Einführung in die Literatur des Naturalismus [2., Aufl.] 3534238397, 9783534238392

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Einführung in die Literatur des Naturalismus [2., Aufl.]
 3534238397, 9783534238392

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Titel
Impressum
Inhalt
I. Status und Eigenart der Diskursformation 'Naturalismus'
II. Forschungsbericht
III. Kontexte
1. Historische, sozialgeschichtliche und kulturelle Voraussetzungen
2. Naturwissenschaftliche und soziologische Denkkonzepte
3. Medienkonkurrenz und Intermedialität: Literatur vs. Foto- bzw. Fonografie
4. Literarische Muster aus dem Ausland: Émile Zola, Henrik Ibsen, Lev Tolstoi
5. Ästhetische Bezugspunkte in Deutschland
IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen
1. Phasenentwicklung, Zentrenbildung, Institutionalisierungsprozesse
2. Programmatik, Literaturverständnis, Autorschaftskonzeption
3. Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur
V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
1. Lyrik des Naturalismus
2. Max Kretzer: Meister Timpe (1888)
3. Arno Holz/Johannes Schlaf: Papa Hamlet (1889) und Die Familie Selicke (1890)
4. Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (1889)
5. Gerhart Hauptmann: De Waberi/Die Weber (1892)
6. Max Halbe: Eisgang (1892)
Kommentierte Bibliographie
Personenregister
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Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Wolfgang Bunzel

Einführung in die Literatur des Naturalismus 2. Auflage

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., aktualisierte Auflage 2011 © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2008

Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23839-2

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-71154-3 eBook (epub): 978-3-534-71156-7

Inhalt I. Status und Eigenart der Diskursformation ,Naturalismus' 11. 111.

7

Forschungsbericht

12

Kontexte

16

.....

1. Historische, sozialgeschichtliche und kulturelle

Voraussetzungen

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Naturwissenschaftliche und soziologische Denkkonzepte

16 20

3. Medienkonkurrenz und Intermedial ität: Literatur vs.Foto-

bzw.Fonografie

.....................

26

4. Literarische Muster aus dem Ausland: Emile Zola, Henrik

.. . . . . . . . . . . .

30

5. Ästhetische Bezugspunkte in Deutschland

Ibsen, Lev Tolstoi

38

IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen

..

45

1. Phasenentwicklung, Zentrenbildung,

Institutionalisierungsprozesse

................

45

2. Programmatik, Literaturverständnis, Autorschaftskonzeption

58

3. Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur

70

V. Ei nzelanalysen repräsentativer Werke 1. Lyrik des Naturalismus

83

.. . . . .

83

2. Max Kretzer: Meister Timpe(1888)

90

3. Arno Holz/Johannes Schlaf: Papa Hamlet(1889) und Die Familie Selicke(1890)

. . . . . . . . . . . . .

4. Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang(1889)

.

97 107

5. Gerhart Hauptmann: Oe WaberlOie Weber(1892)

115

6. Max Halbe: Eisgang(1892)

122

Kommentierte Bibliographie

129

Personenregister

141

......

I. Status und Eigenart der Diskursformation

,Natural ismus' Der Naturalismus lässt sich am besten als eigenständige Diskursformation

Naturalismus als

innerhalb eines größeren literaturgeschichtlichen Epochenzusammenhangs

Diskursformation

begreifen. Dieser wiederum ergibt sich vornehmlich dadurch, dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in ästhetischer Hinsicht von einem dominierenden Kunstprogramm, nämlich dem des Realismus, geprägt wird. Im Zentrum des realistischen Literaturverständnisses steht dabei ein programmatischer Wirklichkeitsbezug, der zu einem nicht geringen Grad aus der Erschöpfung idealistischer Denksysteme resultiert. So hatte Theodor Fontane schon 1853 in seinem Aufsatz Unsere lyrische und epische Poesie

seit 1848 konstatiert, dass "die Welt [ . . ] des Spekulierens müde" (Fontane 1969, Bd. 1, 236) sei. Doch auch das Konzept einer ,operativen Literatur', .

wie es von den politisch engagierten Schriftstellern des Vormärz entwickelt worden war, hatte unter den veränderten Bedingungen des späten 19. Jahrhunderts

seine

Strahlkraft

eingebüßt.

Die

Hoffnungen

auf

nationale

Einigung und Demokratisierung, die sich an die Revolutionen der Jahre

1848/49 knüpften, waren unerfüllt geblieben, so dass nach der Jahrhundertmitte in den deutschsprachigen Ländern eine doppelte Ernüchterung eintrat. Als Alternative zur stark an der Vergangenheit orientierten und deshalb zunehmend als realitätsfremd empfundenen Dichtung der Goethezeit und zur deutlich wirkungsästhetisch geprägten, ihren Autonomiestatus bereitwillig opfernden Literatur des Vormärz gleichermaßen bot sich ein Schreibmodell an, das Kunst wieder auf das Ziel der Mimesis zu verpflichten und literarische Kommunikation damit - wie Richard Georg Spiller von Hauenschild unter dem Pseudonym Max Waldau in seinem Aufsatz Neuere epi-

sche Dichtung (1854) formulierte - auf den "Boden der Tatsachen" (plumpe 1985, 33) zurückzuholen suchte. Auf diese Weise schien ein ästhetischer Neuanfang jenseits der eingeschliffenen Pathosgesten - seien es die der Klassik, der Romantik oder der politischen Dichtung - möglich. Die Definition von Realismus, die Theodor Fontane gibt, gilt letztlich auch für die naturalistischen Autoren noch: Der Realismus will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am aller­ wenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre. Er schließt nichts aus als die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene - vier Dinge, mit denen wir glauben, eine ganze Literaturepoche bezeichnet zu haben. (Fontane 1969, Bd. 1,

240) In der Abgrenzung, die Fontane ergänzend vornimmt, wird dann aber auch

Naturalismus und

schon jene Akzentverlagerung sichtbar, die den Naturalismus als Radikali-

Poetischer Realismus

sierung des Poetischen Realismus erscheinen lässt: "Vor allen Dingen verstehen wir nicht darunter das nackte Wiedergeben alltäglichen Lebens, am wenigsten seines Elends und seiner Schattenseiten." (Fontane 1969, Bd. 1,

8 I. Status und Eigenart der Diskursformation ,Naturalismus'

Widerstand gegen die Gründerzeit­ literatur

Verabschiedung zentraler Prämissen realistischer Ästhetik

240) Genau dies aber wurde zur Zielperspektive der nachfolgenden Gene­ ration von Autoren. Im Gefolge der skizzierten ästhetischen Neuorientierung entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst eine in sich relativ ho­ mogene literarische Strömung, deren Vertreter (Gottfried Keller, Adalbert Stif­ ter, Theodor Storm, Theodor Fontane, Wilhelm Raabe, Marie von Ebner­ Eschenbach) zwar kaum über den Bereich des deutschen Sprachraums hi­ naus ausstrahlten, die aber doch Werke von beachtlichem künstlerischen Rang hervorbrachten. Allerdings gelang es - im Gegensatz beispielsweise zur Romantik - dem Realismus in Deutschland nicht, eine zweite Generation jüngerer Autoren ästhetisch zu sozialisieren und so den Fortbestand dieser Bewegung bei Konstanz ihrer Leitprinzipien zu sichern. Stattdessen kam es nach dem Krieg gegen Frankreich (1870/71) und der unmittelbar darauf er­ folgten Reichsgründung zu einer ungeahnten Epigonalisierung der literari­ schen Produktion mit dem Ergebnis, dass der Realismus Konkurrenz erhielt von einer unverhohlen rückwärtsgewandten Strömung, die sich ästhetisch an längst überholte Muster der als Blütezeit deutscher Kultur verstandenen Klas­ sik und Romantik anlehnte. Dieses zeitlich im Wesentlichen auf die siebziger und frühen achtziger Jahre beschränkte Phänomen wird - mit Bezug auf einen wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Periodisierungsterminus - ge­ meinhin als Literatur der Gründerzeit bezeichnet. Der Poetische Realismus sah sich dadurch in ein Rückzugsgefecht verwickelt und vermochte sich auf breiter Ebene nicht mehr nennenswert weiterzuentwickeln. Lediglich Auto­ ren mit einem ausgeprägten Individualstil wie Storm, Fontane oder Raabe ge­ lang es, weiterhin bemerkenswerte Texte im Rahmen dieses Paradigmas vor­ zulegen, während die literarische Produktion der poetae minores vielfach in einem festen Repertoire von Themen, Motiven und Gestaltungsformen erst­ arrte. Im Gefolge der genannten Entwicklung schwand die Anziehungskraft des realistischen Kunstprogramms für die nachwachsenden Schriftsteller, die sich nun weniger an dessen Fortführung als vielmehr an der Auseinanderset­ zung mit den Vertretern der Gründerzeitliteratur interessiert zeigten. Der Wi­ derstand gegen deren Kunstverständnis jedenfalls wurde zum eigentlichen Initialimpuls für die Herausbildung der naturalistischen Bewegung. Aus dem Umstand heraus, dass die Vertreter der jüngeren Generation wesentliche Ziele des Realismus auch weiter teilten, sich aber von den ab den siebziger Jahren dominierenden Autoren (zu ihnen gehören Paul Hey­ se, Friedrich Bodenstedt, Emanuel Geibel, aber auch Friedrich Spielhagen oder Gustav Freytag) und Texten in z. T. scharfer Form abzugrenzen ver­ suchten, erklärt sich das für den deutschen Naturalismus bezeichnende Phänomen forcierter rhetorischer Revolte bei gleichzeitiger - mindestens partieller - Übernahme der vorgefundenen künstlerischen Normen. Aller­ dings sollte dies nicht - wie häufig in der Forschungsliteratur geschehen als Beleg für die Unentschiedenheit des deutschen Naturalismus in künstle­ rischer Hinsicht genommen werden. Vielmehr waren es die spannungsrei­ chen literarischen Rahmenbedingungen, die ein solch ambivalentes Reakti­ onsmuster begünstigten. Dass der Naturalismus als eigenständige Diskursformation anzusehen ist, zeigt sich u. a. daran, dass er zentrale Prämissen realistischer Ästhetik mehr oder weniger deutlich verabschiedete. Der Philosoph Wilhelm Traugott

I. Status und Eigenart der Diskursformation ,Naturalismus'

Krug beispielsweise hatte in seinem für das Allgemeine Handwörterbuch

der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte (1832) geschriebenen Artikel "Ästhetischer Realismus" vom Künstler noch gefordert, "daß er [ ...] auf der einen Seite [ ...] ein höheres Ziel vor Augen habe als der bloße Naturkopist, daß er aber auf der anderen Seite auch die Gesetzmäßigkeit der Natur überhaupt [ ...] in seinen Erzeugnissen beobach­ te, damit seine Kunst nicht zur Unnatur werde" (Plumpe 1985, 70), und die Literatur des Realismus war ihm darin gefolgt. Das Programm des Poeti­ schen Realismus erscheint insofern als ästhetische Kompromissformel zwi­ schen wirklichkeitsferner Idealität und exakter Imitation der Natur; man hat im Hinblick darauf deshalb verschiedentlich von ,Real-Idealismus' gespro­ chen. Mit einer solchen Funktionsbestimmung der Kunst sind freilich die Grenzen einer realistischen Ästhetik klar markiert. Naturnachahmung im Verständnis des Naturalismus aber besteht nicht mehr darin, - wie Friedrich Theodor Vischer es in seiner Ästhetik als Norm aufstellt - "die Erscheinung, welche die Natur geschaffen [ ...] auf ihre Reinheit zurück[zu]führen und so gereinigt in einem idealen vom Geistesleben erfüllten Scheinbilde [zu] wiederholen, in der Ausführung des inneren Bildes aber das Vorbild mit der Bestimmtheit seiner Formen und der Wärme seiner Lebendigkeit nach­ eifernd fest im Auge [zu] behalten" (Vischer 1922, 97). Ein literarisches Ver­ fahren wie es die Naturalisten entwickelt haben, das auf eine "Reinigung" bzw. Verklärung des Dargestellten verzichtet und beim Prozess der Nach­ ahmung bis hin zur "Kopie" der Natur geht, verlässt deshalb den Geltungs­ bereich eines Poetischen Realismus erkennbar. Erst die damit verbundene ästhetische Grenzüberschreitung gestattet es im Übrigen, den Naturalismus als eigenständige Diskursformation zu begreifen, die einesteils das realisti­ sche Paradigma radikalisierend weiterführt und es andernteils - mindestens partiell - hinter sich lässt, weil insbesondere die vom ,konsequenten' Na­ turalismus betriebene literarische Mimikry sprachlich vorgefundener Reali­ tät zu einer Entsemantisierung des Zeichenmaterials führt, die eine Brücke schlägt zu den Verfahrensweisen des Ästhetizismus im Rahmen der klassi­ schen Moderne. Unterschiede zwischen Realismus und Naturalismus zeigen sich nicht zuletzt an unscheinbaren Aspekten und vermeintlich geringfügigen Details. Zwei willkürlich herausgegriffene Beispiele mögen dies illustrieren helfen. So bleibt etwa "das Naturverständnis des bürgerlichen Romans" im Poeti­ schen Realismus letztlich eines "der Idylle [ ...l, das idyllische Landschafts­ bild [ ...] erfüllt dort die Sehnsucht des bürgerlichen Menschen nach dem Glücke der Natürlichkeit" (Ueding 1977, 294). Aber auch der auf den ers­ ten Blick erstaunlich wirkende Umstand, dass im Realismus nach wie vor eine beträchtliche Anzahl von Kunstmärchen entsteht und dass realistische Texte noch in weit höherem Maß, als man vermuten mag, phantastische Elemente aufweisen, belegt eindeutig, wie sehr der Poetische Realismus weiterhin dem herkömmlichen Spektrum literarischer Formen und Motive verhaftet ist. Derartige Kontinuitäten zu den vorhergehenden literarischen Diskursformationen Klassik und Romantik sowie zum philosophischen Leit­ konzept des Idealismus aber brechen mit Einsetzen des Naturalismus ab, der sich entscheidend dadurch auszeichnet, dass er das bis dahin geltende zentrale ästhetische Prinzip der Verklärung endgültig verabschiedet. Im

9

10 I. Status und Eigenart der Diskursformation ,Naturalismus' Grunde zieht er damit die Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass "die Rea­ listen ihr ureigenes Postulat der Nähe zur Wirklichkeit [ .. ] mittels Verklä­ .

rung ihrer [ .. ] Um- und Mitwelt geradewegs wieder unterlaufen" (Römhild .

2005, 178) haben. Der Naturalismus versucht also, [ ...] den programmatischen Anspruch des Realismus zu erneuern, ohne dessen idea­ listisches Voraussetzungsystem übernehmen zu müssen. An seine Stelle tritt eine em­ phatische Anerkenntnis der ,modernen' Wirklichkeit einer industriell, natur- und in­ genieurwissenschaftlich geprägten Kultur, die zwar überboten werden soll, als Aus­ gangspunkt aber nicht mehr bestritten werden kann. (Schneider 2005,

7)

Ambivalente

Die Doppelstrategie im Umgang mit der Vorgängerbewegung führt indes

Selbstverortung des

zu einer stellenweise unklaren Selbstverortung, die den Naturalismus zwi­

Naturalismus

schen bewusster Anknüpfung an das Bestehende und radikalem Bruch mit der Tradition oszillieren lässt. Deutlichster Indikator für die Unsicherheiten bei der Zuordnung ist die schwankende Benennung des eigenen Kunstpro­ gramms durch die betreffenden Autoren selbst: "Es dominiert der Begriff ,Realismus'. Der Begriff ,Naturalismus' wird aber auch benutzt, manchmal als Synonym für ,Realismus', manchmal als Verschärfung und Zuspitzung des ,Realismus'. Er ist der von Emile Zola [ .. ] übernommene und durch .

ihn sanktionierte Begriff." (Meyer 2000, 28) Michael Georg Conrad jeden­ falls, der Gründer und Herausgeber der ersten naturalistischen Zeitschrift

Oie Gesellschaft, kam der an ihn herangetragenen Forderung, "die Fahne des Naturalismus sans phrase [ .. ] zu entrollen und auf das Titelblatt zu .

schreiben ,Organ für Naturalismus"', nicht nach; genau wie er lehnte auch sein Berater Wolfgang Kirchbach eine Untertitelung des Blattes mit der Be­ zeichnung "Zeitschrift für naturalistische Literatur und Kritik" (Conrad

1902, 45) ab. Stattdessen wurde das Periodikum "Realistische Wochen­ schrift für Litteratur, Kunst und Leben" genannt. Noch das von den Brüdern Hart herausgegebene Kritische Jahrbuch (1889/90) führt den Nebentitel "Beiträge zur Charakterisitik der zeitgenössischen Literatur sowie zur Ver­ ständigung über den modernen Realismus" und vermeidet gezielt die Reiz­ vokabel ,Naturalismus'. Wie diese Belege verdeutlichen, hatte die Handha­ bung der Terminologie in den meisten Fällen auch eine strategische Kom­ ponente. Und hier bot der weitgehend synonyme Gebrauch der beiden Bezeichnungen ,Realismus' und ,Naturalismus' große Vorteile, weil er - je nach Bedarf - eine Ankoppelung an unterschiedlich akzentuierte künstleri­ sche Paradigmen gestattete. Was aus heutiger Sicht leicht den Eindruck von Unentschiedenheit erweckt, war unter den Bedingungen literarischer Öffentlichkeit im späten 19. Jahrhundert deshalb durchaus eine kluge Ver­ wirrtaktik, die dazu beitrug, dass das ästhetische Programm der naturalisti­ schen Bewegung vom Publikum leichter akzeptiert werden konnte. Der Naturalismus

Das Anknüpfen an und teilweise Weiterführen von künstlerischen Kon­

und die "Entbindung

zepten des Realismus hat für die Literaturgeschichtsschreibung zur Folge,

der Moderne"

dass der Naturalismus unterschiedlichen Epochenkonzepten zugerechnet werden kann. Einerseits - von seiner Herkunft her - gehört er fraglos zur Diskursformation ,Realismus', deren letzte, radikalisierte Phase er bildet. Andererseits läutet er die sog. Klassische Moderne um 1900 ein, die sämtli­ che Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts übergreift und - je nach Defi­ nition - 1918/19 oder auch erst 1933 endet. In dieser Perspektive erscheint

I.

Status und Eigenart der Diskursformation ,Naturalismus' 11

der Naturalismus als - wenn auch verhaltener - Neuanfang, als Geburts­ phase, die eine entscheidende Rolle bei der "Entbindung der Moderne" (Bahr 1968, 87) spielt. Letztlich wird wohl nur eine solche stereoskopische Perspektive dem Naturalismus gerecht, weil sie die historische Scharnier­ funktion dieser Bewegung erkennbar werden lässt, die eine ,konventionel­ le', immer noch an den ästhetischen Paradigmen des 19. Jahrhunderts aus­ gerichtete und mit Relikten idealistischer Kunstauffassung operierende Äs­ thetik mit einer wissenschaftlich inspirierten Verfahrenslogik und einer bislang nicht dagewesenen Art des Umgangs mit dem Medium Sprache auf eine Weise verbindet, wie sie einzig in der Klassischen Moderne denkbar ist, und damit präzise die Nahtstelle zwischen der ersten und der zweiten P hase der Makroperiode Moderne markiert. Auch in literatursoziologischer Hinsicht zeigt sich diese Zwischenstellung. So kennt der Realismus im Un­ terschied zum Naturalismus weder ausgeprägte Gruppenbildungsphänome­ ne noch eine erkennbare regionale Zentrenbildung. Auf Grund seiner Doppelgestalt wurde der Naturalismus nicht nur in der Forschung, sondern auch von den Zeitgenossen häufig als bloße - wenn auch für die weitere Entwicklung der Kunst notwendige - Übergangsphase verstanden. Dieses Deutungsmuster bildete sich bereits Mitte der achtziger Jahre heraus. So charakterisiert Klaus Hermann in seiner Schrift Der Natu­

ralismus und die Gesellschaft die Gegenwart als ästhetische "Puppenzeit" (Hermann 1886, 5), in der sich Kommendes erst vorbereite, und erklärt:

"Der Weg führt von überwundenen Idealen der alten Zeit [. ..] zum Natu­ ralismus und von da zu neuen Idealen." (Hermann 1886, 46) Und Hermann Bahr zeigt sich überzeugt: "Der Naturalismus ist entweder eine Pause zur Erholung der alten Kunst; oder er ist eine Pause zur Erholung der neuen: jedenfalls ist er Zwischenakt." (Bahr 1968, 88) Dies hat verschiedentlich zur ästhetischen Geringschätzung des naturalistischen Kunstprogramms ge­ führt: Indem das ihr auf Grund der Temporalität der Moderne eigene Ele­ ment des Transitorischen in der Sekundärliteratur meist eine negative Be­ wertung erfuhr, wurde die naturalistische Bewegung kurzerhand als Ganzes zur literarisch unergiebigen Interregnumsperiode erklärt. Die gegenwärtige Forschungslage ist ein zumindest mittelbares Ergebnis dieser verengten Sichtweise.

Stereotypisierung des Naturalismus als Übergangsphase

11. Forschungsbericht Selbsthistorisierung

Erste Ansätze, den Naturalismus kulturgeschichtlich zu verorten, gab es be­

des Naturalismus

reits um die Jahrhundertwende. Interessanterweise waren es die Naturalis­ ten selbst, die sich - nachdem nach- und gegennaturalistische Strömungen ästhetisch die Oberhand gewonnen hatten - um eine Historisierung der von ihnen selbst maßgeblich geprägten Phase der Literaturgeschichte be­ mühten. Freilich geschah das nicht in wissenschaftlicher Form, vielmehr nutzten die meisten Autoren autobiographische Textsorten, um persönliche Erinnerungen mit einer generellen Einschätzung der jüngeren Kulturent­ wicklung zu verknüpfen. Der erste monographisch angelegte Überblick über Programm und Personen des deutschen Naturalismus trägt den Titel Das jüngste Deutschland (1900) und stammt von Adalbert von Hanstein.

Zwei Jahre darauf folgten die Erinnerungen zur Geschichte der Moderne von Michael Georg Conrad und der dreiteilige Aufsatz Oie Anfänge der neuen deutschen Literaturbewegung. Persönliche Erinnerungen von Johan­

nes Schlaf, ein Jahr später Heinrich Harts umfangreiche Artikelreihe Oie Li­ teratur-Bewegung von 1880-1900.

Nach persönlichen Erlebnissen.

Im

Grunde liegen von fast allen namhaften und auch einigen heute kaum noch bekannten Schriftstellern des Naturalismus Lebensrückblicke vor, die mehr oder weniger ausführlich auf die naturalistische Bewegung eingehen. Alle diese Texte sind autobiographischer Erlebnisbericht und subjektive Literaturgeschichte in einem. Sie sollen einerseits den Naturalismus als Kunstprogramm historisieren, andererseits aber auch das Bewusstsein für seine kulturelle Initiatorfunktion wachhalten und so dafür sorgen, dass die von ihm entbundenen ästhetischen Impulse weiterhin fruchtbar bleiben. Zu keinem Zeitpunkt ging es dabei um eine Abrechnung, wie sie seinerzeit etwa Heinrich Heine mit seiner Schrift Oie romantische Schule (1836) vor­ genommen hat. Diesem positiven Verhältnis zur eigenen Epoche ist es in erster Linie zuzuschreiben, dass man sich niemals von den eigenen Anfän­ gen zu distanzieren brauchte und sich auch nach der Ablösung durch an­ dere ästhetische Tendenzen der naturalistischen Bewegung noch zugehörig fühlen konnte. Eine derartige Verbundenheit wiederum erzeugte allererst das Ethos, mithilfe eines Rückblicks das Lebensgefühl einer Generation der Nachwelt anschaulich und mehr oder weniger treu vermitteln zu wollen. Anfänge der

Bei den ersten wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit dem Naturalis­

Naturalismus­

mus beschäftigen, handelt es sich meist um Dissertationen; nicht wenige

forschung

davon untersuchen den Einfluss der naturalistischen Ästhetik auf einzelne Autorpersönlichkeiten. In den zwanziger Jahren dann lag schon eine be­ trächtliche Anzahl von Titeln zum Thema vor, doch erfuhr die Auseinander­ setzung mit Texten des Naturalismus erst in der folgenden Dekade eine markante Intensivierung. Zwischen 1930 und 1940 jedenfalls kamen nicht nur zahlreiche monographische Untersuchungen heraus, es entstanden auch diverse literaturgeschichtliche Darstellungen, die sich mit der Literatur der achtziger und neunziger Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts be-

11.

Forschungsbericht 13

schäftigten. Das sprunghaft ansteigende Interesse hängt dabei erkennbar mit den ideologischen Rahmenbedingungen zusammen, fand doch mit der ,Machtergreifung' der Nationalsozialisten eine verstärkte Zuwendung zu solchen Phasen der kulturellen Entwicklung statt, die im Sinne historischer Legitimierung als Vorgängerbewegungen deutbar waren. Der Naturalismus erschien in diesem Zusammenhang als Forschungsgebiet besonders attrak­ tiv, weil seine Zielsetzungen ,völkisch' akzentuiert und seine naturwissen­ schaftlich-medizinische Themenwahl als aktuell bedeutsamer historischer Diskurs um Rassenhygiene und Volksgesundheit verstanden werden konn­ ten. Nach und nach geriet die Forschung der dreissiger Jahre in das Fahr­ wasser rassenbiologischer Deutungsmuster. Dem leistete zum einen die Milieutheorie der Naturalisten Vorschub, die von der gleichgeschalteten Wissenschaft im ,Dritten Reich' zu Propagandazwecken ausgeschlachtet wurde, zum anderen hatten sich aber auch einige Autoren Uohannes Schlaf, Max Halbe, Julius Hart, aber auch Gerhart Hauptmann) im Lauf der Zeit ,völkischem' Gedankengut und irrationalistischen Denkstrukturen so­ weit geöffnet, dass sie als Sympathisanten der Nationalsozialisten gelten konnten. Gleichwohl sind nur wenige Texte der Sekundärliteratur aus dem genannten Zeitraum wirklich tendenziös zu nennen. Offenbar entlasteten ideologisch mit den Theoremen des Nationalsozialismus kompatibel wir­ kende Themensteilungen auch vom Erwartungsdruck der Partei und boten Nischen für gediegene philologische Arbeit. Zusammenfassend gesagt: Ob­ wohl die meisten der im Zeitraum von etwa 1910 bis 1940 entstandenen Studien positivistisch angelegt und mehr durch ihre Quellennähe als durch die Entwicklung eigenständiger Fragestellungen gekennzeichnet sind, gibt es darunter doch einige materialreiche Untersuchungen, auf die heute noch mit Gewinn zurückgegriffen werden kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es zunächst geraume Zeit, bis der Naturalismus wieder ins Blickfeld der Germanistik geriet, was sicher mit der partiellen Korrumpierung des Forschungsfeldes durch den Nationalso­ zialismus zusammenhängt. Während sich im nichtdeutschen Ausland ent­

Korrumpierung des Forschungsfeldes durch den National­ sozialismus

sprechende Untersuchungen bereits zu Beginn der fünfziger Jahre wieder nachweisen lassen, entstanden im deutschen Sprachraum bis zum Ende dieses Jahrzehnts lediglich einige Laufbahnschriften. Eine Pionierrolle bei der Wiederentdeckung des Naturalismus spielte die von Erich Ruprecht zu­ sammengestellte Quellensammlung Literarische Manifeste des Naturalis­

mus 1880-1892 (1962), die erstmals wichtige Programmschriften und Auf­ sätze wieder zugänglich machte und so eine solide Grundlage für die wei­ tere Forschung schuf. Verstärkt wurde ihre Wirkung noch durch die im seiben Jahr erschienene Anthologie Dramen des Naturalismus, mit der Ar­ tur Müller und Hellmut Schlien eine - wenn auch schmale - Auswahl lite­ rarischer Texte vorlegten. Eine überaus lebhafte Konjunktur erlebte der Naturalismus als For­ schungsgegenstand dann ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, als sich - angestoßen von der Studentenbewegung - an den Universitäten eine kri­ tisch-materialistisch ausgerichtete Literaturwissenschaft zu etablieren be­ gann. Im Zuge der Politisierung der Literatur und des daraus resultierenden Interesses an solchen Phasen der Kulturgeschichte, die sich durch eine ,ge­ seIlschaftsbezogene' Kunst auszeichnen, wurde die naturalistische Bewe-

Hochkonjunktur der Forschung

14 11. Forschungsbericht gung zu einem bevorzugten Explorationsfeld. Was die 68er-Generation da­ ran interessierte, waren mehrere Aspekte: die erklärte Frontstellung zur klassisch-romantischen Kunst und die gleichzeitige Hochschätzung der bis­ her unterschätzten obrigkeitskritischen Gruppierungen Sturm und Drang und Junges Deutschland, die Zuwendung zu niederen sozialen Schichten und Personen des vierten Standes, die Thematisierung zuvor tabuisierter Begleiterscheinungen der Modernisierung wie soziale Verelendung, Alko­ holismus und Prostitution und nicht zuletzt auch die Verbindungen der na­ turalistischen Schriftsteller zur - von 1878 bis 1890 verbotenen - sozialde­ mokratischen Partei. Kurz: Die Texte des Naturalismus schienen den histori­ schen Beleg einer dezidiert sozialkritischen Literatur zu liefern, wie man sie selbst anstrebte. Die meisten Wissenschaftler teilten die Ansicht des na­ turalistischen Theoretikers Leo Berg, der sich davon überzeugt zeigte: "Der Naturalismus, sofern er als Prinzip des Milieus sich darstellt, ist nichts an­ deres als eine Kritik der bestehenden Gesellschaft." (Berg 1892, 52) Zu­ gleich war man im Selbstverständnis mit den naturalistischen Autoren ver­ bunden, sah man sich doch wie sie als "Rebellen und Neuerer" (Arent [Hrsg.l 1885, 111). Es erschienen nun die ersten umfassenden Überblicksdarstellungen und zahlreiche wertvolle monographische Arbeiten. Hervorzuheben sind hier­ neben den ungedruckten Dissertationen von Rüdiger Bernhardt (1968), Siegwart Berthold (1967), Robert A. Burns (1978), Sigfrid Hoefert (1962), Horst Meixner (1961), Helmut Praschek (1957) und Gerd Voswinkel (1970) - vor allem Roy C. Cowens (1973), Günter Mahals (1975, 21990) und Han­ no Möbius'

(1982)

Epochenbände,

die Textanthologien

Naturalismus

1885-1899. Dramen, Lyrik, Prosa (2 Bde., 1970), Deutsches Theater des

Naturalismus (1972), Theorie des Naturalismus (1973), Prosa des Naturalis­ mus (1973), Einakter des Naturalismus (1973), Naturalismus (1975) und Dramen des deutschen Naturalismus von

Hauptmann bis Schönherr

(1981), der Sammelband Naturalismus. Bürgerliche Dichtung und soziales Engagement (1974), die thematisch ausgerichteten Untersuchungen von

Klaus-Michael Bogdal (1978), Manfred Brauneck (1974), Katharina Gün­ ther (1972), Sigfrid Hoefert (1968), Jutta Kolkenbrock-Netz (1981), Heinz Linduschka (1978), John Osborne (1971) und Jürgen Schutte (1976) sowie die autorzentrierten Studien von Pierre Angel (1966), Gerhard Schulz (1974),

Heinz-Georg Brands

(1978),

Hanno Möbius

(1980),

Helmut

Scheuer (1971) und Peter Sprengel (1984). Stagnation seit Ende

Bald schon ebbte die Konjunktur des Naturalismus aber wieder ab.

der achtziger Jahre

Nachdem in den achtziger Jahren immerhin noch einige wichtige Publika­ tionen erschienen - darunter eine modifizierte und erweiterte Version der Quellensammlung mit Programmschriften aus dem Jahr 1962 in der Reihe "Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur" (1987), ein Themen­ heft der Zeitschrift Der Deutschunterricht (1988), ein Band mit Interpreta­ tionen zu Dramen des Naturalismus (1988) und die Dissertationen von Bar­ bara Voigt (1983) und Barbara J. Wrasidlo (1986) -, sind seitdem monogra­ phische Arbeiten nachgerade selten geworden. Aus den vergangenen 15 Jahren datieren lediglich vier größere Studien von Bedeutung, nämlich die Untersuchungen von Dieter Kafitz (1992), Günter Helmes (1995), Raleigh Whitinger (1997) und Lothar L. Schneider (2005), wobei die Habilitations-

11. Forschungsbericht

schrift von Helmes bis heute ungedruckt geblieben ist. Es gibt vielfältige Gründe dafür, dass das Interesse an der Literatur des Naturalismus merklich nachgelassen hat. Zunächst wäre hier der nachhaltige Ansehensverlust so­ zial und politisch engagierter Literatur zu nennen, der im Übrigen mit ein­ schneidenden methodischen Paradigmenwechseln in der Literaturwissen­ schaft einherging. So beschäftigten sich sowohl die vornehmlich diskurs­ analytisch ausgerichteten Arbeiten der achtziger als auch die Textanalysen im Umfeld des Dekonstruktivismus zu Beginn der neunziger Jahre fast aus­ schließlich mit ästhetisch sehr komplexen Texten namhafter Autoren. Der Umstand, dass von den Schriftstellern des Naturalismus im Grunde nur Gerhart Hauptmann und - mit Einschränkungen - allenfalls noch das Auto­ rengespann Arno Holz und Johannes Schlaf als kanonisiert gelten kann und insgesamt nur sehr wenige Werke aus diesem Zeitraum als gültige literari­ sche Zeugnisse angesehen werden (mehr noch: kaum eines davon hat es geschafft, das Ghetto des schulischen Deutschunterrichts bzw. der universi­ tären Germanistik zu verlassen), hat diese Strömung denn auch mehr und mehr an den Rand des Forschungsinteresses rücken lassen. Im Gegenzug erlebte vor allem die Forschung zur Literatur der ,Wiener Moderne' einen gewaltigen und noch immer anhaltenden Aufschwung, so dass der Natu­ ralismus als erste Phase der Klassischen Moderne mittlerweile eindeutig im Schatten der zweiten steht, die freilich nachhaltig von ihrer Vorgängerbe­ wegung profitiert hat. Die gegenwärtige Situation zeichnet sich aber noch durch ein weiteres merkwürdiges Missverhältnis aus: Während der Natu­ ralismus nach wie vor einen festen und unangefochtenen Platz in den schulischen Lehrplänen hat und auch bei Studenten ein äußerst beliebtes Thema für mündliche und schriftliche Abschlussprüfungen darstellt, küm­ mert sich die Literaturwissenschaft kaum mehr um diesen Gegenstand, ja man kann geradezu sagen, dass studentische bzw. curriculare Vorlieben hier in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur akademischen For­ schungspraxis stehen. üb die mancherorts zu beobachtenden Ansätze einer Rephilologisierung des Faches diesbezüglich eine Trendumkehr einleiten, bleibt abzuwarten.

15

111. Kontexte

1. Historische, sozialgeschichtliche und kulturelle

Voraussetzungen Bedeutung der

Bei der Genese des deutschen Naturalismus spielt ein nationales histori­

Reichsgründung

sches Ereignis eine nicht zu unterschätzende Rolle: die Reichsgründung.

für die Genese des deutschen Naturalismus

Nach dem militärischen Sieg über Frankreich im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 wurde der preußische König Wilhelm I. 1871 zum deut­ schen Kaiser gekrönt und wenig später eine Verfassung verabschiedet, die den Zusammenschluss von insgesamt 25 Einzelstaaten zum deutschen Reich besiegelte. Damit war Deutschland zum ersten Mal in seiner Ge­ schichte eine nationale politische Einheit und nicht einfach nur eine An­ sammlung einer Vielzahl von regionalen Fürstentümern. Sowohl die öko­ nomischen als auch die mentalitätsgeschichtlichen Auswirkungen waren von enormer Tragweite. So lösten die Reparationszahlungen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg leisten musste, in Deutschland ein starkes Wirt­ schaftswachstum aus und trieben die Industrialisierung des Landes macht­ voll voran. Zwar erlitt die überhitzte Konjunktur bereits 1873 einen ernst­ haften Einbruch in Form eines Börsenkrachs, doch konnten auch in den fol­ genden Jahren weiter hohe ökonomische Steigerungsraten verzeichnet werden. Diese Phase eines rasanten Wirtschaftsaufschwungs, der viele Fir­ men und Fabriken, Geschäfts- und Wohngebäude entstehen ließ und da­ rüber hinaus die Infrastruktur des Landes durchgreifend modernisierte, ging unter dem Begriff ,Gründerzeit' in die Geschichte ein.

Kennzeichen der

Obwohl die beiden Jahrzehnte nach der Reichsgründung ein Zeitraum

Gründerzeit-Kunst

sich verschärfender gesellschaftlicher Spannungen waren, fand die sog. so­ ziale Frage lange keinen Eingang in die Literatur. Die Kunst der Gründerzeit diente in erster Linie der Repräsentation; ihre Aufgabe war es, materielle Prosperität in eine pompöse Formensprache zu übersetzen. Am deutlich­ sten greifbar ist diese Tendenz wohl im Bereich der Architektur: Groß­ dimensionierte Repräsentationsbauten mit zahlreichen ornamentalen bzw. mythologisierenden Schmuckelementen, die Auskunft über das Geltungs­ bedürfnis der wohlhabenden, nicht selten neureichen bürgerlichen Schich­ ten geben, dominierten nun das Erscheinungsbild der Städte. Allerdings entstand auf diese Weise kein eigenständiger künstlerischer Stil, vielmehr wurden heterogene Gestaltungselemente aus verschiedenen Zeiten und Kulturen eklektisch miteinander kombiniert. Die kulturelle Tradition diente im Wesentlichen als Fassade, um die mit der forcierten Industrialisierung einhergehenden Modernisierungserscheinungen zu kaschieren. Die damit verbundene Degradierung des Vergangenen zum beliebig verfügbaren For­ menreservoir entspricht dabei der dominierenden Stilhaltung des 19. Jahr­ hunderts, dem Historismus.

1. Historische, sozialgeschichtliche und kulturelle Voraussetzungen

Eine vergleichbare Situation bestand auch im Bereich der Literatur. Die beherrschenden Autoren der Zeit lebten meist in großbürgerlichem Am­ biente, verkehrten mit den wohlhabenden Honoratioren ihrer Zeit und un­ terhielten im Allgemeinen auch gute Kontakte zu den jeweiligen Höfen. Ihre Texte bereiteten überliefertes, von seiner Verbindlichkeit befreites Bil­ dungsgut auf und arrangierten es in wohlproportionierten, an die deutsche Klassik angelehnten Formen. Neben dieser Repräsentationsliteratur für die gutbürgerlichen Schichten gab es für die weniger gut situierten Lesergrup­ pen die trivialisierte Massenliteratur der sog. Familienblätter. Die bekann­ teste Zeitschrift dieses Publikationstyps war die Gartenlaube, deren Titel nachgerade programmatisch jenen Ort aufruft, der als Inkarnation einer be­ haglich bürgerlichen Rückzugsposition jenseits des Politisch-Ökonomi­ schen verstanden werden muss. Die hier abgedruckten Texte dienten in ers­ ter Linie der Erbauung und Zerstreuung; sie boten einen idyllischen Gegen­ pol zu den Entfremdungserfahrungen des großstädtischen Lebens und degradierten Literatur zu einem Vehikel der Kompensation. Kunst diente in der Gründerzeit also vornehmlich dem Selbstdarstellungs­ und Zerstreuungsbedürfnis der Bourgeosie sowie jener sozialen Schichten, die sich an Adel und Bürgertum orientierten. Dergestalt auf bestimmte Aus­

Kernelemente des naturalistischen Literaturprogramms

drucksziele festgelegt, war sie dazu gezwungen, immer weitere Bereiche aktueller Lebenswirklichkeit auszublenden. Weder allgemeine Begleitphä­ nomene der zunehmend voranschreitenden Industrialisierung (wie die ein­ setzende Massenproduktion von Lebensmitteln und Konsumgütern, die Ent­ stehung von Metropolen bei gleichzeitiger Veränderung der überkommenen urbanen Strukturen, die Herausbildung einer eigenen Schicht von - oftmals proletarisierten - Industriearbeitern) und Technisierung (wie das Aufkom­ men neuer Verkehrsmittel und Kommunikationstechniken oder die Verän­ derung der herkömmlichen Tages- und Jahreszyklen durch die Ausbreitung der künstlichen Beleuchtung) noch spezifisch moderne, meist an den Le­ bensraum der Großstadt gekoppelte Erfahrungen (wie wachsende Kriminali­ tät, Prostitution und Alkoholismus) fanden in nennenswertem Maß Eingang in die zeitgenössische Literatur, so dass diese von der nachwachsenden Ge­ neration von Autoren als überholt, rückwärtsgewandt und verlogen empfun­ den wurde. Zugleich schälten sich so die Umrisse eines eigenen Schreib­ konzepts heraus: Die künftige Literatur sollte realitätsnah sein, indem sie sich allen Erscheinungen der Lebenswirklichkeit öffnet und keinen Erfah­ rungsbereich tabuisiert, sie sollte gegenwartsorientiert sein und die Fixie­ rung auf historische Stoffe und Themengebiete vermeiden, und sie sollte ,wahrhaftig' sein, indem sie sich nicht länger an vorgegebenen ästhetischen Gestaltungsnormen ausrichtet, sondern nach neuen und unreglementierten Ausdrucksmustern sucht. Diese drei Elemente sind es denn auch, die den Kern des naturalistischen Literaturprogramms bilden. Allerdings tritt zumindest in der Anfangsphase noch ein weiterer Aspekt hinzu. Der deutsche Naturalismus ist nämlich von seinem Initialimpuls her eine gesamtkulturelle Regenerationsbewegung, die sich einerseits gegen die von der "Generation der Väter" (Nöhbauer 1956, 52) zu verantwortende Fassadenkultur der Gründerzeit richtet, die ihr Selbstverständnis und ihre Legitimation andererseits aber gerade aus dem Faktum der Reichsgründung bezieht, die ja allererst den Anstoß für die dann einsetzende künstlerische

Nationalistische Komponente des Frühnaturalismus

17

18 111. Kontexte Degeneration der siebziger Jahre gegeben hat. Im Grunde klagten die jun­ gen Schriftsteller nur ein, was die Propagandisten des Kaiserreichs uner­ müdlich verbreiteten: das Versprechen, dass der Einigung auf politischem Gebiet und dem ökonomischen Aufschwung zwangsläufig auch eine neue kulturelle Blüte folgen werde. Allerdings erfüllten sich diese Verheißungen nicht. Und so war es denn auch vor allem die nachhaltige Enttäuschung über die geweckten, aber nicht eingelösten Hoffnungen, die den Unmut der Heranwachsenden erregte und den Treibsatz ihres Protestes gegen die als hohl empfundene Kultur der Gründerzeit bildete. Trotz der forciert nationa­ listischen Selbstdarstellung des Staates im Politischen und der behaupteten Zugewandtheit zur Zukunft war die etablierte Kultur der Gründerzeit in Deutschland nach wie vor vergangenheitsbezogen und stark am Ausland orientiert. Am deutlichsten lässt sich dies an den Spielplänen der Theater er­ kennen, die neben ,klassischen' Repertoirestücken vor allem Salondramen und Konversationslustspiele zeitgenössischer französischer Bühnenautoren (Emile Augier, Alexandre Dumas d.J., Victorien Sardou) zeigten. So tat sich mit der Zeit gleich ein zweifacher Gegensatz auf: zwischen der immer stärker um sich greifenden Modernisierung der Lebenswelt und der ästhetischen Zurückgebliebenheit der kulturellen Ausdrucksformen auf der einen und zwischen dem Anspruch der deutschen Nation, auch kultu­ rell eine führende Rolle in Europa zu spielen, sowie der Realität, die dieser Prätention nicht gerecht wurde, auf der anderen Seite. Dem nun wollten die Naturalisten nicht nur eine strikt gegenwartsorientierte, sondern auch eine dezidiert nationale Dichtung entgegensetzen. Aus dem damit einher­ gehenden Abwehrimpuls gegen fremdkulturelle Einflüsse erklärt sich im Übrigen der heute befremdlich anmutende nationalistische Ton ihrer Äuße­ rungen. So verkündet etwa Hermann Conradi: "Der Geist, der uns treibt zu singen und zu sagen, [ ...] ist der Geist wiedererwachter Nationalität." (Arent [Hrsg.] 1885, 111) Ihm sekundiert Conrad Alberti, der betont: "Wir vertreten [ ...] eine völlig selbständige und eigenartige Bewegung [ ...] deren erstes und höchstes Prinzip die Nationalität ist!!" (Alberti 1888, 1041) Hoffnungen auf

Die nachwachsende Generation von Autoren, die sich als "Geisteskinder

kulturelle

der Jahre 1870/71" (Fritsche 1885/86, 16) begriffen, formierte sich also an­

Regeneration

fangs als Widerstandsbewegung gegen die von Nietzsche schon 1873 kons­ tatierte "Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen Rei­

cheslll (Nietzsche 1972, 156). Wilhelm Bölsche wollte die naturalistische Bewegung deshalb in einem "entwicklungsgeschichtlichen Sinn" verstan­ den wissen als Bezeichnung für die Bestrebungen einer "Generation mehr

Reaktionen auf die Merkantilisierung der Kunst

oder minder gleichaltriger junger Leute, mit denen in den Jahrzehnten seit 1870 ein entscheidender Umschwung in unserem ganzen dichterischen Le­ ben eingetreten ist" (Böische 1890, 95). Das euphorisch begrüßte Ereignis der Reichsgründung und den damit verbundenen Aufstieg Deutschlands zu einer der europäischen Zentralmächte verband diese Generation "mit den überschwänglichen Hoffnungen einer neuen Kultur", die "strahlender als die Schönheitswelt von Althellas" (Conrad 1902, 86) sein sollte. Diese Wunschphantasie ist freilich ihrerseits ein Produkt der mit der Ent­ fesselung der ökonomischen Produktion einhergehenden verschärften Mer­ kantilisierung der Literatur. Denn schon für die siebziger Jahre gilt ja: "I'uni­ fication des etats allemands [ ...] mit le marche de la culture en regime de

1. Historische, sozialgeschichtliche und kulturelle Voraussetzungen

libre-echange" Uelavich 1979, 39). Von den Verlagen gedruckt bzw. von den Theatern gespielt wurden - mit Ausnahme der für das eigene Selbstver­ ständnis wichtigen sog. Klassiker - fast ausschließlich solche Schriftsteller, deren Texte kommerziellen Erfolg versprachen, während sperrige Autoren allenfalls ein Nischendasein fristeten und literarische Debütanten die Publi­ kation eines eigenen Werks oftmals aus eigener Tasche finanzieren muss­ ten. Und so kann das Programm des deutschen Frühnaturalismus auch als Antwort gesehen werden auf die "Tatsache, daß [ . . . ] der Markt zur haupt­ sächlichen kulturellen Regulierungsinstanz geworden war" (Lenman 1994, 58). Direkter Reflex auf diese ernüchternde Einsicht war die Forderung nach einer staatsmäzenatischen Förderung der Kunst. Im Bestreben, das deutsche Kaiserreich zu einem Kulturstaat weiterzuentwickeln, forderten beispielsweise die Brüder Hart von Kanzler Bismarck die Einrichtung eines eigenen "Reichsamts für Literatur, Theater, Wissenschaft und Künste" (Hart/ Hart 1882-84, H. 2, 7), das den künstlerischen Nachwuchs durch Alimen­ tierung fördern und die Theater subventionieren sollte. Andere Autoren zeigten sich in dieser Hinsicht eher skeptisch. So lehnte etwa Bleibtreu jede "Staatssubvention" (Bleibtreu 1885, 331) der Literatur entschieden ab. Ganz ähnlich zog Arno Holz derartige Erwartungen ins Lächerliche und äu­ ßerte sich abfällig über die "sonderbaren Schwärmer, Käuze, Broschüren­ schreiber, die sich lärmend" an die Regierung "herandrängen und von ihr die Verwirklichung unserer Ideale fordern" (Holz 1890, 165). Besondere Hoffnungen richteten sich auf den 1888 stattfindenden Thronwechsel, er­ wartete man doch vom "jungen, geistvollen Kaiser" (Conrad 1888, 724) Wilhelm 11. "das Heil der nationalen Kunst" (Alberti 1890, 792). Auch wenn nicht alle Vertreter des Naturalismus an das "Trugbild vom ,sozialen Kaisertum'" (Sollmann 1982, 129) glaubten, teilten sie doch sämt­

Wiederbelebung des Geniebegriffs

liche die Überzeugung von der überragenden Bedeutung der Kunst für die Gegenwart, die sie von materialistischen Tendenzen bedroht sahen. So be­ griff Conradi die Künstler ausdrücklich als "Hüter und Heger, Führer und Tröster, Pfadfinder und Wegeleiter, Ärzte und Priester der Menschen" (Arent [Hrsg. ] 1885, 111), und selbst Bleibtreu verlangte "Achtung vor der moder­ nen [ . . . ] Priesterschaft der Schriftsteller" (Bleibtreu 1885, 334). Zweifellos ist hier die "selbsterhöhende Regeneration eines historischen Dichter­ ideals" (Sollmann 1982, 132) zu erkennen, das historisch auf die Theoreme der Geniebewegung zurückgeführt werden kann. Die Brüder Hart hatten schon 1884 erklärt: "nur das Genie [ . . . ] kann [ . . . ] den Sturmgeist" wieder­ bringen, "der alles Kleinliche niederwirft" (Hart/Hart 1882-84, H. 6, 74). Dementsprechend hatte dann Conradi in Anknüpfung daran eine "schran­ kenlose, unbedingte Ausbildung" der "künstlerischen Individualität" (Arent [Hrsg. ] 1885, 111) als Gegenmittel gegen jede Art von ästhetischer Epigonali­ tät propagiert. Dieses unbedingte Vertrauen in die Authentizität subjektiven Ausdrucksbestrebens muss erstaunen angesichts des deterministischen Weltbilds, dem die meisten Naturalisten anhingen. Es wird aber verständ­ lich, wenn man es als funktionales Element im Kampf gegen Formkonven­ tionen begreift. Die Restituierung eines im Grunde bereits obsolet gewordenen Schriftstel­ lerideals dient im Wesentlichen dem Versuch einer "Selbstbehauptung der Literatur" und will zu einer "Rückgewinnung der Eingriffsmöglichkeiten der

Versuch einer Neubegründung der Literatur

19

20

111. Kontexte

Literatur in alle gesellschaftlichen Belange" (Voigt 1983, 25) beitragen. Da­ mit ist das Bemühen um eine durchgreifende Regeneration der Kultur als Antwort auf den Bedeutungsverlust der Kunst im letzten Drittel des 19. Jahr­ hunderts zu werten. "In ihrer Genese war die naturalistische Revolte eine Opposition gegen den Kultur- und Kunstverfall seit den Gründerjahren, mit der die Erfahrung eines elementaren Funktionsverlustes des bürgerlichen Künstlers und Intellektuellen einherging." (Fähnders 1987, 9) Als deutlich wurde, dass der Staat nicht als Sachwalter künstlerischer Belange auftreten würde, entwickelten die jungen Autoren ein gegen die offizielle Repräsenta­ tionskultur wie gegen die Kommerzkunst gleichermaßen gerichtetes ästheti­ sches Erneuerungsprogramm, das Positionen des europäischen Naturalismus aufnahm. Der deutsche Naturalismus stellt demnach eine Reaktion dar auf die den Fortbestand der literarischen Kultur existentiell gefährdende dreifa­ che Bedrohung, die sich in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahr­ hunderts abzuzeichnen begann: Erstens sahen die Schriftsteller die ange­ stammte Bedeutung der Literatur durch die tendenziell kunstfeindliche Hal­ tung des Besitzbürgertums infrage gestellt, dessen einseitige Betonung des Ökonomisch-Materiellen die Kunst an den Rand drängte und ihr nurmehr eine dekorative bzw. unterhaltende Funktion zuwies. Zweitens beraubte die ständig dominanter werdende Naturwissenschaft, welche die Deutungs­ kompetenz für immer weitere Bereiche der Erfahrungswirklichkeit bean­ spruchte, die Literatur ihrer angestammten Rolle. Indem der universale Gel­ tungsanspruch der Wissenschaft die weitere Existenzberechtigung der Kunst infrage stellte, stürzte er sie in eine regelrechte "Legitimationskrise" (Scheuer

1984, 14). Dazu kommt drittens die mediengeschichtliche Herausforderung, die durch die Erfindung technischer Bild- und Tonaufzeichnungsapparaturen gegeben war. Die Literatur verlor demnach durch mehrere Faktoren gleich­ zeitig an Terrain. Im Zuge dieser potenzierten Krisenerfahrung entwickelten die Autoren der jungen Generation schließlich ein ästhetisch-kulturelles Pro­ gramm, das auf den Funktionsverlust der Kunst in der zeitgenössischen Ge­ genwart antwortete. Die Führungsrolle der Literatur I ieß sich jedenfalls nur dann wieder beanspruchen, wenn es gelang, ihr erneut zu gesellschaftlicher Bedeutung zu verhelfen, mithin "Dichtung [ . . ] auf der Grundlage naturwis­ .

senschaftlicher Objektivierung gegen die literarische Tradition neu zu kontu­ rieren" (Sollmann 1982, 130) und ihr angesichts der Medienkonkurrenz wei­ tere Ausdrucksdimensionen zu erobern. Vor die Wahl gestellt, entweder so­ zial funktionslos zu werden und sich auf eine Nische des Ästhetischen zurückzuziehen oder auf die Herausforderung der Wissenschaft und der neuen medialen Erfindungen zu reagieren, begann die Literatur, sich neu zu definieren und geeignete Anpassungsstrategien zu entwickeln.

2. Naturwissenschaftliche und soziologische

Denkkonzepte Das 19. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert markiert insofern einen Wendepunkt in der Wissensge­

als Wendepunkt der

schichte, als hier erstmals die Natur- und Sozialwissenschaften herausra­

Wissensgeschichte

gende Geltung erlangten und zu gesellschaftlichen Leitdisziplinen avan-

2. Naturwissenschaftliche und soziologische Denkkonzepte

cierten, die das Selbstverständnis des modernen Menschen nachhaltig prä­ gen. Allerdings dauerte es eine geraume Weile, bis die entsprechenden Deutungsmodelle Eingang in die intellektuellen Debatten der Zeit fanden. Eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung neuen Gedankenguts spielten Intellektuelle, welche die neuartigen Wissensbestände und Denkstrukturen publikumswirksam popularisierten. Vielfach läßt sich gar nicht mehr genau feststellen, auf welchen Wegen zeitgenössische Wissenschaftstheoreme in die öffentlichen Debatten gelangten. Insofern kann es hier nur darum ge­ hen, einige jener Personen vorzustellen, die im Bewusstsein der Zeit eine Schlüsselrolle spielen - unabhängig davon, ob sie nun selbst Diskursbe­ gründer waren oder nicht. In jedem Fall aber - und dies ist einzig von Be­ deutung - fungierten sie als Stichwortgeber. Zu den wichtigsten Voraussetzungen der naturalistischen Ästhetik gehört zunächst der von dem französischen Philosophen Auguste Comte be­ gründete Positivismus in seiner Doppelfunktion als wissenschaftliche Ver­

Zur Rolle des Positivismus: Auguste Comte

fahrensweise und als epistemologisches Basisprinzip. In seinem sechsbän­ digen Grundlagenwerk Cours de philosophie positive (1830-42) verwirft Comte für den gesamten Bereich der Wissenschaft die bis dahin allgemein als Instrument zur Gewinnung von Erkenntnis akzeptierte und vor allem von der idealistischen Philosophie legitimierte spekulative Methode und lehnt darüber hinaus die Heranziehung metaphysischer Erklärungsprinzi­ pien ab, von denen aus auf dem Weg der Deduktion Ergebnisse gewonnen werden. Stattdessen lässt er nur zwei Erkenntnismodi zu: die minutiöse Be­ obachtung und das kontrollierte Experiment. Das Credo des Positivismus lautet denn auch: Jegliche Wissenschaft hat vom ,positiv', d. h. tatsächlich Gegebenen auszugehen, und ihre Erkenntnisse müssen stets durch genaue Beobachtung überprüfbar sein. Dahinter steckt die Grundannahme, dass alle Vorgänge festen und unveränderlichen Gesetzen unterworfen seien. Diese Gesetzmäßigkeiten nun nach und nach vollständig aufzuspüren, ist das Ziel des philosophischen Positivismus. Auf Grund des gesetzmäßig ge­ regelten Ablaufs aller Dinge bilden die daraus resultierenden Tatsachen einen festen Bezugspunkt für die Wissenschaft. Mit anderen Worten: Der Positivismus unterstellt eine einheitliche, der Analyse zugängliche Ebene empirisch verifizierbarer Faktizität. Comtes Theorie enthält freilich keine deterministische Komponente. Viel­ mehr lässt Comte sich von dem Grundsatz leiten: "voir pour savoir, savoir pour prevoir, prevoir pour prevenir". Diese Überzeugung leitet vor allem sein Systeme de politique positive, ou traite de sociologie (1851-54), eine jener Schriften, die ihn zur Gründungsfigur der Soziologie haben werden lassen. Soziale Phänomene werden von Comte - anders als dann von den meisten Vertretern des Naturalismus - nicht als unumstößliche Gegeben­ heiten angesehen, sondern als Zustände, die durch den Menschen verän­ derbar sind, und zwar gerade wegen der ihnen zugrunde liegenden Geset­ ze. Was Comte anstrebt, ist eine "soziale Physik", die den Menschen als Basiseinheit der Gesellschaft begreift und die Beziehungen zu seinen Mit­ menschen in einer Weise untersucht, wie es der Naturwissenschaftler etwa mit den Elementen tut. Dabei leitet ihn die Überzeugung, dass gesellschaft­ liche Missstände abgeschafft werden können, sobald die Gesetze des menschlichen Soziallebens erkannt sind.

"Soziale Physik"

21

22 111. Kontexte Um die Überlegenheit der positivistischen Wissenschaft über alle ande­ ren Erkenntnisformen zu beweisen, entwirft Comte ein Dreistadienmodell, das die Entwicklung des Wissens nachzeichnen will. Danach habe als ers­ tes das theologische Deutungsmuster geherrscht, das alle Erscheinungen als Verkörperung göttlicher Instanzen verstanden und sich durch die Verehrung dieser Götter bzw. deren Fetischen ausgezeichnet habe. Diesem sei dann ein metaphysisches Erklärungsschema gefolgt, das den Ablauf von Ereignis­ sen mithilfe von Ideen zu verstehen versucht und seinen Höhepunkt in der Geistphilosophie des deutschen Idealismus erreicht habe. In der nachidea­ listischen Phase nun werde nicht mehr nach dem ,Warum' der Erscheinun­ gen gefragt, sondern lediglich nach dem ,Wie'. Der Positivismus beschäfti­ ge sich deshalb mit den Dingen selbst und bemühe sich darum, die Gesetz­ mäßigkeiten

aufzufinden,

welche die Wirklichkeit

bestimmen.

Nach

Theologie und Metaphysik sei mittlerweile das dritte und letzte Stadium erreicht, das der Wissenschaft. Weitere Vertreter

Für die weitere Entwicklung des Positivismus und seine Anwendung in

des Positivismus:

einzelnen Wissenschaftsbereichen spielen insgesamt vier Personen eine

lohn Stuart Mill, Claude Bernard, Henry Thomas Buckle

wichtige Rolle: lohn Stuart Mill, Claude Bernard, Henry Thomas Buckle und Hippolyte Taine. Mill untermauerte Comtes Annahme, dass die Erfah­ rung die einzig legitime Erkenntnisquelle sei und erklärte in seinem Sys­ tem of Logic (1843; dt. 1849) die Induktion zur eigentlichen wissenschaft-

lichen Methode. leder Form von spekulativem Denken, das von bloßen Setzungen ausgeht und nicht durch die Empirie gedeckt ist, erteilte er da­ bei eine strikte Absage. Dass er auf den Thesen Comtes aufbaut, zeigt vor allem sein 1865 erschienenes Buch Auguste Comte and Positivism, aber auch der Rückgriff auf den Begriff des ,Gesetzes' weist ihn klar als dessen Nachfolger aus. Bernard, einer der Begründer der modernen Physiologie, wandte die Grundsätze Mills und Comtes dann auf die Medizin an. Seine Schriften Introduction a I'etude de la medecine experimentale (1865) und La science experimentale (1878), in denen er den kontrolliert angestellten

Versuch zum entscheidenden Prüfstein wissenschaftlicher Erkenntnis er­ klärte, wurden wenig später zum zentralen Bezugspunkt von Emile Zolas Konzept des "roman experimental". Buckle wiederum weitete die positi­ vistische Methode auf die Geschichtswissenschaft aus, und nahm zu­ gleich an, dass der Verlauf der Historie determiniert sei. Die Annahme einer Vorsehung oder des freien Willens lehnte er ab und setzte an deren Stelle eine Reihe von empirisch bestimmbaren Faktoren; so heißt es etwa in seiner History of Civilization in England (1857/61; dt. 1860/61) genera­ lisierend: "Man is affected by four classes of physical agents; namely, cli­ mate, food, soil, and the general aspect of nature." (Buckle 1857/61, Bd. 1,39) Hippolyte Taine

Auf die Ästhetik übertragen wurden die Annahmen des Positivismus schließlich durch Hippolyte Taine, einen Schüler Auguste Comtes. Nach seiner Ansicht muss die gesamte bisherige, auf Spekulation beruhende Kunsttheorie durch eine positivistische ersetzt werden. Das bedeutet etwa für die Literaturgeschichtsschreibung, dass mit einem Mal ethnologische, historische und soziologische Fragestellungen Aktualität erlangen. In seiner Histoire de la litterature anglaise (1863; dt. 1878) benennt Taine - ähnlich

wie vor ihm Buckle - eine Reihe von grundlegenden Faktoren, die jedes In-

2. Naturwissenschaftliche und soziologische Denkkonzepte 23 dividuum bestimmen. Bei ihm sind es allerdings nur drei, und diese drei erscheinen greifbarer als bei seinem englischen Kollegen; es sind "la race, le milieu et le moment" (Taine 1863, Bd. 1, XXllf.). ,Race' meint die angeborenen und vererbten Eigenschaften, wie sie sich in Tempera­ ment und Körperstruktur manifestieren. Es handelt sich um eine uralte biologische Prägung überindividueller Art, um eine mächtige physisch-physiologische und psy­ chologische Konstante, die sich in allen Prozessen sozialen und kulturellen Wandels durchhält. - ,Milieu' [... ] bezeichnet klimatische und geographische Bedingungen ebenso wie politische und soziale Verhältnisse, Tatbestände, die [... ] das Resultat langer geschichtlicher Prozesse sind. [. .. ]- ,Moment' schließlich zielt auf speziellere geschichtliche Kausalität, z. B. diejenige, die bewirkt hat, daß sich die Tragödien Cor­ neilles und Voltaires, trotz ihrer geschichtlichen Nähe und gattungshistorischen Ver­ wandtschaft, als höchst unterschiedliche kulturelle Erscheinungen darstellen. (Men­ nemeier

1985, 29)

Von diesen drei Grundkräften ist nach Taine der Mensch geprägt. Das be­ deutet, dass ein Forscher, der die Literatur eines bestimmten Landes darstel­ len will, dessen Autoren in ihrer Epoche zu zeigen, ihrer biologischen Ab­ stammung sowie den klimatischen Faktoren, unter denen sie leben, nach­ zugehen hat und ihr soziokulturelles Umfeld genauestens untersuchen muss. Eine solche Betrachtungsweise bildet natürlich einen scharfen Kon­ trast zur bisherigen Praxis der Literaturgeschichtsschreibung, die entweder vom Konzept des autochthonen Autors ausgegangen ist oder eine abstrakte Entwicklungsgeschichte des ,Geistes' postuliert hat. Zusammengefasst und systematisch dargestellt finden sich Taines Thesen in seiner Philosophie de

I'art (1865; dt. 1866). Taine ist es im Übrigen auch, der den Begriff ,natura­ liste' zum ästhetischen Programmwort gemacht hat. In Deutschland verbreitet wurden die Denkmuster Comtes, Buckles und Taines u. a. von dem einflussreichen - von 1877 bis zu seinem Tod 1886 in Berlin lehrenden - Germanisten Wilhelm Scherer, dem wohl prominentesten Vertreter eines literaturwissenschaftlichen Positivismus. In der Vorrede seines Buchs Zur Geschichte der deutschen Sprache (1868) schreibt er etwa: [. ..] wir glauben mit Buckle dass der Determinismus, das demokratische Dogma vom unfreien Willen, [... ] der Eckstein aller wahren Erfassung der Geschichte sei. Wir glauben mit Buckle dass die Ziele der historischen Wissenschaft mit denen der Naturwissenschaft insofern verwandt seien, als wir die Erkenntniss der Geistesmäch­ te suchen um sie zu beherrschen, wie mithilfe der Naturwissenschaften die physi­ schen Kräfte in menschlichen Dienst gezwungen werden. (Scherer

1868, VIII f.)

In Anlehnung an Taine postulierte Scherer, es gebe drei wesentliche Fakto­ ren, die ein menschliches Individuum formten; diese nannte er das "Ererb­ te", das "Erlebte" und das "Erlernte" und prägte damit eine Begriffstrias, welche zum Standardbestand der Literaturwissenschaft um 1900 wurde. Weil er ein ,modernes', nüchternes Wissenschaftsverständnis vertrat, wirkte er als Anziehungspunkt für zahlreiche junge Männer, die in Berlin studier­ ten. Darunter waren auch einige Intellektuelle aus dem Umfeld des Natur­ alismus. Zu nennen wären hier vor allem die Theaterkritiker und Regisseure Otto Brahm und Paul Schienther, die sich explizit zu seinen "Schülern" (Brahm 1913/15, Bd. 2, 296) zählten, aber auch Max Halbe.

Wilhelm Scherer

24 111. Kontexte Der sog. Ent­

Neben den Positivismus als bestimmendes Denkmuster der zweiten Hälfte

wicklungsgedanke:

des 19. Jahrhunderts tritt der sog. Entwicklungsgedanke. Dessen wichtigster

Herbert Spencer

Vertreter ist anfangs der englische Philosoph Herbert Spencer, der in seinem Aufsatz The Oevelopment Hypothesis (1852) das Prinzip der Evolution zum umfassenden Charakteristikum des Kosmos erklärt hat. Sowohl Natur wie Kultur seien einem übergreifenden, von Naturgesetzen gesteuerten Entwick­ lungsprozess unterworfen. Dabei spielt im Bereich organischen Lebens der Faktor der Anpassung an gegebene Umstände eine entscheidende Rolle. Spencer prägt in diesem Zusammenhang bereits die Formel "survival of the fittest". Sein Entwicklungskonzept besitzt für die deutschen Naturalisten vor allem deshalb eine herausgehobene Rolle, weil Spencer keinen Unterschied mehr macht zwischen Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaft. Stattdessen nimmt er an, dass die fundamentalen Entwicklungsgesetze in allen Bereichen der Wissenschaft gleichermaßen gelten.

Das Konzept

Wesentlich bekannter als Spencers Theoreme sind freilich die Ergebnisse

der biologischen

von Charles Darwin geworden, die den eher abstrakten Hypothesen seines

Evolution: Charles Darwin

Vorgängers ein konkretes biologisches Fundament verliehen. Darwin konn­ te in seiner Abhandlung On the Origin of Species (1859; dt. 1860) zeigen, dass der von Spencer postulierte Evolutionsprozess im Bereich organischen Lebens von zwei Faktoren bestimmt ist: Mutation und Selektion. Durch das Zusammenwirken beider komme es zur heutigen Vielfalt der Arten. Darwin griff darüber hinaus die von Alfred Russel Wallace und Spencer formulierte Denkfigur vom Überleben des Tüchtigsten bzw. am besten Angepassten zu­ rück und postulierte, dass sich auf Grund des Mangels an Ressourcen alle Lebewesen in einem "Kampf ums Dasein" befänden. In Deutschland ver­ breitet und popularisiert wurden die Ergebnisse von Darwins Forschungen dann von Ernst Haeckel. Auf der 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin (1863) fasste er die wichtigsten Ergebnisse der Evoluti­ onstheorie - Darwin zitierend - folgendermaßen zusammen: "Alle verschiedenen Thiere und Pflanzen, die heute noch leben, sowie alle Organis­ men, die überhaupt jemals auf der Erde gelebt haben, sind nicht, wie wir anzuneh­ men von früher Jugend gewohnt sind, jedes für sich, in seiner Art selbstständig er­ schaffen worden, sondern haben sich trotz ihrer außerordentlichen Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit im Laufe vieler Millionen Jahre aus einigen wenigen, vielleicht sogar aus einer einzigen Stammform, [ ...] allmählich entwickelt." Was uns Men­ schen selbst betrifft, so hätten wir also consequenter Weise, als die höchst organisir­ ten Wirbelthiere, unsere uralten gemeinsamen Vorfahren in affenähnlichen Säuge­ thieren, weiterhin in känguruhartigen Beutelthieren, noch weiter hinauf [ ...] in ei­ dechsenartigen Reptilien, und endlich in noch früherer Zeit [ ...] in niedrig organisir­ ten Fischen zu suchen. (Haeckel 1902, Bd. 1, 3 f.)

Bruch mit der

Damit war nicht nur der Bruch mit der gesamten christlich-theologischen

Metaphysik

Tradition vollzogen, sondern auch jede Art von Metaphysik verabschiedet. Der Wegfall zweier zentraler Weltdeutungsmodelle schuf natürlich ein Va­ kuum, das aber die Wissenschaft allmählich auszufüllen begann. Dadurch, dass sie mit einem Mal die einzige Methode zu sein schien, die wirkliche Erkenntnismöglichkeiten und damit einen Zugang zur ,Wahrheit' bot, rück­ te sie nach und nach auch in die Rolle einer modernen und säkularen Heilslehre, was im Übrigen von Comte bereits intendiert war. So erklärte

2. Naturwissenschaftliche und soziologische Denkkonzepte

etwa Rudolf Virchow schon 1865 nüchtern: "Es ist die Wissenschaft für uns zur Religion geworden." (Virchow 1865, 18) Deszendenz- und Evolutionstheorie fanden schon bald Eingang in andere Wissenschaftszweige und stießen in den unterschiedlichsten Disziplinen weitere Forschungen an. Der Psychiater Benedict Augustin Morel übertrug in seinem TraM des degenerescences physiques, intellectuelles et morales de I'espece humaine (1857) den bis dahin vorwiegend auf die Entwick­ lungsgeschichte von Kulturen angewandten Begriff der "Entartung" auf pa­ thologische Phänomene. Er ging davon aus, dass bestimmte Verhaltenswei­ sen wie Alkoholkonsum oder von der Norm abweichende Sexualpraktiken vererbbar seien, und bezeichnete die dadurch bedingte, von einer Genera­ tion zur nächsten fortschreitende Verschlechterung des physischen und psy­ chischen Gesundheitszustandes als "Degeneration". Noch einflussreicher waren die Theoreme des italienischen Arztes Cesare Lombroso. In seinen Schriften Genio e follia (1864; dt. 1887) und L'uomo delinquente (1876; dt. 1887) postulierte er eine Verbindung von "Entartung" und krimineller Dis­ position einerseits bzw. von "Entartung" und Genie andererseits. Der Krimi­ nelle wird von ihm als besonderer Menschentyp beschrieben, der zwischen den Geisteskranken und den sog. Primitiven stehe. Genialität wiederum ist für ihn nichts anderes als eine Art permanenter psychischer Ausnahmezu­ stand, der sich biologisch nicht grundsätzlich von der kriminellen Devianz unterscheide. Morels und Lombrosos medizinisch-psychiatrische Thesen auf die Entwicklung der Kunst übertragen hat dann der Kulturkritiker Max Nordau in seinem vielgelesenen Buch Entartung (1892/93), in dem der Na­ turalismus und die übrigen modernen Literaturströmungen pauschal als "Kundgebungen der Entartung und Hysterie" (Nordau [1892/93], Bd. 1, 79) abqualifiziert werden. In den achtziger Jahren hatten sich die genannten Ansätze von den Inten­ tionen ihren Urheber soweit entfernt und verselbständigt, dass sie zu frei flottierenden Schlagworten mit meist unscharfem Bedeutungsgehalt gewor­ den waren. Vormals getrennte Termini gingen dabei überraschende neue Verbindungen ein, so dass ein kaum mehr entwirrbares, reichlich synkretis­ tisch anmutendes Diskursgeflecht entstand, das zunehmend Distinktions­ funktionen übernahm. Wer nämlich daran partizipierte und mit den wich­ tigsten Denkfiguren und Leitbegriffen vertraut war, wies sich automatisch als ,modern' aus. So erklärt sich nicht zuletzt die Wahl zugkräftiger Titel für literarische und publizistische Texte wie Der Kampf um's Dasein der L itera­ tur (Karl Bleibtreu; 1888), Wer ist der Stärkere? (Conrad Alberti; 1888) oder einfach nur Der Kampf ums Dasein (Conrad Alberti; 1889-97), die freilich weniger etwas über die konkrete Rezeption Spencers und Darwins im deut­ schen Naturalismus aussagen als vielmehr Einblick in das Ensemble plaka­ tiver Kennformeln geben, die bei der Selbstverständigung von Intellektuel­ len eine wichtige Rolle spielten. Ihren deutlichsten Niederschlag fand die Auseinandersetzung mit den Postulaten der Wissenschaft wohl in Wilhelm Bölsches Schrift Die natur­ wissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887), welche die Erkenntnisse der Wissenschaft auf die Kunsttheorie übertragen und so eine Art Hand­ lungsanleitung für eine Literatur im Geist des Naturalismus vorlegen will. Mit der Aufsatzsammlung Natur und Kunst. Beiträge zur Untersuchung ih-

Degeneration und "Entartung"

2S

26

111. Kontexte

res gegenseitigen Verhältnisses (1890) legte einige Jahre später dann auch Conrad Alberti den Entwurf einer naturalistischen Ästhetik vor, die sich auf die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaft gründet.

3. Medienkonkurrenz und Intermedialität:

Literatur Konkurrenz zwischen Wissen­ schaft und Kunst

VS.

Foto- bzw. Fonografie

Zweifellos haben die Künste durch den Siegeszug der Naturwissenschaften im

19. Jahrhundert an Terrain verloren. Während die gesellschaftliche Be­

deutung des sozialen Subsystems Wissenschaft zunahm, verringerte sich die des Systems Kunst. Der Ausgriff der Wissenschaft auf neue Regionen der Wirklichkeit und die gleichzeitige Vertiefung der Erkenntnisse im Be­ reich bereits erschlossener Phänomene nahm der Kunst Darstellungsfelder, die sie zuvor für sich reklamieren konnte, so dass zwischen beiden Sphären zunehmend ein Konkurrenzverhältnis entstand. Angesichts solcher Umstän­ de wäre es nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn der latente Verdrän­ gungswettbewerb zwischen Wissenschaft und Kunst aufseiten der Letzteren mehr oder minder heftige Abwehrreaktionen hervorgerufen hätte. Interes­ santerweise begriffen die naturalistischen Autoren die Dominanz der Natur­ wissenschaft aber als produktive Herausforderung. Der Natural ismus kann geradezu als Versuch gesehen werden, die damit verbundene Aufgabe mit­ hilfe eines Programms zur "Szientifizierung der Kunst" (Borchmeyer

1980,

166) zu bewältigen. Entwicklungs­ geschichte der Foto- und Fonografie

Die Literatur war indes noch von anderer Seite einem starken Legitima­ tionsdruck ausgesetzt. So wurden im Verlauf des

19. Jahrhunderts diverse

Erfindungen gemacht, die sehr bald die Entwicklung technischer Aufzeich­ nungsapparaturen ermöglichten. Dazu gehört zunächst die Fotografie, die sich seit ihren Frühformen bei Nicephore Niepce und Louis Daguerre rasch weiterentwickelte und spätestens mit der Entwicklung des Rollfilms durch George Eastman und der Einführung der Kodak-Kamera im Jahr

1888 zu einer technisch ausgereiften und für die Anwendung durch Laien geeigneten Form gelangte. Verfahren zur Aufnahme und Speicherung von akustischen Signalen wurden erst etwas später entdeckt. Eine Pionierrolle kommt hier Thomas Alva Edison zu, der

1877 mit dem Fonografen das

erste Gerät erfand, mit dem man auf mechanischem Wege Schallwellen aufzeichnen und wiedergeben konnte. Sein Verfahren wurde

1887 von

Emil Berliner verbessert, der das erste Grammofon baute, den mechani­ schen Vorläufer des Plattenspielers. Damit gab es in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre technische Apparaturen, die sowohl Bilder als auch Töne und Sprache weitgehend naturgetreu konservieren konnten, was einer me­ diengeschichtlichen Revolution gleichkam. Während bisher die Herstel­ lung eines Abbilds der Realität weitgehend Angelegenheit der Künste war, lieferte nun die Technik entsprechende Reproduktionen, die in ihrer Quali­ tät und Detailtreue bildende Kunst und Literatur in den Schatten zu stellen drohten. Problematik des

Die Auswirkungen, die diese technisch-medialen Umwälzungen für die

Mimesis-Konzepts

Ästhetik insgesamt und das Selbstverständnis der Künstler im speziellen

3. Medienkonkurrenz und Intermedialität

hatten, sind kaum zu überschätzen. Am wohl einschneidendsten wirkte sich die Verunsicherung aus, die dadurch entstand, dass mit einem Mal das Prinzip der Mimesis als wichtigster Legitimationsgrund der Kunst in Frage gestellt wurde. Mimesis als Herstellung eines in Ähnlichkeitsrelation zu sei­ nem Vorbild stehenden Abbildes bzw. einer anschaulichen, aber nachge­ ordneten Repräsentation war ja seit der Antike (Platon, Aristoteles) eines der fraglos anerkannten und ästhetisch festgeschriebenen Funktionselemen­ te der Literatur. Wenn aber nun die Realität mit einem Mal technisch repro­ duziert werden konnte, welche Aufgaben hatten dann noch die Künste? Im­ merhin hatte es in der Literatur bereits um 1800 einen ersten Vorstoß gege­ ben, sich von den Vorgaben der Nachahmungspoetik zu lösen.

Die

Romantik nämlich emanzipierte sich vom Mimesisgedanken dadurch, dass sie die Abbildung der Wirklichkeit durch die künstlerische Darstellung von Fantasiewelten ersetzte, was einesteils den Realitätsbezug lockerte und an­ dernteils die Selbstbezüglichkeit ästhetischen Ausdrucks vorantrieb. Aller­ dings vermochte dieses Lösungsmodell für die Generation der um das Jahr

1860 geborenen Autoren noch keine Strahlkraft zu entwickeln, weil es ein bereits durchgespieltes und abgelebt wirkendes Modell von Kunst lediglich fortzuschreiben schien. Angesichts der veränderten Rolle der Literatur in der modernen Welt konnte nur ein Lösungsansatz überzeugen, der den wis­ senschaftlichen Forderungen nach Realitätsnähe und Verzicht auf Spekula­ tion entsprach. Die eigentliche Bedrohung der Dignität künstlerischen Ausdrucks, die

Zum Diskurs der

sich durch die mediengeschichtliche Konkurrenz mit den neuen Bildauf­

fotografischen

zeichnungstechniken ergab, wurde aber zunächst einmal dadurch abge­

Abbildung

wendet, dass man eine argumentative Verteidigungsstrategie aufbaute. Die Naturalisten übernahmen kurzerhand die von den Vertretern des Poeti­ schen Realismus entwickelte Denkfigur, wonach die "Photographie als ,me­ chanische Reproduktion'" (plumpe 1990, 14) verstanden und dement­ sprechend "der Poesie die Aufgabe" zugewiesen wurde, "das ,Wesen' des Wirklichen kontraphänomenal zur Anschauung zu bringen" (plumpe 1990,

14). Das Ergebnis war, dass die Fotografie als Sujet in den literarischen Tex­ ten des Naturalismus ebensowenig eine nennenswerte Rolle spielt wie zu­ vor im Poetischen Realismus. Selbst dort, wo die neue Reproduktionstech­ nik thematisiert wird, geht es nicht um ihre mediale Funktion, sondern al­ lenfalls um ihren dubiosen sozialen Status. So ist zwar die Figur des Hjalmar Ekdal in Ibsens Drama Wildente von Beruf Photograph, allerdings führt der Autor anhand ihrer vorrangig die "Lebensuntüchtigkeit eines Pseu­ dokünstlers" vor, der von der Illusion gefangen ist, "vom ungeliebten hand­ werklichen Kleingewerbe wieder in die höheren geistigen Sphären der Kunst und der Wissenschaft aufzusteigen" (Koppen 1987, 67). Da das foto­ grafische Gewerbe im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits zu einem ökonomisch geprägten Berufszweig geworden war, weckte es natürlich Vorbehalte gegenüber der merkantilen Verwertung von Kunst, was einer Auseinandersetzung mit der medialen Rolle technischer Bildaufzeichnung eher hinderlich war. Trotz aller Reserviertheit gegenüber dem Konkurrenzmedium stellten die zeitgenössischen Schriftsteller aber immer wieder Bezüge zwischen den Kunstprogrammen des Realismus bzw. Naturalismus und der Fotografie her.

27

28

111. Kontexte

So betonte Karl Bleibtreu, dass "nur der zum Realisten tauglich" sei, "der die Gabe des technischen Sehens [ .. ] besitzt": .

Diese Gabe wird ihn auch befähigen, die seelischen Vorgänge in ihren intimsten Ver­ schlingungen mit dem Mikroskop psychologischer Forschung zu verfolgen und, wie ein beliebiges mechanisches Gescheniss der Aussenwelt, mit sinnlich greifbarer Ge­ staltung zu photographiren. (Bleibtreu 1973,31) Medientheoretische Ansätze

Dass die naturalistischen Autoren sich nachhaltig an der Fotografie orien­ tierten, hängt nicht zuletzt mit der Vorbildwirkung Zolas zusammen, der diese Aufzeichnungstechnik zum metaphorischen Modell für seine eigenen Darstellungsabsichten gewählt hat. Er folgt darin seinem Gewährsmann, dem Mediziner Claude Bernard, der in seiner Introduction a I'etude de la

medecine experimentale erklärt hatte: "Der Beobachter muß der Photo­ graph der Vorgänge sein, seine Beobachtung muß genau die Natur wieder­ geben." (Bernard 1961, 41) Zur zentralen Bezugsgröße für die Ästhetik der deutschen Naturalisten wurde die Photographie freilich erst im ,konsequen­ ten' Naturalismus, wo sich dann aber auch genuine Ansätze einer eigen­ ständigen Medientheorie feststellen lassen. Die fotografische Technik muss hier jedenfalls immer mitgedacht werden, wenn von Termini wie ,Nachah­ mung', ,Wiedergabe' oder ,Reproduktion' die Rede ist. Auswirkungen auf

Formal hat die Auseinandersetzung mit der Medienkonkurrenz vor allem

die künstlerische

Rückwirkungen auf die Art und Weise der literarischen Darstellung gehabt.

Darstellung

So wie im fotografischen Bild immer nur ein "scharf umrissener Sektor der Wirklichkeit herausgegriffen wird" (Koppen 1987, 68), so gehen auch die naturalistischen Autoren zunehmend dazu über, nurmehr Realitäts-,Aus­ schnitte' darzustellen. In diesem Punkt jedenfalls konvergierte die von Zola in seiner Theorie des Experimentalromans geforderte genaue Festlegung der Rahmenbedingungen mit der mediengeschichtlich bedingten Veränderung der Sehgewohnheiten und Darstellungspräferenzen. Auch zwischen dem Phänomen der sog. Momentfotografie, die einen Bewegungsvorgang in ein­ zelne Standbilder zerlegt und so seine Ablaufstadien erkennbar werden lässt, und der von der Literatur der späten achtziger und frühen neunziger Jahre neuentwickelten Darstellungstechnik des ,Sekundenstils' bestehen of­ fenkundige Parallelen. Letztlich spielte die Fotografie als visuelles Aufzeich­ nungsverfahren indes eine wesentliche stärkere Rolle im Diskurs der bil­ denden Kunst, wo ja eine ganz unmittelbare mediale Konkurrenzsituation gegeben war. Für die Literatur scheint mehr die Speicherung von akusti­ schen Signalen, wie sie durch die Erfindung des Fonografen und später der Schallplatte möglich wurde, ein Moment der Herausforderung gewesen zu sein. Jedenfalls ist es auffällig, mit welcher Akribie die Autoren des ,konse­ quenten' Naturalismus an die Nachbildung mündlicher Rede sowie von T önen und Geräuschen gegangen sind.

Veränderung der

Alles in allem reagiert die Literatur des Naturalismus eher indirekt auf die

Wahrnehmung

Entwicklung technischer Bild- und Tonaufzeichnungsapparaturen. Dies hängt damit zusammen, dass die tiefgreifende Veränderung der Medien­ landschaft, wie sie sich im späten 19. Jahrhundert ereignete, ihrerseits im Kontext allgemeiner mentalitätsgeschichtlicher Umbruchprozesse stattfand. In Gang gesetzt wurden sie u. a. durch Neuerungen in Verkehrs- (Eisen­ bahn) und Kommunikationstechnik (Telegraf), welche die durch die Verzeit-

3. Medienkonkurrenz und Intermedialität 29

lichung der Wissensbestände bewirkte Akzeleration aller Erfahrungsberei­ che machtvoll vorantrieben. Berthold Litzmann geht sicher nicht fehl, wenn er das Aufkommen naturalistischer Ästhetik in den Zusammenhang des von der allumfassenden Temporalisierung induzierten Wandels der Ver­ arbeitung von Sinnesreizen stellt: Wer hatte vor vierzig jahren eine Ahnung davon, mit welcher Geschwindigkeit das ganze moderne Verkehrsleben mit seiner alle Nerven anspannenden und reizenden hemmungslosen Unruhe das Nervensystem der heranwachsenden Generationen in einen Zustand dauernder Überreizung, einer Hyperästhesie in Bezug auf alle psychi­ schen Einwirkungen versetzen würde [ ...]. Die Fülle von wechselnden sinnlichen Eindrücken, die ohne große Mühe ein Mensch unserer Tage in sich aufnehmen kann und aufnimmt, ist im Vergleich zu dem verhältnismäßig spärlichen Vorrat, mit dem der Durchschnitt noch bis in die zweite Hälfte unseres jahrhunderts sich begnügte, überwältigend. Diese Masse der Eindrücke wirkt aber auch belebend, anregend auf die Schärfe und Genauigkeit der Beobachtung. Der moderne Mensch [ ...] wird dadurch, daß ihm, im Gegensatz grade zu der bishe­ rigen Entwickelung der modernen Kultur, viel mehr und viel mannigfaltigere Ein­ drücke durch Auge und Ohr in natura vermittelt werden, nicht nur durchweg das Charakteristische der sinnlichen Erscheinungen viel schneller und schärfer fassen und festhalten [ ...l, sondern er wird auch, wenn er diese Eindrücke dichterisch ver­ werten will, ein ungleich größeres Bedürfnis nach sinnlicher Anschaulichkeit, nach korrekter Wiedergabe empfinden als der Buchmensch. ja er wird in dem Bestreben, das natürliche Bild so treu, so sinnlich wie möglich wiederzugeben, häufig zu so dra­ stischen, so gewagten raffinierten Ausdrucksmitteln greifen, daß dem hieran nicht gewöhnten Durchschnittsleser mit [ ...] weniger entwickelter Beobachtungsgabe für einen großen Teil der hier geschilderten Nüancen der Sinneswahrnehmung das Or­ gan zur Aufnahme, zum Verständnis fehlt. Es ist kein Zufall, daß dieser Drang zum Naturalismus sich grade jetzt auf allen Ge­ bieten des künstlerischen Schaffens regt. Es ist das in diesem Falle nicht nur eine durch den Widerspruchsgeist hervorgerufene Reaktion gegen die Stilisierung und Idealisierung der natürlichen Dinge [ ...l, sondern mindestens ebenso sehr die phy­ siologische Folge der durch die eigentümlichen Kulturbedingungen der neuesten Zeit gesteigerten Reizbarkeit unserer Sinnesorgane. (Litzmann 1894, 128f.)

Obgleich Litzmann aus heutiger Sicht mediengeschichtlich naiv argumen­

Ansätze von

tiert und nicht jeder Schritt seiner Beweisführung überzeugt, wird hier auf

Intermedialität

einen Nexus hingewiesen, der nicht aus den Augen gelassen werden soll­ te. Gewöhnlich hat man nämlich die wahrnehmungspsychologischen, me­ diengeschichtlichen und epistemologischen Umbrüche der Klassischen Moderne erst mit den nach- und gegennaturalistischen Strömungen der Zeit um 1900 in Verbindung gebracht. Es gilt freilich künftig verstärkt an­ zuerkennen, dass diese epochalen Krisenerfahrungen ihrerseits eine Ent­ wicklungsgeschichte haben, und im Rahmen dieser Genealogie kommt dem Naturalismus eine bedeutendere Rolle zu, als man bislang angenom­ men hat. Lediglich markante Formen von Intermedialität, wie sie für die Literatur der Jahrhundertwende und dann besonders für die literarischen und künstlerischen Avantgardebewegungen kennzeichnend sind, begeg­ nen im Naturalismus noch nicht. Dafür werden Möglichkeiten ausgelotet, wie weit Sprache Realität zu imitieren bzw. zu simulieren vermag. Im Be­ reich der Dramatik finden sich sogar gewisse Ansätze, die traditionellen

30

111. Kontexte

Grenzen der Künste im Hinblick auf die Wiedergabe einer Totalität von Sinneseindrücken hin zu überschreiten. So verlagert sich der Darstellungs­ fokus vom Dialog weg hin zum nonverbalen bzw. halbsprachlichen Aus­ druck. Vor allem Gestik und Mimik - also Formen der Körpersprache -, aber auch Seufzen, Stöhnen oder Weinen - Formen nonverbaler Lautlich­ keit - sowie Stammeln und Lallen - Formen halbsprachlicher Artikulation - erhalten ein bislang ungekanntes Gewicht. Dies kann so weit gehen, dass sich das eigentlich Wichtige nicht mehr in Worten artikuliert. Neben den körperbetonten Laut- und Gestenzeichen erhalten auch Geräusche eine völlig neue Bedeutung für das Geschehen, das gerade stattfindet. Au­ ßerdem greifen manche dramatische Werke des Naturalismus erkennbar über die Schrift als Notationssystem hinaus: Indem sie die wichtigsten Be­ standteile des Bühnenbilds grafisch mithilfe einer Lageskizze veranschauli­ chen (Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, Hermann Sudermanns

Oie Ehre, Eisa Bernsteins Dämmerung), integrieren sie optische Elemente in die Literatur, und indem sie musikalische Noten in den Text einfügen (Eisa Bernsteins Dämmerung, Otto Erich Hartlebens Rosenmontag, Emil Rosenows Kater Lampe), verweisen sie auf eine akustische Ebene jenseits des gesprochenen Worts. In beiden Fällen entstehen Medienkombinatio­ nen. Das einzelne Theaterstück ist nun nicht mehr bloß die Partitur, die in szenische Aktion umzusetzen ist, sondern es erhält ein Eigenrecht als mul­ timedialer Drucktext, der mehr Informationen enthält als jede Inszenierung bieten kann.

4. Literarische Muster aus dem Ausland:

Emile Zola, Henrik Ibsen, Lev Tolstoi Kulturtransfer aus

Auch wenn sich die naturalistische Bewegung in Deutschland als betont

dem europäischen

nationale Erscheinung ausgab, bezog sie doch entscheidende Impulse aus

Ausland

dem europäischen Ausland. Schärfer gesagt: Ohne Kulturtransfer aus Frank­ reich und Skandinavien wäre der deutsche Naturalismus überhaupt nicht denkbar. Zwar ist sein künstlerischer Reformwille zweifellos eine Reaktion auf die spezifischen Gegebenheiten des deutschen Literatursystems der siebziger und achtziger Jahre, doch stammen sowohl die ästhetischen Leit­ theorien als auch die literarischen Vorbildtexte, die zur Entstehung einer ei­ genständigen Strömung innerhalb der bereits bestehenden Diskursforma­ tion ,Realismus' führten, jeweils aus fremden Kulturen.

Frankreich:

Zola fungierte in diesem Zusammenhang als eigentlicher Wegbereiter,

EmileZola

da er als erster offensiv ein naturalistisches Kunstprogramm vertrat. Seine besondere Wirkung bei den Zeitgenossen resultiert daraus, dass die ästhe­ tische Reflexion bei ihm begleitet war von einem äußerst fruchtbaren litera­ rischen Schaffen, wodurch Theorie und P raxis gewissermaßen Hand in Hand gingen und sich wechselseitig beglaubigten. Naturalismus verstand Zola primär als "Anwendung der experimentellen Methode auf das Studi­ um der Natur und des Menschen" (Zola 1904, 51). Aufgabe der Literatur sei es, analog wie die Naturwissenschaft zu verfahren und mit den Mitteln der Fiktion eine genau definierte Versuchsanordnung zu generieren. Der

4. Literarische Muster aus dem Ausland

naturalistische Autor gibt also seine angestammte Funktion als Erfinder ima­ ginierter Geschehnisse auf und wird zu einem Experimentator, der gezielt anthropologisches bzw. soziologisches Wissen sammelt und künstlerisch konstelliert. Da er dabei die Untersuchungsobjekte, die er analysieren will, selbst bestimme und modelliere, gehe seine Tätigkeit über die eines bloßen Beobachters hinaus, wodurch der Schriftsteller dem Fotografen überlegen sei. Begründet und im einzelnen ausgefaltet hat Zola sein - auf Claude Ber­ nards Introduction a I'etude de la medecine experimentale (1865) rekur­ rierendes - Konzept in der Abhandlung Le roman experimental (1880). Dass es gerade der Roman ist, der ihm als Muster für die Explikation seiner Thesen dient, kann nicht verwundern angesichts der Tatsache, dass dieses Genre auf Grund seiner formalen Unbestimmtheit größtmögliche Gestal­ tungsfreiheit bietet und sich zugleich in besonderem Maße für die Darstel­ lung individueller Entwicklungsprozesse wie für die Beschreibung kollekti­ ver Handlungsdynamiken eignet. Gleichwohl sah Zola prinzipiell auch die übrigen Hauptgattungen der Literatur als mit der neuen Darstellungsweise kompatibel an. Voller Zuversicht erklärte er: ,,[ . . ] ich lebe [ . . ] in der festen .

.

Überzeugung, dass die Methode [ . . ] überall, auf dem Theater und sogar in .

der Poesie triumphieren wird. Es ist eine Entwicklung voller Notwendig­ keit." (Zola 1904, 62) Die Anwendbarkeit des experimentellen Verfahrens im Bereich der Lite-

Determinismus

ratur beruht indes auf Basisprämissen, welche die Attraktivität und Glaubwürdigkeit des Theoriegebäudes vielfach beeinträchtigt haben. Ebenso wie Bernard nimmt nämlich auch Zola "einen absoluten Determinismus in den Existenzbedingungen der natürlichen Erscheinungen" (Zola 1904, 9) an. "Determinismus" meint bei Zola allerdings nur durchgängige Kausalität, nicht aber Vorbestimmtheit des Geschehens, deshalb grenzt er sich vom sog. Fatalismus ab: "Der Fatalismus setzt das notwendige Eintreten einer Erscheinung unabhängig von ihren Bedingungen voraus, während der Determinismus die notwendige Bedingung einer Erscheinung ist, deren Eintreten nicht gezwungen ist." (Zola 1904, 36) Da der Kausalnexus, den Zola konstruiert, aber so lückenlos sein soll, dass er zuverlässige Prognosen über das Handeln einzelner Personen ermöglicht, ist er faktisch von einem fatalistischen Determinismus kaum zu unterscheiden. Vorschub leistet einer solchen Ansicht nicht zuletzt das pessimistische Menschenbild des Autors, das streckenweise stark an den Materialismus des 18. Jahrhunderts erinnert. So versteht Zola das einzelne Subjekt ganz wie der französische Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie als "tierische Maschine" (Zola 1904, 35). In jedem Fall stellt Zolas skeptische Anthropologie eine wesentliche Stütze seines Theoriemodells dar, liefert doch erst die rigorose Rückführung menschlichen Handeins auf physiologische Prozesse bei konsequenter Ausschaltung metaphysischer Erklärungsprinzipien die Voraussetzung für dessen wissenschaftliche Analysierbarkeit. Das Konzept des Experimentalromans ist fraglos der greifbarste Niederschiag, den der Versuch, die Literatur auf wissenschaftlicher Basis neuzubegründen, gefunden hat. Es geht Zola hierbei darum, mit ästhetischen Mitteln eine Versuchsanordnung zu generieren, die Rückschlüsse auf die Handlungsweise des Menschen zulässt und auf diese Wese seine Verhaltensprägungen und verborgenen Antriebskräfte offenlegt:

"Experimental­ roman"

31

32 111. Kontexte Kurz, das ganze Verfahren besteht darin, dass man die Tatsachen der Natur ent­ nimmt, dann den Mechanismus der Tatsachen studiert, indem man durch die Modifi­ kationen der Umstände und Lebenskreise auf sie wirkt, ohne dass man sich je von den Naturgesetzen entfernt. Am Ende hat man die Erkenntnis, die wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen in seiner individuellen und sozialen Betätigung. (Zola

1904,15) Les Rougon­ Macquart

Therese Raquin

Eine entscheidende Rolle für das Gelingen des - fiktional simulierten - Ex­ periments spielen die exakte Festlegung des Milieus, der Zeitumstände und der Abstammung der handelnden Figuren, denn durch eine Änderung der Ausgangsbedingungen lässt sich der Ablauf des Geschehens natürlich ent­ sprechend verändern. Praktisch umgesetzt hat Zola seine Theorie in dem 20-bändigen Romanzyklus Les Rougon-Macquart (1871-91), der das Schicksal einer Familie und ihrer Nachkommen vor dem Hintergrund ihrer Zeit vorführt. Das Werk trägt den bezeichnenden Untertitel "Histoire natur­ elle et sociale d'une familie sous le second empire". Die bekanntesten Teile dieses Werkkomplexes sind Le Ventre de Paris (1873 - Der Bauch von Pa­ ris), L'Assommoir (1877 - Oie Schnapsschenke bzw. Der Totschläger), Nana (1880) und Germinal (1885). Besonders die Unverblümtheit, mit wei­ cher Zola in den einzelnen Texten tabuisierte Themen wie Massenarmut, Fabrikarbeit, Prostitution oder Kriminalität aufgriff und literarisch gestaltete, ließ ihn zu einer zentralen und ob der Krassheit seiner Darstellungsweise sehr kontrovers diskutierten Bezugsfigur für die naturalistischen Schriftstel­ ler in Deutschland werden. Daneben spielt für die Wahrnehmung Zolas im deutschen Naturalismus vor allem der frühe Roman Therese Raquin (1867) eine herausragende Rol­ le, in dessen Mittelpunkt ein aus sexueller Leidenschaft begangener, aber minutiös geplanter und kaltblütig ins Werk gesetzter Mord steht, wobei das eigentliche Darstellungsinteresse den persönlichen und sozialen Umstän­ den, die zu dieser Tat führen, gilt. Es werden hier nüchtern und mit akribi­ scher Präzision die Genese und die Folgen eines - unentdeckt bleibenden Kriminalfalls beschrieben. Der Autor umreißt seine Absicht bei der Konzep­ tion dieses Textes folgendermaßen: In Therese Raquin wollte ich Temperamente studieren [ ...]. Ich habe Personen ge­ wählt, die unumschränkt von ihren Nerven und ihrem Blute beherrscht werden, die sich nicht im Besitz ihres freien Urteilsvermögens befinden und bei jeder Handlung in ihrem Leben dem verhängnisvollen Einfluß ihrer körperlichen Triebe unterliegen. Therese und Laurent [

-

die beiden Protagonisten

-

] sind Menschentiere [ ...]. Ich

habe versucht, in diesen Tieren das dumpfe Werk der Leidenschaften Schritt für Schritt zu verfolgen [ ...]. [ ...] Ich habe ganz einfach die analytische Arbeit an zwei lebenden Körpern vorgenommen, wie sie Chirurgen an Leichen vornehmen. (Zola

1982,6) Der Text wirkte nicht zuletzt deshalb auf die Zeitgenossen so provozierend, weil der Erzähler darin die Rolle eines unbeteiligten Beobachters einnimmt, der - wie ein Wissenschaftler - ohne jede moralische Entrüstung nur proto­ kolliert, was vorgeht. Zola charakterisierte seinen Roman deshalb auch als "Studie eines seltsamen physiologischen Falls" (Zola 1982, 6). Und genau diese distanziert-analytische Haltung gegenüber dem dargestellten Gegen­ stand war es, die für die kürzere Erzählprosa des deutschen Naturalismus

4. Literarische Muster aus dem Ausland

stilprägend wurde. So wählte Hermann Conradi für seinen Band Brutalitä­ ten (1886) den Untertitel "Skizzen und Studien", John Henry Mackay ver­

stand die Texte seiner Sammlung Schatten (1887) als "Novellistische Stu­ dien" (1887), denselben Gattungsnamen wählte Gerhart Hauptmann dann auch für seine Erzählung Bahnwärter Thiel (1888), und das Autorengespann Arno Holz und Johannes Schlaf veröffentlichte die experimentelle Dialog­ geschichte Die papierne Passion (Olle Kopelke) (1890) mit zusätzlicher lo­ kaler Präzisierung als "Eine Berliner Studie". Zolas Einfluss beschränkte sich freilich nicht auf das Genre des Romans. Obgleich er kein eigentlicher Dramenautor war, stellte er doch von einigen seiner Prosatexte Bühnenfas­ sungen her - wohl wissend um die Zugkraft dieses Mediums. Die Umarbei­ tung des Romans Therese Raquin zu einem Theaterstück und dessen publi­ kumswirksame Uraufführung im Jahr 1873 führte beispielhaft vor, welchen Effekt die naturalistische Darstellungstechnik auf der Bühne zu entfalten vermag. In Deutschland konnte man sich davon im Juni 1887 überzeugen, als die Dramenfassung von Zolas Roman in der Reichshauptstadt gezeigt wurde. Johannes Schlaf äußerte später rückblickend über dieses Theaterer­ lebnis: "Ein Ereignis von größter Wichtigkeit war damals für mich eine Auf­ führung der Therese Raquin, [...] die den Keim zu dem naturalistischen Drama in mich legte, wie ich es dann später [...] mit Arno Holz [ ...] ent­ wickelte." (Schlaf 1901/02, 1390) Wie sehr gerade die Bühnenfassung von Zolas Roman als Schlüsselwerk für die naturalistische Dramatik in Deutsch­ land angesehen werden muss, belegt auch der Umstand, dass sie wenig später auch in das Repertoire des Vereins ,Freie Bühne' aufgenommen und am 3. Mai 1891 erneut in Berlin gespielt wurde. Zola setzte den theoretisch formulierten Anspruch, den Geltungsbereich des Naturalismus über den Bereich der Narrativik hinaus auszuweiten, mithin selbst mit Erfolg in die Tat um. Im übrigen ließ er seiner Programmschrift über den Experimentalro­ man eine Abhandlung über den Naturalisme au theatre (1881) folgen. Von Zolas Werk gingen auch Impulse auf die Dramenproduktion jenes Autors aus, der als zweiter wichtiger ausländischer Prägefaktor für die na­

Skandinavien: Henrik Ibsen

turalistische Bewegung in Deutschland fungierte: Henrik Ibsen. Gewisse Parallelen zwischen den Werken beider nahmen bereits die Zeitgenossen wahr. So wies etwa Otto Brahm auf die "Ähnlichkeit der Therese Raquin mit Rosmersholm im Stoff wie in der ethischen Grundidee" (Brahm 1913, Bd. 1, 140) hin und vertrat die Ansicht, dass die Behandlung des Themas Vererbung in den Gespenstern

"wohl von Zola berührt worden" (Brahm

1913, Bd. 1, 76) sei. Solche Übereinstimmungen erklären sich freilich vor allem dadurch, dass Ibsen ebenso wie sein französischer Kollege wichtige Anregungen aus der Philosophie des Positivismus bezogen hat, die ihm von dem befreundeten Literaturwissenschaftier und Kritiker Georg Brandes, dem "eifrigsten Vorkämpfer Hippolyte Taines" "in den skandinavischen Ländern" (Bernhardt 1968, A 28), nahegebracht wurde. So bezeichnet Ib­ sen Taines Schriften bereits in einem Brief vom 22. Dezember 1868 als "eine wahre Goldgrube" (ibsen o.J. [1898-1904], Bd. 10, 446, Anm. 49). Im Unterschied zu Zola hat Ibsen aber nie ein eigenes Literaturprogramm entworfen. Gleichwohl decken sich seine künstlerischen Leitthemen auf weite Strecken mit den Anliegen der naturalistischen Bewegung. Hier wie dort ist das Streben nach ,Wahrhaftigkeit' oberstes Ziel - in dem epi-

Gesellschaftskritik

33

34 111. Kontexte grammatischen Gedicht Ein Vers wird literarisches Schreiben denn auch charakterisiert als "Gerichtstag halten / Über sein eignes Ich" (lbsen 0.).

[1898-1904], Bd. 1, 167) -, mit dem eine Absage an alle Formen verklären­ der Darstellung und die Forderung einer ungeschönten Wiedergabe der Wirklichkeit einhergeht. Dies wiederum legitimiert die Thematisierung als schockierend empfundener Phänomene (Selbstmord, Alkoholismus, Inzest, Infizierung mit Geschlechtskrankheiten) und die Aufdeckung sozialer Miss­ stände. Dementsprechend erklärt der Autor in einem Brief an Brandes vom

15. )uli 1869: "für uns kann selbst das formal Unschöne schön sein, kraft der in ihm wohnenden Wahrheit" (lbsen 0.). [1898-1904], Bd. 10, 128). Die größte Konvergenz mit den Maximen des Naturalismus weisen die Stücke der späten siebziger und frühen achtziger Jahre auf. Zu ihnen gehö­ ren Samfundets st0tter (1877 - Oie Stützen der Gesellschaft), Et dukkehjem

(1879 - Nora oder Ein Puppenheim), Gengangere (1881 - Gespenster) und En folkefiende (1882 - Ein Volksfeind). Gerade in Deutschland hat sich die Ibsen-Rezeption im Umkreis des Naturalismus stark auf diese Texte kon­ zentriert. Ihnen reihen sich noch Vildanden (1884 - Oie Wildente) und Rosmersholm (1886) an. Muster des

Faktisch hat Ibsen auf mehreren Ebenen auf den deutschen Naturalismus

analytischen Dramas

eingewirkt. Zunächst hat er das Spektrum der bevorzugten Themen beein­ flusst und entscheidend dazu beigetragen, dass bislang tabuisierte Wirklich­ keitsbereiche zur literarischen Darstellung gelangten. Da dies aber jener Bereich ist, in dem sich seine Gestaltungsintentionen am deutlichsten mit denen Zolas berühren, bleibt hier seine eigene Anregerfunktion diffus. Al­ lenfalls die Ansiedlung der Handlung im sozialen Milieu des gehobenen Bürgertums und die Fokussierung des Sozialraums Familie als Ort von Kon­ flikten ließen sich hier als Spezifika Ibsens nennen. Sehr viel direkter er­ kennbar sind seine Einflüsse im Hinblick auf Dramaturgie, Figurenzeich­ nung und Sprachgestaltung. So waren es die Stücke des norwegischen Au­ tors, die das Handlungsschema des analytischen Dramas, das dadurch charakterisiert ist, dass entscheidende Vorkommnisse dem auf der Bühne gezeigten Geschehen zeitlich vorausliegen und erst im Verlauf der Hand­ lung aufgedeckt werden, zum prägenden Textmodell des naturalistischen Theaters in Deutschland haben werden lassen. Im Zusammenhang mit die­ ser Form der Darbietung hat Ibsen ein bis dahin reichlich unspezifisches Rollenmuster neu akzentuiert und zu einem eigenständigen Figurentyp weiterentwickelt: den "Boten aus der Außenwelt" nämlich, der gleichfalls zu einer feststehenden Größe in den Dramentexten des deutschen Natu­ ralismus wird. Im Grunde werden unter diesem Begriff einige dramatische Funktionsträger subsumiert, die in der Bühnentradition altbekannt sind, da­ runter der "Heimkehrer nach langjährigem Fernsein" (Markwardt 1967, 26) (Wilhelm Scholz in Gerhart Hauptmanns Das Friedensfestl, der Gast bzw. Besucher (Alfred Loth in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang) oder auch eine Person, die Hilfe leistet (die Augenärztin Sabine Graef in Eisa Bernsteins Dämmerung). Auf Grund des sehr heterogenen Rollenspektrums dieser Gestalt, aber auch weil sie - anders als der Name suggeriert - kein eigentlicher Überbringer von Nachrichten ist, sollte man statt von einem "Boten aus der Fremde" (Bleich 1936) entweder von einem "Ankömmling" (Meyer 1912, 580) oder besser noch von einer Katalysatorfigur sprechen.

4. Literarische Muster aus dem Ausland 35

Ihre Spezifik erhält sie im naturalistischen Drama dadurch, dass es sich hier jeweils um eine zu einem feststehenden Figurenensemble hinzutretende Person handelt, die von ihrer Herkunft, ihrer Sozialisation oder ihrem Bil­ dungsstand her in einem Kontrastverhältnis zu den übrigen Akteuren steht und deren Anwesenheit eine Veränderung im Geschehensablauf bewirkt. Es ist also eine Figur, die auf Grund ihrer Differenzqualität als Störquelle fungiert und so zum Handlungsauslöser in einer bis dato statischen Situa­ tion wird: Angewandt auf das organische System der zwischenmenschlichen Beziehungen wird [ ...] durch die Einführung eines neuen Teiles in die Personengruppierung das Verhältnis aller Teile zueinander geändert. Diese Änderung wird umso radikaler in Erscheinung treten, je unmittelbarer eine Person mit dem zu verändernden Kreis in Verbindung steht, andererseits aber auch, je extremer die ideelle und persönliche Haltung des Hinzukommenden ist. Das naturalistische Drama, das den Gesamtzu­ stand eines Wirklichkeitsausschnittes geben wollte, ohne dramatische Entwicklun­ gen, die sich aus zugespitzten geistigen oder persönlichen Gegensätzen ergaben, un­ mittelbar wirksam werden zu lassen, fand in dem Boten aus der Fremde die geeigne­ te Möglichkeit, das statische Element der ausschließlichen Wirklichkeitsschilderung

[ ...] zu zerstören und trotz möglichster Einhaltung naturalistischer Prinzipien eine

dramatische Entwicklung zu erhalten. (Bernhardt 1968,163)

Außerdem können mithilfe einer solchen Figur die Auswirkungen der Ver-

Die Katalysatorfigur

gangenheit auf die Gegenwart beobachtet werden. Die Katalysatorfigur des naturalistischen Dramas, die temporär Bestandteil der Handlung wird, dient mithin einer "Analyse des Milieus": Sie "ist gleichsam das Reagenzmittel, das die chemischen Bestandteile erkennen läßt, all jene Verbindungen des Milieus, die unter [ ...] [ihrer] Einwirkung bald in voller Auflösung begriffen sind, vor allem aber nun erst voll sichtbar werden" (Markwardt

1967, 120). Doch Henrik Ibsen hat nicht nur einen von seiner Funktion her neuen Figurentyp kreiert, er hat auch die Gestaltung der dramatis personae insge­ samt merklich verändert. Wesentlich stärker als bislang in der Dramentradi­ tion werden Figuren nun durch ihren Habitus und ihr nonverbales Verhal­ ten charakterisiert. Von geradezu bestimmender Bedeutung für ihr Denken und Fühlen wird das sozialräumliche Ambiente um sie herum: The scenic representation of the influence of tradition on personality was achieved by Ibsen through a detailed description of the decor. Besides Wagner and Grillparzer, no German dramatist had paid such meticulous attention to stage directions, nor rea­ lized their possibilities as figurative exteriorizations of personal characteristics. (George 1967,137)

Da Ibsen die Schauplätze der Handlung als bewusstseinsprägendes Milieu

Zur Rolle der

versteht, verwendet er große Sorgfalt auf ihre genaue Schilderung. Vor al-

Bühnenanweisungen

lem das private Wohninterieur ist dazu geeignet, einen präzisen Einblick in die Lebensumstände der agierenden Personen zu vermitteln. Viele Dramen Ibsens enthalten deshalb ausführliche Bühnenanweisungen. Die damit verbundene Aufwertung der Regiebemerkungen wird von den deutschen Naturalisten direkt übernommen und vor allem in den von Arno Holz und )0hannes Schlaf gemeinsam verfassten Texten soweit gesteigert, dass die Bühnenanweisungen geradezu narrative Züge entfalten und in Umfang und

36 111. Kontexte Bedeutung gleichberechtigt neben den dramatischen Dialog rücken. Aber auch in diversen Aspekten der Sprachgestaltung selbst hat Ibsen maßgeben­ de Standards gesetzt. So verbannte er mit dem Monolog und dem Beiseite­ sprechen zwei bis dahin selbstverständliche Gestaltungselemente aus dem Drama. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Beide widersprechen den PlausibiIitätsanforderungen einer realistisch-Iebensnahen Darstellungswei­ se. Dem Ziel, ein wiedererkennbares Modell der Wirklichkeit auf der Büh­ ne zu entwerfen, dient auch der Verzicht auf die Versform. Ibsen, der seine frühen Dramen noch in gebundener Sprache verfasst hatte, verabschiedete sich Anfang der siebziger jahren endgültig von dieser Vertextungsweise, weil der Vers im Drama "die Illusion der Wirklichkeit"

(Ibsen o.j.

[1898-1904], Bd. 10, 223) behindere und nur die "schlichte, wahre Wirk­ lichkeitssprache" (Ibsen o.j. [1898-1904], Bd. 10, 325) der Prosa auf dem Theater glaubwürdig erscheine. Stationen der

Die Ibsen-Rezeption in Deutschland verlief anfangs relativ schleppend.

Ibsen-Rezeption

Erst mit der 1878 erfolgten Aufführung des Stücks Stützen der Gesellschaft, das Anfang des jahres in einem Zeitraum von nur "zwei Wochen an fünf Berliner Theatern" gespielt wurde, erlebte der norwegische Autor hierzu­ lande seinen "Durchbruch" (George 1968, 18). Welch nachhaltigen Ein­ druck diese Inszenierungen bei einigen Vertretern der jungen Generation hinterließen, belegen zahlreiche Zeugnisse. Otto Brahm etwa meinte, er und Paul Schienther hätten durch die Aufführung am Berliner Stadttheater "die erste Ahnung einer neuen poetischen Welt" (Brahm 1913, Bd. 1, 448) empfangen. Und Schienther bemerkt, "daß unter dem Einfluß dieser moder­ nen Wirklichkeitsdichtung zur entscheidenden Lebenszeit in uns diejenige Geschmackslinie entstand, die fürs Leben entschieden hat" (Ibsen o.j.

[1898-1904], Bd. 6, XVIII). Man kann daher verallgemeinernd sagen: "Die ersten Erfolge Henrik Ibsens in Deutschland und die beginnende Program­ mierung des Kampfes gegen die herrschende epigonale Literatur verliefen parallel zueinander." (Bernhardt 1968, 112) Gleichwohl dauerte es noch geraume Zeit, bis seine Stücke auch zum ästhetischen Modell der deut­ schen Naturalisten wurden. Vor allem in der Münchner Fraktion um Mi­ chael Georg Conrads Zeitschrift Gesellschaft wurde stets Zola favorisiert. Und so bedurfte es abermals einer Inszenierung in Berlin, um Ibsen zum zentralen Bezugspunkt für die junge Generation von Autoren werden zu lassen. Anstoß für diese neue Phase der Rezeption war eine Aufführung der

Gespenster, die am 9. januar 1887 in Berlin stattfand. Welche Wirkung Stück und Inszenierung hatten, geht aus einem Tagebucheintrag Haupt­ manns hervor, wo es heißt: "Die Vorstellung von Gespenster im Residenz­ theater zeigte mir das wiedererstandene Theater." (Hauptmann 1963, 196) Brahm schreibt: "Das Datum dieser Aufführung, der 9. januar 1887, bedeu­ tete den endgültigen Zusammenbruch der Epigonentragödie und der Fran­ zosennachahmer" (Brahm 1913, Bd. 1, 460). Und julius Hoffory konstatiert kurzerhand: "Heute beginnt eine neue Epoche der deutschen Literatur." (zit. nach Kerr 1907, 31) In der Folgezeit kam es dann zu einer dichten Fol­ ge von Ibsen-Aufführungen, besonders in der Reichshauptstadt: Ein Volks­

feind und Rosmersholm 1887, Oie Wildente, Frau Inger [auf Östrotl und Nora oder Ein Puppenheim 1888, die Frau vom Meer, Stützen der Gesell­ schaft und abermals Gespenster 1889.

4. Literarische Muster aus dem Ausland 37

Als dritter Einflussfaktor neben Zola und Ibsen muss schließlich Lev Tols-

Russland: Lev Tolstoi

toi genannt werden, der freilich weniger durch seine Erzählprosa als vielmehr durch sein Oie Macht der Finsternis (1886) betiteltes "dramatisches Sittenbild aus dem russischen Volksleben" auf die deutschen Schriftsteller im Umkreis des Naturalismus einwirkte. Dieses Stück, das 1887 erstmals in deutscher Übersetzung erschien, wurde am 26. Januar 1890 von der Berliner ,Freien Bühne' aufgeführt. Tolstoi vertritt - zumindest in Teilbereichen "eine dem deutschen Naturalismus verwandte Auffassung" (Kersten 1966, 12) von der Funktion der Kunst. In seinen Texten praktiziert er eine Darstellungsmethode exakter Wirklichkeitsbeschreibung, die er "melocnost'" nannte und die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass sie auf sprachliche Schmuckformen völlig verzichtet. Daneben verbindet ihn aber auch die Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung mit den Naturalisten. In Oie Macht der Finsternis liefert er eine desillusionierende Darstellung des Lebens der unteren sozialen Schichten und greift in diesem Zusammenhang viele der Themen auf, denen man in Zolas Texten begegnet: Alkoholismus, Gewalttätigkeit bis hin zur Kindstötung und psychische Zerrüttung mit degenerativen Zügen. Es war aber wohl die Ansiedlung des Geschehens im bäuerlichen Milieu, die das Stück vielen deutschen Schriftstellern besonders naherückte. Während Zolas Romane meist im Ambiente der Großstadt angesiedelt sind, dementsprechend Fabriken, Markthallen oder Kaufhäuser zu Handlungsorten haben, und Ibsens Dramen sich fast ganz im Rahmen bürgerlicher Kreise abspielen, erschließt Tolstoi mit den verarmten Bauern in der von der ökonomischen und kulturellen Entwicklung abgehängten ländlichen Provinz einen sozialen Raum, der bis dato fast völlig von der literarischen Darstellung ausgeschlossen war. Obgleich die Wirkung des russischen Autors insgesamt gesehen nicht mit der seines französischen und norwegischen Kollegen gleichgestellt werden kann, haben seine Texte doch bei mehreren Naturalisten in Deutschland einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Hauptmann bekannte in einem undatierten Brief an Emil Reich nicht nur: "Eine Revolution meiner normalen Entwicklung vollzog sich, als ich Tolstois Macht der Finsternis kennen lernte" (zit. nach Heuser 1961, 20), in einem Schreiben an Holz und Schlaf von Anfang 1889 empfahl er das Drama ausdrücklich als gelungenes Beispiel für die Handhabung eines "naturalistischen Dialogs" (zit. nach Berthold 1967, 229). Und in einer Tagebuchnotiz heißt es resümierend: [ ...] endlich stellten mir Ibsen und Tolstoi vor die Augen, was ich in fernster Zukunft nur erreichbar glaubte. - Unter ganz ungeheurem Staunen ließ ich die Vorstellungen der Gespenster auf mich wirken, mit Bewunderung verfolgte ich daheim den unbe­ greiflich feinen und natürlichen Dialog. Dann kam Tolstoi mit Macht der Finsternis. Dies Drama tat mir den Zugang zum Le­ ben noch weiter auf. (Hauptmann 1963, 196 f.)

Für Heinrich Hart war Macht der Finsternis gar "das bedeutendste und ge­ waltigste Drama der Neuzeit" (H. Hart 1890, 91). Natürlich haben im Einzelfall weitere Autoren aus dem Ausland dem deutschen Naturalismus Impulse vermittelt. Allerdings reicht weder der Ein­ fluss von Bj0rnsterne Bj0rnson noch der von Fjodor Dostojevski, um nur zwei davon zu nennen, annähernd an die Wirkung heran, welche Zola, Ib-

Die Macht der Finsternis

38

111. Kontexte

sen und Tolstoi ausgeübt haben. Im Hinblick auf die Vorbildfunktion fremd­ kultureller literarischer Muster kann man jedenfalls von einer Einflusstrias sprechen. Arno Holz hat sie bereits 1886 in seinem im Buch der Zeit (1886) enthaltenen Gedicht Zwischen alt und neu benannt: Zola, Ibsen, Leo Tolstoi, Eine Welt liegt in den Worten, Eine, die noch nicht verfault, Eine, die noch kerngesund ist! (Holz

21892, 305

und

309)

5. Ästhetische Bezugspunkte in Deutschland Rekurs auf Vorläufer­ bewegungen

Selbstinszenierung als Jugendbewegung

Rolle des Sturm und Drang

Noch bevor die literarischen Muster aus dem europäischen Ausland in größerem Umfang rezipiert wurden, fand eine gezielte Bezugnahme auf deutschsprachige Vorbilder statt. Dieser legitimierende Rückgriff ereignete sich vor allem während der Konstitutionsphase des Naturalismus, als die Bewegung noch stark nationalpatriotisch orientiert war. Der Rekurs auf aus­ gewählte Strömungen und Gestaltungsweisen der deutschen Literaturge­ schichte hatte dabei einen doppelten Zweck, sollte doch auf diese Weise nicht nur der Aufweis einer eigenen Schreibtradition jenseits der als rück­ wärtsgewandt empfundenen Kunstprogramme von Klassik und Romantik erbracht werden, sondern auch eine selbstbewusste Absetzung von den ak­ tuellen literarischen Tendenzen der Nachbarländer erfolgen. Beides diente der Begründung eines autochthonen deutschen Wegs zur Moderne. Als zentrale Bezugsgrößen fungierten in diesem Zusammenhang zwei li­ terarische Gruppierungen, die vor allem miteinander gemeinsam haben, dass sie von der Altersstruktur ihrer Trägerschicht und auf Grund ihrer Selbstinszenierung als Jugendbewegungen anzusehen sind: der Sturm und Drang und das Junge Deutschland. Der deutsche Naturalismus steht direkt in dieser Filiationslinie und ist damit ein gutes Beispiel für den u.a. von Pierre Bourdieu beschriebenen Funktionsmechanismus, wonach in der Mo­ derne jeweils von einer Generation nachwachsender Autoren getragene äs­ thetische Paradigmenwechsel die Evolution der Kunstentwicklung entschei­ dend prägen. Der Sturm und Drang sowie das Junge Deutschland waren beide sozial kritisch akzentuierte literarische Protestbewegungen einer jun­ gen Generation von Autoren, die gegen die Ästhetik der jeweiligen Väter­ generation gerichtet waren - im einen Fall gegen die Regelpoetik der Auf­ klärung und den künstlerischen Spielcharakter der Rokokodichtung, im an­ deren Fall gegen den Klassizismus und die apolitische Haltung der ,Kunstperiode' (Heine). Die Programme der zwei Strömungen differieren je­ doch erheblich voneinander. Insofern ist es durchaus bezeichnend für den Selbstfindungsprozess der naturalistischen Bewegung, dass sie zunächst auf den Sturm und Drang rekurrierte und erst im Lauf der Zeit das Junge Deutschland als weitere Bezugsoption entdeckte. Was die Frühnaturalisten mit den Autoren des Sturm und Drang verband, war in erster Linie die Überzeugung, am Anfang einer neuen Ära zu stehen. Leitet die Geniebewegung den Beginn der Autonomieästhetik ein, durch welche die Makroperiode Moderne in Gang gesetzt wird, so markiert der

5.

Ästhetische Bezugspunkte in Deutschland 39

Naturalismus den Übergang zu ihrer zweiten Phase, der sog. Klassischen Moderne. Von daher wird es nicht nur verständlich, dass sich die Vertreter des Naturalismus in den Schriftstellern des Sturm und Drang wiederzuer­ kennen meinten, sondern auch dass sie - mindestens teilweise - deren künstlerische Verfahrensweisen übernahmen. Das zentrale Anliegen des Sturm und Drang, das darin bestand, das normative Dichtungsverständnis der Aufklärung hinter sich zu lassen und den rigiden Kanon vorgegebener Vertextungsregeln aufzusprengen, erhielt jedenfalls vor dem Hintergrund der an den obsolet wirkenden Mustern von Klassik und Romantik orientier­ ten Gründerzeitliteratur neue Aktualität. Beide Bewegungen lassen sich denn auch deuten als Rebellion "der leidenschaftlich empfindenden Jugend gegen die Schranken, welche gleicherweise die ästhetische Theorie und die gesellschaftliche Konvention dem unmittelbaren Ausdruck der Gefühle im Leben und in der Dichtung in den Weg stellten" (Litzmann 1894, 118). Der "Mangel eines bestimmten individuellen Gepräges" sollte durch die Beto­ nung des "Originellen und Genialen" (Bleibtreu 1885, 891) behoben wer­ den. Bleibtreu fordert deshalb: "In allererster Linie muß die Subjektivität entfesselt werden, um die Erstarrung in konventioneller Schablone zu bre­ chen." (Bleibtreu 1885, 892) Ganz ähnlich empfahl auch Hermann Conra­ di eine "schrankenlose, unbedingte Ausbildung" der "künstlerischen Indivi­ dualität" (Arent [Hrsg.l 1885, 11) als probates Gegenmittel gegen jede Art von ästhetischer Epigonalität. Diese Forderungen münden schließlich in der Zielvorstellung einer "Poesie des Genies" (H.[einrichl H.[artl 1885, 2). Trotz der Anlehnung an den Selbstdarstellungsgestus der Sturm-undDrang-Bewegung und trotz der plakativen Übernahme mancher ihrer Argu-

Unterschiede in der Geniekonzeption

mentationsfiguren fand indes allenfalls eine partielle "Erneuerung der Geniekonzeption des 18. Jahrhunderts" (Kolkenbrock-Netz 1981, 118) statt. Was den Geniebegriff des Frühnaturalismus von dem des Sturm und Drang unterscheidet, ist der Umstand, dass die geniale Künstlerpersönlichkeit nicht länger als prometheische Figur gedacht wird. In einem Zeitalter, das die Metaphysik verabschiedet hat, kann eben auch das geniale Schöpfersubjekt kein ,alter deus' mehr sein. Der Terminus ,Genie' steht bei den jungen Autoren der 1880er Jahre deshalb lediglich als Signum für den sich von hergebrachten Vertextungsregeln emanzipierenden Künstler, der seine Werke ohne Rücksicht auf ihren finanziellen Ertrag und ihre Wirkung beim Publikum verfasst. ,Genialität' meint in erster Linie das Durchbrechen ästhetischer Normen und markiert damit den eigentlichen Gegenpol zum temperiert regelkonformen Ausdruck klassizistisch-epigonaler Literatur, der als "Formalismus" (Hart/Hart 1882-84, H. 2, 54) ettikettiert wird. Wenn die Brüder Hart also den "Naturalismus des Genies" (Hart/Hart 1882-84, H. 2, 54) lobend hervorheben, dann zielt dies vorrangig auf die ,unverbildete' und gleichsam urwüchsige Gestaltungsmacht des um literarische Konventionen unbekümmerten Autorsubjekts. Dass die jungen Schriftsteller in der Mitte der achtziger Jahre erkennbar "Zentralanliegen der Sturm und Drangepoche" (Maha11974, 20) aufgriffen, zeigt sich u. a. an ihrer Gattungspräferenz: Wie die Führungsfiguren der ersten deutschen Literaturrevolte konzentrierten sich auch die deutschen Frühnaturalisten zunächst auf die Lyrik als Ausdrucksmedium, die emphatisch zur "ursprünglichsten, elementarsten und reinsten aller Dichtungsarten"

Gattungspräferenzen

40 111. Kontexte (Arent [Hrsg.] 1885, V) erklärt wurde. Als Vorbildgestalten fungierten der junge Goethe, mehr aber noch Jakob Michael Reinhold Lenz, der als von der Gesellschaft verkanntes Genie galt und deshalb in besonderer Weise zur Identifikation einlud. Als Lenz-Propagator trat dabei vor allem Wilhelm Arent in Erscheinung, der nicht nur die von ihm herausgegebene frühnatu­ ralistische Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere (1885) mit zwei Zi­ taten dieses Autors als Motti versah, sondern im Jahr davor unter dem Pseu­ donym Karl Ludwig auch eine Sammlung selbstverfasster Gedichte publi­ ziert hatte, die er als neu "aufgefundene" Texte "aus dem Nachlaß" von Lenz ausgab. Aber selbst Karl Bleibtreu vertrat die Ansicht: "An Lenz wird der moderne Naturalismus der Zukunfts-Dramatik viel zu lernen und zu studiren haben." (Bleibtreu 1973, 4) Bei der Parallelisierung der jüngsten Literatengeneration mit den Vertretern der Geniebewegung griff Bleibtreu auf eine Einschätzung des Kulturhistorikers Franz Hirsch zurück, der im dritten Band seiner Geschichte der deutschen Litteratur von ihren Anfängen

bis auf die neueste Zeit (1885) die Ansicht geäußert hatte, "dass wir uns in einer neuen Sturm- und Drangperiode befinden" (S. 769; zit. nach: Bleib­ treu 1973, 82). Allerdings gab Bleibtreu dieser Bezeichnung schon bald einen pejorativen Beiklang, indem er seine Schriftstellerkollegen ironisch­ abschätzig als "neue Stürmer und Drängier" (Bleibtreu 1973, 59) bezeich­ nete. Gleichwohl setzte sich der Begriff rasch als populäres Schlagwort für die Vertreter der jungen Schriftstellergeneration durch. Rolle des Jungen

Fast zeitgleich kam noch ein zweiter Terminus für die deutschen Natura­

Deutschland

listen in Umlauf. Bekannt wurde er abermals durch Karl Bleibtreu, der

1885 die Benennung "Junges Deutschland" (Bleibtreu 1885, 892) auf den Kreis der frühnaturalistischen Autoren übertrug. Die im Jahr darauf erschie­ nene zweite Auflage der Lyrikanthologie Moderne Dichter-Charaktere trug dann sogar den Titel Jungdeutschland. Um Missverständnisse mit der gleichnamigen Literatengruppe der dreißiger Jahre auszuschließen, lag es freilich nahe, eine Präzisierung vorzunehmen. Deshalb begannen die Zeit­ genossen bald, vom "Jüngsten Deutschland" zu sprechen. Die Bezugnahme auf den Vormärz stand zunächst unter dem gleichen Zeichen wie die auf den Sturm und Drang. So hob etwa Conrad Alberti die "jungdeutschen, freiheitlichen Ideen" hervor und lobte die "Verherrlichung des Rechts des Genies und der starken Persönlichkeit" (Alberti 1885, 394). Und Bleibtreu konstatierte: "Ein mächtiger Instinkt des Realismus beginnt in dem Jungen Deutschland und den Achtundvierzigern sich zu entfalten." (Bleibtreu

1973, 4) Gleichwohl markiert der legitimierende Verweis auf das Junge Deutschland als zweite Vorläuferbewegung eine ästhetische Neuausrich­ tung der naturalistischen Bewegung. Stand nämlich der Sturm und Drang noch für eine Orientierung an der Lyrik als höchster Gattung, so indiziert der Rekurs auf die Jungdeutschen einen Wandel hin zur Prosa (vgl. Kapitel

lV.l.). Besonders Bleibtreu vertrat die Auffassung, dass "die Lyrik [ ... ] sich als Dichterberuf [ ...] überlebt" habe, weil "die Enge der l yrischen Form sie untauglich macht, den ungeheuren Zeitfragen zu dienen" (Bleibtreu 1973, 70 und 67). Bleibtreu konnte mit seiner Empfehlung, "Prosa [zu] schreiben" (Bleibtreu 1973, 72), nicht nur auf die Genrepräferenzen des Jungen Deutschland verweisen, sondern sich auch auf die formen- und bewusst­ seinsgeschichtliche Diagnose dieser Autorengruppe stützen, die ja über-

5.

Ästhetische Bezugspunkte in Deutschland 41

einstimmend lautet, dass die Moderne durch eine fortschreitende "Emanci­ pation der Prosa" (Mundt 1969, 49) gekennzeichnet sei. Große Akzeptanz fand seine Position vor allem bei der Münchner Fraktion des Naturalismus, die sich um die Zeitschrift Gesellschaft versammelte und die Romane Emile Zolas als verbindliches ästhetisches Muster ansah, aber auch die meisten Angehörigen des Berliner Zirkels setzten - mit signifikanter Ausnahme der Brüder Hart - dem damit eingeleiteten Schwenk von der Versdichtung zur Erzählprosa kaum Widerstand entgegen. Im Zuge dieser Fokusverschiebung ereignete sich eine Wiederentde­ ckung von Autoren der dreißiger und vierziger Jahre. Conrad Alberti bei­ spielsweise veröffentlichte 1885 und 1886 jeweils aus Anlass des 100. Ge­

Wiederentdeckung von Autoren des Vormärz

burtstags Studien über Bettine von Arnim bzw. Ludwig Börne und stellte seiner Schrift Ohne Schminke! Wahrheiten über das moderne Theater

(1887) ein Motto von Georg Herwegh voran. Karl Bleibtreu lobte Willibald Alexis als "genialsten deutschen Romandichter" (Bleibtreu 1973, 18), und Julius T ürk trug Verse aus Karl Gutzkows Drama Uriel Acosta ins Protokoll­ buch des Naturalistenvereins ,Durch!' ein. (Schon 1878 hatte Heinrich Hart letzteren zur "Epochemachendsten Persönlichkeit unserer Culturge­ schichte" "seit Lessing" erklärt und gefordert, dass die gegenwärtige Litera­ tur "an Gutzkow anknüpfen" [H. Hart 1878, 16] müsse.) Gleichfalls im ,Durch!' stellte Gerhart Hauptmann am 17. Juni 1886 den nahezu vergesse­ nen Georg Büchner vor und las aus diesem Anlass Ausschnitte aus dem Drama Dantons Tod und der Novelle Lenz. Leo Berg schließlich publizierte im April 1890 eine "litterarhistorische Skizze" über Heinrich Heine und un­ sere Zeit. Für die Naturalisten fungierte die Literatur des Vormärz im We­

sentlichen als "Vorbild im Zeitbezug und im Stofflichen" (Mahal 1975, 42). Hier fanden sie nicht nur gesellschaftliche Probleme wie den Pauperismus thematisiert, sondern begegneten mit dem sozialen Roman und der sozia­ len Erzählung darüber hinaus Textformen, die auf die Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren versuchten. Vor allem im Hinblick auf die lite­ rarische Entdeckung des sog. vierten Standes wirkten die Vormärzautoren als direkte Vorläufer, aber auch ihr sozialreformerischer Zug entsprach dem Anliegen der naturalistischen Schriftsteller. Der Umstand, dass beide Ge­ nerationengruppen Zensurkonflikten und politischen Verfolgungen ausge­ setzt waren, schuf ein zusätzliches Verbundenheitsgefühl. Gleichwohl blieben sowohl der Sturm und Drang als auch das Junge Deutschland im Wesentlichen Referenzgrößen rhetorischer Art. Sie dienten als plakative Umrissmarkierungen für die eigene künstlerische Position, der entsprechende Begriffsgebrauch ging aber nicht automatisch mit einer qua­ lifizierten inhaltlichen Auseinandersetzung einher. In ihrer Funktion als gängige und leicht zuordenbare Schlagworte freilich erfüllten sie eine wichtige Aufgabe bei der Bekanntmachung der Schriftsteller, die sich im Umkreis des Naturalismus bewegten. Auf diese Weise wurden zwei Grup­ penbezeichnungen rasch zu Kennnamen, die fast nach Belieben eingesetzt und kombiniert werden konnten. Als Beispiel ist hier auf Adalbert von Han­ stein zu verweisen, der für sein Buch über den Naturalismus die beiden zentralen Bezugspunkte der jungen Autorengeneration pointierend zusam­ mengefasst und die naturalistische Bewegung kurzerhand auf die Formel "jüngstdeutscher Sturm und Drang" gebracht hat.

"lüngstdeutscher Sturm und Drang"

42 111. Kontexte Das ,Herzoglich­

In ästhetischer Hinsicht von größerer Bedeutung für die Programmatik

Meiningensche

des deutschen Naturalismus war ein anderer Einflussfaktor: der als innova­

Hoftheater'

tiv empfundene Inszenierungsstil des ,Herzoglich-Meiningenschen Hof­ theaters'. Er wirkte in hohem Maß wahrnehmungsprägend und veränderte die Seh- und Hörgewohnheiten der Zeitgenossen nachhaltig. Mehr noch: In gewisser Weise bereitete er den Boden für den überraschenden Siegeszug des Naturalismus auf dem Theater. Dass sich in einer kleinen deutschen Residenzstadt wie Meiningen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Phänomen von nationaler bühnengeschichtlicher

Bedeutung ereignen

konnte, hängt entscheidend mit der kulturtopographischen Situation der siebziger und achtziger Jahre zusammen. Bis zur Reichsgründung 1871 war Deutschland nämlich sowohl politisch wie kulturell eindeutig polyzent­ risch ausgerichtet. Doch auch im Kaiserreich dominierte die neue Haupt­ stadt Berlin die anderen regionalen Zentren nicht vollständig. Anders ge­ sagt: "Die Kultur in Deutschland" war "nur unvollständig auf ein Zentrum polarisiert" (Briesen 1992, 55). In gewisser Weise verstärkte sich die seit langem bestehende Eigenständigkeit der Regionen sogar noch, weil diese nun den erlittenen Bedeutungsverlust durch vermehrte kulturelle Profilie­ rung zu kompensieren suchten. Nur so lässt es sich jedenfalls erklären, dass der kunstbegeisterte Herzog Georg 11. von Sachsen-Meiningen in seiner Residenzstadt nicht nur ein renommiertes Schauspielerensemble aufbauen, sondern in einer Dreifachfunktion als Regisseur, Dramaturg und Aus­ stattungsleiter zum innovativsten Theaterleiter der Bismarckzeit werden konnte. Meininger

Sein Hauptziel bestand darin, Dramentexte der Weltliteratur werkgetreu

lnszenierungspraxis

zu inszenieren. Das war insofern ungewöhnlich, als gerade sog. klassische Werke von den großen Theatern zwar regelmäßig, aber meist äußerst lieb­ los gespielt wurden. Da es sich um Repertoirestücke handelte, bediente man sich kurzerhand bereits vorhandender Requisiten und Kostüme und re­ duzierte die Inszenierungsarbeit auf ein Minimum, indem man die Darstel­ ler die ihnen längst bekannten Rollen nach eigenem Gutdünken spielen ließ. Auf diese Weise gerieten die meisten Klassikeraufführungen zu künst­ lerisch einförmigen und nachlässig absolvierten Routineveranstaltungen, die von den Theaterleitern vor allem deshalb gerne ins Programm genom­ men wurden, weil sie kaum Vorbereitungszeit erforderten und wenig Kos­ ten verursachten. Anders bei den ,Meiningern'. Hier bildete man die ge­ samte Bühnenausstattung - oft sogar nach eingehenden Quellenrecherchen - historisch präzise nach, damit ein Dramentext möglichst authentisch zum Leben erweckt wurde. Zugleich sorgte Georg 11. dafür, dass die Schauspie­ ler aufeinander abgestimmt agierten. Energisch drängte er den damals vor­ herrschenden, in erster Linie auf virtuose Selbstdarstellung einzelner Mi­ men bedachten Präsentationsstil zugunsten des Ensemblespiels zurück. Sei bst Starschauspieler mussten sich verpflichten, gleichermaßen Statisten­ rollen zu übernehmen. Außerdem wurden sie dazu angehalten, nicht wie allgemein üblich in pathetischem Ton zu deklamieren, sondern ihren Aus­ drucksgestus glaubwürdig - nämlich der Rollenvorgabe angemessen - zu gestalten und damit so ,natürlich' wie möglich zu sprechen. Durch all diese Maßnahmen erhöhte sich die auf der Bühne geschaffene Illusionswirkung ganz beträchtlich.

5.

Ästhetische Bezugspunkte in Deutschland 43

Um nun seine inszenierungs- und darstellungsreformerischen Bestrebun­ gen breiteren Kreisen bekannt zu machen, begann Georg 11. 1874 damit,

Gastspielreisen der ,Meininger'

seine Theatertruppe auf jährliche Gastspielreisen durch Deutschland und Europa zu schicken. In den kommenden 17 Jahren gab das Ensemble der ,Meininger' )n 36 Städten [ . . ] insgesamt 2.591 Vorstellungen" (Acker­ .

mann 1965, 60). )n Berlin, von wo ihre Gastspiele ausgingen, hat es acht Gastspiele mit zusammen 385 Vorstellungen abgehalten." (Prölß 1898/99, 678) Auch wenn alles in allem lediglich 41 Stücke einstudiert wurden, wa­ ren künstlerische Vorbildwirkung und Publikumserfolg dieser Aufführungen doch so groß, dass andere Theater die Grundsätze des ,Herzoglich-Meinin­ genschen Hoftheaters' zu übernehmen begannen. Der Germanist Berthold Litzmann konnte deshalb schon 1894 mit Blick auf die ,Meininger' resü­ mierend feststellen, dass ihr )mpuls [ . . ] mit überraschender Schnelligkeit .

bis in die entlegensten Regionen des deutschen Theaters sich fortgepflanzt hat, so dass der Inhalt der künstlerischen Mission, mit der sie auftraten, im Laufe von noch nicht zwei Jahrzehnten zum Gemeingut der deutschen Bühne geworden ist" (Litzmann 1894, 43). So lernten etwa die Brüder Hart den neuen Inszenierungssti I bereits 1875/76 durch das Detmolder Hofthea­ ter, das gastweise u. a. in ihrer Heimatstadt Münster spielte, kennen. Dessen Leiter Paul Borsdorff galt bei den Zeitgenossen als "der erste Bühnenleiter, der sich unbedingt zu den Meininger Grundsätzen bekannte" (Grube 1917, 281). Wohl die größte Resonanz fand das Regie- und Schauspielkonzept Georgs 11. freilich in Berlin, wo es die Theaterkultur der Stadt nachhaltig veränderte. Adolph L' Arronge beispielsweise orientierte sich als Direktor bei den Aufführungen des 1883 gegründeten Deutschen Theaters erkennbar daran. Sein Regisseur August Förster "erzog [ . . ] seine Schauspieler zu .

einer bewußt alltäglichen Ausdrucksweise, indem er das Sprachtempo der einzelnen Rollen erheblich beschleunigte und dadurch die bedächtige Würde der älteren Deklamation in einen nervösen Staccato-Rhythmus auf­ löste" (Hamann/Hermand 1959, 293). Und auch viele Akteure der Zeit übernahmen rasch den unprätentiösen Darstellungsduktus der ,Meininger'. Ein namhafter Schauspieler wie Ema­

Veränderung des Schauspielsti Is

nuel Reicher, der später in zahlreichen Inszenierungen naturalistischer Dra­ men mitwirkte, hat nachweislich "schon vor 1889 die schönstilisierten Re­ den der Dramenfiguren zerhackt, um sie natürlich zu machen" (Ackermann 1965, 61). Fraglos konvergierte das Hauptanliegen der Meininger mit den ästhetischen Zielen der jungen Autorengeneration. Siegfried Jacobsohn konnte denn auch rückblickend feststellen: "Milieu, Photographie der Wirklichkeit und Handlungsarmut, die Schlagwörter und Kennzeichen des neudeutschen Naturalismus, waren die unausgesprochenen Schlagwörter und die deutlichen Kennzeichen der Meininger". (Jacobsohn 1904, 32) Das "Streben nach historischer ,Echtheit'" aber stand nicht nur )m Einklang mit der allgemeineren naturalistischen Strömung dieser Tage" (Brahm 1913, Bd. 1, 11), sondern erleichterte die Durchsetzung dieses Literaturpro­ gramms auch ganz erheblich. In diesem Zusammenhang muss noch auf eine weitere Theatertruppe hingewiesen werden, die gleichfalls Bedeutung für die Herausbildung der naturalistischen (Bühnen-)Ästhetik besitzt. Gemeint ist das in der bayeri­ schen Hauptstadt angesiedelte Schauspielensemble des Königlichen Volks-

Die ,Münchener'

44 111. Kontexte theaters am Gärtnerplatz, das kurz die ,Münchener' genannt wurde. Anders als das ,Herzoglich-Meiningensche Hoftheater' bestand das Repertoire des Gärtnerplatztheaters nicht aus ,klassischen' Dramen der Weltliteratur, son­ dern aus einheimischen Volksstücken. Volksstücke - zumal wenn sie in Mundart verfasst waren - wurden traditionell der niederen Stilebene zuge­ ordnet und bildeten insofern eine Art Widerpart zur offiziellen, ,hohen' Dramatik. Häufig handelt es sich bei ihnen um Possen oder Varianten des Genres Komödie, deren derbe Komik imit der ernsten Feierlichkeit der gat­ tungstypologisch favorisierten Tragödie kontrastriert. Der häufig lokale Be­ zug und der Dialektgebrauch dieser Texte schränkte ihre Verbreitung natür­ lich von vornherein stark ein, weil Zuschauer außerhalb der Herkunfts­ region meist mit Verständnisschwierigkeiten zu kämpfen hatten.

Die

,Münchener' nun hatten entscheidenden Anteil daran, dass sich das Volks­ stück aus dem Ghetto regionaler Rezeption befreien konnte und nach und nach zu einer anerkannten Spielart des Dramas wurde. Rehabilitierung

Der bayerische Hofschauspieler und Leiter des Theaters am Gärtnerplatz,

des Volksstücks

Max Hofpauer, hatte Ende der siebziger Jahre einen Kreis von Dialekt­ schauspielern um sich versammelt, die in der Lage waren, auch ästhetisch anspruchsvollere Volksstücke darstellerisch zu bewältigen. Er sorgte zudem dafür, dass diese regional verankerten Texte so aufgeführt wurden, dass sich jenes Lokalkolorit, dem sie ihre Wirkung verdanken, entfalten konnte. Nachdem er damit in München große Erfolge erzielt hatte, ging er daran, Gastauftritte für sein Ensemble zu organisieren. Im Juni 1879 trat die Truppe erstmals für eine Dauer von insgesamt drei Wochen in Berlin auf. Auch wenn das Interesse zunächst gering war, der Besuch wurde in den Folgejah­ ren wiederholt - mit dann um so größerem Zuspruch. Während der Formie­ rungsphase der naturalistischen Bewegung waren die Gastspiele der ,Mün­ chener' nachgerade "Mode" Uacobsohn 1904, 47) in der Reichshauptstadt. Wie aufmerksam ihre Aktivitäten von den naturalistischen Autoren verfolgt wurden, zeigen Aufführungsbesprechungen der Brüder Hart und Leo Bergs in zeitgenössischen Periodika. Das Publikum kam auf diese Weise erstmals mit einer bis dahin weitgehend unbekannten Form von Gegenwartsdrama­ tik in Berührung und lernte u. a. Stücke von Ludwig Anzengruber und Lud­ wig Ganghofer kennen. Die ,Münchener' übernahmen also in den siebziger und achtziger Jahren gewissermaßen "die Rolle der Meininger für das Volksstück" (Wenig 1954, 17) und trugen wesentlich dazu bei, dass die Leistung des Dialektgebrauchs für die wirklichkeitsnahe Darstellung und soziale Charakterisierung von Bühnenfiguren in vollem Umfang erkennbar wurde.

IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen 1. Phasenentwicklung, Zentrenbildung, I nstitutionalisierungsprozesse Der deutsche Naturalismus weist drei distinkte Entwicklungsphasen auf, die jeweils durch wechselnde Leitfiguren, verschiedenartige Institutionali­

Entwicklungsphasen

sierungsbestrebungen, abweichende Gattungspräferenzen und eigenständige ästhetische Akzentsetzungen gekennzeichnet sind: eine erste, vornehmlich durch polemische Kampfschriften und lyrische Texte geprägte Periode, die sich von den späten siebziger Jahren bis 1884 erstreckt und in welcher

der Institutionalisierungsgrad der Bewegung noch sehr schwach ausgeprägt ist; eine zweite, hauptsächlich durch ästhetische Standortbestimmungen und die Dominanz der Erzählprosa charakterisierte Periode, die von 1885

bis 1889 reicht und in der sich regionale Zentren in München und Berlin

gebildet haben, wobei in der Reichshauptstadt mehrere Gruppierungen mit wechselnden personellen Konstellationen nebeneinander bestehen, während die bayerische Metropole mit der Zeitschrift Die Gesellschaft über das einzige dauerhafte Periodikum der Bewegung verfügt; schließlich eine dritte Periode von 1890 bis etwa in die Mitte der neunziger Jahre, in der besonders das Drama dominiert, daneben aber auch experimentelle Prosaformen

eine wichtige Rolle spielen und in der sich Berlin durch die Gründung der Zeitschrift Freie Bühne für modernes Leben sowie zahlreicher Literatur- und Bühnenvereine druckvoll zum eigentlichen Zentrum des deutschen Naturalismus entwickelt. In der ersten Phase lassen sich zwar bereits Ansätze zu Gruppenbildungsprozessen erkennen, doch verfestigten sich diese noch nicht zu stabilen sozialen Strukturen. Die in ganz verschiedenen Regionen des deutschen Reiches angesiedelten jungen Schriftsteller stellten zu dieser Zeit erste Kontakte untereinander her und begannen, sich als eine Generation mit im Wesentlichen übereinstimmenden künstlerischen Basisüberzeugungen wahrzunehmen. Eine Pionierfunktion kommt in diesem Zusammenhang Michael Georg Conrad sowie den Brüdern Heinrich und Julius Hart zu. Conrad war schon seit Beginn der siebziger Jahre kontinuierlich publizistisch tätig und stand während seines Paris-Aufenthalts (1878-82) sogar mit Emile Zola, dem Hauptvertreter des Naturalismus in Frankreich, in persön-

lichem Kontakt. Von den aktuellen Entwicklungen der Kultur im Nachbarland berichtete er ab Herbst 1878 als Korrespondent für das Pariser Feuille-

ton der Frankfurter Zeitung; wenig später legte er eine Auswahl dieser Artikel auch gesammelt in Buchform vor (Parisiana. P laudereien über die neueste Literatur und Kunst der Franzosen, Französische Charakterköpfe. Studien nach der Natur). Erhebliches Aufsehen unter den Kollegen erregte

Conrad, als er im September 1883 während einer Tagung des deutschen Schriftstellerverbandes zum Kampf gegen die epigonale Gründerzeitlitera-

1. Phase

46 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen tur aufrief. Die Harts wiederum hatten in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre in ihrer Heimatstadt Münster zunächst einen Zirkel literarisch interes­ sierter Gymnasiasten und dann einen ,Westfälischen Verein für Literatur' gegründet. Außerdem gaben sie mit der Deutschen Dichtung (1877) und den Deutschen Monatsblättern (1878/79) frühzeitig eigene Zeitschriften he­ raus. Der in der Letzteren enthaltene Aufsatz Neue Welt entwirft bereits in Umrissen das Konzept einer Literatur, die "wurzelnd im fruchtbaren Boden des Naturalismus die Darstellung modernen Lebens und moderner An­ schauung mit den höchsten ethischen Tendenzen zu verknüpfen" (H. Hart

1878, 21) sucht. Einem größeren Kreis wurden die Brüder allerdings erst durch ihre zeitschriftenartigen Publikationsreihe Kritische Waffengänge (1882-84) bekannt, in der sie in meist polemischen Aufsätzen mit den Er­ folgsschriftstellern der Zeit abrechneten und eine gegenwartsbezogene na­ tionale Kunst forderten. Michael Georg

Die Veröffentlichungen dieser drei Autoren nun hatten entscheidenden

Conrad und die

Einfluss auf die ästhetische Orientierung der nachwachsenden Generation.

Brüder Hart als

Als sich nämlich Anfang der achtziger Jahre in einigen deutschen Städten,

Initiatorfiguren

darunter in Magdeburg (mit Hermann Conradi und Johannes Schlaf), Celle (mit Otto Erich Hartleben) sowie Hannover (mit Karl Henckell), einzelne Schüler- und Studentenzirkel entwickelten, die begierig die aktuellen Ten­ denzen der Literaturentwicklung verfolgten, orientierten sich die darin zu­ sammengeschlossenen angehenden Schriftsteller genau daran. Aber auch junge Autoren aus der Provinz, die keinen Anschluss an Gleichgesinnte fanden, betrachteten die Schriften Conrads und der Harts als Wegweiser zu einer neuen Ästhetik. Wie sehr die drei in kurzer Zeit zu Leitfiguren für die Jüngeren avancierten, zeigt der Umstand, dass viele Debütanten in briefli­ chen und persönlichen Kontakt mit ihnen zu kommen suchten. Und da in den frühen achtziger Jahren die Harts Berlin und Michael Georg Conrad München als Lebensmittelpunkt und dauerhafte publizistische Wirkungs­ stätte gewählt hatten, wurden diese Städte rasch zu geographischen Anzie­ hungspunkten für die Vertreter der jungen Generation. Nach und nach ver­ sammelten sich so einerseits in der Reichshauptstadt und andererseits in der bayerischen Metropole angehende Schriftsteller, die rasch Kontakte untereinander herstellten. Doch auch wenn sich dadurch Intellektuellen­ kreise bildeten, dauerte es einige Zeit, bis diese eine Öffentlichkeitswirkung erreichten. Der Grund dafür ist in der anfangs fehlenden Institutionalisie­ rung der Bewegung zu sehen: Solange die Zirkel lediglich auf informeller Basis operierten und ihre Teilnehmer nicht über eigene Verlautbarungsorga­ ne verfügten, blieb das Anliegen einer Erneuerung der Literatur ein abstrak­ tes Wunschbild. Außerdem verfügten damals nur einzelne Personen über Zugang zum literarischen Markt, so dass das publizistische Wirken der ein­ zelnen Gruppen noch nicht koordiniert und gebündelt werden konnte. Weil es für unbekannte Schriftsteller, die noch keinen Platz im Sektor der Kulturgüterproduktion gefunden haben, naturgemäß erst einmal darum geht, auf sich aufmerksam zu machen, dominierten in dieser Phase litera­ turkritische Arbeiten und pamphletistische Verlautbarungen. Wie für ande­ re künstlerische Jugendbewegungen auch erwies sich besonders der Journa­ lismus als probate Möglichkeit, um Zugang zur Öffentlichkeit zu erhalten. Daneben versuchten die jungen Naturalisten vor allem im Bereich der Ly-

1. Phasenentwicklung, Zentrenbildung, Institutionalisierungsprozesse 47 rik, sich einen Namen zu machen. Es verwundert daher nicht, dass eine Gedichtanthologie zu dem Ort wurde, in der sich die nachgewachsene Ge­ neration zum ersten Mal in weitgehender Geschlossenheit und mit reprä­ sentativem Anspruch präsentierte. Die Fertigstellung der - ursprünglich als Jahrbuch konzipierten - Lyrik-

2. Phase

sammlung Moderne Dichter-Charaktere (Auslieferung: ca. Mai 1885) geschah bezeichnenderweise parallel zur Gründung zweier weiterer Periodika: der von Michael Georg Conrad ins Leben gerufenen Wochenzeitschrift

Die Gesellschaft (ab 1.1.1885) und der von Heinrich Hart herausgegebenen Berliner Monatshefte für Litteratur, Kunst und Theater (April bis September 1885). Auf Grund des weitgehenden zeitlichen Zusammenfallens der drei Erscheinungstermine schob sich die naturalistische Bewegung in Deutschland auf einmal mit nachgerade geballter Wucht ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit, weshalb 1885 mit gutem Recht als "das eigentliche Stichjahr des deutschen Naturalismus" (Borchme yer 1980, 158) angesehen werden kann. Es markiert jedenfalls den Beginn der gruppenso­ ziologisch besonders bedeutsamen zweiten Phase. Von nun an verfügte die Bewegung mit der - insgesamt 18 Jahre lang existierenden - Gesellschaft nicht nur über ein stabiles und weithin beachtetes Periodikum, die bis dahin allenfalls locker miteinander assoziierten Personen um die genannten Publikationsorgane begannen auch rasch, Bündnisse zu bilden. Was freilich prima vista als kontinuierlicher Formierungsvorgang einer neuen literarischen Bewegung erscheinen mag, stellt sich bei näherem Hinsehen als äußerst spannungsvoller Kampf um Meinungsführerschaft und ästhetische Definitionsmacht heraus. Das druckvolle äffentliche Auftreten der Naturalisten im Jahr 1885 ließ nämlich schlagartig auch bislang verborgen gebliebene Rivalitäten zum Vorschein kommen und brachte diverse Abgren­ zungserscheinungen mit sich. So unterstrich beispielsweise Michael Georg Conrad im Vorwort der ersten Nummer der Gesellschaft die Brückenfunktion Münchens zu den deutschsprachigen Kulturräumen in der Mitte und im Südosten Zentraleuropas und versuchte so, seine Zeitschrift in betontem Gegensatz zu Berlin zu profilieren: Eine ganz besondere Aufmerksamkeit werden wir dem schöpferischen Kulturleben der deutschen Völkerstämme des Südens widmen und die Leistungen der süddeut­ schen Kunst-, Theater- und Literaturzentren München, Wien, Frankfurt usw. in den Vordergrund unserer kritischen Betrachtungen stellen . (Conrad

1885,3)

Der mit Conrad befreundete Wolfgang Kirchbach spricht in einem Brief an

Kulturtopo­

Julius Hart vom 4. April 1885 sogar von der "jungen Münchner Schule"

graphische

(Stadt- und Landesbibliothek Dortmund, Signatur: Atg. 11317). Demgegen­ über erschien den Harts gerade die preußische Hauptstadt als "Central­ punkt des neuen Reiches, welcher mehr und mehr alle geistigen Kräfte Deutschlands an sich heranzieht" (Hart/Hart 1882-84, H. 4, 10); deshalb nannten sie ihre neue Zeitschrift dezidiert Berliner Monatshefte für Littera­

tur, Kunst und Theater. Die Lyriksammlung Moderne Dichter-Charaktere bildete hier - obgleich von Personen aus dem Kreis um die Harts getragen - anfangs eine gewisse Klammer, weil in ihr Schriftsteller aus dem gesamten deutschsprachigen Raum vertreten waren. Allerdings distanzierten sich nach Erscheinen der

Differenzierung

48 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen Anthologie mehrere Beiträger, darunter Karl Bleibtreu und Wolfgang Kirch­ bach (die beide mit Michael Georg Conrad sympathisierten), öffentlich von diesem Unternehmen und unterzogen die in ihren Augen verfehlte Selbst­ darstellung ihrer Kollegen vehementer Kritik. Aber auch die Harts, Arno Holz, Otto Erich Hartleben oder Hermann Conradi rückten im nachhinein von dem gemeinsamen Projekt ab. Am schwersten wog, dass selbst der Herausgeber und Financier der Anthologie, Wilhelm Arent, erklärte, er wolle künftig mit seinen bisherigen "Sturm- und Dranggenossen" (zit. nach Bogdal 1999, 195) nichts mehr zu tun haben. Damit war der Versuch der jungen Autorengeneration, sich nach außen hin als einheitliche literarische Bewegung darzustellen, gescheitert. In großen Teilen der literarischen Öffentlichkeit entstand der Eindruck, die Naturalisten seien hoffnungslos untereinander zerstritten, was die ohnehin schon weitverbreiteten Zweifel an der Dignität dieses ästhetischen Ansatzes weiter nährte. Ende des jahres 1885 jedenfalls - und damit zum Zeitpunkt, als er sich als literarische Ge­ nerationengruppe gerade erst konstituiert hatte - war der deutsche Natu­ ralismus endgültig in zwei einander mit Argwohn gegenüberstehende re­ gionale Fraktionen gespalten. Zentrenbildung

Der Naturalismus ist denn auch die erste literarische Bewegung in Deutschland, die von Beginn ihrer Entwicklung an zwei miteinander rivali­ sierende Zentren besitzt. Zwar hat es schon früher regionale, an bestimmte Trägergruppen gekoppelte Ausprägungsformen ästhetischer Diskursforma­ tionen gegeben, doch bildeten sich diese meist in zeitlicher Sukzession he­ raus. Das prominenteste Beispiel hierfür stellt wohl die Romantik dar, bei der man ja mit Blick auf ihren Phasenverlauf von jenaer, Heidelberger, Ber­ liner oder auch Münchner Romantik spricht. Die gleichzeitige Artikulie­ rung einer literarischen Programmatik aber in zwei Städten durch miteinan­ der rivalisierende Personenkreise stellt ein kulturgeschichtliches Novum dar. Das Zustandekommen einer solchen Konstellation hängt mit den ver­ änderten Rahmenbedingungen literarischer Kommunikation nach 1871 zu­ sammen. Von nun an gab es mit der Reichshauptstadt Berlin nämlich eine klar definierte Metropole, die auch in kulturellen Belangen ihren Führungs­ anspruch reklamierte. Die Strukturen der Kleinstaatlichkeit, die sich über lange Zeiträume herausgebildet hatten, bestanden indes weiter fort: "Der polyzentrische Charakter der deutschen Kunst- und Verlagswelt wurde nach 1871 [sogar] eher noch verstärkt, als die kleineren Staaten des Reichs, allen voran Bayern, hartnäckig an ihren eigenen kulturellen Identitäten fest­ hielten." (Lenman 1994, 19 f.) Dadurch wich die alte Konkurrenz zwischen den einzelnen Regionalmetropolen fortan der Rivalität mit Berlin. Vor die­ sem Hintergrund nun muss die Herausbildung regionaler literarischer Zent­ ren im späten 19. jahrhundert gesehen werden. Da sich Fürsprecher einer zeitgemäßen, auf die Probleme der Gegenwart gerichteten Literatur, die sich von der rückwärtsgewandten Orientierung auf Klassik und Romantik lossagte, gleichermaßen in München und Berlin fanden, wurden diese bei­ den Orte zu den Zentren des Naturalismus in Deutschland. Freilich erzeug­ te der Umstand, dass das neue ästhetische Programm in zwei Städten gleichzeitig artikuliert wurde, auch eine bis dato ungekannte Rivalität. So überlagerte sich in den achtziger und neunziger jahren künstlerisches Do­ minanzstreben mit kulturtopographischem.

1. Phasenentwicklung, Zentrenbildung, Institutionalisierungsprozesse

Als vorläufiger Sieger aus diesem Wettbewerb ging die Gruppe um Mi­ chael Georg Conrad hervor. Nachdem im September 1885 nach nur sechs

Dominanz der Münchner Gruppe

Heften die Berliner Monatshefte für Litteratur; Kunst und Theater ihr Er­ scheinen einstellten und der erste Band der Modernen Dichter-Charaktere trotz eines entsprechenden Vorstoßes von Conradi und Hartleben (vgl. Bun­ zel/Schneider 2005) keine Fortsetzung fand, blieb die Gesellschaft als ein­ zige dezidiert naturalistische Zeitschrift in Deutschland übrig. Ihre "Mono­ polsteilung" (Miehle 1947, 45) wurde noch dadurch gestärkt, dass Karl Bleibtreu Anfang Mai 1886 die Redaktion des in Leipzig erscheinenden Magazins für die Litteratur des In- und Auslandes übernahm und die Zeit­

schrift für Beiträge der Kollegen öffnete. Da Bleibtreu eng mit Conrad ko­ operierte - in den Jahren 1888 und 1889 fungierte er sogar als Mitheraus­ geber der Gesellschaft -, dominierte die Münchner Fraktion in der zweiten Phase eindeutig das Erscheinungsbild der Bewegung. Dass ihre Präponde­ ranz so deutlich ausfiel, hat zwei Gründe: Zum einen gab es mit Karl Bleib­ treu und Conrad Alberti zwei Renegaten in der Berliner Gruppe, die zwar in der Landeshauptstadt lebten, aber die Interessen des Conrad-Kreises ver­ traten. Zum anderen gingen dem Zirkel, der sich um die Harts und die Ber­ liner Monatshefte geschart hatte, 1886 mehrere Anhänger verloren. Wil­

helm Arent zog sich ganz von der naturalistischen Bewegung zurück, und Hermann Conradi, Otto Erich Hartleben sowie Karl Henckell verließen im Abstand von wenigen Monaten die Stadt. Die Berliner Gruppierung musste sich darauf erst mühevoll rekonstellie­ ren. Eine entscheidende Rolle spielten hierbei drei akademische Zeitschrif­ ten, die allesamt in Berlin erschienen und dort auch redigiert wurden: die Deutsche Studenten-Zeitung, die Allgemeine Deutsche Universitäts-Zei­ tung (deren Nachfolgeblatt) und die Deutsche academische Zeitschrift.

Herausgeber aller dieser Organe war der Arzt Conrad Küster, der 1885 die auf eine umfassende Umgestaltung des staatlichen Unterrichts- und Erzie­ hungswesen abzielende ,Deutsche akademische Vereinigung' gegründet hatte und seitdem als Mentor für Studierende und junge Akademiker in der Reichshauptstadt auftrat. In dieser Funktion führte er erst den angehenden Literaturwissenschaftler Eugen Wolff und dann den Studenten der Philoso­ phie und Geschichte Leo Berg an die publizistische T ätigkeit heran, indem er ihnen die Redaktion der benannten Blätter übertrug. Da Küster - in ex­ pliziter Abgrenzung von den schlagenden studentischen Verbindungen Studierende für durchgreifende gesellschaftliche Reformen gewinnen woll­ te, ermunterte er seine ohnehin lebhaft an aktueller Literatur interessierten Redakteure, alle wichtigen kulturellen Fragen im Rahmen der von ihnen betreuten Periodika zu erörtern. Auf diese Weise gelangten in seinen Blät­ tern nicht nur Artikel zu akademischen Belangen, sondern auch Aufsätze über Tagesthemen - darunter ästhetische -, Buch- und Theaterkritiken so­ wie literarische Texte zum Abdruck. Unversehens wurden so die Deutsche Studenten-Zeitung, die Deutsche academische Zeitschrift und die Allge­ meine Deutsche Universitäts-Zeitung zu überaus beliebten Publikationsor­

ganen von Vertretern der Berliner Fraktion des Naturalismus, in denen sich im Grunde fast alle jüngeren Autoren zu Wort meldeten: Conrad Alberti, Wilhelm Arent, Karl Bleibtreu, Hermann Conradi, Adalbert von Hanstein, Julius Hart, Gerhart Hauptmann, Karl Henckell, Arno Holz, John Henry

Die Berliner Naturalistenfraktion

49

50 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen Mackay, Johannes Schlaf und Julius Türk, aber natürlich auch die Redakteu­ re Leo Berg und Eugen Wolff selbst. Verein ,Durch!'

Akademische Zeitschriften waren es demnach, die Mitte der achtziger Jahre den in der Reichshauptstadt lebenden Naturalisten ein Selbstverstän­ digungsforum boten und für einige Zeit das durch die beherrschende Posi­ tion der Gesellschaft entstandene publizistische Defizit der Berliner Gruppe ausglichen. Durch die Mitarbeit an diesen Periodika kamen Personen mit­ einander in Kontakt, die sich zuvor nicht gekannt hatten, so dass nach und nach neue Kommunikationsnetze entstanden. Das wohl augenfälligste Er­ gebnis dieser Reorganisation ist die Gründung der freien literarischen Ver­ einigung ,Durch!' im Frühjahr 1886. (Sie bestand bis etwa 1888.) Ihr gehör­ ten anfangs insgesamt 13 Personen an, darunter die Brüder Hart, Bruno Wille, Leo Berg, Conrad Küster und Eugen Wolff. Im Lauf der kommenden anderthalb Jahre kamen dann u.a. Conrad Alberti, Wilhelm Bölsche, Adal­ bert von Hanstein, Gerhart Hauptmann, Arno Holz, John Henry Mackay und Johannes Schlaf hinzu. Alles in allem lassen sich über die knapp 16 Monate hinweg, in denen der Verein Protokollhefte führte, insgesamt rund 50 Personen namhaft machen, die als Mitglieder oder Gäste an Sitzungen

teilnahmen. Aus der Liste der Namen wird schon ersichtlich, dass die Harts im ,Durch!' nicht mehr die zentrale Rolle spielten. Als eigentliche Füh­ rungsfiguren sind vielmehr Berg und Wolff anzusehen, die - unterstützt durch Küster - die Erneuerungsbestrebungen der jungen Autorengeneration mit dem Organisationsmodus akademischer Diskussionskultur verbanden und dergestalt eine reflektiertere und systematischere Form der intellektuel­ len Auseinandersetzung mit den Zielen des Naturalismus in Gang brachten. Erstes greifbares Resultat dieser Programmarbeit waren zehn von allen Tei 1nehmern getragene Thesen, die um den Jahreswechsel 1886/87 im Maga­ zin für die Litteratur des In- und Auslandes und in der Allgemeinen Deut­ schen Universitäts-Zeitung veröffentlicht wurden.

Da die meisten Vortragsmanuskripte für die akademischen Zeitschriften, in denen die Mitglieder und Sympathisanten des ,Durch!' großenteils publi­ zierten, zu umfangreich waren, gründeten Eugen Wolff und Leo Berg im März 1887 unter dem Titel "Litterarische Volkshefte" eine Flugschriftenrei­ he, mit deren Hilfe "gemeinverständliche Aufsätze über litterarische Fragen der Gegenwart" einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden sollten. Hier erschienen u.a. Essays über Henrik Ibsen und das Germanen­ thum in der modernen Litteratur (Leo Berg) sowie über Oie jüngste deut­ sche Litteratursträmung und das Princip der Moderne (Eugen Wolff), und es

wurde von Wolfgang Kirchbach die Frage erörtert: Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten? Die zehn Bände der "Litterarischen

Volkshefte" (1887-89) und die drei Bände der sich daran anschließenden­ von Leo Berg allein betreuten - "Deutschen litterarischen Volkshefte"

(1889) schufen eine Art publizistisches Äquivalent zur Münchner Gesell­ schaft und trugen entscheidend zur Profilbildung der Berliner Naturalisten

bei. Hinwendung zur Erzählprosa

In der Praxis literarischer Produktion ereignete sich nach dem Erscheinen der

Lyriksammlung

Moderne

Dichter-Charaktere

ein

bezeichnender

Schwenk. Das hängt nicht unwesentlich mit dem Missverhältnis zusam­ men, das zwischen den dem Band vorangestellten Programmtexten und

1. Phasenentwicklung, Zentrenbildung, Institutionalisierungsprozesse

den darin enthaltenen Gedichten besteht. So hatte Conradi in seiner Unser

Credo überschriebenen Einleitung die Überzeugung zum Ausdruck ge­ bracht, "endlich die Anthologie geschaffen zu haben, mit der vielleicht wieder eine neue Lyrik anhebt" (Arent [Hrsg.11885, 1), und Henckell hatte in seinem Vorwort Die neue Lyrik sich zuversichtlich gezeigt, dass "auf den Dichtern des Kreises, den dieses Buch vereint, [ ...] die Litteratur, die Poesie der Zukunft" (Arent [Hrsg.] 1885, VII) beruhe. Paul Fritsche sah in der Ver­ öffentlichung des Bandes gar den greifbaren Beleg für eine "moderne Lyri­ ker-Revolution" (vgl. Fritsche 1885/86). Faktisch hatten jedoch nur sehr we­ nige Autoren Gedichte vorgelegt, die ein Stück weit über das bisher Be­ kannte hinausgingen und einen gewissen neuen Ton erkennen ließen. Die erhebliche Diskrepanz zwischen der vollmundigen Verheißung einer "mo­ dernen deutschen Lyrik" (Arent [Hrsg.l 1885, V) und der dann ausbleiben­ den Einlösung dieses Versprechens war der Literaturkritik sofort aufgefallen. Selbst die Beiträger gestanden im nachhinein ein, dass sie ihr Ziel nicht er­ reicht hatten. So bemerkt etwa Arno Holz freimütig: "Daß wir Kuriosen der

Modernen Dichtercharaktere damals die Lyrik ,revolutioniert' zu haben glaubten, war ein Irrtum" (Holz 1924125, Bd. 10, 490). Die meisten Natura­ listen folgten daher Bleibtreus Empfehlung, "Prosa [zu] schreiben" (Bleib­ treu 1973, 72), und verlegten sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre vorwiegend auf das Verfassen narrativer Texte - ein Trend, der durch die Vorbildwirkung von Zolas Romanästhetik noch verstärkt wurde. Die sich verstärkende Präsenz von Stücken Henrik Ibsens auf den Spiel­

Rolle des Dramas

plänen der Theater und die im Juni 1887 stattfindende Berliner Aufführung der Bühnenversion von Zolas Therese Raquin lenkten indes den Blick der deutschen Naturalisten nach und nach auch auf das Drama. Da die Theater­ adaption von Zolas Roman ausschließlich in Berlin gespielt wurde und Ib­ sens Stücke dort zumindest präsenter waren als andernorts, entwickelte sich ein nennenswertes Interesse an naturalistischer Dramatik vorrangig in der Reichshauptstadt. Hier wurden bald auch Überlegungen angestellt, wie moderne Dramen trotz der nach wie vor bestehenden Theaterzensur und trotz der eindeutig kommerziellen Ausrichtung der Spielstätten auf die Büh­ ne gebracht werden könnten. Einen ersten Vorstoß in diese Richtung unter­ nahmen die Brüder Hart, die - nachdem sich die Berliner Gesellschaft für Theaterfreunde ,Urania' gespalten hatte - mit den abtrünnigen Mitgliedern einen "Bühnenreformverein" (Kralik 1922, 112) initiierten, der sich für die Aufführung von "Werken junger Dichter" (Hart/Hart 2006, 170) einsetzen sollte. Allerdings kam wegen Streitigkeiten im Vereinsvorstand nur eine ein­ zige Inszenierung zustande. Mit der Konstituierung eines privaten Bühnenvereins war ein Modell ge­ schaffen, das für die weitere Entwicklung des Naturalismus von entschei­ dender Bedeutung werden sollte. Die 1887 erfolgte Gründung des französi­ schen ,Theatre libre' - dem so großer Erfolg beschieden war, dass der Leiter Andre Antoine mit seiner Schauspieltruppe schon im Folgejahr auf Gastspiel­ reise nach Brüssel gehen konnte (ein Auslandsbesuch in Berlin im Jahr 1887, der in der Sekundärliteratur zuweilen erwähnt wird, hat freilich nie statt­ gefunden) - lieferte dann vollends den Nachweis für die Existenzfähigkeit eines solchen Unternehmens. Allerdings unterschieden sich die Rahmen­ bedingungen in Frankreich deutlich von denen in Deutschland: "Antoine did

Gründung von Bühnenvereinen

S1

52 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen not have to cope with censorship problems [ .. ]. He established a private .

theatre so as not to compete with the commercial ones, to avoid making enemies and to get kinder critiques. His plays were deliberately chosen from those not performed elsewhere in Paris." (Davies 1977, 14) Gleich­ wohl bedurfte es nach Antoines Vorstoß nur noch einer Bündelung der Interessen, um auch in der Reichshauptstadt ein ähnliches P rojekt zu ver­ wirklichen. Der entscheidende Impuls dafür ging von der jüngeren Garde Berliner Theaterkritiker aus, die allesamt mehr oder weniger deutlich die Anliegen der naturalistischen Bewegung unterstützten; zu ihr gehörten u.a. Theodor Wolff, Maximilian Harden, Heinrich und Julius Hart (die seit Herbst 1887 für die Tägliche Rundschau arbeiteten) sowie Otto Brahm und Paul Schienther. Die öffentliche Ankündigung gibt Auskunft über die Ziele des Vereins, der sich am 5. April 1889 konstituierte:

Uns vereinigt der Zweck, unabhängig von dem Betriebe der bestehenden Theater und ohne mit diesen in einen Wettkampf einzutreten, eine Bühne zu begründen, welche frei ist von den Rücksichten auf Theatercensur und Gelderwerb. Es sollen während des Theaterjahres in einem der ersten Berliner Schauspielhäuser etwa zehn Aufführungen moderner Dramen von hervorragendem Interesse stattfinden, welche den ständigen Bühnen ihrem Wesen nach schwerer zugänglich sind. Sowo[h]I in der Auswahl der dramatischen Werke, als auch in ihrer schauspielerischen Darstellung sollen die Ziele einer der Schablone und dem Virtuosentum abgewandten lebendi­ gen Kunst angestrebt werden. (Schienther 1889,

5)

Konstituierung der

Wie der Name des Vereins, ,Freie Bühne', schon erkennen lässt, ging es

,Freien Bühne'

den Begründern im Wesentlichen darum, losgelöst von den Zwängen so­ wohl der zumeist auf Repräsentation ausgerichteten Hofbühnen wie der auf materiellen P rofit angewiesenen privaten Theater zeitgenössische Stü­ cke zur Aufführung zu bringen. Um nun den rigiden Bestimmungen der Theaterzensur, die im Kaiserreich die Zur-Schau-Stellung als anstößig emp­ fundener gesellschaftlicher Themen unterband, zu entgehen und um zu­ gleich dem "antimammonistischen Ideal" (Hart/Hart 2006, 171), an dem man sich orientierte, treu zu bleiben, konstituierte sich der Verein formell als geschlossene Gesellschaft. Auf diese Weise sicherte sich die ,Freie Büh­ ne' einerseits finanzielle Autarkie, weil sie sich nur aus Beiträgen der Mit­ glieder speiste, und andererseits inhaltliche Gestaltungsfreiheit, weil in quasi-privatem Rahmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit auch Anstoß er­ regende Dramen gezeigt werden konnten. Allerdings beschloss man im Unterschied zum französischen Vorbild, bei den Inszenierungen keine Amateure, sondern Berufsschauspieler einzusetzen, was natürlich den An­ spruch der eigenen Theaterarbeit beträchtlich erhöhte. Da die zehn Grün­ dungsmitglieder unbedingt vermeiden wollten, dass der Bühnenleiter von­ seiten der übrigen Vereinsangehörigen inhaltlich unter Druck gesetzt wer­ den kann, sicherten sie diesem eine besonders starke Stellung. So wurde in den Statuten u. a. festgeschrieben, dass die Spielplangestaltung ausschiieß­ lich in seinen Händen liegt und dass die einfachen, sog. passiven Mitglie­ der mit der Zahlung des Jahresbeitrags nur das Recht zum Besuch der Auf­ führungen erwerben; selbst dem zehnköpfige Vorstand wurde nur eine be­ ratende Funktion zugestanden, nicht aber ein Vetorecht.

1. Phasenentwicklung, Zentrenbildung, Institutionalisierungsprozesse

Das Vereinskonzept stieß auf so lebhaften Zuspruch, dass die Anzahl der Mitglieder - "es waren zu Beginn 360 und zu Ende des jahres ungefähr

900" (Günther 1972, 81) - in kürzester Zeit die Sitzkapazität der Häuser, die bespielt wurden, überstieg und Karten für Aufführungen per Losent­ scheid zugeteilt werden mussten. Die große Resonanz belegt, wie sehr die offiziellen Theater in Deutschland die Gegenwartsdramatik bislang ver­ nachlässigt hatten. Entscheidend zum Erfolg der ,Freien Bühne' beigetragen hat fraglos aber auch die Stückauswahl, die Otto Brahm als Leiter vornahm. Er zeigte Dramen deutscher wie ausländischer Autoren und mischte dabei geschickt Stücke, die das Publikum schon kannte, mit Novitäten. Dem von einigen Kollegen an ihn herangetragenen Wunsch, ausschließlich Texte deutscher Nachwuchsautoren aufzuführen, kam er nicht nach und verhin­ derte so, dass die von ihm geführte Institution zu einer "Experimentier-, Probe- und Schulbühne für jugend- und Anfängerwerke wurde" (Hart/Hart

2006, 181). Das erste Stück, das die ,Freie Bühne' aufführte, waren Ibsens "Gespenster" (29.9.1889); es folgten u. a. Hauptmanns "Vor Sonnenauf­ gang" (28.10.1889), Tolstois "Macht der Finsternis" (26.1.1890), Anzengru­ bers Stücke "Das vierte Gebot" (2.3.1890) und "Doppelselbstmord" (15.3.1891), "Die Familie Selicke" (7.4.1890) von Holz und Schlaf, Haupt­ manns Dramen "Das Friedensfest" (1.6.1890) und "Einsame Menschen" (11.1.1891) sowie Zolas "Therese Raquin" (3.5.1891). Ab Herbst 1891 nah­ men Frequenz und Anzahl der gezeigten Schauspiele stark ab, der Verein wurde nur noch bei besonderen Anlässen tätig. Als die letzten für die Ent­ wicklung des Naturalismus bedeutsamen Veranstaltungen der ,Freien Büh­ ne' können die Uraufführungen von Gerhart Hauptmanns Drama Oie We­

ber am 26. Februar und von Eisa Bernsteins Stück Dämmerung am 30. März 1893 angesehen werden. Folgerichtig gab Otto Brahm Mitte 1894 die Leitung der ,Freien Bühne' ab und übernahm das ,Deutsche Theater'. Die Gründung der ,Freien Bühne' markiert den Übergang von der zweiten zur dritten Phase des Naturalismus in Deutschland. Damit einher geht eine abermalige Schwerpunktverlagerung in der Gattungspräferenz: Galt bis dahin - mit Blick auf Zola und die Tradition des ,sozialen Romans' die Erzählprosa als dominierende Gestaltungsform, verschob sich nun das Interesse auf das Drama, das einerseits eine größere Öffentlichkeitswirkung versprach und andererseits einen Darstellungsmodus bot, der auf zwischen­ geschaltete Narrationsinstanzen verzichtete und so ein größeres Maß an Unmittelbarkeit ermöglichte. Da sich der Durchbruch des Bühnennaturalismus fast ausschließlich in der Reichshauptstadt ereignete, bedeutet der Übergang von der achten zur neunten Dekade des 19. jahrhunderts für das Zentrum München den Verlust der literarischen Führungsrolle. Nach außen hin deutlich sichtbar wurde dies durch die Gründung der von Samuel Fischer verlegten Zeitschrift Freie Bühne für modernes Leben. Mit Beginn ihres Erscheinens Ende januar 1890 hatten nun auch die Berliner Naturalisten ein eigenes, weithin ausstrahlendes Publikationsorgan, wobei die enge Verzahnung mit dem gleichnamigen Bühnenverein dem Periodikum - dessen Redakteur anfangs gleichfalls Otto Brahm war - besondere publizistische Macht verlieh. Hier wurden jedenfalls mehrere Stücke abgedruckt bevor sie auf dem Theater zur Aufführung kamen - darunter Gerhart Hauptmanns

Einsame Menschen, Georg Hirschfelds Zu Hause und Eisa Bernsteins Däm-

3. Phase

S3

54

IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen

merung -, auch nahmen diverse Artikel unmittelbar Bezug auf die Tätigkeit des Vereins. Dominanz Berlins

Durch die Tandemfunktion der beiden Institutionen vergrößerte sich die Publikumswirkung enorm. Die Folge war, dass sich die Augen der Öffent­ lichkeit fortan auf Berlin richteten und das, was in der bayerischen Metro­ pole geschah, nurmehr verminderte Aufmerksamkeit bei den Zeitgenossen erregte. Siegesgewiss schreibt Arno Holz schon am 31. Dezember 1889 in einem Brief an Oskar Jerschke: "Erzittere Gesellschaft, Moderne Dichtung etc. pp! Aus Berlin wird das Heil kommen [ . . ll Aber, im Ernst, wir haben .

in der That alle Aussicht und Anwartschaft, in Bälde' das neue litterarische Deutschland bei uns und in uns zu zentralisieren." (Zit. nach Scheuer

1971, 143) Dies rief in der Münchner Fraktion, die sich - an die Monopol­ steilung der Gesellschaft gewöhnt - nach wie vor "als die naturalistische ,Urkirche' ansah" (Halbe 1976, 85), Verbitterung hervor. Tatsächlich aber hatten die Münchner Naturalisten die literarisch-publizistische Schlagkraft ihrer Kollegen in der Reichshauptstadt, die sich durch den geduldigen Auf­ bau von Organisationsstrukturen eine stabile Basis für ihre Aktivitäten schu­ fen, völlig unterschätzt und konnten deshalb dem Durchbruch des Bühnen­ naturalismus anfangs kaum etwas entgegensetzen. Deutlichstes Indiz für diese partielle Blindheit ist die Ablehnung von Gerhart Hauptmanns Stück

Vor Sonnenaufgang durch die Redaktion der Gesellschaft: Während Mi­ chael Georg Conrad und Karl Bleibtreu die Erzählung Bahnwärter Thiel noch selbstverständlich publiziert hatten, verweigerten sie dem Drama den Abdruck. Später haben sich beide die Verantwortung für diese fatale Fehl­ entscheidung gegenseitig zugeschoben. Im Grunde ist es belanglos, wer ge­ nau nun den Text zurückgewiesen hat, denn die Ablehnung selbst ist letzt­ lich das Resultat von ästhetischen Wertmaßstäben, die sowohl Conrad als auch Bleibtreu vertraten. Nachzüglerposition

Immerhin holte die Münchner Fraktion in kurzer Zeit auf mehreren Ebe­

Münchens

nen nach, was zuvor versäumt worden war. So gründeten Julius Schaum­ berger, Hanns von Gumppenberg, Georg Schaumberg und Otto Julius Bier­ baum im Spätherbst des Jahres 1890 eine ,Gesellschaft für modernes Le­ ben', die noch weiterreichende Ziele verfolgte als die ,Freie Bühne', indem sie ihren Aktionsradius auch auf die bildende Kunst auszudehnen bestrebt war. In der öffentlichen Ankündigung heißt es darüber:

Die ,Gesellschaft für modernes Leben' stellt sich zur Aufgabe die Pflege und Verbrei­ tung modernen, schöpferischen Geistes auf allen Gebieten: Soziales Leben, Littera­ tur, Kunst und Wissenschaft. Zu diesem Zwecke trifft die ,Gesellschaft für modernes Leben' folgende Veranstaltungen:

1. Vortragsabende, in welchen einschlägige Fragen theoretisch und durch Vorlesung moderner Geisteswerke jeder Gattung beleuchtet werden. 2. Errichtung einer freien Bühne, welche unter dem Schutze des Vereinsgesetzes

auch solche Werke zur Aufführung bringen wird, denen sich die öffentlichen Theater noch verschließen.

3. Sonderausstellungen von solchen Werken der der Gesellschaft angehörenden bil­ denden Künstler, welche für die moderne Entwickelung besonders kennzeichnend sind. 4. Herausgabe einer Zeitschrift, welche die Anschauungen der ,Gesellschaft für mo­

dernes Leben' nach außen vertreten soll. (Conrad 1891,3)

1. Phasenentwicklung, Zentrenbildung, Institutionalisierungsprozesse

Die ,Gesellschaft für modernes Leben' sollte also Vortragskreis (wie der ,Durch!'), Bühnenverein (wie die ,Freie Bühne') und Ausstellungsorganisa­ tion in einem sein und obendrein noch eine eigene Zeitschrift (wie die

Freie Bühne für modernes Leben) herausgeben. Allerdings ließ sich dieses überaus ambitionierte Vorhaben nur ansatzweise in die Tat umsetzen. Den Kern der Aktivitäten bildeten im Wesentlichen Lesungen und öffentliche Vorträge, die dann als "Münchener Flugschriften" auch in Broschürenform vertrieben wurden. Außerdem wurde 1891 die Wochenschrift Moderne

Blätter ins Leben gerufen, die aber nur 39 Nummern lang Bestand hatte. Zu den insgesamt 225 Mitgliedern der ,Gesellschaft für modernes Leben' zähl­ ten u.a. Anna Croissant-Rust und Oskar Panizza. Da die Gründung eines eigenen Theatervereins in der bayerischen Me­ tropole nicht gelang, blieben die Münchner Autoren in diesem Punkt auf die ,Freie Bühne' in Berlin angewiesen. Das daraus resultierende Insuffi­

Verschärfung des Gegensatzes MünchenIBeriin

zienzgefühl schlug vollends in Aggression um, als der Vorstand die Auffüh­ rung von Conrads Drama Firma Goldberg ablehnte. Der Herausgeber der

Gesellschaft attestierte daraufhin den Berliner Kollegen einseitige Orientie­ rung an der ausländischen Literatur und fehlendes Eingehen auf die natio­ nalen Belange - also genau jene Defizite, die der Frühnaturalismus gegen die Epigonendichtung der Gründerzeit ins Feld geführt hatte; zugleich hob er positiv die regionale Komponente der Münchner Gruppe hervor, die er gegen die vermeintlich intellektualistische Tendenz des ,konsequenten' Na­ turalismus in der Reichshauptstadt auszuspielen suchte. Doch auch in Ber­ lin waren nicht alle Schriftsteller mit Otto Brahms Spielplangestaltung ein­ verstanden. Es kam deshalb in rascher Folge zur Konstituierung weiterer Vereine, die sich tei Is als "Ergänzung" (Günther 1972, 99), in der Mehrzahl aber als "Gegenunternehmen" (Günther 1972, 98) zur ,Freien Bühne' ver­ standen. Als Supplement gedacht war die am 10. Oktober 1890 ins Leben gerufene ,Freie Literarische Gesellschaft', die ihre Mitglieder durch Vorle­ sungen und Rezitationen mit "Werken zeitgenössischer Dichter", und zwar spezifisch "moderner Literatur" (Tägliche Rundschau 10 [18901, 967), be­ kannt machen wollte. Ihr gehörten außer Heinrich Hart, Leo Berg und Wil­ helm Bölsche auch Hermann Bahr, Theodor Fontane und Ernst von Wolzo­ gen an. Als direktes Konkurrenzunternehmen konzipiert war dagegen die u.a. von Alberti, Bleibtreu und Kretzer ins Leben gerufene ,Deutsche Büh­ ne', die sich in polemischer Abgrenzung von Brahm ausschließlich die Auf­ führung zeitgenössischer deutscher Stücke zum Ziel setzte. Die Gründung der ,Freien Bühne' wirkte auf die weitere Entwicklung des deutschen Naturalismus letztlich wie ein Katalysator: Sie forcierte nicht nur die zeitgenössische Dramenproduktion, sondern stieß auch die Bildung ähnlicher weiterer Vereinigungen an. Auf diese Weise sorgte sie für eine ra­ sche Ausdifferenzierung der naturalistischen Bewegung, beförderte indirekt aber auch das Entstehen von literarischen Gegenströmungen, weil die Etab­ lierung des Naturalismus ihn für jüngere Autoren uninteressant werden und seine Hegemonie ästhetische Alternativmodelle entstehen ließ. Besonders die Organisationsform des Vereins sorgte für Querelen. Nicht wenige Mit­ glieder lehnten die nahezu unumschränkte Machtfülle, welche die Satzung dem Bühnenleiter gewährte, ab und betrachteten die dadurch gegebene äs­ thetische "Diktatur" (Hart/Hart 2006, 52) mit Argwohn. Dazu gehörten

Sieg des Bühnen­ naturalismus

SS

56 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen etwa Theodor Wolff, Maximilian Harden und der Theateragent Stockhau­ sen, die schon kurz nachdem Otto Brahm zum Direktor gewählt worden war, den Vorstand wieder verließen (an ihre Stelle rückten Ludwig Fulda, Gerhart Hauptmann und Fritz Mauthner). Andere kritisierten den hohen Mitgliedsbeitrag, der sozial stark selektierend wirkte und faktisch dazu führ­ te, dass nur in materiell gesicherten Verhältnissen lebende Personen in den Genuss der Aufführungen kamen. Es verwundert deshalb nicht, dass schon bald Forderungen laut wurden, den Wirkungsradius des Vereins auf breitere Schichten der Gesellschaft auszudehnen - zumal der Gedanke einer sog. Volksbühne schon in der ersten Hälfte der achtziger Jahre von Heinrich Hart (vgl. Hart/Hart 1882-84, H. 4, 45ff.) und von Karl Henckell (vgl. Hen­ ckell 1885, 570) entwickelt worden war. ,Freie Volksbühne'

Den ersten Vorstoß dazu unternahm Bruno Wille. Weil sie von seinen Volkserziehungsbemühungen wussten, wandten sich Anfang 1890 zwei Mitglieder des Arbeiterbildungsvereins an ihn mit dem Vorschlag, neben der auf ein bürgerlich-intellektuelles Publikum zugeschnittenen ,Freien Bühne' doch auch eine ähnliche Einrichtung für Arbeiter zu schaffen. Wille formulierte darauf einen Aufruf zur Gründung einer ,Freien Volksbühne' und veröffentlichte ihn im März 1890 im Berliner Volksblatt und in der Freien Bühne für modernes Leben. Das Verhältnis zwischen dem Mutterver­

ein und der Abspaltung stellt sich dabei folgendermaßen dar: Der Zweck der ,Freien Volksbühne' war es, dem 4. Stand sozialkritische, moderne und klassische Dramen nahe zu bringen. [...] [Die Initiatoren] rechneten mit einem Publikum, dessen Bildungsstand und -auffassungsvermögen weit unter dem eigenen lag. Während die ,Freie Bühne' bis zu einem gewissen Grade mit der geschmackli­ chen Verbildung ihres Publikums rechnete und es in ihrem Sinne umschulen wollte, beabsichtigte die ,Freie Volksbühne' die nahezu völlige Unbildung ihres Publikums zu überwinden. (Günther

1972, 109)

Anders gesagt: "Mit der Konstituierung der Freien Volksbühne [ . . ] rückte .

das Problem der Arbeiterbildung in das Blickfeld einer weiteren Öffentlich­ keit." (Voswinkel 1970, 259) Auf der Gründungssitzung der ,Freien Volks­ bühne' am 29. Juli wurde Wille zum Vorsitzenden und Julius Türk zum Schriftführer gewählt; Bölsche, Brahm und Julius Hart fungierten, neben an­ deren, als Beisitzer. Zu den Stücken, die der Verein auf die Bühne brachte, zählen beispielsweise Ibsens Dramen Stützen der Gesellschaft, Ein Volks­ feind (1890), Bund der Jugend (1891), Gespenster und Nora (1892), Haupt­

manns Vor Sonnenaufgang (1890) und Oie Weber (1893), Sudermanns Ehre (1891), Halbes Eisgang (1892), Anzengrubers Der Doppelselbstmord

(1891) und Der Pfarrer von Kirchfeld (1892) sowie Zolas Therese Raquin (1892). Der Zuspruch der Arbeiterschaft war enorm: Bereits im Sommer 1890 hatte der Verein 1150 Mitglieder aufzuweisen, nach einem Jahr wa­ ren es 4000 und 1892 gar 8000 Personen. ,Neue Freie

Zwei Jahre nach Gründung der ,Freien Volksbühne' kam es zu einer fol­

Volksbühne'

genschweren Kontroverse zwischen Wille und den mit ihm befreundeten Kollegen einerseits und der Führung der Sozialdemokratie andererseits. Letztere warf ihm vor, seine Bildungsbestrebungen seien Ausdruck einer bourgeoisen Gesinnung; im Grunde wolle er die Arbeiter zu Bürgern erzie­ hen. Außerdem sprachen sich einige Arbeiter dafür aus, die Führung der

1. Phasenentwicklung, Zentrenbildung, Institutionalisierungsprozesse 57 ,Freien Volksbühne' künftig in die eigene Hand zu nehmen; Leiter wurde so Franz Mehring. Wille und die übrigen Naturalisten traten darauf aus dem Verein aus und riefen stattdessen eine ,Neue Freie Volksbühne' ins Le­ ben. Die entscheidende Differenz zwischen beiden bestand weniger im P rogramm als vielmehr in der Organisationsform. Wille erläutert dies in sei­ nem Aufsatz Proletariat und Kunst, in dem er auf das Zerwürfnis mit der ,Freien Volksbühne' näher eingeht: Daß aber das Ereignis überhaupt eintreten konnte, lag an der Konstitution des Ver­ eins, und letzten Endes an der Beschaffenheit vieler "zielbewußter Genossen". Das Statut der freien Volksbühne war eben ein "demokratisches", d. h. die Mitglieder hat­ ten, wenn auch indirekt, die Leitung in den Händen. Schon vor der Gründung, im Freundeskreis, hatte ich vor dieser Konstitution gewarnt. Doch der Hinweis auf die "demokratischen" Gewohnheiten der Berliner Arbeiter, die Befürchtung, daß eine "undemokratische" Volksbühne keinen Anklang werde finden können, die Opportu­ nitätspolitik gewichtiger Förderer meines Unternehmens nahm mich damals ins Schlepptau [...] Will das Publikum einer freien Volksbühne geistig mehr werden als es ist, so darf man es durchaus nicht selber den Verein leiten lassen, auch nicht indi­ rekt, indem es den Leiter wählt [...]. Ich habe im Vereinsleben die Erfahrung ge­ macht, daß die "Demokratie" [...] durchaus nicht immer geeignet ist, sachverständi­ ge Leute auf die Posten zu bringen, zu denen sie berufen sind. [...] Die Organisation, die ich für wahrhaft berufen halte, die künstlerische Erziehung des Volkes, eine Ver­ mählung von Proletariat und Kunst zu vollziehen, hat eine gewisse Verwirklichung gefunden, in unserer "Neuen freien Volksbühne". Ihr Prinzip ist die freie Vereinba­ rung. Eine Gruppe von Leuten, die sich selbst und einander für sachverständig hal­ ten, veranstaltet eine Volksbühne vollkommen selbstständig und ohne eine anderes Mandat zu haben, als die Zustimmung der Vereinsmitglieder, wie sie einfach in de­ ren Beitritt zum Verein zum Ausdruck gelangt. ([Ettlinger]

1905,20-22)

Dementsprechend lautet die Satzung der ,Neuen Freien Volksbühne': Der Verein bezweckt, seinen Mitgliedern erhebende und befreiende Kunstwerke al­ ler Gattungen, insbesondere Theatervorstellungen, Dichtungen und Musikwerke, nach Möglichkeit auch Werke der Bildhauerei und Malerei vorzuführen und durch Vorträge und Aufsätze zu erläutern. [...] Der Vorstand, welchem die Leitung der Ver­ einsgeschäfte obliegt, entscheidet in Gemeinschaft mit dem künstlerischen Ausschuß über sämtliche künstlerische Vereinsangelegenheiten. (Chung

1989,295)

Wie sich hier in aller Deutlichkeit zeigt, differierten die Vorstellungen, wei­ che Aufgaben privat gegründete Bühnenvereine haben und wie diese Ziele am ehesten zu erreichen sind, erheblich. In den knapp drei Jahren

(1893-95), in denen Bruno Wille die Leitung der ,Neuen Freien Volksbüh­ ne' innehatte, wurden u.a. aufgeführt: Anzengrubers Dramen Der G'wis­ sens wurm, Oie Kreuzelschreiber und Das vierte Gebot, Tolstois Macht der Finsternis, Hauptmanns Stücke Oie Weber und Einsame Menschen, Halbes Jugend und Ibsens Ein Volksfeind. Spätestens mit dem Jahr 1895 erreichten die Institutionalisierungsbemühungen der Naturalisten einen Endpunkt: Die ,Freie Bühne' hatte ihre Aktivitäten weitgehend eingestellt, und Bruno Wil­ le gab die Leitung der ,Neuen Freien Volksbühne' ab. Parallel dazu ging auch die Textproduktion merklich zurück, weil Autoren wie Hauptmann, Holz oder Schlaf sich mittlerweile ästhetisch neu zu orientieren begonnen hatten. Jene Werke, die auch weiterhin Strukturmerkmale aufwiesen, die dem Naturalismus entsprechen, stammen meist von Epigonen. Für literari-

58

IV.

Theorie, Geschichte, Verflechtungen sche Debütanten jedenfalls hatte die Diskursformation keine Verbindlich­ keit mehr.

2. Programmatik, Literaturverständnis,

Autorschaftskonzeption Ästhetische Prämissen

Der Naturalismus verfolgt ein künstlerisches Programm, das auf einer Reihe ontologischer und erkenntnistheoretischer Basisannahmen aufruht. Zur Charakterisierung des neuen Denkansatzes hat Maximilian Harden folgen­ de prägnante Formel geprägt: "Naturalismus

=

Panphysismus im Gegensatz

zum klassisch-romantischen Theismus und Pantheismus" (Harden 1890,

341). Damit wird die doppelte Frontstellung zu jeder Form von Metaphysik, besonders zum christlichen Schöpfungsgedanken, wie zur idealistischen P hilosophie betont. An deren Stelle rückt ein strikt diesseitsorientierter Em­ pirismus, der gleichwohl nicht beim bloßen Augenschein stehen bleiben, sondern die Funktionsmechanismen aufspüren will, welche das positiv Ge­ gebene organisieren. ,Natur' wird dabei als hochkomplexes, lückenloses Bedingungsgefüge in der Art eines selbstorganisierenden Systems verstan­ den, das unumstößlichen Ablaufregeln folgt. An der Entdeckung und Dar­ stellung dieser ,Gesetze' ist nach Überzeugung der Naturalisten nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Kunst beteiligt. Ihre Aufgabe besteht darin, sich strikt an der ,Natur' zu orientieren, und zwar indem sie sich zu deren Beschreibungsmedium macht und dabei jene Entstellungen vermei­ det, die durch ästhetische Gestaltungskonventionen bedingt sind. ,Natur' fungiert demnach als Korrektiv bestehender - sozialer, ökonomischer und ästhetischer - Verhältnisse, markiert aber zugleich auch die unübersteigba­ re Grenze für menschliche Veränderungswünsche. Ein solcher Denkansatz mag heute fremd wirken; er markiert freilich eine wichtige Etappe auf dem Weg der Abkehr von metaphysischen Erklärungsmodellen und der Relati­ vierung idealistischer Denkkonzepte. Die Literatur des Naturalismus ist der ästhetische Reflex dieses Paradigmenwechsels, setzt sie sich doch "zum Ziel, das Pathos der idealistischen Kunstauffassung, die sich an selbstgesetz­ ten Ideen orientierte, zu disziplinieren und zum Gehorsam gegenüber dem Nomos der Naturgesetze zu verpflichten" (Kluwe 2001,219). Wie funda­ mental damit gegen gängige Erwartungen verstoßen wurde, mag die Äuße­ rung eines Zeitgenossen illustrieren, der als Ergebnis der naturalistischen Li­ teraturrevolte bedauernd konstatiert: "Die Poesie ist von ihrer stolzen, idea­ len

Götterhöhe herabgestiegen,

hat

den

leuchtenden

Sternenmantel

abgeworfen, sich in gemeine Lumpen gehüllt, und fast bis zur Unkenntlich­ keit entstellt" (philipp 1892,3).

"Rückkehr zur Natur"

Worum es den Naturalisten ging, war - wie Zola in Anlehnung an Rousseau postulierte - eine "Rückkehr zur Natur" (Zola 1904,7) bzw. - wie Ju­ lius Hart es einmal ausdrückte - eine "Vermählung von Kunst und Natur" (Hart/Hart 2006,157). Brahm sieht die literaturgeschichtliche Entwicklung geradezu als Beleg dafür, "wie die Kunst sich die Kunst aneignet, immer mehr Natur in sich aufzunehmen" (Brahm 1891, 491). Erkennbar ist hier ein "Begriff der Natur, der als das ,Andere' von Kunst der identifizierenden

2. Programmatik, Literaturverständnis, Autorschaftskonzeption

Differenzierung dient [ . . . 1, der ihr als das [ . . . ] Natürliche, Unverdorbene, Unvermittelte gegenübergestellt [ . . . ] [ist] und aus dem Literatur Stoff (die ,Welt') und Anspruch (auf ,Wahrhaftigkeit') ziehen" (Bolterauer 2003, 102) kann. In der Tat fungiert das Schlagwort ,Natur' nicht nur als "Taufpate der Bewegung", sondern zugleich als ihr "Angelpunkt" (Schulz 1971, 411). Zola hat mit seiner Definition: "Une ceuvre d'art c'est un coin de la nature vu a travers un temperament" das Verhältnis von Kunst und Natur auf einen kurzen Nenner gebracht. Fortan war die Kunst auf strikten Realitätsbezug verpflichtet, der Hinweis auf das "temperament" sicherte aber auch der Subjektivität des Künstlers noch ein Residuum. Die deutschen Naturalisten verschoben die Gewichte zunächst sehr weit in Richtung auf den darstellenden Künstler. Da eine der Hauptursachen für den qualitativen Niedergang der Dichtkunst die "Loslösung der Form vom

Nutzung formal wenig reglemen­ tierter Genres

Inhalte" U. Hart 1890, XI) sei, müsse im Gegenzug der Spielraum künstleri­ scher Individualität erweitert werden. Der sterile "Formalismus" U. Hart 1890, X) der epigonalen Gründerzeitliteratur könne nur dann überwunden werden, wenn der Dichter sich wieder - wie zur Zeit der Genieästhetik (vgl. Kapitel 111.5.) - frei mache von einengenden Formkonventionen. Durch den Hinweis auf die Authentizität subjektiven Ausdrucksbestrebens war es möglich, zahlreiche aus dem Traditionsfundus normativer Poetik stammen­ de Vertextungsregeln außer Kraft zu setzen. Um dem individuellen Gestal­ tungswillen des jeweiligen Autors größtmöglichen Spielraum zu geben, sprachen sich die naturalistischen Theoretiker vor allem für die Nutzung formal wenig reglementierter Genres aus. Im Bereich der Lyrik hatte dies einen weitgehenden Verzicht auf herkömmliche Poetizitätsmerkmale wie Reim, Strophe und Metrum zur Folge. Viele Schriftsteller griffen die von den Harts ausgesprochene Empfehlung, "Poeme [ . . . ] in freierer, reimloser Form" (Hart/Hart 1882-84, Heft 3, 56) zu verfassen, auf, und so erlebten besonders freirhythmische und Knittelversdichtungen seit Mitte der achtzi­ ger Jahre einen lebhaften Aufschwung; parallel dazu entstanden auch die ersten Prosagedichte in deutscher Sprache. Doch die naturalistische Revolte hatte beileibe nicht nur Rückwirkungen auf äußere Gestalt und Struktur der Texte. Auf Grund ihrer "kämpferischen

Ausweitung des Themenspektrums

Opposition gegen die Welt des schönen Scheins" (Münchow 1968, 161) forderten die Autoren der jungen Generation auch eine Ausweitung des li­ terarischen Themenspektrums in Richtung jener Bereiche, die bislang weit­ gehend tabuisiert waren; zu nennen wären hier vor allem Sexualität, Krank­ heit und soziales Elend. Conradi vertritt deshalb in seinem Aufsatz Das se­

xuelle Moment in der Literatur die Auffassung, dass dem Künstler )n puncto Motivwahl alles erlaubt" (Conradi 1911, Bd. 2, 11) sein müsse. Böl­ sche bekräftigt diese Ansicht ausdrücklich: "Die Kunst darf als solche dar­ stellen, was sie will, es giebt keinen Censorstandpunkt für sie, der aus dem ,Stoff' ein Sittenurtheil spinnt." (Böische 1896/97, 206) Alberti spitzt diesen Gedanken dann apodiktisch zu und erklärt kurzerhand, als Stoff der Kunst stehe "der Tod des größten Helden nicht höher, als die Geburtswehen einer Kuh" (Alberti [18901, 11). Im Zuge dieses veränderten Realitätsbezugs wurde nicht nur die Groß­ stadt als spezifisch moderner Erfahrungsraum entdeckt, es gelangten auch gesellschaftliche Schichten in den Wahrnehmungsfokus der Literatur, die

Veränderter Realitätsbezug

S9

60 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen vordem übersehen oder gezielt ausgeklammert worden waren: Fabrikarbei­ ter, Tagelöhner oder Prostituierte. Die Aufmerksamkeit richtete sich jedoch keineswegs nur auf soziale Randbereiche, der Blick fiel auch auf psychi­ sche Begleiterscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft. Naturalistische Texte dokumentieren ausführlich mentale und emotionale Phänomene wie Statusdenken, Leistungsdruck, Sozialneid, Versagens- und Abstiegsängste. Erfaßt werden soll jeweils ein ganzer Verhaltenshabitus, der das Ineinander­ greifen biologischer Prägefaktoren und sozialer Normen bezogen auf Kör­ per und Psyche eines einzelnen erkennbar macht. Julius Hillebrand ver­ langte von der modernen Literatur denn auch die Darstellung "streng individualisierter Typen" (Hillebrand 1886, 235). Die ,Studie' als

In jedem Fall war gefordert, "Studien nach der Natur" ([Conrad] 1885, 2)

ästhetisches Modell

zu betreiben. Das Musterbeispiel einer solchen investigativen Vorgehens­ weise lieferte Zola, von dem Michael Georg Conrad berichtet, dass er im Vorfeld seines im Prostituiertenmilieu spielenden Romans Nana

"einige

Monate lang kreuz und quer die [ ...] Welt, in denen sich die Cocotte be­ wegt", "durchforscht" (Conrad 1880, 214) habe. Ein enger Realitätsbezug, der sich auf empirische Fakten und eigene Anschauung stützen kann, galt deshalb für die meisten Naturalisten als unabdingbar. Max Kretzer etwa er­ klärte kurzerhand: "Der realistische Schriftsteller bedarf seiner Modelle, hat dieselben gründlichen Studien zu machen, wie jeder Maler, der es ernst mit seiner Kunst meint. [ ...] Und um die wirkliche Welt mit ihren Höhen und Tiefen kennen zu lernen, dazu gehören Studien, Studien und nochmals Stu­ dien." (Kretzer 1885, 671) Die Art und Weise, wie diese "Studien" im ein­ zelnen betrieben wurden, differiert freilich erheblich. Conrad beispielswei­ se porträtierte in seinem Roman Was die Isar rauscht bekannte Persönlich­ keiten des öffentlichen Lebens in München und orientierte sich bei der Beschreibung von ,Menschen aus dem Volke' an konkreten Vorbildern sei­ nes täglichen Umgangs. Hauptmann wiederum unternahm zur Vorberei­ tung seines Weber-Dramas im Frühjahr 1891 zwei Reisen nach Schlesien, um das Elend der dortigen Arbeiter mit eigenen Augen zu sehen, und schrieb dabei seine Eindrücke nieder. Leitbild ,Skizze'

Das Ethos unbedingter Wirkl ichkeitsnähe beeinflusste indes nicht nur den Prozess schriftstellerischer Materialgewinnung, sondern wirkte sich auch auf die Struktur der Texte aus. "Studien" nämlich, die sich an "der Na­ tur" orientierten, wirkten per se authentisch, auch wenn sie vorgegebenen ästhetischen Gestaltungsregeln nicht entsprachen. Der wissenschaftliche Gestus, der mit dieser Aufzeichnungsmethode verbunden war, trug mithin entscheidend dazu bei, dass neue literarische Formen akzeptiert wurden. Fortan galten auch Texte als legitim, die nach herkömmlichen Maßstäben als unabgeschlossen galten oder sich dazu bekannten, etwas nur vorläufig festzuhalten. So weisen etwa Arno Holz und Johannes Schlaf in der Vorrede ihrer Textsammlung Papa Hamlet (1889) ausdrücklich darauf hin, dass die hier abgedruckten Kurzprosastücke "nicht etwa bereits als abgerundete Kunstwerke, sondern nur als ,Studien' zu solchen" (Holz/Schlaf 1982, 18) aufzufassen seien. Für viele Schriftsteller wurde es mehr und mehr zum Darstellungsziel, der literarischen Produktion "nicht bloß möglichst viel von der Frische des Entwurfes zu belassen, sondern ihr geradezu den Cha­ rakter des Entwurfes, von etwas Unfertigem, gleichsam im Entstehen Be-

2. Programmatik, Literaturverständnis, Autorschaftskonzeption

griffenem, zu geben" (Servaes 1898/99, 55). Die Texte verfahren deshalb häufig stark selektiv und bieten nurmehr Realitätsausschnitte, oft sogar in fragmentarischer Form. Neben dem Begriff der ,Studie' bürgerte sich denn auch die Bezeichnung ,Skizze' ein. Conradi versah seine Textsammlung Brutalitäten (1886) mit dem Untertitel "Skizzen und Studien", und Mackay

gab seinem Band Schatten (1887) die Gattungszeichnung "Novellistische Studien"; gleichfalls als "Novellistische Studie" bezeichnete Hauptmann seine Erzählung Bahnwärter Thiel (1888), während Holz und Oie papierne Passion (Olle Kopelke) (1890) "Eine Berliner Studie" nannten. Die Wahl

von Termini wie ,Skizze' oder ,Studie' indiziert jeweils einen weitgehenden Verzicht auf jede Form von Totalität bei der Wirklichkeitserfassung und einen Abschied vom organologischen Werkmodell. Die tradierte Norm künstlerischer Geschlossenheit war damit abgelöst und wurde ersetzt durch eine Ästhetik der ,Offenheit', die Unfertigkeit und Ausschnitthaftigkeit zu Leitwerten erhob. Der Roman als erzählerische Großgattung behielt freilich seine Bedeutung, zumal er - verstanden als "Dichtung der ununterbrochenen organischen Entwicklung" - die literarisch adäquate "Form des darwinistischen Zeitalters" (Alberti [1890], 241 f.) zu sein schien. Allerdings unterscheidet er sich vom Texttyp ,Studie' gelegentlich nur durch den größeren Umfang. Die Ähnlichkeit der Vertextungsweise führte in vielen Fällen zu einer episodischen Struktur: Anstatt ein komplexes Geschehen erzählerisch zu bündeln, wie das Zola in seinen Werken tat, verfahren viele deutsche Romane des Naturalismus eher additiv. Beispiele hierfür sind Conradis, Conrads und Albertis Romantexte. Die beiden Letztgenannten versuchten zugleich aber auch, das von Zola mit Les Rougon-Macquart (1871-91) begonnene Muster des Romanzyklus nachzuahmen. So projektierte Conrad eine zusammenhängende Folge von insgesamt zehn Romanen, von der immerhin drei Teile - Was die Isar rauscht (2 Bde., 1888), Oie klugen Jungfrauen (3 Bde., 1889)

sowie Oie Beichte des Narren (1893) - erschienen, und Alberti legte die sechsbändige "Romanreihe" "Der Kampf ums Dasein" (1888-95) vor. Parallel dazu wurde die in Deutschland seit dem Vormärz bestehende Tradition des ,sozialen Romans' wiederbelebt. Das Stichwort dafür gab Karl Bleibtreu, der 1886 erklärte: "Die höchste Gattung des Realismus ist der sociale Roman." (Bleibtreu 1973, 36). Um an diese Tradition anknüpfen zu können, wurden Romanhandlung und -personal der Milieutheorie entsprechend regional akzentuiert. So trägt etwa Was die Isar rauscht den Untertitel "Münchener Roman"; den kurz zuvor publizierten Erzählungsband Totentanz der Liebe (1885) hatte Conrad ganz ähnlich mit der Bezeichnung

"Münchener Novellen" versehen. Parallel dazu entwickelte Max Kretzer den - kommerziell wesentlich erfolgreicheren - Typus des sog. Berliner Romans, der mit seiner ausschnitthaften Beschränkung auf die Topographie der Reichshauptstadt minutiöse Lokalschilderung mit einer umfassenden Sicht auf die Metropole als Mikrokosmos modernen Lebens zu verbinden trachtete. Gleichwohl gelangte die P rosa des deutschen Naturalismus kaum über die bereits erreichten literarischen Standards hinaus. Inhaltlich fand im Wesentlichen eine aktualisierte Fortschreibung des Gattungsschemas ,sozialer Roman' statt, und formal kam es vielfach zu einer Neubelebung des von Karl Gutzkow begründeten ,Roman des Nebeneinander'.

Der ,soziale Roman'

61

62 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen Experimente mit

Ein Vorstoß in ästhetisches Neuland gelang erst in den experimentellen

Sprache und Form

Texten des ,konsequenten' Naturalismus. Die Namengebung dieser von Arno Holz und Johannes Schlaf geprägten radikalen Spielart des Naturalis­ mus, die im internationalen Vergleich eine Sonderentwicklung darstellt, hat mehrere Wurzeln: Sie geht zunächst auf eine Formulierung Wilhelm Böl­ sches zurück, der schon 1888 in einem Aufsatz von den "konsequenten Realisten" (Böische 1888, 236) gesprochen hatte, rekurriert aber auch auf eine Selbstcharakteristik Holz'/Schlafs sowie auf eine daran anschließende Formulierung Gerhart Hauptmanns. Als nämlich Holz und Schlaf ihren Band Papa Hamlet veröffentlichten, wagten sie es nicht, ihn unter eigenem Namen zu publizieren. Stattdessen bedienten sie sich eines Pseudonyms: Bjarne P. Holmsen. Holz und Schlaf gaben zudem vor, die Texte seien aus dem Norwegischen übersetzt worden und zwar von einem - gleichfalls nicht existierenden - Dr. Bruno Franzius. Die hinter diesem Manöver ste­ hende Absicht ist offenkundig: Der erfundene Name eines Skandinaviers sollte einem bis dato nicht dagewesenen literarischen Experiment jene Ak­ zeptanz sichern, die einem deutschen Autor nicht ohne Weiteres zuteil ge­ worden wäre. Und tatsächlich funktionierte der Trick. Hauptmann, der als einer der wenigen die wahren Urheber kannte, half sogar noch dabei, die aufgebaute Illusion aufrechtzuerhalten, indem er seinem Drama Vor Son­ n en a u fga ngfolgende Widmung voranstellte: ßjarne P. Holmsen, dem kon­

sequentesten Realisten, Verfasser von Papa Hamlet, zugeeignet, in freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen, entscheidenden Anre­ gung." (Münchow 1970, Bd. 1, 236) Seine Bezeichnung greift eine Selbst­ charakterisierung von Holz und Schlaf auf, die in der fingierten "Einleitung des Übersetzers" von der "vor keiner Konsequenz zurückschreckenden Energie [ ...] [der] Darstellungsweise" (Holz/Schlaf 1982, 17) Holmsens ge­ sprochen haben. , Konsequenter'

Die eigentliche Leistung des ,konsequenten' Naturalismus nun besteht in

Naturalismus

seiner besonderen Handhabung von Sprache, die so zum Einsatz gebracht wird, dass sie einen veränderten literarischen Fiktionsmodus erzeugt. Aus­ gehend von der Prämisse, "daß der Naturalismus eine Methode ist, eine Darstellungsart und nicht etwa ,Stoffwahl"' (Holz 1924/25, Bd. 10, 271), folgerten Holz und Schlaf: "Man revolutioniert eine Kunst [ ...] nur, indem man ihre Mittel revolutioniert." (Holz 1924/25, Bd. 10, 490) In der Praxis sah dies so aus, dass die Literatur nicht mehr vorrangig zum Aufbau einer konsistenten Welt der Narration genutzt, sondern stattdessen in einem bis­ lang nicht dagewesenen Maß zur Nachahmung außerliterarischer Realität eingesetzt wurde. Während jede Beschreibung von Dingen oder situativen Zuständen bis dahin unter dem Zwang stand, funktional für die erzählte Geschichte und damit für die im Zentrum des Interesses angesiedelte Handlung zu sein, brachen die Autoren des ,konsequenten' Naturalismus mit diesem Prinzip. Geleitet von der Überzeugung, dergestalt die Umstän­ de des Geschehens genau zu bestimmen und so die Determinanten menschlichen Handeins offenzulegen, befreiten sie die literarische Darstel­ lung von der Fixierung auf plot und erzählerischen Spannungsaufbau. Im Endeffekt emanzipiert sich hier die Narration vom Zwang fortschreitender Mitteilung und nähert sich der Zustandsschilderung an. Das Sprachmaterial bleibt zwar noch im Dienst der Beschreibung, doch verselbständigt es sich

2. Programmatik, Literaturverständnis, Autorschaftskonzeption 63 gewissermaßen unter der Hand, weil es nurmehr dem Gebot der Mimesis, aber nicht mehr Zwecken narrativer Ökonomie gehorcht. Während das Wortmaterial im ,konsequenten' Naturalismus ganz in den Dienst der Be­ schreibung gestellt wird, was einen weitgehenden Verzicht auf Tropen er­ fordert, kommt es im Gegenzug zu einer deutlichen Aufwertung der Inter­ punktion als Ausdrucksmittel. Um Pausen oder das Stocken mündlicher Rede im Text wiederzugeben und P hrasierungen des Gesprochenen er­ kennbar zu machen, werden in großem Umfang Interpunktionszeichen wie Gedankenstriche, Auslassungspunkte, Frage- und Ausrufezeichen einge­ setzt.Als Beispiel hierfür sei zunächst eine Passage aus Papa Harntet ange­ führt: Eine Diele knackte, das Öl knisterte, draußen auf die Dachrinne tropfte das Tau­ wetter. Tipp ......................................Tipp . ............Tipp ............................... ..Tipp ...........................(Holz/Schlaf

1982, 62)

Die hier begegnende Kombination von bedeutungstragender Interpunktion

Semantisierung der

und Lautmalerei erscheint alles in allem noch relativ vertraut.Wird jedoch

Interpunktion

Dialektsprache mit einer semantisch aufgeladenen Zeichensetzung amalga­ miert, dann sind die Grenzen der Verständlichkeit rasch erreicht.Verdeutli­ chen mag das folgender Dialogfetzen aus der "Berliner Studie" Oie papier­ ne Passion (Olle Kopetke) von Arno Holz und Johannes Schlaf: ",Nee! Nee! So'nn Frooenzimmer! So'nn . . .pfff?! Ooch schlecht!! Ick sag't ja! Warum nich jleich lieberst in de Beene?? So'nn Miststicken!! Na komm du mir man! Ick weer dir schon inweihen! - - - Wat??

..Enzen ...Zween ... "'

(Schulz 1973, 97) Wie fremd die ungewohnte Semantisierung der Inter­ punktion wirkte, zeigt der Umstand, dass sich viele Zeitgenossen über "die ,Interjektionspoesie' des ,Uebernaturalismus', der mehr durch Gedanken­ striche ausdrückt, als durch Gedanken" (T ägliche Rundschau 13 [1893L Unterhaltungs-Beilage, 308), beklagten. Leo Berg sprach gar abfällig von "Taubstummenpoesie" (vgl.Berg 1896, 375-380). Im Gegensatz etwa zur Literatur des Realismus, die den Eindruck von Wirklichkeitsnähe dadurch herstellt, dass sie mit den Mitteln der Fiktion eine Welt generiert, die der tatsächlichen ähnelt, verfolgt der ,konsequente' Naturalismus also eine radikalisierte Form von Mimesis. Er reduziert die narrativen Textanteile und ersetzt sie durch szenische.Anstatt zu erzählen, löst er das Geschehen weitgehend in Dialoge auf.Anders aber als bei­ spielsweise in den Gesprächsromanen Theodor Fontanes ist nicht mehr der Inhalt des Gesprochenen von Belang, vielmehr rückt die Wiedergabe indi­ vidueller Artikulationseigentümlichkeiten der jeweiligen Sprecher in den Mittelpunkt, die mit phonographischer Präzision nachgebildet werden.Der Kritiker Franz Servaes hat die Verfahrensweise von Holz und Schlaf folgen­ dermaßen charakterisiert: [. . . ] sie beobachteten und reproduzierten [ . . . ] in der treuesten Weise, was man die "Mimik der Rede" nennen kann: jene kleinen Freiheiten und Verschämtheiten jen­ seits aller Syntax, Logik und Grammatik, in denen sich das Werden und Sichformen eines Gedankens, das unbewußte Reagieren auf Meinungen und Gebärden des Mit­ unterredners, Vorwegnahme von Einwänden, Captatio benevolentiae und all' jene

"Mimik der Rede"

64 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen leisen Regungen der Seele ausdrücken, über die die Wiederspiegier des Lebens sonst als "unwichtig" hinwegzugleiten strebten, die aber gerade meist das "Eigentliche" enthalten und verraten. (Zit. nach Holz "Phonographische Methode"

1924/25, Bd. 10, 254)

Holz nannte deshalb die von ihm und Schlaf entwickelte Verfahrensweise "phonographische Methode": Es scheint, als imitierten Holz und Schlaf den Phonographen, leisteten lediglich eine verwirrende Umschrift einer Tonaufnahme. Diese bewußte Fiktion ist jedoch alles andere als bloße Imitation des naturwissenschaftlich begründbaren Vorgangs der Aufzeichnung, sie nimmt vielmehr die mit dem Begriff der "Phonographie" gegebene Metapher ernst. Sie treibt so die Sensibilisierung des Lesers für die Phonomorphie der Sprache extrem hervor. (Schanze

1983, 465)

Nicht mehr durch den über eine zwischengeschaltete Erzählinstanz wieder­ gegebenen Gesprächsbericht oder die Beschreibung von Gestik und Mimik werden Figuren charakterisiert, sondern durch die protokollarische Wieder­ gabe ihrer Verlautbarungen, die mundartliche Färbung ebenso einschließt wie Sprechgeschwindigkeit, Artikulationsweise und Phrasierung der Rede. Zugleich wird versucht, auch die bislang unterschätzte non- oder allenfalls halbverbale ",Parallelsprache' der Gesten, des Mienenspiels, der Körperbe­ wegungen und der unkontrollierten Ausrufe" (Kafitz 1982, 300) in den Blick zu rücken. "Kunst= Natur-x"

Die Darstellungstechnik von Holz und Schlaf ist damit ganz jener "kühlen, parteilosen, sachlichen, ,wissenschaftlichen', Beobachtung und Wie­ dergabe der Wirklichkeit" (Kretzer 1888/89, 353) verpflichtet, die zu den elementaren Zielen des Naturalismus gehört. Selbst der in ästhetischen Be­ langen sonst eher auf Vermittlung bedachte Heinrich Hart sprach sich Ende der achtziger Jahre dafür aus, dass der Autor dem "Geist der absoluten Ob­ jektivität" folge, was in der literarischen Praxis "zugleich [ . . ] das Zurück­ .

drängen des Subjekts bedeutet" (H. Hart 1889, 52). Dies indiziert eine deutliche Abkehr von den Positionen des Frühnaturalismus. Das rückwärts­ gewandte Wunschbild selbstgewisser Verfügungsgewalt über den Stoff durch ein geniegleiches Autorindividuum weicht dem Ethos unverfälschter Realitätsschilderung, durch welches das wahrnehmende Subjekt in die Rol­ le des Protokollanten gedrängt wird. Allenfalls in der konkreten sprachli­ chen Organisation literarischer Mimesis tritt der Schriftsteller noch zutage. Ihren greifbarsten Ausdruck hat die Selbstverpflichtung zu einer möglichst naturgetreuen Wiedergabe der Wirklichkeit in Arno Holz' berühmter For­ mel "Kunst

=

Natur - x" (Holz 1924/25, Bd. 10, 80) gefunden, wobei die

Variable "x" in dieser Gleichung für die "Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung" (Holz 1924/25, Bd. 10, 83) steht und niemals völlig zum Verschwinden gebracht werden kann. Wie sich bei genauerem Hinse­ hen zeigt, ist Holz' ,Kunstgesetz' letztlich ein begrifflich präzisierter und um medientheoretische sowie kunstsoziologische Aspekte erweiterter Ge­ genentwurf zu Zolas Diktum "une ceuvre d'art c'est un coin de la nature vu

a travers un temperament". Während der französische Autor "noch [ . . ] das .

Objektive und Subjektive in einer sich gegenseitig relativierenden Mi­ schung verbunden hatte" (Holz/Schlaf 1982, 108), erscheint bei Holz die Individualität des Künstlers eher als - freilich nicht zu vermeidendes - Stör-

2. Programmatik, Literaturverständnis, Autorschaftskonzeption 6S

element, das die Präzision des ästhetischen Reproduktionsprozesses beein­ trächtigt. Der Ehrgeiz der ,konsequenten' Naturalisten richtete sich darauf, Wirk­ lichkeit möglichst ungefiltert zur Darstellung zu bringen. Das Bestreben, in literarischen Texten weitgehend auf Vermittlungsinstanzen zu verzichten, hatte Folgen in zweierlei Richtung: Während die Narrativik im Gefolge der damit eingeleiteten "Eliminierung des persönlichen Erzählers" (Müller-Sal­ get 1974,62) szenische Gestaltungselemente wie Dialoge ohne Inquit-For­ mel übernahm, machte die Dramatik sich umgekehrt Verfahrensweisen der Erzählprosa zu eigen. Am deutlichsten greifbar ist das im Fall der Regiebe­ merkungen, die z. T. beträchtlichen Umfang gewinnen, was wiederum ihre Funktion einschneidend verändert. So lautet etwa die Bühnenanweisung des ersten Aktes von Eisa Bernsteins Drama Dämmerung: Ein großes, aber nicht zu tiefes Parterrezimmer. Die Mittelwand [ ...] führt in Isoidens Schlafzimmer. Rechts vorn eine große Glastüre, führt über eine Veranda in den Gar­ ten. Rechts rückwärts großes Fenster. Links zwei einflügelige Türen. Die vordere führt in Ritters Schlafzimmer. Die andere nach dem Korridor. Zwischen den beiden Türen an der Wand ein bequemes Sofa, darüber eine Beethovenphotographie. Ova­ ler Tisch, Lehnstühle. Auf dem Tisch eine geöffnete rote Mappe: Photographien, die "sieben Raben" von Schwind. Eine Hängelampe mit verstellbarem grünem Schirm.

[ ...] Links, im Winkel zwischen Schiebtüre und Fester, ein schräg gestellter Herren­ schreibtisch. Darüber eine Brustbild Isoidens in Pastell. Zwischen Fenster und Glas­ türe ein Piano mit Wagnerbüste, zerstreuten Büchern und Noten. Alle Möbel sind aus mattbraunem Mahagoni, altmodisch, aber geschmackvoll und bequem. Lehn­ stühle und Sofa mit rotbraunem Rips bezogen. - Die Glastüre ist zugelehnt. Auf den Scheiben ein wenig rotes Abendlicht, rasch verschwindend. Es dämmert. Isolde sitzt neben dem Tisch im Lehnstuhl, die Füße auf einem Schemel, den Kopf seitwärts ge­ lehnt, die Schultern zusammengezogen. Die Augen sind geschlossen. Im Schoß liegt ihr ein blauer Zwicker. Lange blonde Zöpfe mit hellblauen Bändern gebunden. Wei­ ßes Sommerkleid. Sie wendet ein paarmal den Kopf unruhig hin und her, drückt die Hand an die I inke Schläfe und ächzt. (Cowen

1981, Bd. 1, 561)

Die Hauptaufgabe einer solch ausführlichen Darstellung des Schauplatzes besteht natürlich darin, das Milieu der handelnden Figuren so genau wie möglich zu schildern. Das betrifft zunächst ihren sozialen Stand. Größe und Einrichtung der nur ausschnittweise sichtbaren Wohnung lassen klar erkennen, dass wir es hier mit Personen aus dem wohlsituierten Bürgertum zu tun haben, für die obendrein die Kunst eine bestimmende Rolle spielt. Zugleich lassen sich aus bestimmten Details aber auch schon tiefergehende Rückschlüsse auf Selbstverständnis und Haltung einzelner dramatis perso­ nae und ihr Verhältnisses untereinander ziehen. Weist die "Beethovenpho­ tographie" zunächst nur auf den hohen Stellenwert der Musik in diesem Hause hin, so indiziert die "Wagnerbüste" unmissverständlich, dass der hier mit seiner Tochter lebende Dirigent Heinrich Ritter kein ästhetischer Traditionalist ist, sondern sich aufgeschlossen für die musikalische ,Moder­ ne' zeigt. Die exponierte Lage von Isolde Ritters Schlafzimmer in Kombina­ tion mit dem "Brustbild [ . . ] in Pastell" lässt darüber hinaus erkennen, .

welch zentraler Status der Tochter in dieser (Rumpf-)Familie zukommt. In­ vers bestätigt wird das durch die an der Positionierung von väterlichem Schlafzimmer und "Herrenschreibtisch" abzulesende eher randständige

Ausweitung der Regiebemerkungen

66

IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen

Stellung des Familienoberhaupts. Der Umstand schließlich, dass die längst erwachsene Isolde, die offenbar Sehschwierigkeiten hat, sich nach außen ebenso mädchenhaft wie leidend gibt, deutet darauf hin, dass es sich bei ihr um eine schwierige Persönlichkeit mit eigenwilligen Verhaltensweisen (Koketterie plus Wehleidigkeit) handelt, was sich im Verlauf des Stücks sehr bald bestätigt. Die Regiebemerkungen beschränken sich freilich nicht auf einzelnen Ak­ ten vorangestellte Angaben, wie das Bühnenbild gestaltet werden soll, son­ dern sie durchziehen häufig den gesamten Dramentext. Helmut Praschek hat einmal bezogen auf Hauptmanns Weber eine Statistik erstellt, die das Verhältnis von Dialogpartien und Regiebemerkungen beziffert, und kommt dabei zu folgendem Ergebnis: "Der Zwischentext stellt [ . . ] fast ein Viertel .

des gesamtes Wortbestandes des Dramas. Streckenweise beträgt sein Um­ fang ein Vielfaches des Textes. So enthalten die ersten zwei Seiten des zweiten Aktes von Vor Sonnenaufgang 762 Wörte Zwischentext und nur 122 Worte Text, ein Verhältnis von 6:1." (Praschek 1957, 140) Die Schluss­ folgerung, die sich daraus ziehen läßt, lautet: "Der Zwischentext des natu­ ralistischen Dramas ist nicht mehr technischer Apparat, sondern Teil der Dichtung." (praschek 1957, 144) In einigen Fällen nimmt er sogar narrative Strukturen an und wird zu einer Art deskiptiv-erzählender Ergänzung des Dialogs. In dieser Funktion nun werden Regiebemerkungen auch bei der Charakterisierung von Figuren eingesetzt. Da die naturalistischen Dramati­ ker nicht an der Konstruktion von dramaturgischen Funktionsträgern inte­ ressiert ist, sondern stattdessen den Eindruck zu erwecken suchen, die auf der Bühne vorgeführten Akteure seien reale Personen, wenden sie besonde­ re Sorgfalt darauf, die Rollen möglichst glaubwürdig zu gestalten. Deshalb überschreibt Gerhart Hauptmann das Verzeichnis der dramatis personae seines Stücks Vor Sonnenaufgang bewusst mit "Handelnde Menschen"; ganz ähnlich nennt auch Max Halbe die Figuren in seinen Dramen Jugend und Freie Liebe schlichtweg "Menschen". Sudermann in Oie Ehre und Halbe in Eisgang und Jugend gehen gar soweit, jede Person in einer aus­ führlichen Charakteristik vorzustellen. In Eisgang werden auf diese Weise insgesamt nicht weniger als 20 Figuren in ihrer Eigenart knapp umrissen. In den Stücken anderer Autoren sind solche Personenbeschreibungen meist Teil der Bühnenanweisungen und damit stärker in den Text integriert. Ge­ naue Angaben zu Alter und Aussehen sowie zur Kleidung haben die Funk­ tion, die soziale Stellung einer Figur und ihre Herkunft zu veranschau­ lichen. Physiognomie und Habitus werden also zu Indikatoren ihrer Ge­ genwart und Vorgeschichte. Weitere wichtige

Kennzeichen sind der

Sprachgebrauch und die Art und Weise verbaler und nonverbaler Artikula­ tion. Allerdings machen Fülle und Ausführlichkeit der Regiebemerkungen eine theatralische Umsetzung oftmals schwierig, wenn nicht unmöglich, so dass nicht wenige naturalistische Texte zum Typus des Lesedramas tendie­ ren. Hauptmann hat diese Verfahrensweise noch im März 1895 ausdrück­ lich verteidigt und dabei über die Berechtigung detaillierter Bühnenanwei­ sungen geäußert: Erstens werden Dramen auch gelesen und zweitens: die Bühne macht ihre Abstriche. Warum soll der dramatische Dichter kleine charakteristische Umstände verschwei-

2. Programmatik, Literaturverständnis, Autorschaftskonzeption 67 gen, die seine innere Vorstellung aufweist, da sie auf der Bühne zwar wegfallen, aber doch in nichts den Bühnenverlauf eines Stückes beeinträchtigen? (Zit. nach Marcuse 1922,19)

Insgesamt gesehen tendiert das naturalistische Drama jedenfalls dazu, den

Inszenierung

literarischen Text nicht als Partitur, sondern vielmehr als exakte Spielanwei­

(Performanz)

sung anzusehen, wodurch er stark präskriptiven Charakter erhält. Zugleich

=

Kunst

(I iterarischer Text) - y

wird die dramenkonstitutive Differenz zwischen Lesetext und Inszenie­ rungsakt weitgehend kassiert, d. h. die Performanz soll möglichst weit der Textvorgabe angenähert werden, die selbst wiederum der Widerspiegelung von Realität verpflichtet ist. Im Idealfall wäre die Aufführung auf der Bühne so etwas wie das perfekte Simulakrum literarisch imitierter Wirklichkeit. Unter Rückgriff auf Arno Holz' bekannte Formel könnte man daher sagen: Kunst (literarischer Text)

=

Natur - x, und Inszenierung (Performanz)

"

Kunst (literarischer Text) - y, wobei die Variablen "x" und "y

=

nach Mög­

lichkeit auf ein Minimum reduziert werden sollen. Auch auf Handlungsführung und Figurenzeichnung hatte das Bestreben nüchtern-sachlicher Realitätsschilderung Rückwirkungen. So wurde, um eine

"detailgenaue,

möglichst

,parteilose'

Darstellung"

(Müller-Salget

1974, 62) zu erreichen, nicht nur auf die klassische Heldengestalt, sondern auch auf eine konventionelle Form der Spannungsdramaturgie verzichtet. Friedrich Spielhagen hat deshalb beklagt, dass durch die starke Betonung des Milieus in den Stücken des Naturalismus "die Achtung vor dem drama­ tischen Helden und der dramatischen Handlung, deren Hauptträger eben der Held ist", notgedrungen schwindet:

[ ...] und in der That haben denn auch manche Dramen der Schule mit dem, was man sonst unter einem Drama verstand, nur noch eine äußere Aehnlichkeit. Da giebt es keinen Helden mehr, sondern - im besten Falle - eine Hauptperson. Da ist nicht mehr von einer Handlung zu sprechen, höchstens von Geschehnissen, die in dieser oder auch in einer anderen Reihenfolge vor sich gehen können. [ ...] Es ist, als ob wir aus der Vogelperspective auf eine Stadt hinabblickten, in der die Dächer der Häuser abgedeckt sind, so daß wir die Bewohner in ihrem Thun und Treiben beobachten können, wobei es völlig gleichgiltig ist, ob wir die Beobachtung bei der Wohnung Nr. 1 beginnen und bei Nr. X aufhören, oder umgekehrt. (Spielhagen 1893,391)

Trotz der vielfach zu beobachtenden "Depotenzierung des Subjekts"

"Depotenzierung

(Schneider 2005, 229) behalten die einzelnen Akteure in der naturalisti­

des Subjekts"

schen Dramatik aber durchaus ihre Individualität. Hauptmann beispiels­ weise hat es bewusst vermieden, die Figuren seines Dramas "Die Weber" als bloße Masse zu zeigen. Als opakes Kollektiv erscheinen sie nur auf Grund der ähnlichen Arbeits- und Existenzbedingungen, denen sie unter­ worfen sind; dem differenzierenden Blick freilich enthüllen sich lauter ei­ genständig akzentuierte Einzelschicksale. Sind die handelnden Personen im Drama des Naturalismus auch den sie dirigierenden Kräften von "race", "milieu" und "moment" auf Gedeih und Verderb ausgesetzt, so behalten sie als fiktionale Figuren doch ein ästhetisches Eigenrecht. Arno Holz hat denn auch in seiner Dramentheorie ausdrücklich den "Charakteren" den Vorrang vor der "Handlung" eingeräumt und erklärt:

68 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen [ ...] die Menschen auf der Bühne sind nicht der Handlung wegen da, sondern die Handlung der Menschen auf der Bühne wegen. Sie ist nicht der Zweck, sondern nur das Mittel. Nicht das Primäre, sondern das Sekundäre. Mit anderen Worten: nicht Handlung ist also das Gesetz des Theaters, sondern Darstellung von Charakteren. (Holz 1924/25, Bd. 10,224 f.)

Gerade

die

Aufrechterhaltung

künstlerischer

Figurenindividual ität

bei

gleichzeitiger völliger oder zumindest weitgehender Beschneidung des Handlungsspielraums dieser Figuren nun ist es, die dem auf dem Theater Gezeigten Appellcharakter verleiht: "Die Menschen im naturalistischen Drama sind erbärmliche, bedauernswürdige Geschöpfe in ihrer Hilflosig­ keit und Abhängigkeit. Darauf beruht vor allem die mitleiderregende Wir­ kung naturalistischer Dichtung." (Praschek 195 7, 79) Mitgefühl stellt sich indes weniger angesichts der sozialen Situation ein, in der sich die Perso­ nen befinden, vielmehr resultiert Betroffenheit eher aus der faktischen Aus­ weglosigkeit der Akteure, die über keine Handlungsalternativen verfügen und deshalb häufig schuldlos schuldig werden. Dementsprechend heißt es im Vorwort zu August Strindbergs Drama Fräulein lulie: "Die Schuld hat der Naturalist mit Gott ausgestrichen, aber die Folgen der Handlung, Strafe, Gefängnis oder die Furcht davor, kann er nicht streichen." (Strindberg 1917, 313) Die naturalistische Dramatik führt also ganz praktisch die Aus­ wirkungen vor, die der bewusste Verzicht auf einen metaphysischen Sinn­ gebungsrahmen - "Wir haben gebrochen mit der Metaphysik." (Böische 1976, 48 ) heißt es bei Bölsche programmatisch - für die menschliche Exis­ tenz hat. Modell des

Die Zurückdrängung der Handlung zugusten der Figurenzeichnung führt

analytischen Dramas

im "anti-heroic milieu-drama" (Osborne 1971, 166) tendenziell zu einer Geschehensarmut, die dem Text tableauartige Züge verleiht: "Das naturalis­ tische Charakterdrama ist zugleich Zustandsdrama, an die Stelle der aufge­ gebenen Einheit der Handlung tritt das komprimierte Zustandsbild." (Kafitz 1982, Bd.2, 291) Bei aller relativen Statik gibt es jedoch auch hier be­ stimmte wiederkehrende Verlaufsmuster. Das am häufigsten begegnende Strukturmodell ist das des analytischen Dramas. Es wurde bereits in der An­ tike entwickelt und zeichnet sich dadurch aus, dass die Handlung eine aus­ gedehnte - den Personen entweder verborgene oder von ihnen verdrängte - Vorgeschichte besitzt, die dann auf der Bühne nach und nach entfaltet wird. Im Naturalismus freilich bekommt das Merkmal des "Analytischen" eine Doppelbedeutung, wird es hier doch "einmal im klassisch-sophoklei­ schen Sinn, zum anderen im modern-naturwissenschaftlichen Sinn eines minutiös-sezierenden Verfahrens" (Kluwe 2001, 252) verstanden. Beson­ ders Ibsen hat sich dieser Darstellungstechnik ausgiebig bedient. Litzmann hat die wichtigsten Merkmale des analytischen Dramentyps mit Blick auf Ibsen einmal folgendermaßen resümiert: Es zeige sich, [ ...] daß die Keime des tragischen Konfliktes in einer weit zurückliegenden Vorge­ schichte stecken, und daß diese erst sehr allmählich während des Fortgangs des Dra­ mas mühsam aus einigen Dialogbrocken herausgelesen werden müssen. Die Gestal­ ten seiner Dramen sind [ ...] mit einer oft sehr komplizierten Vorgeschichte belastet, und foltern den Hörer und Zuschauer durch geheimnisvolle Winke, Andeutungen, Anspielungen, die eigentlich erst wenn der Vorhang zum letzten Mal gefallen - oft

2. Programmatik, Literaturverständnis, Autorschaftskonzeption 69 auch dann nicht - klar werden. [...] Seine Dramen sind eigentlich nur ein fünfter Akt, die Spitze einer Pyramide. (Litzmann

1894, 152)

Die Charakterisierung von Ibsens Stücken als Dramen des fünften Aktes re­

"Drama des reifen

kurriert dabei auf einen Gedanken, der erstmals im Kontext des Berliner

Zustandes"

Naturalistenvereins ,Durch!' formuliert worden ist. Während eines Ge­ sprächs über Ibsens Gespenster äußerten nämlich Bruno Wille und Adal­ bert von Hanstein, sie würden in der ganzen Handlung des Stückes "nur den Abschluß einer in der Vorfabel liegenden Handlung, einen 5. Act, se­ hen" (Verein "Durch" 1932, o. P.). Diese Beobachtung wurde einige Zeit darauf dann von Halbe noch präzisiert, der Ibsens Dramen als bewusste Reduktionsformen des ,klassischen' Dramentyps verstand. Da seiner An­ sicht nach auch solchen Bühnentexten eine Existenzberechtigung zugestan­ den werden müsse, die "nur ein winziges Bruchstück einer Entwicklung zur Darstellung" bringen, sei es letztlich unerheblich, ob ein Stück 'I/eigent­

lich nur der erste Akt' (Volksfeind), oder ,eigentlich nur der dritte Akt'

(Nora) oder ,eigentlich nur der fünfte Akt' (Gespenster) eines ,wirklichen' Dramas" (Halbe 1889, 1177) sei. Richard M. Meyer hat für den im deut­ schen Naturalismus vorherrschenden letzteren Typus dann den wertfreien, aber gleichwohl präzisen Begriff "Drama des reifen Zustandes" geprägt: [...] alles ist in den Charakteren so weit vorbereitet, daß jedes beliebige Ereignis die Explosion herbeiführen kann. [...] Ein Charakter oder eine Gruppe stehen da, schick­ salsreif, und warten auf ihr Verhängnis. Irgend ein keineswegs auffallendes Ereignis zeitigt es: ein Besuch, eine Nachricht, eine Begegnung. Und rasch vollzieht sich nun, was geschehen muß. (Meyer

1912, 579)

In vielen Fällen ist es eine Person, welche die im Zustand der Latenz be­

Der sog. Bote aus

findlichen Konflikte manifest werden lässt und so das im Dramenverlauf ge­

der Fremde"

zeigte Geschehen in Gang bringt. Meyer spricht in diesem Zusammenhang vom "Boten aus der großen Welt" (Meyer 1912,579) bzw. vom ",Boten des Schicksals'" (Meyer 1912, 580). In der Forschung hat sich dafür allerdings die Bezeichnung "Bote aus der Fremde" (vgl. Bleich 1936) eingebürgert, wobei dieser Terminus den Sachverhalt nur ungenau trifft. Es geht nämlich nicht so sehr darum, dass eine Nachricht überbracht wird, vielmehr bewirkt eine von außen zu einem vorgegebenen Personenensemble neu hinzutre­ tende Figur eine Veränderung der Beziehungsmuster und Kräfteverhältnisse innerhalb der vorhandenen Konstellation. Wegen des katalytischen Effekts, den diese Figur ausübt, hat man sie - im Anschluss an Zolas Modell des ,roman experimental' - gern als Wirkelement innerhalb einer künstlerisch gestalteten Experimentanordnung gedeutet. Und tatsächlich hat bereits Taine das literarische Kunstwerk als "Gesamtheit von verbundenen Teilen" definiert, "deren Beziehungen" zueinander jedes neu hinzutretende Teil "systematisch ändert" (Taine 1902, Bd. 2, 43). Außerdem kann mithilfe einer solchen "Ankömmlings"-Figur (Meyer 1912, 580) die Vergangenheit in ihren Auswirkungen auf die Gegenwart beobachtet werden, d. h. [. ..] der Bote aus der Fremde [...] dient nicht nur einer Belebung der Handlung, son­ dern auch einer Analyse des Milieus. Er ist gleichsam das Reagenzmittel, das die chemischen Bestandteile erkennen läßt, all jene Verbindungen des Milieus, die unter

11

70

IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen seiner Einwirkung bald in voller Auflösung begriffen sind, vor allem aber nun erst voll sichtbar werden in ihrem Wert, Wesen und Wirken. (Markwardt Katalysatorfiguren

1967, 120)

Im Hinblick auf seine Funktion spricht man statt von einem ,Boten aus der Fremde' jedoch besser von einer Katalysator- oder Diagnosefigur - und zwar umso mehr, als es neben denjenigen Akteuren, die neu zu einem Per­ sonenkreis hinzukommen und temporär Bestandteil der Handlung werden, auch Figuren gibt, die den vom Stück entworfenen Rahmen verlassen und so prinzipiell einen Ausweg aus einem bestimmten Milieu weisen. Im Grunde werden unter diesem Begriff reichlich heterogene Figurentypen subsumiert, die obendrein bereits aus der dramatischen Tradition bekannt sind, darunter der "Heimkehrer nach langjährigem Fernsein" (Markwardt

1967, 26) - dazu zählen Fritz und Wilhelm Scholz in Gerhart Hauptmanns Das Friedensfest -, der Gast bzw. Besucher, der zugleich als "Träger einer Idee" (Markwardt 1967, 567) auftritt - das bekannteste Beispiel ist Alfred Loth in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang - oder auch eine Person, die Hilfe leistet, wie Sabine Graef in Eisa Bernsteins Dämmerung. Was alle genannten Texte strukturell miteinander verbindet, ist ein Handlungsele­ ment, nämlich das Hinzutreten einer neuen Person zu einem feststehenden Figurenensemble, die von ihrer Herkunft, ihrer Sozialisationsgeschichte oder ihrem Bildungsstand her in einem Kontrastverhältnis zu den übrigen Akteuren steht und deren Anwesenheit eine Veränderung im Geschehens­ ablauf bewirkt. Bei dieser Person handelt es sich jeweils um eine Figur, die auf Grund ihrer Differenzqualität - Bleich bezeichnet sie deshalb auch als "Fremdkörper" (Bleich

1936, 91) - bewusst oder unbewusst als Störquelle

fungiert und damit zum Handlungsauslöser in einer bis dato statischen Si­ tuation wird. Charakteristika naturalistischer Dramatik

Alfred Kerr hat in seinem 1891 erstmals erschienenen Aufsatz Technik des realistischen Dramas die wichtigsten Charakteristika naturalistischer Dramatik genannt. Zusammengefasst lauten sie: Vermeidung des Monologs, Vermeidung des Beiseitesprechens, Bevorzugung der ge­ staltenden (indirekten) gegenüber der formulierenden (direkten) Charakteristik, Ver­ teilung der Vorfabel auf das gesamte Drama und ihre beiläufig unmerkliche Vermitt­ lung an den Zuschauer, Vermeidung von ausgesprochenen ,Zufällen', das ,Wahr­ heitsstreben' in der Sprachgestaltung unter Abwehr der pathetischen und [ ...] der be­ tont ,geistreichen' Redeweise, Stellung zum Dialekt, Vermeidung eines aufdringli­ chen ,Kommentars' seitens des Dramatikers (,der bekannte Wink mit dem Zaun­ pfahl') hinsichtlich der Leitidee und Tendenz, Abwehr von Episoden, Problematik der Zeiteinheit. (Markwardt

1967, 123)

3. Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und

Literatur Der Naturalismus

Der Naturalismus unterscheidet sich von anderen literarischen Strömungen

als ästhetischer

u. a. dadurch, dass er nicht einfach nur ein bestimmtes Kunstprogramm ver­

Reflex gesell­ schaftlicher Trans­ formationsprozesse

folgt, sondern sich vielmehr als ästhetischer Reflex eines umfassenderen ge­ sellschaftl ichen Transformationsprozesses versteht. Dieses Phänomen, dem die Autoren selbst den substantivierten Begriff ,Moderne' gegeben haben

3. Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur 71

(als Stichwortgeber fungierte dabei Eugen Wolff), ist Resultat der demogra­ phischen, ökonomischen, technischen, mediengeschichtlichen und wissen­ schaftlichen Umwälzungen, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts er­ eigneten und deren Kumulation zu einer Art epistemologischer Wende führte, durch die sich die Zeitgenossen als von der Vergangenheit separiert und in einen ungewissen Zukunftshorizont gestellt empfanden. Zugleich wuchs bei ihnen das Bewusstsein der Interdependenz aller Wirklichkeitsbe­ reiche, was einen Ausgriff bislang voneinander separierter Disziplinen auf benachbarte Wissens- und Praxisfelder nach sich zog. Die naturalistischen Autoren, die sich als Zeugen dieses Umwandlungs­ prozesses begriffen, sahen es als ihre Pflicht an, auf die Erscheinungen der

Codierung ,sozialer Energie'

Modernisierung literarisch zu reagieren. Und da sie vom Ethos empirisch­ genauer Wirklichkeitsbeobachtung erfüllt waren und an die Möglichkeit einer künstlerischen Widerspiegelung von Realität glaubten, wurden ihre Texte zu Schnittpunkten aktueller zeitgeschichtlicher Diskurse und luden sich in besonderer Weise mit ,sozialer Energie' (Stephen Greenblatt) auf. Anschauliche Belege hierfür liefern sowohl die diversen Zensurstreitigkei­ ten, die sich an Werken des Naturalismus entzündeten, als auch die zahl­ reichen Gerichtsverfahren gegen deren Verfasser und Verleger. Die ästheti­ sche Codierung ,sozialer Energie' erfolgte dabei ganz bewusst durch die Autoren selbst. Leo Berg etwa sah den Naturalismus durch diesen engen Wechselbezug zwischen Literatur und Gesellschaft geprägt: "Aber was be­ deutet denn, im Grunde genommen, der Realismus, wenn nicht ein Eingrei­ fen in's Leben?" (Berg 1892,144) In gewisser Weise kann der Naturalismus daher - auch wenn seine Werke deutlich vom Verfahrensmodus operativer Texte wie denen der Vormärzdichtung abweichen - als eine Form von en­ gagierter Literatur angesehen werden, weil seine Vertreter Kunst als Reflex der Gesellschaft betrachten und umgekehrt auch ästhetische Rückwirkun­ gen auf das Sozialsystem für möglich, ja sogar für wünschenswert halten. Im Hinblick auf solche Austauschvorgänge kommt vor allem zwei sozialen Gruppen eine herausgehobene Bedeutung zu, dem Proletariat und den Frauen. Arbeiter- und Frauenbewegung, zwei der großen und mächtigsten sozialen Formationen der Zeit, gerieten denn auch rasch in den Fokus der naturalistischen Literatur. Allerdings verliefen hier die Interferenzen äußerst spannungsreich, weil anders als bei der Rezeption wissenschaftlicher Er­ kenntnisse rasch Rivalitäten zwischen den Wortführern aufbrachen, die zu Abgrenzungserscheinungen zwischen den einzelnen Bewegungen führten.

Naturalismus und Sozialdemokratie Die Anfänge des deutschen Naturalismus fallen mit einem Ereignis zusam­

Das sog.

men, das die politische Kultur der späten siebziger und der gesamten acht­

Sozialistengesetz

ziger Jahre tiefgreifend geprägt hat: dem Erlass des sog. Sozialistengesetzes. Nachdem die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (ab 1875: Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands) nach der Reichsgründung kontinuierlich an Unterstützung gewonnen hatte und allmählich zu einem ernstzunehmen­ den Faktor für die Regierungspolitik geworden war, sann Reichskanzler Otto von Bismarck nach Mitteln, wie sich der Einfluss der SDAP/SAP wir­ kungsvoll eindämmen I ieß. Als dann im Lauf des Jahres 1878 zwei - aller­ dings fehlgehende - Attentate auf den Kaiser verübt wurden, beschuldigte

72 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen Bismarck kurzerhand den politischen Gegner, dafür verantwortlich zu sein, und organisierte einen von der Empörung und der Furcht vieler Abgeordne­ ter getragenen Parlamentsbeschluss gegen die Arbeiterpartei. Am 21. Okto­ ber verkündete der Reichstag das ,Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie', das zum Verbot und zur offiziellen Auflösung der Sozialistischen Arbeiterpartei und ihr nahestehender Organi­ sationen (vor allem von Gewerkschaften) führte. Zwar konnten sozialdemo­ kratische Abgeordnete weiterhin in das Parlament gewählt werden, doch waren sie ihrer institutionellen Stütze durch die Partei beraubt. Desgleichen wurden alle sozialdemokratischen Vereine, die es mittlerweile in jeder größeren Stadt gab, aufgelöst und Zeitungen, die von Vertretern der Sozial­ demokratie redigiert und verlegt wurden, verboten. Faktisch wurde damit ein Teil der öffentlichen Meinung ausgeschaltet. Einige Sozialdemokraten gingen darauf ins Exil, andere versuchten, im verborgenen weiter für die Ziele der Partei zu arbeiten. Solidarisierung mit

Das Verbot wirkte auf viele Intellektuelle, besonders die der jungen Ge­

der Sozialdemokratie

neration, wie ein Fanal, schien es doch zu bestätigen, was man ohnehin be­ reits geargwöhnt hatte, nämlich dass die Staatsführung bestimmte Bereiche der Wirklichkeit gezielt ausblendete. Da auch andere demokratische Grup­ pierungen und viele der offiziellen Regierungspolitik kritisch gegenüberste­ henden Zeitgenossen "sich von den Maßnahmen des Sozialistengesetzes bedroht fühlten, kam es zu einer breiten, weit ins liberale bürgerliche Lager hineinreichenden Solidaritätsbewegung für die Rechte des P roletariats" (Scheuer 1974, 177). Im Zuge dieses z. T. symbolischen, z. T. aber auch ganz realen Engagements für die Verfemten begannen einige angehende Schrift­ steller und Journalisten damit, die sozialdemokratische Bewegung zu unter­ stützen. Julius Hart beispielsweise übernahm im Sommer 1878 für kurze Zeit die Redaktion des politischen Teils der sozialdemokratischen "Bremer Freien Zeitung", und Max Kretzer unterhielt seit Ende der siebziger Jahre enge Kontakte zur organisierten Berliner Arbeiterschaft. Der Umstand, dass das Sozialistengesetz auch in den Folgejahren trotz zahlreicher Proteste nicht zurückgenommen wurde, führte dazu, dass fast alle namhaften Auto­ ren im Umkreis des Naturalismus früher oder später mit der Sozialdemokra­ tie sympathisierten. So standen nicht nur Hermann Conradi und Otto Erich Hartleben Mitte der achtziger Jahre der sozialdemokratischen Bewegung nahe, auch der allen Arten von sozialer Gruppenbildung höchst reserviert begegnende Arno Holz bekannte später, dass er in den Jahren 1884 und 1885 "mit der Sozialdemokratie geliebäugelt" (Holz 1948, 66) habe. Beson­ ders enge Kontakte unterhielten Paul Ernst, Julius T ürk und Bruno Wille; die beiden Erstgenannten waren nach Aufhebung des Verbots sogar Mitglied der sozialdemokratischen Partei und arbeiteten an deren Periodika mit. Am stärksten von den Repressionen betroffen war fraglos Karl Henckell, dessen Bücher 1886 im Zusammenhang mit dem Sozialistengesetz mit Verbot be­ legt wurden und der selbst aus Deutschland ausgewiesen wurde. Er siedelte darauf in die Schweiz über, wo sich sein Kontakt zu Vertretern der Sozialde­ mokratie und der Arbeiterbewegung noch vertiefte.

Gesellschaftliche

War das Engagement der naturalistischen Schriftsteller zunächst vor al­

Ausgrenzung des

lem Ausdruck des Protestes gegen eine selbstherrliche Obrigkeit, die sozia­

vierten Standes

le Konflikte per Dekret aus der Welt schaffen zu können meinte, so hatte

3. Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur 73

die Beschäftigung mit den Anliegen der Arbeiterbewegung im Lauf der Zeit auch Rückwirkungen auf die eigenen ästhetischen Vorstellungen. Die staat­ liche Stigmatisierung der Sozialdemokratie rückte die gesellschaftliche Aus­ grenzung des vierten Standes ins Bewusstsein, und diese wiederum führte den jungen Autoren die Versäumnisse der Literatur vor Augen. Conradi be­ klagte schon 1885, dass der zeitgenössischen Literatur, vor allem der Lyrik, "alles hartkantig Sociale" (Arent [Hrsg.] 1885, 11) fehle. Auf diese Weise kam es im Zeichen der naturalistischen Forderung nach ,Wahrheit' und einer ungeschönten Darstellung von Wirklichkeit zu einer Ausweitung des Darstellungsfokus auf das Proletariat und seine Arbeits- und Lebensbedin­ gungen. Allerdings wurde dieses Themenfeld nie dominant. Auch boten die Herausgeber naturalistischer Blätter Nichtliteraten Gelegenheit zur Erörte­ rung sozialpolitischer und ökonomischer Fragen. So öffnete Conrad die von ihm redigierte Gesellschaft den Befürwortern der damals heftig diskutierten Bodenreform und agitierte in seiner Zeitschrift offen gegen die Sozialisten­ gesetze. Wie sehr man sich als Forum kunstübergreifender Diskussion verstand, zeigt aber nicht nur der programmatisch gewählte Titel Gesell­

schaft, sondern vielleicht mehr noch die Tatsache, dass das Periodikum ab 1891 den Untertitel "Monatsschrift für Literatur, Kunst und Socialpolitik" führte. Viele Zeitgenossen sahen deshalb in der naturalistischen Bewegung "das poetische Pendant zum Sozialismus" (Röhr 1891, 342). Die politisch orga­ nisierte Arbeiterschaft wurde dabei nicht selten sogar als gesellschaftl iche Kraft betrachtet, die theoretische Reformkonzepte in die soziale Realität umsetzen sollte. So schreibt etwa Ernst Henriet Lehnsmann in seinem Auf­ satz Die Kunst und der Sozialismus: Die durch den Sozialismus begonnene neue Epoche der Menschheit verhält sich zu der geistigen Bewegung des achtzehnten Jahrhunderts, wie die Praxis zur Theorie, wie das Ideal zu seiner Verwirklichung. Wenn das vorige Jahrhundert nur auf die in­ nere Ausbildung der Individualität sich beschränkte, [ ...] so verlangt das gegenwär­ tige Geschlecht, daß dieses rein ästhetisch-philosophische Ideal auf jede praktische Lebensführung übertragen werde. [ ...] Die sozialistische Bewegung unserer Tage hat zum Zweck, das ästhetisch-philosophische Ideal zu ergänzen und zum Allgemeingut der Lebensführung alles Volkes zu machen. (Lehnsmann 1885,

479)

Tatsächlich gibt es zwischen den Naturalisten und den Sozialdemokraten

Interessen­

diverse Interessenkonvergenzen. Eines der Kernanliegen, das beide verfolg-

konvergenzen

ten, war die 1875 im Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands niedergelegte Forderung nach Abschaffung "der Preß-, Vereins- und Versammlungsgesetze, überhaupt aller Gesetze, welche die freie Mei­ nungsäußerung, das freie Denken und Forschen beschränken" (Berthold/ Diehl 1967, 48). Auch deckt sich die Kritik der Naturalisten "an gewissen Kreisen der ,feinen' Gesellschaft [ ...] in mancher Beziehung mit der Kritik, welche von den Sozialisten an der bürgerlichen Gesellschaft geübt wird" (Blos 1886, 427f.), geht es doch hier wie dort um die "Vernichtung des kultur- und sittlichkeitszerstörenden Kapitalismus" (Die Gesellschaft 6 [1890], 920). In jedem Fall enthielt die von den Naturalisten betriebene unverhüllte Darstellung sozialer Missstände in Verbindung mit antimaterialistischer Polemik und scharfen Attacken gegen die herrschende Repräsentationskultur

74 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen ein starkes Kritikpotential an den Grundlagen der wilhelminischen Gesell­ schaft. Berg kann deshalb pointiert formulieren: "Der Naturalismus, sofern er als Prinzip des Milieus sich darstellt, ist nichts anderes als eine Kritik der

5

bestehenden Gesellschaft." (Berg 1901, 52) Staatliche Verfolgung

Aus diesem Grund waren die Naturalisten ebenso wie die Sozialdemo-

des Naturalismus

kraten wiederholt staatlicher Verfolgung ausgesetzt. Die Expatriierung Karl Henckells ist da nur das eklatanteste Beispiel. Daneben gab es vor allem juristische Versuche, die Verbreitung naturalistischer Texte zu behindern. Schon 1883 wies in einer Reichstagssitzung der zuständige Staatssekretär auf die "vom französischen Materialismus", speziell von Zola beeinflusste Literatur warnend hin und erwähnte als negatives Beispiel dafür Kirch­ bachs Kinder des Reiches (1883). 1889 kam es dann in Leipzig zum sog. Realistenprozess, der damit endete, dass die Romane Oie Alten und die Jungen von Conrad Alberti, Adam Mensch von Hermann Conradi und Dä­ mon des Neides von Wilhelm Walloth als unzüchtige Schriften polizeilich

konfisziert und deren Verfasser zu Geldstrafen verurteilt wurden. Michael Georg Conrad erkannte sofort, dass hier im Grunde auf die gesamte natu­ ralistische Literatur gezielt wurde, und zog daher in seinem Artikel Oie realistische Literatur und der Staat eine Parallele zum Verbot der Schriften

des jungen Deutschland. Wie zur Bestätigung dieses Verdachts gab im Ok­ tober 1890 der Berliner Polizeipräsident Bernhard von Richthofen als Grund für das Verbot einer Aufführung von Hermann Sudermanns Stück Sodoms Ende zu Protokoll: "Die janze Richtung paßt uns nicht!" (Blumen­

thai 1900, 98) Verbote und

Die Liste der Verbote von Werken des Naturalismus ist lang. So beschlag-

Repressionen

nahmte im August 1891 die Staatsanwaltschaft der bayerischen Hauptstadt mit der Anthologie Modernes Leben und der Zeitschrift Moderne Blätter zwei Publikationen der Münchner Naturalisten, weil die darin enthaltenen Texte blasphemisch und obszön seien. Im selben Monat wurde Hans von Gumppenberg zunächst wegen Gotteslästerung (im Hinblick auf sein Dra­ ma Der Messias) und anschließend wegen Majestätsbeleidigung angeklagt und wegen des Vortragens sozialkritischer Gedichte von Karl Henckell vor der ,Gesellschaft für modernes Leben' sogar zu zwei Monaten Festungsstra­ fe verurteilt. Einen Höhepunkt staatlicher Repression gegen den Naturalis­ mus markiert das jahr 1893: Nachdem am 3. März 1892 schon die Auffüh­ rung der schlesischen Dialektversion von Hauptmanns Weber-Drama ver­ boten worden war, wurde am 4. januar 1893 auch die Inszenierung der dem Hochdeutschen angenäherten Textfassung untersagt. Erst als der Autor Klage einreichte, hob das Preußische Oberverwaltungsgericht den Be­ schluss der Zensurbehörde wieder auf. Der Kaiser freilich kündigte nach der am 25. September 1894 erfolgten ersten öffentlichen Aufführung des Stückes demonstrativ die ihm vorbehaltene Herrscherloge im ,Deutschen Theater'. Ebenfalls 1893 versagte Wilhelm 11. der jury des angesehenen Schiller-Preises, die Ludwig Fulda für sein "dramatisches Märchen" Der Ta­ lisman auszeichnen wollte, die Bestätigung ihres Votums. Auch im Nach­

barland Österreich ging man gegen naturalistische Autoren und ihre Texte vor. So erließ die Zensur der k. u. k. Monarchie 1893 beispielsweise ein Aufführungsverbot für Max Halbes Drama Jugend, was die Erstaufführung des Stückes in Österreich bis 1901 verzögerte.

3. Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur 7S

Der Naturalismus wurde demnach von Regierungsseite ebenso als Geg­ ner betrachtet wie die Sozialdemokratie. Umso mehr fürchtete man ein Fra­

VolksbiIdungs­ bestrebungen

ternisieren beider Bewegungen. In der Tat kam es nach Aufhebung des So­ zialistengesetzes am 25. Januar 1890 rasch zu Formen offener Kooperation. Conrad begann nun damit, " dem Volke im eigentlichen Sinne, d. h. den Kreisen der Handwerker und Arbeiter persönlich näher zu treten und in volkstümlicher Weise wissenschaftliche und litterarische Vorträge und Vor­ lesungen zu halten" (Moderne Blätter, Nr. 14, 4.7.1891, S. 1). Konkret be­ deutet das: "Er sprach im ,Allgemeinen Arbeiterleseverein' vor 700 bis 800 Zuhörern über moderne Literatur und in den Vereinen der Tischler, Stein­ drucker, Schneider, Metallarbeiter, Maler usw. über Hans Sachs und Roseg­ ger, Wagner, Nietzsche, Böcklin, Zola, Ibsen" (Stumpf 1986, 114) oder über "Die Bedeutung des Theaters". Ähnliches ereignete sich auch in der Reichshauptstadt. Hier unterrichtete Hartleben eine Zeitlang in Arbeiterbil­ dungsstätten. Außerdem entstand mit der ,Freien Volksbühne' schließlich sogar eine "Institution [ . . ], die bewußt eine Zusammenarbeit von Naturali­ .

sten und Sozialdemokraten intendierte" (Scheuer 1974, 180). Überhaupt ist Volksbildungsarbeit jenes Feld, auf dem es Anfang der neunziger Jahre zu diversen Versuchen einer Zusammenarbeit kam. Die beiden Berliner Volks­ bühnen und die Münchner ,Gesellschaft für modernes Leben' verfolgten gleichermaßen dieses Ziel. Allerdings kam es bei der praktischen Umsetzung der Arbeiterbildungs­ bestrebungen binnen kürzester Zeit zu tiefgreifenden Differenzen. Die SPD verfolgte

die

gruppensoziologische

Zersplitterung

der

naturalistischen

Bewegung aufmerksam und suchte z. T. massiv, ihren Einfluss geltend zu machen. Zugleich begannen Vertreter der Parteiführung damit, das ästheti­ sche P rogramm des Naturalismus einer kritischen Überprüfung zu unterzie­ hen. Auf diese Weise erschienen in parteieigenen Zeitungen diverse Stel­ lungnahmen, in denen Vorbehalte gegenüber den Weggefährten geäußert wurden. Die solcherart sichtbar werdende Distanznahme verärgerte die na­ turalistischen Autoren nachhaltig und löste deutliche Abgrenzungsbewe­ gungen aus. Zu einem ersten Eklat kam es bereits im Sommer 1890. Nach­ dem Bruno Wille in einem Aufsatz für die Sächsische Arbeiterzeitung Miss­ stände in Organisation und Führung der SPD kritisiert hatte, wurde von der Parteiführung eine Versammlung einberufen. Wille, dem vorgeworfen wur­ de, er liefere der konservativen P resse Munition für ihre Kampagnen gegen die Sozialdemokratie, trat dabei als Sprecher der ,Jungen', einer linken Op­ position innerhalb der Partei auf, die sich aber gegen die bestehende Mehr­ heit nicht durchsetzen konnte. Auf dem Parteitag in Erfurt, der im Oktober

1891 stattfand, wurden die Anhänger der ,Jungen' allesamt aus der SPD ausgeschlossen; sie gründeten darauf den ,Verein Unabhängiger Soziali­ sten'. Im Lauf des Jahres 1891 distanzierte sich auch Michael Georg Conrad von der parteipolitisch organisierten Arbeiterbewegung. Auch wenn sich die sozialethische Einstellung der Naturalisten weitge­ hend mit den Grundgedanken des Sozialismus deckte, bestanden doch er­ hebliche Gegensätze im Hinblick auf die taktische Umsetzung dieser Ziele. Während

die

nahezu

allesamt

aus

(klein-)bürgerlichen Verhältnissen

stammenden naturalistischen Autoren in erster Linie volkserzieherisch auf die Arbeiterschaft einwirken wollten, um ihr eine Teilhabe an den Errun-

Differenzen zwischen Naturalisten und Parteimitgliedern

76 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen genschaften der (Hoch-)Kultur zu ermöglichen, waren die Sozialdemokra­ ten vorrangig bestrebt, die Angehörigen des vierten Standes materiell besser zu stellen und ihre Arbeitsbedingungen zu erleichtern. Geht man davon aus, dass bezogen auf die Antriebsstrukturen des Menschen eine Art Be­ dürfnishierarchie besteht, dann suchte die Sozialdemokratie vorrangig die elementaren Bedürfnisse zu befriedigen; die Angebote der Autoren im Um­ kreis des Naturalismus dagegen waren auf höhere Bedürfnisebenen zuge­ schnitten. Manche Vertreter der Arbeiterbewegung sahen deshalb Sozialis­ mus und Naturalismus als schlechterdings unvereinbar an. Jakob Stern etwa erklärte: "Wie die Wissenschaft, so kann auch die Kunst nur blühen, wenn Talent und Genie nicht durch materielle Sorge und Not geknickt wer­ den." (Stern 1889, S. 30) Gustav Landauer folgerte daraus, den Gegensatz zwischen (partei-)politik und Ästhetik betonend: "Die Kunst braucht Satt­ heit, wir haben Hunger und wollen das Gefühl des Hungers erwecken." (Landauer 1892, 532) Umgekehrt lehnten die Naturalisten die von den So­ zialdemokraten verfochtene Dominanz der Ökonomie gegenüber Kunst und Kultur ab, woraus ersichtlich wird, dass sich der von beiden Seiten ver­ fochtene Antikapitalismus aus ganz unterschiedlichen Impulsen speist. Abwendung von

Die Ernüchterung, die sich bei vielen Vertretern der jüngeren Schriftstel­

der organisierten

lergeneration nach 1890 gegenüber der SPD einstellte, resultiert vorwie­

Sozialdemokratie

gend aus zwei Faktoren: aus realen Interessengegensätzen und aus dem Gefühl des Zurückgesetztseins. Nach der Wiederzulassung der sozialdemo­ kratischen Partei hatten sich nämlich die Kräfteverhältnisse in eklatanter Weise verschoben: Die sozialdemokratische Bewegung hatte in den achtzi­ ger Jahren nur dadurch überleben können, dass sie ihre Zusammenkünfte als Vereinssitzungen o. Ä. tarnte und ihre Verlautbarungen in P resseorganen erschienen, die - mindestens nach außen - parteiunabhängig waren; Orga­ nisationsgrad und sozialer Status ähnelten dem der Naturalisten. Die Auf­ hebung der Sozialistengesetze aber ließ in kürzester Zeit einen schlagkräfti­ gen Parteiapparat entstehen, der eine quantitativ sehr große Mitglieder-, Wähler- und Sympathisantenzahl hinter sich wusste. Dementsprechend selbstbewusst trat die Parteiführung auf. Eine Massenorganisation mit politi­ schem Einfluss stand nun einem vergleichsweise kleinen Grüppchen von teilweise auch noch untereinander verfeindeten Literaten gegenüber, deren gesellschaftlicher Wirkungsradius äußerst begrenzt war. Und anstatt sich dankbar an die Hilfsdienste der Verbündeten in den Jahren der Verfolgung zu erinnern, präsentierte sich die sozialdemokratische Partei mit einem Mal als nachgerade hegemoniale Vertretung der Arbeiterinteressen, die klare Vorstellungen davon hatte, wie die Lebensbedingungen des vierten Standes zu verbessern seien.

Differenzen

Eine ganz erhebliche Rolle spielte daneben der ästhetisch eher konserva­

zwischen

tive Standpunkt der Parteiführung. In der Forschung wurde zu Recht darauf

Naturalismus und Sozialdemokratie

hingewiesen, "daß man innerhalb der Sozialdemokratie Vorstellungen von Dichtung konservierte, die denen des Klassengegners Bourgeoisie nicht unähnlich waren: Dichtung sollte erbauen, Trost spenden und Erhebung über den Alltag ermöglichen" (Mahal 1975, 142). Dies ging soweit, dass dem Naturalismus von sozialdemokratischer Seite vorgeworfen wurde, er zeige eine verzerrte Sicht der Wirklichkeit und entmutige die Arbeiter beim Kampf um ihre Klasseninteressen; was er liefere, sei nichts anderes als

3. Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur 77

"Desillusionsliteratur" (Sollmann 1982, 49). Die sozialdemokratische Kritik an der modernen Kunst übernahm mithin Argumentationsformeln und Deu­ tungsstereot ype antinaturalistischer Kritik aus dem bürgerlichen Lager. Teile der Parteiführung gingen gar soweit, eine Dichotomie zwischen sozialem und ästhetischem Engagement zu konstruieren. So erklärte etwa Wilhelm Liebknecht apodiktisch: ,,[ . . ] der Kampf schließt die Kunst aus. Man kann .

nicht zween Herren dienen: nicht gleichzeitig dem Kriegsgott und den Musen." (Liebknecht 1890/91, 710) und reduzierte damit das vielschichtige Verhältnis zwischen praktischer politischer Tätigkeit und künstlerischer Reflexion auf eine Frage subjektiver P rioriätensetzung. Auf solche Versu­ che, die Kunst zu einem bloßen Vehikel von Parteiinteressen zu machen, reagierten die Naturalisten verständlicherweise mit Abwehr. Umgekehrt fand die naturalistische Darstellung der Lebenswirklichkeit der unteren sozialen Schichten bei den Sozialdemokraten nur wenig An­ klang. Die Vorführung zerrütteter Familienverhältnisse, von Alkoholismus und moralischer Verkommenheit nämlich widersprach dem sozialdemokra­ tischen Wunschbild des aufrechten und integren Arbeiters. Es zeigt sich also: "Gerade die Stoffe, mit denen sich die unzweifelhaft sozial engagier­ ten ,Jüngstdeutschen' der Welt der Arbeiter näherten, entfremdeten sie die­ sen und besonders ihren [ . . ] Parteivertretern." (Mahal 1975, 143) Vor al­ .

lem hat die am wissenschaftlichen Determinismuspostulat ausgerichtete "naturalistische Darstellung der Wirklichkeit als bemitleidenswerter, aber unveränderbarer Zustand [ . . ] Aversionen ausgelöst" (Scheuer 1974, 200). .

Gleichwohl setzte sich die Sozialdemokratie in der ersten Hälfte der

Gothaer Parteitag

neunziger Jahre intensiv mit der naturalistischen Ästhetik auseinander und unterhielt zu einzelnen Vertretern auch enge Kontakte. Karl Henckell etwa gab 1893 im Auftrag des sozialdemokratischen Verlages "Vorwärts" unter dem Titel Buch der Freiheit eine Lyrikanthologie heraus und wurde in den Augen vieler so zu einem "Wortführer der sozialistischen Dichtung" (Hart! Hart 2006, 42). Zwischen 1890 und 1896 waren Literaturprogrammatik und Volkspädagogik des Naturalismus auf den Parteitagen der SPD sogar wiederholt Gegenstand lebhafter Erörterung. Ihren Höhepunkt erreichte die sozialdemokratische Beschäftigung mit dem Naturalismus auf dem sog. Gothaer Parteitag, der Mitte Oktober 1896 stattfand. Konkret waren es dabei die Anträge zur Neugestaltung der Parteizeitung Neue Welt, welche "die erste umfangreiche Literaturdiskussion auf einem Parteitag der Sozialdemokratie" (Scheuer 1974, 185) auslösten. Rückblickend betrachtet bereitete die Selbstverständigung über Ziele und Funktionen der Literatur, die im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus stattfand, den Boden für eine eigenständige sozialistische Kunstauffassung, wie sie etwa von Franz Mehring und Georg Lukacs formuliert wurde. Ästhetikgeschichtlich trug die sozialdemokratische "Naturalismus-Kritik" damit zur "Begründung einer materialistischen Literaturtheorie" (Scheuer 1974, 200) bei. Noch Bertolt Brecht rekurrierte später mehr oder weniger direkt auf Darstellungsverfahren, die Autoren des Naturalismus entwickelt und erprobt haben.

Naturalismus und Frauenbewegung Parallel zur Organisation der Arbeiterschaft in Vereinen, Gewerkschaften

Anfänge der

und Parteien bi Ideten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch Interessen-

Frauenbewegung

78

IV.

Theorie, Geschichte, Verflechtungen vertretungen für Frauen. So wurde im Oktober 1865 von Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt in Leipzig der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) gegründet. Der Kampf konzentrierte sich dabei vorrangig auf die grundsätzliche politische und juristische Gleichstellung der Frau: das Frau­ enwahlrecht, das Recht auf Erwerbstätigkeit und das Recht auf Bildung. Un­ terstützung erhielt die Frauenbewegung aber auch von einigen Männern, die sich für die Emanzipation einsetzten. John Stuart Mill beispielsweise for­ derte in seinem Buch The Subjection of Women (1869) die völlige Gleich­ stellung von Mann und Frau und führte als Begründung dafür ins Feld, "die gesetzliche Unterordnung des einen Geschlechtes unter das andere" sei "eines der wesentlichsten Hindernisse für eine höhere Vervollkommnung der Menschheit" (Mill 1991, 5). Ein Jahrzehnt später dann verknüpfte Au­ gust Bebel in seiner Schrift Die Frau und der Sozialismus (1879) die Anlie­ gen der Arbeiterbewegung mit denen der Frauenbewegung, indem er das weibliche Geschlecht und die Schicht der Proletarier gleichermaßen zu Au­ ßenseitern der Gesellschaft erklärte: "Frau und Arbeiter haben gemein, Un­ terdrückte zu sein." (Bebel 1977, 9) Nach Bebel besteht die "historische Mission" des Proletariats deshalb darin, "nicht nur die eigene Befreiung, sondern auch die Befreiung aller anderen Unterdrückten, also auch der Frauen, herbeizuführen" (Bebel 1977, 314 f.).

Hauptfraktionen

Allerdings war die Frauenbewegung insgesamt weit heterogener als die Sozialdemokratie, weil sie mehrere soziale Schichten umfasste. Im Lauf der Zeit differenzierten sich schließlich drei Hauptfraktionen heraus: eine so­ zialistische (Clara Zetkin), eine bürgerlich-gemäßigte (Helene Lange, Ger­ trud Bäumer) und eine bürgerlich-radikale (Minna Cauer, Anita Augspurg). Während der bürgerlich-gemäßigte Flügel vor allem für eine Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Frauen und die Anerkennung weiblicher Er­ werbsarbeit eintrat, ohne aber die bestehende Gesellschaftsordnung verän­ dern zu wollen, strebte der sozialistische Flügel eine vollständige Abschaf­ fung patriarchalischer Sozialstrukturen und des Kapitalismus als Wirt­ schaftsform an. Die bürgerlich-radikale Gruppe paktierte in Einzelfragen meist mit einer dieser beiden Fraktionen.

Zuwachs literarisch und journalistisch tätiger Frauen

Im Zuge der organisierten Frauenbewegung wuchs bei vielen Frauen, die in bürgerlichen Verhältnissen lebten und davor zurückschreckten, sich poli­ tisch zu exponieren und offen für ihre Rechte einzutreten, das Bedürfnis, stärker am öffentlichen Leben teilzunehmen. Kunst und Publizistik boten am ehesten eine Möglichkeit dafür. Und so lässt sich denn in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts ein eklatanter Anstieg der Zahl litera­ risch und journalistisch tätiger Frauen verzeichnen. Gleichwohl war es für eine schreibende Frau nach wie vor äußerst schwierig, im Literaturbetrieb Fuß zu fassen. Wirklich gefragt waren lediglich erbauliche und rührende Erzähltexte oder sentimentale Verse; beide Texttypen fanden besonders in den auflagenstarken Familienblättern Verwendung, die ständig auf der Su­ che nach passenden Manuskripten waren. Dies änderte sich erst, als mit den Naturalisten eine nachwachsende Generation von - männlichen - Au­ toren Zugang zu bereits etablierten Periodika erhielt und eigene Zeitschrif­ ten ins Leben rief. Da es zum Programm der jungen Schriftsteller gehörte, die Gesamtheit aktueller künstlerischer und sozialer Strömungen zu be­ rücksichtigen - die Gesellschaft etwa wollte ausdrück I ich eine "Realistische

3. Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur 79

Wochenschrift für Litteratur, Kunst und öffentliches Leben" sein -, wurde u. a. der Erörterung der sog. Frauenfrage, d. h. der Frage, welche Rolle die Frau in der Gesellschaft spielen und wie das Verhältnis der Geschlechter zueinander beschaffen sein soll, ein entsprechender Stellenwert zugemes­ sen. Seit ihrer Gründung finden sich in der Gesellschaft regelmäßig Artikel (von Verfassern beiderlei Geschlechts), welche frauenspezifische Themen behandeln, und auch als Autorinnen literarischer Beiträge sind Frauen dort relativ häufig vertreten. Es irritiert daher, dass sich zahlreiche Vertreter des Naturalismus gängiger Geschlechterstereotype bedienten, wenn es darum ging, ideologisch-ästhe­ tische Konfliktlinien zwischen der naturalistischen Bewegung und den Ver­ tretern der Gründerzeitliteratur zu markieren. Die Brüder Hart etwa konsta­ tieren in ihrem Aufsatz Für und gegen Zola (1882): "Unsere Literatur ist mit geringen Ausscheidungen zu einer bloßen Frauen-, ja vielleicht Mädchenli­ teratur geworden" und kommen deshalb zu dem Schluss, es gelte, endlich wieder "freie, kühne und starke Männlichkeit zu entdecken" (Hart/Hart 1882-84, H. 2, 54). Julius Hart wendet sich mit Nachdruck "gegen eine Frauen- und Backfischpoesie, welche die Kunst der Prüderie und einem ver­ zärtelten Geschmack ausliefert" U. Hart 1887, 47), während Arno Holz in seiner Gedichtsammlung Buch der Zeit (1886) abfällig von der "Höhern­ T öchterclerisei" (Holz 21892, 69) spricht. In der "Einführung" zu der von Michael Georg Conrad herausgegebenen Zeitschrift Oie Gesellschaft heißt es gar: Unsere Gesellschaft bezweckt zunächst die Emanzipation der periodischen schön­ geistigen Litteratur und Kritik von der Tyrannei der "höheren Töchter" [... ]. Fort, ruft unsere Gesellschaft, mit der geheiligten Backfisch-Litteratur, mit der angestaunten phrasenseligen Altweiber-Kritik. (Conrad

[18851, 1)

Was auf den ersten Blick reichlich chauvinistisch wirkt, verliert indes sei­ nen misogynen Anschein, wenn man bedenkt, dass sich Conrad in dem eben zitierten Text ausdrücklich von den "alten Weibern beiderlei Ge­ schlechts" (Conrad [1885], 1; zit. bei Holz 1924/25, Bd. 1, V) distanziert und zugleich "alle geisterverwandten Männer und Frauen" dazu auffordert, "sich mit uns thatkräftig zu vereinen, damit wir in gemeinsamer [ ...] Arbeit unser hochgestecktes Ziel erreichen" (Conrad [1885], 2). Welche Funktion der markig-aggressive Ton vieler naturalistischer Programmtexte hat, erläu­ tert Heinrich Hart einmal folgendermaßen: "Das Männliche ist nur als Sym­ bol zu fassen,

es ist gleichbedeutend mit Wahrheit,

Größe,

Tiefe."

(H. H[ar]t. 1885, 596) Nur so wird auch eine paradox klingende Zueignung wie die von Peter Hilles Roman Oie Sozialisten (1887) verständlich, der sein Werk "allen Herren, welche keine Dame sind", widmet. Obwohl be­ sonders in den Schriften der Frühnaturalisten häufig eine Metaphorik zum Einsatz kommt, die gängige Geschlechterstereotype aufgreift und dabei tra­ ditionell als männlich codierte Eigenschaften positiv bewertet, ist die natu­ ralistische Bewegung als solche doch alles andere als frauenfeindlich. Sicher finden sich in manchen Texten Residuen chauvinistischen Denkens, doch setzt sich bei fast allen Autoren früher oder später jene Einsicht durch, die Michael Georg Conrad einmal folgendermaßen formuliert hat: ,, [ ...] den wahrhaft freien Mann wird uns erst das frei gewordene Weib schaffen. [ ...]

Chauvinistisch wirkende Rhetorik

80 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen Das Weib ist mehr als ein Instrument zur Wollust oder als eine Sensations­ puppe ... Es ist ein Kulturfaktor ersten Ranges." (Conrad 1892, 690f.) Aufspaltung des

Im Grunde verfolgte der Naturalismus eine Doppelstrategie: Er brand­

Literaturmarktes

markte unter rhetorischem Rückgriff auf die herkömmliche gender-Dichoto­ mie jede Form von geschlechtsspezifischem Adressatenbezug, der sich zu seiner Legitimierung auf die moralischen Konventionen der Gesellschaft beruft, und öffnete im Gegenzug seine Publikationsorgane weit für schrei­ bende Frauen, die sich den Normierungen der Gründerzeitliteratur wider­ setzten. Damit suchte man eine Entwicklung einzudämmen, die etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts eingesetzt und seitdem zu einer internen Segmentierung des Marktes symbolischer Güter geführt hat. Ab etwa 1750 war es nämlich zu einer allmählichen Aufspaltung der literarischen Produk­ tion in einen elitären und einen populären Sektor gekommen, wobei der Rezipientenkreis populärer Belletristik vorrangig aus Frauen bestand. Schon um 1800 gab es nicht nur zahlreiche Genres, sondern auch diverse Periodi­ ka, die eigens auf ein weibliches Lesepublikum zugeschnitten waren. Im Lauf des 19. Jahrhunderts differenzierten sich Funktion und Adressatenbe­ zug vieler Texte weiter aus, so dass gegen Ende des Säkulums sowohl wis­ senschaftlich-gelehrte als auch ,unterhaltende' Literatur stark genderspezi­ fisch codiert war. Besonders innerhalb der Belletristik gab es Lesestoffe, die nur jewei Is einem der beiden Geschlechter zugeordnet wurden. Auch wenn diese Normierungen nicht absolut galten und stark schichtenab­ hängig waren, lieferten sie doch ein Wahrnehmungsraster, das die Schreib­ praxis und das Rezeptionsverhalten nachhaltig prägte. Mit diesem ge­ schlechterabhängigen Verständnis von Literatur nun räumte der Naturalis­ mus nachhaltig auf. Er wollte Texte ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Dezenzvorschriften produzieren und suchte deshalb Moral und Ästhetik voneinander zu entkoppeln, weil nur so der zur Maxime erhobene An­ spruch auf ,Wahrhaftigkeit' glaubwürdig einzulösen war. Ein dergestalt konzipiertes Kunstprogramm freilich richtet sich an beide Geschlechter gleichermaßen. Edgar Steiger, der dem Naturalismus nahestehende Redak­ teur der sozialdemokratischen Zeitung Neue Welt, erklärte denn auch mit Nachdruck: "Die moderne Kunst wendet sich an den ganzen Menschen, gleichviel ob Weib oder Mann" (Protokoll 1896, 84).

Verändertes

Tatsächlich unterscheidet sich das Frauenbild in naturalistischen Texten

Frauenbild

deutlich von dem früherer Epochen. Anders als in der Romantik werden keine weiblichen Idealfiguren mehr entworfen, und anders als im poeti­ schen Realismus geht das Spektrum dargestellter Frauen über einen eng umgrenzten Kanon adliger, bürgerlicher und bäuerlicher Weiblichkeitsty­ pen hinaus. Stattdessen tauchen in der Literatur des Naturalismus "die ers­ ten ,Emanzipierten' der deutschen Literatur" (Mahal 1975, 133) auf. Ver­ wiesen sei hier nur auf die Studentin Anna Mahr in Hauptmanns Drama

Einsame Menschen, die unkonventionelle Schriftstellerin Sascha in Eisa Bernsteins Wir Drei oder die Augenärztin Sabine Graef in Bernsteins Däm­

merung. Daneben begegnen aber auch erstmals seit dem Vormärz wieder Frauen aus der Arbeiterschaft wie etwa in Georg Hirschfelds Steinträger Luise (1895), in Clara Viebigs Oie Zigarrenarbeiterin (1897) oder in Otto Erich Hartlebens "Hanna jagert" (1893). Mithilfe der naturalistischen Äs­ thetik jedenfalls war es möglich, die Situation der Frau in der ,Moderne' -

3. Austauschbeziehungen zwischen Gesellschaft und Literatur

und zwar sowohl die der bürgerlichen als auch die der Arbeiterin oder die der Prostituierten - realitätsnah und ungeschminkt zu schildern. Dies dürfte im Übrigen einer der Gründe sein, weshalb selbst viele der um 1900 ent­ standenen Texte von Autorinnen darstellungstechnisch noch mit Verfahren­ sweisen operieren, die der Naturalismus entwickelt hat. Obgleich es kaum Schriftstellerinnen gibt, die man umstandslos als Na­ turalistinnen bezeichnen kann, und obgleich Frauen an den Gruppenbil­ dungsprozessen der naturalistischen Bewegung keinen nennenswerten An­ teil hatten, spielt der Naturalismus für die Geschichte weiblicher Autor­

Der Naturalismus als Katalysator weiblicher Autor­ schaft

schaft doch eine bedeutende Rolle. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass der im Zeichen des Naturalismus entwickelte Impetus, die soziale Si­ tuation unterprivilegierter Bevölkerungsschichten und tabuisierte Themen­ bereiche zur Darstellung zu bringen, den Blick automatisch auch auf die Situation der Frau in der Gesellschaft lenkte. Seien es nun weibliche Berufs­ tätigkeit (Holz'/Schlafs Familie Selicke, Bernsteins Dämmerung), weibliche Künstlerschaft (Hauptmanns Einsame Menschen, Bernsteins Wir Drei), die Situation der Frau in der Ehe (Holz'/Schlafs Familie Selicke, Bernsteins Wir

DreI) oder Ausbeutungsphänomene wie sexuelle Übergriffe von Familien­ angehörigen (Hauptmanns Vor Sonnenaufgang) bzw. Prostitution (Conradis

Adam Mensch) - all diese Problemfelder thematisieren für das Verhältnis der Geschlechter zueinander und das Selbstverständnis der Frau zentrale Aspekte. Eine besonders herausgehobene Rolle bei der Thematisierung weiblicher Existenzbedingungen in Ehe und Gesellschaft kommt dabei den Dramen von Henrik Ibsen zu. Vor allem sein Stück En dukkehjem (Nora.

Ein Puppenheim) wirkte auf viele Zeitgenossen wie ein Fanal, das die Un­ terdrückung der Frau im Patriarchat und den repressiven Charakter der bür­ gerlichen Versorgungsheirat - der Arzt und Kulturkritiker Max Nordau gei­ ßelte sie als eine Form der "Prostitution" (Nordau 1883, 321) und prägte in diesem Zusammenhang die griffige Bezeichnung "Ehelüge" (vgl. ebd.,

309-373) - schonungslos offenlegte. Nicht zufällig lassen sich "in allen drei Städten des Ibsen-Durchbruches, in Berlin, München und Wien [ . . ] .

Verbindungslinien zwischen Ibsen und der bürgerlichen Frauenemanzipa­ tion aufzeigen" (Frenzel 1942, 95). In jedem Fall war die sog. Frauenfrage von Anfang an ein wichtiger Ge­ genstandsbereich der ja vorrangig auf die Analyse gesellschaftlicher Funk­ tionsprozesse ausgerichteten naturalistischen Bewegung. Faktisch fungierte der Naturalismus für viele schriftstellerisch ambitionierte Frauen als eine Art "Zungenlöser" (Bänsch 1974, 141), der kreative Energien entband und als Folge davon die Präsenz von Autorinnen in der literarischen Öffentlichkeit massiv verstärkte. Die Periodika im Umfeld des Naturalismus boten vielen schreibenden Frauen ein Forum, in dem sie sich Gehör verschaffen konnten, und die dort ausgetragenen Diskussionen um die Stellung der Frau in der Gesellschaft trugen die sog. Frauenfrage in eine breitere Öffentlichkeit. Zu den Schriftstellerinnen, die durch den Naturalismus zu eigenem künstleri­ schen Ausdruck fanden, häufig in dessen Publikationen präsent oder ästhe­ tisch von dessen Programm beeinflusst sind, gehören u. a. Eisa Bernstein (Pseudonym: Ernst Rosmer), Helene Böhlau, Ida von Boy-Ed, Christine von Breden (Pseudonym: Ada Christen), Anna Conwentz (von Dyckowska), Dora Duncker, Maria Janitschek, Franziska von Kapff-Essenther, Emilie Mataja,

Verstärkte Präsenz von Autorinnen

81

82 IV. Theorie, Geschichte, Verflechtungen Alberta von Maytner (Pseudonym: Margarete Halm), Olga von Oberkamp (Pseudonym: Oscar Berkamp), Alberta von Puttkammer, Gabriele Reuter, Anna Croissant-Rust und Clara Viebig. Letztlich war der Naturalismus mit der Frauenbewegung gleich auf mehrfache Weise verkoppelt: Mit der bür­ gerlichen Frauenbewegung teilte er die Kritik an der Doppelmoral des Bür­ gertums und dessen zurückgebliebenen sozialen und ästhetischen Wert­ vorstellungen, und eine grundsätzliche Solidarität mit den organisierten Ar­ beiterinnen, die vor allem gleiche Bezahlung wie ihre männlichen Kollegen forderten, resultierte aus seinem volkspädagogischem Impetus. Insgesamt wird man daher sagen dürfen, dass der Naturalismus das Selbstverständnis der ,modernen' Frau entscheidend mitgeprägt und die Präsenz von Autorin­ nen in der zeitgenössischen Öffentlichkeit wesentlich vorangetrieben hat.

V. Einzelanalysen repräsentativer Werke 1. Lyrik des Naturalismus Die Lyrik des deutschen Naturalismus weist - im Unterschied zur Erzähl­

Divergierende Ent­

prosa und zur Dramatik dieser Diskursformation - ein hochgradig dispara­

wicklungstraditionen

tes Erscheinungsbild auf. Das hängt damit zusammen, dass die Autoren im Wesentlichen an zwei unterschiedliche literarische Entwicklungstraditionen anknüpften, für die in schlagwortartiger Verkürzung die Namen jener bei­ den literarischen Generationengruppen stehen können, die für das Selbst­ verständnis des Frühnaturalismus von entscheidender Bedeutung waren: Sturm und Drang bzw. Junges Deutschland (vgl. Kapitel 111.5.). Die Bezug­ nahme auf die beiden Vorgängerbewegungen diente dabei einer Abgren­ zung von der epigonalen Gründerzeitdichtung, sollten so doch außer Ge­ brauch gekommene Ausdrucksregister revitalisiert und für die Gestaltung von Themenkomplexen der ,Moderne' fruchtbar gemacht werden. Genie­ ästhetik und Vormärzdichtung boten sich vor allem deshalb als Referenz­ größen an, wei I sie auf ganz unterschiedliche Weise Problem lösungsoptionen für die gegenwärtige Misere der Lyrik eröffneten. Die Sturm-und-Drang-Be­ wegung führte vor, wie mit Rekurs auf die inkommensurable Individualität des Subjekts normpoetische Vorgaben gesprengt werden konnten, und das Junge Deutschland lieferte den Beleg, dass auch übermächtig scheinende Form- und Inhaltsmuster wie die der romantischen Dichtung erfolgreich ab­ gelöst werden konnten, in diesem Fall durch ein strahlkräftiges Konzept politisch-operativer Literatur. Beide Male - und hier konvergieren die sonst so heterogenen Strömungen - ging es darum, schablonenhaft gewordene Gestaltungskonventionen aufzuweichen, um auf diese Weise eine Entauto­ matisierung der Wahrnehmung zu erreichen. Obgleich natürlich auch auf bestimmte Themenfelder zurückgegriffen

Bezüge zu Sturm und

wurde, orientierten sich die naturalistischen Autoren in der P raxis doch vor­

Drang und Jungem

rangig an Formwahl und Sprachgebrauch der Vorgängerbewegungen. Bei

Deutschland

der Sturm-und-Drang-Lyrik waren es die gehobene Stillage, das Pathos und die Tendenz zur Missachtung prosodischer Regularitäten, die begeisterte Nachahmung fanden, bei der Vormärzdichtung der weitgehende Verzicht auf rhetorische Schmuckformen, die Annäherung an die Alltagsrede und die wirkungsästhetische Akzentuierung. Auf diese Weise bildeten sich zwei höchst unterschiedliche, ja gegenläufige Spielarten naturalistischer Lyrik heraus: eine, welche die Formelhaftigkeit der Gründerzeitliteratur durch Pa­ thetisierung, und eine, welche sie durch Entpathetisierung zu überwinden suchte. So begegnen sowohl Texte in ,hoher' Tonlage und mit gewählter Diktion als auch solche, die sich gezielt der ,niederen' Stilebene bedienen. Anschaulicher Beleg dieser ästhetischen Diffusität ist die Lyrikanthologie

Moderne Dichter-Charaktere. Auch wenn sich hier nur wenige Gedichte finden, die sich von der Durchschnittsproduktion ihrer Zeit abheben, macht

84 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke sich doch eine gewisse Akzentverlagerung bemerkbar. Deutliches Zeichen hierfür sind etwa all jene Texte, die auf eine geregelte metrische Gestaltung verzichten und sich freier Rhythmen oder Knittelversen bedienen. War es bei ersteren die Möglichkeit, die eigenen Texte mit Pathos aufzuladen, weI­ che die Autoren der jungen Generation anzog, so weckte der Knittelvers im Gegensatz dazu gerade wegen seines ,,(scheinbar) unkünstlerischen Cha­ rakters" (Wagenknecht 1981,46) Interesse; zudem wirkte er gegenüber an­ deren Versformen unabgenutzt. Der Aufschwung, den diese beiden Vertex­ tungsweisen in den achtziger Jahren erlebten, veranschaulicht, wie diver­ gent der frühnaturalistische Zugang zur Lyrik faktisch war. Als signifikant können in diesem Zusammenhang auch die zahlreichen Variationen der ,hohen', religiös konnotierten Genres Psalm (Bleibtreu, Conradi, Grad­ nauer, Henckell, Kirchbach) und Gebet (Adler, Bohne, Henckell, Jerschke, Linke) in den Modernen Dichter-Charakteren gelten, die auf die messiani­ sche Komponente vieler frühen naturalistischen Gedichte verweisen und diese Texte als "Variante der heroischen Lyrik" (Fohrmann 1996, 410) er­ kennbar werden lassen. Zur Rolle Detlev

Während genieästhetisch inspirierte Dichtung ausschi ießIich in histori-

von Liliencrons

schen Mustern vorlag, wirkte für das Konzept entpathetisierter Literatur in hohem Maß ein zeitgenössischer Autor vorbildhaft: Detlev von Liliencron. Bei ihm handelt es sich um einen Schriftsteller, der mit dem Kunstpro­ gramm des Naturalismus sympathisierte und zu seinen Kollegen mehr oder weniger enge Beziehungen unterhielt, der wegen der Abgeschiedenheit seiner Wohnorte (Insel Pellworm bzw. Kellinghusen in Holstein) aber nie Teil einer der regionalen Gruppierungen war, die sich herausbildeten. Vor allem Liliencrons Erstlingspublikation Adjutantenritte und andere Gedichte

(1883) wirkte auf viele junge Autoren wie die Einlösung ihrer Hoffnungen auf eine nichtepigonale Dichtung, die sich den Anforderungen moderner Lebenswirklichkeit stellt und inhaltliche Grenzen des Darstellungswürdi­ gen ebenso wie formale Reglementierungen souverän ignoriert. Schon die Zeitgenossen konstatierten: "Seine ersten Werke sind epochemachend ge­ wesen wegen der in ihnen enthaltenen Wirklichkeitsdichtung." (Benzmann

1896/97, 347) Liliencron erweiterte nicht nur das Themenspektrum der Ly­ rik um bislang weitgehend tabuisierte Bereiche, er setzte sich auch über angestammte Vertextungsregeln hinweg. So begründete er unter Rückgriff auf ausländische Vorbilder eine eigenständige Spielart des Prosagedichts. Die von ihm betriebene Lockerung formaler Gestaltungskonventionen, die mit einem konsequent de-rhetorisierten Sprachgebrauch einherging, wurde für nicht wenige Nachwuchsautoren zum Vorbild für ihre eigene Schreib­ praxis. Arno Holz

In vielem ähnlich wie Liliencron verfuhr Arno Holz, der sich freilich vor allem auf Heinrich Heine berief, den er zu seinem ästhetischen "Schutzpat­ ron" (Holz 21892,378) erklärte. Tatsächlich weist Holz' frühe Lyrik zahlrei­ che Parallelen zu Heines Dichtungspraxis auf: Darauf deuten u. a. das aus­ giebig thematisierte Konfliktverhältnis des ,poetisch' gestimmten Subjekts mit seiner ,prosaischen' Umwelt, die kokette Selbstcharakterisierung als "allerletzter" "Epigone" (Holz 21892, 5) und als "Tendenzpoet" (Holz 21892,393),aber auch Verfahrensweisen wie die Schaffung von schnoddri­ gen Komposita-Neologismen - "Mauldreckschleuderthum" (Holz 21892,

1. Lyrik des Naturalismus

430) -, die entlarvende Verwendung des unreinen Reims - "Poesie"/"Pat­ chouli" (Holz 21892, 59), "Limburger Käs"/"Tohuwabohuessays" (Holz 21892, 55) -, die Integration fremdsprachiger Ausdrücke - "Mussjöh" (Holz 21892, 126), "Versfaiseur" (Holz 21892, 296) -, der illusionsbrechende Ein­ satz überraschender Schlusspointen und der literarische wie politische An­ spielungsreichtum hin. Vollends die Wahl des Titels, den er seiner Gedicht­ sammlung Buch der Zeit (1886) gab und der überdeutlich auf das Buch der Lieder (1824) rekurriert, weist Holz als Heine-Nachfolger aus. In diesem Band unternimmt der Autor nachgerade programmatisch den Versuch, eine zeitgemäße Dichtung unter Rückgriff auf die lyrische Formtradition des bisherigen 19. Jahrhundert zu begründen. Und so bietet sich das Buch der Zeit in formaler Hinsicht als Kompendium unterschiedlichster Vers- und Strophenformen dar. Zugleich ist Holz bemüht, das Themenspektrum auf möglichst viele Bereiche der Wirklichkeit auszudehnen: "Eisenbahnen und Telegraphen, Dampf und Elektrizität werden als angemessene Gegenstände der Kunst nachdrücklich geklamiert" (Schutte 1976, 59) "Auch dies ist Poesie!" (Holz 21892, 28) hält der Autor den an der Vergangenheit orientierten Vertretern der Gründerzeitpoesie ebenso mahnend wie stolz entgegen. Den theoretischen Stichwortgebern des Naturalismus erweist er dabei mehrfach seine Reverenz, etwa wenn er sich als "Zeitgenosse von Emile Zola" (Holz 21892, 355) charakterisiert oder mit Blick auf das Buch The Origin of Species (1859) mit gezielt blasphemischem Unterton von der "heiligen Schrift des Darwin" (Holz 21892, 86) spricht. Alles in allem ist Holz' Lyriksammlung auf weite Strecken von einer polemischen Haltung geprägt. Der Autor präsentiert sich als spitzzüngiger Satiriker, der einerseits Kollegen- und Gelehrtenschelte betreibt und andererseits das kapitalistische Wirtschaftssystem, die Obrigkeit und die christliche Religion attackiert. Im Zuge solcher breitflächigen Kritik an der eigenen Gegenwart geraten auch die für die damalige Zeit typischen sozialen Begleiterscheinungen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses wie Fabrikarbeit, Armut und Prostitution in den Fokus. Gebündelt begegnen sie in der urbanen Verdichtungszone "Großstadt", der Holz eine eigene Rubrik widmet. Vor allem die hier vorgenommene Thematisierung eines neuen, durch Akzeleration geprägten Erfahrungsraums mit seinen schneidenden Gegensätzen hat den Autor bald weithin bekannt gemacht und ihm den Ruf eingetragen, er sei einer der "Begründer der [ . . ] ,Großstadtlyrik'" (Holz 1924/25, Bd. 10, 487) in Deutschland. Diese Einschätzung ist sicher nicht falsch, muss allerdings mit Blick auf die deutlich frühere und obendrein ästhetisch überzeugendere Gestaltung des Phänomens Großstadt in der L iteratur der Nachbarländer Frankreich und England relativiert werden. Bedeutsamer für die Entwicklungsgeschichte der Lyrik dürfte letztlich Holz' Sprachgebrauch sein. Das Buch der Zeit jedenfalls erweist sich bei näherem Hinsehen als komplexes intertextuelles Gebilde, das mithilfe von Allusionen, Zitaten oder Kontrafakturen zum einen in hohem Maß auf Fremdtexte Bezug nimmt (viele Gedichte werden sogar von Mottotexten begleitet), über gezielten Dialekt- und Fremdwortgebrauch sowie den Einsatz von Umgangs- und Alltagssprache aber auch diverse mündliche Redemuster in sich aufnimmt. Als Beispiel hierfür kann der folgende, bereits im Titel auf eine Gedichtgruppe Goethes anspielende Text gelten:

Buch der Zeit

.

Sprachgebrauch

8S

86 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Nicht "antiker Form sich nähernd" In München schneit's, und das Volk schreit nach Brod. Gaslichtverbreitung. Der Aetna raucht und Fürst Bismarck ist todt. Nein, diese Zeitung! Wozu durch alle diese Ritzen Sein Blut ins Nichts vertropfen? Gemüthlich hinterm Ofen sitzen Und seine pfeife stopfen! Die Sonne scheint, und die Welt ist rund. Grün wehn die eypressen. Ein Schnabus lässt sich trinken und Ein Rollmops essen!

(Holz

21892,427)

Ironisierung durch

Gegensätze der modernen Welt werden hier nebeneinander gereiht, wobei

Intertextualität

- wie sich bald herausstellt - die "Zeitung" das Transportmedium dieser un­ verbundenen Nachrichten ist. Die scheinbare Zusammenhanglosigkeit der versammelten Meldungen verweist auf das eigentliche Problem, das der Text thematisiert, nämlich die Frage, wie sich der Einzelne angesichts sozia­ ler Not, die von der Fülle täglicher anfallender Nachrichten verdeckt wird, verhalten soll. Ein mögliches - offenbar weit verbreitetes - Reaktionsmuster wird im weiteren Verlauf des Gedichts vorgeführt, nämlich das eines unge­ rührten "Weiter so". Auch wenn andernorts Kälte und Hunger herrschen, ist das für den saturierten Bürger kein Grund, etwas gegen fremdes Leid zu unternehmen, solange er selbst "hinterm Ofen" sitzen kann und genug zu "trinken" und zu "essen" hat. Obwohl Holz diese Haltung an keiner Stelle wertend kommentiert, entlarvt er sie doch als egozentrischen, sozial verant­ wortungslosen Quietismus. Dies erreicht er durch die Art und Weise, wie er Sprache einsetzt. Der Text wird nämlich bei näherem Hinsehen als - un­ markierte - Rollenrede erkennbar. Und da die so präsentierten Aussagen aus lauter Allgemeinplätzen C,die Welt ist rund") bestehen und mit unange­ brachtem Pathos C,sein Blut ins Nichts vertropfen") sowie verniedlichenden dialektalen Verballhornungen C,Schnabus") durchsetzt sind, erscheinen sie als sprachlicher Ausdruck einer bornierten Gesinnung. Die dergestalt be­ triebene lronisierung der Rede decouvriert die dahinter stehende Einstel­ lung als eine, die den aktuellen Problemen aus Bequemlichkeit ausweicht. Implizit wird damit aber auch eine Haltung eingeklagt, die sich den ange­ deuteten Widersprüchen stellt.

Kar! Henckell

Ansätze, die Lyrik für gesprochene Sprache zu öffnen, finden sich auch bei anderen Schriftstellern des Naturalismus. Am konsequentesten verfuhr hier wohl Karl Henckell, der sich mehrfach darum bemühte, moderne Großstadtwirklichkeit in akustischen Momentaufnahmen einzufangen. Be­ obachten lässt sich dies etwa im Text Berliner Abendbild, in dem Vielstim­ migkeit zum zentralen Organisationsprinzip wird: [ ...] Hastig huschen Gestalten vorbei, Keine fragt, wer die and're sei,

[ ...] Kaufmann, Werkmann, Student, Soldat,

1. Lyrik des Naturalismus

Bettler in Fetzen, Hure im Staat. [...] Werkmann bebt vor des Winters Noth: "Fänd' ich, ach fänd' ich mein täglich Brod! [...]" Bruder Studio zum Freunde spricht: "Warte, das Mädel entkommt uns nicht! Siehst du, sie guckt; brillant, famos! Walter, nun sieh' doch - die Taille bloß!" Steht der Gardist in Positur, Weil der Hauptmann vorüber fuhr, Ließ seine Donna im Stich - allein: "Ja, liebste Rosa, Respekt muß sein." "Blumen, Blumen,

0

kauft ein Bouquet,

Rosen und Veilchen, duftend und nett! Bitte, mein Herr, ach so sei'n Sie so gut!" "Scheer' dich zum Teufel, du Gassenbrut! Retzow, auf Ehre, wahrer Skandal." "Unter Kam'raden ganz egal." "Sehen Sie, bitte! Grandiose Figur, Wirklich charmant, merveilleuse Frisur." "Echt garantiert? Doch das macht nichts aus. Hm! Begleiten wir sie zu Haus?" "Neuestes Extrablatt! Schwurgericht!" Hei, das drängt sich neugierig dicht. "So ein Schwindler, ein frecher Hund, Schlägt erst todt und leugnet es rund." Wie das rasselt, summt und braust! Wie es mir vor den Ohren saust! [...] (Arent [Hrsg.] 1885,279 f.)

Ordnet das Gedicht anfangs noch ganz konventionell jedem Sprecher eine

Simulation

Äußerung zu, wird das Stimmengewirr, das hier literarisch nachgebildet

mündlicher Rede

wird, schließlich so groß, dass sich die Redeelemente verselbständigen. Die von Henckell betriebene "Montage von Gesprächsschnipseln" (Bulli­ vant 1982, 184) stellt zweifellos eine verfahrenstechnische Neuerung in der Lyrik der achtziger Jahre dar. Sie bildet in gewisser Weise vor, was dann erst die experimentelle Erzählprosa von Holz und Schlaf und schließlich die Dramatik des ,konsequenten' Naturalismus programmatisch betreiben, nämlich die Simulation mündlicher Rede. Ziel einer solchen lyrischen Mi­ mikry von Oralität ist indes nicht die bloße Kopie von Wirklichkeit, viel­ mehr sollen auf diese Weise insbesondere klassenspezifische Sprach- und Denkstrukturen entlarvt werden. Ein gutes Beispiel hierfür stellt Henckells Gedicht Tadellos dar, in dem ein zufällig am Rande einer Pferderennbahn aufgeschnapptes Gespräch zwischen zwei Offizieren mit unterschiedli­ chem Dienstrang in einer Weise wiedergegeben wird, dass der Eindruck entsteht, man sei selbst als Zuhörer dabei gewesen: [...]

"Ä, ä, ä ... wie sagten Sie? Tadellos nahm Fox die Hürde." "Tadellos schlug Fix den Pott, Schwanzeslänge" - ",Was Sie sagen!"'-

87

88 V.

Einzelanalysen repräsentativer Werke

"Kellner, Münchnerr! Aber flott! Tadellos ist Pitt geschlagen. Schneidig kühler Herbsttag das!

Ä,

ä, ä ... Herr Hauptmann meinen?

Ja, die Rennbahn war zu naß­ Tadellos kein Sonnenscheinen" ... (HenckeIl1894, 67f.) Fonografische

Die offenkundig an der Diktion Liliencrons geschulte Textpassage nähert

Karikierung

sich bereits einem - fiktiven - Gesprächsprotokoll an, wobei die fonografi­ sche Treue der Wiedergabe von Sprecheigentümlichkeiten hier noch kari­ kierende Funktion hat. Gleichwohl evozieren die wenigen Zeilen das Bild zweier gewollt ,schneidig/-selbstbewusst auftretender preußischer Offizie­ re. Ihre Herkunft wird durch einen einzelnen, aber charakteristischen Bero­ linismus ("Münchnerr") ebenso erkennbar wie ihr militärisches Metier durch

die

Kasernenhofsprache, die

sich

durch unvollständige Sätze

("Schwanzeslänge"), syntaktische Inversionen ("Schneidig kühler Herbsttag das!") und redundante Floskeln ("Tadellos") auszeichnet. Vorgeführt wer­ den aus dem sozialen Kontext gerissene, auf Grund ihrer Fragmentierung aber um so bezeichnendere Sprechakte, die in ihrer durch die Versifizie­ rung begünstigten starken Verkürzung und ihrer gleichzeitigen reimtechni­ schen Banalisierung die Hohlheit eines Habitus und damit eines ganzen Berufsstandes entlarven. Besonders demaskierend wirkt dabei, dass die An­ sätze verbaler Verständigung entweder irritiertes Stocken hervorrufen ("Ä, ä, ä ...") oder zu inhaltlich sinnlosen Aussagen führen, die obendrein gram­ matisch inkorrekt sind ("Tadellos kein Sonnenscheinen"). Neubegründung

Karl Henckell kommt aber noch in anderer Hinsicht Bedeutung für die

politischer Dichtung

naturalistische Lyrik zu, gehört er doch zu jenen Autoren, die sich nach­ drücklich um eine Neubegründung politischer Dichtung bemüht haben. Zeugnis hiervon geben neben dem - mit einer Vorrede von Heinrich Hart versehenen - Poetischen Skizzenbuch (1885) und dem Band Strophen

(1887) vor allem seine beiden in Deutschland verbotenen Gedichtsamm­ lungen Amselrufe (1888) und Diorama (1890). Auch wenn in der Antholo­ gie Moderne Dichter-Charaktere erst wenige Texte enthalten sind, die auf soziale Verhältnisse ausdrücklich Bezug nehmen - zu nennen wären hier Friedrich Adlers Nach dem Strike, Karl Henckells Lied vom Arbeiter, Arno Holz' und Oskar Jerschkes Gedichte Meine Nachbarschaft, An die oberen Zehntausend und Für die Zukunft, Julius Harts Hört ihr es nicht? und Her­

mann Conradis Licht den Lebendigen -, war der Ruf nach einer gesell­ schaftsbezogenen Lyrik doch bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre hörbar geworden. In einem Aufsatz vom Oktober 1883 entwickelte Arno Holz das Programm einer solchen engagierten Poesie, und zwar bezeich­ nenderweise im Rückgriff auf die politische Dichtung des Vormärz, aber mit gleichzeitiger Abgrenzung von ihr: Diese soziale Lyrik würde alle Vorzüge der politischen besitzen, ohne jedoch mit de­ ren Nachteilen behaftet zu sein. [ ...] Sie würde [ ...] auf jede wahrhaft große und be­ deutsame Frage ihrer Zeit eine Antwort geben, ohne sich mit kleinlichen EinzeIfra­ gen eines Sonder-Interesses abzugeben und auf diese Weise, wie ihre politische Schwester, unwiderruflich das Interesse der Nachwelt zu verlieren. Sie würde [ ...]

1. Lyrik des Naturalismus 89 die Zeit selbst, in dichterische Gebilde krystallisiert [ ...] einer [ ...] Nachwelt überlie­ fern. (zit. nach Scheuer

1971, 37)

Holz' Gedanke wurde in der Folgezeit mehrfach aufgegriffen und variiert.

,Soziale Lyrik'

So verpflichtet Heinrich Hart im Geleitwort zu Henckells Poetischem Skiz­ zenbuch die Versdichtung ausdrücklich auf Kontemporaneitiät und Zeitbe­

zogenheit: "Wie jede andere Kunstform aber muß die Lyrik [ ... ] aktuell sein, das heißt, den Geist der Zeit, der auch der Geist des Einzelnen ist, zum Ausdruck bringen." (Arent [Hrsg.] 1885, VIII) Und Bleibtreu erklärt das "Hineinragen der Wirklichkeit in die lyrische Auffassung" (Bleibtreu

1973, 49) zum Charakteristikum moderner Poesie. Im Zuge dieser inhalt­ lich-funktionalen Neubestimmung der Lyrik kam es auf breiter Ebene zu einem Aufschwung politischer Dichtung. Erkennbar wird deren soziale Ak­ zentuierung u. a. daran, dass nun die Figur des ausgebeuteten L ohn- bzw. Fabrikarbeiters Eingang in die L iteratur fand. L eo Berg konstatiert denn auch: "Ein Erkennungs-Zeichen [ ... ] für die moderne Poesie ist das Auftre­ ten des vierten Standes in der modernen Dichtung". (Berg 1891, 6) Tatsäch­ lich begegnen in der Lyrik der achtziger Jahre vielfach Texte, in denen An­ gehörige der Arbeiterklasse auftauchen. Ein frühes Beispiel ist Henckells in den Modernen Dichter-Charakteren abgedrucktes Lied vom Arbeiter, doch auch in der späteren Sammlung "Diorama" findet sich ein Gedicht, das sich An das Proletariat wendet. Maurice Reinhold von Stern veröffentlichte gar einen ganzen Band mit Proletarier-Liedern (1885); dessen unter der ver­ änderten Überschrift Stimmen im Sturm (1888) erschienene zweite Auflage ist explizit "dem arbeitenden Volk gewidmet". Wie sehr das Konzept einer ,sozialen Lyrik' in der Folgezeit bestimmend wurde, verdeutlichen auch John Henry Mackays Publikation Arma para ta fem (1886), die er mit dem Untertitel "Ein soziales Gedicht" versah, und

sein Gedichtband Sturm (1888). Die inhaltlichen und formalen Muster, die hier und in vergleichbaren Textsammlungen aufgegriffen werden, entstam­ men klar der politischen Dichtung des Vormärz. Neben Gedichten von Heine sind es vor allem Texte von Ferdinand Freiligrath, Anastasius Grün, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, Georg Herwegh und Georg Weerth, die als Vorbilder gedient haben. So wurde etwa Maurice Reinhold von Stern von Zeitgenossen als "geistiger Erbe und unmittelbarer Nachfol­ ger Herweghs" (Beetsehen 1890, 1728) angesehen. Allerdings legten die meisten Naturalisten ab Beginn der neunziger Jahre ihre lyrische Produktion wieder stärker individualistisch und subjektbezo­ gen an. Karl Henckell denunzierte seine lyrischen Anfänge später sogar als "L itfaßkunst" (Henckell 1894, 11) und erklärte apodiktisch: "Volksführer? Nein! die Toga paßt mir nicht. / Ich bin zu schüchtern, Politik zu treiben. / [ ... ] / Aus Mitgefühl sing' ich mein L ied der Not, / [ ... ] / Doch dem Partei­ getriebe bin ich tot -" (Henckell 1894, 9). Auch Bruno Willes mit einem Vorwort von Julius Hart versehener Gedichtband Einsiedler und Genosse

(1891) ist das Dokument einer Distanzierung vom Modell einer vorrangig auf Tagesaktualität ausgerichteten operativen Dichtung. Für diese zuerst im Bereich der Lyrik erkennbare Neuorientierung gibt es vor allem zwei Grün­ de: Zum einen wurden ab 1890 Stimmen laut, die nicht zuletzt unter Beru­ fung auf die seit jeher als Domäne der Lyrik angesehenen "etats d'ame"

Distanzierung und Rückzug

90

V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

("Seelen[zulstände") eine "Überwindung des Naturalismus" (Hermann Bahr) forderten, zum anderen führte die Aufhebung der Sozialistengesetze dazu, dass engagierte Dichtung nun in den Sog der Parteipolitik geriet. Was über das Jahr

1890 hinaus an ,sozialer Lyrik' veröffentlicht wurde, bewegt

sich deshalb unweigerlich in starker Nähe zur partei nahen politischen Dichtung der sozialdemokratischen Bewegung. Deshalb lässt sich "das von

1893 herausge­ Buch der Freiheit als das zeitlich späteste Dokument naturalisti­ scher Bemühungen um die Lyrik ansehen" (Schutte 1976, 16). Als Antholo­ gie politischer Dichtung des 19. Jahrhunderts bilanziert es die wichtigsten Karl Henckell im Auftrag der Sozialdemokratischen Partei

gebene

Belegtexte der ,sozialen Lyrik' des Naturalismus.

2. Max Kretzer: Meister Timpe (1888) Verlagerung der

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre verlagerte sich die Gattungspräfe­

Gattungspräferenz

renz der Naturalisten erkennbar von der Lyrik zur Erzählprosa. Den Anstoß zu dieser ästhetischen Neuorientierung gab Karl Bleibtreu, der die Ansicht vertrat, dass "die Enge der lyrischen Form sie untauglich macht, den unge­

1973, 67), und stattdessen den "so­ cialen Roman" als "höchste Gattung des Realismus" (Bleibtreu 1973, 36)

heuren Zeitfragen zu dienen" (Bleibtreu

ausrief. Fortan verstärkte sich nicht nur die Zola-Rezeption, parallel dazu erfolgte auch eine Rückbesinnung auf die vormärzliche Tradition des sozia­ len Romans. Max Kretzer ist - neben Wolfgang Kirchbach - der einzige Schriftsteller, der sich schon Anfang der achtziger Jahre der Erzählprosa zugewandt hat.

1880 erschien sein erster Roman Oie beiden Genossen,

und seit dieser Zeit erwarb sich der Autor einen Namen als Romancier und Novellist, dessen Stoffe in der Gegenwart angesiedelt sind und der in sei­ nen Texten bis dato tabuisierte Themen aufgreift. Bleibtreu bezeichnete ihn deshalb nicht nur als "Realist par excellence", sondern erklärte ihn sogar zum "ebenbürtigen Jünger Zola's" (Bleibtreu

1973, 36). Kretzer selbst

nimmt eine Sonderstellung innerhalb des deutschen Naturalismus ein. Er gehört keinem der Zirkel dieser Bewegung an und hat sich auch in deren P rogrammdebatten kaum zu Wort gemeldet. Auch ist sein Verhältnis zu Zola von einer gewissen Ambivalenz geprägt: Einerseits greift er fraglos Themenfelder seines französischen Kollegen auf (was bis zur Übernahme einzelner Motive geht), andererseits lehnt er die von ihm propagierte nüch­

Meine Stei­ lung zum Naturalismus beispielsweise wendet er sich explizit gegen dessen Erzählweise, die er mit einem "kalten Seziermesser" (zit. nach Keil 1928, 105) vergleicht. Aus diesem Grund revitalisiert Kretzer das Textmodell des

tern-unparteiische Darstellungstechnik ab. In seinem Aufsatz

sozialen Romans, das ihm als gestalterische Alternative zum unpersönlich­ szientistischen Konzept des Experimentalromans dient. Ein anschaulicher Beleg dafür ist

Meister 7impe, der sechste und bekannteste Roman Max

Kretzers, dessen Inhalt Erich Schmidt folgendermaßen charakterisiert: Ein grosser socialer Process spiegelt sich hier in einem besonderen Menschen­ schicksal ab, der ohnmächtige Kampf des Kleingewerbes - hier [

. . .

] eines wackeren

Drechslers - gegen die Fabriken, deren Kolosse die bescheidene Nachbarschaft mit

2.

Max Kretzer: Meister Timpe 91

brutaler Kraft erdrücken und deren rücksichtslose Concurrenz die Lebensmühe vieler Meister tötet. (Schmidt 1888, 1468) Im Mittelpunkt des Geschehens steht der Berliner Drechslermeister Johannes Timpe. Er bewohnt gemeinsam mit Frau, Vater und Sohn ein Haus, das der Großvater einst im Osten der Stadt errichtet hat und das nach wie vor als Fertigungsstätte für die eigenen Handwerksarbeiten dient. Sein Nachbar ist der "Industrielle" (52) Ferdinand Friedrich Urban, mit dem er persönlich in einem gespannten Verhältnis steht. Gleichwohl gestattet Johannes Timpe dem Sohn Franz, in dessen Unternehmen seine Lehre zu absolvieren, damit er einmal "was Großes" (15) werde. Urban, der einen sprechenden Namen trägt - er denkt und verhält sich urban, d. h. weltstädtisch gewandt, aber eben auch entsprechend abgebrüht und rücksichtslos -, wird als egoistischer und auf Profit bedachter Unternehmer geschildert. Genau wie sein Lehrling und Angestellter Franz Timpe will er sozial aufsteigen. Um dies zu erreichen, ist ihm jedes Mittel recht. Aussprüche wie "Wir machen alle tot" (60) und "Stirb du, damit ich lebe!" (138) weisen ihn klar als Vertreter eines unbarmherzigen Sozialdarwinismus aus, dem mit Johannes Timpe der Typus des ehrlichen und aufrechten, zugleich aber auch starrsinnigen Handwerkers gegenübersteht. Franz nun ist gewissermaßen eine transitorische Figur zwischen zwei so­ zialen Sphären. Er wird, da er als einziges von drei Kindern überlebt hat, von seinen Eltern verhätschelt, und nicht zuletzt weil er deren Wünsche nach sozialem Aufstieg erfüllen soll, orientiert er sich an seinem Arbeit­ geber, zu dessen Prokuristen und später sogar Teilhaber er wird. Als Urban ihn eines Tages dazu überredet, ihm doch einige gedrechselte Modelle aus der Werkstatt seines Vaters zu zeigen - was Franz aus Naivität auch tut -, setzt zwischen den benachbarten Familien ein erbitterter Verdrängungs­ wettbewerb ein, denn Urban kopiert nun maschinell die handwerklich her­ gestellten Erzeugnisse Johannes Timpes und beschleunigt durch diese billi­ ge Serienproduktion den ökonomischen Niedergang des Rivalen. Der Nachbarschaftskonflikt spitzt sich weiter zu, da Franz eine Heirat mit Ur­ bans Stieftochter Emma anstrebt und so als dessen potentieller Schwieger­ sohn vollends in dessen Einflussbereich gerät. Wenig später errichtet Urban eine Fabrik auf dem Nebengrundstück und bietet Timpe an, dessen Anwe­ sen aufzukaufen, was dieser jedoch ablehnt, wodurch die Abneigung vol­ lends in persönliche Feindschaft umschlägt. Franz zieht aus dem elterlichen Haus aus. Weil Urban spürt, dass Johan­ nes Timpes Sohn ein ihm selbst verwandter Charakter ist, weigert er sich zunächst, ihm seine Zustimmung zur Heirat mit Emma zu geben. Um sei­ ne Loyal ität auf die Probe zu stellen, verlangt er von ihm, er solle das best­ verkäufliche Modell seines Vaters stehlen. Franz tut es, wird dabei aber von seinem Großvater ertappt, der daraufhin einen Anfall erleidet; bevor er stirbt, sagt er seinem Sohn Johannes noch, dass Franz der Dieb war. Timpe ist fortan "ein an Körper und Seele gebrochener Mensch" (176f.), der zum "Einsiedler" (228) und "Sonderling" (237) wird. Er muss mehrere seiner Mitarbeiter entlassen und beginnt zu trinken. Franz seinerseits ent­ fremdet sich gänzlich von seiner Herkunftsfamilie; er heiratet schließlich, ohne seine Eltern zur Hochzeit einzuladen. Emma aber unternimmt einen

Inhaltsangabe

92 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke finalen Rettungsversuch: Als sie vom Niedergang der Nachbarwerkstatt er­ fährt, bietet sie, um ihrem Schwiegervater zu helfen, das Doppelte des Wertes für dessen Haus; Johannes Timpe aber fasst dies als weiteren Über­ nahmeversuch auf und schlägt das Angebot hochmütig aus. Der unerwar­ tete Tod seiner Frau Karoline - in symbolischem Kontrast dazu bekommt Emma ein Kind - raubt Timpe den letzten Halt und besiegelt den vollstän­ digen Niedergang des Unternehmens. Die Hypothek auf das Haus wird gekündigt, so dass Timpe sich hoch verschulden muss, und zwar - ohne es zu wissen - bei Urban. Als dann kurz darauf auch die neue Hypothek ge­ kündigt wird, empfindet Timpe nur noch "Ekel vor der Welt" und "Haß ge­ gen die bestehende Ordnung im Staate" (239). In seiner Verzweiflung folgt er seinem Altgesellen Thomas Beyer auf eine Wahlveranstaltung der So­ zialdemokraten und predigt im Affekt Aufruhr. Er wird "wegen Aufreizung zum Klassenhaß" (279) polizeilich angeklagt, und das Haus soll zwangs­ versteigert werden. Timpe bricht nun alle Brücken zur Umwelt ab, verbar­ rikadiert das Haus, flüchtet in einen Winkel des Kellers und zündet es an das Gebäude brennt zu einem Teil nieder, und man trägt den Drechsler­ meister tot heraus. Parallel dazu findet die Einweihung einer neuen Stadt­ bahntrasse statt, die bezeichnenderweise am timpeschen Grundstück vor­ beiführt. Gattungs­

Wie der Untertitel "sozialer Roman" zeigt, stellt Kretzer seinen Text in

bezeichnung

eine konkrete Gattungstradition. Er bedient sich eines besonders im Vor­

"sozialer Roman"

märz erprobten Erzählmodells, das er freilich um Elemente anderer Genres anreichert. Die Grundkonstruktion etwa weist durchaus Parallelen zum Muster des "roman experimental" auf. Dies lässt sich vor allem daran er­ kennen, dass Kretzer in Meister Timpe Motive von Zolas Roman Au bon­ heur des dames (1883; dt. 1883: Paradies der Damen bzw. Zum Glück der Damen) - dem elften Band des Zyklus Les Rougon-Macquart- übernimmt, in dem die Geschichte eines Warenhauses im Mittelpunkt steht. Die Paral­ lelen zwischen beiden Texten sind dabei mit Händen zu greifen: Timpes Haus wird

[...] von der Fabrik Urbans erdrückt, so wie das Häuschen des

Handwerkers Bourras von dem ständig wachsenden Warenhaus; die industriellen Lieferanten des Kaufhauses ahmen die Erfindungen des alten Handwerkers nach und nehmen ihm die Kundschaft; der Handwerker Zolas will sich wie Meister Timpe um keinen Preis sein Geschäft abkaufen lassen.

(293)

Freilich ist die Haltung beider Autoren zu dem geschilderten Geschehen eine ganz unterschiedliche. Zola befürwortet die gezeigte Entwicklung em­ phatisch und erweist sich als Parteigänger des gesellschaftlichen und Fort­ schritts. So heißt es in einer Entwurfsnotiz zum Roman: Comme intrigue d'argent, j'ai mon idee premiere d'un grand magasin absorbant, ecrasant tout le petit commerce d'un quartier. Je prendrai les parents de Mme He­ douin, un mercier, une lingere, un bonnetier, et je les montrerai ruines, conduits a la faillite. Mais je ne pleurerai pas sur eux, au contraire, car je veux montrer le triom­ phe de I'activite moderne; ils ne sont plus de leur temps, tant pis! ils sont ecrases par le colosse. (Zola

[1928], 468)

Der Handwerker Bourras wird denn auch von Zola mit einer Haltung küh­ ler und distanzierter Teilnahmslosigkeit vorgeführt. Für Kretzer dagegen ist

2. Max Kretzer: Meister Timpe

der sich vollziehende Modernisierungsprozess zwar gleichfalls eine unaus­ weichliche Entwicklung, der Autor bilanziert freilich sehr deutlich die Ver­ luste. Es verwundert deshalb nicht, wenn den beiden zentralen Protagonis­ ten der "neuen Zeit", Ferdinand Friedrich Urban und Franz Timpe, fast durchweg negative Charaktereigenschaften zugeschrieben werden. Anders als Zola, der in seinem 20-bändigen Romanzyklus Les Rougon­ Macquart ein gewaltiges Figurentableau entwirft und dieses in aller Breite entfaltet, beschränkt sich Kretzer in Meister Timpe auf wenige, obendrein

Sozialgeschichte einer Berliner Hand­ werkerdynastie

eher typenhafte Personen und drängt die Handlung zeitlich stark zusam­ men. Gleichwohl wird beide Male das Schicksal einer Familie und ihrer Nachkommen vor dem Hintergrund der Zeit vor dem Leser ausgebreitet. Liefert Zola die "Histoire naturelle et sociale d'une familie sous le second empire", so bietet Kretzer die Sozialgeschichte einer Berliner Handwer­ kerdynastie während der Gründerzeit. Auch wenn sich die erzählte Zeit im Text selbst nur über einen Zeitraum von knapp acht Jahren - nämlich von Frühjahr 1872 bis Winter 1879/80 - erstreckt, bemüht sich Kretzer doch darum, einen Gesamtüberblick über die jüngere nationale Historie zu ge­ ben. Dies geschieht dergestalt, dass er mit Ulrich Gottfried, Johannes und Franz Timpe Vertreter von "drei Generationen" (so die Überschrift des zweiten Kapitels) auftreten lässt, die stellvertretend für einzelne Stationen der Entwicklungsgeschichte des 19. Jahrhunderts stehen: Großvater, Vater und Sohn bildeten in ihren Anschauungen den Typus dreier Ge­ nerationen. Der dreiundachtzigjährige Greis vertrat eine längst vergangene Epoche: jene Zeit nach den Befreiungskriegen, wo [ ...] das Handwerk wieder zu Ehren ge­ kommen war [ ...]. Johannes Timpe hatte in den Märztagen Barrikaden bauen helfen. Er war gleichsam das revoltierende Element, das den Bürger als vornehmste Stütze des Staates direkt hinter den Thron stellte und die Privilegien des Handwerks gewahrt wissen wollte. Und sein Sohn vertrat die neue Generation der beginnenden Gründerjahre, welche nur darnach trachtet, auf leichte Art Geld zu erwerben und die Gewohnheiten des schlichten Bürgertums dem Moloch des Genusses zu opfern. Der Greis stellte die Vergangenheit vor, der Mann die Gegenwart und der Jüngling die Zukunft. Der erste verkörperte die Naivität, der zweite die biderbe Geradheit des Handwerkmannes [ ...] und der dritte die große Lüge unserer Zeit, welche die Geistes­ bildung über die Herzensbildung und den Schein über das Sein stellt. (S. 20f.)

Zeitlich zusätzlich nach vorne und nach hinten verlängert wird diese Ge-

Generationen- und

nerationenlinie durch zwei weitere, im Text allerdings nur erwähnte und

Familienroman

nicht als handelnd gezeigte Personen: den Urgroßvater Franz David Timpe und den namentlich nicht genannten Sohn Franz Timpes. Meister Timpe ist also im Kern der Roman einer Familie und als solcher auch Zeit-, Kulturund Gesellschaftsdiagnose. Doch anders als in den meisten Texten des Naturalismus, wird Familie hier nicht als genealogischer Determinationszusammenhang begriffen. Das Thema Vererbung spielt bei Kretzer keine nennenswerte Rolle. Stattdessen wird das Augenmerk auf den Aspekt der Sozialisation gerichtet. Die Figur des Franz Timpe etwa dient dazu vorzuführen, "was die Erziehung macht" (101); ihre negativen Charakterzüge werden vom Erzähler explizit als "Resultat einer falschen Erziehung" (104) gewertet. Offensichtlich greift Kretzer aus der soziologischen Theoriebildung des 19. Jahrhunderts nur einzelne Elemente heraus und lenkt dabei

93

94 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke den Blick vorrangig auf "Ie milieu et le moment" und nicht auf "la race". Dass sich der Berliner Autor grundsätzlich aber schon an den einschlägigen Stichwortgebern des Naturalismus orientiert, zeigt der Umstand, dass sich in seinem Roman diverse Schlagworte aus den zeitgenössischen Debatten finden. So rekurriert die Parole vom "Lebenskampf" (282) unverkennbar auf darwin-haeckelsche Vorstellungen und transponiert sie in die Sphäre des Sozialen. Und an einer Stelle heißt es in direkter Anlehnung an Taine: "je­ der Mensch ist das Produkt seiner Verhältnisse" (183). Zu den überindivi­ duellen Faktoren, die Verhalten und Mentalität der dargestellten Figuren prägen, zählen demnach neben familiärer Erziehung vor allem die sozialen und geschichtlichen Rahmenbedingungen. Insofern muss der Text auch als Zeitroman begriffen werden. Er thematisiert die unmittelbar zurückliegen­ den Jahrzehnte der deutschen Geschichte und beleuchtet deren wichtigste Phasen und politische Ereignisse: die Befreiungskriege 1812-15, die am Anfang einer langen Periode der Restauration stehen, die Revolutionen der Jahre 1848/49 und der sich anschließende Nachmärz, schließlich die Reichsgründung 1871 und die darauf folgende Gründerzeit. Modellstudie

Schon diese Konstellation zeigt, dass es Kretzer um eine modellhafte Studie der Situation des Handwerks im 19. Jahrhundert geht. Im Lauf der Handlung wird die rapide um sich greifende Industrialisierung geschildert, die das Stadtbild Berlins verändert, immer mehr Lohnarbeiter dazu zwingt, für geringen Lohn in den großen Fabriken zu arbeiten, und das traditionelle Handwerk an den Rand der Existenzkrise führt. Zu den Begleiterscheinun­ gen der Modernisierung gehören also der Reichtum einzelner und die Pro­ letarisierung weiter Schichten der Bevölkerung. Johannes Timpe wird eben­ falls von dieser Entwicklungsdynamik erfasst; dass er schließlich ihr Opfer wird, daran trägt er freilich selbst erhebliche Mitschuld. Gewinner des his­ torischen Umwälzungsprozesses ist Sohn Franz, der frühzeitig die Zeichen der Zeit erkennt und die Fronten wechselt. Die Grundlage hierfür haben in­ des die Eltern gelegt, die ihre eigenen sozialen Aufstiegswünsche auf ihn projiziert und entschieden haben, dass er nicht Drechsler, sondern Kauf­ mann werden soll. In Kretzers Text sind mithin die Themen Industrialisie­ rung, Niedergang des Handwerks, ökonomischer Verdrängungswettbewerb und sozialer Aufstieg miteinander verwoben. Abgebildet auf den Konflikt der Generationen verhandelt er das Verhältnis von Tradition und Innova­ tion. Als Indikator für die stattfindenden Veränderungen und zugleich als eine Art Dingsymbol für den Stellenwert des Handwerks in der modernen Welt fungiert das Haus der Timpes. Zum Zeitpunkt seiner Errichtung befand es sich weit außerhalb des Zentrums an der äußersten Peripherie Berlins. Nach und nach wurde das Haus dann umbaut - und zwar so, dass es nun buchstäblich quer zu den seitdem angelegten Gebäuden und Straßenzügen steht: Was dem Hause als eine besonderes Merkmal anhaftete, war seine außergewöhnli­ che Lage. Es stand mit der Front schräg hinter der Straße, so daß vor seinen Fenstern zwischen der Flucht des Trottoirs und der Seitenwand des Nachbarhauses ein spitz­ winkliger Vorderhof entstanden war [ ...]. Man hätte das ganze Häuschen wie einen steinernen, nach Fertigstellung der Straße in dieselbe hineingetriebenen Keil betrach­ ten können, wenn nicht sein Alter dem widersprochen haben würde.

(12)

2. Max Kretzer: Meister Timpe

Das timpesche Haus erscheint damit als Fremdkörper in der Topographie des modernen Berlin; es ist ein Relikt aus vergangener Zeit. Als dann die Stadtbahn quer durch Berlin errichtet wird und die steinernen Viadukte, auf denen die Züge fahren, in unmittelbarer Nähe des Anwesens gebaut wer­ den, verliert das Gebäude rapide an Wert. Dadurch, dass er sich weigert, es an seinen Kontrahenten zu verkaufen, beschleunigt johannes Timpe un­ gewollt seinen eigenen Ruin und trägt entscheidend dazu bei, dass die Tra­ dition, die er aufrechtzuerhalten sucht, ihr Ende findet. Wenn am Ende des Romans, als Meister Timpe stirbt, die neue Stadtbahn eingeweiht wird, ste­ hen sich "die alte und die neue Welt" (186) noch einmal plakativ gegen­ über. Nicht zufällig wählt Kretzer mit der Eisenbahn gerade jenes Verkehrs­ mittel, das im 19. jahrhundert als Kollektivsymbol für Akzeleration und Fortschritt fungiert. In Aufbau und Handlungsführung ähnelt der Roman einer Moritat; er führt in einzelnen Bildern die Stationen des Niedergangs eines Handwer-

Strukturschema der Moritat

kermeisters vor, der durch gesellschaftliche Verhältnisse, persönliche Intrigen und eigenen Starrsinn in den Ruin getrieben wird. Moritatenhaft wirken dabei besonders die vergleichsweise kleinteilige Parzeliierung des Erzählgeschehens in insgesamt 19 Abschnitte und die leserlenkende, zuweilen auch sensationsheischende bzw. kolportagehaft klingende Betitelung der einzelnen Kapitel: "Schlimmer Verdacht", "Ein entarteter Sohn", "Der Meister predigt Aufruhr" oder "Unter Trümmern". Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, wenn man Kretzers Roman einfach als kulturkritisches Lamento deuten würde, das wortreich den Verlust der guten "alten Zeit" (13) betrauert. Zwar hat eine solche romantisierend-verklärende Sicht auf die vermeintlich heile Welt des Handwerks in der Literatur des 19. jahrhunderts eine lange Tradition. Bei Kretzer allerdings trägt diese Utopie nicht mehr; er zeigt denn auch deutlich "das Schwankende, Ambivalente in Timpes Denken und Handeln" (Mayer 1980, 353). "Im Grunde verrät Timpe die Ideale seines Standes selbst, weil er seinem Sohn rät, sich einen Beruf in der Kaufmannswelt [ ...] zu suchen" (Mayer 1980, 352), und so dessen Ehrgeiz allererst entfacht. Mehr noch: Zwischenzeitlich "spielt der Handwerker selbst mit dem Gedanken, seinen zunächst noch florierenden Betrieb zu einer Fabrik umzugestalten" (Mayer 1980, 352). Die Vorstellungen, die ihm diesbezüglich im Kopf herumgehen, unterscheiden sich genau betrachtet kaum von denen Urbans. Im Verlauf des Romans übernimmt johannes Timpe dann aber immer stärker die traditionsverhaftete Position seines Vaters Gottfried. Am deutlichsten zeigt sich dies darin, dass er sich einen von dessen Aussprüchen aneignet. So hatte der Großvater zu Beginn des Textes lamentiert: "ja, ja, das waren noch andere Zeiten ... damals! Das Handwerk hatte einen goldenen Boden ... Die Schornsteine müssen gestürzt werden, denn sie verpesten die Luft". (28 f.) Diese larmoyante Klage, die vom Erzähler explizit als "alte Litanei des Greises" (28) charakterisiert wird, übernimmt johannes Timpe im letzten und vorletzten Kapitel des Romans (vgl. S. 274), ja im Suff und in der äußersten Erbitterung kippt die dadurch zum Ausdruck kommende rückwärtsgewandte Haltung sogar in eine Rhetorik aufrührerischer Maschinenstürmerei um; so fordert Timpe auf einer Versammlung sozialdemokratischer Arbeiter: "Die Schornsteine müssen gestürzt werden, denn sie verpesten

Tradition der Handwerkerfigur

95

96 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke die Luft ... Schleift die Fabriken ... zerbrecht die Maschinen ...." (260) Er verursacht dadurch nicht nur einen Tumult, sondern zieht sich auch eine polizeiliche Anklage wegen Volksverhetzung zu. Auch wenn der Autor das Familienleben Timpes und den Umgang des Meisters mit seinen Gesellen und Lehrlingen bei der Ausübung seines Berufes überaus harmonisch und mit idyllisierender Tendenz schildert, ändert dies nichts an der Tatsache, dass der Titelheld letztlich als zwar "beklagenswerte, aber [ ... ] uneinsichti­ ge, zunehmend egozentrisch denkende und handelnde" Person erscheint und damit als Romanfigur präsentiert wird, "welcher der Leser mit Bedau­ ern und Befremden zugleich begegnet" (Mayer 1980, 356). Damit nicht genug: Johannes Timpe fungiert im Gegensatz zu E. T. A. Hoffmanns Meister Martin oder zu Ludwig Tiecks jungem Tischlermeister nicht mehr als Sym­ pathieträger, sondern gehört ob seiner verzerrten Sicht der Wirklichkeit vielmehr in die lange Reihe der Sonderlingsgestalten, die die Literatur des 19. Jahrhunderts aufweist. Naturalistische

Der naturalistischen Ästhetik entspricht Meister Timpe vor allem im Hin-

Elemente

blick auf die Situierung der Handlung, die Thematisierung sozialer Konflik­ te und die Einbeziehung aktueller populärwissenschaftlicher Diskurse. Auch die Wahl einer Familie als personeller Rahmen des Geschehens und die Akzentuierung von Klassengegensätzen entspricht weitgehend den For­ derungen der Naturalisten. Andererseits ist der Erzähler des Romans alles andere als ein nüchterner Registrator, er bewertet ständig das Verhalten der Figuren und lenkt so das Leserinteresse massiv. Nicht selten konstelliert er den Handlungsverlauf sentimental und rührselig, so dass man sich an zeit­ genössische Kitschromane erinnert fühlt. Zugleich nimmt er aber auch wie­ derholt Korrekturen an stereotypen Figuren- und Handlungsmustern vor. Während in den meisten sozialen Romanen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei Liebende geschildert werden, die aus unterschiedlichen Gesellschaftsklassen stammen und durch ihre Verbindung einen Klassen­ ausgleich herstellen, durchkreuzt Kretzer dieses Schema, indem er Franz sozialdarwinistisch handeln und zur ökonomisch erfolgreicheren Nachbar­ familie überlaufen lässt. Auch gelingt es ihm, indem er "das Figurenen­ semble [ ... ] durch die [ ... ] Gestalt eines Arbeiters ergänzt", "drei verschie­ dene Arbeits-, Lebens- und Denkweisen einander gegenüberzustellen und zu zeigen, wie sie aus den Besitzverhältnissen entspringen" (Voigt 1983, 165f.).

Intertextuelle Bezüge

In jedem Fall orientiert sich Kretzer in hohem Maß an Vorbildern. Meister Timpe weist nicht nur zahlreiche Ähnlichkeiten mit Zolas Au bonheur des dames auf, sondern übernimmt auch Handlungselemente von Alphonse Daudets Roman Fromont jeune et Risler aine (1876). Darüber hinaus exis­ tieren motivische Parallelen u. a. zu Goethes Werther, zu Bettine von Ar­ nims Günderode und zu Ludwig Tiecks Des Lebens Überfluß, intertextuelle Bezüge finden sich zum berühmten Loreley-Gedicht Heines "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten ..." (vgl. 63), zum Kirchenlied "Ein feste Burg ist unser Gott ..." (vgl. 284), aber auch zum Schluss von Büchners Drama Dan­ tons Tod (vgl. 285: "Es lebe der Kaiser ... Hoch lebe der Kaiser!"). All dies verweist klar auf Kretzers starke Bindung an die literarische Tradition und belegt einmal mehr den Kompromisscharakter der naturalistischen Roman­ produktion in Deutschland. Auf jüngere Autoren wirkte Meister Timpe dann

3. Arno HolzlJohannes Schlaf: Papa Hamletund Die FamilieSelicke

freilich selbst wieder vorbildhaft. Verwiesen sei hier nur auf Wilhelm von Polenz' Roman Der Büttnerbauer (1895) , der "den gleichen Konflikt nach dem gleichen Muster im ländlichen Milieu" (Voigt 1983, 166) gestaltet.

3. Arno Holz/Johannes Schlaf:

Papa Hamlet (1889) und Oie Familie Selicke (1890) Auch Arno Holz und Johannes Schlaf folgten der von Karl Bleibtreu ausge­ sprochenen Empfehlung, sich der Erzählprosa zuzuwenden. So ging Holz nach der Publikation seiner Gedichtsammlung Buch der Zeit (1886) an ein Romanprojekt, das die Überschrift Goldene Zeiten trug und die "einfache, tatsachenschlichte ,Geschichte eines Kindes'" (Holz 1924/25, Bd. 10, 41) enthalten sollte. Allerdings blieb dieses Vorhaben genau wie ein" Verlorene Illusionen betitelter Berliner Roman" (Holz 1924/25, Bd. 10, 332) unvollen­ det. Schlaf wiederum arbeitete Mitte der achtziger Jahre an einem Roman, dem seine "Hallenser Studentenerlebnisse" (Holz 1924/25, Bd. 10, 332) zugrundelagen. Ein Nicht die Rechte überschriebener Romantext von ihm wurde unter dem Pseudonym Hans Bertram dann 1889 mit erheblicher zeitlicher Verspätung in der Zeitschrift Schorers Familienblatt abgedruckt. Doch Holz und Schlaf erkannten bald, dass weder der Gattungstyp ,sozia­ ler Roman' noch das von Zola propagierte Modell des Experimentalromans grundlegende neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffneten. Aus der Überle­ gung heraus, dass "man [ ...] eine Kunst [ ...] nur [revolutioniert], indem man ihre Mittel revolutioniert","oder vielmehr, da ja auch diese Mittel stets die gleichen bleiben, indem man [ ...] deren Handhabung revolutioniert" (Holz 1924/25, Bd. 10, 490) , gelangten sie zu der Einsicht, eine zeitgemäße Erneuerung der Erzählprosa könne nicht auf inhaltlichem - über die "Stoff­ wahl" -, sondern nur auf formalem Weg - über die "Darstellungsart" (Holz 1924/25, Bd. 10, 271) - erreicht werden. Eine veränderte Präsentations­ "Methode" (Holz 1924/25, Bd. 10, 271 und 490) aber ließ sich kaum im Rahmen der narrativen Großform erproben. Deshalb verlagerten Holz und Schlaf ihre schriftstellerische Produktion zunächst auf die Kleine Prosa. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist der unter dem Pseudonym Bjarne P. Holmsen veröffentlichte Band Papa Hamlet, der im Januar 1889 erschien und neben der titelgebenden Erzählung noch zwei weitere kurze narrative Texte, Ein Tod und "Der erste Schultag" (ein überarbeitetes Kapitel aus dem Romanfragment Goldene Zeiten), enthält. Die Wahl des zumindest teilwei­ se durchsichtigen Decknamens - BjARNe P. HOLmsen erweist sich auf Grund der übereinstimmenden Buchstabenfolge als "kaum verschlüsseltes Kryptonym" (Scheuer 1971, 132) von ARNo HOLz - stellt dabei eine Reak­ tion dar auf die Skandinavienbegeisterung der damaligen Zeit, galt doch die nordische Literatur den Vertretern der jungen Autorengeneration in Deutschland als Inbegriff der realistisch getönten Moderne. Nicht zufällig wird in der Vorrede u. a. auf die "Erfolge Ibsens" (15) und die Bedeutung "Björnsons" (18) hingewiesen, mithin auf Schriftsteller, die eine "Vorliebe für die nackte Realität der Dinge" (16) an den Tag legen. Die mit der Schaf­ fung des Pseudonyms einhergehende "Mystifikation" (6) reicht freilich wei-

Hinwendung zu narrativen Formen

Zur Wahl des Pseudonyms

97

98 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke ter: Holz und Schlaf nämlich statten die hier in einem literarischen ,,Experi­ ment" (6) (der - leicht ironische - Bezug auf Zola ist offenkundig) fingierte Person nicht nur mit einem Namen, sondern auch mit einer eigenen Bio­ graphie aus, deren wichtigste Stationen in der "Vorrede des Übersetzers" rekapituliert werden. Die eigentliche Pointe von Holmsens Lebensge­ schichte nun besteht darin, dass der erfundene norwegische Schriftsteller seine prägenden Erfahrungen nicht etwa in der "Heimat" macht, sondern seine "Entwicklung dem Auslande [zu] verdanken" (17) hat. Damit verwei­ sen Holz und Schlaf zum einen auf die künstlerischen Anregungen, die skandinavische Autoren aus der europäischen Kultur bezogen haben (der Norweger Henrik Ibsen etwa lebte in Deutschland), und ironisieren zum anderen die naive deutsche Begeisterung für Literatur aus fremden Ländern, die vergessen lässt, welche bemerkenswerten schriftstellerischen Erzeugnis­ se gegenwärtig in der Muttersprache entstehen. Demontage des

Lässt man ihre polemischen Untertöne einmal beiseite, dann muss die

Werkbegriffs

"Vorrede des Übersetzers" vor allem als ästhetischer Programmtext gelesen werden. Indem die Tätigkeit des Dichters ausdrücklich mit der eines "Ana­ tomen" verglichen wird, bekennen sich Holz und Schlaf zu einer nüchtern­ sachlichen und rücksichtslosen, weil "vor keiner Konsequenz zurück­ schreckenden" Präzision in der "Darstellungsweise" (17), die erkennbar über die bekannten Erzählmuster hinausgeht. Doch auch konventionelle narrative Aufbauformen wie sie beispielsweise im ,sozialen Roman' weiter­ hin zur Anwendung gelangen, werden radikal infrage gestellt. Holz und Schlaf formulieren hier eine Ästhetik des Skizzenhaften, die den traditionel­ len Werkbegriff verabschiedet und an seine Stelle die ,kleine Form' treten lässt, welche nur Wirklichkeitsausschnitte erfassen will und sich obendrein dem Prinzip der Vorläufigkeit verschreibt. Wie sehr es den beiden Autoren dabei um eine Demontage der klassischen Dyade von Schöpfer und Werk ging, verdeutlicht der Umstand, dass die in Papa Hamlet enthaltenen Texte allesamt in Gemeinschaftsarbeit entstanden sind. Nach der Enttarnung des Pseudonyms erklärten Holz und Schlaf in einem offenen Brief dann mit Nachdruck, dass es "durchaus ungerechtfertigt" sei, "einem von uns eine Beteiligung ,ersten' oder ,zweiten' Grades zuzumessen" (15). Die kollektive Autorschaft muss dabei als Ausdruck einer experimentellen Grundhaltung gewertet werden. Anders als noch in der Romantik ist nun aber nicht mehr Sympoesie - verstanden als Steigerungsform poetischer Tätigkeit - das Ziel, vielmehr geht es um ein Zurücktreten der Autorsubjekte hinter eine überin­ dividuelle Versuchsanordnung. Alles in allem läuft die Kollektivierung schriftstellerischer Tätigkeit bei Holz und Schlaf fraglos auf eine "Entwer­ tung der Genievorstellung" (Markwardt 1967, 95) des Frühnaturalismus hi­ naus.

Verhältnis zur

Die Erzählung Papa Hamlet selbst ist Ergebnis der Umarbeitung einer

Vorlage

"novellistischen Skizze" von Johannes Schlaf mit dem Titel Ein Dachstuben­

idyll (vgl. Holz/Schlaf 1982, 83-102). Obwohl einzelne Personen andere Namen tragen, ist die Grundkonstellation in beiden Texten, die passagen­ weise sogar wörtliche Übereinstimmungen aufweisen, die gleiche: Im Mit­ telpunkt steht jeweils ein arbeitsscheuer, verwahrloster Schauspieler, der mit seiner Frau in einem schäbigen Mansardenzimmer zur Untermiete wohnt und dessen jüngstes Kind im Lauf der Handlung stirbt. Auch die iro-

3. Arno HolzlJohannes Schlaf: Papa Hamletund Die FamilieSelicke

nische Art, mit der das Geschehen geschildert wird, findet sich hier wie dort. Papa Hamlet und Ein Dachstubenidyll unterscheiden sich allerdings eklatant in Aufbau und Sprachgestaltung sowie in der Handhabung inter­ textueller Bezüge. So ist Papa Hamlet keine lakonisch und zügig erzählte "Skizze" (102) mehr, sondern ein in insgesamt sieben Abschnitte unterteil­ ter Text mit episodischer Struktur, der den Niedergang einer Familie in ein­ zelnen, die Spanne eines Jahres abdeckenden Momentaufnahmen festhält. Durch diese Anordnung erhält die Erzählung eine Finalität, die dem Ge­ schehen den Charakter der Zwangsläufigkeit verleiht. Ihren Höhepunkt fin­ det die Handlung an einem besonders symbolträchtigen Datum, nämlich dem Jahreswechsel. Da die Familie am bevorstehenden Neujahrstag aus ihrer Unterkunft ausziehen muss, weil sie seit längerem mit der Miete in Rückstand ist, betrinkt sich die Hauptfigur Niels Thienwiebel in der Sylves­ ternacht noch einmal und erstickt in stark alkoholisiertem Zustand verse­ hentlich den Säugling.Acht Tage später wird sie, "erfroren durch Suff" (63), in der Gosse aufgefunden. Gleichfalls merklich verändert ist der Sprachduktus des Textes. Während

Dialoggestaltung

Ein Dachstubenidyll noch von Erzählernarration dominiert wird, haben in Papa Hamlet Gesprächspassagen die Oberhand gewonnen und den erzählerischen Anteil zurückgedrängt. Zwar ist die Dialoggestaltung erst ansatzweise auf eine möglichst exakte Nachbildung mündlicher Rede gerichtetdie einzelnen Personen sprechen im Wesentlichen durch umgangssprachliche und mundartliche Wendungen angereichertes Schriftdeutsch -, doch werden bei manchen Figuren bereits gewisse individuelle Sprecheigentümlichkeiten angedeutet. Außerdem suchen Holz und Schlaf Geräusche klanglich zu imitieren, etwa wenn vorsprachliche Babylaute wiedergegeben werden: "Grrr ...grrr ...grrr ...äh! Grrr ...äh!" (45) Der deutlichste Unterschied zwischen beiden Narrationen aber zeigt sich im Bereich des Fremdtextbezugs. Während Ein Dachstubenidyll, das von seiner Thematik her an Goethes Dramolett Des Künstlers Erdewallen

(1774) erinnert, fast ganz ohne markierte intertextuelle Verweise auskommt, drängt Papa Hamlet den Goethe-Bezug in den Hintergrund und bietet sich stattdessen als Pastiche von Shakespeare-Zitaten dar. Motiviert wird der massive Einsatz geborgter Sprache durch den Beruf des Protagonisten.Anders als der in Ein Dachstubenidyll auftretende "Held" (102) namens Kraft, der nur ganz allgemein als Typus eines Provinzschauspielers geschildert wird, ist Niels Thienwiebel- zumindest nach eigener Meinungeine herausgehobene Künstlerpersönlichkeit, nämlich "der große unübertroffene Hamlet aus Trondhjem" (19). Diese besondere Stellung nun erlaubt, obgleich sie angemaßt ist, nicht nur eine extensive Verwendung shakespearescher Diktion, sondern auch ein ironisches In-Beziehung-Setzen des passionierten Hamlet-Darstellers mit seiner zentralen Rollenfigur. Zwischen Thienwiebel und seiner ehemaligen Paraderolle jedenfalls besteht ein äußerst spannungsvolles Verhältnis von Kongruenz und Inkongruenz. Shakespeares Hamlet ist ja im Zuge der Rezeptionsgeschichte "zu einem Sinnbild des enttäuschten Idealisten,

des witzigen Zynikers"

(Cowen

31973, 150), aber auch des in einer realitätsfernen Vorstellungswelt leben-

den Zauderers geworden. Thienwiebel nun teilt mit der shakespeareschen Dramenfigur ein Stück weit das Illusionäre seiner Existenz, vor allem aber

Fremdtextbezug

99

100 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke das sprachliche Pathos. Während freilich Hamlets Klagen noch weitgehend als der Figur angemessener Ausdruck von Weltekel erscheinen, verrutscht Thienwiebels geborgte sprachliche Pose gänzlich ins Maulheldenhafte. Ge­ nau besehen leistet der schneidende Kontrast zwischen der ständig im Munde geführten erhabenen Ausdrucksweise Shakespeares (in der ,klas­ sisch' gewordenen deutschen Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck) und der schnoddrigen Alltagssprache der aktuellen Ge­ genwart zweierlei. Indem "die sogenannte alltägliche [ . . ] gegen die alte .

dramatische Sprache" (Holz 1924/25, Bd. 10, 372) gesetzt wird und beide zur kalkulierten Kollision gebracht werden, entlarven Holz und Schlaf zum einen die aufgeblasene Hohlheit der herkömmlichen Bühnenrede. Zum an­ deren führt die Diskrepanz zwischen der heroischen Welt der elisabethani­ schen Tragödie und den armseligen, nur noch entfernt an eine Bohemeexis­ tenz erinnernden Lebensbedingungen eines kleinbürgerlichen Hinterhof­ haushalts vor, wie lächerlich Thienwiebels inhaltsleer gewordene Ambition eigentlich ist, die sich mit einer nurmehr zitathaft präsent gehaltenen Erin­ nerung an bessere Tage verbindet und in theatralischem Gebaren, wie etwa "melodramatischen" (30) Gesten, ihren Ausdruck findet. Nicht zuletzt ob der Monomanie, mit der er immer wieder den einen Bezugstext deklamiert, stellt sich kein Mitgefühl mit dem arbeitslosen "Schmierenkomödianten" (Martini 1954, 104) ein. Papa Hamletals humoristische Groteske

Holz' und Schlafs Papa Hamtet ist denn auch weniger eine im Medium der Literatur entworfene soziologische "Studie", sondern mutet vielmehr auf weite Strecken an wie eine humoristische Groteske mit einem "clow­ nesken" (Sprengel 1984, 29) Helden. Schon der Titel muss ja als "Paradox" (Cowen 31973, 152) angesehen werden, findet hier doch eine "Verkittung von heroischem Namen und familialer Anrede" (Sprengel 1984, 26) sowie eine gewaltsame Überblendung des Familienvaters Thienwiebel mit dem Junggesellen Hamlet statt, was ausgesprochen komische Effekte zeitigt. In­ sofern bietet sich der Text als "eine Übung im Ironischen" (Cowen 31973, 151) dar. Besonders deutlich zeigt sich das in der distanzierten und zuwei­ len bis zu offenem Sarkasmus gehenden Stellung des Erzählers zu seinen Figuren. Der heruntergekommene und zur Gewalttätigkeit neigende Prota­ gonist wird mit nachgerade ostentativem Spott andauernd als der "große Thienwiebel" bezeichnet und seine kränkliche und ungepflegte Frau Ama­ lie - "Hamiet" zitierend - "reizende Ophelia" genannt. Seine eigentliche Pointe erhält dieser parodistische Darstellungsgestus durch den Umstand, dass in Shakespeares Drama bereits Hamlet selbst eine Haltung zynischer Ironie zu seiner Umwelt einnimmt. Er erscheint dort als eine Art Schauspie­ ler, der seine wahre Meinung vor den als intrigant eingeschätzten Mitmen­ schen zu verbergen trachtet und dabei sogar soweit geht, sich als Wahnsin­ niger zu gerieren. All diese Motive nun werden in Papa Hamtet aufgegrif­ fen, allerdings jewei Is durch "Brechung" (Sprengel 1984, 25) verfremdet. Die Autoren Arno Holz und Johannes Schlaf betreiben mithin ein raffinier­ tes Spiel mit der berühmten Vorlage, und erst diese intertextuelle Kompo­ nente verleiht der Erzählung den Charakter einer Sprachetüde.

Milieustudie

Dennoch erfüllt der Text zumindest in Teilen auch die Anforderungen einer Milieustudie. Interessanterweise verliert sich im Lauf des sechsten Ab­ schnitts nämlich der Sarkasmus in der Darstellung, so dass die Schlusspas-

3. Arno HolzlJohannes Schlaf: Papa Hamletund Die FamilieSelicke 101

sage des Textes (mit Ausnahme der letzten Zeilen) eine soziale Elendsschil­ derung gibt, wie sie für den Naturalismus typisch ist. Die Klage etwa: "Man wird ganz zum Vieh bei solchem Leben!" (60) wird in keiner Weise relativi­ ert oder ironisiert. An einer Stelle heißt es über den heruntergekommenen Schauspieler Thienwiebel sogar, abermals Shakespeare zitierend: "Die gan­ ze Wirtschaft bei ihm zu Hause war der Spiegel und die abgekürzte Chro­ nik des Zeitalters." (53) So redegewaltig der Protagonist der Erzählung auf den ersten Blick zu sein scheint, in Wirklichkeit ist er doch alles andere als sprachmächtig. Seine Gedanken und Empfindungen jedenfalls kann er nur in einer Redeweise ausdrücken, die geborgt ist. Insofern reiht sich auch Thienwiebel in die lange Reihe von Figuren in der Literatur des Naturalis­ mus ein, die sich auf Grund ihrer Herkunft und ihres sozialen Milieus in akuten Verständigungsnöten befinden und denen die Sprache keinen adä­ quaten Artikulationsmodus mehr bietet. Über die virtuose Montagetechnik hinaus stößt Papa Hamtet aber auch

Montagetechnik

auf dem Gebiet der erzählerischen Darbietungsweise in Neuland vor. Zwischen die Dialogpartien sind nämlich immer wieder Abschnitte eingeschoben, in denen winzige, nebensächlich wirkende Realitätselemente detailgetreu geschildert werden: Das Lämpchen auf dem Tisch hatte jetzt leise zu zittern angefangen, die hellen, lang­ gezogenen Kringel, die sein Wasser oben quer über die Decke und ein Stück Tapete weg gelegt hatte, schaukelten. Das Geschirr und das Glas hob sich schwarz aus ihnen ab. Die Kaffeekanne reichte bis über die Decke. [ ...] Das Nachtlämpchen auf dem Tisch hatte jetzt zu zittern aufgehört. Die beschlagene, blaue Karaffe davor war von unzähligen Lichtpünktchen wie über­ sät. Eine Seite aus dem Buch hatte sich schräg gegen das Glas aufgeblättert. Mitten auf dem vergilbten Papier hob sich deutlich die fette Schrift ab: "Ein Sommernachts­ traum". Hinten auf der Wand, übers Sofa weg, warf die kleine, glitzernde P hotogra­ phie ihren schwarzen, rechteckigen Schatten. (57 und 59)

Hanstein hat diese Darstellungstechnik "Sekundenstil" genannt, weil hier "Sekunde für Sekunde" die Zustände und Veränderungen einzelner Aspekte der Wirklichkeit in "Zeit und Raum geschi Idert werden" (Hanstein 1901, 157). Wie Heinrich Hart in seinen Erinnerungen berichtet, habe Holz Spezifik und Intention des Verfahrens folgendermaßen beschrieben: Er entwickelte seine Ansicht am Beispiel eines vom Baum fallenden Blattes. Die alte Kunst hat von dem fallenden Blatt weiter nichts zu melden gewußt, als daß es im Wirbel sich drehend zu Boden sinkt. Die neue Kunst schildert diesen Vorgang von Sekunde zu Sekunde; sie schildert, wie das Blatt, jetzt auf dieser Seite vom Licht be­ glänzt, rötlich aufleuchtet, auf der andern schattengrau erscheint, in der nächsten Se­ kunde ist die Sache umgekehrt, sie schildert, wie das Blatt erst senkrecht fällt, dann zur Seite getrieben wird, dann wieder lotrecht sinkt [ ...]. Eine Kette von einzelnen ausgeführten, minutiösen Zustandschilderungen, geschildert in einer P rosasprache, die unter Verzicht auf jede rhythmische oder stilistische Wirkung der Wirklichkeit sich fest anzuschmiegen sucht, in treuer Wiedergabe jeden Lauts, jeden Hauchs, je­ der Pause - das war es, worauf die neue Technik abzielte. (Hart/Hart 2006, 50f.)

Auf diese Weise werden mit einem Mal Wirklichkeitsbereiche erkennbar, die sich vordem entweder der Aufmerksamkeit entzogen haben oder doch nicht als aufzeichnenswert befunden worden sind. Literaturgeschichtlich ist

"Sekundenstil"

102 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke "dieses Eingehen auf die Intimitäten der Erscheinungswelt [ .. ] etwas .

schlechthin Neues" (Lamprecht 1902, 212). Viele Zeitgenossen reagierten allerdings mit Befremden auf die minutiöse erzählerische Wiedergabe scheinbar belangloser Details. Karl Henckell etwa kritisierte die "bis zur völligen Unverständlichkeit gesteigerte Verworrenheit der Darstellung" und warf gar die Frage auf, ob Papa Harnlet möglicherweise "eine gutgemeinte Parodie" (HenckeII 1889, 106) sei. Verselbständigung

Es liegt auf der Hand, dass der mikroskopisch angelegte Blick auf Einzel­

des Wortmaterials

heiten eine irritierende Wirkung ausübt, weil er eingefahrene literarische Wahrnehmungsroutinen unterläuft. Durch den Sekundenstil geht nicht nur der souveräne Überblick über das Ganze verloren, die von Holz und Schlaf vorgenommene Verlagerung des Wahrnehmungsfokus auf die kleinen und scheinbar nebensächlichen Dinge kassiert auch die Distanz zum Darge­ stellten: "by bringing us so close to objects they deprive us of reassuring familiarity" (Osborne 1971, 46). Überdies befreite die Entwicklung dieser Darstellungstechnik die Literatur von der Fixierung auf plot und erzähleri­ sche Sukzession. Geleitet von dem Ziel, die Umstände eines zu berichten­ den Vorgangs möglichst genau zu bestimmen und so die Determinanten naturgesetzlicher Abläufe offenzulegen, koppelten Holz und Schlaf die lite­ rarische Darstellung vom Zwang fortschreitender Mitteilung ab. Die Spra­ che blieb zwar noch im Dienst der Beschreibung, doch verselbständigte sie sich gewissermaßen unter der Hand, weil sie nur noch der Deskription selbst, aber nicht mehr narrativen Gesetzmäßigkeiten gehorchte. Von hier aus war es dann nur noch ein Schritt bis zur völligen Abkoppelung des Wortgebrauchs vom Dienst der Mitteilung und zur Verselbständigung des zum Einsatz kommenden Wortmaterials.

Wirkung

Wie groß die Wirkung von Holz'/Schlafs Erzählexperiment auf die litera­ rische Öffentlichkeit war, zeigt Samuel Lublinskis Feststellung, Papa Harnlet habe seinerzeit "förmlich wie eine Bombe" (Lublinski 1974, 86) einge­ schlagen. In der Tat wurde die eminente literaturgeschichtliche Bedeutung der Textsammlung von den Zeitgenossen früh erfasst. So bekannte Gerhart Hauptmann, dass er von ihr "das Bilden der Sprache" (Hauptmann 1963, 197) übernommen habe. Und Max Halbe äußerte in seinen Erinnerungen über Papa Harnlet: "Dieses Büchlein ist gleichsam die Magna Charta des ,konsequenten Naturalismus' geworden, wie die Bewegung von da ab hieß." (Halbe 1940, 360)

Die Familie Selicke

Die von Hauptmann und Halbe gegebenen Hinweise auf die Art und Weise der Sprachverwendung im Bereich der Figurenrede zeigen sehr deut­ lich, was als das eigentlich Neue der Kurzprosa von Holz und Schlaf emp­ funden wurde. Und tatsächlich haben die Studien der Sammlung Papa Harnlet gemeinsam, dass sie zentral "vom Dialog" (Holz 1924/25, Bd. 10,

329) ausgehen. In einem Brief von Holz an Schlaf aus den späten achtziger Jahren heißt es denn auch programmatisch: "Keine Verse mehr, keine Ro­ mane mehr, für uns existiert nur noch die offene, lebendige Szene!!!" (Holz 1924/25, Bd. 10, 330) Schlaf stimmte der Einschätzung seines Freundes zu - "Dramen müßten wir schreiben, das wäre das ,Allerbeste!'" - und erläu­ tert in seiner Antwort die Vorteile der auf direkter Rede aufbauenden Ge­ staltungstechnik folgendermaßen: "Sehr oft wird die Wiedergabe und die Erinnerung der Milieus dadurch ganz wesentlich erleichtert und bekommt

3. Arno HolzlJohannes Schlaf: Papa Hamletund Die FamilieSelicke

auch eine weit größere Wirkung." (Holz 1924/25, Bd. 10, 330) In der schriftstellerischen Praxis lässt sich die Fokusverlagerung von stark mit Dia­ logen durchsetzter Narrativik zur Bühnendramatik modellhaft an einem Text beobachten. Im Sommer oder Herbst 1889 ging das Autorenduo näm­ lich daran, Johannes Schlafs in der zweiten Februarhälfte entstandene Er­ zählung Eine Mainacht in einen auf Aufführung hin angelegten szenisch­ dramatischen Text umzuarbeiten. Das Ergebnis dieses Umformungsprozes­ ses ist das Stück Oie Familie Selicke, das Anfang 1890 im Druck erschien und am 7. April vom Berliner Theaterverein ,Freie Bühne' uraufgeführt wurde. Die Entstehung der Familie Selicke vollzog sich in enger Wechselwir-

Entstehung

kung mit dem befreundeten Kollegen Gerhart Hauptmann. Kurz nachdem Holz und Schlaf ihm im Januar 1889 aus der Sammlung Papa Hamlet vorgelesen hatten, die großen Eindruck auf ihn machte, schlugen sie ihm vor, doch gemeinsam ein Drama zu verfassen. Hauptmann war anfangs durchaus bereit, auf diesen Vorschlag einzugehen, doch reifte ein eigener "Dramenplan" (zit. nach Berthold 1967, 229) dann schneller als sich die verabredete Kooperation in die Tat umsetzen ließ. In den Frühjahrsmonaten des Jahres 1889 verfolgten Holz und Schlaf so die Niederschrift von Vor Son-

nenaufgang aus nächster Nähe, das sie übereinstimmend für "das beste Drama, das jemals in deutscher Sprache geschrieben worden ist" (Hauptmann 1962, 52), erachteten. Die zügige Fertigstellung des Textes brachte sie nun allerdings selbst in Zugzwang, da sie natürlich nicht hinter Hauptmann zurückstehen wollten. Die Verwirklichung des eigenen Projekts vollzog sich mithin in gewisser Konkurrenz zu Vor Sonnenaufgang. Im Endeffekt führte die zeitlich unmittelbar benachbarte Entstehung der zwei Dramen jedenfalls zu gewissen Parallelen in Figurenzeichnung, Motiveinsatz und Sprachverwendung. So erinnert nicht nur das verhinderte Liebespaar Gustav WendtIToni Selicke (in Eine Mainacht fehlt die Figur Wendts noch) an die Konstellation von Alfred Loth und Helene Krause, auch die Thematisierung des Phänomens Alkoholismus und seiner Folgen ähnelt sich in beiden Stücken. Erkennbare Übereinstimmungen lassen sich darüber hinaus im extensiven Gebrauch von Dialektsprache und in der starken Ausweitung von Regiebemerkungen erkennen. Freilich sind auch Unterschiede nicht zu übersehen. In der Familie Selicke wird eher "Armutsalkoholismus" statt "Wohlstandstrinkerei" (Scheuer 1988, 92) vorgeführt, und die Gründe sozialer und psychischer Verrohung werden ausschließlich in den "Umständen" (195), d. h. dem Milieu, und nicht in erblichen Faktoren gesucht. De­ mentsprechend beschreiben Holz und Schlaf vorwiegend das räumliche Ambiente der Handlung in den Bühnenanweisungen, während Hauptmann hier sehr viel stärker Physiognomik und Habitus der Figuren schildert. Auch kommt der Vorgeschichte in der Familie Selicke eine weit geringere Rolle zu, so dass die Struktur des analytischen Enthüllungsdramas einer weitgehend präsentischen Zustandsschilderung weicht. Das Stück spielt an einem Weihnachtsabend der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts in der ärmlich-kleinbürgerlichen Wohnung der Selickes im Berliner Norden. Frau Selicke, kränkelnd, wehleidig und vergrämt, schickt ihre beiden Söhne dem trunksüchtigen Vater entgegen. Sie hofft, ihn auf diese Weise dazu bewegen zu können, wenigstens am Heiligen Abend

Inhaltsangabe

103

104 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke nach der Arbeit "auf'm Comptoir" (186) nach Hause zu kommen, zumal sich der Gesundheitszustand der achtjährigen, an Schwindsucht leidenden Tochter Lina zusehends verschlechtert. Nacheinander werden nun die wei­ teren dramatis personae eingeführt: der mit der Familie befreundete Nach­ bar namens Kopelke - ein arbeitsloser Schuster, der durch allerlei Gelegen­ heitstätigkeiten seinen Lebensunterhalt bestreitet -, die erwachsene Tochter Toni und der angehende Theologe Gustav Wendt, der als Untermieter bei Selickes ein Zimmer bewohnt. Wendt hat eben seine Berufung auf eine va­ kante Stelle als Pastor in einem kleinen Dorf erhalten und bittet Toni, seine Frau zu werden und ihm dorthin zu folgen. Diese erwidert seine Zuneigung zwar, zögert aber, den Heiratsantrag anzunehmen, da sie ihre Eltern, die sich während ihrer Ehe völlig voneinander entfremdet haben, und die Ge­ schwister nicht im Stich lassen will. Das quälende Warten auf den Vater dauert an, der erst spät in der Nacht in betrunkenem Zustand erscheint. Als Linchen wenig später stirbt, bricht er zusammen. Am Morgen löst Toni ihre Verbindung mit Wendt, um den fragilen Familienzusammenhalt nicht vol­ lends zu zerstören. Wendt erkennt ihre Selbstaufopferung für die Familie widerstrebend an und stellt am Ende sogar in Aussicht wiederzukommen, wobei diese Zusicherung offenbar der beklemmenden Situation bei der Ver­ abschiedung entspringt. Technik der

Die Handlung des Dramas, das die aristotelischen Einheiten der Zeit, des

Momentaufnahme

Ortes und der Handlung strikt wahrt, ist auf drei Akte verteilt. Durch die geringfügigen zeitlichen Sprünge zwischen den einzelnen Aufzügen wird die Zerrüttung einer Familie in Momentaufnahmen vorgeführt. Die Konzen­ tration auf das familiäre Wohnzimmer als Handlungsraum und die Begren­ zung der Zeit auf etwas mehr als einen halben Tag sorgen dabei für jene Beobachtungsbedingungen, die Zola für den Experimentalroman gefordert hat. Hier wird tatsächlich ein Ausschnitt künstlerisch imitierter Realität vor­ geführt, mit dessen Hilfe sich eine Situation in quälender Direktheit beob­ achten lässt. Die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen spie­ geln sich im Verhalten der Figuren freilich nur indirekt. Deshalb kann Die

Familie Selicke nicht oder nur sehr bedingt dem Ty pus des sozialen Dramas zugeordnet werden. Zwar fehlt es nicht an Verweisen auf "de Umstände"

(195), doch wird bei Holz und Schlaf "das Soziale [ . . ] nicht mehr als Kon­ .

flikt der Individuen mit der politischen-gesellschaftlichen Situation, sondern [ . . ] als innerfamiliärer Kampf gestaltet" (Scheuer 1988, 90). Die Kommuni­ .

kation zwischen den Ehepartnern ist so fundamental gestört, dass Eduard Selicke lieber mit dem Kanarienvogel spricht als mit seiner Frau; ausgerech­ net ihn behandelt er, "als wenn er ein Mensch wär"' (198). Die Trunksucht des Familienoberhaupts entspringt denn auch nurmehr teilweise der Ver­ zweiflung über soziale Not, sondern wird vielmehr als Reaktion auf eine zerrüttete private Situation geschildert. Gerade hier, in der Motivierung des für die Literatur des Naturalismus zentralen P roblemkomplexes Alkoholis­ mus, wird eine aufschlussreiche Akzentverschiebung gegenüber prominen­ ten Vorgängertexten wie Tolstois Macht der Finsternis und Hauptmanns Vor

Sonnenaufgang erkennbar: "In the former case [ . . ] the causes were seen as .

social and moral - drunkenness was one form of corruption by money and in the latter they were lergely hereditary. Here [in Die Familie Selicke] [ . . ] the reasons are personal and private." (Turner 1969, 199) Die Intimisie.

3. Arno HolzlJohannes Schlaf: Papa Hamletund Die FamilieSelicke

rung des Dargestellten geht dabei durchweg einher mit einer Psychologisie­ rung, wobei "das Seelische als Chiffre für das Soziale" (Scheuer 1988, 91) erscheint. Wie die bei der Umarbeitung vorgenommene, signifikante Verschiebung der Handlungszeit von Mai zu Dezember zeigt, stellt Holz' und Schlafs "Drama eine Kontrafaktur zu den Vorgängen in der heiligen Nacht" (Scheuer 1988, 99) dar. Der Text entlarvt damit religiöse Tröstungsangebote als falsche Versprechungen. Mit besonderem Nachdruck wird der Verlust aller Hoffnungen auf Heil und Erlösung in der modernen Welt anhand der Figur des Kandidaten der Theologie, Gustav Wendt, vorgeführt. Die Erfahrungen, die er während seines Studiums in der Großstadt gemacht hat, haben die Basis seines Glaubens soweit ausgehöhlt, dass er sein Vertrauen in die Menschheit und damit allen Halt verloren hat:

Elemente der Kontrafaktur

Die Menschen sind nicht mehr das, wofür ich sie hielt! Sie sind selbstsüchtig! Sie sind nichts weiter als Tiere, raffinierte Bestien, wandelnde Triebe, die gegeneinander kämpfen, sich blindlings zur Geltung bringen bis zur gegenseitigen Vernichtung! Alle die schönen Ideen, die sie sich zurechtgeträumt haben, von Gott, Liebe und ... eh! das ist ja alles Blödsinn! Blödsinn! Man ... tappt nur so hin. Man ist die reine Maschine! Man ... eh! es ist ja alles lächerlich!

(208)

Angesichts dieser ausweglosen Situation bleiben den Figuren nur kompen­ satorische Akte. Sie können etwa eskapistisch sein wie bei den männlichen Figuren (der Versuch, eine beschauliche Liebesidylle auf dem Land zu schaffen, bei Wendt, die Flucht ins Dandytum beim ältesten Sohn Walter, der Griff zur Flasche beim Vater) oder tendenziell selbstzerstörerisch wie bei den weiblichen Figuren (der verbissen-freudlose Pflichtheroismus bei Toni, das theatralische Selbstmitleid bei der Mutter). Da das Stück aus­ schließlich im Rückzugsraum der Familie spielt und die traditionell weib­ lich dominierte Handlungssphäre des Privaten nie verlässt, prägen insbe­ sondere die wehleidige Larmoyanz von Frau Selicke und der Jammer um das kranke Lienchen auf weite Strecken das Bühnengeschehen. Von eini­ gen Zeitgenossen wurde das Drama deshalb auch spöttisch "Familie Rühr­ selicke" (H. [ardenl 1890, 254) genannt. Die seitdem vielfach konstatierte Sentimentalität einzelner Handlungselemente dient indes nicht so sehr der Rührung des Publikums, vielmehr wird von Holz und Schlaf ein Affekt er­ zeugt, der in der zitathaften Weise, in der er aufgerufen wird, ein Wirkungs­ schema bürgerlicher Dramatik erkennbar werden lässt. Am deutlichsten wird dies, wenn man den Text mit dem Trauerspiel des 18. Jahrhunderts vergleicht. Zielte die Entbindung von Emotionen dort noch auf Katharsis, hat ein solcher Effekt im späten 19. Jahrhundert seine ursprüngliche Funk­ tion längst eingebüßt und ist eine abgenutzte Theaterkonvention geworden. Rührseligkeit wird von Holz und Schlaf vorrangig deshalb erzeugt, um zur Schau gestellt zu werden. Sie verkörpert ebenso ein Relikt vergeblicher symbolischer Orientierung an bildungsbürgerlichen Werten wie die "ver­ gilbten Gipsstatuetten" Goethes und Schillers bzw. der "bekannte Kaul­ bachsche Stahlstich ,Lotte, Brot schneidend'" (185), die über dem Sofa der Selickes angebracht sind. Insofern müssen die rührenden Szenen immer auch als sarkastischer Kommentar auf pathetisch beschworene Familien­ werte und den Gefühlshaushalt des wohlsituierten Bürgertums verstanden

Zur Funktion von Sentimentalität

105

106 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke werden. Tatsächlich aber ist die dargestellte Situation so deprimierend, dass jede Art von Tröstung daran zerschellt. Toni erscheint in diesem Zusam­ menhang nachgerade als eine tragikomische Lotte rediviva, die sich unbe­ wusst an einem längst obsolet gewordenen weiblichen Rollenmodell orien­ tiert und deren mitfühlend-barmherzige Haltung in emotionale Selbstver­ stümmelung umkippt. Handlungselemente und Motive der Literatur des 18. Jahrhunderts werden also in Die Familie Selicke gezielt aufgegriffen, aller­ dings erscheinen sie vielfach entstellt oder werden ihrer angestammten Funktion beraubt. So zitiert etwa das Liebesverhältnis zwischen Gustav Wendt und Toni Selicke unverkennbar die geläufige Konstellation der uner­ füllbaren Liebe über Standesschranken oder familiäre Hindernisse hinweg, wobei bei Holz/Schlaf jeglicher dramatische Konflikt gänzlich wegfällt und der eigensinnige Verzicht einer der beiden Figuren das Verhältnis beendet. Überhaupt liefern die Verhaltensweisen der gezeigten Personen keine Handlungsanleitung mehr für den Zuschauer. Selbst der Rühreffekt läuft völlig ins Leere, weshalb sich Die Familie Selicke auch als eine Art Abge­ sang auf das bürgerliche Trauerspiel verstehen lässt. Whitinger kann des­ halb im Hinblick auf Die Familie Selicke und andere häufig als dramen­ technisch konventionell und wirkungsästhetisch sentimental eingestufte Stücke feststellen: "By the time these plays make their alleged retreats into convention, their metapoetic elements have long since encouraged a skep­ tical look at such flight into idealistic illusions or emotional catharsis." (Whitinger 1990, 84) Das ästhetische Potential des ansonsten wenig bühnentauglichen Textes klar erkannt hat Theodor Fontane. In seiner Besprechung der Uraufführung schreibt er: Die gestrige Vorstellung der ,Freien Bühne' brachte das dreiaktige Drama der Herren Arno Holz und Johannes Schlaf: Oie Familie Selicke. Diese Vorstellung wuchs inso­ weit über alle vorhergegangenen an Interesse hinaus, als wir hier eigentlichstes Neu­ land haben. Hier scheiden sich die Wege, hier trennt sich alt und neu. [ ...] Das Stück beobachtet das Berliner Leben und trifft den Berliner Ton in einer Weise, daß auch das Beste, was wir auf diesem Gebiete haben, daneben verschwindet. (Fontane

1969, Bd. 2, 845 f.) Realitätsgetreue

Der Hinweis auf den "Berliner Ton" und die Konstatierung einer "photogra­

Nachbildung

phischen Treue" (Fontane 1969, Bd. 2, 846) bei der Realitätswiedergabe

mündlicher Rede

lenken den Blick auf jene Besonderheit des Textes, die von den Zeitgenos­ sen als besonders innovativ wahrgenommen wurde, nämlich die spezifi­ sche Art und Weise, Sprache einzusetzen. Julius Hillebrand hatte ja schon 1886 gefordert, dass der konventionelle Bühnenjargon durch "die Sprache des Lebens" (Hillebrand 1886, 236) ersetzt werden soll. Die realitätsge­ treue Nachbildung mündlicher Rede verfolgt dabei das Ziel, den inneren und äußeren Zustand einer Person so vollständig wie möglich und unter Verzicht auf unglaubwürdig wirkende Kunstgriffe wie Monologe oder Bei­ seitesprechen zu offenbaren. Getragen von der Überzeugung, dass sich in der Art und Weise, wie sich ein Mensch verbal artikuliert - seinem Sprech­ tempo, seiner Phrasierung, seiner dialektalen Färbung, seinen individuellen Redegewohnheiten -, nicht nur sein sozialer Stand und seine Herkunft, sondern auch seine psychische Verfassung und seine emotionale Gestimmt-

4.

Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang

heit niederschlagen, sollten Bühnenfiguren von nun an vorrangig mithilfe gesprochener Sprache - und damit lediglich zu einem Teil durch den Inhalt und stärker durch das Wie des Gesagten - charakterisiert werden: "The distinctive concern of Holz and Schlaf to make the language of the drama the mirror of everyday speech was not in the end shaped by any mechanical veristic aim but by the belief that such casual and intimate conversation was laden with psycho­ logical significance: that it was in fact the most sensitive and incisive means by which the drama as a personative form could illuminate the recesses of the indivi­ dual consciousness." (Mclnnes 1976,

128)

Indem nun dergestalt "die sogenannte alltägliche [ .. ] gegen die alte drama­

Aufwertung

tische Sprache" (Holz 1924/25, Bd. 10, 372) gesetzt wurde, konnte die

nonverbalen

.

überkommene Theaterdiktion überwunden werden. Ein Nebeneffekt dieser

Ausdrucks

Gestaltungstechnik war, dass unartikulierte Laute wie Ächzen, Seufzen, Stöhnen und Murren sowie Geräusche enorm an Bedeutung gewannen. Die zeitgenössische Kritik hat deshalb Holz' und Schlafs Drama abfällig als "Thierlautkomödie" (zit. nach Holz 1924125, Bd. 10,110) bezeichnet. Her­ mann Bahr dagegen würdigte die Bedeutung des Stücks unvoreingenom­ men und bemerkte rückblickend über Oie Familie Selicke: "Sie schuf die Sprache des deutschen Theaters für die nächsten fünfzehn Jahre." (Bahr

1921,83)

4.

Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang (1889)

In der Widmung, mit der die Erstauflage von Vor Sonnenaufgang versehen

Zur Rolle von Arno

ist, hat Gerhart Hauptmann in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass

Holz und Johannes

sich die "entscheidende Anregung" (Münchow 1970, Bd. 1, 236), die zur Abfassung seines Dramas geführt hat, der Prosasammlung Papa Hamlet sei­ ner Kollegen Holz und Schlaf verdanke. Was genau ihn daran beeindruckt hat, geht aus einer späteren Bemerkung hervor: Da nun Papa Harntet einen Versuch bedeutete, die Sprechgepflogenheiten der Men­ schen minutiös nachzubilden durch unartikulierte, unvollendete Sätze, monologi­ sche Partien, kurz, den Sprecher, wie er stammelt, sich räuspert, spuckt, in früher un­ bemerkten Einzelheiten darzustellen, und dadurch in der Tat etwas überraschend Neues zutage trat, fand ich mich stark [ ...] angeregt. (Hauptmann

495)

1962-74,

Bd. 11,

In gewisser Weise markiert die hier konstatierte Übertragung einer in narra­ tivem Zusammenhang entwickelten Technik der Sprachverwendung auf die szenische Darstellungsform den für die weitere Entwicklung des Naturalis­ mus so bedeutsamen "Schnittpunkt zwischen Prosa und Drama" (Mahal 1975,28),und die Praktikabilität dieser Verfahrensweise leitete bei den na­ turalistischen Autoren dann rasch den zweiten einschneidenden Wechsel in der Gattungspräferenz ein. Wie sehr Hauptmann sich tatsächlich an der sprachlichen Gestaltung von Papa Hamlet orientiert hat, mag ein unschein­ bar wirkendes Detail verdeutlichen. Während Niels Thienwiebels Redewei­ se dadurch charakterisiert ist, dass er in seine Äußerungen ständig die Flos­ kel ,,- e -" einflicht, zeichnet sich in Vor Sonnenaufgang Frau Spiller, die

Schlaf

107

108 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Gesellschafteri n Frau Krauses, durch folgende Arti kulationseigentüm Iich­ keit aus: "ihr Ausatmen geschieht jedesmal mit einem leisen Stöhnen, weI­ ches auch, wenn sie redet, regelmäßig wie ,m' hörbar wird" (24). Dieser in den Dialogpartien, in denen Frau Spiller zu Wort kommt, vielfach wieder­ kehrende Laut kann geradezu als direkte Reverenzgeste gegenüber den Kol­ legen Holz und Schlaf angesehen werden. Titelgebung

Der Einfluss der beiden schlägt sich aber auch in der Titelgebung nieder. So wurde die ursprünglich von Hauptmann vorgesehene Überschrift "Der Säemann" auf Anregung von Holz geändert. Damit geht eine gewisse Ver­ schiebung des Wahrnehmungsfokus einher, die einem Strukturmuster natu­ ralistischer Texte entspricht. Wie sich zeigt, vermeiden nämlich viele Dra­ men des Naturalismus "den Individualtitel: Familie Selicke, Einsame Men­

schen, Freie Liebe, Jugend", aber auch Die Ehre (Hermann Sudermann), Friedensfest (Gerhart Hauptmann), Eisgang (Max Halbe) oder Dämmerung (Eisa Bernstein); mehr noch: "Dort wo ursprünglich ein Titel gewählt war, -+ Vor Sonnen­ Friedensfest ([vgI.] Kauermann [1933,] 68)."

der eine Gestalt hervorhob, wird er geändert: ,Der Sämann'

aufgang, ,Friedensengel'

-+

(Praschek 1957, 77) Dies ist eine direkte Konsequenz der von den Naturalis­ ten betriebenen Depotenzierung des Subjekts, die zu einer nachhaltigen "Relativierung des Individualbegriffes"

(Hamann/Hermand 1959, 207)

führt. Die Literatur des Naturalismus entwirft auf weite Strecken das Bild einer "Wirklichkeit, in der der einzelne nur noch als unpersönliches Ge­ schehen eingebettet ist, wo nicht mehr sein ,Ich' agiert, sondern wo ,Es' über ihn verfügt" (Hamann/Hermand 1959, 210). Inhaltsangabe

Die Frage, welche Faktoren das Handeln des Menschen bestimmen und inwieweit er fremdgesteuert ist, steht auch im Zentrum von Vor Sonnenauf­

gang. Der Inhalt des Stückes ist rasch skizziert: Der Protagonist Alfred

Loth, der als Opfer des Bismarckschen Sozialistengesetzes eine Gefängnisstrafe ver­ büßt hat und nunmehr Redakteur einer Arbeiterzeitung ist, hat eine Reise in die schlesischen Kohlendistrikte unternommen, um dort Material zu sammeln für eine Studie über Arbeitsbedingungen und soziale Lage der Bergleute. Im Ort Witzdorf trifft er seinen Jugendfreund Hoffmann, der eine wohlhabende Bauerntochter gehei­ ratet hat und durch skrupellose Geschäftspraktiken einer der einflußreichsten Gru­ benbesitzer des Reviers geworden ist. Hoffmann hält sich im Hause seines Schwie­ gervaters auf, um dort die Niederkunft seiner Frau Martha abzuwarten. Diese ist schwer alkoholsüchtig, und ihr Vater ist ein im Delirium tremens befindlicher Alko­ holiker. Das ganze Milieu ist gepägt durch Luxus, Völlerei, Suff und sexuelle Aus­ schweifung. Helene, die zweite Tochter des Bauern Krause, ist in einer Herrnhuter Pension erzogen worden und leidet unter der Verkommenheit dieser Umgebung. Während Hoffmann versucht, Loth so schnell wie möglich loszuwerden, bemüht sie sich, den bewunderten Mann zu halten [...1. Loth erklärt mehrfach, daß er mit Rück­ sicht auf die Nachkommen nur eine körperlich und geistig gesunde Frau heiraten will; er ist von den erbschädigenden Wirkungen des Alkoholismus überzeugt. Da ihm - im Gegensatz zu den Zuschauern - das Familienübel verborgen bleibt, erwi­ dert er Helenes Gefühle. Dann jedoch klärt der anläßlich der Entbindung ins Haus gerufene Arzt [Dr. Schimmelpfennig, ein ehemaliger Studienkollege,l Loth über die ,Alkoholpest' der Familie auf. Dieser entschließt sich, das Haus sofort zu verlassen [...1. Helene betritt die Szene mit der Nachricht von der Totgeburt des Kindes ihrer Schwester, findet Lothas Abschiedsbillet und nimmt sich in einem Akt der Verzweif­ lung das Leben. (Bellmann 1988, 9 f.)

4. Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang

In thematischer und stofflicher Hinsicht lassen sich mehrere literarische

Vorbilder

Vorbilder für Hauptmanns Stück benennen. Als Dramentext hat fraglos vor allem Tolstois Oie Macht der Finsternis prägend auf Vor Sonnenaufgang ge­ wirkt, geht es dort doch ebenfalls um die Korrumpierung einer Bauernfami­ lie durch Profitgier und Wohlstand, was geradewegs zu Alkoholismus und moralischer Verkommenheit führt. Hauptmann hat denn auch Tolstoi als den "großen Paten" (Hauptmann 1962-74, Bd. 6, 800) seines dramatischen Erstlingswerks bezeichnet. In narrativer Form begegnet das Thema Alkoho­ lismus freilich früher schon in "Zolas Säuferroman L'Assommoir" (Litzmann

1894, 162), und Fragen der Heredität stehen auch im Zentrum des Rougon­ Macquart-Zyklus. Die dortige Behandlung des Sujets Vererbung "geht zweifellos auf Cesare Lombroso (1836-1909) zurück, der in seiner Studie L'uomo delinquento (1876) erstmalig das Verbrechen aus der physiologi­ schen Veranlagung des Täters zu erklären versucht hat" (Schmidt 1974, 110). Auf Grund der Ähnlichkeit der familiären Verfallsgeschichten haben Zeitgenossen Vor Sonnenaufgang auch als "Rougon-Macquarts in Duodez" (Arnold 1908, 192) bezeichnet. Alles in allem behandelt Hauptmann den Problemkomplex Determinis­ mus aber in sehr differenzierter Form. In seiner Haltung zu diesem Thema

Heredität und Determinismus

schlagen sich u. a. Erfahrungen nieder, die er 1888 während eines längeren Aufenthalts in Zürich gemacht hat. Dort kam er in Kontakt mit dem Psy­ chiater Auguste Forel, in dessen Heilanstalt er nicht nur mit zahlreichen psychischen Krankheitsformen konfrontiert wurde, sondern durch den er auch von den degenerativen Folgen übermäßigen Alkoholgenusses erfuhr. Hauptmann machte sich im folgenden Forels These "von den erbgutschädi­ genden Wirkungen des Alkoholmißbrauchs" zu eigen und begann dessen Überzeugung zu teilen, dass zwar "nicht die Trunksucht an sich vererbbar sei, wohl aber die Resistenzunfähigkeit gegen den Alkohol" (Bellmann

1988, 15). Nach Berlin zurückgekehrt, trat Hauptmann dann als "ausge­ sprochener Natur- und Gesundheitsapostel" (Hart/Hart 2006, 147) auf, trug sog. Reformkleidung, ernährte sich vegetarisch und verzichtete gänzlich auf alkoholische Getränke. In dieser Haltung ähnelte er natürlich bis zu einem gewissen Grad der männlichen Hauptfigur in Vor Sonnenaufgang. Allerdings sind auch die Unterschiede zwischen beiden nicht zu überse­ hen. So ist Hauptmann anders als Loth beileibe kein mittelloser idealisti­ scher "Agitator" (Bab 1922, 42). Auch werden die problematischen Seiten dieser Dramengestalt vom Autor mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet. Zwar muss man ihn nicht gleich zum "jämmerlichen Ideologen" (Mayer

1967, 36) oder "entmenschlichten Fanatiker" (Cowen 1973, S. 163) erklä­ ren, doch zeigt der Verlauf des Stücks unverkennbar, dass es Loth letztlich nicht gelingt, sein Privatleben mit seinem sozialen und politischen Engage­ ment zu vereinbaren. Schimmelpfennig hält ihm deshalb vor, er sei von einer "unglücklichen Ehemanie" besessen, die in Kontrast zu seinen "theo­ retischen" (85) Anschauungen stehe. Obwohl er vorgibt, einen "Kampf um das Glück aller" (41) zu führen und das Wohl seiner Mitmenschen stets über sein eigenes zu stellen, überlässt er seine "Liebste" (84) "kaltblütig"

(73) ihren bedrückenden Lebensumständen. Auch rückt der Autor den Pro­ tagonisten seines Dramas in ein ungünstiges Licht, indem er den prinzi­ pientreuen Weltverbesserer, der so stolz auf seine wissenschaftliche Bil-

Charakterprofi I Alfred Loths

109

110 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke dung ist, vieles, was um ihn herum vorgeht, entweder ganz übersehen oder falsch deuten lässt. Nicht nur die Anspielungen darauf, dass es sich bei dem verwahrlosten Trinker, dem er in der Dorfkneipe begegnet ist, um den reichen Bauer Krause handelt, entgehen ihm, selbst von der lautstarken nächtlichen Episode, in der Helene ihren Vater ins Haus zu bringen ver­ sucht, bekommt er nichts mit. Klarsicht geht bei Loth also mit partieller Blindheit einher: "As an observer of the social scene he appears as a sensi­ tive and farsighted individual whose statements often seem to acquire a nearchoric authority. In his dealings with the Krauses, on the other hand, he seems remarkably imperceptive and at times downright obtuse." (Mcln­ nes 1976, 126) Loth wird von Hauptmann vorgeführt als Sozialreformer, dessen Idealismus utilitaristisch verbogen ist - Möbius spricht von einem "Mittel-Zweck-Verhalten" (Möbius 1982, S. 102) - und der die Erreichung eines abstrakt gedachten Gemeinwohls bedenkenlos individueller Not überordnet. Dass er "Liebe und Menschlichkeit nur als allgemeinen Begriff und Ziel versteht, dass er sie nicht als lebendige Aufgabe hier und jetzt zu ergreifen den Mut hat, dies spricht ihm in den Augen des Autors das Urteil" (Mennemeier 1985, 228). Als "Reformapostel" (Zimmermann 1995, S. 496) steht er im Übrigen in der Reihe jener problematischen "Menschheitsbe­ glücker" (Mennemeier 1985, 228), die Hauptmann in seinem Frühwerk mehrfach dargestellt hat. Typenlehre

Sein widersprüchliches Charakterprofil tritt noch klarer hervor, wenn

enttäuschten

man es mit zwei anderen Dramenfiguren vergleicht. Stellt man Loth näm­

Idealismus

lich neben die Studienfreunde Hoffmann und Schimmelpfennig, dann er­ weist sich der Werdegang der drei als Typenlehre, was aus jugendlichem Idealismus im Lauf der Zeit werden kann. Während der Sozialdemokrat Loth für seine Überzeugung ins Gefängnis gegangen ist und seine jugend­ lich revolutionäre Gesinnung nie abgelegt hat, ist Hoffmann durch seine Heirat in die Familie Krause ein arrivierter ausbeuterischer Geschäftsmann geworden, der sich lediglich verbal noch zu einigen seiner früheren Über­ zeugungen bekennt, im Endeffekt aber anders handelt als er spricht. Schim­ melpfennig haben die schwer änderbaren sozialen Gegebenheiten zum Zy­ niker werden lassen. Er ist ein "eigentümlicher Mischmasch von Härte und Sentimentalität" (53) geworden. Während er Hoffmann "kalt" (47) und mit einer Haltung voller "Sarkasmus" (45) begegnet, gibt er zugleich Medizin kostenlos an Bedürftige ab. Was Hauptmann hier umrisshaft entwirft, sind drei biografische Entwicklungsverläufe, die als Resultate der enttäuschten Reformhoffnungen der studentischen Jugend in der Gründerzeit verstanden werden können. Der soziale Aufstieg ist nur Hoffmann geglückt, der ins La­ ger der Bourgeoisie wechseln konnte und nun seine Profite zulasten ande­ rer macht. Schimmelpfennig versucht an seinen Idealen insofern festzuhal­ ten, als er den Reichtum der Profiteure nutzt, um soziale Härten zu mildern und in kleinem Maßstab gesellschaftliche Umverteilung zu betreiben. Loth schließlich ist faktisch mittellos - er pumpt denn auch Hoffmann gleich zu Beginn des Stücks um Geld an -, aber bereit, für seine Ideale einzutreten. Er macht sich - im Verzicht auf Alkohol, Tabak und üppiges Essen - gerade­ zu zum Muster für andere, allerdings ist seine praktische Wirksamkeit ge­ ring. In gewisser Weise haben alle drei - wenn auch mit sehr unterschiedli­ cher Ausprägung und deutlich divergierenden Folgen - keine "moralischen

4.

Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang 111

Skrupel" (52): Hoffmann geht es um Profit, Loth um die Verfolgung seiner hehren Ziele, und Schimmelpfennig arrangiert sich mit der Situation, indem er sich, sie verachtend und vermeintlich subvertierend, faktisch zu ihrem Nutznießer macht. Wie immer man Loth im einzelnen auch einschätzen mag, in keinem Fall kann man ihn umstandslos als "naturalistischen Programmatiker" (Mennemeier 1985, 228) oder als "Sprachrohr naturalistischer Doktrinen" (Elm

2004, 167) ansehen. Zwar teilt er mit den Vertretern des Naturalismus gewisse wissenschaftliche Überzeugungen und die grundsätzliche politische Haltung, doch decken sich seine ästhetischen Ansichten mit denen der naturalistischen Bewegung in keiner Weise. Zola und Ibsen etwa spricht er rundheraus den Dichterstatus ab und etikettiert ihre literarischen Hervorbringungen - in Übernahme gängiger gegen sie erhobener Vorwürfe - als eine Form von "Spitalpoesie" (Brahm 1913, Bd. 1, 450). Das Grundprinzip des Realismus/Naturalismus, Dinge so darzustellen, "wie sie sind" (40), lehnt er rundheraus ab. Statt dessen möchte er, dass die Kunst "vernünftigen Zwecken" dient, "vorbildlich" wirkt und "Menschen" zeigt, "wie sie einmal werden sollen" (40). Dies freilich ist nichts anderes als ein Plädoyer für einen didaktisch akzentuierten Idealismus. Insgesamt ordnet Hauptmann mit Loth, Hoffmann und Helene Krause drei Figuren ästhetische Positionen zu. Helene Krause wird als Leserin des

Werther (1774) vorgeführt, ein Text, der für das idealistisch grundierte, goe­ thezeitliche Modell autonomieästhetischer Literatur steht, in der - wie die Pathographie des empfindsamen und unglücklich liebenden Jünglings Werther zeigt - die Grenzen des Darstellbaren bereits stark ausgeweitet sind, die aber krasse Härten in der Darstellung vermeidet und in der Sprachgebung bei aller versuchter Simulation mündlicher Rede einer ge­ wählten Diktion verpflichtet bleibt. Loth lehnt (ebenso wie Helenes Stief­ mutter) dieses fest in der bürgerlichen Bildungstradition verankerte Werk vehement ab und bezeichnet es despektierlich als "Buch für Schwächlinge"

(40), offenbar weil es keinen nachahmenswerten Helden hat und keinen Tatheroismus verbreitet. Stattdessen empfiehlt er Helene Felix Dahns Kampf

um Rom (1876), einen damals weitverbreiteten historischen Roman mit zeitgeschichtlichen Anspielungen, der mit Blick auf die Gegenwart des neugegründeten deutschen Kaiserreichs legitimatorisch einen heldenhaften Germanenmythos entwirft. Der Umstand, dass der Jurist Dahn als Vertreter der epigonalen Gründerzeitliteratur gelten muss, disqualifiziert ihn aus na­ turalistischer Sicht von vornherein. Hoffmann schließlich liest überhaupt nur zum Zeitvertreib, weil ihm neben seinen Geschäften kaum Muße für andere Beschäftigungen bleibt. Literatur dient ihm ausschließlich zur Un­ terhaltung: "Ich will von der Kunst erheitert sein" (12), äußert er gegenüber Loth. Auf seinem Beistelltischchen liegt ein opulent illustriertes "Pracht­ werk" mit dem Titel "Die Abenteuer des Grafen Sandor" (58). Gemeint sind damit die Reit-, Fahr- und Jagd-Ereignisse aus dem Leben des Grafen Moritz

Sandor (1868), drei jeweils aufwendig mit Goldschnitt, einer Ornamentbor­ düre und einer Schließe ausgestattete Quartbände mit je 50 aufgezogenen Fotos und kurzem Begleittext von Johann Erdmann Gottlieb Prestel, deren Inhalt Hoffmann selbst als "Unsinn" (58) bezeichnet. Dieses Werk fungiert als Beispiel für die repräsentativ aufgemachten, inhaltsleeren Luxusbücher

Ästhetische Positionen im Stück

112 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke der Gründerzeit, die seinerzeit als Statussymbol beliebt waren. Damit sind nun drei unterschiedliche Typen von Literatur (bzw. des Umgangs damit) markiert, die dem von den Naturalisten geforderten Gegenwarts- und Reali­ tätsbezug allesamt nicht gerecht werden, weil sie rückwärtsgewandt und nicht mehr zeitgemäß sind: teure, aber triviale Repräsentationsobjekte, bei denen die Illustrationen den Text zur belanglosen Nebensache degradieren, mit Bildungsgut aufpolierte, vergangenheitsorientierte Werke für das Bür­ gertum und kanonisierte klassische Texte, die inzwischen Lesestoff für Frau­ en gehobener Schichten geworden sind. Hauptmanns eigener ästhetischer Ansatz hat also im Text keine Fürsprecher. Orientierung am

Dabei hat sich der Autor sehr darum bemüht, sein Stück, von dem zu er­

,klassischen'

warten war, dass es beim Publikum Anstoß erregen würde, an die dramati­

Dramenmodell

sche Tradition rückzubinden. So wird die von Aristoteles geforderte Einheit der Zeit strikt eingehalten, und auch bei den Parametern Ort und Handlung gibt es nur geringfügige Abweichungen vom ,klassischen' Dramenmodell. Selbst die fünfaktige Bauform wird übernommen. Konkret dient das von Ib­ sen revitalisierte Muster des bereits in der Antike entwickelten analytischen Dramas Hauptmann als Vorbild. Als Familiendrama knüpft es zudem an einen Traditionszusammenhang an, den das bürgerliche Trauerspiel einst begründet hatte. Daneben erhebt das Stück - wie der Untertitel zeigt - aber auch den Anspruch, ein "soziales Drama" zu sein und nimmt damit jenen Impuls auf, der im 19. Jahrhundert von Büchner über Hebbel bis zu An­ zengruber weitergetragen worden ist.

I ntertextualität

Über Strukturmuster und Formzitate hinaus trägt zur Kohärenz des Gan­ zen schließlich der ausgeprägte intertextuelle Charakter des Textes bei. Für die Personenkonzeption der männlichen Hauptgestalt etwa spielen bibli­ sche Bezüge eine wichtige Rolle. So verweist die Figur des Loth überdeut­ lich auf den Lot des Alten Testaments (1. Mos. 19), und das "moralisch ver­ kommene Witzdorf", das er zu Studienzwecken besucht, erscheint als ein "neues Sodom" (Zimmermann 1995, 495). Allerdings lassen sich auch zahlreiche Unterschiede erkennen: Loth ist ein Bote aus der Fremde, der sich nur kurzzeitig in Witzdorf aufhält und damit gerade nicht der einzige Gerechte aus der Stadt Sodom selbst (obgleich auch der biblische Lot ein Fremder ist). Zudem verlässt er den Ort "nicht wie der biblische Lot, ,als die Morgenröte aufging', sondern [bereits] vor Sonnenaufgang" (Zimmer­ mann 1995, 496), und er wendet sich im Augenblick des Abschieds gerade noch einmal um - ganz so, wie es in der biblischen Erzählung Lots Frau tut, die dann zur Salzsäule erstarrt. Kurz: Die partiellen Inkongruenzen der bei­ den Figuren sind unübersehbar, ja es gibt einen regelrechten "gap between the Old Testament hero and his modern poseur" (Whitinger 1990, 85). Hauptmanns Loth ist demnach eine weitaus problematischere Person als sein alttestamentarischer Namensvetter, insgesamt gesehen erscheint er "als moralisch in sich widersprüchliche, bei aller Anmaßung persönlich hilflose dramatische Figur" (Delbrück 1995, 529). Man kann deshalb sagen, dass aus der "biblischen Vorbildgestalt" (Delbrück 1995, 514, Anm. 4) ein "am­ biguous hero" (Coupe) geworden ist.

Milieustudie

In der anhand einer schlesischen Bauernfamilie vorgenommenen Analy­ se der korrumpierenden und de-moralisierenden Folgen plötzlichen Reich­ tums ist Vor Sonnenaufgang einerseits eine genaue Milieustudie, wie sie

4. Gerhart Hauptmann: Vor Sonnenaufgang 113

von der naturalistischen Theorie gefordert wird, gestaltet Hauptmann hier doch [ ...] das letzte Stadium des Verfallsprozesses einer neureichen, verbürgerlichten Bau­ ernfamilie, deren Zustand über sich hinausweist auf gesellschaftliche Zustände. Die "Alkoholpest" der Familie Krause-Hoffmann, die daraus resultierende physische, geistige und moralische Zerrüttung erscheinen als Syndrom, als Krankheitsbild der bestehenden sozialen und ökonomischen Verhältnisse. (Bellmann 1988,

37)

In seinem erkennbaren Bemühen, an die Dramentradition und an die aris­ tote I ische Poetik anzuknüpfen, entpuppt sich der Text andererseits aber auch als "Tragödie menschlicher Blindheit" (Zimmermann 1995), in der ge­ zeigt wird, welche Konsequenzen Unwissenheit und Fehleinschätzungen im zwischenmenschlichen Bereich haben können. Aus dem wechselseiti­ gen Verkennen Alfred Loths und Helene Krauses jedenfalls resultiert schließlich das "doppelte Leiden" (Zimmermann 1995, 510) beider, das dem Zuschauer mit wirkungsästhetischem Anspruch vorgeführt wird. Die Mehrdimensionalität des Stücks verkennt denn auch, wer es als blo­ ßes Hereditätsdrama in der Nachfolge von Ibsens Gespenstern sieht. Zwar setzt Hauptmann in Übereinstimmung mit Fore I die erbgutschädigende Wirkung übertriebenen Alkoholgenusses voraus, doch tangiert dies letztlich nur die Möglichkeit einer Verbindung zwischen Alfred Loth und Helene Krause, nicht aber das Problem der Willensfreiheit. Niemand muss zum Trinker werden, auch wenn die entsprechende genetische Disposition dafür vorhanden ist. So gibt der Arzt Dr. Schimmelpfennig ausdrücklich zu be­ denken, "daß Fälle bekannt sind, wo solche vererbte Übel unterdrückt wor­ den sind", und zwar mithilfe eines entsprechenden Milieus und einer sorg­ fältigen "Erziehung" (88). Des Weiteren weist er darauf hin, dass man "auch einen Trieb niederkämpfen" (85) könne. Helene vertritt im Übrigen die gleiche Meinung: "Nein ! ich sehe nicht ein, wer mich zwingen kann, durchaus schlecht zu werden." (49) Wenn hier Lessings im Nathan geäu­ ßertes Credo: "Niemand muß müssen" anklingt, dann zeigt dies, dass auch Hauptmann durchaus kein streng deterministisches Weltbild vertritt. Zu­ sätzliche Tragik stellt sich gerade dadurch ein, dass die Liebenden ihre Handlungsautonomie beweisen, indem einerseits Loth die Verbindung zu Helene löst und abreist und andererseits Helene den Freitod wählt. Mehrfach hat die Hauptmann-Forschung auf Parallelen zwischen Vor Sonnenaufgang und den Leiden des jungen Werthers hingewiesen, doch er­ weist sich Helene genau betrachtet eben gerade nicht als weibliches Pen­ dant und moderne Wiedergängerin von Goethes Romanfigur, weil sie we­ der das Deutungskonstrukt einer ,Krankheit zum Tode' noch Werthers Selbststilisierungsgestus übernimmt. Anstatt den eigenen Selbstmord detail­ liert zu planen, handelt sie aus dem Affekt heraus. Loth wiederum, der sich von der Gestalt Werthers so vehement distanziert, ist ihm in einem Punkt ähnlicher als er denkt, bezieht er doch ein Gefühl der Stärke aus dem Be­ wusstsein, den eigenen Tod bewusst "in der Hand zu haben": "Man kann sich dadurch über alles mögliche hinwegheben, Vergangenes - und Zu­ künftiges . . . " (69) Mit dieser stolzen Versicherung menschlicher Hand­ lungsautonomie aber vermittelt er der gut pietistisch zu christlicher Demut erzogenen Helene allererst den Gedanken radikaler Selbstbestimmung.

"Tragödie menschlicher Blindheit"

-

Werther-Bezüge

114 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Dramaturgie sich

So osziIIiert der Text beständig zwischen einander sich scheinbar ausschIie­

relativierender

ßenden Positionen: Er schärft einerseits den Blick für die Determiniertheit des

Widersprüche

Menschen durch Vererbung und Milieu, zeigt andererseits zugleich Beispiele freier Willensentscheidungen. Er führt die Dialektik sozialen Reformertums vor, welches das Wohl aller im Auge hat und für einen strikten Altruismus ein­ tritt, dabei aber nächstliegendes Unglück übersieht und von Egoismus durch­ aus nicht frei ist. Er verhandelt ästhetische Konzepte, denen er selbst nicht ent­ spricht. Und er präsentiert psychologisch konsistente, charakterlich jedoch höchst ambivalente Figuren. Dies freilich ist weniger Ausdruck einer "Drama­ turgie der Parteilosigkeit" (Müller-Salget 1974) als vielmehr Merkmal eines poetischen Verfahrens, das Gegensätze zu benennen versucht, auf ihre Schlichtung oder Auflösung aber bewusst verzichtet. Hauptmann stellt durch­ weg "Zwitter" (83) als Figuren auf die Bühne, die widersprüchlichen Hand­ lungsimpulsen folgen, und erzeugt so ein Fluidum beständiger Ironie, ohne je­ doch den Ernst der im Stück erörterten Themen zu relativieren.

Durchbruch des

Literaturgeschichtlich betrachtet markiert Vor Sonnenaufgang indes vor­

Bühnennaturalismus

rangig den Durchbruch des Bühnennaturalismus. Gleichwohl war die Berli­ ner Uraufführung des Stücks, die am 20. Oktober 1889 stattfand, zunächst Anlass eines handfesten Theaterskandals. In jenem Exemplar der zweiten Auflage der Buchausgabe, das er Otto Brahm widmete, spricht Hauptmann denn auch rückblickend von der "Schlacht im Lessing-Theater" (zit. nach Bellmann 1988, 7). Der Aufruhr, den Vor Sonnenaufgang auslöste, bezog sich zwar auf das Stück, gewann allerdings seine eigentliche Dynamik aus dem Umstand, dass das Werk als Musterbeispiel einer neuen Ästhetik ver­ standen wurde. Deshalb veranlasste der "tumultuarische Verlauf" der Pre­ miere auch "zeitgenössische Kritiker zu einem Vergleich mit der großen Schlacht [ . . ], die im Jahre 1830 anlässlich der Premiere von Victor Hugos .

,Hernani' zwischen Klassikern und

Romantikern ausgefochten wurde"

(Bellmann 1988, 7). Ähnlich wie diese einer neuen literarischen Strömung zum Sieg verholfen hatte, verschaffte die umstrittene Aufführung von Vor

Sonnenaufgang dem Naturalismus endgültig Akzeptanz. Wirkung

Die überragende Bedeutung von Hauptmanns Drama für den Naturalis­ mus wurde von den meisten Kollegen umgehend erkannt. Es kann deshalb nicht verwundern, dass das Stück eine Vielzahl von Autoren im Umkreis dieser Bewegung beeinflusste. So hatte Vor Sonnenaufgang, um nur zwei Beispiele zu nennen, direkte Rückwirkungen auf Handlungsführung und Fi­ gurenzeichnung der Familie Selicke und regte indirekt das dramatische Schaffen Eisa Bernsteins an. Daneben rief es mindestens zwei literarische Texte hervor, die dezidiert als Gegenentwürfe verstanden werden müssen. Als eine Art generelle Abrechnung mit den Dramen des ,konsequenten' Na­ turalismus schrieb Conrad Alberti eine "Dramenparodie" (Möbius 1982,

103) mit dem Titel Im Suff. Naturalistische Spitalkatastrophe (1890), und als direkte Kontrafaktur zu Hauptmanns Erstlingsdrama legte ein unbekannter Verfasser, der sich hinter dem Pseudonym Erhart Glaubtmann verbarg, die "Parodie in 1 Act" Nach Sonnenaufgang (1889) vor. Besonders die umstrit­ tene These von der Erblichkeit des Alkoholismus gab den Zeitgenossen An­ lass zu satirischen Kommentaren. Otto Erich Hartleben beispielsweise ver­ fasste einen satirischen Text mit dem Titel Kollege Crampton, VIer Akt, in dem die Figur Max Straehler aus Hauptmanns gleichnamigen Drama nach

5. Gerhart Hauptmann:

dem Besuch einer Aufführung von

Oe WaberiOie Weber 115

Vor Sonnenaufgang erklärt, dass er

Cramptons Tochter Gertrud nicht heiraten könne, weil diese möglicherwei­ se die Alkoholabhängigkeit ihres Vaters geerbt hat. Hauptmann selbst war sich der Bedeutung seines dramatischen Erstlings für seinen Status als Autor wohl bewusst. Es ist deshalb auch als - obgleich von einem Korrektur- und Überbietungsgestus begleiteter - Reverenzakt gegenüber dem eigenen Ju­ gendwerk zu werten, wenn er später daran anknüpfte und mit über vierzig­

Vor Sonnenun­ tergang versah, das im Goethe-Jubiläumsjahr 1932 zur Uraufführung kam.

jährigem Abstand ein Drama mit dem leicht variierten Titel

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1. Akts im Erstdruck von Gerhart Haupt­ Vor Sonnenaufgang(1889).

Abbildung: Bühnenbildskizze zu Beginn des manns Drama

5.

Gerhart Hauptmann: Oe WaberiOie Weber (1892)

Hatte Hauptmann in

Vor Sonnenaufgang zwar den Schauplatz des Stücks

an einem sozialen Brennpunkt - nämlich der schlesischen Kohlebergbauregion - angesiedelt, die Situation der Bergarbeiter selbst aber nur beiher thematisiert, wandte er sich in

Oe Waber/Oie Weber nun direkt den Existenz-

bedingungen des Vierten Standes zu. Brecht bemerkt denn auch über das Stück: "Der Proletarier betritt die Bühne, und er betritt sie als Masse." (Brecht

1968, 207) Hauptmann entsprach damit dem Postulat seines Kolle-

gen Leo Berg aus dem Berliner Naturalistenverein ,Durch!', der program-

vierten Standes, fast kann man sagen: des Arbeiterstandes, sie ist tendenziös und hochpolitisch" (Berg 1892, 129). Schon allein aus diesem Grund verdienen Oe matisch erklärt hatte: "die moderne [Literatur] ist die Muse des

"Soziales Drama"

116 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Der Weber-Stoff

WaberiDie Weber in weit höherem Maß als das so untertitelte Vor Sonnen­ aufgang die Bezeichnung "Soziales Drama". Der Autor greift hier einen Stoff auf, der in der Literatur des 19. Jahrhun­ derts bereits vielfach Gestaltung gefunden hat. Geschichtlicher Hintergrund ist ein konkretes geschichtliches Ereignis: Die durch die zunehmende Me­ chanisierung der Textilindustrie bewirkte extreme Verarmung der technisch rückständigen schlesischen Spinner und Weber endlud sich in den Tagen vom 4. bis zum 6. Juni 1844 in einem regionalen Arbeiteraufstand, in des­ sen Gefolge es u. a. zu Plünderungen, zur Zerstörung von Maschinen und vereinzelt auch zu Gewalt gegen Personen kam. Unmittelbar darauf wurde die Erhebung vom preußischen Militär blutig niedergeschlagen, ohne dass die Ursachen der Armut in der Folgezeit beseitigt worden wären. Dies war der Auslöser für eine wahre "Flut von Weberliteratur und Webermalerei" (Sprengel 1984, 77).

Zeitgeschichtliche

Hauptmanns Stück ist demnach - und das ist reichlich untypisch für den

Komponente

Naturalismus - ein historisches Drama, das eine Begebenheit aufgreift, die immerhin rund ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Allerdings weist es durchaus auch eine zeitgeschichtliche Komponente auf. In den Jahren

1890/91 spitzte sich nämlich die schlechte ökonomische Lage der schlesi­ schen Weber abermals zu. Infolge einer allgemeinen Wirtschaftskrise erlitt das schlesische Leinengewerbe eine Absatzminderung um 27%, so dass die Weber des Eulengebirges im Juni 1890 diesbezüglich sogar eine Petition an den Kaiser richteten. Es kann nicht verwundern, dass sich nun auch die Li­ teratur erneut des Themas annahm. So verfasste etwa Bruno Wi Ile 1891 ein Agitationsstück mit dem Titel Durch Kampf zur Freiheit, das 1891 von der ,Freien Volksbühne' aufgeführt wurde. Hauptmanns "Schauspiel aus den vierziger Jahren" (wie der Untertitel der Weber lautet) ist damit von vornhe­ rein eine Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit zugleich. Der Typus des

Die Frage, ob naturalistische Texte sich außer mit tagesaktuellen Prob­

historischen Dramas

lemen auch mit historischen Themen beschäftigen dürfen und ob es legitim sei, das dargestellte Geschehen aus der Zeitgeschichte herauszurücken und es in frühere Epochen zurückzuverlegen, ist in den ästhetischen Programm­ debatten der achtziger Jahre mehrfach erörtert worden. Auch wenn dieses Problem durchaus kontrovers diskutiert wurde, bildete sich doch bald ein Konsens darüber heraus, dass ein solcher gestalterischer Rückgriff auf ge­ schichtliche Ereignisse grundsätzlich nicht ausgeschlossen sei, dass der Na­ turalismus als künstlerisches Programm aber aktuelle Sujets bevorzuge.

"Experimental­

Letztlich gibt es vielfältige Gründe dafür, weshalb Hauptmann in seinem

drama"

Drama ein historisches Ereignis dargestellt hat und die Handlung nicht in der unmittelbaren Gegenwart spielen ließ. Zunächst darf nicht vergessen werden, dass die zeitgenössische Theaterzensur es untersagte, "Persönlich­ keiten des Tages auf die Bühne zu bringen" (Alberti 1887, 42). So konsta­ tiert Alberti 1887 in aller Offenheit: "Heute streicht die Censur unwei­ gerlich jeden Vers, der nur ein wenig an Politik oder nicht ganz liebsame Vorgänge in der Oeffentlichkeit anklingt". (Alberti 1887, 45) Die Transpo­ nierung des Geschehens in eine nicht weit zurückliegende Vergangenheit diente also fraglos dem Schutz vor sofortigem Zugriff der staatlichen Behör­ den. Gleichwohl ermöglichte der indirekte Bezug auf jüngst vorgefallene Ereignisse eine beständige Diaphanie zwischen Gestern und Heute. In

5. Gerhart Hauptmann: Oe WaberiOie Weber

ästhetischer Hinsicht dürfte freilich der Umstand eine entscheidende Rolle gespielt haben, dass nur durch die temporale Abgeschlossenheit der Hand­ lung eine analytische Struktur entstehen konnte, die es gestattet, die de­ terminierenden Rahmenbedingungen des Geschehens präzise zu bestim­ men. In gewisser Weise löst Hauptmann so die von Zola erhobene For­ derung nach einer experimentellen Versuchsanordnung ein, untersucht er doch die Verhaltensweisen einer Gruppe von Personen unter genau fest­ gelegten historischen Rahmenbedingungen. Zola jedenfalls war davon überzeugt, dass diese "Methode [ . . ] überall, auf dem Theater und sogar in .

der Poesie triumphieren wird" (Zola 1904, 62). Max Halbe hat in diesem Zusammenhang denn auch das Entstehen eines "Experimentaldramas" (Halbe 1889, 1180) prognostiziert. Hauptmann nun führt eine solche Ver­ kettung "kausaler Zusammenhänge" nachgerade modellhaft vor:

"Die

,Ursachen' Ausbeutung, Verelendung, Hunger zeitigen die ,Wirkung' Re­ volte." (Huber 1996,11) Huber hat in diesem Zusammenhang die "forensi­ schen Qualitäten des Dramas" hervorgehoben und darauf aufmerksam ge­ macht, dass "sich die Weber [ . . ] auch als ,Gerichtsspiel' lesen" (Huber .

1996,18) lassen. Voraussetzung für diese vergegenwärtigende Form der Rekonstruktion

Vorabrecherchen

von Geschichte mit literarischen Mitteln war eine genaue Recherche der historischen Ereignisse, der ökonomischen Wirkungsfaktoren und der zutage tretenden sozialpsychologischen Mechanismen. Hauptmann hat diese Arbeit in umfassender Weise geleistet: Er hat zahlreiche zeitgenössische Quellen und rückblickend-summarische Darstellungen zum Thema studiert, und er hat im Frühjahr 1891 zwei "Studienfahrten" (zit. nach Schwab-Felisch 1963, 176) in die Region am Fuß des Eulengebirges unternommen, die Orte des einstigen Geschehens besucht und mit Augenzeugen des Aufstands von 1844 gesprochen. Gestützt auf eine Fülle von "historischen, ökonomischen und psychologischen Informationen sowie die Kenntnis von Lebensart und Lokalkolorit" der dargestellten Personen, also mit "quasi-wissenschaftlichen Grundlagen" hat Hauptmann dann eine fiktionale "Reproduktion der historischen Wirklichkeit" unternommen - in dem Bewusstsein: "Wenn nur die Verweise auf Vergangenes innerhalb der Handlung weitgehend vermieden werden, scheinen die historischen Abläufe ,gegenwärtig' zu sein." (Möbius 1982,110) Neben den eigentlichen Quellen, die der Autor in seinem Stück z. T. sogar wörtlich zitiert, gibt es noch eine Reihe weiterer literarischer Referenztexte. "Als literarisches, die Sozialthematik gestaltendes Vorbild ist Emile Zolas im Bergarbeitermilieu angesiedelter Roman Germinal von 1885 bedeutsam, der auf einer realen Begebenheit aus dem Vorjahr, dem gewaltsam niedergeschlagenen Streik im nordfranzösischen Kohlerevier vor Anzin, basiert." (Huber 1996,5) Das Modell des historischen Dramas mit Ge­ genwartsbezug übernahm Hauptmann dagegen von Dantons Tod, während der Blick auf das geknechtete Individuum sich stark an Woyzeck orientiert.

(1887 hatte Hauptmann im Berliner Naturalistenverein ,Durch!' einen stark beachteten Vortrag über Büchner gehalten.) Eine gewisse Rolle dürfte des Weiteren Grabbe gespielt haben, der seinerzeit mit Napoleon das "erste Massendrama der deutschen Literatur" (Huber 1996, 5) vorgelegt hat. Die

Tatsache, dass Hauptmann sein Stück zuerst in einer stark dialektalen Fas-

Referenztexte

117

118 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke sung niederschrieb - sie trägt den Titel Oe Waber -, verweist im Übrigen wieder auf den Einfluss von Holz und Schlaf. Der Autor selbst hat später bemerkt, er habe "dem Dialekt seine Würde zurückgeben" (Hauptmann

1993, 721) wollen. Er tut dies, indem er die regional geprägte Mundart zum Ausdrucksmedium "tiefsten kreatürlichen Leidens" (Meixner 1961, 145) macht, so dass der Dialekt stärker als in allen anderen Texten zur "Sprache der Geknechteten und Enterbten" (Meixner 1961,144) wird. Tat­ sächlich stellt die Radikalität, mit der hier oraler Dialektgebrauch nachbil­ det wird, alles bisher Dagewesene in den Schatten. Zwei Beispiele aus dem 5. Akt mögen dies illustrieren. Nachdem der von Dorf zu Dorf um­ herziehende Lumpensammler Hornig die Plünderung des Anwesens des Textilfabrikanten Dreißiger miterlebt hat, berichtet er den Vorfall folgender­ maßen: Nee nee, iich soa reene Woahrheet. Se honn a heilich furtgejoat. Gesten oobend iis a no Reechenbach kumma. [ ...] 00 hoan s'a doch ni irscht amool wullt behaaln aus Forcht ver a Wabern - do hoot a doch plutze wider furtgemußt uuf Schweinz nei. [ ...] Geteemliert hoann se'n Fabrikanta sei Haus, un vun Kaller uuf biis uba ruff under de Daachreiter. Aus a Koschbern hoann se'n Porzlan geschmissa - immer ie­ bersch Daach nunder. (BOf.)

In der überarbeiteten Version hört sich das dann so an: Nee, nee, ich sag' reene Wahrheet. Se haben 'n heilig fortgejagt. Gestern abend is a nach Reechenbach kommen. [ ...] Da han s'n doch ni erseht amal wolln behalt'n aus Furcht vor a Webern - da hat er doch plutze wieder fortgemußt uf Schweidnitz nein. [ ...] Gedemoliert haben se'n Fabrikanten sei Haus, unten vom Keller uf bis oben ruf unter de Dachreiter. Aus a Dachfenstern haben se's Porzlan geschmissen immer iebersch Dach nunten. (350f.) Dialektgebrauch

Die Veränderungen tasten also die Semantik nicht an, verändern gleich­ wohl den Eindruck des Ganzen enorm. Manches wird für den nicht aus der Gegend stammenden Leser bzw. Zuschauer erst in der überarbeiteten Fas­ sung verständlich: So werden spezifisch regionale Ausdrücke, die es im Hochdeutschen so nicht gibt, zuweilen regelrecht übersetzt: aus "Kosch­ bern" etwa wird "Dachfenstern". Und auch ursprünglich fremdsprachige Wörter, die dialektal vereinnahmt worden sind, werden durch die Annähe­ rung an das Schriftdeutsch allererst wieder verständlich: Was "geteemliert" bedeutet, wird kaum jemandem außerhalb Schlesiens bekannt sein, das umgangssprachliche "gedemoliert" dagegen lässt den Ursprung des Wortes wieder hervortreten. Diese Eingriffe erzeugen aber nun - wenn man es ge­ nau nimmt - eine neue Kunstsprache, die so nirgendwo praktiziert wird. Manche Wendungen klingen in der überarbeiteten Fassung regelrecht berli­ nerisch, und stellenweise meint man zu hören, dass das raue Schlesisch in ein milderes Sächsisch übergeht. Was sich hier abzeichnet, ist im Grunde ein Zielkonflikt zwischen Realitätsmimesis und Verständlichkeit: Die mög­ lichst genaue Nachbildung einer konkreten, soziologisch aussagekräftigen dialektalen Sprachform mindert stark die Rezipierbarkeit und damit das Wirkungspotential eines Textes, Zugeständnisse an das Gebot intersubjekti­ ver Verständlichkeit bewirken aber, dass die sprachliche Milieuschilderung an Präzision verliert und damit die angestrebte Wiedergabe von ,Natur' un-

5. Gerhart Hauptmann: Oe WaberiOie Weber

genau wird - eine Aporie, deren Unauflösbarkeit die Grenzen des ,konse­ quenten' Naturalismus vor Augen führt. Was Hauptmanns Stück neben dem weit getriebenen Dialektgebrauch in

I iteraturgeschichtlicher Hinsicht besonders auszeichnet, ist der Umstand, dass es keine zentrale Heldengestalt mehr kennt: Der Fabrikant Dreißiger

Verabschiedung der zentralen Heldengestalt

steht ebensowenig im Mittelpunkt der Handlung wie eine bestimmte he­ rausgehobene Person aus dem Webermilieu. Letztlich gilt: "Jeder Akt der

Weber spielt an einem anderen Schauplatz und wird von anderen Figuren beherrscht." (Sprengel 1984,84) Gleichwohl prallen zwei soziale Schich­ ten aufeinander, die im Verhältnis von Herr und Knecht zueinander stehen. Um diesen Gegensatz zu betonen, hat der Autor in der ersten Fassung des Stücks die im 1. Akt auftretenden Figuren sogar auf zwei Personengruppen aufgeteilt; die "Fabrikantengruppe" und die "Webergruppe" (6), wodurch die Individuen einerseits zu größeren sozialen Einheiten zusammengefasst werden und andererseits die Kluft angedeutet wird, die beide voneinander trennt. Die Leistung Hauptmanns besteht also vor allem darin, ein "Drama ohne Helden bzw. mit dem Volk selbst als Helden" (Sprengel 1984, 83) vorgelegt zu haben. Hauptfigur ist - wie es der Titel schon andeutet - die Gruppe der hungernden und schließlich aufbegehrenden webenden Lohn­ arbeiter. Der "Held" dieses Dramas ist ein Kollektiv, welches von Hauptmann jedoch weitge­ hend individualisiert wird und deshalb als eine Summe von Einzelschicksalen er­ scheint. Ihre Gemeinschaft liegt nicht allein in der Teilhabe am selben Milieu, am selben Stand und in der Gleichzeitigkeit begründet, sondern beruht darauf, daß Not, Armut und Hunger einen kreatürlichen Menschentypus prägen, dem jeder einzelne sich zwangsläufig angleicht. (Meixner

1961, 142)

Das Volk nimmt demnach bei Hauptmann eine gänzlich neue Rolle ein und wird von einer "patriotischen" (wie in Schillers Wilhelm Tell) zu einer "soziologischen Kategorie" (Sprengel 1984,83). Ähnlich wie der erste Akt, der in vielfacher Wiederholung vorführt, wie

Summationsprinzip

die Weber ihre Ware beim Fabrikanten abliefern, wie das von ihnen müh­ sam Hergestellte taxiert wird und wie Leute mager entlohnt und ansonsten rüde abgespeist werden, ist übrigens das ganze Drama strukturiert. So wie dort die Abfertigung der wartenden Lohnarbeiter aneinandergereiht ist, so reiht Hauptmann im gesamten Text auch einander analoge Vorfälle zu einer Spannungskurve aneinander. Die "Summation [ ... ] [ähnlicher] Episoden", die "Wiederkehr des Immergleichen, ist das fundamentale Bauprinzip die­ ses Dramas" (Sprengel 1984,83). Dementsprechend hat der Text auch kein festkonturiertes Ende, sondern einen offenen Schluss; es entspricht daher eindeutig der sog. offenen Dramenform. Damit lässt Hauptmann das Struk­ turmuster der Familie Selicke deutlich hinter sich. Während Holz und Schlaf zwar in ihren Prosaexperimenten auf einen geradlinigen Handlungs­ verlauf mit klarem Anfang und eindeutigem Schluss verzichtet haben, fol­ gen sie in ihrem Stück doch zu einem Gutteil noch den üblichen dramati­ schen Gepflogenheiten und lassen beispielsweise den Text an einem mar­ kanten Punkt enden. Hauptmann dagegen splittert die Bühnenhandlung auf verschiedene Schauplätze und einzelne Handlungsstränge auf und verzichtet, obwohl

Aufsplitterung der Handlung

119

120

V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

der historische Ausgang des Geschehens ja feststeht, völlig auf ein markan­ tes Ende. "Die ,Geschichte' wird von [ ...] [ihm] im fünften Akt angehalten, um die Unabgeschlossenheit des Problems [ ...] zu betonen." (Möbius 1982, 116) Er folgt darin erkennbar der Dramaturgie Büchners, der das Prinzip des Stationendramas entwickelt und in Deutschland eingeführt hat. Büch­ ner war es im Übrigen auch, der sich intensiv mit der Frage auseinanderge­ setzt hat, inwieweit sich das Volk auf die Bühne bringen lässt. Sein bekann­ testes Drama, Oantons Tod, thematisiert ganz ähnlich wie Hauptmann ein erst einige Jahrzehnte zurückliegendes Ereignis der Geschichte: die Franzö­ sische Revolution nämlich. Es ist deshalb kein Zufall, wenn die Französi­ sche Revolution als das Urbild eines Volkaufaufstandes zum Bezugspunkt auch des Weberaufstandes wird. So weist der Schmied Wittig mit Blick auf den Verlauf des revolutionären Geschehens in Frankreich auf die Kosten bzw. Folgen eines gewaltsamen Umsturzes hin. Er zieht aus der Geschichte die Lehre, dass eine gütliche Einigung der widerstreitenden Interessen und sozialen Gruppen nicht zu erwarten und auch nicht zu ereichen sei: Wo wär' aso was im guden gangen? Is etwa ei Frankreich im guden gangen? Hat etwa d'r Robspier a Reichen de Patschel gestreechelt? Da hiß bloß: Alle schaff fort! Immer nuf uf de Giljotine! Das muß gehn, allong sangfang. De gebratnen Gänse kommen een ni ins Maul geflog'n.

(329)

"Revolution als

In den einzelnen Akten zeichnet Hauptmann das Entstehen des Aufstandes

Rausch"

nach. Er führt dessen Zustandekommen vor als einerseits unausweichliches Geschehen, das andererseits aber eben doch vom Handeln einzelner Indivi­ duen bestimmt wird. Sobald die Massenbewegung aber einmal eine be­ stimmte Dynamik erreicht hat, verselbständigt sie sich. Die Ambivalenz von blindem Zufall, gezielter Aktion und nachgerade unbeeinflussbarer Notwen­ digkeit fängt Hauptmann ein, indem er die "Revolution als Rausch" (Sprengel

1984,84) zeigt. Die Weber finden zu sich, indem sie außer sich geraten; ihre Revolte stellt "eine Ekstase im genauen Sinn des Wortes" (Sprengel 1984,85) dar, bei der auch der Alkohol eine nicht unwichtige Rolle spielt. Der Aufstand ist demnach "kein Ergebnis von Reflexion im Sinne rationaler Bewußtheit [ ...l, sondern resultiert aus einer emotionalen Erregung, die eher als Ver­ schleierung des Bewußtseins" (Sprengel 1984, S. 85) erscheint. So geht, be­ vor man sich zusammenschließt, die Branntweinflasche um. Das Thema Al­ koholismus wird in Oe WaberiOie Weber aber weniger unter eugenischen Aspekten aufgegriffen, wie noch in Vor Sonnenaufgang; der Alkohol beför­ dert - und indiziert - hier eher einen bestimmten Stand von Enthemmung, von Verlust rationaler Selbstkontrolle, der allererst das vorher Undenkbare möglich macht. Die unabwendbare Verselbständigung der Revolte wird im Stück selbst als Akt der "Tollheet" (S. 76 und 347) problematisiert. Der Chirur­ gus Schmidt benennt die Folgen des zwar in seinen Motiven verständlichen, faktisch aber völlig unkontrollierten Handeins: "Was in drei Teiwels Namen is denn in die Menschen gefahren [ ...]? Wüten da wie'n Rudel Welfe. Machen Revolution, Rebellion; werden renitent, plündern und marodieren ... [ ...] Der reine Weltuntergang. Unheimlich!" (354) Im Vergleich der Aufständi­ schen mit einem "Rudel Welfe" klingt natürlich die durch Thomas Hobbes berühmt gewordene Formel ,homo homini lupus' an, die den Rückfall von der Zivilisation in den Naturzustand benennt.

5. Gerhart Hauptmann: Oe WaberiOie Weber 121 Neben dem Alkohol gibt es aber noch ein weiteres Mittel, ohne das die We-

Das "Weberlied"

ber nicht mobilisierbar gewesen wären: die Literatur nämlich. Ähnlich wie in

Vor Sonnenaufgang führt Hauptmann auch in den Webern einen Aspekt der Wirkung von Dichtung vor. Als nämlich der Soldat Moritz Jäger das Gedicht "Blutgericht", auch "Weberlied" (327, 336, 358) oder "Dreißigerlied" (332) genannt, vorliest, wird die gesamte Zuhörerschaft unmittelbar ergriffen. Hier wird erkennbar, wie groß das wirkungsästhetische Potential sozialer Dichtung sein kann. Im vorliegenden Fall wird sie zum Medium der Mobilisierung der hungernden Massen. Hauptmann hält sich hier übrigens durchaus an die historische Realität, denn es ist verbürgt, dass "das in [insgesamt125 Strophen überlieferte anonyme Gedicht eine bedeutende Rolle bei der Auslösung des Aufstands von 1844" (Sprengel 1984, 85) gespielt hat. Der Autor trägt dem Rechnung, indem er dem "Lied eine zentrale Rolle" im Text einräumt und es "in leitmotivischer Wiederkehr an wichtigen Stellen rezitieren (11) oder auf der Bühne (111) und im Hintergrund (IV, V) singen läßt" (Sprengel 1984, 85). Hauptmanns dramatische Reflexion über das Zustandekommen revolutionärer Prozesse und ihre Legitimation verhandelt also zugleich die Rolle mit, die der Literatur bei der Umgestaltung sozialer Verhältnisse zukommt. Von hier aus erklärt sich auch die Zueignung des Textes an den Vater: Meinem Vater Robert Hauptmann widme ich dieses Drama. [ ...1 Deine Erzählung vom Großvater, der in jungen Jahren, ein armer Weber, wie die Geschilderten hin­ term Webstuhl gesessen, ist der Keim meiner Dichtung geworden, die ob sie nun le­ benskräftig oder morsch im Innern sein mag, doch das Beste ist, was ,ein armer Mann wie Hamlet ist' zu geben hat.

(5)

Hauptmann verknüpft die eigene Familiengeschichte mit dem Schicksal der

Zur Widmung

Weber und signalisiert so seine eigene Betroffenheit. Indem er aber darüber hinaus sich selbst mit der Hauptfigur von Shakespeares Drama Hamlet ver­ gleicht, weist er zugleich auf seine spezifische Art hin, auf soziales Elend zu antworten. Hamlet zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass er "ta­ tenarm und gedankenvoll" (Hölderlin) ist. Und genau dies ist letztlich auch der Reaktionsmodus des Schriftstellers, dessen Aufgabe darin besteht, ge­ nau zu beobachten. Er handelt mithin nicht selbst, sondern entwickelt al­ lenfalls literarische Reflexionsmodelle, wie gegebenenfalls zu handeln wäre. Indem er dies tut, erweist er sich freilich als sozial verantwortliche Persönlichkeit. Ähnlich wie Vor Sonnenaufgang polarisierten auch die "Weber" die Zeit­ genossen stark. So wurde die auf den 3. März 1892 angesetzte Urauffüh­ rung der Dialektfassung Oe Waber im Deutschen Theater Berlin polizeilich untersagt, weil man dadurch die öffentliche Ordnung in Gefahr sah. In der Begründung des Verbots ist zu lesen: Es steht zu befürchten, daß die kraftvollen Schilderungen des Dramas, die zweifellos durch die schauspielerische Darstellung erheblich an Leben und Eindruck gewinnen würden, in der Tagespresse mit Enthusiasmus besprochen, einen Anziehungspunkt für den zu Demonstrationen geneigten sozialdemokratischen Theil der Bevölkerung Berlins bieten würden, für deren Lehren und Klagen über die Unterdrückung und Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten das Stück durch seine einseitige tendenziöse Charakterisierung hervorragende Propaganda macht. (Zit. nach Brau­ neck 1974,

51)

Aufführungs­ geschichte

122

V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Der Text konnte deshalb zunächst nur in gedruckter Form erscheinen. In der Folgezeit erarbeitete Hauptmann eine zweite Fassung seines Dramas,

Oie Weber, in der er die Mundartpartien, die den Großteil der Dialoge ein­ nehmen, abschwächte und sie in ein dialektal gefärbtes Bühnendeutsch transformierte, das von einem größeren Publikum verstanden werden konn­ te. Auch diese Version erschien im Lauf des jahres

1892 als Buchausgabe.

Die Vorbehalte der Öffentlichkeit gegen den Text wurden dadurch freilich nicht schwächer. So vertrat der Publizist Theophil Zolling die Ansicht: "Die Weber sind das gefährlichste und aufreizendste Schauspiel, das je in deut­ scher Sprache gedichtet worden ist. Hinter sieben Türen und sieben Schlös­ sern müßte es eine besonnene und staatskluge Censur verwahren." (Zit. nach jaron/Möhrmann/Müller

1986, 257)

Ein knappes jahr nach dem Aufführungsverbot wagte das Deutsche Thea­ ter dann mit der zweiten Fassung einen erneuten Vorstoß, das Drama auf

4. januar 1893 geplant war, wurde von den Behörden untersagt. Darauf wurde kur­

die Bühne zu bringen. Doch auch diese Aufführung, die für den

zerhand der Verein ,Freie Bühne', der seine Aktivitäten weitgehend einge­ stellt hatte, wiederbelebt, und das Stück wurde am

26. Februar in einer ge­

schlossenen Veranstaltung erstmals gegeben. Zugleich legten Autor und Theaterleitung gegen das Verbot Beschwerde ein. Hauptmanns Anwalt be­

We­ bern eine socialdemokratische Parteischrift zu verfassen [ . . ]; nur die christ­

teuerte, dass es seinem Mandanten "völlig ferngelegen habe, mit den .

liche und allgemein menschliche Empfindung, die man Mitleid nennt, habe ihn sein Drama schaffen" (zit. nach Brauneck

1974, 57) lassen. Au­

ßerdem wies die Direktion darauf hin, daß das Deutsche Theater "vorwie­ gend nur von Mitgliedern derjenigen Gesellschaftskreise besucht wird, die nicht zu Gewaltthätigkeiten oder anderweitiger Störung der öffentlichen Ordnung geneigt sind" (zit. nach Praschek

1957, 277). Der Grund dafür

sei, dass "die Plätze im Allgemeinen" für Angehörige unterer Gesellschafts­ schichten zu "theuer und [ . . ] die Zahl der weniger theueren Plätze verhält­ .

nißmäßig [ . . ] gering" (zit. nach Praschek .

1957, 277) seien. Mit dieser Ar­ 2. Oktober

gumentation hatte man Erfolg; das Stück wurde schließlich am

1893 vom Preußischen Oberverwaltungsgericht zur Aufführung am Deut­ schen Theater freigegeben. Nach dem Urteil gestattete Hauptmann umge­ hend auch den Theatervereinen ,Freie Volksbühne' und ,Neue Freie Volks­

Oie Weber am 15. Oktober und am 3. 1893 gespielt. Da der Zulauf zu diesen geschlossenen Inszenie­ rungen enorm war, hatten bereits mehr als 1000 Arbeiter das Stück besucht, bevor es am 25. September 1894 dann erstmals im Deutschen Theater zu bühne' die Aufführung; dort wurden

Dezember

sehen war. Auf Grund der Vorgeschichte hatte diese erste öffentliche Auf­ führung natürlich Sensationswert. Und tatsächlich reagierte das Publikum begeistert auf Hauptmanns Drama. Der deutsche Kaiser Wilhelm 11. freilich kündigte darauf aus Protest seine Loge.

6. Max Halbe: Eisgang (1892) Anregerfunktion von

Ähnlich wie Gerhart Hauptmann ist auch Max Halbe in seinem dramati­

Holz und Schlaf

schen Schaffen anfangs stark von Arno Holz und johannes Schlaf beein-

6. Max Halbe: Eisgang

flusst worden. So weist er in seinen Lebenserinnerungen selbst darauf hin, dass auf ihn die Textsammlung Papa Hamtet "namentlich im Handwerkli­ chen, im Technischen, im Formalen des dramatischen Dialogs, revolutio­ nierend gewirkt" (Halbe 1940, 360) habe. Über sein Stück Freie Liebe (1890) äußert er gar: "Die Technik fußte auf der von Papa Hamtet übernom­ menden Formel möglichster Wirklichkeitsnähe" (Halbe 1940, 367). Die von Holz und Schlaf im Bereich der Erzählprosa entwickelte und von Hauptmann dann auf das Drama übertragene Darstellungsart der minutiö­ sen Nachbildung mündlicher Rede findet sich auch in Halbes "modernem Schauspiel in vier Aufzügen" Eisgang, in dem der ostpreußische Dialekt zu­ mindest passagenweise ähnlich stark zum Einsatz kommt wie die schlesi­ sche Mundart in Oe Waber. Die Handlung des Stücks ist auf einem nahe der "untern Weichsel" (101) gelegenen Landgut angesiedelt. Da die Mechanisierung der Agrarwirtschaft auch diese Region mittlerweile erfasst hat, kommt es zu zunehmenden sozialen Spannungen zwischen den Grundbesitzern und den Landarbeitern. Erstere erwirtschaften durch die zunehmende Anbieterkonkurrenz auf dem Markt und die durch die Industrialisierung fallenden Erzeugerpreise immer weniger Gewinn, bei letzteren lockert sich wegen des niedrigen Verdienstes die Bindung an die heimatliche Scholle. Viele Knechte versprechen sich deshalb andernorts bessere Arbeitsbedingungen. Das staatlicherseits betriebene Vorhaben einer Kanalisierung der Weichsel, das die Region künftig vor weiteren Überschwemmungen bewahren und damit die Ernten stabilisieren soll, treibt die Auflösung der alten ständischen Ordnung weiter voran, weil es zusätzlich Arbeiter von der Landwirtschaft abzieht. In diese Situation des ökonomischen und sozialen Umbruchs unvermittelt hineingestellt ist Hugo, der Sohn des Gutsbesitzers Eduard Tetzlaff, der sein Studium der Mathematik abgebrochen hat, um seinem durch den frühen Tod der Ehefrau und angesichts der steigenden Unzufriedenheit der Landarbeiter handlungsunfähig gewordenen Vater beizustehen und den elterlichen Betrieb aufrecht zu erhalten. Im Gegensatz zu Vor Sonnenaufgang, wo die "soziale Desorientierung" (Elm 2004, 157) und moralische Verwahrlosung thematisiert werden, die sich durch plötzlichen Reichtum im ländlichen Raum ergeben, führt Eis­ gang den durch die zunehmende Industrialisierung bewirkten Niedergang des traditionellen Sozialgefüges im Bereich der Landwirtschaft vor. Gleichwohl ähnelt der Protagonist von Halbes Drama in manchem der Figur des Alfred Loth in Hauptmanns Stück. Wie dieser ist auch Hugo Tetzlaff ein idealistischer junger Mann, der einen klaren Blick für die sozialen Ungerechtigkeiten seiner Zeit hat, und wie dieser möchte auch er gesellschaftliche Reformen im Sinne der Sozialdemokratie einleiten. Vorübergehend spielt er sogar mit dem Gedanken, sich politisch zu betätigen und so direkt für das "Volk" (107) zu wirken. Anders als Loth aber ist Hugo Tetzlaff nicht ungebunden, sondern sieht sich seiner Familie verpflichtet, was einen Lebensentwurf, der seinen "Idealen" (107) entspricht, unmöglich macht. Außerdem gehört er nicht zur Schicht der besitzlosen Intelligenz, sondern ist selbst (Groß-)Grundbesitzer. Dadurch gerät er in ein unauflösliches Span­ nungsverhältnis, erkennt er doch, dass die ökonomische Entwicklung zu einer Umschichtung der bisherigen Macht- und Eigentumsverhältnisse füh-

Inhaltsangabe

Charakterprofil des Protagonisten

123

124 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke ren und auf absehbare Zeit seine eigene Position untergraben wird. Seine Art, mit dieser Diskrepanz umzugehen, besteht darin, das seiner Ansicht nach Unausweichliche zu bejahen. Als Schwahn, der erste Knecht der Tetz­ laffs, nach 23-jährigem Dienst das Gut verlässt, entspinnt sich folgender Dialog zwischen Hugo und seiner Schwester Grethe:

Crethe setzt sich zu Hugo ans Fenster: Ich kann mir gar nicht denken, daß Schwahn wirklich geht. Was ihm nur in den Kopf gefahren ist. Er hat doch wie zur Familie ge­ hört. [ ...] So ins Blaue sein sicheres Brot aufzugeben ... Nach Amerika ...!

Hugo: Der Mann will keines anderen Mannes Knecht mehr sein. Der Mann hat

recht!

Crethe: Ja! aber was soll dann werden? Wer soll dann arbeiten? Das muß doch zum vollständigen Ruin für uns führen.

Hugo triumphierend: Für uns! Siehst du? Da haben wir's! Das ist der Punkt! Weißt jetzt, mein Schwesterchen, warum unsere Situation unhaltbar ist? [ ...] Machen

du

wir uns keine Illusionen! Unsre Sache steht absolut hoffnungslos. Wir werden zer­ malmt werden ... und das wollen wir auch Hugo Tetzlaff als tragikomische Figur

wünschen. (121 f.)

Auf diese Weise freilich wird Hugo Tetzlaff zur tragikomischen Figur. In der Rolle erst des Grundbesitzersohnes und Erben, nach dem Tod des Vaters dann des verschuldeten Grundbesitzers sieht er sich dazu genötigt, seine egalitären "Ideale" zu verleugnen und "gegen" (122) seine Überzeugungen zu handeln. Obwohl er ihre Existenzbedingungen zu verbessern sucht, muss er, um das väterliche Gut zu erhalten, seine Arbeiter doch weiterhin ausbeuten. Er verfährt zwar mi Ider als andere Grundbesitzer, perpetuiert aber die bestehende Kluft zwischen Herr und Knecht. Der Zwiespalt vertieft sich noch, da er von Schuldgefühlen getrieben ist und sich aufgerufen fühlt, durch seine praktische T ätigkeit die "Sünden der Vergangenheit" (111 und 174) zu sühnen und die von den eigenen Vorfahren einst betriebene "Knechtung" (171) der Leibeigenen wieder "gutzumachen" (108). Weil sich dies aber in seiner gegenwärtigen Situation nicht leisten lässt, verfällt Hugo Tetzlaff in Melancholie und Selbstironie.

Kluft zwischen

In seiner "Mischung von Sarkasmus und Phlegma" (100) ähnelt er dem be­

Theorie und Praxis

rühmtesten Zauderer der Literaturgeschichte. Halbe hat denn auch im Vor­ wort zu einer späteren Ausgabe seines Dramas den Protagonisten als "guts­ höfischen Hamlet von naturalistischem Kleiderschnitt" (Halbe 1917-23, Bd. 3, 9) charakterisiert. Der Hinweis auf die Figur des Hamlet zielt dabei in zwei Richtungen: Zum einen wird die latente Todessehnsucht von Shake­ speares Dänenprinz aufgegriffen, der gleichfalls von den Untaten seiner Vor­ fahren umgetrieben wird, zum anderen stellt die Kläglichkeit, mit der Hugo Tetzlaff an der Kluft zwischen Theorie und Praxis scheitert, einen Bezug zu Holz'/Schlafs Papa Hamtet her. Es ist indes nicht nur eine individuelle Cha­ raktereigentümlichkeit, welche die Zentralgestalt von Halbes Stück zu einem zeitgenössischen Hamlet macht. Die als quälend empfundene Verschrän­ kung von sozialem Veränderungsbestreben und gleichzeitiger Handlungs­ hemmung resultiert nämlich auch aus der hochgradig widersprüchlichen Si­ tuation des modernen Subjeks. Die Wissenschaft hat dem Menschen ein Ins­ trumentarium in die Hand gegeben, mit dem er die eigene Situation präzise erkennen kann, ihre theoretischen Prämissen machen aber jede Hoffnung auf eine dauerhafte Verbesserung des gegenwärtigen Elends wieder zunich-

6. Max Halbe: Eisgang 125

te. Hugo Tetzlaff wird genau von diesem Widerspruch zerrieben. Als akade­ misch Gebildeter teilt er völlig selbstverständlich das deterministische Welt­ bild der zeitgenössischen Naturwissenschaft; mit Nachdruck erklärt er des­ halb seiner Schwester: "Die Menschen haben keinen freien Willen". (106) Im Gegensatz zu dem alten Tetzlaff ist der junge [ ...] ein Kind der Blütezeit wissen­ schaftlich-technisch-industriellen Fortschritts am Ende des

19. Jahrhunderts, hinläng­

Iich in materialistischer Weltanschauung ausgebi Idet, um die Vergeblichkeit mensch­ lichen Wollens in einer Welt zu legitimieren, die eine vom Handeln der Menschen unabhängige prozessuale Eigengesetztlichkeit entfaltet. (Kaleher

1980, 84)

Zugleich möchte Tetzlaff aber als Sozialreformer wirken, was freilich vo­

Gegensatz von

raussetzt, dass jedes Individuum einen Gestaltungspielraum hat. Der stän­

Determinismus und

dig neu genährte Zweifel daran untergräbt nach und nach seinen Hand­

Reformbestreben

lungsantrieb und lässt ihn zu einer gespaltenen Persönlichkeit werden. Da er sich schließlich als "einen Eingemauerten" (139) sieht, kommt bei ihm die ohnehin latent vorhandene "Familienschwermut" (100) zum Ausbruch, die in letzter Konsequenz auch zu seinem Tod führt. Als es nämlich bei einem winterlichen Eisgang der Weichsel zu einer lokalen Stauung der Eis­ schollen kommt, wodurch die Gefahr besteht, dass der Fluss über die Dei­ che tritt und sich ein neues Bett sucht, reitet Tetzlaff zu der betreffenden Stelle und stürzt sich mitsamt seinem Pferd in die Fluten. Obwohl es an­ fangs den Anschein hat, damit sei die Gefahr gebannt, weil der Pegelstand sinkt, stellt sich sehr bald heraus, dass die Weichsel bereits an einer ande­ ren Stelle den Damm überspült und auf diese Weise die kurz vor der Um­ setzung befindlichen Kanalisierungsmaßnahmen zunichte gemacht hat. Das heroische Selbstopfer des Protagonisten - in der Motivik greift Halbe übrigens frühere literarische Gestaltungen einer solchen Naturkatastrophe auf - erweist sich am Ende als sinnlos. Halbes Stück ist damit weniger ein soziales Drama und schon gar nicht

Abschwächung des

eine Art "Vorspiel zu den Webern" (Müller/Schlien 1962, 21), dessen Ende

Hereditätsdiskurses

den "Ausbruch der sozialistischen Revolution" (Hamann/Hermand 1959,

273) vorwegnimmt, sondern ein Stück, das zentrale Ideologeme der natura­ listischen Bewegung verhandelt. Das deterministische Dogma beispielsweise wird nicht nur durch den zwar ökonomisch motivierten, aber letztlich aus freien Stücken erfolgten Fortgang einzelner Arbeiter in Frage gestellt, auch Hugo Tetzlaffs spektakuläre Selbstaufgabe entspringt - wenn man sie nicht als zwingende Folge eines familiären Erbübels oder als bloßen Unfall deuten wi11- einem Akt bewusster Wiliensentscheidung. Halbe greift demnach zwar den Hereditätsdiskurs seiner Vorbilder und Kollegen auf, schwächt ihn aber merklich ab. Anders als Zola zeigt er den einzelnen nicht als Sklaven seiner Erbanlagen. Der Hang zur Schwermut, der sich bei allen Mitgliedern der Tetz­ laffs zeigt, wird zwar durchaus als von Generation zu Generation weitergege­ benes Charaktermerkmal betont, aber unter Anspielung auf aktuelle medizi­ nische Debatten zugleich von Hugo selbst sarkastisch als "Fall von Rassende­ generation" (172) ironisiert. "It is this tendency to invoke a determinist hypothesis, while at the same time challenging its deepest assumptions which is above all characteristic of Eisgang". (Mclnnes 1976, S. 171) Überhaupt scheint es Halbe darum zu gehen, konkurrierende WeIterklä­ rungsmuster im Text gegeneinander in Position zu bringen. So stellt er bei-

Konkurrierende Weltdeutungsmuster

126 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke spielsweise dem desillusionierten Hugo Tetzlaff, der sich in seiner fatalisti­ schen "Schwarzseherei" (170) wohlig eingerichtet hat, als "Kontrastfigur" (Kalcher 1980, 89) den optimistischen jungen Arzt Doktor Lange, der an die Wirkungsmacht der Wissenschaft glaubt, an die Seite. (Diese figurale Konstellation erinnert übrigens an das Modell Alfred Loth/Dr. Schimmel­ pfennig in Vor Sonnenaufgang.) Lange jedenfalls geht davon aus, dass viele körperliche Leiden als Produkte von "Einbildung" und "krankhafter Über­ reizung" (172) angesehen werden müssten, und folgert, dass sie deshalb prinzipiell kurierbar seien. Optimismus wird also mit Pessimismus kon­ frontiert, Wissenschaftsgläubigkeit mit genereller Lebensskepsis. Letztlich wohnt der Zwiespalt aber in Hugo Tetzlaff selbst. In seinem Studium hat er gelernt, die Dinge logisch zu begreifen. In dem Appell: "Seien wir Mathe­ matiker" (106), "seien wir vernünftig" (159) kommt jedenfalls überdeutlich seine am wissenschaftlichen Ideal der Objektivität orientierte, auf das Er­ kennen von Gesetzmäßigkeiten ausgerichtete Weitsicht zum Ausdruck. Al­ lerdings muss er an sich selbst erfahren, dass sich viele Aspekte der Wirk­ lichkeit nicht ,more geometrico' behandeln lassen. Auch wenn er es an­ fangs nicht wahrhaben will, verspürt er - genau wie seine Schwester -, die unheimliche, lähmend wirkende Atmosphäre des elterlichen Hauses. Be­ zeichnenderweise konstatiert Grethe mit deutlichem Bezug auf Ibsens Dra­ ma Gespenster, das sich ja gleichfalls um die Verfehlungen der Vorfahren und das Fortwirken der Vergangenheit auf die Gegenwart dreht: "hier ge­ hen die Geister bei hellem Tag spazieren" (137). Die Grenzen der

Schon der intertextuelle Verweis auf Ibsen zeigt an, dass in Eisgang ge­

Rationalität

wisse Phänomene begegnen, die rational kaum erfasst werden können. So deutet der Kuhhirte Siech das eine ganze Nacht lang andauernde Geheul seines Hundes Box als Signal, dass bald ein Mensch sterben wird - was dann auch tatsächlich geschieht. Im instinktgeleiteten Handeln der Kreatur kommt demnach eine Vorahnung zum Ausdruck, die mit wissenschaftli­ chen Mitteln nicht erklärbar ist. Überhaupt treten anscheinend immer dann, wenn rationale Begründungen versagen, andere, vorwissenschaftli­ che Deutungsmuster erneut in Kraft. Am klarsten greifbar wird dies bei der im vierten Akt erzählten, an Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter

(1888) - die ihrerseits auf eine Erzählung mit dem Titel Der gespenstige Reiter bzw. Der Deichgeschworene zu Güttland (1838) rekurriert - ange­ lehnten "Sage vom Deichhauptmann" (166). Diese dreht sich darum, dass "vor Jahrhunderten" (166) einmal "der damalige Deichhauptmann in einer Wachtbude gesessen, Karten gespielt und darüber die Eiswacht vergessen habe" und danach bei seinem verspäteteten Kontrollritt vom Strom "mit­ samt seinem Schimmel verschlungen" worden sei: "Beide jedoch sollen bis heute noch leben, und wenn irgendwo beim Eisgang ein Durchbruch be­

vorsteht, so soll der Deichhauptmann auf seinem [ . . ] Schimmel in der Ge­ .

gend vorbeireiten und den Durchbruch anzeigen." (167) Der Umstand, dass zum Zeitpunkt des gegenwärtigen Wasserhöchststandes Augenzeugen den "alten Herrn Tetzlaf{" (168) auf seinem Pferd vorbeireiten zu sehen meinen, wirft die Frage nach Reichweite und Geltungskraft der exakten Wissenschaft auf. Natürlich könnte die Erscheinung als Sinnestäuschung abgetan werden, da ja der seinem Vater physiognomisch ähnliche junge Tetzlaff in der Tat auf dem Damm unterwegs ist, doch beantwortet auch

6. Max Halbe: Eisgang

dies nicht alle Fragen. Zumindest bleibt es in der Schwebe, ob hier Imagi­ nation und Kolportagebereitschaft am Werk sind oder ob Hugo möglicher­ weise ein literarisch vermitteltes Vorbild imitiert. In jedem Fall öffnet sich ein Verstehensvakuum, in das Phantasie und - vermeintlicher - "Aberglau­ be" (168) einströmen. Indem aber solche Erklärungsmuster ausdrücklich als "Auffassung des Volkes" (167) bezeichnet werden, erfahren sie eine prinzi­ pielle Legitimierung. Im Zeichen der vom Naturalismus betriebenen Auf­ wertung der unteren Stände findet so eine Relativierung des vom ihm pro­ pagierten Wissenschaftsethos statt. Deshalb kann auch die Gestalt des alles in allem sehr positiv gezeichne­

Natur als all­

ten Doktor Lange, der wie ein Gegenbild zu Dr. Schimmelpfennig wirkt,

umfassendes

nicht einfach als Vorbildfigur angesehen werden. Dazu ist sein Optimismus zu ungebrochen; widerlegt wird das von ihm an den Tag gelegte ostentative

dynamisch-vitales Wirkprinzip

Vertrauen in die Zukunft im Übrigen durch Hugo Tetzlaff, bei dem seine ärztliche Kunst letztlich nichts auszurichten vermag. Zwar verfügt Lange, was medizinische Belange angeht, durchaus über gewisse prognostische Fähigkeiten, doch sieht er den Tod Eduard Tetzlaffs eben nicht voraus. Dies bleibt dem Hund Box vorbehalten, von dem sein Herr behauptet: "Dä weht mehr, ass alle Doktors topnohme!" (125) Mit der Infragestellung der Gel­ tungskraft der exakten Wissenschaft aber geraten die Grenzen des naturalis­ tischen Programms einer "Szientifizierung der Kunst" (Borchmeyer 1980,

166) insgesamt in den Blick. Immerhin bietet hier die ab 1890 verstärkt zu bemerkende, u. a. auf Erich Haeckel zurückgehende monistische Erweite­ rung des Naturbegriffs einen Ausweg, die das Konzept eines geschlossenen, determinierten Kausalzusammenhangs hinter sich lässt und - zusätzlich an­ geregt von Nietzsches Lebensphilosophie - Natur positiv als allumfassen­ des dynamisch-vitales Wirkprinzip deutet. Auf diese Weise kann Wissen­ schaft dann zum "Glauben" und so zum "Religions"-Ersatz (172) werden. Bei Doktor Lange zeichnet sich diese Neuakzentuierung schon ab. Damit eröffnet sich die Möglichkeit zu einer Überwindung der an Hugo exempli­ fizierten, epistemologisch induzierten Zerrissenheit. In einer den darwin­ schen Entwicklungsgedanken monistisch verallgemeinernden Sichtweise nämlich reduziert sich der Tod zur "reinen Formveränderung" (164). Wenn tatsächlich gesichert ist, dass "kein Atom [ . . ] verloren" geht, lässt sich .

schließlich sogar eine Art von "wissenschaftlichem" "Jenseits" (135) be­ gründen. Indem Halbe in seinem "modernen Schauspiel" das Naturver­ ständnis über die vom Positivismus gezogenen Grenzen hinaus erweitert und Raum für das Mystische schafft, öffnet er auch die Konzeption des Na­ turalismus für zusätzliche Darstellungsbereiche. Offenbleibt indes, wie Hugo Tetzlaffs Tod zu deuten ist: als resignative Aufgabe oder als konse­ quente Umsetzung des von ihm betriebenen Kampfes für die Unterprivile­ gierten, als symbolisches Zerdrücktwerden von den gesellschaftlichen An­ tagonismen oder als vorbildhaftes Opfer für das Gemeinwesen, als Eintau­ chen in die Fluten einer monistisch gedachten All-Natur oder als klägliches Eingeständnis des Scheiterns eines Idealisten. Die Zeitgenossen haben Eisgang überwiegend als ,soziales Drama' rezi­ piert. Dies hängt u. a. damit zusammen, dass die Uraufführung, die am 7. Februar 1892 stattfand, von der ,Freien Volksbühne' veranstaltet wurde. Beim "Arbeiterpublikum" jedenfalls fand das Stück nachweislich "lebhaften

Soziales Drama

127

128 V. Einzelanalysen repräsentativer Werke Beifall" (Mehring 1929, Bd.2, 203). Doch auch die Thematik des Textes, der kurz darauf auch in der ,Freien Bühne' und dann als Buchausgabe er­ schien, war natürlich dazu angetan, unmittelbare Bezüge zur gesellschaft­ lichen Wirklichkeit herzustellen. Max Halbe selbst bekundete später, seine Absicht sei gewesen, die "agrarisch soziale Frage" (Halbe 1917-23, Bd.3, 9) in den Mittelpunkt seines Dramas zu stellen. Des weiteren trug der Um­ stand, dass der Autor Angehörige des vierten Standes auf die Bühne brach­ te, dazu bei, dass das Stück Aufsehen erregte. Besonders von Vertretern der sozialdemokratischen Partei wurden die darin vorkommenden westpreußi­ schen Landarbeiter als "Träger des für eine wahrhaft menschliche Kultur entscheidendsten Emanzipationskampfes" (Mehring 1929, Bd.2, 203) ge­ wertet. Aber selbst in späterer Zeit noch zählten manche Forscher Eisgang zu den "wenigen gehaltvollen Beispielen der sozialistischen Literatur dieser Jahre" (Hamann/Hermand 1959, 273). Dies geschah freilich um den P reis, dass die monistischen Tendenzen des Textes übersehen wurden. Interessan­ terweise hat Halbe selbst einer politisch verkürzten Deutung Vorschub ge­ leistet, indem er erklärte: Dieser verheerende Eisgang ist natürlich nicht als ein zufälliges, äußerliches, bedeu­ tungsloses Ereignis aufzufassen. [ ...] Die Verwüstungen, welche der Strom anrichtet, sind die Ergebnisse derselben Verwahrlosung, die sich im Volke bereits so grausig und schier unheilbar bekundet hat. (Zit. nach Mehring

1929, Bd. 2, 202)

Erst eine solche, den titelgebenden Naturvorgang allegorisch aufladende Deutung machte es möglich, "den Eisgang als Symbol einer sich anbahnen­ den proletarischen Revolution zu verstehen" (Kalcher 1980, 122). Dass die Weichsel im Stück letztlich aber weit eher als "Symbol des vitalen, nicht festzustellenden, sich seine eigene Bahn brechenden Lebens" (Kalcher 1980, 122) fungiert, zeigt unmissverständlich Halbes späteres Drama Der Strom (1904), in dem der Fluss ganz in monistischem Sinn personifiziert

und mythisiert wird.

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und gelangt deshalb über den Status einer - freilich

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(Sprachlich zuweilen lax-saloppe und in inhalt­ lichen Details präzisierungsbedürftige Gesamt­ darstellung, die gleichwohl heute noch eines der maßgeblichen

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zum

Thema

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1961. (In ihrer

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nicht

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Personenregi ster (Autoren von Sekundärliteratur kursiv und ohne Angaben von Lebensdaten) Ackermann, Walter 43

Adler, Friedrich(1857-1938) 84,88 Alberti, Conrad(1862-1918) 18,19,25,26,40,41 49,50,55,59,61,74,114,116

Bölsche,Wilhelm(1861-1939) 18,25,50,55,56, 59,62,68 Börne, Ludwig (1786-1837) 41 Bogdal, Klaus-Michael 14,48

Alexis,Willibald(1797-1871) 41

Bohne,johannes 84

Angel, Pierre 14

Bolterauet; Alice 59

Antoine,Andn§(1858-1943) 51,52

Borchmeyet; Dieter 26,127

Anzengruber, Ludwig(1839-1889) 44,53,56,57, 112 Arent, Wilhelm(1864 - nach 1911) 14,18,19,39, 40,48,49,51,73,87,89 Aristoteles (384-322 v. Chr.) 27,104,112,113

Borsdorff, Paul (1846-1916) 43 Boy-Ed, Ida von(1852-1928) 81 Brahm, Otto(1856-1912) 23,33,36,43,52,53, 55,56,58,111,114 Brandes, Georg (1842-1927) 33

Arnim, Bettine von(1785-1859) 41,96

Brands, Heinz-Georg 14

Arnold, Robert F. 109

Brauneck, Manfred 14

L' Arr onge,Adolphe(1838-1908) 43

Brecht, Bertolt (1898-1956) 77,115

Augier, Emile(1820-1889) 18

Breden, Christine von(1844-1901) 81

Augspurg, Anita(1857-1943) 78

Briesen, Detlef 42

Bab,julius(1880-1955) 109

Büchner,Georg(1813-1837) 41,96,112,117,

Buckle, Henry Thomas(1821-1862) 22,23 Bänsch, Dieter 81

Bäumer,Gertrud(1873-1954) 78

120 Bul/ivant, Keith 87

Bahr, Hermann (1863-1934) 11,55,90,107

Bunzel, Wolfgang 49

Bebei,August (1840-1913) 78

Bums, Robert A. 14

Beetschen, Alfred 89 Bel/mann, Werner 108,109,113,114

Cauer, Minna(1841-1922) 78

Benzmann, Hans 84

Chung, Hyun-Back 57

Berg, Leo(1862-1908) 14,41,44,49,50,55,63,

Comte,Auguste(1798-1857) 21-24

71,74,89,115 Berliner, Emil(1851-1929) 26 Bernard, Claude(1813-1878) 22,28,31 Bernhardt, Rüdiger 14,33,35,36

Bernstein, Eisa(1866-1949) 30,34,63,65,70,80, 81,108,114 Berthold, Lothar 73

Conrad, Michael Georg (1846-1927) 10,12,18,19, 36,45-49,54,55,60,61,73-75,79,80 Conradi, Hermann (1862-1890) 18,19,33,39,46, 48,49,51,59,61,72-74,81,84,88 Conwentz(von Dyckowska),Anna(1858 - nach 1904) 81 Coupe, Wil/iam Arthur 112

Berthold, Siegwart 14,37,103

Cowen, Roy C. 14,65,99,100,109

Bierbaum, Otto julius(1865-1910) 54

Croissant-Rust, Anna(1860-1943) 55,82

Bismarck, Otto von(1815-1898) 19,42 Bj0rnson, Bj0rnsterne(1832-1910) 37,97

Daguerre, Louis(1787-1851) 26

Bleibtreu, Karl (1859-1928) 19,25,28,39-41,48,

Dahn, Felix(1834-1912) 111

49,51,54,55,61,84,89,90,97 Bleich, Erich Herbert 34,69,70

Darwin, CharIes(1809-1882) 24,25,85 Daudet,Alphonse(1840-1897) 96

Blos,Wilhelm(1849-1927) 73

Delbrück, Hansgerd 112

Blumenthai, Oskar (1852-1917) 74

Diehl, Ernst 73

Bodenstedt, Friedrich(1819-1892) 8

Dostojevski, Fjodor (1821-1881) 37

Böcklin,Arnold(1827-1901) 75

Dumas d. j., Alexandre (1824-1895) 18

Böhlau, Helene(1856-1940) 81

Duncker, Dora (1855-1916) 81

142 Per sonenr egister Eastman, George(1854-1932) 26

Hebbel, Friedrich(1813-1863) 112

Ebner-Eschenbach, Marie von(1830-1916) 8

Heine,Heinrich(1797-1856) 12,38,41,84,85,

Edison,Thomas Alva(1847-1931) 26

89,96

f/m, Theo 111,123

Helmes, Günter 14,15

Ernst, Paul(1866-1933) 72

Henckell, Kar l(1864-1929) 46,49,51,56,72,74,

Ettlinger,Josef(1869-1912) 57

77,84,86-90,102

Hermand, lost 43,108,125,128 Fähnders, Walter 20

Hermann, Klaus 11

Fischer, Samuel(1859-1934) 53

Herw egh,Geor g(1817-1875) 41,89

Fohrmann, jürgen 84

Heuser, Frederick W j. 37

Fontane,Theodor (1819-1898) 7,8,55,63,106

Heyse, Paul(1830-1914) 8

Forel, Auguste(1848-1931) 109,113

Hille, Peter(1854-1904) 79

Frenzel, Herbert A. 81

Hillebrand,Julius 60,106

Fr eiligrath, Ferdinand(1810-1876) 89

Hirsch, Franz (1844-1920) 40

Freytag, Gustav(1816-1895) 8

Hirschfeld,Georg(1873-1942) 53,80

Fritsche, Paul(1863-1888) 18,51

Hobbes,Thomas(1588-1679) 120

Fulda, Ludwig(1862-1939) 56,74

Hoefert, Sigfrid 14 Hölderlin, Friedrich(1770-1843) 121

Ganghofer, Ludwig(1855-1920) 44

Hoffmann, E. T. A. (1776-1822) 96

Geibel, Emanuel(1815-1884) 8

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Georg 11. von Sachsen-Meiningen(1826-1914) 42, 43

(1798-1874) 89 Hoffory,Julius(1855-1897) 36

George, David E. R. 35,36

Hofpauer, Max (1845-1920) 44

Goethe,Johann Wolfgang von(1749-1832) 85,96,

Holz, Arno (1863-1929) 15,19,33,35,37,38,

99,105,113,115 Grabbe, Christian Dietrich(1801-1836) 117

48-51,53,54,57,60-64,67,68,72,79,81, 84-89,97-108,118,119,122-124

Gradnauer, Georg (1866-1946) 84

Huber, Peter 117

Greenblatt, Stephen 71

Hugo,Victor (1802-1885) 114

Grillparzer, Franz (1791-1872) 35 Grube, Max (1854-1934) 43 Grün,Anastasius(1808-1876) 89

Ibsen,Henrik(1828-1906) 27,30,33-38,51,56, 57,68,69,75,81,97,98,111,113,126

Günther, Katharina 14,53,55,56 Gumppenberg, Hanns von(1866-1928) 54

Jacobsohn, Siegfried(1881-1926) 43,44

Gutzkow, Karl(1811-1878) 41,61

Janitschek, Maria(1859-1927) 81

jaron, Norbert 122 Haeckel, Er nst(1834-1919) 24,127

jelavich, Peter 19

Halbe, Max (1865-1944) 13,23,54,56,57,66,69,

Jerschke, Oskar (1861-1928) 54,84,88

74,102,108,117,122-125,127,128

Hamann, Richard 43,108,125,128 Hanstein,Adalbert von (1861-1904) 12,41,49,50, 69,101

Kafitz, Dieter 14,64,68 Kaleher, joachim 125,126,128 Kapff-Essenther, Franziska von(1849-1899) 81

Harden, Maximilian(1861-1927) 52,56,58,105

Kauermann, Walther 108

Hart,Heinrich(1855-1906) 10,12,19,37,39,41,

Kaulbach,Wilhelm von(1805-1874) 105

43-53,55,56,58,59,64,77,79,88,89,101,

Keil, Günther 90

109

Keller,Gottfried(1819-1890) 8

Hart,Julius(1859-1930) 10,13,19,39,41,43-53, 55,56,58,59,72,77,79,89,101,109 Hartleben, Otto Erich(1864-1905) 30,46,48,49, 72,75,80,114

Kerr, Alfred (1867-1948) 36,70

Kersten, Gerhard 37 Kirchbach,Wolfgang(1857-1906) 10,47,48,50, 84,90

Hauptmann, Ehrenfried 121

Kluwe, Sandra 58,68

Hauptmann,Gerhart(1862-1946) 13,15,30,

Kolkenbrock-Netz, jutta 14,39

33,34,36,37,41,49,50,53,54,56,57,

Koppen, frwin 27,28

60-62,66,67,70,74,80,81,102-104,

Kralik, Richard(1852-1934) 51

107-123

Kretzer, Max (1854-1941) 55,60,61,64,72,90,

Hauptmann, Rober t(1824-1898) 121

92-96

Personenr egister

Krug, Wilhelm Traugott (1770-1842) 8,9

Panizza,Oskar (1853-1921) 55

Küster, Conrad (1844-1931) 49,50

Philipp, Peter 58

La Mettrie,Julien Offray de(1709-1751) 31

Plumpe, Gerhard 9,27

Platon(427-347 v. Chr.) 27 Lamprecht, Kar l(1856-1915) 102

Polenz,Wilhelm von(1861-1903) 97

Landauer, Gustav(1870-1919) 76

Praschek, Helmut 14,66,68,108,122

Lange, Helene(1848-1930) 78

Pr estel,Johann Erdmann Gottlieb(1804-1885) 111

Lehnsmann, Ernst Henriet 73

Prölß, Robert 43

Lenman, Robin 19,48

Puttkammer, Alberta von(1849-1923) 82

Lenz,Jakob Michael Reinhold(1751-1792) 40 Lessing,Gotthold Ephraim(1729-1781) 41, 113

Raabe,Wilhelm (1831-1910) 8 Reich,Emil(1864-1940) 37

Liebknecht,Wilhelm(1826-1900) 77

Reicher, Emanuel(1849-1924) 43

Liliencron, Detlev von(1844-1909) 84,88

Reuter, Gabriele(1859-1941) 82

Linduschka, Heinz 14

Richthofen, Bernhard von(1836-1895) 74

Linke,Oscar (1854-1928) 84

Röht; lulius 73

Litzmann, Berthold 29,39,43,68,69,109

Römhild, Dorothee 10

Lombroso, Cesare (1835-1909) 25,109

Rosegger, Peter (1843-1918) 75

Lublinski, Samuel(1868-1910) 102

Rosenow, Emil(1871-1904) 39 Ruprecht, Erich 13

Mackay,John Henr y (1864-1933) 33,49,50,61, 89

Sachs, Hans(1494-1576) 75

Mahal, Günter 14,39,41,76,77,80,107

Sardou, Victorien(1831-1908) 18

Marcuse, Ludwig(1894-1971) 67

Schanze, Helmut 64

Markwardt, Bruno 34,35,70,98

Schaumberg, Georg (1855-1931) 54

Martini, Fritz 100

Schaumberger,Julius(1858-1924) 54

Mataja, Emilie(1855-1938) 82

Scherer, Wilhelm (1841-1886) 23

Mauthner, Fritz(1849-1923) 56

Scheuet; Helmut 14,20,54,72,75,77,89,

Mayet; Dieter 95,96

103-105

Mayet; Hans 109

Schiller, Friedrich(1759-1805) 105

Maytner, Alberta von(1835-1898) 82

Schlaf,Johannes(1862-1941) 13,15,33,35,37,

Mclnnes, Edward 107,110,125

Mehring, Franz(1846-1919) 57,128

46,50,53,57,60,62-64,81,87,97-100, 102-108,118,119,122-124

Meixnet; Horst 14,118,119

Schlegel,August Wilhelm(1767-1845) 100

Mennemeiet; Franz Norbert 23,110,111

Schienther, Paul(1854-1916) 23,36,52

Meyet; Richard M. 34,69

Schlien, Hel/mut 13,125

Meyet; Theo 10

Schmidt,Auguste(1833-1902) 78

Miehle, Hans 49

Schmidt, Erich 90,91

Mill,John Stuart (1806-1873) 22,78

Schmidt, Günter 109

Möbius, Hanno 14,110,114,117,120

Schneidet; Lothar L. 10,14,67

Möhrmann, Renate 122

Schneidet; Uwe 49

Morel, Benedict Augustin(1809-1873) 25

Schulz, Gerhard 14,59,63

Mül/et; Artur 13

Schutte, lürgen 14,85,90

Mül/er-Salget, Klaus 65,67,114

Schwab-Felisch, Hans 117

Münchow, Ursula 59,62,107

Servaes, Franz (1862-1947) 61,63

Mundt,Theodor (1809-1861) 41

Shakespeare, William(1564-1616) 99-101,121,

Niepce, Nicephore (1765-1833) 26

Sol/mann, Kurt 19,20,77

Nietzsche, Friedrich(1844-1900) 18,75,

Spencer, Herbert(1820-1903) 24,25

124

127

Spielhagen, Friedrich(1829-1911) 8,67

N or dau, Max(1849-1923) 25,81

Spiller von Hauenschild, Richard Georg

Oberkamp, Olga von(1849 - nach 1892) 82

Sprengel, Peter 14,100,116,119-121

Osborne, lohn 14,68,102

Stern, Jakob(1843-1911) 76

Otto-Peters, Louise(1819-1895) 78

Stern, Maurice Reinhold von(1860-1938) 89

(1825-1855) 7

143

144 Personenregister Stifter,Adalbert(1805-1868) 8

Wagenknecht, Christian 84

Stock hausen 56

Wagner, Richard(1813-1883) 35,75

Storm, Theodor(1817-1888) 8,126

Wallace, Alfred Russel(1823-1913) 24

Strindberg, August(1849-1912) 68

Walloth, Wilhelm(1856 - nach 1912) 74

Stumpf, Cerhard 75

Weerth, Georg(1822-1856) 89

Sudermann, Hermann(1857-1928) 30,56,66,74, 108

Whitinger, Raleigh 14,106,112 Wilhelm 11. (1859-1941) 19,74,116,122 Wille, Bruno(1860-1928) 50,56,57,69,72,75,

Taine, Hippolyte(1828-1893) 22,23,33,69,94

89,116

Tieck, Ludwig (1773-1853) 96,100

Wolff, Eugen(1863-1929) 49,50

Tolstoi, Lev(1828-1910) 30,37,38,53,57,104,

Wolff, Theodor(1868-1943) 52,56

109 Türk,Julius(1865-1926) 41,50,56,72

Wolzogen, Ernst von(1855-1934) 55 Wrasidlo, Barbara j. 14

Turner, David 104 Zetkin, Clara(1857-1933) 78 Viebig, Clara(1860-1952) 80,82

Zimmermann, Rolf-Christian 110,112,113

Virchow, Rudolf(1821-1902) 25

Zola, Emile(1840-1902) 10,22,28,30-34,36-38,

Vischer, Friedrich Theodor(1807-1887) 9 Voigt, Barbara 14,20,96,97 Voswinkel, Cerd 14,56

41,45,51,56,58,60,61,64,69,74,75,85,90, 92,93,96,98,104,109,111,117,125 Zolling, Theophil(1849-1901) 122