleibt. Keiner von ihnen ist bloße Form oder bloßer Inhalt. Man könnte uns entgegenhalten: die verbalen und syntaktischen Aspekte sind »formaler« als der semantische Aspekt, und es ist möglich, sie zu beschreiben, ohne den Sinn eines speziellen Werks zu nennen. Vom semantischen Aspekt hingegen kann man nicht sprechen, ohne sich vor­ wiegend mit dem Sinn des Werks zu beschäftigen und damit einen Inhalt sichtbar zu machen. Dieses Mißverständnis muß unverzüglich ausgeräumt werden, zumal wir auf diese Weise die Aufgabe, die auf uns wartet, besser präzisieren können. Man darf die Untersuchung der Themen, wie wir sie hier ver­ stehen, nicht mit der kritischen Interpretation eines Werks verwechseln. Wir betrachten das literarische Werk als eine Struktur, der eine un­ begrenzte Anzahl von Interpretationen beigelegt werden kann. Diese hängen von Zeit und Ort ihres Aussagens, von der Persönlichkeit des Kritikers, von der derzeitigen Konfiguration der ästhetischen Theorien und dergleichen ab. Unsere Aufgabe hingegen ist die Beschreibung die­ ser bedeutungsleeren Struktur, die von den Interpretationen der Kriti­ ker und der Leser erfüllt wird. Wir werden von der Einzelinterpreta­ tion hier gleich weit entfernt sein, wie wir es bei der Behandlung des verbalen oder des syntaktischen Aspekts gewesen sind. Wie im Voran­ gegangenen handelt es sich auch hier darum, daß wir eher eine Kon­ figuration zu beschreiben haben als einen Sinn zu nennen. Wie es scheint, wird unsere Aufgabe außerordentlich schwierig, wenn wir die Verwandtschaft der fantastischen Themen mit den literarischen Themen im allgemeinen anerkennen. Was den verbalen und den syn­ taktischen Aspekt des Werks angeht, so stand uns eine umfassende Theorie zur Verfügung, in die wir unsere Beobachtungen über das Fantastische einbringen konnten. Hier hingegen steht uns nichts zur Verfügung. Aus eben diesem Grund müssen wir zwei Aufgaben gleich­ zeitig durchführen: die fantastischen Themen untersuchen und eine allgemeine Theorie der Themenforschung aufstellen. Wenn wir behaupten, daß es keinerlei allgemeine Themen-Theorie gibt, so scheinen wir eine Strömung der Kritik zu vergessen, die heute größtes Ansehen genießt: die thematische Kritik. Wir sind verpflichtet zu sagen, worin die von dieser Schule erarbeitete Methode uns nicht genügt. Ich werde einige Texte von Jean-Pierre Richard, dem gewiß brillantesten ihrer Repräsentanten, als Beispiel heranziehen. Diese Texte 86

sind mit einer bestimmten Absicht ausgewählt worden, und ich erhebe mitnichten den Anspruch, einem kritischen Werk gerecht zu werden, dessen Bedeutung beträchtlich ist. So werde ich mich auf einige schon ältere Vorworte beschränken; an den neueren Texten Richards läßt sich jedoch durchaus eine Entwicklung ablesen. Andererseits stellen sich die methodischen Probleme auch seinen ältesten Texten viel komplexer dar, wenn man seine konkreten Analysen untersucht (mit denen wir uns nicht aufhalten können). Gleich vorweg muß gesagt werden, daß die Verwendung des Ter­ minus »thematisch« an sich schon angreifbar ist. Denn unter einem solchen Titel sollte man ja doch eine Untersuchung aller Themen, wel­ cher Art auch immer, erwarten. In Wirklichkeit nehmen die Kritiker jedoch eine Auswahl unter den möglichen Themen vor, und gerade diese Auswahl liefert die beste Definition für ihre Haltung: man könnte sie als »sensualistisch« bestimmen. Tatsächlich sind für diese Kritik allein die Themen der Beachtung wahrhaft würdig, die mit Empfindungen (im engen Sinne) zu tun haben. Sehen wir uns an, wie Georges Poulet in seinem Vorwort zum ersten Buch thematischer Kritik von Richard, Littérature et Sensation (schon der Titel ist bezeichnend), diese Forde­ rung beschreibt: »Irgendwo im Tiefsten des Bewußtseins, jenseits der Region, wo alles Gedanke geworden ist, dem Punkt entgegengesetzt, von dem aus man vorgedrungen ist, gab es und gibt es also noch Licht, Gegenstände und selbst Augen, sie wahrzunehmen. Die Kritik kann sich nicht damit begnügen, einen Gedanken zu denken. Mehr ist ge­ boten: daß sie über diesen hinweg von Bild zu Bild wieder zu Empfin­ dungen aufsteige« (p. io; Hervorhebung von mir, T. T.). Es steckt in dieser Textstelle ein ganz eindeutiger Gegensatz, sagen wir, zwischen Konkretem und Abstraktem. Auf der einen Seite findet man Objekte – das Licht, die Augen, das Bild, die Empfindung –, auf der anderen den Gedanken, die abstrakten Auffassungen. Der erste Begriff des Gegensatzpaares scheint doppelt valorisiert: zunächst einmal ist er, zeitlich gesehen, zuerst da (vgl. das »geworden«), und dann ist er der wertvollere, der wichtigere und infolgedessen der bevorzugte Gegen­ stand der Kritik. Im Vorwort zu seinem nächsten Buch, Poésie et Profondeur, nimmt Richard genau dieselbe Idee wieder auf. Er beschreibt seine Unterneh­ mung als Versuch, »die ursprüngliche Absicht, den Plan, der ihr Aben­ teuer beherrscht, wiederzufinden und zu beschreiben. Diesen Plan habe ich versucht auf seiner elementarsten Ebene zu begreifen, dort, wo er sich mit der größten Bescheidenheit, aber auch in der größten Frei­ mütigkeit offenbart: auf der Ebene der bloßen Empfindung, des rohen

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Gefühls oder des entstehenden Bildes ... Ich habe die Idee für weniger wichtig gehalten als die Obsession, ich habe die Theorie im Verhältnis zum Traum als sekundär eingeschätzt« (p. 9 f.). Gérard Genette hat diesen Ausgangspunkt richtig qualifiziert, indem er vom »sensualisti­ schen Postulat, demzufolge das Wesentliche (und damit das Authen­ tische) mit der Erfahrung des Gefühls zusammenfällt« gesprochen hat (Figures, p. 94). Wir hatten (im Zusammenhang mit Northrop Frye) bereits Gelegen­ heit, unsere mangelnde Übereinstimmung mit diesem Postulat zum Ausdruck zu bringen. Und wir folgen Genette auch weiter, wenn er schreibt: »Das Postulat oder der Standpunkt des Strukturalismus ist nahezu das Gegenteil von dem der Bachelardschen Analyse: er besagt, daß bestimmte elementare Funktionen des archaischsten Denkens be­ reits einen hohen Abstraktionsgrad aufweisen, daß die Schemata und die Operationen des Geistes vielleicht ›tiefer‹, origineller sind als die Träumereien der sensiblen Einbildungskraft, und daß es eine Logik, ja selbst eine Mathematik des Unbewußten gibt« (p. 100). Es handelt sich, wie man sieht, um den Gegensatz zwischen zwei geistigen Strö­ mungen, die über den Strukturalismus und die Bachelardsche Analyse hinausreichen: auf der einen Seite findet man Levi-Strauss ebenso wie Freud oder Marx, auf der anderen gleichzeitig die thematische Kritik ebenso wie Jung und Frye. Man könnte sich, wie schon im Zusammenhang mit Frye, sagen, daß sich über die Postulate nicht streiten läßt, da sie Resultat einer arbiträ­ ren Entscheidung sind. Trotzdem dürfte es auch hier wieder nützlich sein, ihre Konsequenzen vorauszusehen. Übergehen wir schweigend die Implikationen, die mit der »primitiven Mentalität« zusammenhängen, und halten wir uns nur an diejenigen, die die literarische Analyse be­ rühren. Die Weigerung, der Abstraktion für die Welt, die er beschreibt, Bedeutung zuzugestehen, führt bei Richard dazu, daß er die Notwen­ digkeit der Abstraktion für das Geschäft der Kritik unterbewertet. Bei der Beschreibung der Empfindungen der Poeten, die er studiert, bedient er sich Kategorien, die genauso konkret sind wie die Empfindungen selbst. Um sich davon zu überzeugen, genügt ein Blick auf die (Inhalts-) »Verzeichnisse« seiner Bücher. Hier einige Beispiele daraus: »Teuflische Tiefe – Grotte – Vulkan«, »Sonne – Stein – rosa Ziegel – Schiefer – Grünheit – Büschel«, »Schmetterlinge und Vögel – entflogener Schal – vermauerte Erde – Staub – Lehm – Sonne« usw. (zum Kapitel über Nerval in Poésie et Profondeur). Oder weiter (immer noch in bezug auf Nerval): »Nerval sinnt beispielsweise über das Sein nach wie über ein verlorenes, ein begrabenes Feuer: deshalb sucht er immer wieder

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gleichermaßen das Schauspiel des Sonnenaufgangs, das der rosigen Zie­ gel, die in der untergehenden Sonne schimmern, die Fühlung mit dem flammenden Haar der jungen Frauen oder die falbe Milde ihres Fleischs – bionda e grassotta« (p. 10). Die beschriebenen Themen sind die der Sonne, des Ziegels, des Haars; der Begriff, der sie beschreibt, ist der des verlorenen Feuers. Ober solche Sprache der Kritik ließe sich viel sagen. Wir bestreiten ihre Sachdienlichkeit nicht: es ist Aufgabe der Spezialisten, für jeden einzelnen Autor zu sagen, in welchem Maße diese Beobachtungen kor­ rekt sind. Nein, eine solche Sprache erscheint vielmehr auf dem Niveau der Analyse selbst angreifbar. Derart konkrete Termini bilden selbst­ verständlich keinerlei logisches System (die thematische Kritik selbst würde das als erste zugestehen). Aber wenn die Liste der Termini un­ endlich und ungeordnet ist, in welcher Hinsicht ist sie dann eigentlich dem Text selbst vorzuziehen, der doch schließlich alle diese Empfindun­ gen enthält und sie auf eine bestimmte Weise organisiert? Auf dieser Stufe scheint die thematische Kritik nichts anderes zu sein als eine (im Fall Richards zweifellos geniale) Paraphrase; aber die Paraphrase ist keine Analyse. Bei Bachelard oder bei Frye haben wir immerhin ein System, wenn es auch auf dem Niveau des Konkreten bleibt: das der vier Elemente oder der vier Jahreszeiten usw. Bei der the­ matischen Kritik verfügt man über eine endlose Liste von Begriffen, die man für jeden einzelnen Text immer wieder erneut erst auffinden muß. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, gibt es also zwei Typen der Kritik: die eine ist, sagen wir, schildernd, die andere logisch. Die schil­ dernde Kritik folgt einer horizontalen Linie; sie geht von Thema zu Thema und verweilt in einem mehr oder minder willkürlich gewählten Augenblick. Diese Themen sind alle gleich wenig abstrakt, sie bilden eine unendliche Kette, und der Kritiker, darin dem Erzähler ähnelnd, wählt nahezu aufs Geratewohl das Ende und den Anfang seiner Schil­ derung aus (wie ja auch, sagen wir, Geburt und Tod einer Person nur willkürlich als Anfang und Ende eines Romans ausgewählte Augen­ blicke sind). Genette zitiert einen Satz aus L’univers imaginaire de Mallarmé, in dem sich diese Haltung niederschlägt: "Die Karaffe ist also kein Azurblau mehr und noch keine Lampe« (p. 499). Das Azur­ blau, die Karaffe und die Lampe bilden eine homogene Reihe, an der der Kritiker in immer gleicher Tiefe entlanggleitet. Die Struktur der Bücher thematischer Kritik illustriert sehr gut diese schildernde und horizontale Haltung: es sind meistens Sammlungen von Essays, von denen jeder das Porträt eines anderen Autors entwirft. Es ist sozusagen

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unmöglich, auf ein abstrakteres Niveau zu gelangen; es ist, als habe die Theorie Aufenthaltsverbot. Die logische Haltung nun folgt eher einer Vertikalen: die Karaffe und die Lampe können ein erstes Abstraktionsniveau bilden; dann wird man sich jedoch auf ein anderes, abstrakteres Niveau begeben müssen. Die Figur, die dieser Weg beschleibt, ist eher eine Pyramide als eine Oberflächenlinie. Im Gegensatz dazu will die thematische Kritik die Horizontale nicht aufgeben. Eben dadurch aber begibt sie sich jedes analytischen und, mehr noch, jedes explikativen Anspruchs. Sicher, man findet in den Schriften der thematischen Kritik, beson­ ders bei Georges Poulet, bisweilen auch theoretische Erörterungen. Zwar meidet eine solche Kritik die Gefahr des Sensualismus, aber sie wider­ spricht einem der anderen Postulate, die wir zu Anfang aufgestellt hatten, nämlich dem, daß das literarische Werk nicht als Übersetzung eines präexistierenden Gedankens aufzufassen sei, sondern als ein Ort, an dem ein Sinn entsteht, den es nirgends sonst geben kann. Anzuneh­ men, die Literatur sei nur der Ausdruck bestimmter Gedanken oder Erfahrungen des Autors, heißt, die literarische Spezifität von vorn­ herein in Bausch und Bogen verwerfen, der Literatur eine sekundäre Rolle, die eines Mediums unter anderen, zuweisen. Die thematische Kritik kennt jedoch keine andere Auffassung von der Abstraktion in der Literatur. Hier einige charakteristische Feststellungen Richards: »Man sieht in ihr [der Literatur] gern einen Ausdruck der Neigungen, der Obsessionen und der Probleme, die im Innern der persönlichen Existenz zu finden sind« (Littérature et Sensation, p. i 3). »Es schien mir, daß die Literatur einer der Orte sei, an denen sich mit der größten Schlichtheit oder sogar Einfalt diese Anstrengung des Bewußtseins, das Sein zu begreifen, enthüllt« (Poésie et Profondeur, p. 9; sämtliche Hervorhebungen von mir, T. T.). Ob Ausdruck oder Enthüllung, die Literatur wäre demnach immer nur ein Mittel, um bestimmte Probleme zu übersetzen, die außerhalb ihrer und unabhängig von ihr existieren. Ein Standpunkt, den zu akzeptieren uns besonders schwerfällt. Diese flüchtige Analyse macht uns klar, daß die – per definitionem anti-universale – thematische Kritik uns nicht die Mittel an die Hand gibt, um die allgemeinen Strukturen des literarischen Diskurses zu analysieren und zu explizieren (wir werden später die Ebene angeben, für die diese Methode uns vollkommen angemessen erscheint). Wir sehen uns also nach wie vor bar jeder Methode zur Themenanalyse. Immerhin sind zwei Klippen vor -uns aufgetaucht, die es zu meiden gilt: die eine ist die Weigerung, das Feld des Konkreten zu verlassen, 90

die Existenz abstrakter Regeln anzuerkennen; die zweite die Verwen­ dung nicht-literarischer Kategorien bei der Beschreibung literarischer Themen. Wenden wir uns jetzt mit unserem mageren theoretischen Gepäck den kritischen Schriften zu, die das Fantastische behandeln. Wir werden eine überraschende methodische Einhelligkeit feststellen. Nehmen wir ein paar Beispiele für die Themen-Klassifizierung. In einem der ersten Bücher, das dieser Frage gewidmet worden ist, The Supernatural in Modern English Fiction, schlägt Dorothy Scarborough folgende Klassifizierung vor: die modernen Gespenster; der Teufel und seine Verbündeten; das übernatürliche Leben. Bei Penzoldt findet man eine detailliertere Einteilung (im Kapitel »Das Hauptmotiv«): das Ge­ spenst; der Auferstandene; der Vampir; der Werwolf; Hexen und Hexerei; das unsichtbare Wesen; das Gespenst aus dem Tierreich. (Tat­ sächlich stützt sich diese Einteilung auf eine andere, viel allgemeinere, auf die wir im 9. Kapitel zu sprechen kommen werden.) Vax schlägt eine sehr ähnliche Liste vor: »Der Werwolf; der Vampir; die verselb­ ständigten Teile des menschlichen Körpers; Persönlichkeitsstörungen; die Spiele mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren; die Veränderun­ gen der räumlichen und zeitlichen Kausalität; das Regredieren«. Hier geht man seltsamerweise von den Bildern zu ihren Ursachen über: das Vampir-Thema kann natürlich eine Folge der Persönlichkeitsstörungen sein; die Liste ist also weniger kohärent als die vorangegangenen, wenn sie auch suggestiver ist. Caillois gibt eine noch detailliertere Einteilung. Sie kennt folgende thematische Klassen: »der Pakt mit dem Dämon (Beispiel Faust); die arme Seele, die die Ausführung einer bestimmten Tat fordert, um Frie­ den zu finden; der Geist, der zu ewiger Irrfahrt verdammt ist (Beispiel Melmoth); der personifizierte Tod, der unter den Lebenden erscheint (Beispiel E. A. Poes The Mask of the Red Death); das undefinierbare »Ding«, das sich dennoch bemerkbar macht, anwesend ist (Beispiel Le Horla); die Vampire, d. h. die Toten, die sich ewiger Jugend versichern, indem sie den Lebenden das Blut aussaugen (zahlreiche Beispiele); die Statue, die Puppe, die Rüstung, der Automat, die plötzlich lebendig werden und eine grauenerregende Unabhängigkeit gewinnen (Beispiel La Vénus d’Ille) ; der Fluch eines Hexenmeisters, der eine schreckliche, übernatürliche Krankheit zur Folge hat (Beispiel Kiplings The Mark of the Beast); das dem Jenseits entstammende, verführerische und tod­ bringende Weib-Gespenst (Beispiel Le Diable amoureux); die Vertau­ schung der Domänen von Traum und Wirklichkeit; die aus dem Raum verschwundenen Zimmer bzw. Wohnung, Stockwerk, Haus, Straße; das

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Stehenbleiben oder die Wiederholung der Zeit (Beispiel Die Abenteuer in der Sierra Morena)« (Images, Images ..., p. 36 ff.). Wie man sieht, ein sehr reichhaltiges Verzeichnis. Gleichzeitig legt Caillois sehr viel Nachdruck auf den systematischen, geschlossenen Charakter der Themen des Fantastischen: •Ich habe mich vielleicht zu weit vorgewagt mit der Behauptung, diese Themen, die ja doch ziemlich stark von einer gegebenen Situation abhängen, registrieren zu wollen. Ich halte sie dennoch weiterhin für aufzählbar und ableitbar, und zwar auf die Weise, daß man bis zum äußersten Extrem sich diejenigen hin­ zudenken kann, die der Reihe fehlen, wie die zyklische Klassifikation Mendelejews es ja auch erlaubt, das Atomgewicht einfacher Körper zu berechnen, die noch nicht entdeckt sind, oder die die Natur nicht kennt. die virtuell jedoch existieren« (p. S7 f.). Man kann einen solchen Wunsch nur unterschreiben. Aber in den Schriften Caillois' sucht man vergeblich nach der logischen R egel, die eine solche Klassifizierung erlaubte.Und ich glaube nicht, daß ihr Feh­ len auf einem Zufall beruht. Alle bis hierher aufgezählten Klassifika­ tionen laufen der ersten Regel zuwider, die wir für uns aufgestellt hatten, nämlich: nicht konkrete Bilder, sondern abstrakte Kategorien zu klassifizieren (Vax ist die einzige Ausnahme). Auf der Ebene, auf derCaillois sie beschreibt, sind diese •Themen« im Gegenteil unbegrenzt und unterliegen keinen strengen Gesetzen. Man könnte denselben Ein­ wand auch so formulieren: den Klassifikationen liegt die Vorstellung zugrunde von einem unveränderlichen Sinn eines jeden Elements im Werk, der unabhängig ist von der Struktur, in die es integriert wird. Ordnet man z.B. alle Vampire zusammen, so impliziert das, daß der Vampir immer dasselbe bedeutet, in welchem Kontext immer er auch auftauchen mag. Geht man jedoch, wie wir, von der Vorstellung aus, daß das Werk ein kohärentes Ganzes, eine Struktur bildet, dann muß man zugeben, daß der Sinn eines jeden Elements (hier: eines jeden Themas) nicht außerhalb seiner Beziehungen zu den anderen Elementen Personen 1

.2

{Materie + Bewußtsein) Welt der Objekte l

4

{Materie + Raum)

s

in Bewegung, die bestimmt wird durch

1

Kaus;lität und /oder Ziele

l

8

in der Zeit

deutlich werden kann. Was man uns hier anbietet, das sind Etikette, Äußerlichkeiten, nicht wirkliche thematische Elemente. Ein neuerer Artikel von Witold Ostrowski geht über diese Aufzäh­ lungen hinaus. Er versucht, eine Theorie zu formulieren. Die Unter­ suchung ist übrigens bezeichnenderweise betitelt: The Fantastic and the Realistic in Literature. Suggestions on how to define and analyse fan­ tastic fiction. Nach Ostrowski kann man die menschliche Erfahrung durch ein Schema (s. S. 92) darstellen (p. 57). Die Themen des Fantastischen definieren sich daraus, daß ein jedes von ihnen die Transgression eines oder mehrerer der acht konstitutiven Elemente dieses Schemas ist. Damit haben wir einen Systematisierungsversuch auf abstrakter Ebene, nicht mehr einen Katalog auf Bildebene. Es fällt dennoch schwer, ein solches Schema zu akzeptieren, und zwar aufgrund des aprio­ rischen (und zudem nicht-literarischen) Charakters der Kategorien, die hier für gut befunden werden, literarische Texte zu beschreiben. Kurz gesagt, diese Analysen des Fantastischen sind sämtlich an kon­ kreten Hinweisen ebenso arm wie die thematische Kritik arm war an Indikationen allgemeiner Art. Die Kritiker (Penzoldt ausgenommen) haben sich bis heute damit begnügt, Verzeichnisse übernatürlicher Ele­ mente anzufertigen, ohne daß es ihnen gelungen wäre, deren Organi­ sation aufzuweisen.

Als reichten all diese Probleme, denen wir auf der Schwelle der semantischen Untersuchung begegnen, noch nicht aus, kommen auch noch solche hinzu, die mit der Beschaffenheit der fantastischen Literatur selbst zusammenhängen. Besinnen wir uns auf die Gegebenheiten des Problems: in dem Universum, das der Text evoziert, vollzieht sich ein Ereignis – eine Handlung – das dem Übernatürlichen entspringt (oder dem falschen Übernatürlichen); dieses wiederum ruft eine Reaktion beim impliziten Leser (und im allgemeinen beim Helden der Geschichte) hervor: es ist die Reaktion, die wir als »Unschlüssigkeit« qualifiziert haben; die Texte aber, die sie bewirken, haben wir als fantastische be­ zeichnet. Wenn man die Themenfrage stellt, dann klammert man die »fantastische« Reaktion ein und interessiert sich nur für die Natur der Ereignisse, von denen sie hervorgerufen werden. Mit anderen Worten, unter diesem Gesichtspunkt ist die Unterscheidung zwischen Fantasti­ schem und Wunderbarem nicht länger interessant, und wir werden uns unterschiedslos mit Werken beschäftigen, die entweder dem einen oder dem anderen Genre zugehören. Es ist hingegen möglich, daß der Text das Fantastische (d. h. die Reaktion) so stark betont, daß wir das Über­ 93

natürliche, das er hervorgerufen hat, nicht mehr davon unterscheiden können: die Reaktion macht es unmöglich, die Handlung zu begrei­ fen, statt sie begreiflich zu machen. Es wird dadurch außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich, das Fantastische in Parenthese zu setzen. Anders ausgedrückt: wenn es sich um die Wahrnehmung eines Ob­ jekts handelt, kann man ebensowohl auf der Wahrnehmung als auf dem Objekt insistieren. Ist das Insistieren auf der Wahrnehmung jedoch zu stark, dann nimmt man das Objekt selbst nicht mehr wahr. Es finden sich sehr unterschiedliche Beispiele für diese Unmöglichkeit, zum Thema zu gelangen. Nehmen wir zuerst E. T. A. Hoffmann (des­ sen Werk fast ein Repertoire der fantastischen Themen abgibt). Was ihm wichtig erscheint, ist nicht das, wovon man träumt, sondern die Tatsache, daß man träumt, und die Freude, die das bereitet. Die Be­ wunderung, die die Existenz der übernatürlichen Welt bei ihm weckt, hindert ihn oft, uns zu sagen, worin diese Welt besteht. Der Akzent ist von der Aussage zum Aussagen übergegangen. Der Schluß von Der goldene Topf ist in dieser Hinsicht aufschlußreich. Nachdem er die wundersamen Abenteuer des Studenten Anselm erzählt hat, erscheint der Erzähler am Schauplatz der Handlung und erklärt: »Aber nun fühlte ich mich von jähem Schmerz durchbohrt und zerrissen. ›Ach, glücklicher Anselmus, der du die Bürde des alltäglichen Lebens abge­ worfen, der du in der Liebe zu der holden Serpentina die Schwingen rüstig rührtest und nun lebst in Wonne und Freude auf deinem Ritter­ gut in Atlantis! – Aber ich Armer! – bald – ja in wenigen Minuten bin ich selbst aus diesem schönen Saal, der noch lange kein Rittergut in Atlantis ist, versetzt in mein Dachstübchen, und die Armseligkeiten des bedürftigen Lebens befangen meinen Sinn, und mein Blick ist von tausend Unheil wie von dickem Nebel umhüllt, daß ich wohl niemals die Lilie schauen werde., Da klopfte mir der Archivarius Lindhorst leise auf die Achsel und sprach: »Still, still, Verehrter, klagen Sie nicht so! – Waren Sie nicht soeben selbst in Atlantis, und haben Sie denn nicht auch dort wenigstens einen artigen Meierhof als poetisches Besitztum Ihres innern Sinns – Ist denn überhaupt des Anselmus Seligkeit etwas anderes als das Leben in der Poesie, der sich der heilige Einklang aller Wesen als tiefstes Geheimnis der Natur offenbaret?‹« (I, p. 255). Dieser bemerkenswerte Abschnitt setzt ein Gleichheitszeichen zwischen den übernatürlichen Ereignissen und der Möglichkeit, sie zu beschreiben, zwischen dem Sinn des Übernatürlichen und seiner Wahrnehmung: das Glück, das Anselm beschieden ist, ist mit dem des Erzählers identisch, der es sich hat vorstellen, seine Geschichte hat schreiben können. Und 94

angesichts dieser Freude über die Existenz des Übernatürlichen ist es einem fast nicht vergönnt, es kennenzulernen. Die umgekehrte Situation, jedoch mit ähnlichen Effekten, liegt bei Maupassant vor. Hier ruft das Übernatürliche eine solche Angst, ein solches Grauen hervor, daß es uns kaum gelingt auszumachen, worin es besteht. Qui sait? ist vielleicht das beste Beispiel für diesen Prozeß. Das übernatürliche Ereignis, Ausgangspunkt der Novelle, ist die plötz­ liche und unheimliche Belebung der Möbel eines Hauses. Im Verhalten der Möbel liegt keinerlei Logik, und wir fragen uns angesichts dieses Phänomens weniger, »was es bedeutet«, als daß wir frappiert sind von der Unheimlichkeit der Tatsache selbst. Es zählt nicht so sehr die Be­ lebung der Möbel, als die Tatsache, daß jemand sie sich hat ausdenken und erleben können. Wieder wirft die Wahrnehmung des Übernatür­ lichen einen tiefen Schatten auf das Übernatürliche selbst und erschwert uns seinen Zugang. Henry James’ The Turn of the Screw bietet eine dritte Variante des einzigartigen Phänomens, daß Wahrnehmung eher abschlrmt als ent­ hüllt. Wie in den vorangegangenen Texten, ist auch hier die Aufmerk­ samkeit so stark auf den Akt der Wahrnehmung konzentriert, daß wir für immer im unklaren darüber bleiben, welcher Art das Wahrgenom­ mene denn nun ist (d. h. welche Art Laster die früheren Bediensteten gehabt haben). Hier überwiegt die Beklemmung, nimmt jedoch einen viel ambivalenteren Charakter an als bei Maupassant. Nach diesen ersten tastenden Versuchen beim Eintritt in die Unter­ suchung der fantastischen Themen verfügen wir also nur über einige negative Gewißheiten: wir wissen zwar, was man unterlassen soll, nicht aber, wie man vorzugehen hat. Infolgedessen werden wir vorsichtig operieren: wir werden uns auf die Anwendung einer elementaren Technik beschränken, ohne dies für die allgemein anzuwendende Me thode zu halten. Die Themen sollen zuerst auf rein formale Weise, genauer gesagt nach dem Prinzip der Zurechnung gruppiert werden. Ausgangspunkt ist eine Untersuchung ihrer Vereinbarkeit bzw. ihrer Unvereinbarkeit. Auf die Weise erhalten wir einige Gruppen von Themen. Jede Gruppe soll solche umfassen, die zusammen angetroffen werden können und die wirklich in Einzelwerken zusammen angetroffen werden. Haben wir diese formalen Klassen, so wollen wir versuchen, die Klassifikation selbst zu interpretieren. Das bedeutet, daß sich unsere Arbeit in zwei Etappen vollziehen wird, die im großen und ganzen den beiden Zeiten der Beschreibung und der Explikation entsprechen.

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Dieses Vorgehen mag zwar harmlos erscheinen, ist es aber doch nicht ganz. Es impliziert zwei Hypothesen, die noch keineswegs verifiziert sind: die erste, daß den formalen Klassen semantische Klassen ent­ sprechen, oder, mit anderen Worten, daß die verschiedenen Themen notwendigerweise einer verschiedenen Zuordnung bedürfen, und die zweite, daß ein literarisches Werk ein solches Maß an Kohärenz auf­ weist, daß die Regel der Vereinbarkeit bzw. der Unvereinbarkeit darin niemals verletzt werden kann. Das ist noch keineswegs erwiesen und sei es auch nur der zahlreichen Entlehnungen wegen, die für alle litera­ rischen Werke charakteristisch sind. Ein Volksmärchen z. B., das weni­ ger homogen ist, wird oft Elemente enthalten, die in literarischen Texten niemals zusammen auftreten. Man wird sich also von einer Intuition leiten lassen müssen, die sich augenblicklich schwer explizieren läßt.

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Die ich-Themen Rückkehr zu einem der Märchen aus tausendundeiner Nacht. – Die über­ natürlichen Elemente: Metamorphosen und Pan-Determinismus. – »Traditio­ nelles« und »modernes« Übernatürliches. – Geist und Materie. – Die Ver­ doppelung der Persönlichkeit. – Das Objekt wird Subjekt. – Transformationen von Zeit und Raum. – Die Wahrnehmung, der Blick, die Brille und der Spiegel in der Prinzessin Brambilla.

Beginnen wir also bei einer ersten Gruppe von Themen, die sich auf­ grund eines rein formalen Kriteriums zusammenfinden, aufgrund ihrer Ko-Präsenz. Wir erinnern uns an eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht, die vom zweiten Bettelmönch. Sie beginnt wie eine realistische Erzählung. Der Held, Sohn des Königs, vollendet seine Erziehung im Haus seines Vaters und bricht auf, um dem Sultan von Indien seine Aufwartung zu machen. Unter­ wegs wird sein Gefolge von Räubern überfallen. Er kann mit knapper Not sein Leben retten. Er findet sich in einer unbekannten Stadt wieder und hat weder die Mittel noch die Möglichkeit, sich zu erkennen zu geben. Dem Rat eines Schneiders folgend, fängt er an, in einem nahe­ gelegenen Wald Holz zu fällen und in der Stadt zu verkaufen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Bis dahin also, wie man sieht, keiner­ lei übernatürliches Element. Eines Tages jedoch geschieht das Unglaubliche. Als er eine Baum­ wurzel ausreißt, bemerkt der Prinz einen eisernen Ring und eine Fall­ tür. Er öffnet sie und steigt die Treppe hinab, die sich ihm darbietet. Er befindet sich in einem unterirdischen Palast, der reich ausgestattet ist. Eine Dame von außerordentlicher Schönheit empfängt ihn. Sie ver­ traut ihm an, daß sie Königstochter und von einem bösen Geist ent­ führt worden sei. Der Geist hat sie in diesem Palast verstecht und kommt nur alle zehn Tage, um mit ihr zu schlafen, denn seine recht­ mäßige Gattin ist sehr eifersüchtig. Die Prinzessin kann ihn jedoch jederzeit herbeirufen, indem sie einfach einen Talisman berührt. Sie lädt den Prinzen ein, neun von zehn Tagen bei ihr zu wohnen; dann bietet sie ihm ein Bad und ein exquisites Diner an und schlägt ihm vor, das Bett mit ihr zu teilen. Am nächsten Tag jedoch begeht sie die Unvor­ sichtigkeit, ihm Wein anzubieten. Als der Prinz schließlich betrunken ist, beschließt er, den Geist heranzulochen und zerbricht den Talisman. Der Geist erscheint. Allein seine Ankunft macht einen solchen Lärm,

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daß der Prinz entflieht und die hilflose Prinzessin in den Händen des Geistes zurückläßt. Außerdem läßt er einige seiner Kleidungsstücke im Zimmer verstreut liegen. Diese weitere Unvorsichtigkeit wird ihm zum Verderben: der Geist verwandelt sich in einen Greis, kommt in die Stadt und entdeckt den Besitzer der Kleider; er entführt unseren Prin­ zen zunächst in den Himmel, dann bringt er ihn in die Grotte zurück, um ihn zum Geständnis seinesVerbrechens zu bringen. Aber weder der Prinz noch die Prinzessin gestehen, was den Geist nicht hindert, sie zu bestrafen: er trennt der Prinzessin einen Arm ab, und sie stirbt. Der Prinz aber wird, obwohl er es schafft, ein Geschichte zu erzählen, der­ zufolge man sich niemals an jemandem rächen soll, der einem etwas Böses getan hat, in einen Affen verwandelt. Diese Situation ist dann der Ausgangspunkt für eine neue Reihe von Abenteuern. Der kluge Affe wird von einem Schiff aufgenommen; der Kapitän ist entzückt von seinen,guten Manieren. Eines Tages gelangt das Schiff in einem Königreich an, dessen Großwesir gerade gestorben ist. Der Sultan fordert alle Neuankömmlinge auf, ihm eine Probe ihrer Handschrift zu senden, um anhand dieses Kriteriums den Nachfolger des Wesirs zu bestimmen. Wie man sich denken kann, stellt sich die Schrift des Affen als die schönste heraus. Der Sultan lädt ihn in seinen Palast ein, und der Affe schreibt ihm zu Ehren Verse. Die Tochter des Sultans kommt, um sich das Wunder anzusehen. Da sie früher jedoch Unterricht in Magie gehabt hat, errät sie sofort, daß es sich um einen verwandelten Menschen handelt. Sie ruft den Geist, und beide liefern sich einen harten Kampf, in dessen Verlauf jeder sich in eine Reihe von Tieren verwandelt. Am Schluß werfen sie Flammen gegeneinander. Die Tochter des Sultans ist siegreich, stirbt jedoch darauf. Sie hat gerade noch Zeit, dem Prinzen seine menschliche Gestalt wiederzugeben. Be­ trübt von dem Unheil, das er verursacht hat, wird der Prinz Bettel­ mönch (Derwisch), und die Wechselfälle seiner Reise führen ihn auch in das Haus, in dem er gegenwärtig diese Geschichte erzählt. Man steht dieser offensichtlichen thematischen Vielfalt zunächst rat­ los gegenüber: wie soll man sie beschreiben? Isoliert man indessen die übernatürlichen Elemente, so zeigt sich, daß es möglich ist, sie in zwei Gruppen zusammenzufassen. Die erste wäre die der Metamorphosen. Wir haben gesehen, wie sich ein Mensch in einen Affen und ein Affe in einen Menschen verwandelt hat; der Geist verwandelt sich gleich am Anfang in einen Greis. Während der Kampfszene folgt eine Metamor­ phose auf die andere. Zuerst wird der Geist zu einem Löwen. Die Prinzessin haut ihn mit dem Säbel in zwei Stücke, aber der Kopf des Löwen verwandelt sich in einen dicken Skorpion. »... da wurde die 98

Prinzessin zu einer gewaltigen Schlange und sprang auf diesen Ver­ fluchten los, der in der Gestalt eines Skorpions war; und die beiden rangen erbittert miteinander. Da plötzlich verwandelte sich der Skor­ pion in einen Adler, und die Schlange ward zu einem Geier, der ver­ folgte den Adler ...« (I, p. 155). Wenig später erscheint ein schwarzer Kater. Er wird von einem scheckigen Wolf verfolgt. Der Kater ver­ wandelt sich in einen Wurm und schlüpft in einen Granatapfel, der sich aufbläht wie ein Kürbis. Er zerplatzt in Stücke! der Wolf, der sich mittlerweile in einen Hahn verwandelt hat, macht sich daran, die Kerne des Granatapfels aufzupicken. Einer bleibt übrig, der fällt ins Wasser und wird zu einem kleinen Fisch. »Da verwandelte auch der Hahn sich in einen großen Fisch, tauchte dem andern nach und verschwand eine Weile« (I, p. 156). Am Schluß nehmen beide Personen wieder mensch­ liche Gestalt an. Die andere Gruppe fantastischer Elemente beruht auf der bloßen Existenz fantastischer Wesen wie dem Geist und der Zauber-Prinzessin und ihrer Macht über das Schicksal der Menschen. Beide können ver­ wandeln und sich verwandeln, fliegen oder Wesen und Objekte an an­ dere Orte versetzen usw. Wir sehen uns hier einer der Konstanten der fantastischen Literatur gegenüber: der Existenz übernatürlicher Wesen, die mächtiger als Menschen sind. Es genügt indessen nicht, diese Tat­ sache zu konstatieren, es bleibt noch die Frage nach ihrer Bedeutung. Man kann natürlich sagen, daß solche Wesen den Traum von der Macht symbolisieren. Aber da ist noch mehr. Tatsächlich helfen diese Wesen, allgemein gesprochen, einer mangelhaften Kausalität ab. Sagen wir, ein Teil der Ereignisse des alltäglichen Lebens erklärt sich aus den Ursachen, die uns bekannt sind; ein anderer Teil ist anscheinend dem Zufall zu ver­ danken. Im letzteren Falle liegt zwar kein Mangel an Kausalität vor, aber doch die Intervention einer isolierten Kausalität, die nicht direkt mit den anderen kausalen Reihen verbunden ist, die unser Leben beherr­ schen. Wenn wir indessen den Zufall nicht akzeptieren, eine verallgemei­ nerte Kausalität, eine notwendige Beziehung aller Fakten untereinander postulieren, dann müssen wir den Eingriff übernatürlicher Kräfte oder Wesen (die uns bis hierhin nicht bekannt gewesen sind) zugeben. Eine Fee, die für das glückliche Geschick einer Person sorgt, ist nur die Inkarnation einer imaginären Kausalität anstelle dessen, was auch Glücksfall, Zufall genannt werden könnte. Der böse Geist, der unver­ sehens das Geplänkel der Verliebten unterbrochen hat, ist nichts anderes als das Pech des Helden. Aber die Wörter »Glücksfall« oder »Zufall« haben in diesem Teil der fantastischen Welt keinen Platz. In einer der fantastischen Novellen Erckmann-Chatrians heißt es: »Was ist denn 99

der Zufall schließlich, wenn nicht die Wirkung einer Ursache, die uns entgeht?« (L’Esquisse mystérieuse, zit. nach Castex’ Anthologie, p. 214). Wir können hier von einem verallgemeinerten Determinismus sprechen, von einem Pan-Determinismus: alles, bis hin zum Zusammentreffen verschiedener Kausalreihen (sprich: »Zufall«), muß im vollen Sinne des Wortes seine Ursache haben, selbst wenn diese nur übernatürlicher Ordnung sein kann. Interpretiert man so die Welt der Geister und der Feen, läßt sich eine seltsame Ähnlichkeit feststellen zwischen diesen, alles in allem tra­ ditionellen fantastischen Bildern und der viel »originelleren« Bildwelt, die man in den Werken von Schriftstellern wie Nerval oder Gautier findet. Es gibt keinen Bruch zwischen dem einen und dem anderen, und das Fantastische Nervals hilft uns, das von Tausendundeiner Nacht zu verstehen. Wir sind also nicht einer Meinung mit Hubert Juin, der die beiden Spielarten gegeneinander absetzt: »Die anderen heben die Ge­ spenster hervor, die Hexen, die leichenfressenden Wesen, jedenfalls all das, was aus einer Magenverstimmung entsteht und das schlechte Fan­ tastische ist. Allein Gérard de Nerval hat (...) das Wesen des Traums erkannt« (Vorwort zu Nervals fantastischen Erzählungen, p. 13). Hier einige Beispiele für den Pan-Determinismus bei Nerval: eines Tages treten zwei Ereignisse zur gleichen Zeit ein. Aurélia ist gerade gestorben, und der Erzähler, der das nicht weiß, denkt an einen Ring, den er ihr angeboten hatte. Der Ring war zu groß gewesen, und er hatte ihn verkleinern lassen. »Ich verstand meinen Fehler erst, als ich das Geräusch der Säge hörte. Es schien mir, als sähe ich Blut fließen ...« (p. 51). Zufall? Koinzidenz? Nicht für den Erzähler von Aurélia. An einem anderen Tag betritt er eine Kirche. »Ich ging nach den hintersten Plätzen, um mich dort auf die Knie zu werfen, und streifte einen silbernen Ring vom Finger, in dessen Stein die drei arabischen Worte eingraviert waren: Allah! Mohammed! Ali! Sofort entzündeten sich mehrere Kerzen im Chor ...« (p. 113). Was für andere nicht mehr wäre als ein zeitliches Zusammentreffen, ist hier ursächlich. Wieder ein anderes Mal geht er während eines Gewittertages auf der Straße spazieren. »Das Wasser stieg in den Nebenstraßen an; ich lief die Straße Saint-Victor hinunter und im Gedanken, das aufzuhalten, was ich für die Weltüberschwemmung hielt, warf ich an der tiefsten Stelle den Ring, den ich bei Saint-Eustache gekauft hatte, ins Wasser. Ungefähr in demselben Augenblick beruhigte sich das Gewitter, und ein Sonnenstrahl begann zu glitzern« (pp. 119 und 121). Der Ring bewirkt hier die atmosphärische Veränderung; zur gleichen Zeit stellt man fest, 100

mit welcher Vorsicht dieser Pan-Determinismus präsentiert wird: Ner­ val expliziert die zeitliche Koinzidenz, nicht aber die Kausalität. Ein letztes Beispiel entstammt einem Traum. »Wir waren auf einem sternerhellten Felde; wir blieben stehen und betrachteten das himm­ lische Schauspiel, und der Geist legte seine Hand auf meine Stirn, wie ich es am Abend vorher gemacht hatte, als ich meinen Gefährten zu magnetisieren versuchte; sogleich fing einer der Sterne des Himmels zu wachsen an ...« (p. 145). Nerval ist sich der Bedeutung solcher Erzählungen völlig bewußt. Im Zusammenhang mit einer von ihnen bemerkt er: »Ohne Zweifel wird man mir sagen, daß der Zufall veranlassen konnte, daß eine leidende Frau in mir Umgebung meiner Wohnung geschrien habe. – Aber meinen Gedanken nach waren die irdischen Ereignisse mit denen der unsichtbaren Welt verbunden« (p. 79). Und an anderer Stelle heißt es: »Die Stunde unserer Geburt, der Punkt der Erde, an dem wir er­ scheinen, die erste Bewegung, der Name, das Zimmer, – und all jene Weihen und all jene Gebräuche, die man uns auferlegt, alles das stellt eine glückliche oder verhängnisvolle Reihenfolge dar, von der die ganze Zukunft abhängt ... Man hat richtig gesagt: Nichts ist gleichgültig, nichts ist ohnmächtig im Weltall; ein Atom kann alles auflösen, ein Atom kann alles retten!« (p.304). Oder auch, in einer lakonischen Formulierung: »Alles entspricht einander.« Es soll hier nur darauf hingewiesen sein – wir werden im folgenden dann ausführlicher darauf zurückkommen –, welche Ähnlichkeit besteht zwischen dieser, bei Nerval aus dem Wahnsinn abgeleiteten Überzeu­ gung und einer, die sich im Verlauf eines Drogen-Experiments einstellen kann. Ich beziehe mich hier auf das Buch The Joyous Cosmology von Alan Watts: »Denn in dieser Welt gibt es nichts Fehlerhaftes, nicht einmal etwas Dummes. Etwas als Fehler empfinden, heißt einfach das Schema nicht sehen, in das ein solches Vorkommnis sich einfügt, nicht wissen, zu welcher Stufe innerhalb der Hierarchie dieses Vorkommnis gehört« (p. 58). Auch hier »entspricht einander alles«. Die natürliche Konsequenz des Pan-Determinismus ist, was man die »Pan-Signifikation« nennen könnte: da auf allen Ebenenzwischen allen Elementen der Welt Beziehungen bestehen, wird diese Welt höchst bedeutungsvoll. Das hat sich schon bei Nerval feststellen lassen: die Stunde, zu der man geboren ist, der Name des Zimmers (sic!), alles hat seine Bedeutung geändert. Mehr sogar: jenseits des ursprünglichen evi­ denten Wortsinns kann man immer einen tieferen Sinn entdecken (eine Über-Interpretation). So sagt die Person in Aurélia in der Heilanstalt: »Die Sprache meiner Gefährten hatte geheimnisvolle Wendungen, deren

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Sinn ich verstand« (p. 131). Und so auch Gautier während eines Expe­ riments mit Haschisch: »Ein Schleier zerriß vor meinem geistigen Auge, und es wurde mir klar, daß die Mitglieder des Klubs Kabbalisten (...) seien« (p. 329); »Die Gestalten auf den Gemälden (...) waren von peinvollen Zuckungen durchregt, wie Stumme, die bei wichtiger Ge­ legenheit dringenden Rat geben möchten. Es war, als wollten sie mich vor gefährlichem Fall warnen« (Le Club des Hachichins, p. 332). In dieser Welt will jedes Objekt, jedes Wesen etwas besagen. Gehen wir zu einem noch höheren Abstraktionsgrad über: welches ist die abstrakte Bedeutung des Pan-Determinismus, wie die fantastische Literatur ihn einsetzt? Es ist gewiß nicht notwendig, daß man dem Wahnsinn nahe ist wie Nerval oder sich der Einnahme von Drogen unterzieht wie Gautier, um an den Pan-Determinismus zu glauben: wir haben ihn alle gekannt. Aber wenn man ihm nicht die Extensität zugestehen will, die er hier hat, bleiben die Beziehungen, die wir zwischen den Objekten herstellen, rein geistig und affizieren die Objekte selbst nicht im gering­ sten. Bei Nerval oder Gautier hingegen erstrecken sich diese Beziehun­ gen bis auf die physische Welt: man berührt seinen Ring, und die Ker­ zen fangen zu brennen an, man wirft seinen Ring fort, und die Über­ schwemmung kommt zu einem Halt. Anders ausgedrückt, auf dem abstraktesten Niveau bedeutet der Pan-Determinismus, daß die Grenze zwischen Physischem und Geistigem, zwischen Materie und Geist, zwi­ schen dem Ding und dem Wort aufhört, undurchlässig zu sein. Halten wir diese Schlußfolgerung präsent, und kehren wir nun zu den Metamorphosen zurück, die wir ein wenig beiseite gelassen haben. Auf dem Abstraktionsniveau, auf dem wir uns jetzt bewegen, lassen sie sich demselben Gesetz zuschreiben, denn sie sind nur dessen besonderer Fall. Wir sagen ohne weiteres, daß ein Mensch sich zum Affen macht, wie ein Löwe kämpft oder wie ein Adler usw.; das Übernatürliche be­ ginnt in dem Augenblick, wo man von den Wörtern zu den Dingen hinübergleitet, die diese Wörter, wie man meint, bezeichnen sollen. Die Metamorphosen sind also ihrerseits eine Überschreitung der Trennungs­ linie zwischen Materie und Geist, so wie sie im allgemeinen gezogen wird. Es soll hier noch einmal betont werden, daß es zwischen der offensichtlich konventionellen Bildwelt der Märchen aus tausendund­ einer Nacht und der »persönlicheren« der Schriftsteller des 19. Jahr­ hunderts keinen Bruch gibt. Gautier stellt die Verbindung her, indem er seine eigene Verwand!ung zu Stein folgendermaßen beschreibt: »Und wirklich begann ich zu fühlen, wie meine Beine versteinten und wie Marmor mich bis zu den Hüften umschloß wie die Daphne der Tuile­ rien. Ich war bis zur Körpermitte Standbild, gleich den verzauberten 102

Prinzen aus Tausendundeiner Nacht« (p. 330). In derselben Erzählung bekommt der Erzähler einen Elefantenkopf; später wohnt man der Metamorphose des Alraunen-Menschen bei: »Dies schien den Wurzel­ beinigen tief zu verstimmen, er sank in sich zusammen, flachte ab, ent­ färbte sich und stieß unartikuliertes Stöhnen aus; zu guter Letzt verlor er jede Menschenähnlichkeit und rollte zu Boden in der Form gespal­ tener Schwarzwurzel« (p. 337). In Aurélia lassen sich ähnliche Metamorphosen feststellen. Dort um­ faßt eine Dame »graziös mit ihrem nackten Arm den langen Stengel einer Stockrose, dann fing sie unter einem klaren Lichtschein zu wachsen an, so daß nach und nach der Garten ihre Gestalt annahm und die Blu­ menbeete und Bäume, die Rosetten und Girlanden ihre Kleider wurden« (p. 49). An anderer Stelle wieder liefern sich die Ungeheuer Schlachten, um schließlich ihre sonderbaren Formen abzuwerfen und Männer und Frauen zu werden; »andere bekleideten sich in ihren Verwandlungen wieder mit den Gestalten von wilden Tieren, Fischen und Vögeln« (p. 55). Man kann sagen, der gemeinsame Nenner dieser beiden Themen - Metamorphosen und Pan-Determinismus – ist die Überschreitung (d. h. zugleich die Erhellung) der Grenze zwischen Materie und Geist. Infolgedessen sind wir jetzt auch berechtigt, in bezug auf das treibende Prinzip aller in diesem ersten Netz verbundenen Themen eine Hypo­ these vorzubringen: Der Übergang des Geistes zur Materie ist möglich geworden. Man kann in den Texten, die wir untersuchen, Seiten finden, auf denen sich dieses Prinzip direkt erfassen läßt. Nerval schreibt: »Von dem Punkt, wo ich mich eben befand, stieg ich meinem Führer folgend hinunter und gelangte in eine dieser hohen Behausungen, deren vereinte Dächer einen so sonderbaren Anblick boten. Es schien mir, als ob meine Füße sich in die aufeinanderfolgenden Schichten der Gebäude ver­ schiedener Zeitalter eingrüben« (p. 39). Der geistige Übergang von einem Zeitalter ins andere wird hier zum physischen Übergang. Die Wörter verschmelzen mit den Dingen. Ebenso bei Gautier. Jemand hat den Satz ausgesprochen: »Heute ist’s, daß man sich zu Tode lachen muß!« Er droht fühlbare Wirklichkeit zu werden: »Die wütende Hei­ terkeit war auf ihrem Höhepunkt angelangt; man vernahm nur noch ein krampfhaftes Seufzen, unartikuliertes Gestöhn. Das Gelächter war stimmlos geworden und wurde zum Knurren, der Krampf löste die Fröhlichkeit ab; Daukus-Karotas Kehrreim wurde zur Wirklichkeit« (p. 321 f.). Der Übergang zwischen Idee und Wahrnehmung wird erleichtert. 103

Der Erzähler von Aurélia hört die folgenden Worte: »»Unsre Vergan­ genheit und unsre Zukunft sind eins. Wir leben in unsrer Rasse, und unsre Rasse lebt in uns.. Dieser Gedanke wurde mir sogleich einsichtig, * und wie wenn sich die Mauern des Saales auf unendliche Perspektiven geöffnet hätten, schien es mir, als sähe ich eine ununterbrochene Kette von Männern und Frauen, in denen ich enthalten war und die ich selbst waren« (p. 33; Hervorhebungen von mir, T. T.). Der Gedanke wird sogleich einsichtig. Hier ein Beispiel für den umgekehrten Fall, wo Empfindung sich in Idee verwandelt: »... diese zahllosen Stufen, bei deren Erklimmen und Hinabsteigen du dich ermüdetest, waren die Bande der alten Einbildungen selbst, die deine Gedanken verwirrten ...« (pp. 145 u. 147). Es ist seltsam, hier zu beobachten, daß, besonders im 19. Jahrhun­ dert, dieselbe Durchbrechung der Grenze zwischen Materie und Geist als erstes Kennzeichen des Wahnsinns angesehen wurde. Die Psychiater stellten es im allgemeinen als gegeben hin, daß der »normale« Mensch über mehrere Bezugsrahmen verfüge und jedes Faktum nur auf jeweils einen von ihnen bezöge. Der Psychotiker hingegen sei nicht fähig, diese verschiedenen Rahmen voneinander zu unterscheiden und vermenge Wahrgenommenes und Imaginäres. »Es ist notorisch, daß bei den Schizophrenen die Fähigkeit, die Bereiche der Wirklichkeit und der Einbildung voneinander zu trennen, geschwächt ist. Im Gegensatz zum sogenannten normalen Denken, das innerhalb ein und desselben Be­ reichs oder Bezugsrahmens oder sprachlichen Universums bleibt, gehorcht das Denken der Schizophrenen der Notwendigkeit einer eindeutigen Bezugnahme nicht« (Angyal, in: Kasanin, p. 119). Dieselbe Verwischung der Grenzen liegt der Drogen-Erfahrung zu­ grunde. Watts schreibt gleich am Anfang seiner Beschreibung: »Der allergrößte Aberglaube liegt in der Trennung von Körper und Geist« (p. 3). Denselben Zug findet man seltsamerweise beim Säugling; Piaget meint: »... zu Beginn seiner Entwicklung unterscheidet das Kind nicht zwischen dem Bereich des Psychischen und dem des Physischen« (Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde). Diese Art, die kindliche Welt zu beschreiben, bleibt natürlich in der Sichtweise des Erwachsenen be­ fangen, in der diese zwei Welten ja gerade voneinander getrennt sind. Was man auf diese Weise herstellt, ist ein Trugbild der Erwachsenen

* Wir folgen an dieser Stelle der vorliegenden deutschen Obersetzung nicht, da »l’idee me devint aussitôt sensible« dort freier übersetzt ist mit: »Dieser Gedanke leuchtete mir sofort ein« (Anm. d. Übers.).

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von der Kindheit. In der fantastischen Literatur geschieht jedoch genau dies: anders als beispielsweise im mythischen Denken wird die Grenze zwischen Materie und Geist nicht ignoriert, sondern sie bleibt präsent, um den Vorwand für unaufhörliche Überschreitungen zu liefern. Gautier schreibt: »Ich empfand meinen Körper gar nicht mehr; die Bande die den Geist an Leibliches fesseln, hatten aufgehört zu sein« (p. 325). Dies Gesetz, das wir an der Basis aller Deformationen, die vom Fantastischen innerhalb unseres Themen-Netzes herbeigeführt werden, wirksam sehen, hat einige unmittelbare Konsequenzen. So kann man das Phänomen der Metamorphosen verallgemeinern und sagen, daß im Bereich des Fantastischen eine Person sich mit Leichtigkeit vervielfälti­ gen dürfte. Wir empfinden uns alle als mehrere Personen: hier jedoch nimmt der Eindruck auf der Ebene der physischen Realität Gestalt an. Die Göttin wendet sich an den Erzähler von Aurélia: »Ich bin dieselbe wie Maria, dieselbe wie deine Mutter, dieselbe auch, die du stets unter allen Formen geliebt hast« (p. 121). An anderer Stelle schreibt Nerval: »Ein schrecklicher Gedanke überkam mich: ›der Mensch ist doppelt‹, sagte ich mir. ›Ich fühle zwei Menschen in mir,, hat ein Kirchenvater geschrieben ... In jedem Menschen steckt ein Beobachter und ein Han­ delnder, der, welcher spricht, und der, welcher antwortet« (p. 69). Die Vervielfältigung der Person ist, wörtlich genommen, eine unmittelbare Konsequenz des möglichen Übergangs zwischen Materie und Geist: man ist geistig mehrere Personen, man wird es physisch. Eine andere Folge desselben Prinzips hat eine noch größere Reich­ weite: es ist das Verwischen der Grenze zwischen Subjekt und Objekt. Das rationale Schema stellt uns das menschliche Wesen dar als Subjekt, das zu anderen Personen oder zu den Dingen, die ihm äußerlich bleiben und die den Status von Objekten haben, in Beziehung tritt. Die fan­ tastische Literatur durchbricht diese starre Einteilung. Man hört eine Musik, aber es gibt nicht mehr auf der einen Seite das Musikinstrument, das dem Hörer äußerlich ist und die Töne hervorbringt, und auf der anderen Seite den Hörer selbst. Gautier schreibt: »Die Töne schwangen in solcher Kraft, daß sie meine Brust durchbohrten gleich Lichtpfeilen; bald kam es mir vor, als stiege das gespielte Lied aus mir auf (...); die Seele Webers hatte sich in mir verleiblicht« (p. 325). Ganz ähnlich Nerval: »Ich lag auf einem Feldbett und hörte, wie die Soldaten sich um mich herum über einen Unbekannten unterhielten, den man wie mich aufgegriffen hatte und dessen Stimme in dem gleichen Saal wider­ hallte. Durch eine sonderbare Vibrationswirkung schien es mir, als ob diese Stimme in meiner Brust mitklänge ...« (p. 23). 105

Man betrachtet ein Objekt, aber es gibt keine Grenze mehr zwischen dem Objekt mit seinen Farben und Formen und dem Beobachter. So heißt es weiter bei Gautier: »Noch eine Merkwürdigkeit: nach einigen Minuten der Anschauung ging ich immer in das Angeschaute über und wurde selbst dazu« (p. 327). Es ist nicht länger nötig, daß zwei Personen miteinander sprechen, um sich zu verstehen: jede kann die andere werden und wissen, was die andere denkt. Der Erzähler von Aurélia macht diese Erfahrung, als er seinen Onkel trifft. »Er hieß mich neben sich sitzen, und eine Art Ver­ bindung stellte sich zwischen uns her; denn ich kann nicht sagen, daß ich seine Stimme gehört hätte; nur in dem Maße, als ich meine Gedan­ ken auf einen Punkt richtete, wurde mir sogleich seine Bedeutung klar ...« (p. 31); oder etwas später: »Ohne meinen Führer zu fragen, begriff ich intuitiv, daß diese Höhen und gleichzeitig diese Tiefen der Zufluchtsort der primitiven Bergbewohner waren« (p. 38). Da das Sub­ jekt nicht länger vom Objekt getrennt ist, stellt sich die Kommunika­ tion direkt her, und die ganze Welt findet sich in ein verallgemeinertes Kommunikationsnetz eingefangen. Bei Nerval äußert sich diese Über­ zeugung folgendermaßen: »Dieser Gedanke leitete mich zu dem andern, daß eine ausgedehnte Verschwörung unter allen Lebewesen bestand, um die Welt in ihrer ersten Harmonie wieder herzustellen, daß die Verbindungen durch den Magnetismus der Gestirne stattfanden, daß eine ununterbrochene Kette die mit jener allgemeinen Verbindung beschäftigten Intelligenzen rings um die Erde verband und daß die magnetisierten Gesänge, Tänze und Blicke nach und nach dasselbe Streben übertrugen« (p. 129). Wieder stellen wir die Nähe dieser Konstanten der fantastischen Lite­ ratur zu einem der fundamentalen Charakteristika der Welt des Kindes fest (oder, genauer gesagt, wie wir gesehen haben, zum Bild der Er­ wachsenen von dieser Welt). Piaget schreibt: »Am Ausgangspunkt der geistigen Entwicklung existiert ganz gewiß keinerlei Differenzierung zwischen Ich und Außenwelt« (Six Etudes, p. 20). Dasselbe gilt für die Welt der Droge: »Der Organismus und die Umwelt bilden ein einziges integrales Aktionsschema, in dem es weder Subjekt noch Objekt, weder Aktiv noch Passiv gibt« (Watts, p. 62). Oder auch: »Ich beginne zu fühlen, daß die Welt gleichzeitig innerhalb und außerhalb meines Kop­ fes ist ... Ich betrachte die Welt nicht, ich stelle mich ihr nicht gegen­ über; ich kenne sie von einem beständigen Prozeß her, der sie in mich selbst verwandelt« (p. 29). Dasselbe soll dann auch für den Psychotiker gelten. Goldstein schreibt: »Er (der Psychotiker) betrachtet das Objekt nicht als Teil einer wohlgeordneten, von ihm getrennten Welt, wie es 106

die normale Person tut« (in: Kasanin, p. 23). »Die normalen Grenzen zwischen dem Ich und der Welt verschwinden, an ihrer Stelle findet man eine Art kosmischer Fusion vor ...« (p. 40). Wir wollen diese Ahnlichkeit weiter unten zu interpretieren versuchen. Physische und geistige Welt durchdringen sich gegenseitig; infolge­ dessen werden ihre fundamentalen Kategorien modifiziert. Zeit und Raum der übernatürlichen Welt, so wie sie in dieser Gruppe fantasti­ scher Texte beschrieben werden, sind nicht Zeit und Raum des täglichen Lebens. Die Zeit scheint hier suspendiert, sie verlängert sich weit über das hinaus, was man für möglich hält. So auch für den Erzähler von Aurélia: »Das war das Zeichen zu einer vollständigen Umwälzung unter den Geistern, die den neuen Weltbesitzer nicht anerkennen woll­ ten. Ich weiß nicht, wieviel tausend Jahre diese Kämpfe dauerten, die den Erdball mit Blut überschwemmten« (p. 57). Die Zeit ist auch im Club des hachichins eines der Hauptthemen. Der Erzähler hat es eilig, aber seine Bewegungen sind unglaublich langsam: »Mit großer Mühe erhob ich mich und ging auf die Türe des Salons zu, die ich erst nach beträchtlicher Zeit erreichte, geheime Kraft zwang mich, bei drei Schrit­ ten einen Schritt zurückzuweichen. Nach meiner Berechnung brauchte ich zehn Jahre zu diesem Weg« (p. 329). Darauf steigt er eine Treppe hinab, aber die Stufen scheinen kein Ende zu nehmen. »Ich werde einen Tag nach dem Jüngsten Gericht unten ankommen«, sagte er sich, und als er ankommt: »Dies dauerte so während tausend Jahren, wollte mir scheinen« (p. 332). Er muß um elf Uhr am Ziel sein, aber im gegebenen Augenblick sagt man ihm: »Nie wirst du um elf Uhr an Ort und Stelle sein; fünfzehnhundert Jahre bist du jetzt unterwegs« (p. 334). Das neunte Kapitel erzählt die Szenen vom Begräbnis der Zeit; es trägt den Titel: »Schenkt den Uhren keinen Glauben.« Dem Erzähler wird er­ klärt: »Die Zeit ist tot. Von nun an wird es weder Jahre, noch Monate, noch Stunden geben; die Zeit ist tot, wir geben ihr das Grabgeleit. (...) ›Großer Gott!, rief ich unter der Herrschaft eines plötzlichen Gedan­ kens, ›wenn es keine Zeit mehr gibt, wann kann es denn dann elf Uhr sein ...‹« (p. 336). Ein weiteres Mal läßt sich also dieselbe Metamor­ phose feststellen für die Drogenerfahrung, bei der die Zeit »ausgesetzt« zu sein scheint, und für den Psychotiker, der in einer ewigen Gegenwart lebt ohne Vorstellung von Vergangenheit oder Zukunft. Auf dieselbe Weise wird der Raum transformiert. Hier einige Bei­ spiele aus dem Club des hachichins. Beschreibung einer Treppe: »Ihre beiden Enden, schattenumspielt, schienen mir in zwei Abgründe zu münden, Himmel und Hölle; den Kopf hebend, nahm ich undeutlich in verwunderlichsten Perspektiven übereinandergeschobene Treppen­

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absätze wahr, Treppengeländer, wie um zu Gipfeln babylonischer Türme zu gelangen, hinabsteigend hatte ich das Vorgefühl endloser Stufen, wirbelnder Windungen, einer Wirrnis von Bogen« (p. 331). Beschreibung eines Innenhofes: »... der Hof hatte die Ausdehnung des Marsfeldes gewonnen und in wenigen Stunden sich mit riesenhaften Baulichkeiten berandet, die über den Horizont emporzackten in Kup­ peln, Türmen, Giebeln, Pyramiden, würdig Roms und Babyions« (p. 334). Wir versuchen hier nicht, ein einzelnes Werk, ja, nicht einmal ein Thema erschöpfend zu beschreiben. Der Raum bei Nerval beispiels­ weise würde für sich schon eine sehr umfangreiche Untersuchung ver­ langen. Worauf es uns ankommt ist, die Hauptmerkmale der Welt anzugeben, in der übernatürliche Ereignisse geschehen. Fassen wir zusammen. Das Prinzip, das wir entdeckt haben, läßt sich als Infragestellung der Grenze zwischen Materie und Geist bezeich­ nen. Dieses Prinzip bringt mehrere wesentliche Themen hervor: eine spezielle Kausalität, den Pan-Determinismus; die Vervielfältigung der Persönlichkeit; die Durchbrechung der Grenze zwischen Subjekt und Objekt und schließlich die Transformation von Zeit und Raum. Diese Liste ist nicht erschöpfend, aber man kann sagen, daß sie die wesent­ lichen Elemente des ersten Netzes fantastischer Themen umfaßt. Wir haben diesen Themen, aus Gründen, die erst später einsichtig werden, den Namen ich-Themen beigelegt. Auf jeden Fall ist im Verlauf dieser Analyse deutlich geworden, daß es eine Entsprechung gibt zwischen den hier zusammengestellten fantastischen Themen auf der einen Seite und den Kategorien, von denen man Gebrauch machen muß, will man die Welt des Drogenberauschten, des Psychotikers oder die eines Klein­ kindes beschreiben. Von daher scheint mir eine Bemerkung von Piaget wortwörtlich auf unseren Gegenstand zuzutreffen: »Vier fundamen­ tale Prozesse charakterisieren die intellektuelle Revolution, die wäh­ rend der ersten beiden Lebensjahre stattfindet: es sind dies die Kon­ struktionen der Kategorien Objekt und Raum, Kausalität und Zeit« (Six Etudes, p. 20). Man kann diese Themen noch weiter charakterisieren, indem man sagt, daß sie im wesentlichen die Strukturierung der Beziehung Mensch/ Welt betreffen; wir befinden uns, in Freudschen Termini ausgedrückt, innerhalb des Systems Wahrnehmung-Bewußtsein. Es ist eine relativ statische Beziehung in dem Sinne, daß sie keine speziellen Handlungen impliziert, sondern eher eine Position, eher die Wahrnehmung der Welt als die Interaktion. Der Terminus der Wahrnehmung ist dabei wichtig: die Werke, die zu diesem Themen-Netz gehören, führen ihre Proble­

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matik beständig auf sie zurück, vor allem die des hauptsächlichen Sinnes, des Sehens (»die fünf Sinne, die doch nur einer sind: die Fähig­ keit zu sehen«, sagt Louis Lambert). Dies in einem Maße, daß man alle diese Themen als »Themen des Blicks« bezeichnen könnte. Blick. Dies Wort erlaubt uns, die zu abstrakten Reflexionen schnell wieder aufzugeben und zu den fantastischen Geschichten zurückzukeh­ ren, die wir gerade verlassen haben. Es dürfte nicht schwer sein, die Beziehung zwischen den aufgezählten Themen und dem Blick anhand der Prinzessin Brambilla von E. T. A. Hoffmann zu verifizieren, Thema dieser fantastischen Geschichte ist die Persönlichkeitsspaltung, die Ver­ doppelung, und allgemeiner betrachtet, das Widerspiel zwischen Traum und Wirklichem, Geist und Materie. Bezeichnenderweise wird jedes Auftreten eines übernatürlichen Elements von der parallellaufenden Einführung eines Elements begleitet, das dem Bereich des Blicks zu­ gehört. Es sind im besonderen die Brille und der Spiegel, die das Ein­ dringen ins Universum des Wunderbaren ermöglichen. So ruft der Scharlatan Celionati, nachdem er angekündigt hat, daß die Prinzessin anwesend sei, vor der Menge aus: »... vermöget ihr die durchlauch­ tigste Prinzessin zu schauen, wenn sie auch dicht vor euch wandelt? – Nein, das vermöget ihr nicht, wenn ihr euch nicht der Brillen bedient, die der weise indische Magier Ruffiamonte selbst geschliffen ... Und damit öffnete der Ciarlatano eine Kiste und brachte eine Menge un­ mäßig großer Brillen zum Vorschein« (II, p. 984). Allein die Brille öffnet den Zugang zum Wunderbaren. Ebenso verhält es sich mit dem Spiegel, dem Gegenstand, auf dessen Verwandtschaft gerade mit » Wunder« einerseits und Blick (»sich be­ wundern«) andererseits Pierre Mabille hingewiesen hat. Der Spiegel ist in allen Augenblicken zugegen, wo Personen der Erzählung den ent­ scheidenden Schritt in Richtung auf das Übernatürliche tun müssen (diese Beziehung wird in fast allen fantastischen Texten attestiert). »Es begab sich, daß das Liebespaar, nämlich der Prinz Comelio Chiapperi und die Prinzessin Brambilla, aus der Betäubung erwachten, in die sie versunken, und unwillkürlich in den klaren spiegelhellen See schauten, an dessen Ufer sie sich befanden. Doch wie sie sich in dem See erblick­ ten, da erkannten sie sich erst ...« (p. 1084). Der wirkliche Reichtum, das wahre Glück sind nur denen zugänglich, denen es gelingt, in den Spiegel zu (sich im Spiegel anzu-) sehen: »... wir und alle diejenigen [sind] als reich und glücklich zu preisen, denen es gelang, das Leben, sich selbst, ihr ganzes Dasein in dem wunderbaren sonnenhellen Spiegel des Urdarsees zu erschauen und zu erkennen« (p. 1089). Nur der Brille war es zu verdanken, daß Giglio die Prinzessin Brambilla erkennen

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konnte, nur dank dem Spiegel können beide nun ein wunderbares Leben beginnen. Die »Ratio«, die das Wunderbare ablehnt, weiß das sehr wohl und lehnt auch den Spiegel ab: », .. sowie manche Philosophen das Hinein­ schauen in den Wasserspiegel gänzlich widerrieten, weil der Mensch, wenn er sich und die Welt verkehrt erblicke, leicht schwindlig werde« (p. 1018). Oder auch: »... doch statt daß sonst alle diejenigen, die hin­ einschauten, eine besondere Lust empfanden, gab es jetzt viele, welche, indem sie die ganze Natur und sich selbst darin erblickten, darüber in Unmut und Zorn gerieten, weil es aller Würde, ja allem Menschenverstande, aller mühsam erworbenen Weisheit entgegen sei, die Dinge und vorzüglich das eigene Ich verkehrt zu schauen« (p. 1046). Der »Ver­ stand« erklärt sich gegen den Spiegel, der nicht die Welt, sondern ein Bild der Welt darbietet, eine entmaterialisierte Materie, kurz einen Widerspruch im Hinblick auf den Satz des Widerspruchs. Es wäre also zutreffender zu sagen, daß nicht der Blick selbst bei E. T. A. Hoffmann in Beziehung zur Welt des Wunderbaren steht, son­ dern solche Symbole für den indirekten, verfälschten, verkehrten Blick wie Brille und Spiegel es sind. Giglio selbst stellt den Gegensatz auf zwischen den beiden Typen des Sehens sowie zwischen ihrer jeweiligen Beziehung zum Wunderbaren. Als Celionati ihm erklärt, er leide unter »chronischem Dualismus«, lehnt Giglio diesen Ausdruck als »allego­ risch« ab und definiert seinen Zustand folgendermaßen: », .. [er weiß,] daß ich nur an einem Augenübel leide, welches ich mir durch zu früh­ zeitiges Brillentragen zugezogen« (p. 1076). Schaut man durch eine Brille, entdeckt man eine andere Welt und verfälscht die normale Sicht; die Störung ist der vergleichbar, die vom Spiegel hervorgerufen wird: »Es muß sich etwas in meinem Augenspiegel verrückt haben; denn ich sehe leider meistens alles verkehrt« (p. 1076). Der unverfälschte und einfache Blick enthüllt uns eine platte Welt ohne Mysterien. Die in­ direkte Sehweise ist der einzige Weg zum Wunderbaren. Aber sind diese Überschreitungen des Sehens, diese Übertretung des Blicks nicht eben sein Symböl und gewissermaßen sein höchstes Lob? Brille und Spiegel werden zum Bild für einen Blick, der nicht mehr ein schlichtes Mittel ist, um das Auge auf einen Punkt im Raum zu richten, der nicht mehr bloß funktional, transparent, transitiv ist. Diese Gegenstände sind in gewisser Weise materialisierter oder undurchdringlicher Blick, eine Quintessenz des Blicks. Dieselbe fruchtbare Ambivalenz findet sich übrigens im Wort »Seher«: das ist derjenige, der sieht und nicht sieht, höhere Stufe des Sehens und seine Negation zugleich. Deshalb muß E. T. A. Hoffmann, wenn er die Augen rühmen will, sie mit Spiegeln 110

identifizieren: »... in ihren [einer mächtigen Fee] Augen spiegelt sich alle entzückende Liebestorheit und erkennt sich selbst und hat an sich selbst herzinnigliche Freude« (p. 1035). Prinzessin Brambilla ist nicht die einzige von E. T. A. Hoffmanns Erzählungen, in der der Blick das vorherrschende Thema ist: man wird in seinem Werk mit Mikroskopen, Lorgnons, echten und falschen Augen usw. buchstäblich eingedeckt. Man muß bei der Untersuchung eines solchen Parallelismus jedoch vorsichtig sein: wenn die Wörter »Blick«, »Sehen«, »Spiegel« in einem Text erscheinen, so heißt das noch nicht, daß wir einer Spielform des »Blick-Themas« gegenüberstehen. Sonst hieße das ja, für jede winzige Einheit des literarischen Diskurses einen einzigen und definitiven Sinn postulieren – genau das also, was wir abgelehnt haben. Bei Hoffmann jedenfalls gibt es durchaus eine Koinzidenz zwischen dem »Blick-Thema« (so wie es in unseren deskriptiven Wortbestand eingegangen ist) und den »Blick-Bildern«, wie man sie im Text selbst vorfindet. Gerade in diesem Punkt ist sein Werk besonders aufschluß­ reich. Man sieht auch, daß es entsprechend dem Standpunkt, den man ein­ nimmt, möglich ist, dieses erste Themen-Netz auf mehr als eine Weise zu qualifizieren. Ehe wir unter diesen Themen auswählen oder sie auch nur genauer bestimmen, müssen wir noch ein anderes Themen-Netz durchgehen.

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Die du-Themen Eine Seite aus Louis Lambert. – Die rein sexuelle und intensive Begierde. Der Teufel und die Libido. – Die Religion, die Keuschheit und die Mutter. Der Inzest. – Die Homosexualität. – Die Liebe zu mehreren. – Grausamkeit, die Vergnügen bereitet oder aber nicht. – Der Tod : verwandtschaftliche Züge und Gleichsetzung mit der Begierde. – Die Nekrophilie und die Vampire. Das Übernatürliche und die ideale Liebe. – Der Andere und das Unbewußte.

Balzacs Roman Louis Lambert stellt eine der am weitesten reichenden Explorationen dessen dar, was wir ich-Themen genannt haben. Louis Lambert ist ein Wesen, in dem sich, wie im Erzähler von Aurélia, sämt­ liche Prinzipien verkörpern, die sich bei unserer Analyse ergeben haben. Lambert lebt in der Welt der Ideen, aber die Ideen sind dort fühlbar geworden. Er erforscht das Unsichtbare wie andere eine unbekannte Insel erforschen. Es tritt ein Ereignis ein, auf das wir bei den anderen Texten, die auf dem bislang behandelten thematischen Netz beruhen, niemals ge­ stoßen sind. Louis Lambert beschließt zu heiraten. Er hat sich verliebt, und zwar nicht in eine Chimäre, eine Erinnerung oder einen Traum, sondern in eine durchaus reale Frau. Die Welt der physischen Freuden beginnt sich langsam seinen Sinnen zu erschließen, die bislang nur das Unsichtbare wahrgenommen haben. Lambert selbst wagt kaum daran zu glauben: »... unsere reinen tiefen Gefühle werden zu den tausend süßen Liebkosungen werden, die ich erträumt habe! Dein kleiner Fuß wird seinen Schuh ablegen, und Du wirst ganz mir gehören!« schreibt er an seine Verlobte (XV, p. 304). Und der Erzähler faßt diese über­ raschende Wandlung so zusammen: »Die Briefe, die der Zufall erhalten hat, zeugen übrigens deutlich von dem Übergang aus dem reinen Idea­ lismus, in dem er lebte, zu der heftigsten Sinnlichkeit« (p. 310). Zur geistigen Erfahrung tritt die sinnliche. Plötzlich geschieht das Unglück. Am Vorabend seiner Hochzeit wird Louis Lambert verrückt. Er verfällt zunächst in einen kataleptischen Zustand, dann in eine tiefe Melancholie, deren direkter Anlaß die Über­ zeugung zu sein scheint, er sei impotent. Die Ärzte erklären ihn für unheilbar, und Lambert, der abgeschlossen in einem Haus auf dem Land lebt, verstirbt nach einigen Jahren des Schweigens, der Apathie und flüchtiger lichter Augenblicke. Weshalb diese tragische Entwicklung? Der Erzähler, sein Freund, unternimmt mehrere Erklärungsversuche. 112

»Die Aufregung, die in ihm die Erwartung der größten physisdien Lust hatte erregen müssen und die bei ihm durdi seine körperlidie Unbe­ rührtheit und seine Seelenstärke noch gesteigert war, hatte diese Krise wohl herbeiführen können, deren Resultate ebenso unbekannt sind wie ihre Ursachen« (p. 310). Über diese psychischen oder physisdien Ursadien hinaus wird jedoch ein Grund suggeriert, den man nahezu als formal bezeichnen könnte. »Kurz, vielleicht hat er in den Freuden seiner Heirat ein Hindernis bei der Entwicklung seiner innern Sinne und beim Fluge durch die geistigen Reiche gesehen« (p. 313). Man sollte also zwischen der Befriedigung der äußeren und der der inneren Sinne wählen – will man alle gleichermaßen befriedigen, kommt es zu diesem formalen Skandal, den man Wahnsinn nennt. Man kann weitergehen und sagen, daß der formale Skandal, wie er im Buch attestiert wird, noch vermehrt wird durch eine im eigentlichen Sinne literarische Übertretung: zwei unvereinbare Themen finden sich im selben Text nebeneinander. Wir können von dieser Unvereinbarkeit ausgehen, um die Differenz zwischen zwei Themen-Netzen zu begrün­ den, zwischen dem ersten, das wir bereits kennen unter dem Namen ich-Themen, und dem zweiten, innerhalb dessen wir vorerst nur die Sexualität finden und das als das der »du-Themen« bezeichnet werden soll. Gautier hat übrigens dieselbe Unvereinbarkeit im Club des hachi­ chins betont: »Nichts Körperliches mischte sich der Ekstase; keine irdische Begierde trübte ihre Reinheit. Außerdem hätte selbst Liebe sie nicht zu steigern vermocht, der haschischessende Romeo vergäße seine Julia. (...) So muß ich doch zugeben, daß das schönste Mädchen von Verona für einen Haschischesser nicht der Mühe lohnt, sich anzustren­ gen« (p. 326). Es gibt also ein Thema, das wir niemals in Werken finden, die nur das Netz der ich-Themen sichtbar werden lassen, das in anderen fan­ tastischen Texten jedoch wiederum beharrlich auftritt. Das Vorkommen oder Nichtvorkommen dieses Themas liefert uns ein formales Krite­ rium, um innerhalb der fantastischen Literatur zwei Felder unterschei­ den zu können, von denen jedes sidi aus einer beträchtlichen Anzahl thematischer Elemente konstituiert.

Louis Lambert und Le Club des hachichins, Werke, die zunächst ichThemen präsentieren, definieren von außen her, gewissermaßen im Leeren, dieses neue Thema Sexualität. Wenn wir jetzt Werke unter­ suchen, die zum zweiten Netz gehören, werden wir feststellen, welche Verzweigungen dieses Thema dort erfährt. Die sexuelle Begierde kann dort ein unerwartetes Gewicht erlangen, so daß es sich nicht länger um

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eine Erfahrung unter anderen handelt, sondern um das Wesentliche im Leben. Zum Beweis die Worte Romualds, des Priesters in La Morte amoureuse: »Dafür, daß ich ein einziges Mal den Blich zu einer Frau erhoben habe, also für ein anscheinend doch so geringfügiges Vergehen, war ich mehrere Jahre hindurch den elendesten Empfindungen aus­ gesetzt. Ich habe im Leben keine Ruhe mehr finden können« (p. 94). Und es heißt weiter: »Schaut niemals eine Frau an und geht stets mit zur Erde gesenktem Blich einher, denn so keusch und besonnen ihr auch sein mögt – eine Minute genügt, und die Ewigkeit ist für euch ver­ loren« (p. U7). Die sexuelle Begierde übt hier auf den Helden eine außergewöhnliche Macht aus. Lewis’ The Monk, das seine Aktualität besonders wegen seiner scharfsinnigen Beschreibungen des Sexualtriebs bewahrt hat, bietet uns dafür wahrscheinlich die besten Beispiele. Der Mönch Am­ brosio wird zunächst von Matilda in Versuchung geführt. »Bei diesen Worten hob sie den Arm und drückte die mörderische Klinge gegen sich, als wollt’ sie sich im nächsten Augenblick erdolchen. Des Mönches Auge folgte voll Entsetzen ihrer Geste: Matilda hatte sich die Kutte auf­ gerissen – ihr Busen lag entblößt vor seinem Blich! Schon grub der Stahl sich in ihre linke Brust – und ach! wann hätt’ Ambrosio je solche Brust erblicht ! Das volle Licht des Mondes enthüllte sie dem Mönch in ihrer reinsten Weiße! Voll unstillbarer Gier verweilte sich sein Auge auf solcher Frucht vom Baume der Versuchung; ein niegekanntes Seh­ nen durchzog mit bebendem Verlangen ihm das Herz; von einem Feuerschwalle ward ihm jedes Glied durchsüßt; in seinen Adern wallte ihm das Blut, und tausend zügellose Wünsche bemächtigten sich seiner. ›Halt ein!, rief er gehetzt, mit halberstickter Stimme. ›Halt ein, oh Weib, du hast gesiegt!‹« (p. 81 f.). Später wechselt Ambrosios Begierde das Objekt, verliert jedoch nicht an Intensität. Die Szene, in der der Mönch Antonia durch einen Zauber­ spiegel beobachtet, während sie sich anschicht, ein Bad zu nehmen, ist Beweis dafür. Erneut schlägt »seine Begierde ... um zu Raserei« (p. 340). Und noch einmal, im Verlauf einer mißglüchten Vergewalti­ gung Antonias: »Kaum war der Zauber verflogen, als der Lüstling dies Kind auch schon völlig in seiner Gewalt wähnte. Schon funkelten seine Augen vor Geilheit und Ungeduld – schon ließ er den gierigen Blich über die schlummernde Schöne gleiten« (p. 372); »seine Begierde war nun zu einer Raserei entfacht, die alle tierischen Instinkte in ihm entfesselte« (p. 373). Es handelt sich tatsächlich um eine Erfah­ rung, die aufgrund ihrer Intensität mit keiner anderen zu vergleichen ist.

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Es kann nicht überraschen, daß man an dieser Stelle die Beziehung zum Übernatürlichen entdeckt: wir wissen bereits, daß dieses immer innerhalb einer Grenzerfahrung erscheint, in »superlativischen« Zu­ ständen. Die Begierde als sexuelle Versuchung findet ihre Inkarnation in einigen der am häufigsten vorkommenden Figuren der übernatür­ lichen Welt, insbesondere in der des Teufels. Vereinfachend kann man sagen, daß Teufel nur ein anderes Wort ist für Libido. Die verführe­ rische Matilda in The Monk ist ein »zweitrangiger, aber boshafter Geist«, eine treue Dienerin Luzifers. Und schon an Le Diable amoureux hat man ein unzweideutiges Beispiel für die Identität von Teufel und Frau oder, genauer gesagt, von Teufel und Sexualtrieb. Bei Cazotte versucht der Teufel nicht, sich der ewigen Seele des Alvares zu bemäch­ tigen; ganz Frau, begnügt er sich damit, ihn hier auf Erden zu besitzen. Die Ambivalenz, in der die Dechiffrierung durch den Leser gehalten wird, rührt zum großen Teil von der Tatsache her, daß sich das Be­ nehmen Biondettas in nichts von dem einer verliebten Frau unterschei­ det. Nehmen wir diesen Satz: »Einem allgemeinen Gerüchte nach, das viele Briefe bestätigen, hat ein Kobold einen Kapitän von der Garde des Königs von Neapel nach Venedig entführt« (p. 67). Klingt er nicht wie eine gesellschaftliche Mitteilung, scheint das Wort »Kobold«, weit davon entfernt, ein übernatürliches Wesen zu bezeichnen, nicht bestens auf eine Frau zu passen? Und Cazotte bekräftigt dies in seinem Epilog: »Seinem Opfer widerfährt, was einem galanten Manne widerfahren könnte, der sich von einem höchst honetten Anschein verführen läßt« (p. 287). Es besteht kein Unterschied zwischen einem schlichten galanten Abenteuer und dem des Alvares mit dem Teufel; der Teufel, das ist die Frau, soweit sie Gegenstand der Begierde ist. Nicht anders verhält es sich in den Abenteuern in der Sierra Morena. Als Zibedde versucht, Alfons zu verführen, ist ihm, als sähe er auf der Stirn seiner schönen Cousine Hörner wachsen. Thibaud de la Jacquière glaubt, Orlandine zu besitzen und »hielt sich für den glücklichsten aller Menschen« (I, p. 154); auf dem Höhepunkt des Vergnügens jedoch verwandelt sich Orlandine in Beelzebub. In einer anderen der ein­ geschalteten Erzählungen trifft man auf jenes durchsichtige Symbol, die Pralinen des Teufels, die die sexuellen Wünsche wecken, und mit denen der Teufel entgegenkommenderweise die Helden versorgt. »Zorilla entdeckte meine Bonbonniere; sie nahm zwei Pralinen und reichte die Schachtel ihrer Schwester. Bald wurde das, was ich erst nur zu sehen geglaubt hatte, in gewissem Maße Wirklichkeit: eine unbekannte Emp­ findung ergriff die beiden Schwestern, und sie gaben sich ihr hin, ohne sie zu kennen (...). 115

Die Mutter trat ein. (...) Ihre Blicke mieden die meinen und fielen dabei auf die unglückselige Bonbonniere. Sie nahm einige Pralinen und ging. Bald kam sie zurück, bedachte mich abermals mit liebkosenden Worten, nannte mich ihren Sohn und umfing mich mit ihren Armen. Sie verließ mich, wie es schien, mit einem Gefühl qualvoller Selbstüber­ windung. Die Verwirrung meiner Sinne ging so weit, daß ich die Herr­ schaft über mich verlor. Ich fühlte Feuer durch meine Adern rinnen, konnte kaum noch die Gegenstände erkennen, und ein Schleier breitete sich vor meinen Augen aus. Ich wollte auf die Terrasse gehen. Die Tür zum Zimmer der jungen Mädchen stand halb offen. Ich konnte dem Wunsch nicht widerstehen und trat ein. Sie waren ihrer Sinne noch weniger Herr als ich; ihr Zu­ stand erschreckte mich. Ich wollte mich ihren Armen entwinden, doch ich hatte nicht die Kraft dazu. Ihre Mutter trat ein; die Vorwürfe erstarben auf ihren Lippen, und bald verlor sie das Recht, uns Vor­ haltungen zu machen« (II, p. 249 f.). Die Verzückung der Sinne legt sich übrigens nicht, als die Bonbonniere dann schließlich leer ist. Das Geschenk des Teufels ist die Entfachung der Begierde, die dann nichts mehr aufhalten kann. Der strenge Abt Sérapion in La Morte amoureuse geht bei der Ein­ führung dieses Themas noch weiter: die Kurtisane Clarimonde, die aus dem sexuellen Vergnügen einen Beruf gemacht hat, ist für ihn nichts anderes als »Beelzebub in Person« (p. 102). Gleichzeitig illustriert der Abt den anderen Terminus der Opposition – d. h. Gott, und mehr noch seine Stellvertreter auf Erden, die Diener der Religion. Entsprechend definiert übrigens Romuald seinen neuen Stand: »Priester sein! Das heißt, keusch sein, nicht lieben, weder Geschlecht noch Alter unterschei­ den ...« (p. 87). Und Clarimonde weiß, wer ihr unmittelbarer Gegner ist: »Ah! Wie bin ich eifersüchtig auf Gott, den du geliebt hast und den du immer noch mehr liebst als mich!« (p. 105). Der ideale Mönch, so wie er in der Person Ambrosios zu Beginn von Lewis’ Roman auftritt, ist die Inkarnation der Geschlechtslosigkeit. So sagt eine andere Person über ihn: »Zudem heißt es von ihm, er sei von solcher Keuschheit, daß er nicht einmal wisse, wodurch der Mann sich von den Weibern unterscheidet!« (p. 22). Alvares, der Held des Diable amoureux, lebt im Bewußtsein dessel­ ben Gegensatzes; und als er glaubt, er habe gesündigt, weil er Umgang mit dem Teufel gehabt hat, beschließt er, den Frauen zu entsagen und Mönch zu werden: »Ich will mich dem geistlichen Stand widmen. Du reizendes Geschlecht, ich muß auf dich verzichten ...« (p. 98). Die Sinn­ lichkeit befürworten heißt die Religion verleugnen; eben deshalb ge­ 116

fällt sich Vathek, der Kalif, der nur auf sein Vergnügen bedacht ist, im Sakrileg und in der Blasphemie. Denselben Gegensatz findet man wieder in den Abenteuern in dtr Sierra Morena. Der Gegenstand, der die beiden Schwestern hindert, sich Alfons hinzugeben, ist das Medaillon, das er trägt: »Es ist ein Kleinod ..., das meine Mutter mir gegeben hat; ich habe versprochen, es stets zu tragen. Es enthält einen Splitter vom wahren Kreuz« (1, p. 18); und an dem Tage, wo sie ihn in ihrem Bett empfangen, schneidet Zibedde zuvor das Band des Medaillons durch. Das Kreuz ist unvereinbar mit der sexuellen Begierde. Die Beschreibung des Medaillons erbringt ein anderes Element, das zum selben Gegensatzpaar gehört: die Mutter im Gegensatz zur Frau. Damit Alfons’ Cousinen ihre Keuschheitsgürtel abnehmen können, muß erst das Medaillon, das Geschenk der Mutter, entfernt werden. Und in La Morte amoureuse findet man diesen seltsamen Satz: »Ich erinnerte mich ebensowenig daran, Priester gewesen zu sein, wie ich mich an das erinnerte, was ich im Schoß meiner Mutter gemacht hatte« (p. 108). Es gibt eine Art Äquivalenz zwischen dem Leben im Mutterleib und dem Priesterstand, d. h. der Ablehnung der Frau als Lustobjekt. Diese Äquivalenz nimmt in Le Diable amoureux einen zentralen Platz ein. Das Bild seiner Mutter hindert Alvares, sich Biondetta, dem Teufel in Frauengestalt, völlig auszuliefern. Es taucht in allen entschei­ denden Augenblicken der Handlung auf. Hier ein Traum Alvares’, in dem der Gegensatz sich gänzlich unverhüllt manifestiert: »Ich glaubte meine Mutter im Traume zu sehen (...) Wie wir (...) durch einen Eng­ paß kamen, in dem ich getrost vorschritt, stieß mich plötzlich eine Hand in einen Abgrund, und ich erkannte sie, es war Biondettas Hand. Ich fiel, eine andere Hand zieht mich zurück, und ich befinde mich in den Armen meiner Mutter« (p. 49). Der Teufel stößt Alvares in den Ab­ grund der Sinnlichkeit – seine Mutter hält ihn zurück. Alvares jedoch unterliegt Biondettas Reizen immer mehr, und sein Fall ist nahe. Als er eines Tages in den Straßen Venedigs spazierengeht und vom Regen überrascht wird, flüchtet er sich in eine Kirche. Als er sich einer der Statuen nähert, glaubt er, seine Mutter in ihr zu erkennen. Da geht ihm auf, daß seine wachsende Liebe zu Biondetta ihn seine Mutter hat vergessen lassen, er beschließt, die junge Frau zu verlassen und zu seiner Mutter zurückzukehren, sich »noch einmal zu dieser geliebten Zufluchts­ stätte zu retten« (p. 64). Der Teufel bzw. die Begierde wird sich Alvares’ bemächtigen, noch ehe dieser bei seiner Mutter Schutz gefunden hat. Alvares’ Niederlage sollte vollkommen werden, aber deshalb noch nicht endgültig. Ganz als

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handele es sich um eine schlichte galante Beziehung, zeigt ihm der Doktor Quebracuernos den Weg zum Heil: », .. gehen Sie eine gesetz­ liche Verbindung mit einer würdigen Person des andern Geschlechts ein, und lassen Sie Ihre desfallige Wahl von Ihrer ehrwürdigen Mutter leiten« (p. 104). Wenn sie nicht teuflisch geraten soll, muß die Bezie­ hung zu einer Frau mütterlicherseits überwacht und zensiert werden. Über diese intensive, jedoch »normale« Liebe zu einer Frau hinaus illustriert die fantastische Literatur mehrere Transformationen der Be­ gierde. Die Mehrzahl von ihnen gehören nicht wirklich zum Übernatür­ lichen, sondern eher zu einem sozial »Unheimlichen«. Dabei bildet der Inzest eine der am häufigsten vorkommenden Varianten. Schon bei Perrault (Die Eselshaut) findet man den verbrecherischen Vater, der in seine Tochter verliebt ist; die Märchen aus tausendundeiner Nacht be­ richten von Fällen der Geschwisterliebe (Die Geschichte des ersten Bettelmönches) und der Liebe zwischen Mutter und Sohn (Die Ge­ schichte von Kamar Ez-Zaman). In The Monk verliebt sich Ambrosio in_ seine eigene Schwester Antonia, vergewaltigt und tötet sie, nachdem er ihre Mutter ermordet hat. In der Episode von Barkiarokh in Vathek findet die Liebe des Helden zu seiner Tochter fast ihre Erfüllung. Die Homosexualität ist eine andere Variante der Liebe, die die fan­ tastische Literatur oft behandelt. Vathek kann uns auch hier wieder als Beispiel dienen, und zwar nicht nur in der Beschreibung der kleinen Jungen, die vom Kalifen massakriert werden, oder der des Gulchen­ rouz, sondern vor allem in der Episode von Alasi und Firouz, wo die homosexuelle Liebe erst spät abgeschwächt wird: der Prinz Firouz ist in Wirklichkeit die Prinzessin Firouzkah. Es läßt sich feststellen( wie schon André Parreaux in seinem Bechford gewidmeten Buch bemerkt), daß die Literatur jener Epoche oft mit der Ambivalenz in bezug auf das Geschlecht der geliebten Person spielt: so bei Biondetto-Biondetta in Le Diable amoureux, Firouz-Firouzkah in Vathek, Rosario-Mathilda in The Monk. Eine dritte Variante der sexuellen Begierde könnte als »Liebe zu mehreren« charakterisiert werden. Die Liebe zu dritt ist ihre häufigste Form. Dieser Typus der Liebe hat in den orientalischen Erzählungen nichts Überraschendes: so lebt der dritte Bettelmönch getrost mit seinen vier Frauen. In einer Szene der Abenteuer in der Sierra Morena, die schon oben zitiert wurde, sahen wir Hervas im Bett mit drei Frauen, der Mutter und ihren zwei Töchtern. Tatsächlich bieten die Abenteuer ... einige komplexe Beispiele, die die hier aufgezählten Varianten miteinander kombinieren. So Alfons’

Beziehung zu Zibedde und Emina: sie ist zunächst homosexuell, denn die beiden Mädchen leben miteinander, bevor sie Alfons treffen. In der Erzählung über ihre Jugend spricht Emina beständig von dem, was sie »unsere Neigungen« nennt, von dem »Unglück, ohne einander leben zu müssen«, von dem Wunsch, »denselben Mann [zu] heiraten«. Diese Liebe hat auch inzestuösen Charakter, denn Zibedde und Emina sind Schwestern (Alfons ist übrigens auch ein Verwandter, ihr Cousin). Und schließlich wird es dann eine Liebe zu dritt: keine von beiden Schwe­ stern trifft Alfons je allein. Ähnlich ergeht es Pacheco, der das Lager mit Inesilla und Camila teilt (die letztere erklärt: »Ich verlange, daß uns das gleiche Bett diese Nacht aufnehme«, p. 39); Camila jedoch ist die Schwester Inesillas. Die Situation kompliziert sich noch aufgrund der Tatsache, daß Camila die zweite Frau von Pachecos Vater ist, d. h. in gewisser Hinsicht seine Mutter, und Inesilla seine Tante. Die Abenteuer ... bieten uns noch eine andere Variante der ge­ schlechtlichen Liebe, die dem Sadismus nahekommt. Die Prinzessin von Monte Salerno berichtet: »Ich machte mir ein Vergnügen daraus, die Ergebenheit meiner Frauen auf allerlei Proben zu stellen. (...) ich be­ strafte sie (...), indem ich sie zwickte oder indem ich sie mit Nadeln in die Arme oder in die Schenkel stach« (I, p. 196). Hier sieht man sich reiner Grausamkeit gegenüber, deren sexueller Ursprung nicht immer offensichtlich ist. Hingegen läßt er sich in einer Passage aus Vathek als solcher identifizieren. Dort wird ein sadistisches Vergnügen beschrieben: »Während diesen Vorbereitungen veranstaltete Karathis, die ihr großes Ziel, die Gunst der Mächte der Finsternis zu erlangen, niemals aus den Augen verlor, ausgewählte Gesellschaften der schönsten und reizendsten Damen der Stadt; aber inmitten ihrer Aus­ gelassenheit ließ sie Schlangen unter ihnen aussetzen und Töpfe mit Skorpionen unter dem Tisch zerbrechen. Diese alle bissen erstaunlich gut, und Karathis hätte ihre Freundinnen sterben lassen, wenn sie sich nicht dann und wann, um die Langeweile zu vertreiben, ein Vergnügen daraus gemacht hätte, deren Wunden mit einem ausgezeichneten Heil­ mittel eigener Erfindung zu heilen; denn unsere gute Prinzessin ver­ abscheute den Müßiggang« (p. 58 f.). Die Szenen der Grausamkeit in den Abenteuern in der Sierra Mo­ rena zeugen von einem verwandten Geist. Es handelt sich um Folterun­ gen, die dem Vergnügen bereiten, der sie vornimmt. Das erste Beispiel dafür ist von einer so intensiven Grausamkeit, daß diese übernatür­ lichen Kräften zugeschrieben wird. Pacheco wird von den beiden Geistern der Gehenkten gefoltert: »Darauf wollte auch der andere Gehenkte, der mich am linken Bein gepackt hatte, von den Krallen 119

Gebrauch machen. Er begann damit, daß er mich an der Sohle des fest­ gehaltenen Fußes kitzelte. Dann riß mir das Ungeheuer die Haut vom Fuße, löste die Nerven heraus, legte sie bloß und wollte auf ihnen spielen wie auf einem Musikinstrument; da ich aber keine Töne von mir gab, die ihm Vergnügen bereiteten, schlug er seine Krallen in meine Kniekehle, faßte die Sehnen und begann sie so zusammenzudrehen, wie man eine Harfe stimmt. Schließlich ging er daran, auf meinem Bein, das er zu einem Psalter gemacht hatte, zu spielen. Ich vernahm sein satanisches Lachen« (I, p. 42). Eine andere Szene der Grausamkeit hingegen ist sehr wohl das Werk menschlicher Wesen; sie findet sich in der Rede, die der falsche Inquisi­ tor an Alfons richtet: »Mein lieber Sohn, erschrick nicht über das, was ich dir sagen werde. Man wird dir ein wenig Schmerz bereiten. Du siehst diese beiden Bohlen. Man wird deine Beine zwischen die Bohlen legen und diese mit Stricken zusammenbinden. Dann wird man die Keile, die du hier siehst, zwischen deine Beine setzen und sie mit Hammerschlägen hineintreiben. Zuerst werden deine Füße anschwel­ len. Dann wird dir das Blut aus den großen Zehen spritzen und die Nägel werden alle ausfallen. Dann werden die Fußsohlen aufplatzen, und ein blutiger Brei von zerquetschtem Fleisch wird herausfließen. Das wird dir sehr weh tun. Du antwortest nichts – so ist es denn erst die allgemeine Einleitung. Indessen wirst du ohnmächtig werden. Hier sind Fläschchen mit verschiedenen Riechwässern, die dich wieder zu Bewußtsein bringen werden. Wenn du deiner Sinne von neuem mächtig bist, wird man diese Keile herausnehmen und jene dort ansetzen, die viel breiter sind. Beim ersten Hammerschlag werden dir die Knie und die Knöchel brechen. Beim zweiten Schlag werden deine Beine der Länge nach aufreißen. Das Mark wird heraustreten und sich, vermischt mit deinem Blut, auf dieses Stroh ergießen. Du willst nicht sprechen? ... Auf denn, preßt ihm die Zehen!« (I, p. 68 f.). Man könnte mit Hilfe einer Stilanalyse herauszufinden suchen, durch welche Mittel dieser Abschnitt seine Wirkung erzielt. In dem ruhigen und methodischen Ton des Inquisitors steckt gewiß ebenso eine Absicht wie in der Genauigkeit der Begriffe, die die Körperteile bezeichnen. Halten wir jedenfalls fest, daß es sich in den letzten beiden Beispielen um eine rein verbale Gewalt handelt: die Erzählungen beschreiben kein Ereignis, das so und nicht anders innerhalb des Universums des Buches geschehen ist. Wenn auch die eine im Präteritum, die andere im Futur steht, so gehen doch beide aus einem Modus des Nicht-Realen, des Möglichen hervor: es sind Droh-Erzählungen. Alfons erlebt diese Grausamkeiten nicht, beobachtet sie nicht einmal; man beschreibt sie,

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man redet sie ihm vor. Nicht die Taten sind gewalttätig, da es ja in Wirklichkeit keinerlei Tat gibt, sondern die Wörter. Die Gewalt voll­ zieht sich nicht nur durch die Sprache hindurch (um anderes geht es in der Literatur ohnehin nie), sondern auch gerade in ihr. Der Akt der Grausamkeit besteht in der Artikulation bestimmter Sätze, nicht in einer Folge tatsächlicher Handlungen. In The Monk begegnen wir einer anderen Variante der Grausam­ keit. Sie ist nicht auf denjenigen bezogen, der sie verübt und ruft infolgedessen keine sadistische Freude in den handelnden Personen her­ vor. Die verbale Natur der Gewalt ebenso wie ihre Funktion, die sich direkt auf den Leser auswirkt, werden dadurch noch klarer. Hier zielen die Akte der Grausamkeit nicht darauf ab, eine Person zu charakteri­ sieren, sondern die Seiten, auf denen sie beschrieben werden, vertiefen und nuancieren die Atmosphäre der Sinnlichkeit, in die die Handlung eingetaucht ist. Der Tod Ambrosios liefert uns dafür ein Beispiel; der der Abtissin ist noch blutiger. »Indes, die tobende Menge dachte einzig an die Stillung ihres Rachedurstes und weigerte sich, auf der Unseligen Worte zu hören, fügte ihr vielmehr jede erdenkliche Beleidigung zu, bewarf sie mit Schmutz und Unflat und bedachte sie mit den gemein­ sten Schimpfwörtern. Einer entriß sie dem anderen, und jeder neue Peiniger übertraf den vorigen an Grausamkeit. Rachegeheul und Ver­ wünschungen erstickten des Opfers gellendes Geschrei um Erbarmen, man zerrte das Weib durch die Straßen, stieß sie mit Fäusten und trat sie mit Füßen, ja fügte ihr jederlei Martern zu, welche Haß und Rache­ durst nur aussinnen mögen. Schließlich traf ein wohlgezielter Stein sie mit voller Wucht an der Schläfe. Blutüberströmt brach sie zusammen und hauchte binnen weniger Minuten ihr erbärmliches Leben aus. Doch wiewohl die Tote die ihr zugefügten Martern nicht mehr fühlen konnte, ließ der Pöbel seine ohnmächtige Wut noch den leblosen Körper ent­ gelten: man schlug auf ihn ein, trampelte auf ihm herum und spielte ihm so übel mit, daß schließlich nur mehr ein unkenntlicher, formloser, ekelhafter Fleischklumpen im Staub der Straße lag« (p. 442). * Die Kette, die bei der Begierde ihren Anfang nahm, hat uns über die Grausamkeit zur Begegnung mit dem Tod geführt. Die Verwandtschaft dieser beiden Themen ist übrigens allgemein ziemlich bekannt. Ihre Beziehung ist nicht immer dieselbe, aber man kann sagen, daß sie stets gegenwärtig ist. Bei Perrault z. B. stellt sich eine Äquivalenz her zwi­

* Anm. d. Ü.: In der französischen Obersetzung steht »sans nom« anstelle von »unkenntliche. Todorov bemerkt dazu in Parenthese: »Namenlos sein ist wohl die letzte Stufe der Zerstörung.«

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schen sexueller Liebe und Tötung. Das wird explizit deutlich in Das Rotkäppchen, wo »sich ausziehen«, »sich mit einem Menschen des an­ deren Geschlechts ins Bett legen« gleichbedeutend ist mit gefressen­ werden, umkommen. Ritter Blaubart wiederholt dieselbe Moral: dort führt das geronnene Blut, das das Menstruationsblut evoziert, schließ­ lich das Todesurteil herbei. In The Monk besteht die Beziehung der beiden Themen eher in ihrer Verwandtschaft als in ihrer Äquivalenz. Ambrosio tötet seine Mutter bei dem Versuch, Antonia in Besitz zu nehmen, und nachdem er sie ver­ gewaltigt hat, sieht er sich dann genötigt, sie umzubringen. Die Ver­ gewaltigungsszene steht übrigens unter dem Zeichen der Nähe zwischen Begierde und Tod: »Die schlafende Schöne ruhte zu Seiten dreier halb­ verwester, fauliger Kadaver« (p. 469). Diese Variante – der begehrte Körper ist in die Nähe des Kadavers gerückt – ist bei Potocki dann vorherrschend; aber dort gleitet man ein weiteres Mal von der Verwandtschaft zur Substitution. Die begeh­ renswerte Frau verwandelt sich in einen Kadaver: das ist das, unab­ lässig wiederholte, Handlungsschema der Abenteuer in der Sierra Mo­ rena. Alfons schläft ein mit den zwei schönen Schwestern in seinem Arm; beim Erwachen findet er an ihrer Stelle zwei Leichen. Ebenso verhält es sich dann mit Pacheco, Udeza, Rebekka und Valasquez. Noch gravierender ist das Erlebnis Thibaud de la Jacquières: er glaubt, mit einer begehrenswerten Frau zu schlafen, diese aber wird Teufel und Leichnam zugleich: »Orlandine war verschwunden. Thibaud erblickte an ihrer Steile nur eine Ballung widerlicher und nie geschauter Formen. (...) Am andern Morgen (...) [fanden] einige Bauern Thibaud auf einem Stück halbverwesten Aases ausgestreckt« (I, p. 154). Man sieht den Unterschied zu Perrault: bei ihm straft der Tod direkt die Frau, die sich ihren Begierden hingibt; bei Potocki straft er den Mann, indem er den Gegenstand seiner Begierde in einen Lei‹chnam verwan­ delt. Wieder anders stellt sich das Verhältnis bei Gautier dar. Der Priester der Morte amoureuse empfindet Erregung, als er den toten Körper Clarimondes betrachtet. Der Tod macht sie ihm keineswegs wider­ wärtig, eher im Gegenteil: er scheint seine Begierde noch zu steigern. »Soll ich es Ihnen gestehen? Diese Vollkommenheit der Formen, ob­ wohl geläutert und geweiht vom Schatten des Todes, erregte meine Wollust mehr als sie es hätte tun dürfen« (p. 98). Später in der Nacht begnügt er sich nicht mehr mit der bloßen Betrachtung. »Die Nacht schritt fort, und als ich den Moment der ewigen Trennung herannahen fühlte, konnte ich der traurigen und höchsten Süße nicht entsagen, jener

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einen Kuß auf die toten Lippen zu drücken, die meine ganze Liebe besessen hatte« (p. 99). Diese Liebe zu einer Toten, die hier in leicht verschleierter Form präsentiert wird und die bei Gautier auf gleicher Stufe steht mit der Liebe zu einer Statue, zu einem gemaltenBild, trägt den Namen Nekro­ philie. In der fantastischen Literatur tritt die Nekrophilie gewöhnlich in Gestalt einer Liebe zu Vampiren auf oder zu Toten, die unter die Lebenden zurückkehren. Auch diese Beziehung kann hier wieder als Strafe für eine ausschweifende sexuelle Begierde präsentiert werden; sie kann aber ebensogut auch keine negative Bewertung erfahren. So etwa die Beziehung zwischen Romuald und Clarimonde: der Priester entdeckt, daß Clarimonde ein weiblicher Vampir ist, aber diese Ent­ deckung ändert nichts an seinen Gefühlen. Nachdem sie vor Romuald, den sie schlafend glaubt, einen Monolog zu Ehren des Bluts gehalten hat, geht sie zur Aktion über. »Endlich entschloß sie sich, versetzte mir einen kleinen Stich mit ihrer Nadel, und machte sich daran, das Blut einzusaugen, das daraus hervorfloß. Obwohl sie erst einige Tropfen davon getrunken hatte, wurde sie doch von der Furcht ergriffen, mich zu erschöpfen, und verband mir sorgfältig den Arm mit einer kleinen Binde, nachdem sie zuvor die Wunde mit einer Salbe eingerieben hatte, die sie auf der Stelle verheilen ließ. Ich konnte nicht länger daran zweifeln – der Abt Sérapion hatte recht. Ich konnte mich indessen ungeachtet dieser Gewißheit nicht hin­ dern, Clarimonde zu lieben, und ich hätte ihr gern alles Blut gegeben, das sie brauchte, um ihre künstliche Existenz zu erhalten (...) Ich hätte mir selbst den Arm geöffnet, und ich hätte zu ihr gesagt: Trink! Und möge meine Liebe mit meinem Blut in deinen Körper eingehen!« (p. 113) Die Beziehung zwischen Tod und Blut, Liebe und Leben ist hier evident. Wo doch Vampire und Teufel sich auf der »Seite der Guten« befin­ den, ist man darauf gefaßt, daß die Priester und der religiöse Geist verdammt und mit schlimmeren Namen bezeichnet werden – bis hin zu dem des Teufels! Diese integrale Umkehrung vollzieht sich in glei­ cher Weise in La Morte amoureuse. So heißt es vom Abt Sérapion, dieser Inkarnation der christlichen Moral, der es sich angelegen sein läßt, Clarimonde wieder auszugraben und sie ein zweites Mal zu töten: »Sérapions Eifer hatte etwas Hartes und Wildes, das ihn einem Dämon ähnlicher machte als einem Apostel oder einem Engel ...« (p. 115). In The Monk verwundert sich Ambrosio, als er die naive Antonia die Bibel lesen sieht: »Wie!, sprach der Ordensbruder bei sich, ›Antonia liest die Bibel und ist dennoch so arglos?‹« (p. 325). 123

Man findet also in verschiedenen fantastischen Texten ein und die­ selbe Struktur, die jedoch unterschiedlich valorisiert wird. Denn ent­ weder werden die intensive, wenn nicht gar ausschweifende fleischliche Liebe und ihre Transformationen im Namen der christlichen Prinzipien verdammt, oder aber sie werden gepriesen – die Opposition ist jedoch immer dieselbe (zum religiösen Geist, zur Mutter usw.). In solchen Werken, in denen die Liebe nicht verworfen wird, greifen die über­ natürlichen Mächte ein, um bei ihrer Erfüllung Hilfe zu leisten. Bereits in den Märchen aus tausendundeiner Nacht findet sich dafür ein Bei­ spiel: dort gelingt es Aladin, seine Liebe gerade mit Hilfe magischer Instrumente – Ring und Lampe – zu realisieren. Ohne den Eingriff übernatürlicher Kräfte wäre Aladins Liebe zur Tochter des Sultans auf immer ein Traum geblieben. Eben so bei Gautier. Durch das Leben, das sie nach ihrem Tode weiterführt, macht Clarimonde es Romuald möglich, eine ideale Liebe zu verwirklichen, wenn diese auch von der offiziellen Religion ver­ dammt wird (und wir haben schließlich gesehen, daß der Abt Sérapion seinerseits einem Dämon nicht unähnlich ist). Ohnehin wird Romualds Seele am Ende von Reue beherrscht. »Ich habe es mehr als einmal bereut«, so sagt er, ›und ich bereue es immer noch«« (p. 116 f.). Dies Thema erreicht seinen Höhepunkt in Spirita, der letzten fantastischen Erzählung von Gautier. Guy de Malivert, der Held der Erzählung, verliebt sich in den Geist eines toten jungen Mädchens und entdeckt, dank der Verbindung, die zwischen ihnen entsteht, die ideale Liebe, die er bei irdischen Frauen vergeblich gesucht hatte. Diese Sublimierung des Liebesthemas führt uns aus dem Themen-Netz, das uns hier in erster Linie beschäftigt, heraus in ein anderes, das des ich. Fassen wir unseren bisherigen Weg zusammen. Ausgangspunkt für dieses zweite Netz bleibt die sexuelle Begierde. Die fantastische Litera­ tur bemüht sich, besonders ihre exzessiven Formen sowie ihre verschie­ denen Transformationen oder, wenn man so will, Perversionen zu beschreiben. Ein gesonderter Platz muß der Grausamkeit und der Ge­ walttätigkeit eingeräumt werden, wenn ihre Beziehung zur Begierde auch außer Zweifel steht. Ebenso sind bevorzugte Themen wie der Tod, das Leben nach dem Tod, Leichen und Vampire mit dem Thema Liebe verknüpft. Das Übernatürliche manifestiert sich nicht in jedem dieser Fälle mit derselben Intensität: es tritt auf, um zu zeigen, was es im Fall besonders starker sexueller Wünsche zu tun vermag, und um uns mit dem Leben nach dem Tode bekannt zu machen. Die Grausamkeit oder die menschlichen Perversionen hingegen überschreiten im allgemei­ nen nicht die Grenzen des Möglichen, und wir haben es in dem Fall

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nur mit dem, sagen wir, gesellschaftlich Unheimlichen und Unwahr­ scheinlichen zu tun. Wir haben gesehen, daß man die ich-Themen ebensogut als Ver­ arbeitungen der Beziehungen zwischen Mensch und Welt, des Systems Wahrnehmung-Bewußtsein interpretieren konnte. Nichts dergleichen bei den du-Themen: wenn wir die du-Themen auf demselben Abstrak­ tionsniveau interpretieren wollen, dann müssen wir sagen, daß es sich eher um die Beziehung des Menschen zu seinen sexuellen Wünschen und damit zu seinem Unbewußten handelt. Die Begierde und ihre verschie­ denen Varianten, die Grausamkeit inbegriffen, sind ebensosehr Bilder, in denen die menschlichen Beziehungen festgehalten werden; gleich­ zeitig wirft die Besessenheit des Menschen von dem, was man ober­ flächlich seine »Instinkte« nennen kann, das Problem der Persönlich­ keitsstruktur auf, das der internen Organisation der Persönlichkeit. Wenn die ich-Themen wesensmäßig eine passive Einstellung implizien hatten, so läßt sich hier wiederum ein starkes Einwirken auf die Um­ welt beobachten. Der Mensch bleibt nicht länger isolierter Beobachter, sondern tritt in eine dynamische Beziehung zu anderen Menschen. Wenn man schließlich dem ersten Netz die »Blick-Themen« zuordnen konnte – ausgehend von der Bedeutung, die dem Sehen und der Wahrnehmung ganz allgemein don zukam –, dann sollte man hier eher von »Diskurs­ Themen« sprechen, da die Sprache in der Tat die Form par excellence, das strukturierende Agens der Beziehung des Menschen zu anderen ist.

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Die Themen des Fantastischen: Schluß Präzisierung des Vorhergegangenen. – Poetik und Kritik. – Vieldeutigkeit und Undurchsichtigkeit der Bilder. – Kurze Betrachtung paralleler Oppositionen. Kindheit und Reife. – Sprache und Abwesenheit von Sprache. – Drogen. Psychosen und Neurosen. – Längerer Exkurs über die Applikation der Psycho­ analyse in literarischen Untersuchungen. – Freud, Penzoldt. – Rückkehr zum Thema: Magie und Religion. – Der Blick und der Diskurs. – Ich und du. Vorbehaltlicher Schluß.

Wir haben zwei Netze von Themen aufgesucht, die sich durch ihre Zuordnung unterscheiden. Wenn die Themen des ersten Netzes gleich­ zeitig mit denen des zweiten vorkommen, dann gerade, um auf ihre Unvereinbarkeit hinzuweisen, wie etwa in Louis Lambert oder in Le Club des hachichins. Wir haben nun noch die Schlußfolgerungen zu ziehen, die sich aus dieser Zuordnung ergeben. Unsere Art, die Themen anzugeben, die wir gerade skizziert haben, steht unter einem ziemlich begrenzten Aspekt. Vergleicht man beispiels­ weise unsere Beobachtungen zu Aurélia mit dem, was eine thematische Untersuchung dieses Textes alles offenbart, dann wird man feststellen, daß beide Betrachtungsweisen sich naturgemäß unterscheiden müssen (unabhängig von dem Werturteil, das man fällen kann, versteht sich). Wenn man in einer thematischen Untersuchung vom Doppelgänger oder von der Frau, von Zeit oder Raum spricht, versucht man im allgemei­ nen, in expliziteren Termini den Sinn des Textes noch einmal zu for­ mulieren. Wenn man die Themen ortet, interpretiert man sie; wenn man den Text paraphrasiert, nennt man die Bedeutung. Wir sind ganz anders an den Text herangegangen. Wir haben nicht versucht, Themen zu interpretieren, sondern nur ihr Vorkommen konstatiert. .Wir haben nicht versucht, eine Interpretation der Be­ gierde zu geben, wie sie sich in The Monk manifestiert, oder eine des Todes in La Morte amoureuse, wie es ein Themen-Kritiker getan hätte. Wir haben uns damit begnügt, auf ihre Existenz hinzuweisen. Das Ergebnis ist eine begrenztere und zugleich weniger bestreitbare Erkenntnis. Zwei verschiedene Gegenstände sind hier durch zwei unterschiedliche Aktivitäten impliziert: Struktur und Bedeutung, Poetik und Interpre­ tation. Jedes Werk besitzt eine Struktur, die die Elemente zueinander in Beziehung setzt, die den verschiedenen Kategorien des literarischen

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Diskurses entlehnt sind, und diese Struktur ist gleichzeitig der Ort der Bedeutung. Die Poetik begnügt sich damit, die Anwesenheit bestimmter Elemente im Werk festzustellen; es läßt sich jedoch ein ziemlich hoher Grad der Gewißheit erreichen, da diese Erkenntnis sich durch eine Reihe von Mitteln verifizieren läßt. Der Kritiker wiederum stellt sich eine anspruchsvollere Aufgabe: den Sinn des Werks zu nennen. Aber das Resultat dieser Tätigkeit kann nicht beanspruchen, wissenschaftlich oder »objektiv« zu sein. Es gibt, wie sich versteht, Interpretationen, die ge­ rechtfertigter sind als andere, aber keine von ihnen kann sich zur allein richtigen erklären. Poetik und Kritik sind also lediglich Instanzen eines allgemeineren Gegensatzes, dessen zwischen Wissenschaft und Interpre­ tation. Dieser Gegensatz, dessen Opponenten übrigens beide gleichviel Interesse verdienen, tritt in der Praxis niemals rein auf. Da jedoch der Akzent entweder auf dem einen oder auf dem anderen liegt, lassen sie sich auseinanderhalten. Es ist kein Zufall, daß wir die Perspektive der Poetik gewählt haben, da wir schließlich eine Gattung untersuchen. Die Gattung stellt genau gesagt eine Struktur dar, eine Konfiguration literarischer, ein Inventar der virtuellen Eigenschaften. Aber die Zugehörigkeit eines Werks zu einem Genre sagt noch nichts über seinen Sinn. Sie erlaubt uns ledig­ lich, die Existenz einer bestimmten Regel zu konstatieren, der dies Werk – wie mehrere andere – unterworfen ist. Es sei noch hinzugefügt, daß jede der beiden Tätigkeiten jeweils einen bevorzugten Gegenstand hat: der der Poetik ist die Literatur im allgemeinen mit ihren sämtlichen Kategorien, der der Interpretation hingegen ist das einzelne Werk. Den Kritiker interessiert nicht, was das Werk mit der übrigen Literatur gemeinsam hat, sondern was es Spe­ zifisches hat. Dieser Unterschied in der Zielsetzung führt natürlich auch zu einem methodischen Unterschied. Während es für den Poetiker um die Kenntnis eines Gegenstandes geht, der ihm äußerlich ist, neigt der Kritiker dazu, sich mit dem Werk zu identifizieren, sich zu dessen Subjekt zu machen. Wir haben unsere Diskussion der thematischen Kritik wieder aufgenommen und wollen festhalten, daß diese von der Perspektive der Interpretation her durchaus die Rechtfertigung findet, die ihr in den Augen der Poetik fehlt. Wir haben darauf verzichtet, die Organisation der Bilder zu beschreiben, wie sie sich an der Oberfläche eines Textes selbst ergibt. Sie existiert deshalb nicht weniger. Es ist legitim, innerhalb eines Textes die Beziehung zu beobachten, die sich zwischen der Gesichtsfarbe eines Gespensts, der Falltür, durch die es verschwindet, und dem eigenartigen Geruch, den dieses Verschwinden hinterläßt, ergibt. Eine solche Aufgabe, die mit den Prinzipien der 127

Poetik nicht vereinbar ist, findet ihren Platz im Rahmen der Inter­ pretation. Es wäre nicht nötig gewesen, sich diesen Gegensatz zu vergegenwärti­ gen, wenn hier nicht gerade von Themen die Rede wäre. Man akzeptiert im allgemeinen die Existenz zweier Standpunkte, den der Kritik und den der Poetik, wenn es sich um den verbalen oder den syntaktischen Aspekt des Werks handelt: die lautliche oder rhythmische Organisation, die Wahl der rhetorischen Figuren oder der Kompositionsmittel sind seit langem Gegenstand einer mehr oder minder rigorosen Unter­ suchung. Dieser Untersuchung sind jedoch der semantische Asoekt oder die Themen der Literatur bis heute entgangen; so wie man in der Lin­ guistik bis vor kurzem geneigt war, die Frage nach der Bedeutung aus­ zuschließen und die Semantik außerhalb der Wissenschaft anzusiedeln, um sich ausschließlich mit der Phonologie und der Syntax zu beschäfti­ gen, so akzeptiert man in den literarischen Untersuchungen eine theore­ tische Annäherung an »formale« Elemente des Werks – wie den Rhyth­ mus und die Komposition -, lehnt sie jedoch ab, sobald es um die Frage der »Inhalte« geht. Es ist indessen deutlich geworden, wie unangemes­ sen die Entgegensetzung von Form und Inhalt ist; wir können hingegen unterscheiden zwischen einer Struktur, die von allen literarischen Ele­ menten – die Themen eingeschlossen – gebildet wird einerseits und der Deutung, die ein Kritiker gibt, andererseits: Deutung nicht nur der Themen, sondern aller Aspekte des Werks gleichermaßen. Man weiß z. B., daß den poetischen Rhythmen (Jambus, Trochäus ’Qsw.) in be­ stimmten Epochen affektive Interpretationen – heiter, traurig usw. – beigelegt wurden. Wir haben sogar beobachtet, daß ein Stilmittel wie dieModalisierung in Aurélia eine präzise Bedeutung annehmen konnte: sie bezeichnet die dem Fantastischen eigentümliche Unschlüssigkeit. Wir haben also versucht, zu einer Untersuchung der Themen zu ge­ langen, die diese auf das Abstraktionsniveau der poetischen Rhythmen stellt; wir haben zwei thematische Netze festgestellt, ohne jedoch zu behaupten, gleichzeitig eine Interpretation dieser Themen, wie sie in den einzelnen Werken in Erscheinung treten, zu liefern. Dies sei gesagt, um jedem Mißverständnis vorzubeugen. Es ist nötig, auf einen anderen möglichen Irrtum hinzuweisen. Es geht um den Modus der Auffassung von den literarischen Bildern, wie man sie bis heute zu verzeichnen hatte. Indem wir unsere Themen-Netze bestimmten, haben wir abstrakte Begriffe – Sexualität, Tod – neben konkreten – Teufel, Vampir – auf gestellt. Damit haben wir zwischen beiden Gruppen keinen Bedeu­

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tungszusammenhang herstellen wollen (etwa Teufel meint Sexus, Vam­ pir Nekrophilie), sondern eine Vereinbarkeit, eine Ko-Präsenz. Der Sinn eines Bildes ist immer viel reicher und komplexer als eine solche Übersetzung vermuten ließe, und das aus mehreren Gründen. Zunächst einmal ist es angebracht, von der Vieldeutigkeit des Bildes zu sprechen. Nehmen wir z. B. das Thema (oder das Bild) vom Doppel­ gänger. In etlichen fantastischen Texten ist davon die Rede, aber in jedem einzelnen Werk hat der Doppelgänger wieder eine andere Be­ deutung, die von den Beziehungen abhängt, die dies eine Thema mit anderen unterhält. Diese Bedeutungen können sogar gegensätzlich sein, so etwa bei Hoffmann und Maupassant. Das Auftauchen des Doppel­ gängers ist für ersteren ein Grund zur Freude, es ist der Sieg des Geistes über die Materie. Bei Maupassant hingegen inkarniert der Doppelgänger die Bedrohung: er ist das Vorzeichen der Gefahr und der Furcht. Gegensätzliche Bedeutungen auch in Aurelia und in den Abenteuern in der Sierra Morena: bei Nerval bedeutet das Auftreten des Doppelgän­ gers u. a. den Beginn der Isolierung, einen Bruch mit der Welt; bei Potocki hingegen wird die Verdoppelung, die das ganze Buch hindurch immer wieder vorkommt, zu einem Mittel des engeren Kontakts mit anderen, einer umfassenderen Integration. Daher ist man auch nicht überrascht, das Bild des Doppelgängers in dem einen wie dem anderen der beiden Themennetze zu finden, die wir aufgestellt haben. Ein solches Bild kann verschiedenen Strukturen zugehören, wie es auch mehrere Bedeutungen haben kann. Man muß aber auch schon deswegen die bloße Idee einer direkten Übersetzung zurückweisen, weil jedes Bild im unendlichen Spiel der Verweisungen noch andere bedeutet; und dann deswegen, weil es sich selbst bedeutet: es ist nicht transparent, sondern besitzt eine gewisse Kompaktheit. Wenn nicht, müßte man alle Bilder für Allegorien neh­ men, und wir haben gesehen, daß die Allegorie einen ausdrücklichen Hinweis auf eine andere Bedeutung impliziert und dadurch zu einem ganz besonderen Fall wird. So können wir auch Penzoldt nicht folgen, wenn er im Zusammenhang mit dem Geist aus der Flasche (in den Märchen aus tausendundeiner Nacht) schreibt: »Der Geist ist natürlich die Personifizierung der Begierde, während der Korken der Flasche, klein und schwach wie er ist, die moralischen Skrupel des Menschen darstellt« (p. 106). Wir lehnen das Verfahren ab, die Bilder auf Be­ zeichnende (signifiants) zu reduzieren, deren Bezeichnete (signifies) dann Ideen wären. Das würde übrigens das Vorhandensein einer schar­ fen Trennlinie zwischen den einen und den anderen implizieren, und eine solche ist, wie man später sehen wird, undenkbar.

Wir haben unser Vorgehen zu explizieren versucht und müssen nun seine Resultate einsichtig machen. Zu diesem Zweck wollen wir heraus­ zufinden versuchen, worin der Gegensatz zwischen den beiden thema­ tischen Netzen besteht und was für Kategorien er ins Spiel bringt. Wir wollen uns zunächst die bereits skizzierten Berührungspunkte zwischen diesen thematischen Netzen und anderen, mehr oder minder bekannten Organisationen noch einmal ansehen. Vielleicht ermöglicht uns dieser Vergleich, tiefer in die Natur des Gegensatzes einzudringen, ihn prä­ ziser zu formulieren. Gleichzeitig wird jedoch unsere Gewißheit in bezug auf unsere These geringer werden. Das soll nicht die übliche Klausel sein: alles, was folgt, behält in unseren Augen rein hypothe­ tischen Charakter und ist als solches aufzufassen. Beginnen wir mit der Analogie, die wir zwischen dem ersten Netz, dem der ich-Themen, und dem Universum des Kindes, wie es dem Erwachsenen (laut Piagets Beschreibung) erscheint, festgestellt haben. Man kann sich fragen, worauf diese Ähnlichkeit beruht. Die Antwort findet sich in denselben entwicklungspsychologischen Untersuchungen, auf die wir uns berufen haben: das erste wesentliche Ereignis, das den Übergang von der psychischen Primärorganisation (über eine Reihe von Übergangsstadien) zur Reife herbeiführt, ist der Eintritt des Subjekts in die Sprache. Sie ist es, die die Merkmale verschwinden läßt, die dem ersten Stadium der geistigen Entwicklung eigentümlich sind: die feh­ lende Unterscheidung zwischen Geist und Materie, zwischen Subjekt und Objekt, die vor-intellektuellen Auffassungen von der Kausalität, von Raum und Zeit. Es ist ein Verdienst Piagets, gezeigt zu haben, daß sich dieser Wandel gerade dank der Sprache vollzieht, selbst wenn das nicht unmittelbar sichtbar wird. So etwa auch bei der Zeit: »Dank der Sprache wird das Kind fähig, seine früheren Handlungen in Form einer Erzählung wiederherzustellen und zukünftige Handlungen durch die verbale Darstellung zu antizipieren« (Six études, p. 25); man erinnert sich, daß in der frühkindlichen Phase nicht die Zeit die Linie war, die diese drei Punkte verband, sondern eher ein ewiges (elastisches oder unendliches) Präsens (natürlich eines, das sehr verschieden ist von dem Präsens, das wir kennen und das eine sprachliche Kategorie ist). Wir sind damit bei der zweiten Annäherung angelangt, die wir voll­ zogen hatten: die desselben thematischen Netzes an die Welt der Droge. Wir hatten dort dieselbe unartikulierte und dehnbare Zeitauffassung vorgefunden. Obendrein handelt es sich auch hier um eine sprachlose Welt; die Droge widersetzt sich der Verbalisierung. Ein weiterer An­ näherungspunkt: der Andere besitzt hier keine autonome Existenz, das id, identifiziert sich mit ihm, ohne ihn als unabhängig zu begreifen. 130

Ein anderer Punkt, der diesen beiden Welten, der der Kindheit und der der Droge, gemeinsam ist, hängt mit der Sexualität zusammen. Wir erinnern uns, daß der Gegensatz, der uns die Annahme zweier Netze erlaubte, gerade die Sexualität (in Louis Lambert) betraf. Diese (ge­ nauer: ihre übliche und elementare Form) findet sich aus der Welt der Droge ebenso ausgeschlossen wie aus der der Mystiker. Das Problem erscheint komplexer, wenn es sich um die Kindheit handelt. Der Säug­ ling lebt nicht in einer Welt ohne Libido, jedoch ist diese zunächst »auto-erotisch«. Die darauffolgende Entdeckung ist die objekt-gerich­ tete Libido. Der Zustand der Überwindung der Leidenschaften, den man durch die Droge erreicht (dieselbe Überwindung also, wie sie auch von den Mystikern erstrebt wurde) und die man als pan-erotisch kenn­ zeichnen könnte, ist eine Transformation der Sexualität, die der »Sub­ limierung« nahekommt. Im ersten Falle hat der sexuelle Wunsch kein äußeres Objekt, im zweiten ist sein Objekt die ganze Welt; zwischen beiden ist die »normale« Begierde angesiedelt. Kommen wir nun zur dritten Annäherung, auf die wir im Verlauf der Untersuchung der ich-Themen hingewiesen haben: diejenige, die mit den Psychosen zusammenhängt, Auch hier befinden wir uns auf unsicherem Boden. Wir sind genötigt, uns auf Beschreibungen der psychotischen Welt zu stützen, die aus dem Universum des »normalen« Menschen heraus unternommen worden sind. Das Verhalten des Psychotikers wird dabei nicht als kohärentes System vorgestellt, sondern als Negation eines anderen Systems, als Abweichung. Wenn wir von der »Welt des Schizophrenen« oder der »Welt des Kindes« sprechen, dann gebrauchen wir nur Trugbilder dieser Zustände, wie sie von einem nicht-schizophrenen Erwachsenen entworfen werden. Der Schizophrene, so sagt man uns, verweigert die Kommunikation und die Inter-Sub­ jektivität, er führt eine »Privatsprache« ein (was zweifellos ein Wider­ spruch in sich ist, d. h. diese »Privatsprache« ist folglich auch eine Anti­ Sprache). Die dem üblichen Wortbestand entnommenen Wörter erhal­ ten einen neuen Sinn, den der Schizophrene individuell aufrecht erhält: es geht nicht nur einfach darum, den Sinn der Wörter zu variieren, sondern es soll bewirkt werden, daß diese eine automatische Über­ tragung dieses Sinns nicht zulassen. »Der Schizophrene«, schreibt Kasanin, »hat nicht die geringste Absicht, seine Kommunikations-Methode, die höchst individuell ist, zu ändern und scheint sich über die Tatsache zu freuen, daß man ihn nicht versteht« (p. 129). Entgegen ihrer Mittler­ funktion wird die Sprache hier zu einem Mittel, sich von der Welt ab­ zuschneiden. Die frühkindliche Welt, die der Droge, die des Schizophrenen und 131

die des Mystizismus bilden durchaus jede für sich ein Paradigma, zu dem die ich-Themen stets in gleicher Weise gehören (was nicht heißen soll, daß es zwischen ihnen nicht bedeutende Unterschiede gebe). Die Beziehungen zwischen diesen Begriffen sind, zumindest für einzelne Begriffspaare, oft hervorgehoben worden. Balzac schreibt in Louis Lambert: »(...) gewisse Bücher von Jakob Böhme, Swedenborg oder Madame Guyon, deren aufmerksames Lesen Phantasien heraufbe­ schwört, so vielgestaltig wie Opiumträume« (XV, p. 225). Auf der anderen Seite ist oft auf die Nähe der Welt des Schizophrenen zu der des Kleinkindes hingewiesen worden. Wie es schließlich kein Zufall ist, daß Swedenborg schizophren war und daß der Gebrauch bestimmter starker Drogen zu psychotischen Zuständen führen kann. An diesem Punkt erscheint es verlockend, unser zweites Netz, die du-Themen, in die Nähe der anderen großen Kategorie psychischer Krankheiten zu rücken: die Neurosen – eine oberflächlicheAnnäherung, die sich auf die Tatsache gründet, daß die entscheidende Rolle, die der Sexualität und ihren Spielarten im zweiten Netz zugestanden wird, sich ebenso für die Neurosen feststellen läßt: die Perversionen sind, wie seit Freud wiederholt gesagt worden ist, das exakte »Negativ« der Neurosen. Wir bleiben uns bewußt, daß die übernommenen Auffassun­ gen hier wie schon zuvor Simplifikationen erfahren. Wenn wir uns die Freiheit nehmen, bequeme Übergänge zwischen Psychose und Schizo­ phrenie, zwischen Neurose und Perversionen zu errichten, so deshalb, weil wir glauben, uns auf einem genügend hohen Abstraktionsniveau zu bewegen: unsere Affirmationen sind als bloße Annäherungen auf­ zufassen. Die Annäherung wird weit bedeutungsvoller, wenn man sich, um diese Typologie zu begründen, auf die psychoanalytische Theorie be­ ruft. Freud hat dieses Problem kurz nach seiner zweiten Formulierung der psychischen Struktur in Angriff genommen. Er schreibt: »Die Neu­ rose [ist] der Erfolg eines Konflikts zwischen dem Ich und seinem Es, die Psychose aber der analoge Ausgang einer solchen Störung in den Beziehungen zwischen Ich und Außenwelt« (XIII, p. 387). Freud zitiert ein Beispiel, um diesen Gegensatz zu veranschaulichen: »Ich will zum Beispiel auf einen ... Fall zurückgreifen, in dem das in ihren Schwager verliebte Mädchen am Totenbett der Schwester durch die Idee erschüttert wird: Nun ist er frei und kann dich heiraten. Diese Szene wird sofort vergessen und damit der Regressionsvorgang ein­ geleitet, der zu den hysterischen Schmerzen führt. Es ist aber gerade hier lehrreich, zu sehen, auf welchem Wege die Neurose den Konflikt zu erledigen sucht. Sie entwertet die reale Verdrängung, indem sie den

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in Betracht kommenden Triebanspruch, also die Liebe zum Schwager, verdrängt. Die psychotische Reaktion wäre gewesen, die Tatsache des Todes der Schwester zu verleugnen« (XIII, p. 364). Diese Stelle kommt unserer eigenen Einteilung sehr nahe. Wir haben gesehen, daß die ich-Themen sich auf eine Durchbrechung der Grenze zwischen Psychischem und Physischem gründen: annehmen, jemand sei nicht tot, dies jedoch herbeiwünschen und sich dann in der Realität vor die vollendete Tatsache gestellt sehen – das sind zwei Phasen derselben Bewegung, und der Übergang zwischen beiden ergibt sich ohne jede Schwierigkeit. Was den zweiten thematischen Bereich angeht, so ähneln die hysterischen Auswirkungen der unterdrückten Liebe zum Schwager jenen »exzessiven« Akten im Zusammenhang mit der sexuellen Be­ gierde, denen wir bei der Inventarisierung der du-Themen begegnet waren. Mehr noch: es war bei Gelegenheit der i‹ch-Themen bereits davon gesprochen worden, welche wesentliche Rolle die Wahrnehmung spielt, d. h. die Beziehung zur Außenwelt. Und hier finden wir sie an der Basis der Psychose wieder. Wir haben gleichfalls erkannt, daß man die du-Themen nicht begreifen kann, ohne das Unbewußte und die Triebe, deren Verdrängung zur Neurose führt, in Rechnung zu stellen. Also sind wir berechtigt zu sagen, daß das Netz der ich-Themen auf der Ebene der psychoanalytischen Theorie dem System Wahrnehmung­ Bewußtsein entspricht, das der du-Themen dem der unbewußten Triebe. Es ist zu bemerken, daß die Beziehung zum Nächsten, so, wie sie von der fantastischen Literatur erfaßt wird, im letzteren Bereich angesiedelt ist. Mit dem Hinweis auf diese Analogie wollen wir nicht sagen, daß sich Neurosen und Psychosen in der fantastischen Literatur wieder­ finden lassen oder, umgekehrt, daß sich alle Themen der fantastischen Literatur in den Handbüchern der Psychopathologie auffinden lassen. Aber hier liegt eine weitere Gefahr. All diese Verweise könnten glau­ ben machen, daß wir eindeutig in die Nähe der sogenannten psycho­ analytischen Kritik gerückt sind. Um unsere eigene Position besser zu situieren und zu differenzieren, wollen wir uns einen Augenblick mit dieser kritischen Annäherung befassen. Zwei Beispiele scheinen in die­ sem Zusammenhang besonders geeignet: die Seiten, die Freud selbst dem Unheimlichen gewidmet hat, und Penzoldts Buch über das Über­ natürliche. Anhand der Studie Freuds über das Unheimliche können wir nur den Doppelcharakter der psychoanalytischen Forschung konstatieren. Man könnte sagen, daß die Psychoanalyse gleichzeitig eine Wissenschaft der Strukturen und eine Interpretationstechnik ist. Im ersten Falle be­

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schreibt sie einen Mechanismus, den man psychische Aktivität nennen kann; im zweiten Falle deckt sie die latente Bedeutung der auf solche Weise beschriebenen Konfigurationen auf. Sie antwortet zur gleichen Zeit auf die Frage »wie« und auf die Frage »was«. Folgendes Zitat zur Illustration der zweiten Tätigkeit des Analyti­ kers, die als Dechiffrierung definiert werden kann: »... wenn der Träumer denkt: das ist mir bekannt, da war ich schon einmal, so darf die Deutung dafür das Genitale oder den Leib der Mutter einsetzen« (XII, p. 259). Das beschriebene Traumbild wird hier isoliert genom­ men, unabhängig vom Mechanismus, dessen Teil es ist; statt dessen liefert man uns seine Bedeutung. Diese ist von den Bildern qualitativ verschieden; die Zahl der latenten Bedeutungen ist beschränkt und unveränderlich. So heißt es an anderer Stelle: »Manche Menschen wür­ den die Krone der Unheimlichkeit der Vorstellung zuweisen, scheintot begraben zu werden. Allein die Psychoanalyse hat uns gelehrt, daß diese schreckende Phantasie nur die Umwandlung einer anderen ist, die ursprünglich nichts Schreckhaftes war, sondern von einer gewissen Lüsternheit getragen wurde, nämlich der Phantasie vom Leben im Mutterleib« (XII, p. 257). Wieder stehen wir einer Übersetzung gegen­ über: dieses fantastische Bild hat diesen und keinen anderen Inhalt. Immerhin gibt es noch eine andere Haltung: der Psychoanalytiker neigt nicht dazu, die latente Bedeutung eines Bildes zu geben, sondern zwei Bilder miteinander zu verknüpfen. In seiner Analyse von Hoff­ manns Der Sandmann schreibt Freud: »Diese automatische Puppe [Olympia] kann nichts anderes sein als die Materialisation von Natha­ niels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit« (XII, p. 244, Anm.). Die Gleichsetzung, die Freud vornimmt, verbindet nicht mehr nur ein Bild mit einem Sinn (obwohl sie dies auch weiterhin tut), sondern zwei sexuelle Elemente: die Puppe Olympia und die Kindheit Nathaniels, die beide in Hoffmanns Novelle präsent sind. Eben da­ durch klärt uns Freuds Bemerkung weniger über die Deutung auf, die der Sprache der Bilder beizulegen ist, als über den Mechanismus der Sprache, ihr inneres Funktionieren. Im ersten Falle konnte man die Tätigkeit des Psychoanalytikers mit der eines Übersetzers vergleichen; im zweiten zeigt sie Verwandtschaft mit der des Linguisten. Zahlreiche Beispiele für beide Fälle ließen sich in der Traumdeutung finden. Von diesen beiden möglichen Richtungen, die die Untersuchung neh­ men kann, merken wir uns nur die eine. Die Haltung eines Übersetzers ist, wie wir bereits gesagt haben, mit unserem Standpunkt gegenüber der Literatur unvereinbar. Wir glauben nicht, daß diese etwas anderes sagen will als sich selbst und folglich auch nicht, daß eine Übersetzung

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nötig ist. Was wir uns hingegen zu tun bemühen, ist, das funktionieren des literarischen Mechanismus zu beschreiben (wenn es auch keine unüberwindliche Schranke zwischen Obersetzung und Beschreibung gibt ...). Und in diesem Sinne kann der Versuch der Psychoanalyse uns nützlich sein (die Psychoanalyse ist in diesem Punkt nur ein Zweig der Semiotik). Unser Bezug auf die Struktur der Psyche beruht auf dieser Art von Entlehnung, und das theoretische Vorgehen eines René Girard kann hierfür als exemplarisch angesehen werden. Wenn die Psychoanalytiker sich für literarische Werke interessiert haben, haben sie sich nicht damit zufriedengegeben, sie – auf welchem Niveau auch immer – zu beschreiben. Angefangen bei Freud haben sie stets dahin tendiert, die Literatur als einen Weg unter anderen anzu­ sehen, um zur Psyche des Autors vorzudringen. Die Literatur sieht sich also in den Rang eines schlichten Symptoms verwiesen, und der Autor bildet das wahre Studienobjekt. So weist Freud, nachdem er die Orga­ nisation des Sandmanns beschrieben hat, ohne Übergang auf das Leben des Autors hin, das darüber Aufschluß geben soll: »E. T. A. Hoffmann was das Kind einer unglücklichen Ehe. Als er drei Jahre alt war, trennte sich der Vater von seiner kleinen Familie und lebte nie wieder mit ihr vereint« (XII, p. 245, Anm.). Diese Haltung, die seither oft kritisiert worden ist, ist heute nicht mehr in Mode; es ist dennoch nötig, die Gründe für die ablehnende Haltung, die wir ihr gegenüber einnehmen, zu präzisieren. Es genügt in der Tat nicht zu sagen, daß wir uns für die Literatur und für sie allein interessieren und daß wir von daher jegliche Auskunft über das Leben des Autors ablehnen. Die Literatur ist immer mehr als Literatur, und es gibt bestimmt Fälle, wo die Biographie des Autors in einem sachdienlichen Verhältnis zu seinem Werk steht. Nur muß dieses Verhältnis, um verwendbar zu sein, als eines der Merkmale des Werks selbst gegeben sein. Hoffmann, der ein unglückliches Kind gewesen ist, beschreibt die Ängste der Kindheit. Damit diese Feststellung jedoch explikativen Wert erhält, müßte man entweder beweisen, daß alle Schriftsteller, die eine unglückliche Kindheit hatten, dasselbe tun oder aber daß alle Beschreibungen kindlicher Ängste von Schriftstellern stammen, die eine unglückliche Kindheit hatten. Wenn man, statt die eine oder die andere Beziehung herzustellen, konstatiert, daß Hoffmann als Kind unglücklich war, so ist das nicht mehr als der Hinweis auf ein Zusammentreffen, d. h. ohne explikativen Wert. Aus all dem muß man schließen, daß literarische Studien eher dann von psychoanalytischen Schriften profitieren können, wenn sie sich auf die allgemeinen Strukturen des menschlichen Subjekts beziehen, als 135

wenn sie die Literatur behandeln. Wie das oft geschieht, führt die zu direkte Applikation einer Methode auf ein anderes Gebiet nur zu einer Wiederholung der gegebenen theoretischen Voraussetzungen. Als wir uns mit den thematischen Typologien beschäftigt haben, die in verschiedenen Aufsätzen über das Fantastische aufgestellt werden, haben wir die Peter Penzoldts beiseite gelassen, weil sie sich von den anderen qualitativ unterscheidet. Während die Mehrzahl der anderen Autoren die Themen nach Rubriken wie: Vampire, Teufel, Hexen usw. klassifiziert, schlägt Penzoldt vor, sie nach ihrem psychologischen Ur­ sprung einzuordnen. Dieser Ursprung soll an zwei verschiedenen Orten zu suchen sein: im kollektiven Unbewußten und im individuellen Un­ bewußten. Im ersten Falle verlieren sich die thematischen Elemente im Nebel der Vorzeit; sie gehören der ganzen Menschheit, der Dichter ist lediglich empfänglicher für sie als andere und kann sie deshalb ver­ äußerlichen. Im zweiten Fall handelt es sich um persönliche traumati­ sierende Erlebnisse: ein neurotischer Autor projiziert seine Symptome in sein Werk. Das trifft besonders zu für eine der von Penzoldt unter­ schiedenen Untergattungen, die er die »reine Horror-Geschichte« nennt. Für die Autoren, die er hierzu anführt, ist die »fantastische Geschichte nur ein Kanal für unangenehme neurotische Tendenzen«. Diese Ten­ denzen manifestieren sich jedoch außerhalb des Werks nicht immer deutlich. So bei Arthur Machen, dessen neurotische Schriften man aus seiner puritanischen Erziehung erklären könnte: »Glücklicherweise, muß man wohl sagen, führte Arthur Machen jedoch nicht das Leben eines ›Puritaners‹. Robert Hillyer, der ihn gut kennt, erzählt, wie sehr er guten Wein, angenehme Geselligkeit und gute Scherze zu schätzen wußte und ein völlig normales Eheleben führte« (p. 156); »Robert Hillyer (...) schildert ihn uns als einen außerordentlich treuen Freund und Vater« (p. 164) usw. Wir haben bereits gesagt, weshalb es unmöglich ist, eine Typologie zu akzeptieren, die aus der Biographie der Autoren begründet wird. Penzoldt liefert uns übrigens gleich einen Gegenbeleg mit: kaum hat er uns mitgeteilt, daß Machens Erziehung sein Werk erklärt, als er sich auch schon verpflichtet fühlt, hinzuzufügen: »Glücklicherweise war der Mensch Machen von dem Schriftsteller Machen ziemlich verschieden (...) So lebte Machen das Leben eines normalen Menschen, während ein Teil seines Werks zum Ausdruck einer schrecklichen Neurose wurde« (p. 164). Wir haben noch ein weiteres Motiv für unsere Ablehnung. Wenn eine Unterscheidung für die Literatur Gültigkeit erlangen soll, muß sie auf literarische Kriterien gegründet werden und nicht auf die Existenz

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psychologischer Schulen, denen man samt und sonders einen Platz ein­ räumen möchte (es handelt sich bei Penzoldt um einen Versuch, Freud und Jung zu versöhnen). Die Unterscheidung zwischen kollektivem und individuellem Unbewußten ist, sei sie innerhalb der Psychologie nun haltbar oder nicht, für die Literatur a priori unerheblich: die Elemente des »kollektiven Unbewußten« mischen sich ungehindert mit denen des »individuellen Unbewußten«, wie Penzoldts Analysen selbst er­ geben haben. Kehren wir jetzt zur Unterscheidung unserer beiden thematischen Netze zurück. Wir haben selbstverständlich keines der beidenParadigmen erschöpft, die wir bei der Zuordnung fantastischer Themen als Ausgangspunkt genommen hatten. Es ist z. B. möglich, eine Analogie zwischen bestimm­ ten sozialen Strukturen (oder sogar politischen Regimes) und den beiden Themennetzen zu finden. Oder weiter: die Unterscheidung, die Mauss für Religion und Magie aufgestellt hat, kommt der sehr nahe, die wir für ich-Themen und du-Themen geltend gemacht haben. »Wäh­ rend die Religion zur Metaphysik tendiert und in der Schaffung von Idealbildern aufgeht, verläßt die Magie, durch tausend durchlässige Stellen, das mystische Leben, aus dem sie die nötige Kraft bezieht, um sich ins Laienleben zu mischen und dort dienstbar zu werden. Sie tendiert zum Konkreten, wie die Religion zum Abstrakten tendiert« (p. 134). Ein Beweis unter anderen: die mystische Versenkung ist averbal, während die Magie auf Sprache nicht verzichten kann. »Es ist zweifelhaft, ob es wirkliche stumme Riten gegeben hat, während es gewiß ist, daß eine große Anzahl Riten ausschließlich mündlich ge­ wesen sind« (p. 47). Ein anderes Begriffspaar, das wir eingeführt haben, indem wir von Blick-Themen und Diskurs-Themen gesprochen haben (diese Wörter sind weiterhin mit Vorsicht zu handhaben), läßt sich jetzt besser ver­ stehen. Auch hier hat das Fantastische übrigens seine Theorie selbst aufgestellt. Beispielsweise bei Hoffmann stößt man auf ein klares Be­ wußtsein von dieser Unterscheidung. Er schreibt: »Was sind Worte – Worte! – Der Blick ihres himmlischen Auges sagt mehr als jede Sprache hienieden.« Oder: »... dann saht Ihr die herrlichste Darstel­ lung, die schon darum die erste in der Welt zu nennen, weil sie das Tiefste ausspricht, ohne der Worte zu bedürfen. « Hoffmann, als Autor von Erzählungen, die die ick-Themen verwer­ ten, macht keinen Hehl aus seiner Vorliebe für den Blick gegenüber dem Diskurs. Man muß an dieser Stelle hinzufügen, daß beide Themen­ Netze in einem anderen Sinne als gleichermaßen an die Sprache gebun­

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den betrachtet werden können. Die Blick-Themen beruhen auf der Durchbrechung der Grenze zwischen Psychischem und Physischem; man könnte diese Beobachtung jedoch vom sprachlichen Standpunkt aus neu formulieren. Wie wir gesehen haben, bergen die ich-Themen die Mög­ lichkeit, die Schranke zwischen wörtlicher und bildlicher Bedeutung zu durchbrechen; die du-Themen ergeben sich aufgrund der Beziehung zwischen zwei Gesprächsteilnehmern im Diskurs. Die Reihe ließe sich ins Unendliche fortsetzen, ohne daß et jemals legitim wäre, von einem der gegensätzlichen Begriffspaare zu behaup­ ten, daß es »authentischer« oder »wesentlicher« sei als ein anderes. Psychose und Neurose sind ebensowenig eine Erklärung für die Themen der fantastischen Literatur als es der Gegensatz zwischen Kindheit und Erwachsenenalter ist. Es gibt nicht zwei Typen von Einheiten unter­ schiedlicher Art, wobei die einen Bezeichnende, die anderen Bezeichnete und das stabile Residuum der ersteren wären. Wir haben eine Kette von Entsprechungen aufgestellt, die, wenn es darum geht, die fantastischen Themen zu präsentieren, ebensogut als Ausgangspunkt (»zu explizie­ ren«) wie als Zielpunkt (»Explikation«) dienen kann, und nicht anders verhält es sich mit allen anderen Oppositionen.

Was noch zu tun bleibt, ist die Bestimmung der Stelle, die die Typo­ logie der fantastischen Themen, wie wir sie skizziert haben, im Ver­ hältnis zu einer allgemeinen Typologie der literarischen Themen ein­ nimmt. Wir wollen hier nicht ins Detail gehen (man müßte sonst zeigen, daß diese Frage nur ger^tfertigt ist, wenn man jedem der Termini, aus denen sie sich zusammensetzt, eine genau definierte Be­ deutung beilegt), können jedoch an dieser Stelle die Hypothese wieder aufnehmen, die wir zu Beginn dieser Diskussion aufgestellt haben. Sagen wir, unsere thematische Einteilung schneidet die ganze Literatur in zwei Teile, manifestiert sich jedoch besonders klar in der fantasti­ schen Literatur, in der sie ihre Superlativstufe erreicht. Die fantastische Literatur ist eine Art schmales, aber privilegiertes Territorium, von dem sich Hypothesen ableiten lassen, die die Literatur allgemein betreffen. Was zu beweisen wäre, versteht sich. Es ist kaum nötig, die Namen, die wir diesen beiden thematischen Netzen gegeben haben, noch weiter zu explizieren. Das ich verweist auf die relative Isolierung des Menschen in seinem Verhältnis zur Welt, die er errichtet, wobei der Akzent auf dieser Auseinandersetzung liegt, ohne daß eine vermittelnde Instanz benannt werden müßte. Das du hingegen verweist genau auf diese Vermittlung, und dieses Dreierver­ hältnis findet sich an der Basis des Netzes. Diese Opposition ist asym­ 138

metrisch: das ich ist im du gegenwärtig, aber nicht umgekehrt. Wie Martin Buber schreibt: »Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundworts Ich-Du und das Ich des Grundworts Ich-Es. Wenn der Mensch Ich spricht, meint er eins von beiden« (p. 16). Es ist noch mehr anzumerken. Das ich und das du weisen auf die zwei Teilnehmer am Akt der Rede hin: auf den, der aussagt, und auf den, an den man sich wendet. Wenn wir den Akzent auf diese beiden Gesprächsteilnehmer legen, so deswegen, weil wir die Redesituation für überaus wichtig ansehen – innerhalb wie außerhalb der Literatur. Eine Theorie der Personalpronomina aus der Perspektive des Vorgangs des Aussagens könnte manche wichtige Eigenschaft sprachlicher Strukturen überhaupt erklären. Das ist eine Aufgabe, die noch zu tun bleibt. Wir haben am Anfang dieser Themenuntersuchung in bezug auf die Kategorien, die es zu finden galt, zwei Hauptforderungen formuliert: sie sollten zugleich abstrakt und literarisch sein. Die Kategorien ich und du haben durchaus diesen Doppelcharakter: sie weisen einen hohen Abstraktionsgrad auf und bleiben innerhalb der Sprache. Es stimmt zwar, daß Sprachkategorien nicht notwendigerweise literarische Kate­ gorien sind, aber wir begegnen hier dem Paradox, mit dem sich jede Reflexion über Literatur auseinandersetzen muß: eine sprachliche For­ mel, die die Literatur betrifft, verrät stets zugleich deren Beschaffenheit, was von der Tatsache herrührt, daß die Literatur selbst paradox ist, denn sie setzt sich aus Wörtern zusammen und bedeutet mehr als die Wörter, ist sprachlich und metasprachlich zugleich.

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Literatur und Fantastisches Wechsel der Perspektive: die Funktionen der fantastischen Literatur. – Die soziale Funktion des Übernatürlichen. – Die Zensuren. – Fantastische Literatur und Psychoanalyse. – Die Elementar-Erzählung. – Die Störung des Gleich­ gewichts. – Allgemeine Bedeutung des Fantastischen. – Die wunderbare Er­ zählung im 20. Jahrhundert: Die Verwandlung. – Die Anpassung. – Ähnliche Beispiele in der Science Fiction. – Sartre und das moderne Fantastische. – Wann die Ausnahme zur Regel wird. – Letztes Paradox über die Literatur.

Das Feld des Fantastischen ist abgesteckt. Wir haben zuerst eine Definition der Gattung gegeben: das Fantastische gründet sich im wesentlichen auf eine Unschlüssigkeit des Lesers – eines Lesers, der sich mit der Hauptperson identifiziert – in bezug auf die Beschaffenheit eines unheimlichen Ereignisses. Diese Unschlüssigkeit kann sich entweder dahingehend auflösen, daß man entscheidet, das Ereignis gehöre der Realität an, oder aber dadurch, daß man entscheidet, es sei ein Produkt der Einbildungskraft oder das Ergebnis einer Sinnestäuschung. Mit anderen Worten, man kann entscheiden, daß es das Ereignis gibt oder aber, daß es es nicht gibt. Das Fantastische erfordert aber außerdem eine bestimmte Art des Lesens: ohne dieses läuft man Gefahr, entweder in die Allegorie oder aber in die Poesie hinüberzugleiten. Schließlich haben wir andere Eigenschaften des fantastischen Werks in Augen­ schein genommen, die zwar nicht obligatorisch sind, jedoch häufig genug Vorkommen, um bezeichnend zu sein. Diese Eigenschaften hatten sich anhand der Aspekte des literarischen Werks – des verbalen, des syn­ taktischen und des semantischen (oder thematischen) – unterscheiden lassen. Statt ein bestimmtes Einzelwerk zu untersuchen, haben wir viel­ mehr versucht, den allgemeinen Rahmen auszuarbeiten, in den sich solche konkreten Studien einfügen ließen. Der Terminus »Einführung« im Titel dieses Versuchs ist keine Bescheidenheitsfloskel. Wir haben uns bis hierhin innerhalb der Gattung bewegt. Es ist unsere Absicht gewesen, eine »immanente« Untersuchung durchzufüh­ ren, d. h. die Kategorien zur Beschreibung dieser Gattung zu bestim­ men, indem wir uns einzig auf deren innere Bedingungen einließen. Statt es dabei bewenden zu lassen und nun ein Schlußwort anzufügen, wollen wir die Perspektive wechseln. Die Gattung hat sich konstituiert, und wir können jetzt daran gehen, sie von außen, oder sogar von ihrer sozialen Rolle her zu betrachten. Wir können unsere eingangs gestellte

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Frage jetzt ruhen lassen oder besser, sie anders formulieren; statt zu fragen: »Was ist das Fantastische?« fragen wir jetzt: »Weshalb gibt es das Fantastische?« Die erste Frage hatte sich auf die Struktur der Gat­ tung bezogen, die zweite zielt auf deren Funktionen. Diese Frage nach der Funktion fächert sich allerdings gleich wieder in mehrere auf und wirft mehrere Einzelprobleme auf. Sie kann sich auf das Fantastische beziehen, d. h. auf eine bestimmte Reaktion auf das Übernatürliche, aber ebensowohl auch auf das Übernatürliche selbst. Im letzteren Fall wird man dann wieder zwischen einer literarischen Funktion und einer sozialen Funktion des Übernatürlichen zu unter­ scheiden haben. Beginnen wir mit der zweiten Funktion. In einer Bemerkung Peter Penzoldts findet man eine Antwort skiz­ ziert. »Für viele Autoren war das Übernatürliche nur ein Vorwand, um Dinge zu beschreiben, die sie in realistischen Termini niemals aus­ zudrücken gewagt hätten« (p. 146). Man darf bezweifeln, daß die übernatürlichen Ereignisse nichts als Vorwände sind; aber doch ist an dieser Behauptung etwas Wahres: das Fantastische ermöglicht es, be­ stimmte Grenzen zu überschreiten, die ohne seine Unterstützung un­ antastbar wären. Wenn wir uns die übernatürlichen Elemente, wie wir sie oben aufgezählt haben, noch einmal ansehen, sehen wir, daß diese Bemerkung keineswegs aus der Luft gegriffen ist. Nehmen wir bei­ spielsweise die du-Themen: Inzest, Homosexualität, Liebe zu mehreren, Nekrophilie, exzessive Sinnlichkeit ... Man hat den Eindruck, eine Liste verbotener Themen zu lesen, die von irgendeiner Zensur auf­ gestellt worden ist: jedes dieser Themen ist tatsächlich oft verboten worden und kann noch heute verboten werden. Die fantastische Fär­ bung hat übrigens nicht immer die Werke vor der Strenge der Zensoren bewahren können; The Monk z. B. wurde sofort bei seinem Wieder erscheinen erneut verboten. Neben der institutionalisierten Zensur gibt es eine zweite, subtilere und allgemeinere: die, die in der Psyche der Autoren selbst am Werk ist. Die Bestrafung bestimmter Handlungen durch die Gesellschaft pro­ voziert, daß das Individuum sich selbst unter Strafandrohung verbietet, gewisse. tabuisierte Themen zu berühren. Mehr als ein solch schlichter Vorwand, ist das Fantastische ein Mittel des Kampfes gegen die eine wie die andere Zensur: die Entfesselung der Sexualität wird von der Zensur, welcher auch immer, leichter akzeptiert, wenn man sie dem Teufel auf die Rechnung setzt. Wie das Netz der du-Themen direkt aus Tabus und damit aus der Zensur hervorgeht, so lassen sich auch die ich-Themen, wenn auch auf

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weniger direkte Weise, darauf zurückführen. Nickt zufällig verweist diese andere Gruppe auf den Wahnsinn. Das Denken des Psychotikers wird von der Gesellschaft nickt weniger hart verurteilt als der Krimi­ nelle, der die Tabus verletzt: der Verrückte wird, genau wie jener, ein­ gesperrt. Sein Gefängnis heißt Heilanstalt. Und ebensowenig zufällig ist, daß die Gesellschaft den Drogengebrauch niederhält und auch die wieder einsperrt, die davon Gebrauch machen. Denn die Drogen brin­ gen eine Denkweise hervor, die für verwerflich gehalten wird. Man kann folglich das Verdammungsurteil, mit dem beide Themen­ Netze belegt sind, schematisieren und sagen, daß die Einführung über­ natürlicher Elemente ein Hilfsmittel ist, um diesem Urteil zu entgehen. Wir verstehen jetzt besser, weshalb unsere Typologie der Themen mit der der Geisteskrankheiten zusammentraf: es ist die Funktion des Übernatürlichen, den Text dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen und es gleichzeitig zu übertreten. Es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen den persönlichen Möglichkeiten, die ein Autor des 19. Jahrhunderts hatte, und denen eines Autors unserer Zeit. Wir erinnern uns, welchen Umweg – das ganze ambivalente Spiel mit dem Vampirismus – Gautier einschlagen mußte, um uns die Nekrophilie seines Helden zu beschreiben. Lesen wir, um abschätzen zu können, wie weit wir heute davon entfernt sind, nock einmal eine Seite aus Le Bleu du ciel von Georges Bataille, auf der es um dieselbe Perversion geht. Als man ihn bittet, doch deutlich zu werden, antwortet der Erzähler: »Das einzige Erlebnis, das ick hatte, bestand darin, daß ich eine Nackt in einer Wohnung verbracht habe, in der soeben eine alte Frau gestorben war; sie lag auf ihrem Bett wie andere auch, zwischen zwei Kerzen, die Arme längs des Körpers, die Hände nickt gefaltet. Es war Nacht, niemand war im Zimmer. In jenem Augenblick wurde ich mir darüber klar. – Wie? – Ich wurde gegen drei Uhr in der Frühe wach. Ich kam auf den Gedanken, in das Zimmer zu gehen, in dem die Leiche lag. Ich war starr vor Schrecken, aber so sehr ick auch zitterte, ich blieb vor dem Leichnam stehen. Schließlich zog ick meinen Pyjama aus. – Wie weit sind Sie gegangen? – Ick habe mich nicht gerührt. Ich war so verwirrt, daß ich fast den Ver­ stand darüber verloren hätte; es überkam mich einfack beim bloßen Ansehen. – War die Frau noch schön? – Nein. Vollkommen verblüht« (p. 46). Weshalb kann Bataille sick erlauben, direkt ein Verlangen zu be­ schreiben, das Gautier nur indirekt zu evozieren wagt? Folgende Ant­ wort könnte man vorschlagen: in dem Zeitraum, der zwischen der Publikation der beiden Bücker liegt, ist ein Ereignis eingetreten, dessen 142

bekannteste Folge das Erscheinen der Psychoanalyse ist. Man beginnt heute bereits zu vergessen, auf welchen Widerstand die Psychoanalyse in ihren Anfängen gestoßen ist, und zwar nicht nur seitens der Wissen­ schaftler, die ihr keinen Glauben schenkten, sondern auch und besonders seitens der Gesellschaft. In der menschlichen Psyche hat sich ein Wandel vollzogen, dessen Zeichen die Psychoanalyse ist. Derselbe Wandel hat die Errichtung jener gesellschaftlichen Zensur provoziert, die es verbot, gewisse Themen zu behandeln und die ganz gewiß im 19. Jahrhundert die Publikation von Le Bleu du ciel nicht zugelassen hätte. (Wie dieses Buch natürlich zu der Zeit auch nicht hätte geschrieben werden können. Zwar hat de Sade im 18. Jahrhundert gelebt, aber zum einen ist, was im 18. Jahrhundert möglich war, nicht notwendig auch im 19. Jahr­ hundert möglich, und zum anderen implizieren die Trockenheit und Einfachheit der Beschreibung bei Bataille eine Haltung des Erzählers, die früher undenkbar gewesen wäre.) Dies alles soll nicht heißen, daß das Erscheinen der Psychoanalyse die Tabus zerstört hat: sie haben sich einfach verschoben. Gehen wir noch weiter: die Psychoanalyse hat die fantastische Lite­ ratur ersetzt (und damit überflüssig gemacht). Man hat es heute nicht mehr nötig, auf den Teufel zurückzugreifen, um über eine exzessive sexuelle Begierde sprechen zu können, wie man auch der Vampire nicht länger bedarf, um deutlich zu machen, welche Anziehungskraft von Leichen ausgeht: die Psychoanalyse und die Art der Literatur, die, direkt oder indirekt, von ihr inspiriert ist, handeln davon in unverhüll­ ten Begriffen. Die Themen der fantastischen Literatur sind buchstäblich zum Gegenstand der psychoanalytischen Forschung der letzten fünfzig Jahre geworden. Mehrere Beispiele haben uns das veranschaulicht. Es mag daher genügen, an dieser Stelle zu erwähnen, daß der Doppelgän­ ger beispielsweise schon zu Freuds Zeit Thema einer klassischen Studie gewesen ist (Der Doppelgänger von Otto Rank); das Thema Teufel ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen (Der eigene und der fremde Gott von Th. Reik, Der Alptraum in seiner Beziehung zu ge­ wissen Formen des mittelalterlichen Aberglaubens von Ernest Jones) usw. Freud selbst hat einen Fall von Teufelsneurose im 19.Jahrhundert untersucht und stellt dort, im Anschluß an Charcot, fest: »Wir dürfen nicht erstaunt sein, wenn die Neurosen dieser frühen Zeiten im dämo­ nologischen Gewande auftreten« (XIII, p. 317). »Ich will noch ein anderes, weniger evidentes Beispiel für die An­ näherung zwischen den Themen der fantastischen Literatur und denen der Psychoanalyse anführen. Wir haben am Netz der ich-Themen etwas beobachtet, was wir das Wirken des Pan-Determinismus genannt haben.

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Das ist eine verallgemeinerte Kausalität, die die Existenz des Zufalls nicht gelten läßt und statt dessen behauptet, daß zwischen allen Fakten direkte Beziehungen bestehen, wenn uns diese im allgemeinen auch ent­ gehen. Nun macht die Psychoanalyse jedoch eben diesen Determinismus zumindest für das Feld der psychischen Aktivität des Menschen unein­ geschränkt geltend. »Nun gibt es aber nichts Willkürliches, Undeter­ miniertes im Psychischen« schreibt Freud in Zur Psychopathologie des Alltagslebens (IV, p. 270 f.). Von daher läßt sich begreifen, daß die Domäne des Aberglaubens, der nichts anderes ist als der Glaube an den Pan-Determinismus, zu den Hauptbetätigungsfeldern des Psychoanaly­ tikers zählt. Freud deutet in seinem Kommentar an, welche Verschie­ bung die Psychoanalyse in diesem Bereich herbeiführen kann. »Der Römer, der eine wichtige Unternehmung aufgab, wenn ihm ein widriger Vogelflug begegnete, war also relativ im Recht; er handelte konsequent nach seinen Voraussetzungen. Wenn er aber von der Unternehmung abstand, weil er an der Schwelle seiner Tür gestolpert war (›un romain retournerait,), so war er uns Ungläubigen auch absolut überlegen, ein besserer Seelenkundiger, als wir uns zu sein bemühen. Denn dieses Stolpern mußte ihm die Existenz des Zweifels, einer Gegenströmung in seinem Innern beweisen, deren Kraft sich im Moment der Ausfüh­ rung von der Kraft seiner Intention abziehen konnte« (IV, p. 288). Hier nimmt der Psychoanalytiker eine Haltung ein, die der des Erzäh­ lers einer fantastischen Geschichte analog ist, der behauptet, daß zwi­ schen scheinbar von einander unabhängigen Fakten eine Kausalbezie­ hung besteht. Daher ist die nachfolgende ironische Bemerkung Freuds aus mehr als einem Grund gerechtfertigt: »Das Mittelalter hat konsequenterweise und psychologisch beinahe korrekt alle diese Krankheitsäußerungen der Wirkung von Dämonen zugeschrieben. Ja, ich würde mich nicht ver­ wundern zu hören, daß die Psychoanalyse, die sich mit der Aufdeckung dieser geheimen Kräfte beschäftigt, vielen Menschen darum selbst un­ heimlich geworden ist« (XII, p. 257). Kehren wir nach dieser Prüfung der sozialen Funktion des Über­ natürlichen zur Literatur zurück, um jetzt die Funktionen des Über­ natürlichen innerhalb des Werks selbst zu beobachten. Wir haben diese Frage schon einmal beantwortet: abgesehen von den Allegorien, wo das übernatürliche Element darauf abzielt, eine Idee besser zu veranschau­ lichen, haben wir drei Funktionen unterschieden. Eine pragmatische Funktion: das Übernatürliche bewegt, erschreckt oder hält den Leser in Spannung; eine semantische Funktion: das Übernatürliche konsti­ tuiert seine eigene Manifestation, was sich als Selbst-Bestimmung be­ 144

zeichnen läßt; schließlich eine syntaktische Funktion: es tritt, wie wir gesagt haben, in die Entwicklung der Erzählung ein. Direkter als die beiden anderen ist diese dritte Funktion mit der Totalität des litera­ rischen Werks verbunden. Es ist an der Zeit, sie ausführlich darzulegen. Es liegt eine merkwürdige Obereinstimmung vor zwischen den Auto­ ren, die das Übernatürliche kultivieren und denen, die in ihrem Werk sich besonders die Entwicklung der Handlung angelegen sein lassen oder die, wenn man so will, in erster Linie Geschichten erzählen wollen. Im Märchen haben wir die erste und auch die stabilste Form der Erzäh­ lung: und eben in dieser Art Erzählung findet man vor allem über­ natürliche Elemente. Die Odyssee, das Decamerone und Don Quixote enthalten alle, wenn auch in unterschiedlichem Grade, übernatürliche Elemente; gleichzeitig sind sie die größten Erzählungen der Vergangen­ heit. In der modernen Zeit verhält es sich nicht anders: Erzähler wie Balzac, Mérimée, Hugo, Flaubert und Maupassant schreiben auch fan­ tastische Geschichten. Man kann behaupten, daß hier ein innerer Zu­ sammenhang besteht. Es gibt Verfasser von Geschichten, deren Erzäh­ lungen das Übernatürliche nicht in Anspruch nehmen. Das Zusammen­ treffen bleibt jedoch häufig genug, um nicht nur zufällig sein zu können. H. P. Lovecraft hat diese Tatsache hervorgehoben: »Wie die meisten Erzähler des Fantastischen«, so schreibt er, »ist Poe in seinem Element, wo es um das Ereignis und um die erzählerischen Effekte im weiteren Sinne, die Zeichnung der Personen, geht« (p. 59). Wenn wir versuchen wollen, diese Koinzidenz zu erklären, müssen wir einen Augenblick bei der Frage nach der Natur der Erzählung selbst verweilen. Dabei wollen wir von der Konstruktion eines Bildes der Minimal-Erzählung ausgehen, nicht also von der, die sich gewöhnlich in den modernen Texten findet, sondern von diesem Kern, ohne den von Erzählung nicht gesprochen werden kann. Das Bild wäre folgendes: Jede Erzählung ist Bewegung zwischen zwei ähnlichen, jedoch nicht identischen Gleichgewichtszuständen. Am Anfang der Erzählung gibt es stets eine stabile Situation, die Personen bilden eine Konfiguration, die zwar in sich bewegt sein kann, wobei jedoch nichtsdestoweniger eine gewisse Anzahl von Grundzügen unangetastet bleibt. Sagen wir, ein Kind lebt im Schoß der Familie; es ist Teil einer Mikro-Gesellschaft, die ihre eigenen Gesetze hat. Dann geschieht irgend etwas, das die Ruhe stört, ein Ungleichgewicht herbeiführt (oder, wenn man so will, ein negatives Gleichgewicht); so verläßt das Kind aus diesem oder jenem Grunde sein Elternhaus. Am Ende der Geschichte reintegriert sich das inzwischen erwachsene Kind, nachdem es mancherlei Hindernis über­ wunden hat, wieder ins elterliche Haus. Das Gleichgewicht ist also 145

wieder hergestellt, aber es ist nicht mehr dasselbe wie zu Beginn: das Kind ist kein Kind mehr, es ist ein Erwachsener unter anderen gewor­ den. Die elementare Erzählung umfaßt also zwei Typen von Episoden: solche, die einen Zustand der Gleichgewichtigkeit oder der Ungleich­ gewichtigkeit beschreiben und solche, die den Übergang vom einen Zustand zum anderen beschreiben. Die ersteren sind den letzteren ent­ gegengesetzt wie das Statische dem Dynamischen, wie die Stabilität der Modifikation, wie das Adjektiv dem Verb. Jede Erzählung umfaßt dieses Grundschema, wenn es sich auch oft nur schwer erkennen läßt: man kann Anfang oder Ende weglassen, Abschweifungen einschalten oder vollständige andere Erzählungen usw. Wir wollen jetzt versuchen, den übernatürlichen Ereignissen in die­ sem Schema ihre Stelle zuzuweisen. Nehmen wir beispielsweise Die Geschichte von Kamar EZ-ZAMAN in Tausendundeine Nacht. Dieser Kamar EZ-ZAMAN ist der Sohn des Königs von Persien, und er ist der klügste und schönste junge Mann nicht nur im ganzen Königreich, sondern noch über die Grenzen hinaus. Eines Tages beschließt sein Vater, ihn zu verheiraten. Der junge Prinz jedoch entdeckt plötzlich seine unüberwindliche Abneigung gegen Frauen und weigert sich kate­ gorisch zu gehorchen. Um ihn zu bestrafen, sperrt sein Vater ihn in einen Turm. Hier haben wir eine Situation (der Ungleichgewichtigkeit), die durchaus zehn Jahre fortdauern könnte. In diesem Moment kommt das übernatürliche Element ins Spiel. Die Fee Maimoune entdeckt eines Tages auf einem ihrer Streifzüge den schönen jungen Mann und ist von ihm entzückt. Darauf trifft sie einen Geist namens Danhasch, der wie­ derum die Prinzessin von China kennt, die natürlich die schönste Prin­ zessin der Welt ist und sich hartnäckig weigert zu heiraten. Um die Schönheit der beiden Helden vergleichen zu können, bringen die Fee und der Geist die schlummernde Prinzessin in das Bett des ebenfalls schlummernden Prinzen. Dann wecken sie beide auf und beobachten sie. Daran schließt sich eine ganze Reihe Abenteuer an, in deren Ver­ lauf Prinz und Prinzessin nach dieser flüchtigen nächtlichen Begegnung sich wiederzufinden suchen. Am Schluß kommen sie wieder zueinander und gründen ihrerseits eine Familie. Wir haben hier ein anfängliches und ein abschließendes Gleichgewicht, die völlig realistisch sind. Das übernatürliche Ereignis tritt ein, um das dazwischenliegende Ungleichgewicht zu durchbrechen und die lange Suche nach dem zweiten Gleichgewicht zu provozieren. Das Über­ natürliche erscheint in der Reihe von Episoden, die den Übergang von dem einen Zustand zum anderen beschreiben. Was sollte denn auch besser die stabile Ausgangssituation stören können, die zu konsolidieren

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alle Teilnehmer bestrebt sind, als gerade ein äußeres Ereignis, nicht nur ein der Situation äußerliches, sondern eines, das der Welt selbst äußer­ lich ist? Ein festes Gesetz, eine etablierte Regel immobilisieren die Erzählung. Damit die Übertretung des Gesetzes eine rasche Modifikation herbei­ führen kann, trifft es sich gut, daß übernatürliche Kräfte eingreifen; andernfalls läuft die Erzählung Gefahr, sich im Warten darauf, daß ein menschlicher Gerichtsherr der Störung des anfänglichen Gleichge­ wichts gewahr wird, nur noch dahinzuschleppen. Erinnern wir uns an die Geschichte des zweiten Bettelmönches: dieser befindet sich im unterirdischen Gemach der Prinzessin; er kann dort bleiben, solange es ihm beliebt, und sich ihrer Gesellschaft und der raffi­ nierten Speisen erfreuen, die sie ihm vorsetzt. Für die Erzählung wäre das jedoch tödlich. Glücklicherweise besteht ein Verbot, eine Regel: der Talisman des Geistes darf nicht berührt werden. Natürlich wird unser Held dies jedoch alsbald tun; und die Situation wird sich um so schnel­ ler verändern, als der Gerichthaltende mit einer übernatürlichen Kraft begabt ist. »Als ich aber ... mit dem Fuß gewaltig gegen die Nische gestoßen hatte, siehe da wurde die Luft plötzlich dunkel, es donnerte und blitzte, die Erde bebte, und alles wurde unsichtbar« (I, p. 138). Oder lesen wir die Geschichte des dritten Bettelmönches: hier lautet das Gesetz, daß der Name Gottes nicht ausgesprochen werden darf. Indem er es verletzt, provoziert der Held das Eingreifen des Übernatürlichen: sein Fährmann – »der Bronzemensch« – stürzt kopfüber ins Wasser. Weiter unten verbietet das Gesetz, ein bestimmtes Zimmer zu betreten; als er es verletzt, sieht sich der Held einem Pferd gegenüber, das ihn in den Himmel entführt ... Die Handlung erhält dadurch einen mäch­ tigen Auftrieb. Jede Störung der stabilen Situation wird in diesen Beispielen gefolgt von einem übernatürlichen Eingriff. Das wunderbare Element erweist sich als das narrative Material, das aufs beste die präzis bestimmte Funktion ausfüllt, eine Modifikation der vorhergehenden Situation her­ beizuführen und das etablierte Gleichgewicht (oder Ungleichgewicht) zu durchbrechen. Zwar läßt sich sagen, daß sich eine solche Modifikation auch mit anderen Mitteln erreichen läßt, doch sind diese weniger wirkungsvoll. Wenn das Übernatürliche gewöhnlich im Zusammenhang mit der Erzählung einer Handlung auftritt, so ist es entsprechend selten, daß es in einem Roman vorkommt, der sich nur auf Beschreibungen oder psychologische Analysen stützt (das Beispiel Henry James’ steht dazu nicht im Widerspruch). Das Verhältnis des Übernatürlichen zum Er­ 147

zählen wird von daher klar: jeder Text, in den es eintritt, ist eine Erzählung, denn das übernatürliche Element modifiziert zunächst das – entsprechend der Definition der Erzählung überhaupt – bestehende Gleichgewicht; nun enthält aber nicht jede Erzählung übernatürliche Elemente, wenn auch zwischen jener und diesen insoweit eine Affinität besteht, als das Übernatürliche die narrative Modifikation auf die schnellste Weise realisiert. Es läßt sich endlich erkennen, in welcher Hinsicht soziale Funktion und literarische Funktion des Übernatürlichen zusammenfallen: es han­ delt sich hier wie dort um eine Gesetzesübertretung. Sei es nun inner­ halb des sozialen Lebens oder der Erzählung – der Eintritt des über­ natürlichen Elements konstituiert stets einen Bruch innerhalb des Systems präetablierter Regeln und findet darin seine Rechtfertigung. Schließlich kann man nach der Funktion des Fantastischen selbst fragen, d. h. nicht länger nach der Funktion des übernatürlichen Ele­ ments, sondern nach der der Reaktion, die dieses hervorruft. Diese Frage erscheint um so interessanter, als das Fantastische im Gegensatz zum Übernatürlichen und der Gattung, die dieses wörtlich nimmt, dem Wunderbaren, die beide seit je in der Literatur existiert haben und noch heute praktiziert werden, eine relativ kurze Lebensdauer gehabt hat. Systematisch ist es erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts – bei Cazotte – in Erscheinung getreten; ein Jahrhundert später findet man in den Novellen Maupassants die letzten ästhetisch befriedigenden Beispiele der Gattung. Man kann in anderen Epochen auf Beispiele der fanta­ stischen Unschlüssigkeit treffen, aber nur ausnahmsweise wird dort diese Unschlüssigkeit durch den Text selbst thematisiert. Gibt es einen Grund für diese Kurzlebigkeit? Oder, weiter gefragt: weshalb existiert die fantastische Literatur nicht mehr? Wenn wir versuchen wollen, diese Fragen zu beantworten, müssen wir die Kategorien, mit Hilfe derer wir das Fantastische beschreiben konnten, genauer untersuchen. Der Leser und der Held müssen, wie wir gesehen haben, entscheiden, ob dieses oder jenes Phänomen der Realität oder dem Imaginären angehören, ob es also real ist oder nicht. Es ist folglich die Kategorie des Realen, die für unsere Definition des Fanta­ stischen grundlegend gewesen ist. Wir sind uns kaum dieser Tatsache bewußt geworden, als wir schon erstaunt innehalten müssen. Per definitionem geht die Literatur über die Unterscheidung zwischen Realem und Imaginärem, über das, was ist und was nicht ist, hinaus. Man kann sogar sagen, daß es zum Teil der Literatur und der Kunst zu verdanken ist, daß es unmöglich wird,

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diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. Die Literaturtheoretiker haben es wiederholt gesagt. So etwa Blanchot: »Die Kunst ist und ist nicht, wirklich genug, um Weg zu werden, zu irreal, um sich in ein Hindernis zu verwandeln. Die Kunst ist ein als ob« (La part du feu, p. 26). Und Northrop Frye: »Literatur wie Mathematik gehen von Postulaten aus, nicht von Tatsachen (...) Beide treiben ferner einen Keil zwischen die Antithese von Sein und Nicht-Sein, die für das begriffliche Denken so wichtig ist. (...) Die gleiche Art der Hypothese besteht in der Literatur, wo Hamlet oder Falstaff weder existieren noch nicht existieren« (Analyse der Literaturkritik, p. 350 f.). Auf noch allgemeinere Weise bestreitet die Literatur jegliche An­ wesenheit der Dichotomie. Es liegt in der Natur der Sprache selbst, das Sagbare in unzusammenhängende Stücke zu zerteilen. Die Bezeichnung schließt, insofern sie eine oder mehrere Eigenschaften des Begriffs, den sie konstituiert, auswählt, alle anderen Eigenschaften aus und läßt die Antithese auf diesen und auf sein Gegenteil folgen. Nun besteht die Literatur zwar durch die Wörter, aber ihre dialektische Bestimmung ist es, mehr zu sagen als die Sprache sagt, die verbalen Einteilungen zu überschreiten. Sie ist innerhalb der Sprache das, was die jeder Sprache inhärente Metaphysik zerstört. Dem literarischen Diskurs eignet das Darüberhinaus; die Literatur ist wie eine mörderische Waffe, mittels derer die Sprache ihren Selbstmord begeht. Wenn es sich aber so verhält, wäre dann diese Spielart der Literatur, die sich auf sprachliche Oppositionen wie die des Realen und des Irrea­ len gründet, keine Literatur? Die Dinge sind in Wirklichkeit komplexer: durch die Unschlüssigkeit, die sie entstehen läßt, stellt die fantastische Literatur gerade die Exi­ stenz einer irreduktiblen Opposition zwischen Realem und Irrealem in Frage. Um aber eine Opposition negieren zu können, muß man zu­ nächst die Elemente der Gegensätzlichkeit erkennen; um ein Opfer vollbringen zu können, muß man wissen, was denn geopfert werden soll. So erklärt sich der ambivalente Eindruck, den die fantastische Literatur hinterläßt: einerseits repräsentiert sie die Quintessenz der Literatur, insofern sie nämlich die Infragestellung der Grenze zwischen Realem und Irrealem, wie sie jeder Literatur eigen ist, explizit zum Zentrum hat. Andererseits wiederum ist sie nur eine Propädeutik der Literatur: während sie die Metaphysik der Alltagssprache bekämpft, verhilft sie ihr doch zum Leben; sie muß von der Sprache ausgehen, auch wenn es nur darum ginge, sie zurückzuweisen. Wenn bestimmte imaginäre Ereignisse innerhalb des Universums eines Buches sich ausdrücklich als solche zu erkennen geben, bestreiten 149

sie dadurch die imaginäre Beschaffenheit des restlichen Buches. Wenn eine solche Erscheinung nicht die Ausgeburt einer überhitzten Ein­ bildungskraft ist, so heißt das, daß alles, was sie umgibt, real ist. Weit davon entfernt, ein Lobgesang des Imaginären zu sein, setzt die fan­ tastische Literatur den größten Teil des Textes als dem Realen zu­ gehörig, oder, genauer gesagt, als von diesem provoziert; der Text als solcher ist also eine Bezeichnung für bereits Existierendes. Die fanta­ stische Literatur gibt uns zwei Begriffe an die Hand, den der Realität und den der Literatur, wobei der eine so wenig zufriedenstellend ist wie der andere. Das 19. Jahrhundert war zwar in einer Metaphysik des Realen und des Imaginären befangen, und die fantastische Literatur ist nichts ande­ res als das schlechte Gewissen des positivistischen 19. Jahrhunderts. Man kann aber heute nicht mehr an eine unveränderliche äußere Realität glauben und ebensowenig an eine Literatur, die die Transskription die­ ser Realität wäre. Die Wörter haben die Autonomie gewonnen, die die Dinge verloren haben. Die Literatur, die diese andere Sichtweise immer bekräftigt hat, ist zweifellos eine der Triebfedern dieser Entwicklung. Die fantastische Literatur selbst, die Seite um Seite linguistische Kate­ gorisierungen umkehrt, hat dadurch den todbringenden Stoß erhalten; aus diesem Tod jedoch, aus diesem Selbstmord, ist eine neue Literatur hervorgegangen. Nun ist es wohl nicht zu anmaßend zu behaupten, daß die Literatur des 20. Jahrhunderts in gewissem Sinne mehr »Literatur« ist als jede andere. Das ist natürlich nicht als Werturteil aufzufassen: es ist sogar möglich, daß gerade aufgrund dieser Tatsache ihre Qualität geringer geworden ist. Was ist im 20. Jahrhundert aus der Erzählung des Übernatürlichen geworden? Nehmen wir den zweifellos berühmtesten der Texte, die sich in diese Kategorie einreihen lassen: Kafkas Die Verwandlung. Hier wird über das übernatürliche Ereignis im allerersten Satz des Textes berichtet: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt« (p. 71). Es gibt im weiteren Verlauf des Textes einige Anzeichen für eine mögliche Unschlüssigkeit. Gregor glaubt zuerst zu träumen, ist jedoch schnell vom Gegenteil überzeugt. Dennoch verzichtet er nicht sofort darauf, eine rationale Erklärung zu finden; man teilt uns mit: »(...) er war gespannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden. Daß die Veränderung der Stimme nichts anderes war als der Vorbote einer tüchtigen Verkühlung, einer Berufs­ krankheit der Reisenden, daran zweifelte er nicht im geringsten« (p. 75). Diese sprachlichen Hinweise auf eine Unschlüssigkeit gehen jedoch in

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der allgemeinen Bewegung der Erzählung unter, an der das Über­ raschendste eigentlich das Fehlen des Überraschtseins angesichts dieses unerhörten Ereignisses ist; es ist hier gekappt wie in Gogols Die Nase. (»Man kann sich nicht genug über diesen Mangel an Verwunderung verwundern«, sagt Camus in bezug auf Kafka.) Nach und nach akzep­ tiert Gregor seine Situation als zwar ungewöhnlich, aber alles in allem doch möglich. Als dann der Prokurist der Firma, bei der er beschäftigt ist, ihn suchen kommt, ist Gregor so verärgert, daß er sich fragt, »ob nicht auch einmal dem Prokuristen etwas Ähnliches passieren könnte, wie heute ihm; die Möglichkeit dessen mußte man doch eigentlich zu­ geben« (p. 79 f.). Er beginnt dem neuen Zustand, der ihn von jeder Verantwortung befreit und bewirkt, daß man sich um ihn kümmert, etwas Tröstliches abzugewinnen. »Würden sie erschrecken«, sagt er sich in bezug auf seine Eltern, »dann hatte Gregor keine Verantwortung mehr und konnte ruhig sein. Würden sie aber alles ruhig hinnehmen, dann hatte er auch keinen Grund sich aufzuregen« (p. 83 f.). Bald be­ fällt ihn Resignation; er kommt schließlich zu dem Schluß, »daß er sich vorläufig ruhig verhalten und durch Geduld und größte Rücksicht­ nahme der Familie die Unannehmlichkeiten erträglich machen müsse, die er ihr in seinem gegenwärtigen Zustand nun einmal zu verursachen gezwungen war« (p. 96). Diese Sätze scheinen sich sämtlich auf ein durchaus mögliches Ereig­ nis, einen Beinbruch etwa, zu beziehen und nicht auf die Verwandlung eines Menschen in Ungeziefer. Gregor gewöhnt sich allmählich an die Vorstellung von seiner tierischen Existenz: zunächst physisch, indem er menschliche Nahrung und menschliche Vergnügungen ablehnt; ebenso aber auch geistig: er kann sich nicht mehr auf sein eigenes Urteil ver­ lassen, als es um die Entscheidung geht, ob Husten menschlich sei oder nicht. Als er seine Schwester im Verdacht hat, ihm ein Bild wegnehmen zu wollen, auf das er sich bevorzugt setzt, ist er bereit, »Grete ins Gesicht [zu] springen« (p. 113). Es ist dann nicht weiter erstaunlich zu sehen, wie Gregor sich glei­ chermaßen mit dem Gedanken an seinen Tod abfindet, der von seiner Familie sehnlichst herbeigewünscht wird. »An seine Familie dachte er mit Rührung und Liebe zurück. Seine Meinung darüber, daß er ver­ schwinden müsse, war womöglich noch entschiedener als die seiner Schwester« (p. 136). Die Reaktion der Familie folgt einer analogen Entwicklung; zuerst herrscht Überraschung, aber keine Unschlüssigkeit; darauf folgt sofort die erklärte Feindseligkeit des Vaters. Schon in der ersten Szene trak­ tiert er Gregor: »Unerbittlich drängte der Vater und stieß Zischlaute

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aus« (p. 9.2). Gregor ist sich dieser Feindseligkeit stets bewußt: »(...) er wußte ja noch vom ersten Tage seines neuen Lebens her, daß der Vater ihm gegenüber nur die größte Strenge für angebracht ansah« (p. 116). Seine Mutter hört nicht auf, ihn zu lieben, ist jedoch völlig außerstande, ihm zu helfen. Was seine Schwester angeht, die ihm zu Beginn am nächsten steht, so geht sie schnell zur Resignation über und fällt schließlich in erklärten Haß. Als Gregor dem Tod nahe ist, faßt sie die Empfindungen der ganzen Familie folgendermaßen zusammen: »... wir müssen versuchen, es loszuwerden. Wir haben das Menschenmögliche versucht, es zu pflegen und zu dulden, ich glaube, es kann uns niemand den geringsten Vorwurf machen« (p. 133). Wenn die Ver­ wandlung Gregors, der ihre einzige Verdienstquelle war, seine Familie auch anfangs betrübt hat, allmählich zeitigt sie doch eine positive Wir­ kung: die drei anderen fangen wieder zu arbeiten an, sie erwachen zum Leben. »Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, daß diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren, denn aller drei Anstellungen waren, worüber sie einander eigentlich noch gar nicht ausgefragt hatten, überaus günstig und besonders für später vielversprechend« (p. 141 f.). Und der Zug, mit dem die Novelle endet, ist jener »Gipfelpunkt des Grauenhaften«, wie Blanchot es nennt, das Erwachen der Schwester zu einem neuen Leben, zur Wollust. Wenn wir an diese Erzählung mit den Kategorien herangehen, die wir zuvor erarbeitet haben, stellen wir fest, daß sie sich von den tra­ ditionellen fantastischen Geschichten stark unterscheidet. Zunächst ein­ mal tritt das unheimliche Ereignis nicht nach einer Reihe indirekter Andeutungen ein, nicht als Höhepunkt einer stufenweisen Steigerung: es ist bereits im allerersten Satz enthalten. Die fantastische Erzählung ging von einer vollkommen natürlichen Situation aus, um beim Übernatürlichen zu enden, Die Verwandlung hingegen nimmt beim über­ natürlichen Ereignis ihren Anfang, um jenem dann im Verlauf der Erzählung ein immer natürlicheres Ansehen zu geben. Und der Schluß der Geschichte ist vom Übernatürlichen am allerweitesten entfernt. In­ folgedessen wird jede Unschlüssigkeit hinfällig: sie diente dazu, die Wahrnehmung des unerhörten Ereignisses vorzubereiten, sie kennzeichnete den Übergang vom Natürlichen zum Übernatürlichen. Hier findet sich eine konträre Bewegung beschrieben: die der Anpassung, die auf das unerklärliche Ereignis folgt; und sie kennzeichnet den Übergang vom Übernatürlichen zum Natürlichen. Unschlüssigkeit und Anpassung kennzeichnen zwei symmetrische und umkehrbare Vorgänge. Man kann wiederum aus der Tatsache, daß es an Unschlüssigkeit, ja

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an Erstaunen mangelt und daß übernatürliche Elemente vorkommen, dicht folgern, daß wir uns in einem anderen uns bekannten Genre, dem Wunderbaren, befinden. Das Wunderbare impliziert, daß wir in eine Welt versunken sind, in der Gesetze herrschen, die von denen unserer Welt vollkommen verschieden sind. Von daher sind ja auch die übernatürlichen Ereignisse, die eintreten, nicht im geringsten beunruhi­ gend. In Die Verwandlung handelt es sich hingegen sehr wohl um ein schockierendes, unmögliches Ereignis, was paradoxerweise jedoch am Ende möglich wird. In diesem Sinne beruhen Kafkas Erzählungen gleichzeitig auf dem Wunderbaren und dem Unheimlichen, sie sind die Koinzidenz der beiden offensichtlich unvereinbaren Gattungen. Das Übernatürliche ist nicht von der Hand zu weisen und hört doch nicht auf, uns unannehmbar zu erscheinen. Auf den ersten Blick ist man versucht, der Verwandlung eine alle­ gorische Bedeutung zuzusprechen. Versucht man dann jedoch, diese Bedeutung genauer zu bestimmen, stößt man auf ein Phänomen, das dem an Gogols Die Nase beobachteten sehr ähnelt (wie Victor Erlich unlängst nachgewiesen hat, ist die Ähnlichkeit der beiden Erzählungen nicht nur auf diesen einen Punkt beschränkt). Gewiß kann man mehrere allegorische Interpretationen des Textes vorschlagen; er enthält jedoch keinerlei ausdrücklichen Hinweis, der die eine oder andere von ihnen bestätigen würde. Man hat über Kafka oft gesagt, seine Erzählungen seien vor allem als Erzählungen, also auf wörtlicher Ebene, zu lesen. Das in Die Verwandlung beschriebene Ereignis ist durchaus so real wie jedes andere literarische Ereignis. Hier ist anzumerken, daß die besten Science-Fiction-Texte auf analoge Weise organisiert sind. Die anfänglichen Gegebenheiten sind übernatürlich: die Roboter, die Außerirdischen, der interplanetarische Schauplatz. Die Erzählung hat ihren Antrieb darin, uns zu der Einsicht zu zwingen, wie nahe uns diese anscheinend wunderbaren Elemente in Wirklichkeit sind, in welchem Maße sie in unserem Leben gegenwärtig sind. Eine Novelle von Robert Sheckley beginnt mit einer außergewöhn­ lichen Operation, die darin besteht, einem menschlichen Hirn einen Tierkörper aufzupfropfen; am Ende zeigt sie uns, was alles noch der normalste Mensch mit dem Tier gemeinsam hat (franz. Le Corps). Eine andere fängt mit der Beschreibung einer unwahrscheinlichen Organisa­ tion an, die einen von der Existenz unerwünschter Personen befreit; wenn die Erzählung endet, geht einem auf, daß eine solche Vorstellung jedem Menschen vertraut ist (Martality Inc.). Hier macht der Leser den Anpassungsprozeß durch: zunächst mit einem übernatürlichen Faktum konfrontiert, erkennt er am Schluß dessen »Natürlichkeit« an. 153

Was bedeutet eine derartige Struktur der Erzählung? Im Bereich des Fantastischen wird das unheimliche Ereignis vor dem Hintergrund dessen, was als normal und natürlich gilt, wahrgenommen; die Über­ tretung der Naturgesetze machte uns ihrer um so mehr bewußt. Bei Kafka bewirkt das übernatürliche Ereignis keine Unschlüssigkeit mehr, denn die beschriebene Welt ist völlig bizarr, ebenso anormal wie das Ereignis selbst, das auf ihrem Boden geschieht. Wir finden hier (um­ gekehrt) das Problem der fantastischen Literatur wieder – einer Lite­ ratur, die die Existenz des Realen, des Natürlichen, des Normalen postuliert, um dann in diese Welt eine Bresche zu schlagen; Kafka aber ist es gelungen darüber hinauszukommen. Er behandelt das Irrationale als zum Spiel gehörig: seine Welt gehorcht insgesamt einer traumhaften, wenn nicht alptraumhaften, Logik, die mit dem Realen nichts mehr zu tun hat. Selbst wenn beim Leser noch eine gewisse Unschlüssigkeit fort­ besteht, so doch nie mehr bei der handelnden Person; und die Identi­ fizierung, wie sie zuvor zu beobachten war, ist nicht mehr möglich. Die Kafkasche Erzählung läßt das außer acht, was wir die zweite Bedin­ gung des Fantastischen genannt haben: die innerhalb des Textes selbst dargestellte Unschlüssigkeit, die insbesondere die Beispiele des 19. Jahr­ hunderts kennzeichnet. Sartre hat im Zusammenhang mit den Romanen Blanchots und Kafkas eine Theorie des Fantastischen vorgeschlagen, die dem sehr nahe kommt, was wir gerade geltend gemacht haben. Er hat sie in seinem Artikel »Aminadab oder Das Phantastische als Ausdrucksweise be­ trachtet« (in Situationen I) formuliert. Nach Sartres Ansicht unterneh­ men Blanchot oder Kafka es nicht mehr, außergewöhnliche Wesen zu schildern; für sie »gibt es nur noch einen phantastischen Gegenstand: den Menschen. Nicht den religiösen oder vergeistigten Menschen, der nur zur Hälfte in der Welt steckte, sondern den konkreten Menschen, den naturgebundenen Menschen, den sozialen Menschen, der sich vor einem vorbeikommenden Leichenwagen verneigt, der sich am Fenster rasiert, der in der Kirche hinkniet, der im Gleichschritt hinter einer Fahne hermarschiert« (p. 146). Der »normale« Mensch ist das eigentlich fantastische Wesen; das Fantastische ist nicht länger die Ausnahme, es wird zur Regel. Dieser Wandel sollte Konsequenzen für die Technik der Gattung haben. Wenn zuvor der Held, mit dem sich der Leser indentifiziert, ein vollkommen normales Wesen war (damit die Identifizierung leicht wurde und man sich mit ihm über die Befremdlichkeit der Ereignisse wundern konnte), so ist es hier die Hauptperson selbst, die »fanta­ stisch« wird; so etwa der Held in Das Schloß: »Von diesem Landver­

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messer, an dessen Abenteuern und Betrachtungen wir teilnehmen sollen, ist uns nichts bekannt außer seiner unbegreiflichen Eigensinnigkeit, in einem verbotenen Dorf zu bleiben« (p. 150). Das Ergebnis ist, daß der Leser, der sich mit der Person identifiziert, sich selbst aus dem Bereich des Realen ausschließt. »Und unsere Vernunft, die eigentlich die »ver­ kehrte, Welt zurechtrücken sollte, wird in einen Alpdruck hineingeris­ sen, selbst phantastisch« (p. 151). Wir sehen uns also bei Kafka mit einem verallgemeinerten Fantasti­ schen konfrontiert: die gesamte Welt des Buches und der Leser selbst sind darin einbezogen. Dazu folgendes besonders klare Beispiel, das Sartre improvisiert, um seinen Gedanken zu veranschaulichen: »Ich setze mich, bestelle einen Milchkaffee, der Kellner läßt mich die Bestel­ lung dreimal wiederholen und wiederholt sie selbst, um jeden Irrtum auszuschließen. Er eilt davon, übermittelt die Bestellung einem zweiten Kellner, der sie notiert und an einen dritten weitergibt. Schließlich kommt ein vierter zurück und sagt: »Bitte schön,, indem er ein Tinten­ faß auf meinen Tisch stellt. »Ich hatte aber einen Milchkaffee bestellt,, sage ich. – »Na ja, genau,, sagt er im Weggehen. Wenn der Leser beim Lesen solcher Erzählungen denkt, es handle sich um einen Ulk der Kellner oder um eine Kollektivpsychose [was uns beispielsweise Mau­ passant in Le Horla glauben machen wollte], dann haben wir das Spiel verloren. Aber wenn wir es verstanden haben, ihm den Eindruck zu vermitteln, daß die abstrusen Vorgänge ganz normale Verhaltensweisen in unserer Welt darstellen, dann wird er sich jählings mitten ins Phan­ tastische versetzt fühlen« (p. 147). Mit einem Wort, hier haben wir den Unterschied zwischen der klassischen fantastischen Erzählung und den Erzählungen Kafkas: was in der Welt der ersteren Ausnahme war, wird hier zur Regel. Sagen wir, um zu einem Schluß zu kommen, daß dank dieser seltenen Synthese von Übernatürlichem und Literatur als solcher Kafka es uns ermöglicht, die Literatur selbst besser zu verstehen. Mehr als einmal haben wir uns bereits deren paradoxe Stellung vor Augen gehalten: sie lebt nur in dem, was die Alltagssprache ihrerseits Widersprüche nennt. Die Literatur setzt sich der Antinomie von Sprachlichem und Meta­ Sprachlichem, von Realem und Irrealem aus. Kafkas Werk ermöglicht es uns weiterzugehen und zu sehen, wie die Literatur innerhalb ihrer selbst einen anderen Widerspruch schafft; bei Gelegenheit einer Betrach­ tung über dieses Werk formuliert Maurice Blanchot in seinem Essay »Kafka et Ja littérature« diesen Widerspruch. Eine übliche und simpli­ fizierende Betrachtungsweise präsentiert die Literatur (und die Sprache) als ein Abbild der »Realität«, als einen Abzug dessen, was sie selbst

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nicht ist, als eine parallele und analoge Reihe. Diese Sichtweise ist jedoch in zweifacher Hinsicht falsch, denn sie verfälscht sowohl die Natur der Aussage als auch die des Aussagens. Wörter sind keine Eti­ ketts, die Dingen aufgeklebt werden, die unabhängig von ihnen als solche existieren. Wenn man schreibt, dann tut man dies und nichts an­ deres; diese Geste ist so gewichtig, daß sie keiner anderen Erfahrung Raum läßt. Gleichzeitig schreibe ich jedoch von etwas, selbst wenn die­ ses Etwas das Schreiben selbst ist. Schreiben wird überhaupt erst dadurch möglich, daß es vom Tod dessen ausgeht, von dem es spricht; dieser Tod jedoch macht es selbst unmöglich, denn es gibt nichts mehr zu schreiben. Die Literatur kann nur insofern möglich werden, als sie sich selbst un­ möglich macht. Entweder ist das, was man sagt, gegenwärtig, dann ist jedoch kein Raum für die Literatur, oder aber man gibt der Literatur Raum, dann aber gibt es nichts mehr zu sagen. Blanchot schreibt: »Stürzte die Sprache, und insbesondere die literarische Sprache, nicht ständig, ihm vorgreifend, ihrem Tod entgegen, wäre sie nicht möglich, denn eben diese Bewegung in Richtung auf ihre Unmöglichkeit bedingt und begründet sie erst« (La Part du feu, p. 28). Dem Verfahren, das darin besteht, das Mögliche mit dem Unmög­ lichen zu vermitteln, mag sich die Definition des Wortes »unmöglich« selber verdanken. Und dennoch ist Literatur. Dies ist ihr größtes Paradox.

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ein Ullstein Buch